Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt I auf:
Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1988
— Drucksachen 11/700, 11/969 —
Beschlußempfehlungen und Bericht des Haushaltsausschusses
— Drucksachen 11/1051 bis 1079, 11/1081 —
Wir kommen, meine Damen und Herren, zur Beratung der Einzelpläne.
Ich rufe auf:
Einzelplan 01
Bundespräsident und Bundespräsidialamt
— Drucksachen 11/1051, 11/1081 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Walther Deres
Kleinert
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Einzelplan 01, Bundespräsident und Bundespräsidialamt, in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan ist angenommen.
Ich rufe auf:
Einzelplan 02 Deutscher Bundestag
— Drucksachen 11/1052, 11/1081 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Borchert Frau Seiler-Albring Esters
Kleinert
Auch hier ist eine Aussprache nicht vorgesehen.
Wer dem Einzelplan 02, Deutscher Bundestag, in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan ist angenommen.
Ich rufe auf:
Einzelplan 03 Bundesrat
— Drucksachen 11/1053, 11/1081 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. h. c. Lorenz Diller
Wolfgramm
Kleinert
Eine Aussprache ist auch hier nicht vorgesehen.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Einzelplan 03, Bundesrat, in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Einzelplan ist angenommen.
Ich rufe auf:
Einzelplan 04
Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes
— Drucksachen 11/1054, 11/1081 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Simonis Austermann
Dr. Weng
Frau Rust
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beratung fünf Stunden vorgesehen. Die Mittagspause ist von 13 bis 14 Uhr eingeplant. — Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die politischen Auseinandersetzungen in diesem Haus werden von unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in der Regel in vorgestanzten Formeln und Schablonen wahrgenommen. Für die Debatte über den Haushalt des Bundeskanz-
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2690 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Dr. Vogelleramtes bietet sich dabei zumeist die Formel von der Generalabrechnung an, die da zwischen der Bundesregierung und der Opposition, zwischen Ihnen und uns, stattfindet.Die Kieler Ereignisse haben viele nachdenklich gemacht. Vielen erschien plötzlich schal und leer, was zur Routine geworden war. Und viele erkannten, daß zur Verdrossenheit der Bürger schon lange vor diesen Ereignissen, vor diesen beschämenden Enthüllungen über Machtbesessenheit, Mißbrauch und Menschenverachtung auch die Art und Weise beigetragen hat, in der wir hier miteinander umgehen, in der wir uns nicht nur Fehler und mangelnde Fähigkeiten, nicht nur Schwäche und mangelnde Einsicht, sondern bösen Willen und schädliche Neigungen vorwerfen. Ich meine, es ist Zeit, das nicht nur zu erkennen und zu beklagen. Es ist auch an der Zeit, daraus Folgerungen zu ziehen.Deshalb sage ich: Ich will hier nicht abrechnen. Ich will auch niemanden entlarven, fertigmachen oder bis aufs Messer bekämpfen. Ich will mich aber auch nicht im einzelnen mit den Mängeln und Risiken eines Haushalts auseinandersetzen, von dem auch konservative Kommentatoren sagen, er sei in ein Korsett gezwängt, das schon jetzt aus allen Nähten platze. Das wird im weiteren Verlauf der Aussprache geschehen. Ich will mich vielmehr mit den Ereignissen beschäftigen, die unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger derzeit bewegen, die sie mit Hoffnung und Sorge erfüllen. Und ich will versuchen, auf all das unsere Antwort zu geben, unsere Antwort im Vergleich zu der Ihren. Auf diese Weise wird deutlich werden, wo wir uns unterscheiden. Und die Menschen werden sich dann ihre Meinung bilden und ihre Entscheidung treffen können. Nur darin — so glauben wir — kann der Sinn einer Generalaussprache am Beginn der zweiten und dritten Lesung des Haushalts sinnvollerweise bestehen.Ich meine, es sind gegenwärtig vor allem vier Ereignisse, die unser Volk beschäftigen, nämlich: das bevorstehende Gipfeltreffen zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow in Washington, auf dem das Abkommen über den Abbau und die Verschrottung der Mittelstreckenraketen unterzeichnet werden soll; der Zusammenbruch der Kurse an den internationalen Börsen und der Dollarsturz; der Mord an den beiden Polizeibeamten in Frankfurt am Main und die Vorgänge in Hamburg; und schließlich die Geschehnisse in Kiel.Jedes dieser Ereignisse betrifft ein wichtiges Feld der Politik: das Gipfeltreffen die Friedenssicherung, der Börsenkrach die Wirtschafts- und Finanzpolitik und damit vor allem die Massenarbeitslosigkeit, der Polizistenmord und die Hamburger Vorgänge die innere Sicherheit und Liberalität und Kiel die Frage der Vertrauenswürdigkeit der politischen Parteien und ihrer Repräsentanten. Hinzu kommen die Sorge um die soziale Sicherheit und um die Erhaltung unserer natürlichen Umwelt, zwei Gebiete, die ganz unabhängig von aktuellen Ereignissen unsere besondere Aufmerksamkeit erfordern.Das Gipfeltreffen ist für uns ein Zeichen der Vernunft und ein Zeichen der Hoffnung.
Sein Zustandekommen und das bevorstehende Zustandekommen des INF-Vertrags zeigen, daß sich die Friedenssehnsucht der Völker Gehör verschaffen, daß der Wahnwitz des Rüstungswettlaufs durchbrochen, daß den angeblichen Sachzwängen der Gehorsam aufgekündigt werden kann. Wir danken denen, die dazu beigetragen haben,
die, aus welchen Gründen auch immer, der Sache des Friedens vorangeholfen haben.
Dieser Dank gilt den Männern, die an der Spitze der beiden Supermächte Verantwortung tragen. Er gilt den politischen Kräften, die in beiden Bündnissen — ich sage ausdrücklich: in beiden Bündnissen — den Friedensprozeß gefördert haben.
Und er gilt nicht zuletzt der Friedensbewegung, die bei uns und weltweit
das Bewußtsein geschärft und verändert hat
und durch deren Anstöße die Sicherheitspolitik und die Fragen der Rüstung und der militärischen Strategien so sehr demokratisiert worden sind, daß es auf diesem Feld keine einsamen Entscheidungen mehr geben wird.
Aber dabei wollen wir nicht stehenbleiben. Wir wollen, daß der Prozeß der Abrüstung, der weltweiten Verständigung und der Zusammenarbeit weitergeht, daß die europäische Friedensordnung Wirklichkeit wird.Das sind die wichtigsten Schritte, die nach unserer Auffassung jetzt getan werden müssen:Erstens: Die drastische Reduzierung der strategischen Atomwaffen, das dauernde Verbot von Rüstungsmaßnahmen im Weltall und die endgültige Beendigung aller Atomversuche.
Zweitens der Abbau der Nuklearsysteme kurzer Reichweiten und der Abbau konventioneller Ungleichgewichte. Wir brauchen einen Umbau der konventionellen Streitkräfte, der auf möglichst niedrigem Niveau ihre Verteidigungsbereitschaft erhält, sie aber beiderseits endgültig zum Angriff unfähig macht.
Drittens. Auf dem Wege dorthin kann die Schaffung eines atomwaffenfreien Korridors, der frei ist von
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2691
Dr. VogelAtomwaffen und von schwerem konventionellen Gerät, ein Zwischenschritt sein.Viertens. Die weltweite Beseitigung chemischer Waffen oder, wenn das — wie in den vergangenen beiden Jahrzehnten — nicht erreichbar ist, sich weiter hinausschiebt, eine chemiewaffenfreie Zone in Europa als ein erster Schritt in diese Richtung.
Das alles muß im Bündnis und unter Wahrung der Bündnisloyalitäten, und zwar auf beiden Seiten, vorangebracht werden. Das alles, was wir hier fordern und befürworten, entspricht übrigens auch der wirtschaftlichen Vernunft. Eine Minderung der Rüstungsausgaben der beiden Bündnisse auch nur um 10 % im Jahr würde Mittel frei werden lassen, mit denen die Budgetdefizite beseitigt, Millionen von Arbeitsplätzen geschaffen und der Hunger in der Welt zurückgedrängt, ja zu einem Gutteil überwunden werden könnten.
Denn der Satz ist doch wahrer denn je: Rüstung tötet nicht erst, wenn die Waffen angewendet werden, sie tötet schon jetzt diejenigen, die mit den Mitteln gerettet werden könnten, die die Rüstung Jahr für Jahr im Übermaß verschlingt.Die Bundesrepublik ist keine Großmacht und schon gar keine Weltmacht. Die Bundesrepublik aber ist stark genug, Zeichen zu setzen und Dinge in Bewegung zu halten, indem sie beispielsweise jede neue Nachrüstung, auch im Kurzstreckenbereich, kategorisch ablehnt
oder indem sie den Helsinki-Prozeß vorantreibt, indem sie eigene Vorschläge entwickelt etwa im Rahmen des Helsinki-Prozesses für die Schaffung eines europäischen Rates für Vertrauensbildung, für eine chemiewaffenfreie Zone, für einen atomwaffenfreien Korridor oder für die Reduzierung der Panzerverbände, ein Vorschlag, der inzwischen ja auch von anderer Seite aufgegriffen worden ist.Herr Bundeskanzler, Herr Außenminister, drängen Sie in Ihren Reihen diejenigen zurück, die das nicht wollen, die schon der doppelten Null-Lösung ein Hindernis nach dem anderen in den Weg gelegt haben, die davon reden, daß das Mittelstreckenraketenabkommen unsere Sicherheit verringere, und die deshalb sogar von neuen Kurzstreckenraketen, also von einer Nachrüstung träumen. Wenn Ihnen das gelingt, dann sind auf diesem wichtigen Gebiet sogar gemeinsame Anstrengungen möglich. Das läge im Interesse unseres Volkes.
Außerdem: Die finanziellen Realitäten — das ist Ihnen in der vorletzten Woche auf der Hardthöhe ja sehr deutlich geworden — werden den Verteidigungshaushalt und damit die Sicherheitspolitik selbst dann in diese Richtung zwingen, wenn Sie sich noch eine Zeitlang sträuben. Die Stunde der Wahrheit hat auf diesem Gebiet ja bereits begonnen.Weiteres muß hinzukommen: Der Abbau von Feindbildern, die mit der Realität nicht mehr übereinstimmen und nur noch innenpolitische Zwecke erfüllen; eine verstärkte Zusammenarbeit über die Grenzen der Gesellschaftsordnungen hinweg, die alle künstlichen Trennungen und die Mauern der Grenzen ebenso wie die Mauern der Vorurteile überwindet und so den Wettbewerb der Systeme zum Wohle der Menschen möglich macht. Das im Dialog mit Gesellschaftswissenschaftlern der SED erarbeitete Papier weist dafür einen schwierigen, aber gangbaren Weg, einen Weg, der schon jetzt gerade auch in der DDR selber zu Diskussionen geführt hat, die noch vor kurzem für ganz undenkbar gehalten worden wären.
Weiter gehört dazu die kluge, nüchterne Förderung der Gorbatschowschen Reformpolitik, aber auch die Einigung Europas und zu ihrer Beschleunigung die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen Paris und Bonn, und zwar in sinnvoller Weise auch auf dem Felde der Sicherheitspolitik.Hier, in der Einigung Europas, liegt für uns Sozialdemokraten — ich hoffe, nicht nur für uns — ein Kernpunkt. Europa hat nach unserer Auffassung mehr denn je eine weltumspannende Aufgabe. Es kann auf die weltpolitische Entwicklung ausgleichend und mäßigend einwirken. Es kann helfen, Hunger und Elend in der Welt zu überwinden. Es kann Konfrontationen mildern und Zusammenarbeit voranbringen. Um diese Aufgabe zu bewältigen, muß Europa nicht zur Supermacht werden. Es muß nur sein wirtschaftliches Gewicht, seine geistigen Traditionen und seine geschichtlichen Erfahrungen einbringen, Erfahrungen, die es im Laufe von mehr als 2 000 Jahren auch aus Fehlern und aus blutigen Tragödien gewonnen hat. Es muß sich so organisieren, daß alle diese Faktoren tatsächlich zum Tragen kommen.Hinzu kommen muß noch vieles andere, auch eine klare Haltung der Bundesrepublik in zentralen NordSüd-Problemen, etwa in der Frage der Apartheid. Es nutzt wenig, Herr Bundeskanzler, wenn Sie bei einer Afrikareise die Apartheid kritisieren — was wir begrüßen — , gleichzeitig aber die Bundesrepublik bei einer Abstimmung der Vereinten Nationen in derselben Woche, in der Ihre Reise stattfand, zu den drei Nationen gehört, die anders als alle übrigen, als 128 andere Nationen, gegen konkrete Schritte zur Überwindung der Apartheid gestimmt haben.
Wer kann, Herr Bundeskanzler, bei solchen Widersprüchlichkeiten Ihren Beteuerungen, die wir gerne gehört haben, Glauben schenken?Ist der Gipfel ein Anlaß zur Hoffnung, so sind die Kurszusammenbrüche der letzten Wochen und der Absturz des Dollars Anlaß zu ernster Sorge. Gewiß, es dient niemandem, die Lage zu dramatisieren. Aber es ist genauso verfehlt, die Lage zu beschönigen und beschwichtigende Behauptungen aufzustellen, die jeweils nach 24 Stunden durch die tatsächliche Entwicklung wieder überholt sind. Ich meine, am besten sollten all die, die uns über Jahre hin mit dem Brustton der Überzeugung versichert haben, das, was jetzt seit
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2692 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Dr. VogelWochen passiert, werde niemals passieren, überhaupt erst einmal eine Zeitlang schweigen und uns mit weiteren Erklärungen verschonen. Die Anhänger Ihrer Politik, der Angebotspolitik und des Monetarismus, sollten einräumen, daß diese Politik gescheitert ist.
Ich greife ein Zitat von Professor Wolfram Engels auf, Herausgeber der „Wirtschaftswoche", der weiß Gott eher in Ihrem, als in unserem Lager steht: In Wahrheit, sagt dieser Mann, tickt hier eine Zeitbombe, deren Explosion nicht weniger schlimme Folgen auslösen würde als die Ereignisse des Jahres 1929, deren Entschärfung — das ist der Unterschied zu 1929 — nach unserem heutigen Kenntnisstand und mit den heutigen Instrumenten aber möglich sei.Abgesehen davon, daß ein System, bei dem jeweils innerhalb von Stunden Summen verloren oder gewonnen werden, die größer sind als das Jahreseinkommen ganzer Völker, ein System, bei dem allein die Kursverluste an den amerikanischen Börsen im Monat Oktober höher waren als das gesamte Volkseinkommen von 416 Millionen Lateinamerikanern im Jahr 1986, abgesehen davon, daß ein solches System Fragen nach seinem Sinn und seiner Rechtfertigung aufwirft, zeigen die Vorgänge und der Kursverfall des Dollars jedenfalls, daß die Fundamente der Weltwirtschaft in hohem Maße krisenanfällig und instabil sind.
Das sind die Hauptursachen der Instabilität:Erstens das gigantische Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit der Vereinigten Staaten, zu dem — es ist ein Gebot der Wahrheit, das auszusprechen — insbesondere die übersteigerten Rüstungsprogramme der Vereinigten Staaten wesentlich beigetragen haben.
Zweitens die hohen Leistungsbilanzüberschüsse Japans und der Bundesrepublik, die zu einem hohen Anteil als Kredite in die USA anstatt in arbeitsplatzfördernde Investitionen im Inland fließen. Wir als Bundesrepublik belasten die Weltwirtschaft, weil Sie sich weigern, im Inland mehr von unserem Leistungsbilanzüberschuß für die Beschäftigung einzusetzen und mehr für die Beschäftigung zu tun.
Drittens die Überschuldung der Dritten Welt — —
— Warum sind Sie heute morgen denn so unruhig, Herr Bundeskanzler? Hören Sie doch mal in Ruhe zu!
Wir sind hier nicht in Afrika, wir sind hier im Deutschen Bundestag, Herr Bundeskanzler.
— Wenn ich Ihren Bundeskanzler erwähne, beleidige ich nicht Afrika. Das ist Ihre Vorstellung, mein Lieber.
— Ich freue mich, daß jetzt alle wach geworden sind.
Drittens die Überschuldung der Dritten Welt, deren erdrosselnde Wirkung durch den Dollarverfall gegenüber den Währungen der wichtigsten Kreditgeberländer noch gesteigert wird. Ich glaube nicht, daß das Anlaß zur Heiterkeit geben kann, wenn wir sehen,
wie die Entwicklungsländer durch den Dollarverfall noch tiefer in wirtschaftliches Elend geraten.
Viertens die latenten und teilweise inzwischen auch offenen Handelskonflikte zwischen den USA, Japan und dem EG-Raum. Eine weitere Ankündigung von Maßnahmen im Rahmen dieser Handelskonflikte haben wir heute morgen aus Amerika gehört.Fünftens die Tatsache, daß Geldströme in Höhe von Hunderten von Milliarden Dollar täglich ohne jede Kontrolle rund um den Globus zirkulieren und jede Verbindung mit Investitionen, mit Waren- oder Dienstleistungsbewegungen inzwischen verloren haben.Wir Sozialdemokraten halten es im Augenblick für weniger dringlich, der Frage nachzugehen, wem für diese Gegebenheiten welche Vorwürfe zu machen sind und wer die Lunte an dieses Pulverfaß gelegt hat, wenn wir auch den Ton, den der amerikanische Finanzminister als erster angeschlagen hat, für ganz unangemessen erachten. Uns geht es darum, wie die Zeitbombe entschärft, wie schlimmerer Schaden verhindert werden kann. Nach unserer Ansicht bedarf es dazu im internationalen Bereich des raschen, allerdings nicht ruckartigen Abbaus der amerikanischen Defizite. Die Einigung zwischen dem Weißen Haus und dem Kongreß, deren exakter Inhalt allerdings heute von uns noch nicht zuverlässig zu beurteilen ist, könnte dazu einen ersten Schritt darstellen. Die ersten Reaktionen auf diesen Schritt sind aber so, daß man eher wieder zweifeln muß. Weiter bedarf es weltweit der Bereitstellung ausreichender Liquidität und der Entspannung des Zinsniveaus, und vor allem bedarf es einer intensiven Zusammenarbeit der großen Industrienationen, die sich rasch auf ein neues Weltwirtschaftskonzept einigen müssen. Nicht der Austausch von Vorwürfen und von Schimpfereien über den Atlantik und unter den Sieben, sondern das rasche Zusammentreten der Verantwortlichen zu einer internationalen Weltwirtschaftskonferenz ist das Gebot der Stunde.
Zu den internationalen Schritten gehören für uns insbesondere auch Fortschritte auf dem Weg zur Europäischen Währungsunion, etwa die Schaffung eines
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2693
Dr. Vogeleuropäischen Reservesystems nach dem Muster des Federal Reserve System der Vereinigten Staaten. Vieles wäre leichter, wenn wir wenigstens eine europäische Zweitwährung hätten. Die Bundesbank muß sich ernsthaft fragen lassen, ob sie ihren hinhaltenden Widerstand auf Grund der Erfahrungen der letzten Wochen in diesem Punkt nicht endlich aufgeben will.
Im nationalen Bereich müssen wir uns immer wieder deutlich vor Augen führen, daß wir nach fünf Jahren eines weltwirtschaftlichen Aufschwungs, nach einem Zeitraum, in dem das Jahresbruttosozialprodukt um 350 Milliarden DM gestiegen ist, 370 000 Arbeitslose mehr haben als 1982 auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftsrezession und, so füge ich hinzu, mehr Arbeitslose als am Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 im ganzen Deutschen Reich, nämlich 2,1 Millionen im Vergleich zu damals 1,6 Millionen.
Ich will heute nicht mit Ihnen darüber rechten, warum entgegen all Ihren Versprechen und Ankündigungen die Zahl der Arbeitslosen unter Ihrer Verantwortung gestiegen und nicht gesunken ist. Ich erinnere nur ganz beiläufig daran, von welchem hohem Roß herab Sie jahrelang unsere Warnungen mißachtet und unsere Vorschläge zur Überwindung der Arbeitslosigkeit abqualifiziert und verworfen haben.
Wichtig ist uns, daß jetzt alles geschieht, damit wir gegensteuern, damit wir die Zeitbombe auch mit nationalen Mitteln entschärfen. Denn jeder kann sich doch ausmalen, wie sich die Arbeitslosigkeit entwikkeln würde, wenn wir in eine neue Rezession mit einem Sockel an Arbeitslosigkeit eintreten, der nicht nur höher liegt als 1982, sondern auch deutlich höher als 1929. Um das zu vermeiden, um endlich die Zahl der Arbeitslosen zu verringern, ja, um ihr weiteres Ansteigen, das schon angekündigt ist, zu verhindern, sind folgende Maßnahmen notwendig.Erstens eine weitere Senkung der Zinsen. Die Gefahr droht gegenwärtig nicht von der Geldmenge, die Gefahr droht vom Erlahmen der Investitionen und vom Erlahmen der Nachfrage.Zweitens zusätzliche Investitionen, und zwar zusätzliche private ebenso wie zusätzliche öffentliche Investitionen und Investitionen zum Schutz der bedrohten und zur Wiederherstellung der schon zerstörten Umwelt, etwa nach unserem Programm „Arbeit und Umwelt", das bereits vor Jahren vorgeschlagen worden ist. Inzwischen wird das ja auch aus Ihren Reihen gefordert. Herr Franke, Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, fordert beispielsweise zusätzliche Investitionen im Bereich der Stadt- und Dorfsanierung und im Umweltschutz. Hier — so sagt er wörtlich — ließen sich zehn Jahre lang 10 Milliarden DM pro Jahr ökonomisch und ökologisch sinnvoll einsetzen. — Das ist doch genau das, was wir schon seit Jahr und Tag sagen.
