Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung.
Die Menschen in unserem Land, die Unternehmer und die Arbeitnehmer, sind es eigentlich leid, ständig Zustandsbeschreibungen zu hören. Die Politik verliert sich zunehmend im Beklagen des IstZustandes.
Seit langer Zeit wird keine offensive Gestaltungsdebatte mehr geführt; statt dessen ist die Regierungspolitik einer Bewältigungsdebatte mit fiskalpolitischer Dominanz oder obligatorischen Blockadevorwürfen an die Opposition verfallen, die offensichtlich als Parole in jeder Rede mindestens dreimal erhoben werden müssen.
Was fehlt, sind eindeutige normative Vorgaben des Politischen, also die Frage nach der Wünschbarkeit; entschuldigen Sie diesen Ausdruck. Es ist eine derzeit charakteristische Absonderlichkeit, daß Fragen der Wünschbarkeit immer mehr tabu sind oder zumindest mit dem Totschlagargument von unausweichlichen Sachzwängen unterdrückt werden.
Die Aufgabe der Politik muß es aber doch sein, das Wünschbare als politisches Ziel zu formulieren
Sabine Kaspereit
und die Voraussetzungen zur Umsetzung des Wünschbaren zu schaffen, statt sich von Sachzwängen erschlagen zu lassen, wie Sie es tun, wenn Sie vom Machbaren reden.
Auch in diesem Zusammenhang muß das Primat der Politik über die Ökonomie wiederhergestellt werden; sonst werden wir immer nur reagieren und nicht agieren. Wir werden immer nur an Symptomen herumdoktern, statt Reformen anzugehen, die diesen Namen auch verdienen.
Bei der ganzen Diskussion über Globalisierung haben Sie von der Regierungskoalition den Blick für den Binnenmarkt verloren.
Mit der unsäglichen Standortdebatte haben Sie Schaden angerichtet und Gespenster gerufen, die gerade den Blick auf das Machbare verstellen.
Dabei ist die Globalisierung an sich nichts Neues, sondern die Fortsetzung einer Erscheinung, die schon lange besteht. Der Welthandel wächst - in nominalen Größen - kaum schneller als die Weltproduktion. Der Aufbau internationaler Produktionsnetze, die an nationalen Kostenunterschieden orientiert sind, kommt nicht so rasch voran wie vielfach erwartet. Diese Feststellung hat das Institut für Wirtschaftsforschung Hamburg getroffen.
Die Masse der deutschen Auslandsproduktionen und Direktinvestitionen ist nach wie vor größtenteils absatzgeleitet und weniger lohnkostenbedingt. Von einer besonders starken „Auswanderung" deutscher Unternehmen kann daher keine Rede sein. - Dies als Vorbemerkung; nun zu den Insolvenzen.
Natürlich gibt es branchenabhängige Insolvenzgründe, aber darüber hinaus kann man viele Erscheinungen verallgemeinern. Die große Zahl der Insolvenzen, die uns Anlaß zur Sorge gibt, hat nicht nur Gründe, die bei den Unternehmern zu suchen sind, wie zum Beispiel Managementfehler, sondern die Zunahme der Zahl von Insolvenzen hat ihre Gründe auch in der Vernachlässigung binnenwirtschaftlicher Zusammenhänge, wie der Schwächung der Kaufkraft,
und sie hat ihre Gründe im Versagen der Bundesregierung bei ihrer vielbeschworenen Mittelstandspolitik sowie in der Vernachlässigung einer gestaltenden Strukturpolitik, also einer Politik, die Sachzwänge und Klientelpolitik über das Wünschbare im Sinne des Gemeinwohls stellt.
Die neuesten Insolvenzzahlen und Prognosen belegen deutlich, daß staatliche Maßnahmen nicht - wie von Herrn Minister Rexrodt und den Neoliberalen immer behauptet - entbehrlich sind, sondern vielmehr, daß diese zwingend notwendig sind. Insolvenzen sind alles andere als eine natürliche Auslese, wie Herr Schauerte uns glauben machen will.
Ansatzpunkte staatlichen Handelns gibt es genug. Entscheidend ist der Wille zu handeln. Anhand von fünf Bereichen möchte ich das deutlich machen.
Erstens. Nach wie vor ist die Eigenkapitalbildung in der unternehmerischen Aufbauphase zu gering und das Kapital für das Umlaufvermögen zu knapp. Dieser strukturellen Schwäche gerade ostdeutscher Unternehmen muß mit konkreten Maßnahmen auf politischem Wege begegnet werden.
