Rede von
Annelie
Buntenbach
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Viele Maßnahmen der Bundesregierung haben im letzten Jahr heftige öffentliche Kritik ausgelöst. Keine Maßnahme aber ist auf eine so entschiedene und breite Ablehnung gestoßen wie Ihr Versuch, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu senken. Hätten Sie den Menschen besser zugehört, hätte Ihnen das klar sein können und auch müssen, bevor Sie das Land in Arbeitskampf und Standortchaos getrieben haben.
Was diese Frage so wichtig macht, läßt sich nicht allein mit Verlusten für die Betroffenen in Mark und Pfennig erklären. Der Durchbruch zur vollen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist in einem der schwersten Arbeitskämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik errungen worden.
Sie wissen genau, daß dies ein Kernstück gewerkschaftlicher Identität ist.
Wer die Lohnfortzahlung kürzen will, stellt alle kranken Kolleginnen und Kollegen - so wird das empfunden - unter Mißbrauchsverdacht. Sie belasten Kranke, und zwar gerade längerfristig Kranke, über ihre persönlich schon schwierige Lage hinaus noch mit der Sorge darum, daß das Familieneinkommen drastisch absinkt. Die Kürzung der Lohnfortzahlung ist ein Element dieser Politik. Ein anderes ist die Reduzierung des Krankengeldes auf 70 Prozent des Arbeitsentgeltes. Welche Teilzeitkraft, welche Frau in Vollzeitarbeit mit in typischen Frauenbranchen bekanntlich entsprechend geringerem Lohn kann ihre Familie noch ernähren, wenn sie chronisch krank wird und nach einmaliger Lohnfortzahlung von 80 Prozent ihres Entgeltes dann auf 70 Prozent Krankengeld angewiesen ist?
- Das kann man so nicht gegeneinander ausspielen. Das wissen Sie ganz genau.
Jetzt haben Sie die Zuzahlungen bei Medikamenten ein weiteres Mal erhöht und bitten auch hier die Kranken zur Kasse. Ausgerechnet zu Lasten der Kranken weichen Sie die hälftige Finanzierung der Krankenversicherung über Arbeitgeber und Arbeit-
Annelie Buntenbach
nehmer auf. Das ist eine Politik zu Lasten der Schwächeren, die wir entschieden zurückweisen müssen.
Die Menschen waren und sind über die Kürzung der Lohnfortzahlung auch deshalb so erbost, weil das, was Sie als Begründung vorgebracht haben, ganz offensichtlich fadenscheinig ist: Sie wollten Kosten sparen. Doch Herr Minister Waigel kann froh sein, daß die Gewerkschaften ihn mit Hilfe der Tarifpolitik vor der Umsetzung der Lohnfortzahlungskürzung weitgehend geschützt haben; denn sonst hätte er zusätzlich zu den jetzt schon unglaublich großen Löchern im Bundeshaushalt und in den Kassen der Sozialversicherung noch weitere Einnahmeeinbußen zu beklagen.
Schließlich sparen nur die Arbeitgeber; die öffentliche Hand zahlt drauf.
- Zu Schweden komme ich gleich noch, Herr Louven.
Wenn Sie die Krankenstände wirklich senken wollen - das ist Ihre zweite Begründung -, dann gäbe es dazu andere und weit vielversprechendere Wege. Krankheit, die oft genug ihren Grund in krankmachenden Arbeitsbedingungen hat, zu bestrafen, das ist kontraproduktiv. Statt dessen muß das, was an der Arbeit krank macht, verändert werden.
In anderen europäischen Ländern ist das Problembewußtsein hier viel größer, und die Investitionen in vernünftige Gesundheitsförderung im Betrieb gehen dort schon viel weiter.
In Schweden - damit bin ich nun bei diesem Land - hat dies zum Beispiel dazu geführt, daß erheblich weniger Menschen - das wird auch Sie interessieren, Frau Babel - aus gesundheitlichen Gründen früher in Rente gehen müssen. Wenn die Menschen länger gesund bleiben, dann ist das natürlich jedem zu wünschen, und gleichzeitig ist es eine unglaubliche Entlastung für die Sozialkassen.