Herzlich willkommen, Herr Franke und Ihre Sozialausschüsse, meine Damen und Herren von der Union, haben vor kurzem in Hamburg wörtlich folgendes beschlossen: „Der Staat" — man höre und staune: der Staat — „muß sinnvolle Arbeit zusätzlich organisieren, wenn das vom Markt nicht zu erwarten ist." — Sehr wahr! Eine bessere Bestätigung hätten wir Sozialdemokraten uns kaum wünschen können.
Wir dürfen durchaus daran erinnern, daß die auch durch das Zukunftsinvestitionsprogramm, ZIP, und die anderen Programme in der zweiten Hälfte der 70er Jahre ausgelösten Beschäftigungseffekte fast viermal so hoch waren wie die von Ihnen in der Periode des Aufschwungs erreichten Beschäftigungseffekte. Denn das, meine Damen und Herren, ist die schlichte Wahrheit: Während in der zweiten Hälfte der 70er Jahre die Beschäftigtenzahl um knapp 1 Million stieg, waren es in der Aufschwungphase seit 1982 nur 260 000 Beschäftigte mehr als am Beginn dieses Abschnitts. Wir haben heute immer noch 310 000 Beschäftigte weniger als 1980.Ebenso muß daran erinnert werden, daß alle Investitionsquoten, alle, die der öffentlichen Hand wie die privaten, die des Bundes wie die der Länder und der Gemeinden, seit Beginn Ihrer Regierungszeit rapide gesunken sind — ich wiederhole: sowohl die privaten wie die öffentlichen Investitionen. Der Anteil der Investitionen am Bruttosozialprodukt insgesamt hat inzwischen mit etwas weniger als 20 % den niedrigsten Stand seit 1955 erreicht, der der Investitionen im Bundeshaushalt den niedrigsten seit Gründung der Bundesrepublik, und der Investitionsstand der Gemeinden ist jetzt etwa wieder auf dem der 50er Jahre. In dem Absinken aller Investitionen liegt eine der wesentlichen Ursachen für die Massenarbeitslosigkeit.
Drittens. Schließlich bedarf es einer grundlegenden Korrektur der Steuerpläne. Die Finanzkraft — und das heißt, die Investitionskraft der öffentlichen Hände — darf gerade jetzt nicht noch weiter geschwächt werden. Steuersenkungen dürfen nur denen zugute kommen, die die Entlastungen nicht über die Banken wieder in Finanzvermögen in den USA anlegen, sondern nachfragesteigernd bei uns ausgeben, und das sind eben nicht die Spitzenverdiener, sondern die Bezieher der kleinen und mittleren Einkommen.Das heißt: Ziehen Sie Ihre bisherigen Steuerpläne zurück. Senken Sie statt dessen die Steuerlast für kleine und mittlere Einkommen durch eine nachhaltige Erhöhung des Grundfreibetrages, und verzichten Sie vor allem auf die sogenannten Deckungsmaßnahmen, die die Arbeitnehmer und ihre Familien belasten und mit denen Sie dann die Entlastung der Spitzeneinkommen finanzieren.
Das wäre nicht nur gerecht, es wäre auch beschäftigungsfreundlich.
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2694 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Dr. Vogel— Nehmen Sie den Herrn nicht ernster, als es unbedingt sein muß.
Er hat auch einen ziemlich hohen Blutdruck, und wir müssen auch ein bißchen für seine Gesundheit Sorge tragen.
— Ja, das ist immer am Anfang des Tages. Wenn Sie sich hier aber so aufregen, sind die Werte viel höher. Seien Sie vorsichtig, Herr Bötsch.
— Wenn Sie sich über den Blutdruck des Herrn verständigt haben, können wir ja weitermachen.Es ist doch nicht so, daß es uns für eine solche Politik an Arbeit oder an den Mitteln fehlen würde. Es fehlt weder an der Arbeit noch an den Mitteln. Das Bruttosozialprodukt — ich sagte es schon — hat seit 1982 um 350 Milliarden DM zugenommen. Der Leistungsbilanzüberschuß betrug 1986 mehr als 80 Milliarden DM, die Sparkapitalbildung in unserem Volk fast 150 Milliarden DM und der Kapitalabfluß ins Ausland fast 70 Milliarden DM.Ich wiederhole es: Es geht darum, diese Mittel im Inland wirksam werden zu lassen, zum Schutz der Umwelt. Die Umwelt schreit doch geradezu nach Investitionen. Die Kohle-, Stahl- und Werftenregionen, die schwierige Strukturveränderungen zu bewältigen haben, schreien doch ebenso nach Investitionsmitteln. Dorthin müssen doch diese Gelder fließen.
Oder auch nach Berlin. Für Berlin, meine Damen und Herren, wollen Sie die Investitionsförderungsmittel um fast 1 Milliarde DM kürzen.In diesem Zusammenhang ist angesichts der gegenwärtigen Konstellation aus niedriger Endnachfrage, hoher Sparquote, wachsender Arbeitslosigkeit und akutem Rezessionsrisiko auch eine vorübergehende Erhöhung der Kreditaufnahme durch den Bund vertretbar, wenn sie zur Verstärkung der Investitionen oder zur Steigerung der Binnennachfrage eingesetzt wird.Es besteht also international und national dringender Handlungsbedarf. Sie, Herr Bundeskanzler, sind dabei selbst gefordert. Gute Ratschläge, die sich die Herren Bangemann und Stoltenberg gegenseitig brieflich geben, genügen zur Überwindung dieser Situation nicht.
Ihr Appell an die Gewerkschaften, Herr Stoltenberg, die Gewerkschaften sollten höhere Löhne fordern, ist ja wohl auch eher ein Zeichen, daß Sie mit Ihrem Latein am Ende sind.
Vielleicht, Herr Stoltenberg, hat Herr Edzard Reuterauch daran und an Sie gedacht, als er vor wenigenTagen von einem — wörtliches Zitat — „katastrophalen Mangel an weltwirtschaftlicher Führungskompetenz " sprach.
— Ich will niemanden von diesem Urteil ausschließen.Die Ermordung der beiden Polizeibeamten am Rande des Frankfurter Flughafens ist ein weiteres Ereignis, das unser Volk aufgewühlt hat und es auch jetzt, drei Wochen später, unverändert mit großer Sorge erfüllt. Es geht dabei um die elementare Frage, ob Menschen im allgemeinen und diejenigen Menschen, die im Dienste unseres Staates die Rechtsgüter und die Bürgerfreiheiten zu schützen haben, also die Polizeibeamten, im besonderen in unserer Mitte ihres Lebens sicher sind oder ob sie um ihr Leben fürchten müssen.Es geht um die ebenso elementare Frage, ob das Gewaltmonopol des Staates gewahrt bleibt, ob Meinungsverschiedenheiten in unserer Gemeinschaft auch in Zukunft gewaltfrei ausgetragen werden und ob das Demonstrationsrecht seinen verfassungsmäßigen Rang behält. Für uns und die erdrückende Mehrheit unseres Volkes gibt es nicht die geringsten Zweifel daran, wie diese Fragen zu beantworten sind.In der Tat, die Demonstrationsfreiheit, die Gewaltlosigkeit des Meinungskampfes und das an die Regeln und Kontrollen des Grundgesetzes gebundene Gewaltmonopol des Staates sind zentrale Errungenschaften unserer Rechtsordnung und unserer Rechtskultur. Wir haben sie wie unseren Augapfel zu hüten.Ebenso lehnt die erdrückende Mehrheit unseres Volkes zu Recht jede Vermummung ab. Wer seine Meinung äußert, soll auch sein Gesicht zeigen; das ist allgemeine Meinung in unserem Volke, jedenfalls unsere.
Gestritten wird ja — von einigen Außenseitern abgesehen — auch nicht darüber; gestritten wird vielmehr darüber, was konkret geschehen soll, um das zu gewährleisten. Die einen — wir haben sie gerade gehört — sagen lautstark, dazu bedürfe es jetzt vor allem der Änderung von Gesetzen; mehr Verhaltensweisen als bisher müßten mit Strafe bedroht werden. Sie reden dabei vor allem von der Vermummung und tun so, als ob sie nicht jetzt schon verboten wäre. Diejenigen, die das fordern, erwecken zugleich den Eindruck, als ob die Frankfurter Beamten noch am Leben wären und andere nicht verletzt worden wären, wenn dieser Forderung schon entsprochen worden wäre.
Das ist nicht redlich.
Alle nur denkbaren Arten von Gewaltanwendung sind schon jetzt mit Strafe bedroht. Wer bei Demonstrationen Gewalt anwendet, wer bei gewalttätigen Demonstrationen vermummt auftritt, wer mit Steinen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2695
Dr. Vogeloder Molotowcocktails geworfen hat, wer mit Stahlkugeln auf Polizisten geschossen hat, der ist doch nicht deshalb in vielen — ich sage: in zu vielen — Fällen straffrei geblieben, weil es an Paragraphen gefehlt hätte, sondern deshalb, weil er nicht ergriffen, weil er nicht festgenommen und nicht zur Verantwortung gezogen worden ist; das ist doch die Lage.
Die Ausdehnung der Strafbarkeit auf Tausende, ja, wenn man an große Demonstrationen und Ihre Forderung, den alten Landfriedensparagraphen wiederherzustellen, denkt, auf Zehntausende von Personen, von denen im besten Fall jeweils nur einige wenige mehr oder weniger zufällig zur Verantwortung gezogen werden können, würde daran doch überhaupt nichts ändern. Im Gegenteil: Rasch nach diesen Gesetzesänderungen würde sich bei der nächsten Demonstration herausstellen, daß diese Änderungen überhaupt nichts verändert und überhaupt nichts bewirkt haben.
Darum warnen ja gerade auch Polizeiexperten, warnt der Deutsche Richterbund, warnt die deutliche Mehrheit der Staatsanwälte, und zwar sogar aus CDU-regierten Ländern, vor solchen Änderungen. Mit Recht sagen diejenigen, die so warnen, die emotionalisierte und parteipolitisierte Diskussion über solche Änderungen lenke nur vom eigentlichen Kern der Sache ab.
Leider hat sich inzwischen auch die FDP in diese Diskussion hineinzerren lassen oder auch selbst verstrickt. Nicht alle — das anerkenne ich — , aber ein großer Teil sind offenbar jetzt geneigt, den Widerstand aufzugeben, den man um der Sache willen auch gegen Emotionen und Stimmungen leisten muß.
Um die Welle der Gewalt einzudämmen, ist jetzt vor allem dreierlei notwendig:Erstens. Es muß alles geschehen, damit diejenigen, die Gewalt anwenden, und vor allem die Angehörigen der militanten Gruppen, die von Ort zu Ort reisen, ermittelt, vor Gericht gestellt und verurteilt werden.
Nur auf diese Weise ist in den Jahren zwischen 1977 und 1982 dem Terrorismus Einhalt geboten worden. Seitdem hat es nicht an Gesetzen, sondern an Fahndungserfolgen und an Verhaftungen gefehlt.
Zweitens. Die Sicherheitsorgane und die Polizei bedürfen aber auch des Vertrauens und des Rückhalts bei allen gesellschaftlichen Kräften und auch bei der Politik. Insbesondere darf die Gesellschaft, darf die Politik die Polizei nicht allein lassen, und erst recht darf sie der Polizei nicht die Bewältigung von Problemen aufbürden, zu deren Lösung die Politik selbst nicht willens oder nicht fähig gewesen ist.
Das ist in der Vergangenheit mehr als einmal geschehen. Das beginnt schon, wenn dieser Gesichtspunkt bei politischen Entscheidungen überhaupt nicht in Betracht gezogen wird.Drittens. Es bedarf der eindeutigen Absage an die Gewalt, und zwar gerade durch die, die Strukturen unserer Gesellschaft verändern, die früher getroffene politische Entscheidungen korrigieren wollen. Der Satz des Herrn Bundespräsidenten, von dem auch in diesem Zusammenhang wichtige Orientierungen ausgehen, daß die menschliche Gesellschaft nicht mit unmenschlichen Mitteln herbeigeführt — ich füge hinzu: auch nicht mit solchen Mitteln verteidigt — werden darf, kann nicht oft genug wiederholt werden. Gleiches gilt für die Mahnungen im Brief der Brüder von Braunmühl an die Mörder ihres Bruders.Frau Kollegin Schoppe, deren Ansichten ich, wie jeder weiß, in vielen Punkten nicht teile, hat mit ihrer Rede in der Debatte gleich nach den Frankfurter Morden ein bemerkenswertes Beispiel dafür gegeben, wie dieser Gedanke auch denen nahegebracht werden kann, die erst durch die Morde zur Nachdenklichkeit gekommen sind.
Das ist ein Beispiel, das sich wohltuend von dem schlimmen Satz der Frau Ditfurth abhebt, sie lehne die Distanzierungsrituale der GRÜNEN von der Gewalt ab, da diese nur eine prima Methode seien, um vom allgegenwärtigen Staatsterrorismus abzulenken. Gerade in Anbetracht dieser ganz unannehmbaren Aussage, für Sozialdemokraten absolut unannehmbaren Aussage, danke ich Frau Schoppe für ihre Äußerung.
Ich kann nur hoffen, daß sich in den Reihen der GRÜNEN ihr Standpunkt durchsetzt.Ich bedaure allerdings, daß Frau Schoppe während ihrer Rede hier im Hause aus bestimmten Reihen dieses Hauses Feindseligkeit auch an dieser Stelle entgegenschlug.
Wer so reagiert — Sie tun es jetzt wieder — , möge bitte bedenken, daß die Spirale der Gewalt auch durch ein solches Verhalten eine neue Umdrehung erfahren kann.
Ebenso kann sich die Spirale der Gewalt dadurch weiterdrehen, daß Gewaltanwendung zwar verurteilt, aber zugleich als brauchbares Vehikel zur Förderung eigener politischer, parteipolitischer Interessen und zur Verteufelung abweichender Positionen benutzt wird.
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2696 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Dr. VogelManche Kolleginnen und Kollegen der FDP können von dieser Verteufelungsmethode auf Grund ihrer Erfahrungen in den letzten Wochen und Tagen ein spezielles Lied singen.In Hamburg ist dagegen ein ganz anderes Zeichen gesetzt worden: Dort hat die Politik gezeigt, daß sie willens ist und in der Lage sein kann, die Bewältigung kritischer Situationen nicht auf die Polizei zu überwälzen, sondern selbst in der Hand zu behalten.
Dort hat sich gezeigt, daß ein Politiker bereit ist, frühere Irrtümer einzugestehen,
und daß er im entscheidenden Moment den Verbleib in seinem Amt und seine ganze Person in die Waagschale wirft, um das, was er für geboten hält, auch gegen Emotionen und Stimmungen zu verwirklichen. All das hat Herr von Dohnanyi als Bürgermeister von Hamburg getan. Dafür verdient er unseren Dank und unsere Anerkennung.
Ich meine, er verdient nicht nur unseren Respekt, sondern auch den Respekt derer, die in der Sache selbst anderer Meinung waren oder noch sind.Natürlich wäre auch ein massiver Polizeieinsatz Rechtens und — ich füge hinzu — ohne das Einlenken der Bewohner der Hafenstraße wohl auch unvermeidlich gewesen. Aber die Entscheidung des Herrn von Dohnanyi, die sich streng am Prinzip der Verhältnismäßigkeit orientiert hat, war genauso Rechtens. Sie hat die Stadt der dauerhaften Wiederherstellung des Rechtsfriedens ohne einen massiven Einsatz staatlicher Mittel ein Stück nähergebracht.
— Herr Bötsch, sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, daß Sie mit Ihrem Zwischenruf den schlimmen Eindruck hervorrufen, Sie wünschten vielleicht sogar, daß es dort nicht zur Befriedigung kommt?
Ich sage nicht, daß der Rechtsfrieden bereits dauerhaft wiederhergestellt ist. Ich sage: Herr von Dohnanyi hat die Stadt der dauerhaften Wiederherstellung des Rechtsfriedens ohne einen massiven Einsatz staatlicher Machtmittel ein Stück nähergebracht, ohne einen massiven Einsatz, der erhebliche, im einzelnen gar nicht abzuschätzende Gefahren für Leib und Leben auch auf seiten der Sicherheitsorgane mit sich gebracht hätte und zum Ausgangspunkt einer langanhaltenden Konfrontation mit nicht unwesentlichen Teilen der jungen Generation und Ausgangspunkt für falsche Solidarisierungen hätte werden können.So betrachtet hat nach meinem Urteil der Bürgermeister für die Eindämmung der Gewalt, für den Frieden in unserer Gesellschaft mehr getan, als es zehnPolizeieinsätze oder gar die Scheinaktivität nutzloser Gesetzesänderungen ermöglichen würden.
Schon die Frankfurter Morde und die Militanz einer Gruppe reisender Gewalttäter berühren die innere Verfassung und die politische Kultur unserer Gesellschaft und beeinträchtigen sie und das Vertrauen in unser Gemeinwesen. In noch höherem und nachhaltigerem Maße gilt beides aber für die Vorgänge, die sich seit Beginn dieses Jahres in Kiel zugetragen haben, Vorgänge, die man bis dahin in der Bundesrepublik so nicht für möglich gehalten hätte. Dabei rede ich nicht von den Sachverhalten, die noch strittig sind und deren abschließende Bewertung nach den Regeln des Rechtsstaates dem Untersuchungsausschuß des Schleswig-Holsteinischen Landtags, den schleswigholsteinischen Justizbehörden und den Genfer Justizbehörden vorbehalten bleiben muß. Ich beschränke mich vielmehr auf das, was unstreitig und unzweifelhaft feststeht.
Fest steht zunächt einmal, daß ein Ministerpräsident einen sogenannten Medienexperten in seiner Staatskanzlei mit den Bezügen eines Oberregierungsrats für die Dauer eines Jahres eingestellt hat, damit er dort nicht etwa staatliche Aufgaben wahrnimmt, sondern damit er auf Kosten der Steuerzahler den Wahlkampf seiner Partei fördert und unterstützt. Schon das allein ist in Anbetracht der klaren Regeln, die das Bundesverfassungsgericht schon im März 1977 in einem Urteil aufgestellt hat, eine eindeutige Verletzung der Verfassung.Fast steht weiter, daß der Betreffende unter Mißachtung wesentlicher Verfahrensgrundsätze in den öffentlichen Dienst übernommen und während seiner Zugehörigkeit zum öffentlichen Dienst auch noch erhebliche Zahlungen von dritter Seite erhalten hat. Fest steht, daß er der Dienstaufsicht von zwei CDUStaatssekretären unterstanden hat. Fest steht, daß er seine Aktivitäten nicht etwa vom dritten Ort, sondern aus der Staatskanzlei, aus seinem Dienstzimmer entfaltet hat, das ganze 30 m vom Dienstzimmer des Ministerpräsidenten entfernt war.
Der Machtmißbrauch, die elementare Mißachtung der Spielregeln, die Gleichsetzung von Staats- und Parteiinteresse, die Hybris, die Verblendung, von denen ja auch bei Ihnen gesprochen worden ist, ergeben sich bereits aus diesem Sachverhalt und nicht erst aus den unsäglichen Machenschaften im einzelnen oder aus der etwaigen Verstrickung des ehemaligen Ministerpräsidenten in diese Machenschaften. Die Linie dessen, was nicht geht, ist schon viel früher überschritten worden.
Auch diese Machenschaften sind inzwischen bis ins Detail bekannt: die anonyme Denunziation angeblicher Steuerhinterziehung, die Bespitzelung durch Detektive und schließlich der infame Versuch, den Her-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2697
Dr. Vogelausforderer des Ministerpräsidenten durch psychischen Terror eines anonymen Telefonanrufs aus dem Rennen zu werfen.Diese Vorgänge haben nicht nur der CDU Abbruch getan und deren Glaubwürdigkeit erschüttert, sie haben vielmehr die Parteien und das demokratische System insgesamt in Mitleidenschaft gezogen, nicht so sehr deshalb, weil es in Randfragen auch auf unserer Seite Fehler gegeben hat, die besser vermieden worden wären, sondern weil von bestimmter Seite planmäßig der Eindruck gefördert wurde, alle Parteien würden im gegebenen Fall ähnlich handeln, wie es hier von Ihrer Seite geschehen ist.Dem kann nur begegnet werden, wenn ein solches Fehlverhalten auch Folgen hat, wenn eine Partei, deren Repräsentanten derartige Verstöße gegen die demokratischen und parlamentarischen Grundregeln zu verantworten haben, für geraume Zeit die Regierung verläßt und die Chance erhält, sich in der Opposition zu regenerieren.