Nehmen Sie neben unserem Entschließungsantrag den Antrag „Stärkung des Kapitalmarktes Deutschland": Um dem Eigenkapitalmangel entgegenzutreten, schlugen wir Ihnen eine Mittelstandsbörse, die Förderung des Aktiensparens, die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen und weitere konkrete Maßnahmen zur Mobilisierung von Risikokapital vor. Maßnahmen, die dem Mittelstand unter die Arme greifen und Insolvenzen vorbeugen sollen, lehnen Sie ab.
Zweitens. Die fehlerhafte Finanzierung insolventer Unternehmen kann nicht nur den Unternehmern angelastet werden. Mit in der Verantwortung sind die Banken und Kreditinstitute.
Die Insolvenzwelle hat bei den Banken inzwischen einen hohen Wertberichtigungsbedarf hervorgerufen. Kleine Banken nutzen das breite Repertoire der Kreditwürdigkeitsprüfung zu wenig; zu dieser Feststellung kommt eine Umfrage des Instituts für Betriebswirtschaftslehre.
In vielen Fällen wird der Prüfung des Status quo, also des Zustandes der wirtschaftlichen Verhältnisse, zu hohe Priorität eingeräumt. Die Analyse der Vermögens-, Ertrags- und Finanzlage kommt bei 85 Prozent der Firmenkunden zum Einsatz. Die Prüfung externer Einflußgrößen wird dagegen nur in 35 Prozent der Fälle und die ganzheitliche Unternehmensdiagnose gar nur bei 25 Prozent der kleinen Institute vorgenommen.
Gerade die sogenannten „soft-facts" wie Innovationskraft, Kreativität, Humankapital und Managementqualitäten finden also in der Kreditwürdigkeitsprüfung der kleinen Banken zu wenig Beachtung. Fast die Hälfte aller Institute hat diese Informationsquellen noch nicht einmal ausreichend im Griff.
Auch ist es bemerkenswert, daß nur die Hälfte aller kleinen Institute gesamtwirtschaftliche Prognosedaten nutzt, obwohl sie von verschiedenen Stellen leicht zu beschaffen sind.
Den Kreditbearbeitern fehlt oft die methodische Grundlage für die Einbindung von qualitativen Analyseergebnissen in ihr Urteil über die Kreditwürdigkeit eines Unternehmens. Insbesondere schnell wachsende Firmen sehen sich Banken gegenüber, die hier mangels Diagnosefähigkeit eine konserva-
Sabine Kaspereit
tive Kreditpolitik betreiben. Diese Schwäche ist insbesondere in den neuen Ländern sichtbar.
Kreditvergabekriterien, die im Westen durch langsam gewachsene Wirtschaftsstrukturen ihre Berechtigung haben mögen, sind im Osten oft existenzvernichtend.
Neue Gegebenheiten erfordern auch neue Gedanken, neue Wege, neue Regeln und Denkweisen. Hier sind ganz klar Defizite zu erkennen.
Es besteht, an die Adresse der Banken gerichtet, ein erheblicher Umsetzungsbedarf, um im Interesse unserer Volkswirtschaft drohenden Insolvenzen präventiv zu begegnen. Wenn das Kind erst in den Brunnen gefallen ist, ist es meist viel zu teuer und viel zu spät, um eine Konsolidierung zu erreichen. Dort, wo dieser Appell nicht fruchtet, ist die Regierung gefordert, mit den Banken in einen kritischen Dialog zu treten.
Drittens. Das Problem der Zahlungsmoral privater wie auch öffentlicher Auftraggeber rückt zusehends ins Zentrum. Mehr als die Hälfte aller offenen Rechnungen werden verspätet bezahlt.
Die öffentliche Hand nimmt beim Zahlungsverzug sogar Spitzenwerte ein. Zwei Drittel aller öffentlichen Auftraggeber bezahlen ihre Rechnungen weit nach Ablauf der üblichen Frist von 30 Tagen.
Unter dem Druck leerer Kassen gehen öffentliche Auftraggeber immer mehr dazu über, die Abnahme erbrachter Leistungen durch Nachbesserungsforderungen zu verzögern, um sich finanzielle Spielräume zu sichern.
Wer dann noch, wie es die Bundesregierung tut, den Kommunen finanzielle Lasten aufbürdet, fügt kleinen und mittleren Unternehmen und damit unserer Volkswirtschaft unmittelbaren Schaden zu.
Wer diesen strukturellen Zusammenhang nicht begreift, wer also, wie an diesem Beispiel aufgezeigt, binnenwirtschaftliche Auswirkungen seiner Politik vernachlässigt, gehört von der Regierungsverantwortung entbunden - um das einmal ganz deutlich zu sagen.
