Rede von
Karl Hermann
Haack
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die PDS hat im November 1995 einen Antrag mit der Bitte vorgelegt, eine Enquete-Kommission zum Thema „Gleichstellung von Menschen mit Behinderung" einzusetzen. Die Beschlußempfehlung des Ausschusses lautet, die Einsetzung einer solchen Enquete-Kommission abzulehnen und das verfassungsmäßig gebotene Benachteiligungsverbot durch ein neu zu schaffendes Sozialgesetzbuch IX zu verwirklichen.
Lassen Sich mich zunächst auf die Vorgeschichte eingehen. Wir haben im Zuge der deutschen Einheit versucht, uns eine gemeinsame Verfassung zu geben. Ein Ausfluß dieses Diskurses, dieser gemeinsamen Bestandsaufnahme unter anderem von Sozialpolitik in der 40jährigen Geschichte der DDR und in der 40jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war, daß wir uns gemeinsam verpflichtet haben, ein Verbot der Diskriminierung, also der Benachteiligung von Behinderten in unsere Verfassung aufzunehmen.
Karl Hermann Haack
Wir haben es im Vertrauen auf die Koalitionsvereinbarung von 1990 von CDU/CSU und F.D.P. aufgenommen, in der stand, man werde in gemeinsamen Beratungen mit SPD, Grünen und PDS versuchen, ein Sozialgesetzbuch IX zu schaffen.
Das Sozialgesetzbuch IX sollte eine Reform und Zusammenfassung sowie eine Verbesserung des gesamten Behindertenrechts sein. Wir waren der Auffassung, daß nach 40 Jahren Bestandsaufnahme und kritischer Bewertung eine neue Perspektive für Behindertenpolitik in der Bundesrepublik zu geben sei.
In der Koalitionsvereinbarung von 1994 ist erneut festgelegt worden, ein Sozialgesetzbuch IX zu schaffen.
Die Koalition, die das Benachteiligungsverbot, das wir in Art. 3 GG hineingeschrieben haben, also eigentlich realisieren wollte, hat dann erklärt, daß ein solches Sozialgesetzbuch IX finanziellen Restriktionen unterliegen und kostenneutral sein müsse. Damit hat in dieser Bundesregierung eine inhaltliche Veränderung der Zielsetzung von Behindertenpolitik stattgefunden. Die Zielsetzung der Innovation und neuer Perspektiven hinsichtlich der Notwendigkeit von Integration Behinderter in unserer Gesellschaft, für die wir uns in der Verfassung ausgesprochen haben, ist einem fiskalischen Diktat unterworfen worden.
In der Logik dieser veränderten Situation im Gesetzgebungsverfahren liegt es, daß heute von Frau Schnieber-Jastram beantragt wird, die Beschlußempfehlung des Ausschusses vom November 1995 dahin gehend zu ändern, auf die Schaffung eines Sozialgesetzbuches IX zu verzichten.
Wir haben auch eine inhaltliche Erklärung für das gesamte Verfahren bekommen. Gestern wurden im Ausschuß für Arbeit und Soziales unter Tagesordnungspunkt 8 unterschiedliche Berichte der Europäischen Kommission und der Bundesregierung sowie daraus resultierende Anträge zur Situation von Behinderten behandelt. Denen war zur Orientierung - gewissermaßen als Bestandsaufnahme und als gemeinsamer Einstieg - eine Synopse der Gesetze von 1990 bis 1996 beigegeben, die die materiellen, inhaltlichen, sachlichen und fiskalischen Veränderungen in der Lebenssituation von Behinderten in unserer Gesellschaft beschreiben.
Ich nenne die wesentlichen Gesetze, die zu einer Veränderung und Verschlechterung der Situation Behinderter in unserer Gesellschaft geführt haben und damit im Gegensatz zu dem stehen, was 1990 mit der Erweiterung des Art. 3 des Grundgesetzes, nämlich dem Verbot der Benachteiligung Behinderter, tatsächlich vorgesehen war: das Bundessozialhilfegesetz, das Arbeitsförderungsgesetz, das Sozialgesetzbuch V, also die Regelungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, in der Rentenversicherung und auch in der Pflegeversicherung. Alle diese von mir hier aufgezählten Gesetze haben zu einer gravierenden Veränderung der Lage von Behinderten in unserer Gesellschaft, was ihre Lebenssituation und ihre Integration betrifft, geführt.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel dafür geben, wie eine solche Maschinerie in der Öffentlichkeit bewertet wird. In meinem Wahlkreis liegt in der Stadt Lemgo eine große Behinderteneinrichtung der Evangelischen Landeskirche, Ebenezer, die zum 134. Jahresfest eingeladen hatte. Der Leiter der dortigen Einrichtung hat eine kritische Bewertung der Gesetzgebungspolitik von 1990 bis 1996 vorgenommen.