Denn das ist wohl wahr: Skandale gibt es auch in anders verfaßten Staaten, etwa in Diktaturen. Ich sage für unsere Bürgerinnen und Bürger: Es gibt dort schlimmere Skandale. An Beispielen fehlt es nicht. Die Demokratie wird auch nicht durch Skandale als solche dauernd beschädigt, so abstoßend sie auch sein mögen. Sie wird aber dauerhaft beschädigt, wenn Skandale vertuscht werden oder wenn sie ohne Folgen bleiben, wenn die Herrschenden so tun, als ob gar nichts geschehen wäre, oder wenn sie das alles auch noch für mehr oder weniger alltäglich erklären.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben sich bisher im Deutschen Bundestag zu den Vorgängen noch nicht geäußert. Es wäre gut, wenn Sie es heute täten.Für uns Sozialdemokraten füge ich hinzu: Wir erheben uns nicht über andere.
Wir wissen, daß auch wir Versuchungen ausgesetzt sind. Wir wissen, daß wir uns selbst immer wieder zu prüfen haben
und daß auch wir uns der Kritik stellen müssen. Aber wir haben uns stets zu den berühmten Sätzen von Kurt Schumacher bekannt, die Herbert Wehner auch vom Pult des Deutschen Bundestags aus so oft zitiert hat und die so lauten:Die Demokratie beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und der Ehrlichkeit. Die Demokratie kann nur leben, wenn die Menschen selbständig sind und den Willen zur Objektivität haben. Aber die technokratische und geradezu kriegswissenschaftliche Handhabung der politischen Mittel führt zum Gegenteil.Diese Sätze haben für uns unverändert Gültigkeit. Wir sollten sie über die Parteigrenzen hinweg als allgemeine Maxime akzeptieren.
Auf anderen Feldern der Politik sind die Probleme nicht in der gleichen Weise durch bestimmte Ereignisse so eindringlich ins Bewußtsein gehoben worden wie auf den Gebieten, die ich soeben behandelt habe. Sie sind deswegen aber nicht weniger dringlich. Das gilt beispielsweise für die Reform und die Stabilisierung zweier zentraler Systeme der sozialen Sicherheit, die für Millionen von Menschen von ganz entscheidender Bedeutung sind, nämlich die Alterssicherung und die Strukturreform im Gesundheitswesen. Für beide Bereiche sind jetzt konkrete politische Entscheidungen überfällig.Bei der Alterssicherung, meine Damen und Herren, halten wir Sozialdemokraten eine interfraktionelle Verständigung für wünschenswert, aber auch für möglich. Allerdings genügt es jetzt nicht, nur die Liquidität der Rentenversicherung auf mittlere Frist zu gewährleisten. Wir brauchen vielmehr eine umfassende Erneuerung der Alterssicherungssysteme. Es liegt jetzt vor allem an Ihnen, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, zunächst einmal darüber Klarheit zu schaffen, welche Bundeszuschüsse langfristig zur Verfügung gestellt werden.Daß Ihre Steuerpläne die finanziellen Spielräume des Bundes auch in dieser Hinsicht gefährlich verengen, haben Sie allerdings vorläufig allein zu verantworten, und das ist Ihnen ja wohl auch bewußt.Im Gesundheitswesen sind die Aufwendungen der gesetzlichen Krankenkassen seit 1982, also seit Sie die Regierungsverantwortung übernommen haben, von 97 auf 120 Milliarden DM im Jahr 1986 geradezu explodiert, und sie steigen weiter. Die Krankenversicherungsbeiträge haben infolgedessen mit durchschnittlich 12,7 % — die ersten Beitragserhöhungen bewirken jetzt schon eine Belastung von über 14 %; 14,8 %, wie ich gehört habe; einzelne Beiträge sind sogar noch höher — den höchsten Stand seit der Gründung der Bundesrepublik erreicht.Ihre Abhilfevorschläge, meine Damen und Herren, kommen spät und sind überdies nach allem, was wir hören, in der Bundesregierung und in der Koalition noch nicht abgestimmt. Die bislang bekanntgewordenen Absichten der Bundesregierung sind auf seiten der Versicherten mit Recht auf Ablehnung gestoßen. Sie laufen nämlich darauf hinaus, die Machtpositionen und die Gewinne auf der Anbieterseite, etwa die beispiellose Machtstellung der Pharmaindustrie, unangetastet zu lassen und die Kosten der Sanierung im wesentlichen den Versicherten aufzubürden.
Dem werden wir nicht zustimmen. Vielmehr werden wir, auch gestützt auf die Arbeiten der Enquete-Kommission zur Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung, Ihren Absichten unsere Gegenvorschläge entgegenstellen.Nicht weniger dringlich sind unverändert die Umweltprobleme und die Frage des Übergangs zu einer
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2698 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Dr. Vogelsicheren Energieversorgung ohne Atomkraft. Um hier jeden Zweifel auszuräumen: Wir bleiben bei unserem Nein zu einer Technologie, deren gefahrlose Beherrschbarkeit nur gewährleistet sehen kann, wer glaubt, daß Menschen unfehlbar seien.Mit vollem Ernst, Herr Bundeskanzler, füge ich hinzu: Sie sprechen in letzter Zeit so oft vom christlichen Menschenbild. Zum christlichen Menschenbild gehört die Erkenntnis, daß der Mensch Fehler macht, daß er nicht unfehlbar ist, und zwar auch dann nicht, wenn er Atomkraftwerke plant, baut und betreibt. Auch das folgt aus dem christlichen Menschenbild.
Wir bleiben bei der Forderung, eine sichere Energieversorgung ohne Atomkraft möglich zu machen. Diese Forderung findet gerade in letzter Zeit zunehmende Unterstützung: in den Beschlüssen des Bundesausschusses des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des geschäftsführenden Hauptvorstands der ÖTV und des Bundeskongresses der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft.Aber auch international bewegen sich die Dinge, und zwar in derselben Richtung, wie zuletzt die Volksentscheide in Italien gezeigt haben.
Immerhin haben sich dort drei Viertel der Abstimmenden für Gesetzesänderungen ausgesprochen, die die Errichtung neuer Kernkraftwerke de facto unmöglich machen.Das Nein zu einer bestimmten Technologie verbinden wir mit einem Ja zu wirklichem, zu menschenfreundlichem technischen Fortschritt. Wir haben Vertrauen zu unseren Naturwissenschaftlern, zu unseren Ingenieuren und zu unseren Facharbeitern. Wir trauen ihnen zu, daß sie die gewaltigen Reserven der Energieeinsparung nutzen und alternative Arten der Energieerzeugung entwickeln können, wenn wir nur unsere nationalen Kräfte auf dieses Ziel konzentrieren. Wir weigern uns ein für allemal, zu akzeptieren, daß Wissenschaft und Technik zu solchen außerordentlichen Anstrengungen nur auf militärischem, nicht aber auf zivilem Gebiet in der Lage sein sollen.
Wir müssen in diesem Zusammenhang auch die Frage aufwerfen, welcher Anteil der öffentlichen Mittel vernünftigerweise für die Förderung alternativer Energien, etwa die Entwicklung der Solartechnik, und welcher für die Förderung der Raumfahrt aufgewendet werden soll. Die Aufteilung, die sich gegenwärtig für diese öffentlichen Mittel abzeichnet, kann nach unserer Meinung nicht das letzte Wort sein.Ihre Partei, Herr Bundeskanzler — damit greife ich vielfache Äußerungen aus Ihren eigenen Reihen auf — , befindet sich seit geraumer Zeit in einer Krise. Das ist von vielen Rednern — nicht von Ihnen, aber von Herrn Geißler und anderen — auf dem letztenParteitag Ihrer Partei hier in Bonn eingeräumt worden. Ich spreche das an, weil die Krise der stärksten Regierungspartei auch auf die Bundespolitik und auf die Regierungsgeschäfte durchschlägt. Deshalb ist es durchaus legitim, hier und bei dieser Gelegenheit nach den Ursachen dieser Krise zu fragen. Der Vorsitzende der Jungen Union, Herr Böhr, jetzt gerade wiedergewählt, hat diese Frage unter anderem wie folgt beantwortet — wörtliches Zitat —In der CDU wird zuwenig diskutiert, zuwenig kontrovers diskutiert, zuwenig grundsätzlich diskutiert.Und Herr Böhr fuhr fort:Wo stehen wir— die Union —eigentlich in zentralen Fragen, wo steht die CDU in der Reform des sozialen Sicherungssystems, des Gesundheitswesens, wie steht sie zum Schutz des ungeborenen Lebens, zur Manipulierbarkeit menschlichen Lebens durch die Gentechnologie? Darüber— das sagt Herr Böhr, immerhin Sprecher der jungen Generation in Ihrer Partei —
hat die Partei zuwenig diskutiert, darauf ist sie die Antwort schuldig geblieben. Der Fehler war, daß die CDU seit der Verabschiedung des Grundsatzprogramms im Jahr 1978 breit verankerte Diskussionen über Zukunftsperspektiven nicht mehr geführt hat.Herr Böhr muß ja wissen, wovon die Rede ist, und ich glaube, Herr Böhr hat recht.
Die Union leidet vor allem darunter, daß von ihr kaum mehr Perspektiven und Orientierungen ausgehen, daß sie den großen gesellschaftlichen Veränderungen und den meisten Herausforderungen unserer Zeit— etwa auf dem Gebiet des Umgangs mit der Natur, der Frage nach der Zukunft der Arbeit, dem neuen Selbstverständnis der Frauen, der, wie es der Bundespräsident gesagt hat, auch systemöffnenden Zusammenarbeit mit den Staaten des Warschauer Paktes oder der Überwindung des Nord-Süd-Konflikts — nur noch mit einem stereotypen „Weiter so" begegnet. Hier liegen wohl auch die Wurzeln des sogenannten Richtungsstreits, der übrigens bisher nicht in Form breiter und offener Diskussion innerhalb der Partei, sondern im wesentlichen in Form polemischer Auseinandersetzungen zwischen Spitzenfunktionären geführt wird.Es mag parteipolitisch sein, daß wir Sozialdemokraten aus diesem Zustand Nutzen ziehen, und die Meinungsumfragen der letzten Zeit bestätigen das auch. Für unser Gemeinwesen hingegen ist dieser Zustand nachteilig. Er lähmt die Regierungstätigkeit gerade in einer Phase, in der kraftvolle, überzeugende und zukunftsweisende Antworten auf die Herausforderungen notwendiger sind denn je. Es wird Ihnen auch immer weniger gelingen, Herr Bundeskanzler, sich und Ihre Regierung von der Krise Ihrer Parteien abzu-
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Dr. Vogelkoppeln. Deshalb fordern wir Ihre Parteien, aber auch die anderen Parteien zum Wettbewerb heraus.Wir haben mit unseren Nürnberger Beschlüssen die Diskussion zum Lernprozeß zu einem vorläufigen Abschluß gebracht. Sie liegt noch vor Ihnen; Sie haben damit überhaupt noch nicht begonnen.
Wir arbeiten bereits an einem neuen Grundsatzprogramm. Wir haben unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger eingeladen, sich daran zu beteiligen. Wir Sozialdemokraten wissen: Sachverstand, Perspektiven über den Tag hinaus, Verantwortungsbewußtsein auch für das Leben kommender Generationen, gesellschaftliches Engagement und soziale Phantasie, das alles gibt es nicht nur innerhalb der Parteien, das gibt es in reichem Maße in allen Schichten und in vielen Institutionen unseres Volkes. Wir wären — das sage ich für alle Parteien — töricht, wenn wir uns das schöpferische Potential in unserer Gesellschaft nicht auch für diese Aufgabe zunutze machen würden.
Den Wettbewerb, zu dem ich Sie auffordere, sind wir unserem Volk schuldig. Sie haben ihn bisher verweigert. Wenn sie ihn weiterhin verweigern, werden Sie die Regierungsmacht, die schon zu bröckeln begonnen hat, auch aus diesem Grunde verlieren.Auch das sieht Herr Böhr, der Sprecher der jungen Generation in Ihrer Partei, genauso, wenn er sagt: Die Regierungsfähigkeit der Union, also die Mehrheitsfähigkeit und damit der Machterhalt, ist gefährdet, wenn die Partei weiter den Fehler macht, in ihren programmatischen Aussagen auf der Stelle zu treten. Er sagt weiter: Ich glaube nicht, daß die Wähler in den nächsten Jahren die Union mit der notwendigen Mehrheit unterstützen werden, die auf Zukunftsprobleme in der Breite, wie sie sich darstellen, so wenig Antworten gibt. Er schließt mit den Worten: Die Regierungsfähigkeit ist eine Frage unserer Zukunftskompetenz. — So ist es, Herr Bundeskanzler!
Es wird niemanden verwundern, wenn ich einen Schritt weiter gehe als der Sprecher der jungen Generation in Ihrer Partei und sage: Ihre Regierungsfähigkeit steht nicht nur deshalb in Frage, weil Sie die Zukunftskompetenz verlieren;
Sie verlieren auch zunehmend die Gegenwartskompetenz. Sie führen nicht, Herr Bundeskanzler, Sie verteidigen nur noch Machtpositionen, und deshalb lehnen wir Ihren Haushalt ab.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seiters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat davon gesprochen, der Bürger müsse die Politik der Parteien voneinander unterscheiden und die Alternativen kennen. Das ist auch meine Meinung. Der Bürger soll gewichten, er soll vergleichen — in Kenntnis der Tatsachen und der wahren Sachverhalte. Aber ich muß feststellen, Herr Kollege Vogel: Von konkreten Alternativen habe ich jedenfalls heute morgen herzlich wenig gehört.
Bei Ihrer heutigen Rede ist mir aufgefallen, was Sie gesagt haben, aber auch was Sie bewußt weggelassen haben, weil Ihnen offensichtlich bestimmte Argumente fehlen oder ausgegangen sind. Ich sage: Wer den Zustand unseres Landes und die Arbeit dieser Regierung von vornherein so parteiisch und so einseitig, so verbissen und so griesgrämig betrachtet, der muß ein verzerrtes Bild von der Bundesrepulik Deutschland bekommen. Herr Vogel, dieses Bild findet in der Realität des politischen Lebens unseres Landes keinerlei Berechtigung und Bestätigung.
Es zeigen sich Glaubwürdigkeit und Augenmaß manchmal auch an kleinen Beispielen, und eines will ich Ihnen nicht vorenthalten. Wir haben vor zwei Wochen unseren Bundesparteitag in Bonn gehabt. Dabei hat der Bundesfinanzminister, auf den die SPD sich ja seit Wochen glaubt einschießen zu müssen, von den sieben stellvertretenden Bundesvorsitzenden das beste Ergebnis erzielt, ein besseres Ergebnis noch als auf dem letzten Parteitag. Die „Frankfurter Rundschau" sprach von einem überragenden Stimmergebnis; die Überschrift bei der Deutschen Presseagentur lautete: Großer Vertrauensbeweis für Stoltenberg. Nur der Fraktionsvorsitzende der SPD, der Herr Vogel, konstatierte — wörtliches Zitat — : viele Gegenstimmen, viele Enthaltungen, sinkende Zustimmung zu Gerhard Stoltenberg.
Herr Kollege Vogel, das ist ein, wie ich finde, typisches Beispiel. Es zeigt nämlich nicht nur — —
— Nein, Sie haben — —
— Darauf habe ich gewartet, Herr Kollege Vogel. Ich habe hier die dpa-Meldung. Sie beziehen sich mit der wörtlichen Formulierung auf Stoltenberg und sagen, Finanzminister Gerhard Stoltenberg habe auf dem Parteitag in Bonn am Montag
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2700 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Seitersals stellvertretender Bundesvorsitzender viele Gegenstimmen und Enthaltungen hinnehmen müssen, und Sie sprechen von sinkender Zustimmung.
Ich sage Ihnen, Herr Kollege Vogel: Das ist nicht nur Realitätsverlust, sondern Sie sind auch nicht mehr fähig zur Objektivität. Das ist der entscheidende Punkt.
Was mich im übrigen am meisten empört, ist doppelte Moral. Deswegen komme ich auf das, was Sie zu Kiel gesagt haben, noch einmal zurück.
— Ja, Herr Vogel, Sie haben sich hier hingestellt und eine sehr pathetische Rede gehalten. Aber Sie tun— mit Blick auf Schleswig-Holstein — nichts gegen die Diffamierung der Union und des Bundesfinanzministers außerhalb dieses Hauses.
Am 26. Oktober 1987 schreibt der ParlamentarischPolitische Pressedienst der SPD unter der Verantwortung des SPD-Fraktionsvorsitzenden — Zitat — :Von der erprobten Technik Stoltenbergs, den politischen Gegner wider besseres Wissen öffentlich zu denunzieren, führt ein gerader Weg in die Fälscherwerkstatt des Reiner Pfeiffer.
Herr Vogel, nichts gegen eine harte politische Auseinandersetzung über die Vorgänge in Kiel und ein volles, klares und uneingeschränktes Ja zur vollständigen Aufklärung der Vorgänge. Aber Sie können sich hier nicht hinstellen, von Moral und Anständigkeit reden, mit dem Finger anklagend auf andere zeigen, wenn Sie gleichzeitig aus rein parteipolitischen Gründen versuchen,
die persönliche Integrität eines politischen Gegners,der mit den Machenschaften des Herrn Pfeiffer überhaupt nichts zu tun hat, in einer solch unanständigen- ich sage: unanständigen — Weise zu beschmutzen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie müssen nun wirklich — —
Meine Damen und Herren, ich bitte um etwas mehr Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren von der Opposition, — —
Zur politischen Kultur eines Landes gehört auch, daß man sich gegenseitig zuhört.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie brauchen nun wirklich nicht alles gut zu finden, was die Regierung macht. Aber Sie brauchen auch nicht unbedingt den Beweis für die Behauptung von Voltaire anzutreten, der einmal gesagt hat: Wer selbst keinen Erfolg hat, verleumdet ihn.
Herr Vogel, in Ihrer Rede findet sich kein Wort darüber, meine Damen und Herren, daß wir — entgegen allen Ihren Prophezeiungen von Eiszeit und Kaltem Krieg — bei den Mittelstreckenraketen heute vor weitreichenden Abrüstungsschritten stehen und diese Bundesregierung entscheidenden Anteil daran hat.
Sie haben sich heute hinsichtlich der Ergebnisse bei allen möglichen bedankt,
aber Sie haben es nicht übers Herz gebracht, sich einmal bei dieser Regierung und bei diesem Bundeskanzler für die Politik zu bedanken.
Kein Wort darüber in Ihrer Rede, daß die Zahl der Begegnungen zwischen den Menschen im geteilten Deutschland in den letzten Jahren drastisch gestiegen ist und in diesem Jahr 5 Millionen Bürger aus der DDR in die Bundesrepublik kommen — hundertmal soviel wie bei Antritt dieser Bundesregierung. Darüber sollten wir uns doch eigentlich gemeinsam freuen können.
Kein Wort darüber, daß der Sachverständigenrat unsere Wirtschaftspolitik mit Steuerreform und Wirtschaftswachstum gerade in diesen Tagen bestätigt. Das paßt Ihnen nicht in den Kram.
— Sie haben es gestern doch schon sehr abqualifiziert.„Die Sozialdemokraten kritisierten die ratlosen Rat-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2701
Seitersgeber" , habe ich hier. Also was wollen Sie denn? Die Sachverständigen bestätigen unseren Kurs.
Daß wir unter den zwölf Ländern der Europäischen Gemeinschaft beim Bruttoinlandsprodukt, bei der Entwicklung der Beschäftigung, bei der Entwicklung der Reallöhne, bei der Inlandsnachfrage 1982, im letzten Jahr der Regierung Schmidt, zu den Schlußlichtern der EG gehörten und heute zu den Spitzenreitern gehören, wollen Sie nicht wahrhaben.Ich bin dafür, die Situation in der Bundesrepublik und die Arbeit dieser Bundesregierung mit der Situation in jedem anderen europäischen Land zu vergleichen. Wir brauchen diesen Vergleich nicht zu scheuen,
nicht bei der Währung, nicht bei der Preisstabilität, nicht bei den Renten.
Es gibt kein Land in Europa, das es geschafft hat, die Zahl der Beschäftigten innerhalb von drei Jahren um 800 000 zu steigern.
Es gibt kein Land in Europa mit so umfassenden Hilfen für sozial Schwächere und Arbeitslose. Es gibt auch kein Land in Europa, das so viel in wenigen Jahren in Sachen Umweltschutz, zur Luftreinhaltung und zum Schutz der Gewässer geleistet hat, bei der Einführung des von Ihnen doch massiv kritisierten schadstoffarmen Autos angefangen bis hin zu der Tatsache, daß heute an 80 % aller deutschen Tankstellen — 60 000 an der Zahl — bleifreies Benzin getankt werden kann.