Um das Problem der Zahlungsmoral in den Griff zu bekommen, sind neue politische Ansätze nötig. Warum dürfen in Verträgen mit der öffentlichen Hand keine Forderungen abgetreten werden? Wie kommt der Bund überhaupt dazu, wie im Falle von SKET geschehen, als GmbH zu agieren und sich aus der Verantwortung zu stehlen, wenn es um die Begleichung der Rechnungen von Hunderten kleiner und mittlerer Zulieferbetriebe geht?
Welche Hemmnisse bestehen im Vergaberecht? Und welche volkswirtschaftlichen Unsinnigkeiten verbergen sich im Vergaberecht?
Beispiel: Angenommen, das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung ist rechtlich aus Gründen der Vergabeordnung gezwungen, jedes Jahr die Herstellung eines Journals neu auszuschreiben, und angenommen, es hat sich bereits im Vorfeld dafür entschieden, am bisherigen Auftragnehmer festzuhalten. Dann kann es sein, daß beispielsweise 170 Agenturen ein Angebot abgeben, aber keine den Zuschlag erhält. Wenn die Angebotserstellung drei Stunden dauert und eine Agenturstunde 100 DM kostet, hat diese Aktion die Unternehmen 51000 DM gekostet. Wäre es in diesem Falle nicht angebracht, einmal über Unsinnigkeiten, Formalismus und Schlupflöcher im Vergaberecht nachzudenken?
Viertens. Die Insolvenzlage im Osten -viele meiner Kollegen werden das bestätigen - legt die Vermutung nahe, daß eine Zunahme sogenannter Scheinkonkurse zu verzeichnen ist und daß durch trickreiche Anwendung des GmbH-Gesetzes ein Besicherungsmißbrauch zumeist durch Generalunternehmer betrieben wird. In der Praxis sieht das dann meist so aus, daß die Gesellschafter an dem einen Ort Konkurs anmelden und Subunternehmer nicht mehr ausbezahlen und an einem anderen Ort eine neue GmbH gründen. Sie bringen ihr schwarzes Schäfchen ins trockene - zu Lasten anderer.
Fünftens. Die Zunahme der Insolvenzen läßt realistischerweise nicht auf eine Existenzgründerwelle hoffen. Denn zu den von mir erläuterten Problemen - Eigenkapitalmangel, Bankenverhalten und Zahlungsmoral - kommt noch etwas Entscheidendes hinzu, nämlich die Absatzerwartung, die den Unternehmer oder Gründer letztendlich dazu bewegt, den Schritt in Richtung Selbständigkeit zu wagen.
Weder bei der öffentlichen Hand noch bei den Privatleuten sitzt das Geld locker. Kein Unternehmen und kein Arbeitsplatz wird durch Steuergeschenke oder Investitonsförderung geschaffen. Allein der Markt rechtfertigt die Gründung eines Unternehmens oder eine Erweiterungsinvestition und die damit verbundene Schaffung von Arbeitsplätzen.
Damit bin ich schließlich wieder bei meinem Ausgangspunkt angekommen. Seit langer Zeit wird keine offensive Gestaltungsdebatte mehr geführt. Statt dessen ist die Politik in diesem Hause einer Bewältigungsdebatte mit fiskalpolitischer Dominanz verfallen. Was fehlt - ich sagte es bereits -, sind eindeutige normative Vorgaben des Politischen. Bisher wurde von der Regierung noch keine einzige wirksame Maßnahme vorgeschlagen, wie das Problem der Insolvenzen zu entschärfen ist, wie man dem Dominoeffekt der Folgeinsolvenzen begegnet, wie Risikokapital für junge Technologieunternehmen mobilisiert werden kann, wie nun die Mittelstandsförderhilfen endlich zu bündeln sind, wie eine breite industrielle Forschungspolitik aussehen soll, bei der
Sabine Kaspereit
nicht Milliarden bei Großprojekten verpulvert werden, sondern bei der mittelständische Unternehmen bei Zukunftstechnologien, neuen Produktionstechniken und neuen Produkten wirksame Unterstützung finden, und wie national und international ein bezahlbarer und zugleich wirksamer Patent- und Musterschutz hergestellt werden kann. Welcher unabhängige Erfinder kann heute 10 000 oder 20 000 DM für sein Patent aufbringen, das ihm international auch noch geraubt werden kann?
Sie sehen: Es gibt nicht nur den vielbeschworenen Handlungsbedarf, nicht nur die Forderung „weniger Staat, mehr Markt", sondern es gibt konkrete Handlungsfelder. Bearbeiten Sie diese Felder, dann werden sie auch Früchte tragen.