Aber Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, haben es aufgegeben, im Arbeitsschutz mehr als dieses dürre Rahmenwerk zu gestalten, weil Sie in der vorigen Legislaturperiode schon einmal an den Deregulierern in den eigenen Reihen gescheitert sind.
- Ja, aber das reicht der Gewerkschaft - völlig zu
Recht - überhaupt nicht aus. Sie müssen Ihrer Pflicht
zur Gestaltung des Arbeitsschutzes in irgendeiner Art und Weise gerecht werden. Das wissen Sie doch auch.
Die Unternehmen müssen in die Pflicht genommen werden, Arbeitsbedingungen, die krank machen, zu verändern, in Prävention und Gesundheitsförderung zu investieren; denn so können die Unternehmen nicht nur effektiv Kosten durch zu hohe Krankenstände senken, sondern auch auf die volle Unterstützung von Gewerkschaft und Belegschaft rechnen.
Herr Kollege Büttner hat schon angesprochen, daß in vielen Betrieben inzwischen Gesundheitszirkel entstanden sind, in denen sich Kolleginnen und Kollegen aus dem Betrieb zusammenfinden, um die zentralen Problemstellen zu analysieren und zu verändern. Dieser Selbsthilfe haben Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, leider die Förderung über die Krankenkassen entzogen, als Sie § 20 des Sozialgesetzbuches V zusammengestrichen haben. Für Gesundheitsförderung im Betrieb, für Arbeitsschutz und Prävention, womit Krankenstände wirklich gesenkt werden können, hat diese Regierung ausgesprochen wenig übrig.
Sie sparen nichts mit der Kürzung der Lohnfortzahlung; Krankenstände senken Sie auch nicht. Was bleibt - wo sachlich nichts zu begründen ist -, das ist die reine Machtfrage, bei deren Beantwortung die Bundesregierung auf der Seite einer kleinen, besonders lautstarken Gruppe von Lobbyisten, nämlich der Arbeitgeberverbände, steht.
Sie haben die Gewerkschaftsführung brüskiert, die eine unglaublich große Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft gezeigt hat, und Sie haben damit das „Bündnis für Arbeit" zum Platzen gebracht. Das haben Sie mit Ihrem Gesetz zur Kürzung der Lohnfortzahlung erreicht.
Und Sie haben noch etwas erreicht: Sie haben nämlich den Gewerkschaften ein neues Problem aufgebürdet, das in jeder Tarifverhandlung erneut auf der Tagesordnung stehen wird. Dafür müssen dann in anderen Bereichen Einbußen in Kauf genommen werden, und sie sind auch schon in Kauf genommen worden. So haben Sie unmittelbar zugunsten der Arbeitgeber in die Tarifautonomie eingegriffen und das Kräfteverhältnis strukturell verschoben.
Gleichzeitig haben Sie einen ständigen Konflikt geschaffen, ein Denkmal für Ihre Ignoranz, an dem die Gewerkschaften bei jeder Tarifrunde wieder vorbeikommen.
Wenn Sie den Kolleginnen und Kollegen bis zur nächsten Bundestagswahl so in lebhafter Erinnerung bleiben wollen - bitte! Aber selten haben so viele Menschen aus unterschiedlichen Branchen und Betrieben im Arbeitskampf und auf der Straße deutli-
Annelie Buntenbach
cher erklärt, was sie wollen, nämlich die volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Das sollten Sie endlich respektieren!
Sie haben mit Ihrem Versuch im vorigen Herbst, diesen Unsinn durchzusetzen, ein regelrechtes Standortchaos angerichtet. So kann man sich irren, wenn man an den Interessen und der Lebenssituation der Menschen völlig vorbeigeht. Korrigieren Sie diesen Fehler und folgen Sie dem Antrag der SPD- Fraktion!