Wenn Sie jemals in Ihrer Regierungszeit, Herr Vogel, solche Leistungen aufzuweisen gehabt hätten: Sie hätten sich nicht nur die Lorbeerkränze selber geflochten; Sie würden sie nicht einmal ablegen, wenn Sie abends ins Bett steigen.
Meine Damen und Herren, Sie verdrängen die großen gesetzgeberischen Leistungen dieser Bundesregierung im Bereich des Rentenrechts und zur Familienpolitik, beim Erziehungsgeld angefangen über den Erziehungsurlaub und die Anrechnung von Kindererziehungszeiten bis hin zur Erhöhung des Kindergelds für Familien mit geringem Einkommen und zur Wiedereinführung von Kindergeld für jugendliche Arbeitslose, das die SPD gestrichen hatte. Sie unterschlagen die vielfältigen Maßnahmen dieser Bundesregierung und dieser Koalition auf dem Feld der Sozialpolitik, bei der mehrmaligen Verlängerung des Arbeitslosengeldes angefangen über die Milliardenbeträge für berufliche Qualifizierung, die Erhöhung des Wohngelds um 30 %, die gezielte Förderung älterer Arbeitsloser und die Lehrstellenoffensive bis hin zu dem Umstand, daß wir die Renten wieder auf eine sichere finanzielle Grundlage gestellt haben.Im europäischen und im internationalen Vergleich und angesichts vieler struktureller Probleme ist dies eine erfolgreiche wirtschafts- und sozialpolitische Bilanz, die an die 50er und 60er anknüpft, wo alle großen sozialen Reformen
mit dem Namen der Christlich-Demokratischen und der Christlich-Sozialen Union verbunden sind, und zwar deshalb, weil wir sehr wohl wissen, daß eine Wirtschaftsordnung nicht nur effizient, sondern auch menschenwürdig sein muß, und wir immer bestrebt waren, das wirtschaftliche Wachstum gleichberechtigt durch den Ausbau einer sozial gerechten Ordnung zu ergänzen.Weil das so ist, verwahren wir uns gegen die Kampagne des Neides, die von den Sozialdemokraten immer wieder gegen die Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung in Gang gesetzt wird,
erstens, weil sie nicht stimmt, weil sie unwahrhaftig ist, und zweitens, weil Sie ja 13 Jahre Gelegenheit hatten, zu zeigen, was Sie können. Jeder Informierte weiß, daß am Ende Ihrer Regierungszeit nicht nur zwei Millionen Arbeitslose standen,
nicht nur Inflation, sondern große strukturelle Verwerfungen, und daß Sie durch einen verhängnisvollen Kreislauf von ungehemmter Ausgabenpolitik,
massiver Staatsverschuldung sowie Steuer- und Abgabenerhöhung die Finanzen unseres Staates und die Grundlagen unserer sozialen Sicherungssysteme zerrüttet haben.
Die Abtragung des von Ihnen angehäuften Schuldenbergs ist den kommenden Generationen aufgebürdet.
Ihre Inflationspolitik hat am meisten den kleinen Leuten geschadet.
Norbert Blüm hat einmal gesagt, die Inflation sei der Taschendieb der kleinen Leute. Sie haben mit diesem Taschendieb Brüderschaft getrunken; er war Ihr Bettgenosse, Ihr Weggefährte; und auf der gemeinsamen Wegstrecke, die Sie gegangen sind, hat dieser Taschendieb immer kräftig umverteilt, immer von unten nach oben, und immer zu Lasten der kleinen Leute. Das ist die Wahrheit.
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2702 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
SeitersSie haben die Stirn, die Steuerreform zu verunglimpfen, die zu einer erheblichen Entlastung breitester Schichten unserer Bevölkerung führt, während Sie es waren, die in Ihrer Regierungszeit zweimal die Mehrwertsteuer,
siebzehnmal die Verbrauchsteuern erhöht haben und dem Bürger zusätzlich 25,6 Milliarden DM jährlich aus der Tasche gezogen haben.
Ich frage mich wirklich, woher Sie die Berechtigung nehmen, die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung in dieser Form anzugreifen.
Auf folgendes Beispiel muß ich doch zu sprechen kommen, weil der Ton, mit dem Herr Vogel heute über das Thema der Abrüstung gesprochen hat, sich von dem unterscheidet, den er in früheren Reden in diesem Hause angeschlagen hat. Da die Zeit vergeßlich ist, will ich darauf doch noch einmal zu sprechen kommen. Ich nenne das Beispiel der Abrüstung. Niemand kann ernsthaft bestreiten, daß wir in der Geschichte unseres Landes erstmalig vor weitreichenden Abrüstungsschritten stehen, die zwar unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit immer sorgfältig abgewogen werden müssen, mit denen sich aber auch viel Hoffnung verbindet.Niemand in Europa und in der Welt außer der Opposition in diesem Hause bestreitet den Beitrag der Bundesregierung und dieses Kanzlers am Zustandekommen der bevorstehenden Vereinbarung zur Abrüstung der Mittelstreckenraketen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten.Jetzt will ich doch noch einmal an das erinnern, was Sie uns alles vorgeworfen haben. Herbert Wehner 1980:Die Union ist nicht friedensfähig. Es ist gefährlich für unser Land, für den Frieden in der Welt, wenn die Union die Bundesregierung stellen würde.Die SPD behauptete in den letzten Jahren ständig, die Politik dieser Bundesregierung führe konsequent geradewegs zurück in den Kalten Krieg und in die deutschlandpolitische Eiszeit. Der Herr Vogel 1982:Ich— Vogel —stehe für die Reduzierung von Raketen, dieser Bundeskanzler steht für die Einführung von Raketen.
In Ihrer Rede, Herr Vogel, zum Haushalt 1987 noch stehen die unwahrhaftigen und schäbigen Formulierungen, der Bundeskanzler sei in Wahrheit nicht für, sondern gegen Abrüstungsvereinbarungen. Sie sprachen, wenn auch im Konjunktiv, von einem politischen Betrug an unserem Volk in Reinkultur.
Herr Vogel, angesichts der Tatsache, daß dies alles mittlerweile von der Entwicklung eindeutig widerlegt worden ist, hätten Sie heute dazu nicht schweigen, sondern sich — wie es sich gehört — anständig entschuldigen sollen; denn Sie haben diffamiert.
Es geht hier überhaupt nicht ums Nachkarten,
wir lassen uns aber nicht gefallen, daß wir als die größte politische Kraft, ausgestattet mit dem Vertrauen der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, jetzt bei der Steuerreform und auch bei der Neustrukturierung der Krankenversicherung nach dem gleichen Strickmuster die gleichen Verdrehungen erleben wie beim Thema Abrüstung, bei der „Mietenlüge", bei der „Rentenlüge" und beim Thema Arbeitsmarkt, wo uns aus Ihren Reihen bis zu 4 Millionen Arbeitslose vorhergesagt wurden. Die Rente ist sicher,
die Mietpreise sind so stabil wie niemals zuvor. Und bei allen Problemen auf dem Arbeitsmarkt: Wir sind es gewesen, die den rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit gestoppt und die Zahl der Beschäftigten in Deutschland mittlerweile um 800 000 gesteigert haben.
Deswegen haben wir auch die Berechtigung, die Öffentlichkeit vor den erneuten Versuchen der Täuschung zu warnen, wie sie auch in diesen Wochen wieder von der SPD betrieben werden.Meine Damen und Herren, damit kein falscher Eindruck entsteht: Ich komme aus einem Wahlkreis mit einer traditionell hohen Arbeitslosigkeit, teilweise der höchsten in Deutschland. Die Probleme werden verschärft durch die Strukturkrise bei den Werften und durch die Strukturkrise im Bereich der Landwirtschaft. Die Lösung dieser Probleme wird auch nicht durch die im übrigen erfreulicherweise hohe Zahl der Geburten erleichtert. Deswegen denke ich nicht daran — ich hätte auch gar nicht das Recht dazu —, die Probleme, die es zweifellos auch in unserem Lande und in bestimmten Regionen gibt, zu beschönigen oder zu verharmlosen. Ich behaupte auch nicht, daß wir in den vergangenen fünf Jahren alles hundertprozentig richtig gemacht hätten. Das kann auch gar keine Partei und kein Politiker. Ich bin nur fest überzeugt davon, daß wir richtige und notwendige Weichenstellungen vorgenommen haben, daß wir die bisherigen Ergebnisse unserer Politik mit gutem Gewissen vor unseren Bürgern vertreten können und daß wir auf allen entscheidenden Politikfeldern überhaupt keine Veranlassung haben, den Vergleich mit den Rezepten der Opposition zu scheuen.
Ich mache der SPD den Vorwurf, daß sie in ihrer Regierungszeit erkennbare strukturelle Probleme nicht angefaßt, sondern deren Lösung auf die lange Bank geschoben hat. Das ist immer so: Wenn man Fehlentwicklungen nicht rechtzeitig erkennt und
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2703
Seitersnicht rechtzeitig beseitigt, wird ihre Korrektur im Laufe der Jahre immer schwieriger.Sie haben nichts unternommen gegen die von Jahr zu Jahr immer brisanter werdenden Überschüsse in der Agrarpolitik. Sie haben nichts unternommen gegen die Kostenexplosion im Gesundheitswesen, bei der die Ausgaben von 23 Milliarden DM im Jahre 1970 auf mittlerweile 120 Milliarden DM gestiegen sind. Die Abgabenbelastung der Bürger ist immer stärker geworden. Von der verschärften leistungsfeindlichen Progression sind mittlerweile 70 % aller Arbeitnehmer erfaßt.Meine Damen und Herren, das ist der Grund, warum wir in dieser Legislaturperiode die großen gesellschaftspolitischen Aufgaben anfassen und auch anfassen müssen: die Steuerreform, die Neustrukturierung des Gesundheitswesens und die Rentenstrukturreform. Das ist nicht immer populär, wie ja auch wir merken, aber wir können uns nicht vor der Frage drücken, wie Steuergerechtigkeit herzustellen ist, wie die Wachstumskräfte zu stärken sind, wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden kann, wie der Staatshaushalt zu sanieren ist. Wir können uns nicht wie die SPD vor der Frage drücken, wie wir die finanziellen Grundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung dauerhaft stabilisieren, wie wir uns orientieren an medizinischen Notwendigkeiten, Überversorgung beseitigen, Beiträge stabilisieren, nach Möglichkeit auch senken und gleichzeitig den drei Millionen Pflegebedürftigen und Hochbetagten helfen, die zu 90 % in den Familien gepflegt werden, außerhalb des Systems der sozialen Sicherung.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte gerne im Zusammenhang vortragen.Die Bewältigung des Strukturwandels in wichtigen Branchen stellt uns vor enorme Aufgaben. Das gleiche gilt für die Sicherung einer umweltschonenden Energieversorgung wie auch für die immer dringender werdende Frage der Entsorgung von Sondermüll und Sonderabfällen, die in einer modernen Industriegesellschaft von heute nicht vermeidbar und nicht verwertbar sind. Eine verantwortungsbewußte Bundesregierung kann sich in all diesen Fragen nicht an der Haltung der SPD orientieren, die nach dem Motto vorgegangen ist: Was du heute kannst besorgen, das verschiebe gleich auf morgen. Oder nach einem anderen Motto: Wir wollen das Bessere für morgen, verhindern durch Nichtstun das Gute für heute und bewahren auf diese Weise das Schlechtere von gestern. Das ist nicht unser Motto.
Sie können die Probleme unseres Landes auch nicht lösen durch eine Politik des Ausstiegs aus der modernen Technologie oder aus dem Energieverbund von Kohle und Kernenergie. Ich möchte nur am Rande darauf hinweisen, daß Ihre eigene Bundesgeschäftsführerin im Sommer vor dem Seeheimer Kreis der SPD erklärt hat, die SPD sei in Nürnberg mit ihrem Beschluß zum Kernenergieausstieg innerhalb bestimmter Fristen unehrlich gewesen — Herr Vogel, unehrlich!Immer stärkere Neuverschuldung: Auch dieser Weg führt in die Irre, wie im übrigen das von Ihnen regierte Nordrhein-Westfalen sehr deutlich zeigt. Der Schuldenstand im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland wird bis Ende nächsten Jahres auf 100 Milliarden DM gestiegen sein, 6 000 DM je Einwohner, vom Baby bis zum Greis. Täglich müssen 17,5 Millionen DM allein für Zinsen in Nordrhein-Westfalen aufgebracht werden. Die Investitionsquote ist von 22,4 % im Jahre 1979 auf 13 % im Jahre 1987 abgefallen. Im kommenden Jahr wird sie weiter sinken. Das Wirtschaftswachstum von 1982 bis 1986 liegt in der Bundesrepublik bei 11 %, Nordrhein-Westfalen hinkt mit 7 % meilenweit hinter dieser positiven Entwicklung her. Das ist schlimm für das bevölkerungsstärkste Land der Bundesrepublik Deutschland.
Wenn den Sozialdemokraten in dieser Situation nichts anderes einfällt, als erneut Beschäftigungsprogramme zu fordern in Milliardenhöhe,
finanziert durch eine weitere Neuverschuldung — nun hören Sie gut zu, ich habe mir Ihre Einzelbeschlüsse noch einmal angeguckt — , finanziert durch eine Arbeitsmarktabgabe, durch eine Ausbildungsplatzabgabe, durch eine Sonderabgabe Arbeit und Umwelt, durch einen Altlastenfonds, durch eine Entgiftungssteuer, durch eine Grundwasserabgabe, durch eine Schwefelabgabe, durch eine Pestizid-steuer, durch eine Stickstoffabgabe, durch eine Lärmabgabe, durch eine Abfallabgabe, durch eine Abgabe auf den Energieverbrauch, durch eine Maschinensteuer, durch die Einführung einer befristeten Ergänzungsabgabe, durch die Einführung einer Bodenwertzuwachssteuer ohne Veräußerungsfrist, durch die Ausweitung der Gewerbesteuer auf Freiberufler, durch ein Solidaropfer öffentlicher Dienst
— wenn ich die Zeit dazu hätte, würde ich das jetzt gern noch einmal vorlesen —,
meine Damen und Herren, wenn also den Sozialdemokraten in dieser Situation nichts anderes einfällt, dann kann ich nur sagen: Genau dies ist der falsche Weg, der erneut in einen verhängnisvollen Kreislauf zurückführt, der lautet: Immer mehr Staat, immer mehr Schulden, immer mehr Steuern, immer mehr Abgaben, immer mehr Arbeitslose und alles getreu nach dem Motto, das in treffender Weise der ehemalige britische Premierminister Harold Macmillan über die Programme der Sozialisten so formuliert hat: Staatliche Planwirtschaft ist wie ein prachtvoller Baum mit weit ausladender Krone; in ihrem Schatten wächst nichts. So ist es.
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2704 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
SeitersIch möchte die Politik der Bundesregierung und die Position der Union auf einigen wichtigen Politikfeldern der Haltung der Opposition gegenüberstellen, und zwar auch deshalb — ich greife auf, was ich eingangs gesagt habe — , weil der Bürger einen Anspruch darauf hat, zu vergleichen und zu gewichten in Kenntnis der Tatsachen und der wahren Sachverhalte.Erstens ein Wort zur Außen- und Sicherheitspolitik. Ich lege Wert auf die Feststellung, daß christlich-demokratische und christlich-soziale Politik nicht erst seit heute, sondern seit Gründung unserer Partei immer eine Politik der Friedenssicherung, der Abrüstung und des Gewaltverzichts gewesen ist. Die Bundesrepublik Deutschland hat bei ihrem Eintritt in das Atlantische Bündnis unter Adenauer einen rechtsverbindlichen Verzicht auf die Androhung und Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele ausgesprochen. Wir haben als erster Staat aus freien Stücken vertraglich auf atomare, bakteriologische und chemische Waffen verzichtet, und unsere Forderung „Frieden schaffen mit weniger Waffen" war ernst und ehrlich gemeint, wie die Fortschritte in den Abrüstungsverhandlungen und das Bemühen der Bundesregierung nachdrücklich und eindringlich bestätigen.Wenn wir von Abrüstung reden, meinen wir allerdings Abrüstung in Sicherheit. Wir wissen sehr wohl: Wenn wir mittlerweile 40 Jahre in Frieden leben, während ringsherum in der Welt 140 Kriege geführt wurden, dann nicht wegen irgendwelcher Formulierungen in der UNO-Satzung, auch nicht wegen des öffentlichen Weltgewissens, auch nicht weil wir alle miteinander Sehnsucht nach Frieden haben, sondern vor allem dank unserer Sicherheitspolitik und auf der Grundlage des Gleichgewichts der Kräfte und der Macht.
Maßgeblichen Anteil an dieser Zeit des Friedens in Europa hat das Atlantische Bündnis, das in den vergangenen Jahren so oft diffamiert und verleumdet wurde, obwohl die NATO als reines Verteidigungsbündnis niemanden bedroht und nichts anderes will als die Sicherung des Friedens.Jetzt steht der Abschluß eines Vertrages zwischen den USA und der Sowjetunion über den vollständigen und weltweiten Abbau aller Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5 000 km bevor. Wären wir den Vorschlägen der SPD gefolgt— vor etwas über einem Jahr faßte die SPD ihre Nürnberger Beschlüsse — , so hätten wir das atomare Obergewicht der Sowjetunion zementiert und mit einer einseitigen Abrüstung die Sicherheit unseres Landes gefährdet. Darauf sind Sie nicht mehr eingegangen.Es gibt hier im übrigen einen bemerkenswerten Vorgang, auf den ich doch zu sprechen kommen möchte. Ich habe hier das Protokoll „Nürnberger Parteitag vom 25. bis 29. 8. 1986". Da fordert die SPD— das ist ein Jahr her — von den USA einen Aufstellungsstopp und die Rücknahme der Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles und von der UdSSReine drastische Verminderung der SS 20 auf einen Stand von 1979.
— Ja, ich komme darauf zu sprechen. Das würde bedeuten: 140 SS-20-Raketen mit insgesamt 420 Sprengköpfen hätten Sie der Sowjetunion zugestanden — und bei uns null. Das war Ihr Konzept.Nun gibt es Ihren stereotypen Zwischenruf, das hieße nicht „von 1979", obwohl es hier steht, sondern „vor 1979" — Verminderung, nicht Abschaffung. Selbst wenn man das unterstellt, dann würde das etwa den Stand von Dezember 1978 bedeuten. Das waren damals immerhin 100 SS-20-Raketen mit 300 Sprengköpfen. Auch das wäre eine Situation gewesen, wo Sie das Übergewicht zementiert hätten.
Aber viel interessanter ist jetzt folgendes. Ein Jahr ist ins Land gegangen. Und nun, im Sommer dieses Jahres, veröffentlicht die SPD die Nürnberger Beschlüsse, Überschrift: Frieden. Allerdings steht hinten vorsichtshalber drin, das sei eine aktualisierte Kurzfassung.
Da steht drin — das muß man sich einmal vorstellen —, was Sie — angeblich — in Nürnberg beschlossen haben: Wir wollen den Abzug der sowjetischen und amerikanischen Mittelstreckenraketen ohne Wenn und Aber.
Das haben Sie in Nürnberg überhaupt nicht beschlossen. Sie verfälschen. Sie manipulieren.
Sie wollen den Beschluß verstecken. Sie möchten an Ihre früheren Beschlüsse nicht mehr erinnert werden. Nachdem die Bundesgeschäftsführerin der SPD zum Kernausstiegsbeschluß der SPD schon gesagt hat, das sei unehrlich gewesen, kann ich auch hier nur feststellen: Verfälschung und Manipulation. So können Sie die Öffentlichkeit nicht von einer vernünftigen Alternative der Sozialdemokratie überzeugen.
Deswegen bleibe ich dabei: Sämtliche Prognosen der SPD haben sich als falsch erwiesen. Eigentlich müßte ihr die Schamröte ins Gesicht steigen, angesichts der unverantwortlichen Reden, die Sie damals beim NATO-Doppelbeschluß und hier im Parlament und auf Demonstrationen gehalten haben, angesichts der historischen Fehler, die darin bestehen, daß Sie im Herbst 1981 entgegen der Zusage Ihres eigenen Kanzlers Schmidt den Vollzug des Doppelbeschlusses abgelehnt, den einzig erfolgversprechenden Weg, die Sowjetunion von ihrer nuklearen Überrüstung abzubringen und an den Verhandlungstisch zu kommen, abgebrochen und sich damit von einer erfolgversprechenden Abrüstungsperspektive abgewandt haben.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2705
SeitersHerr Kollege Vogel, im Grunde kann auch Ihre heutige besserwisserische Rede nicht darüber hinwegtäuschen, daß Sie ganz schön blamiert dastehen.