Er kommt im Ergebnis zu der bitteren Feststellung, daß die Politiker von den Trägern von Behinderteneinrichtungen von 1970 an große Reformschritte eingefordert haben, um eine innovative Konzeption der Lebensführung und Betreuung von Behinderten zu erreichen. Im Zuge dessen ging man auch in dieser Einrichtung weg von nach Geschlechtern getrennten Schlafsälen, hin zu gemeinsamen Wohnformen, zur Berücksichtigung partnerschaftlicher Beziehungen auch in Behinderteneinrichtungen. Man hat nicht lediglich versucht, den Versorgungsgrad zu erhöhen, sondern wollte den Menschen mittels beruflicher Bildung und Qualifizierung eine berufliche oder zumindest eine Tätigkeitsperspektive in diesen oder außerhalb dieser Einrichtungen geben.
Nachdem der Leiter dieser Einrichtung die Entwicklung geschildert und gewissermaßen einen Rechenschaftsbericht über die Umsetzung der in den 70er und 80er Jahren von politischer Seite aufgestellten Forderungen gegeben hatte, stellte er den dort anwesenden Politikern aus Bund und Ländern die Frage: Warum müssen wir uns heute vorhalten lassen, daß diese Reformschritte der 70er und der 80er Jahre Geld gekostet haben und noch heute Geld kosten? Wieso soll das, was die Politik in den 70er und 80er Jahren eingefordert hat und was wir dann tatsächlich eingelöst haben, falsch sein in einer Situation, in der die Finanzen der öffentlichen Hand und die Sozialhaushalte restriktiv gehandhabt werden müssen? Kann man angesichts der Situation der Behinderten das Bestreben, die Mittel dieses Bereichs von den Sparmaßnahmen der Bundesregierung auszuklammern, nicht zum Prüfstein der Glaubwürdigkeit von Solidarität in dieser Gesellschaft machen?
Das ist exakt der Punkt, der sich wie ein roter Faden durch die Beratung dieses Antrages zieht: von der Entstehung - Ausfluß des Benachteiligungsverbotes in Art. 3 des Grundgesetzes - über den Antrag der PDS, ein Sozialgesetzbuch IX zu schaffen, um dort ein neues Behindertenrecht zu kodifizieren, bis hin zur Ablehnung der Beschlußempfehlung des Ausschusses durch CDU/CSU und F.D.P.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir als SPD stehen zu der Beschlußempfehlung für den Deutschen Bundestag. Sie müssen sich von den Behindertenverbänden fragen lassen, warum Sie einen
Karl Hermann Haack
Referentenentwurf zur Verwirklichung eines Sozialgesetzbuches IX herumgeschickt haben.
- Sie haben die Antwort gegeben, die Behindertenverbände, Kirchen und Diakonie sowie Wohlfahrtsverbände verzichteten darauf. Sie verzichten deshalb auf ein Sozialgesetzbuch IX, Frau Schnieber-Jastram, weil sie befürchten, daß sich die derzeitige Situation nach der Sparorgie auf diesem Sektor von 1990 an noch einmal verschlimmert. Das heißt, man traut Ihnen zu, daß Sie den Organisationen der Behindertenverbände noch einmal einen finanziellen Schlag versetzen.
Darum hat man darauf verzichtet, mit Ihnen in eine weitere Beratung über ein Sozialgesetzbuch IX einzutreten, vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die man bereits mit Ihnen gemacht hat.
Wir als SPD werden in Absprache mit den SPD-regierten Ländern im Laufe dieses Jahres ein Eckpunktepapier zu einem Sozialgesetzbuch IX vorlegen. Wir werden dies mit den Wohlfahrtsverbänden, mit den Behindertenorganisationen, mit den Kirchen besprechen,
mit der Zielsetzung, dort, wo es notwendig ist, Innovationspotentiale zu verwirklichen und das Behindertenrecht insgesamt zu verbessern. Denn wir halten es auch in finanzschwachen Situationen für richtig, das Sozialstaatsgebot, das sich in Art. 3, dem Benachteiligungsverbot für Behinderte, realisiert hat, zu wahren.
Vielen Dank.