Meine Damen und Herren, der Abzug aller Mittelstreckenraketen macht weitere Abrüstungsmaßnahmen nicht überflüssig, im Gegenteil. Der Deutsche Bundestag hat auf Antrag der Koalition im Oktober die Erwartung ausgesprochen, daß es sich bei diesem Abkommen um einen Einstieg in die Abrüstung handelt, der entsprechend dem Abrüstungskonzept der NATO weitere Abrüstungsschritte möglich und auch dringlich erforderlich macht, auch unter Berücksichtigung der besonderen Lage Deutschlands. Wir treten dafür ein, daß die Verhandlungen über ein umfassendes weltweites Verbot der chemischen Waffen zügig zu Ende geführt und erfolgreich abgeschlossen werden und daß ein stabiles Kräftegleichgewicht
bei den konventionellen Streitkräften in Europa vom Atlantik bis zum Ural auf niedrigerem Niveau hergestellt wird. Wir halten Abrüstungsverhandlungen auch über landgestützte atomare Flugkörper unter 500 km für notwendig und erwarten, daß die Sowjetunion bei diesen Raketen bereits jetzt mit dem Abbau ihrer einseitigen und uns bedrohenden Überlegenheit beginnt.
Ich erinnere schließlich an die Reduzierung der strategischen nuklearen Kernwaffenarsenale, bei denen wir es ebenfalls für erforderlich halten, daß sich die Sowjetunion und die USA darüber verständigen.Alles das — das will ich noch einmal betonen — gehört zu einer Abrüstungspolitik, die kein Selbstzweck ist, sondern das Ziel hat, dem Frieden und der Sicherheit unseres Landes gleichermaßen zu dienen.
Ein Wort zur Wirtschaftspolitik und zum Arbeitsmarkt, zum Haushalt 1988, zur Prognose der fünf Institute. Das Gutachten des Sachverständigenrats, das am Wochenende vorgelegt worden ist, zeichnet in Kenntnis von Risiken bei der internationalen Entwicklung ein abgewogenes, unaufgeregtes und durchaus zuversichtliches Bild von der wirtschaftlichen Lage unseres Landes. Auch im kommenden Jahr wird es — im sechsten Jahr hintereinander — ein kontinuierliches wirtschaftliches Wachstum geben. Auch 1988 werden wir beachtliche Preisstabilität haben. Die Beschäftigung wird auch im kommenden Jahr weiter ansteigen.
Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte steigen. Wir haben einen Anstieg der Reallöhne und eine Stärkung der Ertragskraft der Unternehmen.Nun will ich noch einmal an die Prognose des Oppositionsführers vom 16. November 1986 mit Blick auf den § 116 Arbeitsförderungsgesetz erinnern. Mein Gott, was haben wir in diesem Hause für Debatten gehabt! Der Untergang der Bundesrepublik schien bevorzustehen. Heute redet kein Mensch mehr vom § 116. Aber Sie, Herr Vogel, haben mit dem Ihnen eigenen Pathos eine Erklärung abgegeben — das war ein absolutes Windei, was Sie da von sich gegeben haben —,
und diese Aussage hat natürlich die Fehlerquote der SPD bei ihren Prognosen wieder erhöht:Wer versucht, die deutschen Gewerkschaften auf die Knie zu zwingen, der zerstört die Grundlagen unserer sozialen Stabilität,
der braucht sich nicht zu wundern, wenn auch bei uns Arbeitskämpfe künftig mit der Erbitterung ausgetragen werden, die bisher nur aus dem konservativ regierten Großbritannien bekannt war.Also, Herr Vogel, Sie müssen Alpträume gehabt haben oder Gallenbeschwerden;
denn von Arbeitskämpfen dieser Art kann doch überhaupt keine Rede sein. Im Gegenteil, der Tariffriede zwischen den Sozialpartnern ist beachtlich. Und ausgerechnet die IG Metall hat mittlerweile Tarifverträge mit Laufzeiten von drei Jahren abgeschlossen. Auch dies zeigt ja wohl, daß man auf eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung und eine vernünftige Wirtschaftspolitik in diesem Lande selbst bei denen vertraut, die uns ansonsten aus parteipolitischen Gründen attackieren.
Preisstabilität ist beinahe das Wichtigste, meine Damen und Herren.
Wäre die Inflationsrate heute noch so hoch wie vor fünf Jahren, dann müßte in diesem Jahr ein Arbeitnehmerhaushalt mit 3 300 DM verfügbaren Einkommen pro Monat für die gleichen Waren und Dienstleistungen fast 1 200 DM im Jahr mehr ausgeben, als er es tatsächlich tut. Preisstabilität bedeutet, daß Arbeitnehmern und Rentnern in einem Jahr ca. 20 Milliarden DM mehr als Kaufkraft in der Tasche verbleiben. Auf den Gehalts- und Lohnkonten unserer Bürger verbleibt ein reales Plus. Auch die Renter nehmen wieder am wirtschaftlichen Fortschritt teil.
Dies ist uns nicht in den Schoß gefallen, sondern diese Erfolge hängen zusammen mit unserer wirtschaftspolitischen Philosophie der Sozialen Marktwirtschaft. Die unterscheidet sich in der Tat von der Ihren. Leistung und Wettbewerb, Eigentum und soziale Verpflichtung, Partnerschaft und soziale Ge-
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2706 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Seitersrechtigkeit, mehr Eigenverantwortung und weniger Staat, die Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen stärken die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft und sichern damit am besten Wachstum und Arbeitsplätze und Wohlstand.
— Ich habe Werften in meinem Wahlkreis.
Ich will auch zum Arbeitsmarkt durchaus ein Wort sagen. Ich habe darauf hingewiesen, daß ich die Probleme nicht beiseite reden will. Ich frage mich nur, wer bei den strukturellen Problemen dieses Landes und der Welt besser mit ihnen fertig wird, wir oder Sie.Da frage ich mich auch: Wieso sollten wir eigentlich heute Ihre Rezepte übernehmen angesichts der Tatsache, daß trotz 17 Beschäftigungsprogrammen, die insgesamt 50 Milliarden DM gekostet haben, in den letzten Jahren der Regierung Schmidt, zwischen März 1980 und 1983, die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland um 953 000 gesunken ist. Das heißt, am Ende der Regierung Schmidt waren fast 1 Million Menschen weniger in Arbeit und Brot als drei Jahre zuvor. Das können Sie doch nicht als Erfolgsbilanz Ihrer Politik ausgeben. Wir haben die Vernichtung von Arbeitsplätzen gestoppt.
— Ja, natürlich. Wir haben den Anstieg der Arbeitslosigkeit gestoppt. Wir haben langsam, Schritt für Schritt, neue Arbeitsplätze geschaffen.
Und — das ist eine einfache Rechnung — zwischen März 1983 und 1987 hat sich die Zahl der Beschäftigten in der Bundesrepublik Deutschland um fast 800 000 erhöht. Das ist für Sie offensichtlich gar nichts: 800 000 Menschen mehr in Deutschland haben heute Arbeit und Beschäftigung als zu Ihrer Zeit.
Das ist eine gewaltige Leistung.
Der Aufbau dieser Beschäftigung hat sich nur deshalb nicht in einen Abbau der Arbeitslosigkeit umgesetzt, weil zwischen 1983 und 1987 das Erwerbspersonenpotential um ebenfalls rund 830 000 gestiegen ist. Das heißt doch mit anderen Worten: Hätten wir durch unsere Wirtschaftspolitik nicht diese enorme Zunahme der Beschäftigung erreicht, hätten wir heute in der Bundesrepublik Deutschland weit über 3 Millionen Arbeitslose, genau die Zahl, die die Sachverständigen bei einer Fortführung sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik vorhergesagt haben.
Es wird im Laufe dieser Debatte noch Gelegenheit sein, auf die vielfältigen Maßnahmen zu sprechen zu kommen: die Qualifizierungsmaßnahmen, die Mittel für die Werften, für den Stahl und für den Städtebau und die sinnvollen Maßnahmen im Umweltschutz. Ich will das an dieser Stelle überschlagen, weil mir daran liegt, auch noch ein Wort zur Steuerreform zu sagen, die sicherlich auch im Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen dieser Tage stehen wird.Ich finde es interessant, daß der DGB-Vorsitzende, Ernst Breit, der heute anders redet, noch am 20. Juni 1987 in einem Interview mit der „Hamburger Morgenpost" wörtlich erklärt hat:Die Steuerreform ist an und für sich überfällig, wenn man sich ansieht, wie die Belastung gerade der Lohnsteuerzahler und der kleinen Einkommen in den vergangenen zehn Jahren gewachsen ist.
Mit dieser Bemerkung hat er völlig recht. Die Steuerreform — das werden unsere Bürger selber spüren — bringt die größte steuerliche Entlastung, die es in der Geschichte der Bundesrepublik jemals gegeben hat, und zwar für breiteste Schichten der Bevölkerung.
Diese Steuerreform ist wirtschaftspolitisch, konjunkturpolitisch und sozialpolitisch notwendig und richtig. Sie verbessert die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen; sie stärkt die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft; sie stützt unsere Konjunktur; sie erfüllt unsere internationalen Zusagen, und ihre Entlastungswirkungen sind gerecht verteilt. Sie ist mit Blick auf die internationale Entwicklung der Wechselkurse und die Unsicherheit an den Börsen schließlich auch wichtig. Arbeitnehmer und Unternehmer werden insgesamt um etwa 50 Milliarden DM netto von ihrer Steuerlast befreit.Sie haben — Sie sollten sich auch hier an das erinnern, was Sie vorhergesagt haben — über Wochen und Monate wider besseres Wissen den Bürgern einzureden versucht, diese Bundesregierung plane eine Erhöhung der Mehrwertsteuer; sie wolle die Arbeitnehmerfreibeträge kürzen und neue Steuern einführen. Das ging bis zu der Kampagne mit Briefen an alle Sportvereine, wir wollten die Übungsleiterpauschale streichen usw. usf. Nichts davon ist eingetreten.Die SPD verschweigt, daß ab 1990 Steuerpflichtige mit niedrigem Einkommen und Familien durch die Steuerreform deutlich stärker entlastet werden, als es ihrem Beitrag zum Steueraufkommen entspricht.
Sie verschweigen, daß allein durch die Anhebung des Grundfreibetrages um 1 080 DM für Ledige und 2 160 DM für Verheiratete über 500 000 Arbeitnehmer künftig völlig aus der Besteuerung herausfallen. Das steuerfreie Einkommen für einen Verheirateten mit zwei Kindern steigt von 13 955 DM im Jahre 1985 auf rund 23 500 DM im Jahr 1990. Was haben Sie eigentlich dagegen einzuwenden?
Der Durchschnittsverdiener, verheiratet, zwei Kinder, wird 1990 gegenüber 1985 um rund 2 000 DM in
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2707
Seitersder Regelbesteuerung entlastet. Was haben Sie eigentlich dagegen einzuwenden?Bis zum vergangenen Jahr mußte der durchschnittlich verdienende Arbeitnehmer bei einer Lohnerhöhung von 100 DM pro Monat 45 DM zusätzlich an den Staat abführen. Künftig sind es nur noch 28 DM, weil alle Grenzsteuersätze durchgehend gesenkt werden.
Was haben Sie eigentlich dagegen einzuwenden?Meine Damen und Herren, dies alles geschieht ohne Anhebung der Mehrwertsteuer, ohne Anhebung von Verbrauchsteuern, ohne Kürzung der Arbeitnehmerfreibeträge, bei Preisstabilität und steigenden Reallöhnen. Diese Steuerreform ist gesamtwirtschaftlich vernünftig und sozial ausgewogen. Es wäre ja wohl noch schöner, wenn wir uns wegen dieser Steuerreform ausgerechnet der SPD gegenüber verteidigen müßten.
Ich begrüße, daß das deutsche Handwerk und die Hauptgemeinschaft des deutschen Einzelhandels diese Steuerreform ebenso unterstützt und für notwendig erklärt haben wie beispielsweise die Katholische Arbeitnehmerbewegung, die wörtlich sagt: „Die vorgesehenen Entlastungen kommen insbesondere vielen Arbeitnehmern zugute. Der Marsch in den Lohnsteuerstaat wird mit der Steuerreform gestoppt."
— Jetzt komme ich zur Familienpolitik. Sie geben mir das Stichwort; Familienpolitik stand ohnehin auf meinem Zettel.Meine Damen und Herren, und auch hier möchte ich gerne einmal fragen: Wo ist denn eigentlich die Alternative der Sozialdemokratischen Partei? Ich behaupte, daß keine gesellschaftliche Gruppe in den 70er Jahren so benachteiligt worden ist wie gerade die Familie,
und zwar nicht nur materiell, sondern auch dadurch, daß man die Familie als Institution herabsetzte. Sie haben den Familienminister gestellt. Ich darf noch einmal an die damaligen Familienberichte erinnern, in denen „Eltern" mit „Bezugspersonen für Kinder" und „Kinder" mit „Objekte elterlicher Fremdbestimmung" übersetzt wurden, in denen zu lesen stand, die Familie sei eine „Sozialisationsagentur mit Kosten für pädagogische Dienstleistungen" , sie sei ein „Konsumträger" und regele den „Reproduktionsprozeß der Gesellschaft" .
Was für eine familienfeindliche und menschenverachtende Sprache!
— Aber in diesem Punkte, Frau Unruh — Sie schüttelnden Kopf — , müßten Sie mir eigentlich zustimmen;denn wenn ich Sie hier am Rednerpult erlebte, so würden auch Sie über die Familie nicht so wie dieser Familienbericht reden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmude?
Nein, danke.Ich möchte auch daran erinnern, daß im Jahre 1982 unter Federführung eines sozialdemokratischen Familienministers die Kindergeldsätze für das zweite und dritte Kind um je 20 DM gekürzt wurden, die Altersgrenze für den allgemeinen Kindergeldbezug von 18 auf 16 Jahre herabgesetzt wurde, das Kindergeld für arbeitslose Jugendliche über 18 Jahre gestrichen wurde. Weitere strukturelle Kürzungen am Kindergeld erfolgten. Frau Matthäus-Maier, da sagen Sie: Was macht ihr für die Familie?Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, daß Aufgabe verantwortlicher Politik darin bestehen muß, für ein Klima in unserer Gesellschaft zu sorgen, das der Familie ihren zentralen Platz sichert, das kinderfreundlich ist und das der Frau die persönliche, ungeschmälerte und undiskriminierte Wahlfreiheit zwischen Berufstätigkeit und der Aufgabe als Mutter läßt.Herzstück der von uns beschlossenen Politik ist das Bundeserziehungsgeldgesetz. Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub werden heute bereits von 96 % der Bezugsberechtigten in Anspruch genommen. Diese Gesetzgebung wird ausgebaut. Wir haben die Kinderfreibeträge um 2 484 DM erhöht. Im Rahmen der Steuerreform werden Familien mit Kindern weniger Steuern zu zahlen haben als früher. Wir planen darüber hinaus die Erhöhung des Kindergeldes ab dem zweiten Kind. Wir haben das Kindergeld für arbeitslose Jugendliche wieder eingeführt. Wir haben das Baukindergeld auch auf erste Kinder ausgeweitet. Wir haben den Elternfreibetrag und den Freibetrag für mitverdienende Kinder beim Wohngeld eingeführt, die Einführung eines Kindergeldzuschlages von bis zu 46 DM je Kind für Familien mit geringem Einkommen, die Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung
und schließlich auch die Erhöhung der Mittel für die Stiftung Mutter und Kind, Schutz des ungeborenen Lebens. In über 70 000 Fällen haben wir hier eine schnelle und flexible Hilfe gewähren können. Ich begrüße nachdrücklich den Gesetzentwurf der Koalition, der die Aufstockung der Mittel für diese Stiftung pro Jahr von 80 Millionen auf 110 Millionen DM bedeutet. Aber ich bedaure ebenso nachdrücklich, daß sich die SPD-geführten Bundesländer nach wie vor weigern, entsprechende Mittel für in Not geratene schwangere Frauen bereitzustellen.
Ungeborenes Leben hat den gleichen Schutz des Staates wie geborenes Leben verdient. Das ist unser Standpunkt. Wir werden auch in dieser Legislaturpe-
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2708 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Seitersriode daran arbeiten, den Schutz des ungeborenen Lebens zu verbessern und immer wieder das Bewußtsein dafür zu schärfen, daß die hohe Zahl von 200 000 mit sozialer Not und sozialer Indikation begründeten Abtreibungen in einem der reichsten Länder der Welt einen Skandal darstellt, den wir nicht hinzunehmen bereit sind.
Das von der Koalition angekündigte Beratungsgesetz ist Teil einer praktizierten lebensbejahenden Politik mit dem Ziel, die erschreckend hohe Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen aus Indikation sozialer Notlage zu senken.
Nun, meine Damen und Herren, noch ein abschließendes Wort zum Thema innere Sicherheit. Nach dem Mord in Frankfurt an zwei Polizeibeamten haben Bundesregierung und hessische Landesregierung angekündigt, mit den verantwortlichen Polizeiführern die Erfahrungen auszuwerten, wie der Mißbrauch des Demonstrationsrechts zur Vorbereitung und Durchführung gewalttätiger Straftaten durch gesetzgeberische Maßnahmen und durch administrative und polizeiliche Maßnahmen beendet werden kann.Ich möchte für meine Fraktion ausdrücklich den Handlungsbedarf unterstreichen, den wir auch in die Koalitionsvereinbarung hineingeschrieben haben, daß alles getan werden muß, um das von Gewalttätern bedrohte Recht auf friedliche Demonstration zu gewährleisten, gewalttätige Demonstrationen zu verhindern und den Terrorismus wirksam zu bekämpfen. Wir haben das freiheitlichste Demonstrationsrecht, das es jemals in der deutschen Geschichte gegeben hat. Daran wird sich nichts ändern. Aber unser Standpunkt ist unverändert: Wer demonstriert, soll sein Gesicht zeigen und nicht die Möglichkeit haben, unter der Maske und aus der Vermummung heraus strafbare Handlungen zu begehen.
Ich möchte — ich komme auf das zu sprechen, was Herr Vogel hier auch mit Blick auf Hamburg angeführt hat — doch generell meine Sorge darüber zum Ausdruck bringen, daß wir in bestimmten Teilen der Bundesrepublik Deutschland eine Erosion des Rechtsbewußtseins erleben, die ich für außerordentlich gefährlich halte, und zwar auch deshalb, weil hier das Rechtsempfinden rechtstreuer Bürger schwer verletzt wird.
Die Hafenstraße ist dafür ein besonders schlimmes Beispiel.
Meine Damen und Herren, wer Hausbesetzungen, Rechtsbrüche, die Gefährdung von Leib und Leben, wer das Faustrecht bestimmter Gruppen zunächst damit beantwortet, daß er soziales Verständnis äußert,die Gewalt verharmlost und in der Verteidigung von Rechtsgrundsätzen wankelmütig wird,
der schafft rechtsfreie Räume, der zerstört das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat und ermutigt diejenigen, die ihre politischen Ziele mit rechtswidrigen und undemokratischen Mitteln durchsetzen wollen.
Ich glaube, ähnlich denkt auch der sozialdemokratische Innensenator von Hamburg.
Ähnlich denken auch andere in Ihren Reihen.
Ich habe hier ein Interview des Vorsitzenden des Innenausschusses, des Kollegen Bernrath von der SPD, vor mir, der folgendes gesagt hat:In den Städten und Gemeinden der gesamten Bundesrepublik Deutschland wächst die Unzufriedenheit der Bevölkerung über Unberechenbarkeit und Nachgiebigkeit der Hamburger Landesregierung. Die Bürger sehen nicht mehr ein, warum sie für falsches Parken bezahlen sollen, wenn man in Hamburg ungestraft gleich dutzendweise fremde Autos anzünden darf. Weil die Rechtsordnung bundesweit Schaden nimmt, sollte sich auch der Bundestagsinnenausschuß damit befassen.Recht hat er, der Kollege!
Ich bitte, auch folgendes zu bedenken, weil wir ja nicht Politik für uns, sondern für diejenigen machen, die uns Verantwortung übertragen haben: Die Bürger in unserem Lande — das zeigen alle Umfragen — sind tief beunruhigt über die Ausbreitung von Gewalt und auch darüber, daß es ja schon in diesem Hause keinen Konsens mehr gibt, wo die Grenze zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt verläuft und auch wie wir mit der Verfassung und mit dem Recht umzugehen haben.
Ich habe an früherer Stelle einmal gesagt: Das Recht ist die Waffe der Schwachen. Recht und Gesetz sind dazu da, das Recht der Schwachen, das Recht des einzelnen Bürgers vor Übergriffen und Gewalt des anderen und den inneren Frieden in einem rechtsstaatlichen System zu schützen. Deswegen dürfen wir das Recht und seine Anwendung nicht zum Spielball für opportunistische Überlegungen machen. Darauf hat gerade auch der rechtstreue Bürger einen Anspruch.
Meine Damen und Herren, wenn es möglich wäre, die Ziele unserer Politik in einem Satz zusammenzufassen, dann könnte man vielleicht sagen: Unsere Aufgabe als Politiker besteht darin, unserer Bevölkerung und der nachwachsenden Generation eine Zukunft zu sichern — was nicht selbstverständlich ist — in einer freiheitlichen Demokratie, in einer Welt des
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2709
SeitersFriedens, in einem Land, das wirtschaftlichen Wohlstand und den Schutz der Umwelt sinnvoll miteinander verbindet, in einem Staat, der dem einzelnen die Chance gibt, sein Leben in Eigenverantwortung selbst zu gestalten, in einem Staat, der die Familie schützt und christliche Grundwerte achtet, in einer Gesellschaft mit menschlichem Gesicht. Wir sind sicher nicht immer und bei jeder Entscheidung diesen hohen Ansprüchen gerecht geworden. Aber wenn wir heute in dem freiheitlichsten und friedlichsten Staat leben, den es jemals auf deutschem Boden gegeben hat, dann haben christlich-demokratische und christlich-soziale Politiker daran einen beachtlichen Anteil. Das ist auch ein wichtiger Ansporn für unsere Arbeit in der Zukunft.Wenn wir uns in der Politik dann auch noch an die Devise von Altbundespräsident Karl Carstens in seiner Abschiedsrede im deutschen Parlament erinnern — „Wer frei ist, trägt Verantwortung, wer Rechte hat, hat auch Pflichten, und wer Ansprüche stellt, vor allem Ansprüche an den Staat, muß auch bereit sein, Leistungen zu erbringen" —, dann werden wir auch künftig in der Lage sein, Politik zu machen im Interesse der Menschen unseres Landes.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Rust.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte zum Etat des Bundeskanzleramtes ist traditionell eine Generaldebatte über die Grundtendenzen der Politik der Regierung. Heute geht es nicht um die vielen — sicherlich wichtigen — Einzelheiten des Haushalts, heute geht es darum, ob die gesamte Richtung der Politik stimmt.In den letzten Tagen haben wir alle ein beeindrukkendes Beispiel für Politik in die richtige Richtung erlebt: die friedliche Beilegung eines Konflikts, der lange Zeit ein Synonym für die Eskalation von Gewalt und Gegengewalt in unserer Gesellschaft war. Diese friedliche Lösung in der Hamburger Hafenstraße wurde möglich, weil beide Seiten bereit waren, aufeinander zuzugehen.Auf der einen Seite hat der Hamburger Senat den langen Schatten einer engstirnigen und ausgrenzenden staatlichen Politik übersprungen. Hervorzuheben ist auf dieser Seite besonders die Rolle von Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, der dem bundesweiten Druck der Law-and-order-Politiker widerstand — dafür haben wir ja gerade ein Beispiel gehört — und auch dem Druck der Rechten aus der eigenen Partei. Diese Haltung war ein Vorbild für jede Demokratie. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um ihn zu seiner Entschlossenheit zu beglückwünschen.Auf der anderen Seite möchte ich auch die Besetze-rinnen und Besetzer der Hafenstraße zu ihrer Entscheidung beglückwünschen, die Barrikaden abzureißen und damit den Weg freizumachen für Deeskalation und eine friedliche Weiterentwicklung. Auch sie hatten einen langen Schatten zu überspringen, einen Schatten von Wut, Haß, Enttäuschung und Mißtrauen. Auch dazu gehören Mut und Entschlossenheit. Auch das ist ein beeindruckendes Beispiel für richtiges Verhalten in einer hochbrisanten Situation.
Beide Seiten, die Besetzer und der Hamburger Senat, haben einen Weg gefunden, um den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen, einen Weg, der zukunftsweisend ist.Nun ist der „Frankfurter Rundschau" von heute zu entnehmen, daß die CDU-Opposition in der Hansestadt angekündigt hat, sie werde alle Register ziehen, um gegen diese Vertragslösung vorzugehen.
Herr Perschau sagt, die Koalitionsfraktionen sollten mit einem Antrag gezwungen werden, sich zu dem — Zitat — „verantwortungslosen Kurs von Bürgermeister von Dohnanyi entweder zu bekennen oder sich davon zu distanzieren" . Ich kann nur sagen: Ich wünsche auch den Fraktionen in der Hamburger Bürgerschaft den Mut und die Entschlossenheit, diesen richtigen, verantwortungsvollen Weg weiterzugehen und damit ein weiteres gutes Zeichen für die weitere Entwicklung in unserer Gesellschaft zu setzen.
Die Hafenstraße hat eine echte Chance. Sie hat vor allem dann eine Chance, wenn wir Politiker sie als Signal für uns verstehen. Unsere Aufgabe muß es sein, Brücken zu bauen. Die Ausgrenzung eines immer größeren Teils der Jugend aus dieser Gesellschaft muß ein Ende haben. Viele sehen ihr Leben geprägt durch abnehmende Chancen zur gleichberechtigten Teilnahme am Leben, durch wachsende Armut, Arbeitslosigkeit und fehlende berufliche Perspektiven. Gleichzeitig müssen sie mit ansehen, wie ihre natürliche Umwelt vergiftet und ihre städtische Lebenswelt zerstört wird. „No future", Herr Kanzler, ist kein Modewort, sondern eine verdammt ernstzunehmende Antwort auf eine katastrophale Politik.
Wer angesichts dieser Situation nur mit dem moralischen Zeigefinger reagiert, der hat nichts begriffen.„Die RAF zum Beispiel", so schrieb Helmut Schmidt kürzlich in der „Zeit", „ist damals wesentlich der enttäuschten Liebe zur Demokratie entsprungen. " Ich hätte ihm diese Einsicht früher gewünscht. Trotzdem bleibt der Satz richtig, und ich möchte ihn weiterdenken. Was wird der enttäuschten Liebe zum Leben entspringen, wenn wir uns keine Mühe geben, den Jugendlichen wieder eine Lebenschance zu eröffnen? Wenn wir das tun, werden wir auf offene Ohren treffen. Allerdings ist die Politik insgesamt und insbesondere die Politik dieser Regierung davon noch weit entfernt.Wenn wir heute Ihre Regierungszeit beurteilen, Herr Bundeskanzler, dann müssen wir an erster Stelle ein Problem nennen, zu dessen Lösung diese Regierung nichts beigetragen, ja dessen Lösung sie sogar behindert hat. Ich meine das Problem der Massenerwerbslosigkeit und die damit zusammenhängende zunehmende Verarmung eines wachsenden Teils un-
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2710 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Frau Rustserer Bevölkerung. Sichere Arbeitsplätze — mit diesem Versprechen haben Sie sich und Ihrer Partei vor gut vier Jahren den Weg in die Regierung geebnet. Heute müssen Sie sich mit den Wahlkampfslogans von einst an der bitteren Wirklichkeit messen lassen.Nichts ist es geworden mit dem Abbau der Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil, 2,3 Millionen Sozialhilfeempfänger gibt es schon nach offiziellen Zahlen und eine ebenso große Zahl Arbeitsloser in dieser reichen Republik. Doch da es ja nicht um die Beurteilung von Zahlenkolonnen auf weißem Papier geht, sondern um das Leben der Menschen, müssen wir auch diejenigen mitrechnen, die Sie durch die groben Maschen der statistischen Erfassung durchrutschen lassen. Einschließlich Dunkelziffer liegen die Zahlen beider Gruppen zusammen bei weit über 6 Millionen. Das sind mehr als 10 % der Bevölkerung der Bundesrepublik, Herr Bundeskanzler, die für das Scheitern Ihrer Politik ein trauriges Zeugnis ablegen.
Getreu Ihrer Selbstbeschreibung, Herr Kohl, als Enkel Adenauers haben Sie auch in der Wirtschaftspolitik auf die Rezepte der 50er Jahre gesetzt. Wirtschaftswachstum ist der Dreh- und Angelpunkt Ihres haushalts- und wirtschaftspolitischen Konzepts, obwohl spätestens seit Beginn der 80er Jahre unbezweifelbar klar ist, daß ein Wachstum wie in den 50er und 60er Jahren niemals mehr erreicht werden kann. Alle Wirtschaftswissenschaftler, auch die Ihrer Couleur, sind sich einig, daß ein wirksamer Abbau der Arbeitslosigkeit ein Wachstum von ca. 6 % erfordern würde. Bei den in unserer Wirtschaft üblichen Produktivitätsfortschritten von etwa 3 % pro Jahr wäre also ein Wachstum von 3 % gerade ausreichend, um die Massenerwerbslosigkeit nicht noch zu verschlimmern. Aber selbst eine solche Zahl ist heute unerreichbar.Für 1987 ist eine Wachstumsrate in der Größenordnung von 1,5 °A° zu erwarten, für das Jahr 1988 noch erheblich weniger; ja, es könnte sogar zu einer Rezession kommen, wenn sich die derzeitige Wirtschafts- und Börsensituation und der Kursverfall des Dollars fortsetzen.Bei der starken Exportorientierung der hiesigen Wirtschaft ist es durchaus realistisch, im nächsten Jahr mit einer Ausweitung der Arbeitslosigkeit um 200 000 bis 500 000 zu rechnen. Hierbei ist ein wirtschaftliches Desaster noch gar nicht einkalkuliert.Offenbar haben Ihre Wirtschaftsstrategen, allen voran die Herren Bangemann und Stoltenberg, kein Gefühl mehr dafür, was Arbeitslosigkeit für die Betroffenen eigentlich bedeutet; sonst könnten sie nicht so gleichgültig und stur an ihren überholten Konzepten festhalten. Arbeitslosigkeit bedeutet in der Regel eine bedrückende Veränderung des gesamten Lebens. Gefühle der Ohnmacht, der Mutlosigkeit und der Depression treten auf. Der Verlust an materieller Sicherheit geht einher mit dem Verlust an sozialen Kontakten und an persönlichem Ansehen in Familie und Nachbarschaft. Nicht selten sind Angst, Apathie, Alkoholismus oder auch Aggressivität die Folge.Wer nach mehr als fünf Jahren verfehlter Wirtschaftspolitik immer noch ein Wachstumsrezept anpreist, das sich als untauglich erwiesen hat, der muß sich den Vorwurf gefallen lassen, daß es ihm gar nicht ernsthaft um die Lösung von Arbeitslosigkeit und wachsender Armut geht, sondern um griffige Slogans zu Wahlkampfzeiten, die nach der Wahl in der Ablage „Material für Sonntagsreden" ein beschauliches Dasein fristen. „Die Forderung nach der 35-StundenWoche ist dumm und töricht" — Originalton Kohl. Der Finanzminister geht auf der gleichen Linie. Wo sich Gewerkschaften mit Forderungen nach Arbeitszeitverkürzungen mucksen, greift er sie in aggressiver Weise an, wie in den letzten Tagen wieder geschehen. Unsere Vorschläge, wenigstens für einen konsequenten Abbau von Überstunden zu sorgen, werden im Bundestag unerbittlich niedergestimmt. Das ist nach den Regeln dieses Parlaments Ihr gutes Recht. Aber Sie müssen sich dann auch sagen lassen: Allein der rigide Abbau des Überstundenwildwuchses würde 300 000 neue Arbeitsplätze schaffen. Doch nicht einmal dazu sind Sie bereit. Niemand, der die Sorgen und Nöte der Arbeitslosen wirklich ernst nimmt, kann so handeln. Eine Million Arbeitsplätze könnten durch eine schnelle Verwirklichung der 35-Stunden-Woche geschaffen werden. Das zeigen alle Untersuchungen und Erfahrungen. Durch längst überfällige umweltpolitische Maßnahmen könnten Hunderttausende neuer Arbeitsplätze geschaffen werden. Es gibt Konzepte gegen die Arbeitslosigkeit. Diese Regierung ist nur nicht bereit, sie anzuwenden; das ist das Problem.
Nun sind wir weit davon entfernt, Ihnen pure Untätigkeit, generelle Konzentration auf kosmetische Operationen oder gar Geiz aus Prinzip vorzuwerfen. Während auf der einen Seite jede Million, die z. B. für dringend erforderliche Umweltschutzpolitik ausgegeben werden soll, vom Finanzminister schon fast als nicht mehr finanzierbar hingestellt wird, ist die Regierung bereit, 25 Milliarden DM Mindereinnahmen pro Jahr via Steuerreform hinzunehmen, um damit dem gut betuchten Teil ihrer Wählerklientel ein erquickliches Steuergeschenk zu machen. Hier heißt es dann: nicht kleckern, sondern klotzen. Sozialhilfeempfänger, Rentner und alle, die keine Steuern zahlen, werden von diesem Geschenk keine müde Mark sehen. Im Gegenteil, die Steuerreform wird dazu führen, daß die öffentlichen Kassen leer sind und für eine Rentenerhöhung oder eine Erhöhung der Sozialhilfe kein Geld mehr da ist. Eine Erhöhung der Mindestrente auf 1 200 DM pro Person und 1 800 DM pro Ehepaar, wie sie in einem Antrag von den GRÜNEN gefordert wird, kostet etwa 13 Milliarden DM. „Nicht finanzierbare Tagträumerei" heißt dann der Kommentar. Die Steuerreform kostet dagegen das Doppelte: 25 Milliarden DM Mindereinnahmen pro Jahr. Dieses Beispiel zeigt deutlich, für wen hier Politik gemacht wird.
Für Rentner, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger ist kein Geld da, während Sie die Begüterten und Reichen mit der Steuerreform noch reicher machen. Sie wollen es einem Spitzenverdiener, der 1 Million DM verdient, nicht zumuten, daß er davon 56 % Steuern für die Allgemeinheit zahlt. Deshalb haben Sie in Ih-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2711
Frau Rustrem übergroßen Mitleid den Spitzensteuersatz gesenkt. Aber Hunderttausenden Rentnerinnen muten Sie es zu, mit 650 DM Rente leben zu müssen. Da regt sich Ihr Mitleid nicht, und das ist ein zum Himmel schreiender Skandal, Herr Kohl, den Sie auch mit schönfärberischen Sonntagsreden nicht mehr vertuschen können.
Wir GRÜNEN haben einen Antrag zu den Haushaltsberatungen eingebracht, wonach mit Hilfe eines Sofortprogramms das drängende Problem der Jugendarbeitslosigkeit angegangen werden soll. Alle Jugendlichen bis 25 Jahre sollen einen Ausbildungsplatz und einen Arbeitsplatz erhalten. Mehrkosten für den Bundeshaushalt: Ca. 5 Milliarden DM — wenn alle einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz erhalten. Das ist etwa ein Fünftel der Kosten der Steuerreform. Auch dieser Antrag wurde von der Regierungsmehrheit eiskalt abgeschmettert. Ich frage Sie: Halten Sie uns für so dumm, daß wir Ihnen Ihre angebliche Sorge um die Arbeitslosen auch dann noch glauben, wenn Sie Hunderttausende von Jugendlichen zu einem Leben ohne berufliche Perspektive verdammen?
Sehen Sie eigentlich keinen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Aggression, dem Alkoholismus, der zunehmenden Jugendkriminalität und einer solchen Politik? Viele hochrangige Wissenschaftler sehen diesen Zusammenhang, aber Sie weigern sich, davon überhaupt Kenntnis zu nehmen. Sehen Sie keine Verbindung zwischen den Krawallen in Kreuzberg, dem Widerstand in der Hafenstraße in Hamburg und Ihrer Politik, die der Jugend keine Chance läßt, gleichberechtigt am Leben unserer Gesellschaft teilzunehmen?Ebenso wie für die Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz und Arbeit, für die Rentner und für die sozial Schwachen wird auch für die Umwelt nach dieser Steuerreform noch weniger Geld da sein, und das nicht nur im Bundeshaushalt, sondern auch in den Haushalten der Länder und Kommunen, denen Sie mit Ihrer Steuerreform, Herr Kohl, das bißchen Luft, das sie für ihre Investitionen noch haben, auch noch abschnüren.
Der Spielraum für dringend notwendige ökologische Investitionen und soziale Stützungsmaßnahmen seitens der Kommunen und Länder wird durch die Steuerreform in drastischer Weise eingeschränkt.Nun argumentieren Sie ja, die Steuerreform sei notwendig, um der Wirtschaft neue Wachstumsimpulse zu geben. Wir müssen Ihnen sagen: Auch dieses Argument ist an den Haaren herbeigezogen, denn wenn Sie wirklich wollten, daß die gesparten Steuern wieder in den Wirtschaftskreislauf eingespeist werden, dürften Sie dieses Geld nicht an die verteilen, die genug haben, sondern müßten es denen geben, denen es fehlt; nur bei diesen ist nämlich nach allen vorliegenden wirtschaftswissenschaftlichen Untersuchungen sicher, daß das Geld im Lande bleibt und wieder in den Wirtschaftskreislauf hineingegeben wird. Bei Ihrer Klientel ist dagegen sicher, daß sie einen Großteil der Steuerersparnis ins Ausland transferiert oder damit die Sparquote erhöht. Der Wachstumsimpuls für die inländische Wirtschaft läge bei diesen Geldern dann bei Null.Wenn Sie denn schon meinen, daß der Staat Milliardenbeträge zur Verfügung stellen müßte, um in den Wirtschaftsprozeß aktiv einzugreifen, wäre es sinnvoll, diese Milliarden gezielt in solche Bereiche fließen zu lassen, in denen es einen dringenden Investitionsbedarf gibt und in denen gleichzeitig zukunftsorientierte Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Die Milliarden wären für einen Umbau der Energiewirtschaft sinnvoll eingesetzt. Allein für diese Umorientierung weg von der menschenfeindlichen Atomenergie, für eine Umorientierung, die von der großen Mehrheit der Bevölkerung ausdrücklich gewünscht wird, Herr Kohl, für diese Umorientierung hin zu einer zukunftsweisenden, modernen sanften Energie wären ca. 300 000 Arbeitsplätze erforderlich. Auch viele andere Beispiele drängen sich hier auf: Ausbau des schienengebundenen Verkehrs statt der weiteren Betonierung der Landschaft usw. usf.Brauchbare Konzepte zum Abbau der Massenerwerbslosigkeit liegen auf dem Tisch. Sie können sich heute nicht mehr mit dem dummen Satz, niemand habe ein Patentrezept gegen die Arbeitslosigkeit, herausreden.Ihre gesamte Politik, die ich oben beschrieben habe, ist ein ständiger Beweis dafür, daß Sie nicht nur gefühllos und sozial kalt sind, sondern auch auf der falschen Seite stehen. Sie machen eine ganz konsequente Interessenpolitik, bei der die Interessen der Industrie und der Reichen ganz klar an erster Stelle stehen, und was dann noch übrigbleibt, ist für die Habenichtse. Ihre Maxime heißt: Umweltpolitik ja, aber nur, wenn sie der Industrie nicht wehtut, Beschäftigungspolitik auch, aber nur, solange die Gewinnspannen der Unternehmen nicht berührt werden, und Sozialpolitik, ja, ja, aber nur, nachdem die Besserverdienenden bedient sind. Die Arbeitslosen liegen Ihnen keineswegs — wie Sie immer vorgeben — am Herzen, sondern Sie stehen eindeutig auf der anderen Seite, sonst hätten Sie Ihre Politik längst geändert.
In einem weiteren wichtigen Bereich der Innen- und der Außenpolitik hat diese Regierung ebenfalls ein trauriges Bild abgegeben. In zwei Wochen soll ein Abkommen unterzeichnet werden, das die Abrüstung atomarer Mittelstreckenwaffen in Europa vorsieht. Das ist ein großes Ereignis in der Geschichte der Rüstungskontrolle, das insbesondere wegen der mutigen Angebote von seiten der Sowjetunion zustanden kommen wird. Trotz des Widerstandes der Europäer und trotz der beharrlichen Bemühungen der Bundesregierung, dieses Abkommen zu verhindern, wird es zu einer Unterzeichnung kommen.
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2712 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Frau RustEs ist eine traurige Bilanz, daß unsere Regierung nicht mit vereinten Kräften dazu beigetragen hat und beitragen will, daß Ihre Parole, Herr Bundeskanzler — wieder so ein Wahlkampfslogan -, ,,Frieden schaffen mit immer weniger Waffen", Wirklichkeit wird. Im Gegenteil, da wird zuerst auf der Pershing I a beharrt, die auf Grund ihrer Reichweite selbstverständlich in die Verhandlungen mit einbezogen werden muß; es wird auf dieser Waffe beharrt, da sie angeblich ein Drittstaatensystem ist. Erst im allerletzten Moment hat Bundeskanzler Kohl entgegen seiner Art doch noch ein Machtwort gesprochen, aber nicht etwa auf Grund seines Friedenswillens, nein, weil sonst die gesamte Regierung Kohl gefährdet gewesen wäre. Innenpolitisch war die weitere Störung der Verhandlungsplanungen von Ost und West nicht mehr durchsetzbar — das war das Problem —; ein später, aber großer Erfolg der Friedensbewegung, die sich — teilweise unter sehr schwierigen Bedingungen — stets für Abrüstung und Frieden eingesetzt hat und die der Bundesregierung stets ein Dorn im Auge war.Die Friedensbewegung ist jedoch gerade jetzt vor große Aufgaben gestellt. Mit den Verhandlungen, die den Abzug von nur 3 % der gesamten Sprengköpfe — nur 3 % ! — vorsehen, ist doch nicht das Ziel „Frieden schaffen ohne Waffen" erreicht. Da wird von der Regierung weiterhin eine verstärkte Militärkooperation zwischen der Bundesrepublik und Frankreich angestrebt. Da wird — wie aus der mittelfristigen Finanzplanung, aus diesem Haushalt gut ersichtlich — über konventionelle Aufrüstung gesprochen. Da betont Wörner die stete Invasionsfähigkeit der Sowjetunion. Und man könnte zwar glauben, daß abgerüstet werden soll, nur, alle haben Angst davor. Deshalb sind ernst gemeinter Friedenswille, Zähigkeit und listige Klugheit von Demokratinnen und Demokraten weiterhin gefragt. Der bevorstehende Erfolg im Bereich der Mittelstreckenwaffen sollte Ansporn für unsere weitere Arbeit sein und uns ermutigen, weiterhin für Frieden ohne Waffen in dieser Welt einzutreten.
Doch Friedenspolitik, Herr Kanzler, ist nicht nur für den internationalen Abrüstungsprozeß von Bedeutung, sie ist auch innerhalb der BRD für einen friedlichen, gewaltfreien Weg in die Zukunft von entscheidender Bedeutung.In der Reaktion auf den Tod der zwei Polizisten in Frankfurt haben — in einem breiten Spektrum, bis hin zu Ihnen in der CDU — die Nachdenklichen und Besonnenen bisher die Übersicht behalten. Herrn von Dohnanyis mutige Entscheidung, in Hamburg auf die Räumung zu verzichten, ist Ausdruck dieser politischen Vernunft. Allein Herr Zimmermann und seine politischen Freunde klammern sich auch weiterhin an ihr Mißtrauen gegenüber den Menschen, die nicht weniger, sondern mehr Demokratie wollen. Deswegen wollen Sie, Herr Zimmermann, den Straftatbestand des Landfriedensbruchs schon seit 1970 verschärfen. Sie polemisieren beständig gegen die Brokdorf-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, weil Sie von Ihrer aseptischen Vorstellung von Demokratie gefesselt sind. Leider — leider! — droht nun auch die FDP Ihnen auf den Leim zu gehen. Wenn Sie Polizei und Justiz dazu zwingen wollen, zu entscheiden, ob sich ein vermummter Demonstrant strafbar gemacht hat oder nicht, wenn Sie also das Legalitätsprinzip im Strafrecht zugunsten des Opportunitätsprinzips aufweichen wollen, dann ändern Sie nicht nur eine Norm, sondern Sie verraten auch klassischliberale Grundsätze.
Zum Schluß ein Wort zur Skandalchronik der letzten Jahre: Das Beunruhigende an den Affären wie Flick und Barschel ist, daß deutlich wird, daß sich die Parteien von ihrer institutionellen Aufgabe, nämlich den Konsens aller Menschen zu suchen, gelöst haben. Die Parteien werden zunehmend als Selbstbedienungsläden für brutale Karrieristen verstanden, die ihre Pfründe mit kriminellen Methoden sichern.Als Antwort darauf muß die Rolle der Parteien verändert werden. Die Menschen müssen einen direkten Einfluß in die Parteien hinein bekommen, ohne Parteigänger sein zu müssen. Es stünde uns allen hier gut an, angesichts der 1989 bevorstehenden „40 Jahre Grundgesetz" und „200 Jahre französische Revolution" über diese Zusammenhänge zu debattieren und Konsequenzen daraus zu ziehen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bangemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist in der Tat richtig, daß diese Debatte in einer Zeit stattfindet, die viel Anlaß zur Nachdenklichkeit bietet. Ich denke, daß diese Nachdenklichkeit nicht auf bestimmte Politikbereiche beschränkt sein sollte. Denn wir leben in einem Strukturwandel, der weit mehr als nur die Grundlagen wirtschaftlichen Handelns erfaßt. Dieser Strukturwandel erfaßt politische Organisationsformen. Er erfaßt die Einstellung der Menschen zu diesen Formen, zu denen natürlich auch das Verhalten der Menschen gehört, die in diesen Strukturen handeln. Er erfaßt vor allen Dingen auch die Überlegungen und Anstrengungen zum Frieden, aber nicht zuletzt auch das, was wir zur Wirtschaft zu sagen haben und was wir tun müssen, damit die materielle Grundlage politischen Handelns erhalten bleibt. Insofern ist es richtig, wenn wir alle den Versuch unternehmen, uns einmal mit diesen grundsätzlichen Wandlungen zu befassen.Wenn ich mit der Wirtschaft beginne und dazu Ausführungen mache, dann tue ich es deswegen, weil ich glaube, daß die Unsicherheiten und die damit verbundenen Ängste, die entstanden sind, uns in allererster Linie herausfordern. Wir müssen wissen, daß diese Unsicherheit immer wieder eilfertige Propheten kommenden Unheils anlockt und daß diese eilfertigen Propheten uns manchmal unfähig machen, das MöglicheDeutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24, November 1987 2713Dr. Bangemannzu tun. Es gibt nicht die geringste Gewähr dafür, daß diese Propheten des Unheils recht behalten.
Wenn ich mich in diesem Zusammenhang auf den Sachverständigenrat beziehe, so tue ich das, weil er nicht nur vor ganz kurzer Zeit — gestern erst — sein Jahresgutachten übergeben hat, sondern weil er ein Beispiel dafür geboten hat, wie man sich angesichts dieser Schwierigkeiten einstellen sollte, um sie zu lösen. Er sagt in seinem Gutachten, und zwar in der nötigen Klarheit, aber auch mit der nötigen Ruhe: Im Kursverfall sehen wir nicht den Vorboten einer Weltrezession. Er fährt fort: Eine Korrektur spekulativer Übertreibungen war früher oder später unausweichlich.
Ich zitiere das nicht, um mich nun umgekehrt in die Reihe derer zu stellen, die mit vordergründigem Optimismus versuchen, eine Stimmung zu verbreiten, in der man dann auch nichts tun würde, sondern ich sage das, um zunächst einmal dafür zu werben, daß wir mit der nötigen Ruhe und Besonnenheit das Notwendige überlegen.Natürlich wird an den Unsicherheiten an der Börse der letzten Woche zunächst einmal ein Stück Strukturwandel deutlich. Es gibt schon seit Jahren eine Auseinanderentwicklung zwischen dem Kapital- und Geldbereich der Wirtschaft und der Güterwirtschaft. Wir dürfen nicht die Augen davor verschließen, daß auf den Geld- und Kapitalmärkten, d. h. auch an den Wertpapierbörsen, nach wie vor der Vorgang der Kapitalbeschaffung für die Wirtschaft abläuft. Wir dürfen aber ebensowenig die Augen davor verschließen, daß diese Geld- und Kapitalwirtschaft, der Geldmarkt, sich in großen Teilen verabsolutiert hat, daß er seine Verbindung zur Güterwirtschaft verloren hat, daß er Eigengesetzen gehorcht hat, die ihn in eine Bewegung getrieben haben, die nur noch ganz am Rande mit der Güterwirtschaft zusammenhing. Das ist der tiefere Grund, warum diese aufgeblähte Entwicklung in sich zusammenfiel, warum wir in den vergangenen drei Wochen nicht nur das Ende mancher Träume erlebt haben, sondern auch eine Desillusionierung, die uns allerdings auch guttun kann, insofern nämlich, als wir uns darauf besinnen, daß die Grundlagen der Wirtschaft, die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, der vorhandene Produktionsapparat, die Fähigkeit der Menschen in den meisten Ländern dieser Welt, sich diese Grundlage zu erhalten, davon nicht berührt worden sind. Es wäre ein Fehler, Wohl und Wehe wirtschaftlicher Entwicklungen vom Erfolg oder Mißerfolg von Spekulanten abhängig zu machen. Das dürfen wir nicht tun.
Deswegen ist diese nüchterne Bestandsaufnahme zugleich eine Überlegung, die uns auf das zurückführt, was wir selber tun müssen, um diese Lage zu stabilisieren.Dabei muß man zunächst einmal vermeiden, unbedachte Worte zu sprechen. Jedes unbedachte Wortkann zu einer zusätzlichen Verunsicherung beitragen. Wie sehr das möglich ist, haben wir in den vergangenen Wochen ja erfahren.Die Entscheidung, die in Amerika getroffen worden ist, das US-Haushaltsdefizit um 30 und danach um 45 Milliarden Dollar zu verringern, ist ein erster Schritt auf dem richtigen Weg. Sicher ist, daß diese Entscheidung noch nicht allzusehr Wirkung auf den Märkten gezeigt hat. Sie wird aber diese Wirkung nicht verfehlen, wenn der Kongreß diese Entscheidung mitträgt. Wir können alle nur hoffen und an den Kongreß appellieren, sich dieser internationalen Verantwortung und auch der zentralen Rolle gerecht zu zeigen, die der Dollar als internationale Währung spielt. Wer in der internationalen Politik an erster Stelle mit in der Führungsgruppe der Nationen steht und auf diese Weise politischen Einfluß ausübt, muß wissen, daß das auch mit wirtschaftspolitischer Verantwortung verbunden ist. Wer umgekehrt sich dieser wirtschaftspolitischen Verantwortung entledigen will in einem zentralen Bereich der Wirtschaftspolitik, nämlich der Währungspolitik, wer den Dollar bewußt verfallen lassen will nur aus eigensüchtigen wirtschaftspolitischen Überlegungen, der muß wissen, daß er damit auch die Axt an die Wurzel seiner politischen Geltung legt. Ich hoffe, daß sich der amerikanische Kongreß seiner weltpolitischen Verantwortung bewußt bleibt.
Natürlich ist es richtig, was Herr Vogel gesagt hat, daß wir hier nicht eine Methode anwenden sollen, bei der die Verantwortung hin und her geschoben und das eigentliche Problem verdeckt wird. Herr Vogel, es ist aber auch richtig — das muß man nun angesichts des Verwirrspiels sagen, das sich abgespielt hat —, daß die amerikanische Haushaltspolitik im Kern dieser Schwierigkeiten steht. Das läßt sich nicht bestreiten. Wir haben das auf vielen Weltwirtschaftsgipfeln zusammen mit den amerikanischen Freunden festgestellt. Ich denke, daß wir diese Schwierigkeit nennen müssen, wenn wir die Probleme beseitigen wollen. Um so mehr begrüßen wir es, wenn jetzt am weiteren Defizitabbau ernsthaft gearbeitet wird. Das bleibt die zwingende Voraussetzung für eine internationale Koordination der Wirtschafts- und Währungspolitik, die wir wollen und die jetzt auch dringend geboten ist.Ich darf hier auch für die Bundesbank sagen, die ja keine Gelegenheit hat, sich in geeigneter Form gegen Vorwürfe öffentlich zur Wehr zu setzen, daß ich es nicht richtig finde, daß man den Versuch unternommen hat, sie zum Buben in einem Schurkenstück zu machen. Die Bundesbank hat eine eigene Verantwortung für die Stabilität der Währung. Sie ist dieser Verantwortung gerecht geworden und hat Beschlüsse gefaßt, die vor dem Hintergrund der Vermehrung der Geldmenge in der Bundesrepublik durchaus verständlich waren. Es wäre falsch, nun zu sagen: Diese Bundesbank ist es gewesen, die das ganze in Bewegung gesetzt hat. Ich will mich jetzt wirklich nicht an dem Versuch beteiligen, diese Schuld festzumachen. Daß es aber die Bundesbank nicht war, daß die Bundesbank mit ihrer verantwortlichen Politik dafür ge-
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2714 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Dr. Bangemannsorgt hat, daß die D-Mark zu einer der stabilsten Währungen der Welt geworden ist, sollte hier einmal unumwunden festgestellt werden.
Ich will aber durchaus auch uns fragen, ob wir alles getan haben, was notwendig ist, um unserer weltwirtschaftlichen Verpflichtung gerecht zu werden. Die Bundesrepublik ist zwar nicht das größte Land, das in der Weltwirtschaft seinen Part zu übernehmen hat, aber sie ist eines der wichtigen Länder, und sie hat eine eigene Verantwortung.
— Sie ist im vergangenen Jahr der größte Exporteur geworden — das ist korrekt — , was wieder einmal beweist, wie gut die Politik dieser Bundesregierung dazu beiträgt, daß die wirtschaftliche Kraft unserer Industrie zur Geltung kommt.
Der Sachverständigenrat hat auch zu dieser Frage Stellung genommen und gesagt:Was die Bundesrepublik für einen schrittweisen Abbau des außenwirtschaftlichen Ungleichgewichts tun konnte, hat sie getan.Meine Damen und Herren, ich darf daran erinnern, daß wir auf den letzten drei Weltwirtschaftsgipfeln die Hausaufgaben sehr genau und richtig verteilt hatten, nämlich für die Japaner ein besserer Zugang zu ihrem eigenen Markt, für die Amerikaner die Beseitigung des Haushaltsungleichgewichts und damit auch die Beseitigung einer der grundlegenden Ursachen für die Dollar-Schwäche und für Europa — nicht für die Bundesrepublik allein — wirtschaftliches Wachstum, das stärker sein sollte, als wir es bis dahin zustande gebracht hatten.Insbesondere der Bundesrepublik wurde immer wieder gesagt: Tut etwas, um euren Handelsbilanzüberschuß zu reduzieren. Meine Damen und Herren, der reale Exportüberschuß ist bereits wegen der hohen Importsteigerungen 1987 gesunken. Das wird 1988 nicht anders sein. Dort wird sich zum ersten Mal in den Zahlen dieser Rückgang des Exportüberschusses bemerkbar machen. Wir haben also das, was an uns lag, gemacht, und wir haben das, was wir in den internationalen Währungszusammenkünften versprochen hatten, nämlich das Vorziehen eines Teils der Steuerreform, beschlossen. Insofern kann es keine Vorwürfe an die Bundesregierung geben.Ich denke, daß wir nur unterschreiben können, was der Sachverständigenrat gesagt hat: Grundsätzlich ist diese Politik richtig. Sie hat die Bundesrepublik nach wir vor auf dem Expansionspfad gehalten, wenn auch der Sachverständigenrat für das nächste Jahr eine geringere Aufstiegsrate prognostiziert. Ich sage hier: Wir werden dieses Gutachten in den Beratungen der nächsten Wochen und Monate sehr genau untersuchen und für unsere eigenen Überlegungen heranziehen. Die Bundesregierung selbst muß sich darüber klarwerden, was sie zusätzlich zu tun hat, um die 1,5 %, die der Sachverständigenrat prognostiziert, auf einen höheren Prozentsatz zu bringen, den wir dann nicht nur prognostizieren, sondern als ein wirtschaftspolitisches Ziel für das nächste Jahr vorgeben. Wir sind nicht an die 1,5 % gebunden, sondern wir sind frei, das zu tun, was notwendig ist, um darüber hinauszukommen.
Daß wir das auf einer guten und gesunden Grundlage tun können, haben andere in den letzten Tagen bestätigt: Die Bundesbank hat erst vor kurzem noch einmal festgestellt, daß wir im dritten Quartal dieses Jahres saisonbereinigt 5 % mehr Aufträge hatten als im zweiten Vierteljahr 1987. Das ist eine gute Entwicklung, die übrigens nicht allein auf Inlandsaufträge beschränkt geblieben ist. Trotz des schon sehr niedrigen Dollarkurses ist es möglich gewesen, mehr Exportaufträge zu bekommen. Diese Zahlen stammen aus der Zeit vor den Unruhen an den Börsen, das ist richtig. Neuere gibt es noch nicht; deswegen kann ich sie noch nicht vortragen. Es gibt nur eine neuere Info-Umfrage, die auch nach den Kurseinbrüchen für Dollar und Wertpapiere von einer bemerkenswerten Zuversicht der Befragten in die zukünftige konjunkturelle Entwicklung zeugt. Selbst wenn man diesen Test nicht für die ganze, endgültige Wahrheit nehmen will, zeigt er zumindest, wie falsch manche Äußerungen aus Unternehmen und Verbänden sind, daß wir hier von einer verzweifelten Stimmung sprechen müßten. Richtig ist, daß in den Betrieben durchaus Zuversicht herrscht.Meine Damen und Herren, das ist eine gute Ausgangslage, um ruhig und realistisch wirtschaftspolitische Entscheidungen zu treffen. Wir haben nichts von Hektik und Panik, sondern wir können alles Heil nur von dieser ruhigen, realistischen, allerdings dann auch Entscheidungen zugewandten Haltung verlangen. Ich denke, die Bundesregierung wird sich dem gewachsen zeigen.Ich denke auch, daß die starke inländische Nachfragekomponente, die sich schon 1986 gezeigt hat, uns, aber auch den ausländischen Exporteuren zugute kommt. Die Einkommensentwicklung und die weitere Beschäftigungszunahme sind eine Verstärkung der inländischen Kaufkraft.Ich sage aber genauso deutlich, daß wir auf die Bereitschaft der Unternehmen setzen müssen, dieser gewachsenen Konsumneigung nicht mit einer schwindenden Investitionsneigung die Zuversicht zu nehmen. Wir brauchen nicht nur den Konsum, sondern wir brauchen in gleicher Weise und noch mehr die Investitionen, um die Zahl der Arbeitslosen zu vermindern.
— Die Steuerreform, verehrte Kollegin Matthäus, fördert ja die Bereitschaft, Investitionen vorzunehmen. Doch sie allein reicht nicht aus.Ich habe vor kurzem an dieser Stelle von der Attraktivität der Bundesrepublik als Investitionsplatz gesprochen, zum großen Entsetzen einiger Mitglieder der Oppositionsfraktion der SPD, die meinten, so etwas könne man doch öffentlich nicht sagen. Ich verstehe das Demokratieverständnis nicht, das dahintersteht. Ich sage deswegen noch einmal öffentlich: Wir
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Dr. Bangemannmüssen mehr tun, damit die Bundesrepublik ein attraktiver Platz für Investitionen bleibt.
Meine Damen und Herren, die schwache, gesamtwirtschaftlich unzureichende Investitionsneigung deutscher Unternehmen wie auch ausländischer Investoren bei uns hängt z. B. damit zusammen, daß die Besteuerung der Unternehmen noch zu groß ist, auch nach der Steuerreform. Das widerlegt alles das, was immer wieder behauptet wird, daß nämlich diese Steuerreform sozial unausgewogen sei. In Wahrheit ist es eine Steuerreform, die die berechtigten Interessen der Unternehmen zu wenig berücksichtigt,
die die Steuerlast der deutschen Unternehmen im Verhältnis zu Unternehmen im Ausland nicht genügend senkt.
— Herr Kollege, würden Sie mir gestatten, daß ich das auch im Zusammenhang vortrage? Ich weiß, es ist angenehmer, wenn man mal eine Zwischenfrage stellen kann. Aber ich biete Ihnen die nächste Gelegenheit an: Wenn ich zu meinem Haushalt rede, dann können Sie Ihre Zwischenfrage stellen. Sie wird ja den Zusammenhang nicht verlieren.
— Das bestreitet niemand. Daß die Reingewinne der Unternehmen 1986 um 13 % gestiegen sind, ist überhaupt nicht zu bestreiten. Die Unternehmen, verehrter Herr Kollege, haben diese Steigerung in erster Linie nicht für Investitionen verwendet, sondern — hören Sie jetzt gut zu — für die Verbesserung ihrer Eigenkapitalquote.
Die durchschnittliche Eigenkapitalquote deutscher Unternehmen liegt bei 25 %, und wir haben Branchen, wie in der Bauindustrie, wo die Eigenkapitalquote 1 °A) ausmacht. Daß dann ein Unternehmer einen gestiegenen Gewinn zunächst mal benutzt, um sich ein Polster zu verschaffen, um auch schwierige Zeiten zu überstehen, muß man doch verstehen können.
Das trägt übrigens auch zur Sicherung von Arbeitsplätzen bei; denn von einem kranken Unternehmen hat niemand etwas, am allerwenigsten diejenigen, die in dem Unternehmen arbeiten.
Meine Damen und Herren, deswegen ist die Fortsetzung dieser Steuerreform mit Blick auf eine Erleichterung der Steuerlast gerade auch der Unternehmen eine wichtige Aufgabe der nächsten Jahre. Wir dürfen das nicht übersehen. Ich wiederhole das noch einmal; ich habe es schon einmal gesagt, aber man kann es nicht oft genug sagen, damit endlich die Bedeutung dieses Strukturwandels für das Wohl und Wehe der Menschen in der Bundesrepublik deutlich wird: Wir sind das Land, das mit wenigen anderen Ländern zusammen, mit Luxemburg und auch den Vereinigten Staaten, in der Spitzengruppe der Löhne liegt. Wir sind das Land, das nach Schweden das beste und damit auch das teuerste Sozialversicherungssystem hat mit hohen Lohnnebenkosten, und wir sind das Land — weit vor all unseren Konkurrenten, insbesondere Japan — mit den kürzesten Arbeitszeiten in der Welt. Nun sage ich — möglicherweise findet das einige Überraschung auf den Bänken der Opposition — : Das ist gut.Niemand kann doch dagegen sein, daß die Menschen in der Bundesrepublik gut verdienen, niemand kann dagegen sein, daß wir ein gutes Sozialversicherungssystem haben. Allerdings müssen wir dafür sorgen, daß die mißbräuchliche Ausnutzung dieses Systems abgestellt wird. Da werden wir uns dann wiedersehen. Niemand kann etwas dagegen haben, daß die Menschen weniger arbeiten müssen, weil sie dann eben die Möglichkeit haben, sich nicht nur zu erholen und anderen Tätigkeiten nachzugehen, sondern auch die Grundlage dafür zu legen, was wirklich in den nächsten Jahrzehnten über Wohl und Wehe der Wirtschaft entscheiden wird, nämlich sich mal Gedanken zu machen über den Fortgang der Dinge, innovativ, kreativ zu werden; denn das, meine Damen und Herren, entsteht immer nur noch aus Muße. Insofern wünsche ich auch der Opposition mehr Muße.
Aber alles das ist nur möglich, und wir werden es nur aufrechterhalten können, wenn wir die dafür notwendige Leistung erbringen. Es ist nicht möglich, in einem Land, das außerdem noch zu einem Drittel seines Bruttosozialprodukts vom Export abhängig ist, das sich auf dem Weltmarkt mit Konkurrenten auseinandersetzen muß, die einem nichts schenken, diese Leistung, hohe Löhne, geringe Arbeitszeit und soziale Absicherung, zu erringen, ohne daß wir alle zu einer ungewöhnlichen Leistung bereit sind. Das ist das entscheidende Problem.
Hier, meine Damen und Herren, sagt der Sachverständigenrat auch ein sehr wichtiges Wort, und ich würde mich sehr freuen, wenn die Opposition, auch unsere Gewerkschaften, einmal diese Kapitel sehr sorgfältig durchlesen würden. Das entscheidende Moment, das entscheidende Element wirtschaftlicher Entwicklung der nächsten Jahre und damit auch für mehr Menschlichkeit in der Wirtschaft ist folgendes. Für mich sollte die Wirtschaft nicht nur als materielle Basis gewürdigt werden, sondern in der Wirtschaft vollzieht sich das alltägliche Leben der meisten Menschen. Die meisten Menschen unter uns arbeiten oder bereiten sich auf ein Berufsleben vor und sind deswegen darauf angewiesen, daß dieses Wirtschaftsleben menschlich bleibt, daß sie dort ihre Chancen finden und wahrnehmen können. Aber wir können das nur erreichen, wenn wir von den verkrusteten schematischen Abläufen Abschied nehmen, von den Strukturen, die aus dem 19. Jahrhundert unbesehen heute übernommen werden, wenn wir nicht mehr wie bisher von geregelten Arbeitszeiten, die alle zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnen und zu einem bestimm-
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Dr. Bangemannten Zeitpunkt enden, das soziale Wohl und Wehe abhängig machen, wenn wir bereit sind, den Menschen auch mal die Möglichkeit zu geben, die Freiheit zu nutzen, die mit der modernen Technik verbunden ist. Wir haben heute Maschinen und Produktionsmechanismen, die praktisch rund um die Uhr arbeiten könnten und den Menschen entlasten könnten. Wir könnten zu viel weniger Arbeitszeit als 35 Stunden in der Woche kommen, wenn endlich mal die Gewerkschaften diese großen Chancen vorurteilsfrei nutzen und nicht an den Maßstäben des 19. Jahrhunderts hängenbleiben würden.
Ich sage nicht — ich möchte jetzt nicht mißverstanden werden; das wird sicherlich eingewandt werden; ich weiß es nicht — , daß an liberaleren Ladenschlußregelungen das Wirtschaftswachstum der nächsten Jahre hängt. Das ist natürlich Unsinn.
Wer das in Hamburg einmal gesehen hat, wer insbesondere gesehen hat, was es für den kleineren und mittleren Fachhandel bedeutet,
wer gesehen hat, in welcher Befreiung die Menschen das akzeptiert haben, was ihnen an neuen Chancen geboten worden ist, der muß doch endlich einmal einsehen, daß es weder für den Verbraucher noch für die Beschäftigten, noch für den Handel, noch für das wirtschaftliche Wachstum gut ist, daß wir an starren Ladenschlußzeiten festhalten, die allen Chancen rauben, statt ihnen neue zu geben.
Diese Aufgabe der Deregulierung wird ein Leitmotiv des wirtschaftlichen Strukturwandels werden. Das gilt nicht nur für Ladenschlußzeiten, das gilt für manche Bereiche der Wirtschaft, die in Zukunft von großer Bedeutung werden. Wir werden in der Telekommunikation d e n Wachstumsbereich moderner Wirtschaft erleben. Meine Damen und Herren, ich bin froh, das uns die Postkommission bestätigt hat, daß die augenblickliche Struktur der Bundespost diesen modernen Herausforderungen nicht gewachsen ist. Ich sage nicht, daß die Bundespost keine Leistungen erbracht hat. Ich sage nicht, daß die Bundespost nicht manche Leistungen übernimmt, die in einem marktwirtschaftlichen System jedenfalls höher bezahlt werden müssen. Das ist sicherlich anzuerkennen. Ich wehre mich aber dagegen, daß man die jetzige, überholte Struktur der Bundespost als Bürgerpost bezeichnet und alles das, was uns andere Länder vorgemacht haben, was mehr Freiheit, geringere Kostenbelastung des Bürgers bedeutet,
diskreditiert wird.
Meine Damen und Herren, viele sagen, wir lebenschon in der postindustriellen Zeit. Es wird Zeit, daßdie Bundespost das merkt, meine Damen und Herren.
Wir müssen diese Deregulierung im Interesse des Wirtschaftswachstums, auch im Interesse von niedrigeren Kosten durchführen. Damit bin ich bei dem Thema, das uns in den vergangenen Wochen schon mehrfach beschäftigt hat, nämlich bei dem Thema Steinkohle, Stahl, Werften, all die Industriebereiche, die besonders unter dem Strukturwandel leiden. Ich wiederhole: Die volkswirtschaftlichen Kosten, die die Erhaltung von Arbeitsplätzen in diesen Industriebereichen verursacht, die wir dann letzten Endes doch nicht erhalten können, sind ungleich höher als der Aufwand, den wir sicherlich erbringen müssen, um diesen Strukturwandel rechtzeitig in Gang zu setzen und zu unterstützen. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Kosten in diesen Bereichen die übrige wirtschaftliche Leistung erdrosseln, strangulieren.
Das ist das eigentliche Problem.Wir werden uns damit in den nächsten Monaten, sogar in den nächsten Wochen beschäftigen müssen, wenn der Kohlepfennig festgesetzt wird. Ich werde einen Vorschlag machen, der deutlich machen wird, daß diese Belastung der Stromverbraucher sinken muß. Ich werde allerdings genauso einen Vorschlag machen, der das Mengengerüst der deutschen Steinkohle bei der Verstromung erhält. Denn eines ist ganz sicher: Ohne die Erhaltung diese Mengengerüstes bis 1995 kann man eine sozialverträgliche Anpassung nicht zustande bringen.
Genauso wie es wichtig ist, diese Probleme gemeinsam anzugehen und sie so zu lösen, daß sie nicht zu einer Belastung der übrigen Wirtschaft werden, genauso wichtig ist es, die soziale Absicherung zu garantieren, damit den Menschen dieser Strukturwandel persönlich leichter fällt als ohne einen solchen Beistand.In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, muß noch einmal die Steuerreform genannt werden. Es ist ein erfreuliches Zeichen, daß mehr und mehr Menschen erkennen, daß diese Steuerreform notwendig ist. Es ist höchst unerfreulich, daß wir darüber wechselnde Äußerungen aus der Opposition hören. Denn es ist sicherlich sehr widersprüchlich, zu sagen: Wir brauchen eine Entlastung des Lohnsteuerzahlers, und sich auf der anderen Seite gegen diese Steuerreform zu wenden, die in ihren großen Teilen eine Entlastung des kleinen und mittleren Einkommen- und Lohnsteuerzahlers ist und nichts anderes.
Daß sich jetzt auch die Landesregierung von Baden-Württemberg dieser Erkenntnis anschließt, spricht für sie.Meine Damen und Herren, wir müssen auch, um diese Strukturen aufzulockern, die Privatisierung weitertreiben.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2717
Dr. BangemannWenn es der Markt erlaubt, müssen die vorgesehenen Privatisierungsschritte schnell getan werden, beim Volkswagenwerk, bei der VIAG, bei der Deutschen Pfandbriefanstalt und bei der DSLB.
Wir erwarten auch von Ländern und Gemeinden, daß sie ein viel weiter verzweigtes Privatisierungspotential, das sie haben, nutzen, um dem Bund auf diesem Wege zu folgen; denn allem Gezeter ewig gestriger Funktionäre zum Trotz: Das, was der Staat — und da beziehe ich die Gemeinden und die Länder mit ein — tun kann, tut er in diesem Bereich von Dienstleistungen weniger effektiv als Private, er tut es mit höheren Kosten, er tut es mit einem größeren Regulierungsbedarf, und er tut es entgegen den Interessen der Benutzer. Deswegen ist Privatisierung nicht nur im Interesse des Wirtschaftswachstums nötig, sondern das ist ein Schritt für eine verbraucherfreundliche Befriedigung der Bedürfnisse in diesem Bereich.
Dabei kann eine Kartellnovelle nützlich sein. Sie wissen, daß wir uns gegen vorschnelle Festlegungen gewehrt haben. Die Untersuchungen, die wir mit Verbänden, mit vielen anderen aus der Wirtschaft jetzt vorangebracht haben, zeigen, daß eine Kartellnovelle bei der Beseitigung oder Einschränkung jener Ausnahmen vom Wettbewerbsgebot, die heute noch für Banken, für Versicherungen, für den Güterkraftverkehr oder in der Versorgungswirtschaft existieren, eine notwendige Befreiung sein kann.Sie wird auch notwendig sein, um Unzuträglichkeiten im Handel abzubauen. Es ist wahr, daß wir hier mehr Wettbewerb, und zwar fairen Wettbewerb, brauchen. Und die Novelle wird auch diesen Gesichtspunkt mit auf greif en.Aber ich sage ebenso eindeutig: Eine Novelle, die sich ausschließlich als Handelsgesetznovelle mißversteht, kann es nicht geben. Wir müssen auch die Ausnahmebereiche aufgreifen, die es heute noch gibt und die den Wettbewerb beeinträchtigen. Da wird es dann auch wieder Zeter und Mordio geben, wie immer, wenn man das tut. Wir werden das ebenso überstehen wie alle anderen grämlichen und hoffnungslosen Versuche, uns beibringen zu wollen, daß die Marktwirtschaft im Grunde genommen ein System sei, das weniger geeignet sei als andere.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hier eindeutig sagen, auch mit Blick auf den Strukturwandel, den wir in der internationalen Politik erleben: Eigentlich, wenn wir unklug genug wären, darüber zu triumphieren, hätten wir allen Anlaß dazu. Es ist ja nicht so, daß nichtmarktwirtschaftliche Vorstellungen in der Welt an Boden gewönnen; das Gegenteil ist der Fall. Das, was wir hier tun und was wir seit Jahren auch gegen Widerstand in der Bundesrepublik verteidigen, wird ja mehr und mehr zum internationalen Gesetz des Wirtschaftens. Wenn große sogenannte Staatshandelsländer, Länder mit einer zentralisierten Verwaltung der Wirtschaft, dazu übergehen, wenigstens Elemente der Marktwirtschaft in ihre Wirtschaft einzuführen, wenn das auch Schwierigkeiten macht, unterschiedliche je nach der Verkrustung ihrer Struktur, dann sollte das doch einige Menschen nachdenklich machen, die bei uns in der Bundesrepublik immer noch andere Rezepte empfehlen, als wir sie mit Erfolg anwenden.Ich sage in allem Ernst: Wenn wir das alles nicht schnell ändern, wenn wir diese Strukturaufgaben nicht bewältigen, dann werden wir allerdings mit dem Problem der Arbeitslosigkeit nicht fertig werden. Es wird immer wieder verkannt, daß das Problem der Arbeitslosigkeit heute bei uns nicht nur konjunkturelle Elemente enthält. Die wesentlichen Gründe der Arbeitslosigkeit heute bei uns sind struktureller Art.
In dieser Wirtschaft, die auf hohem Niveau produzieren muß, werden Menschen immer einen Arbeitsplatz finden, die diese Suche mit der nötigen Qualifikation antreten. Das Drama besteht darin, daß mehr und mehr Arbeitslose diese Qualifikation nicht haben, daß wir die Ursachen, die in der Verkrustung liegen, nicht genügend beseitigen, daß wir immer noch glauben, ein Teilzeitarbeitsplatz sei ein geringwertiger Arbeitsplatz — jedenfalls viele Gewerkschaften bei uns glauben das —, daß wir immer noch glauben, die Differenzierung von Lohnabschlüssen sei ein sozialer Schaden; in Wahrheit ist es eine gute Möglichkeit, um in den Regionen, in denen die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist, Menschen wenigstens einen Arbeitsplatz zu geben. Alle diese Starrheiten tragen heute zu 80 % zur Arbeitslosigkeit bei,
und nur der Rest ist das, was man mit Konjunktur beleben und beheben könnte.
Wir brauchen nicht nur eine Qualifikationsoffensive, die ja schon zusammen mit der Bundesanstalt unternommen worden ist, sondern wir brauchen das gesellschaftliche Bewußtsein dafür, daß in einem Land mit hohem Lohnniveau die Leistung diesem Lohnniveau entsprechen muß. Diese Leistung bietet dann Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Das ist das eigentliche Problem. Sich da zurückzuziehen und die Verantwortung für eine Struktur, die verkrustet und unfähig ist, Arbeitsplätze zu schaffen, bei der Regierung abzuladen, das ist zu einfach, das ist zu billig, und das sollten wir nicht zulassen.
Meine Damen und Herren, der Kollege Vogel hat den Versuch unternommen, einen neuen Ton in diese Debatte zu bringen, indem er gesagt hat, er wolle nicht abrechnen, sondern er wolle den Versuch machen, in einer solchen Debatte gemeinsam die Auf gaben zu beschreiben und dann vielleicht die verschiedenen Lösungsalternativen gegenüberzustellen. Ich will dahingestellt sein lassen, ob ihm dieser Versuch gelungen ist.
Es wäre sicherlich nicht richtig, vorschnell darüber zu urteilen, wenn er dieses Angebot macht.Aber, verehrter Herr Kollege Vogel, als Sie über die Frage der Abrüstung und über die Frage der Entwick-
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2718 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Dr. Bangemannlung der internationalen Politik und der Sicherung des Friedens sprachen, da haben Sie mit Recht gesagt, daß die Aussichten erfolgversprechender geworden seien, daß wir nicht nur zwischen den beiden sogenannten Supermächten Kontakte hätten, sondern daß diese Welt ja auch von dieser Bipolarität abrücke und multipolar werde und daß in dieser Welt die Europäische Gemeinschaft und viele Entwicklungsländer und auch die Bundesrepublik als Einzelstaat eine Rolle spielten. Es hätte Ihnen gut angestanden, wenn Sie in diesem Zusammenhang gesagt hätten: Wie sehr ich auch das eine oder andere bei der Bundesregierung tadeln kann — aber sie hat eine wesentliche Voraussetzung für diesen Abrüstungsprozeß in eigener, für manche mühsamer Entscheidung getroffen,
in ihrem Ja zum Doppelbeschluß und in ihrem Beschluß zu Pershing. Das hätten Sie erwähnen müssen, wenn Sie Ihrem eigenen Anspruch hätten gerecht werden wollen.
Wir wollen wirklich nicht rechten, aber eines ist doch wahr: Die Tatsache, daß wir mit der DDR in Beziehungen gekommen sind, die wesentlich mehr und bessere Ergebnisse für die Menschen in der DDR und bei uns erbracht haben, ist unbestreitbar. Der Besuch des Staatsratsvorsitzenden war ja nur der äußerliche Ausdruck für diese Verbesserung der Beziehungen. Daß die Bundesrepublik in allen Ländern des RGW, des COMECON, ein gesuchter nicht nur Wirtschaftspartner, sondern politischer Partner geworden ist, daß die Menschen, nicht nur die. Regierungen, in Polen, in Bulgarien, in Rumänien, in Ungarn, in der Tschechoslowakei und in anderen Ländern, die eigentlich unter von uns völlig verschiedenen Regierungssystemen leben, Zutrauen zur Bundesrepublik entwickelt haben, das liegt natürlich auch ein bißchen mit daran, verehrter Herr Vogel, daß sich diese Regierung um diese Kontakte und um diese Möglichkeiten ernsthaft und offen bemüht hat.
Ich denke, verehrter Herr Kollege, es gehört, wenn Sie denn eine anständige und offene Debatte führen wollen — ich nehme Ihnen das ja ab — dazu, daß man das einmal bemerkt und daß man dies hier feststellt. Ich stelle das nicht fest für die Regierung oder die Regierungsparteien, auch nicht für die FDP, sondern ich stelle es als Mensch fest, der an dieser friedlichen Entwicklung in dieser Welt interessiert ist, der daran einen großen Anteil nimmt und der einen kleinen persönlichen Anteil daran auch erbracht hat. Ich stelle fest: Es ist gut, daß es auf dieser Welt ein wachsendes Bewußtsein dafür gibt, daß die technischen Vernichtungsmittel so gewaltig geworden sind, daß wir auf einem Planeten leben und alle zusammen diesen Planeten bewohnbar machen und halten müssen. Daß daran die Bundesregierung einen Anteil hat, ist unbestreitbar.
Wenn ich von dieser Multipolarität gesprochen habe, meine Damen und Herren, dann möchte ich hier erwähnen, daß die Bundesregierung ernsthafte Anstrengungen unternommen hat und unternehmen wird, um die Europäische Gemeinschaft zu einer weiteren erfolgreichen Bewegung für europäische Einheit zu machen. Diese regionale Zusammenarbeit ist ein Beispiel dafür, wie auf dieser Welt das alte Konzept des Nationalstaates überwunden werden muß, um zu neuen Formen der Zusammenarbeit zu kommen. Ich sage das insbesondere auch unseren Ländern, die da ihre strukturellen Schwierigkeiten haben, weil sie befürchten, daß in einem Bundesstaat diese Kompetenzverlagerung auf die Europäische Gemeinschaft auch ihre Kompetenzen beeinträchtigen könnte. Natürlich wird das eine Kompetenzverlagerung von den nationalen Regierungen zu der Europäischen Gemeinschaft bedeuten. Natürlich wird das auch eine Verlagerung der Kompetenzen von den Ländern bedeuten. Aber wer die europäische Einigung unter dem Gesichtspunkt von Kompetenzverlust betrachtet, der verkennt die historische Bedeutung dieses Unternehmens. Das sollten wir nicht tun.
Diese Multipolarität wird auch dazu führen, daß der überwältigende Einfluß der beiden großen Staaten Sowjetunion und Vereinigte Staaten abnehmen wird. Wir dürfen dort nicht ein Vakuum entstehen lassen. Die Aufgabe der Europäer wird es sein, diese Chance zu nutzen, damit sie zur friedlichen Entwicklung selber mehr beitragen können, als sie das bisher getan haben.
Das ist der eigentliche tiefe Sinn der europäischen Einigung. Daß wir auf dem Wege dahin einige Nachteile abbauen müssen, die die europäische Einigung heute für manche Menschen hat, will ich nur am Rande erwähnen. Europa ist nicht eine im Ansatz sicherlich gut gemeinte, aber verfehlte Agrarpolitik. Europa ist nicht ein finanzielles Faß ohne Boden. Europa ist ein Beitrag der Menschen auf diesem Kontinent zu einer neuen, friedlichen Entwicklung in der Welt. Das sollte man sehen, wenn man Europa kritisiert.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einige Sätze zu dem Thema sagen, das auch der Kollege Vogel angesprochen hat. Das betrifft die Frage — auch das ist eine Frage des Strukturwandels in einer demokratischen Gesellschaft — : Wie stellen wir uns gegenüber den zunehmenden Anzeichen von Gewalt ein? — Man muß sehen, und wir haben das immer wieder gesagt: Gewalt ist der Feind jeder Demokratie. Eine Demokratie, die Gewalt gewähren läßt, wird zu Ende sein. Eine Demokratie, die nicht erkennt, daß das Prinzip einer gewaltsamen Lösung von politischen Fragen im Kern undemokratisch ist, gibt sich auf.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2719
Dr. BangemannDeswegen haben wir, die FDP, immer wieder Wert darauf gelegt,
daß man, so wichtig Einzelfragen auch sind — ich komme noch auf einige Einzelfragen — das Problem der Gewalt in der Demokratie im Kern aufgreift. Erst dann, wenn man das im Kern tut und wenn man diese Diskussion dahin führt, wohin sie geführt werden muß — zu den Grundsätzen und Hintergründen — , eröffnet sich ein Zugang zu einzelnen Maßnahmen.Meine Damen und Herren, ich sage hier unumwunden und ich sage das als Vorsitzender der FDP: Ich habe Respekt vor dem, was Herr von Dohnanyi gemacht und auf sich genommen hat. Aber ich sage genausogut: Er hätte sich diese schwierige Situation, die er persönlich gut überstanden hat, ersparen können, wenn er vorher nicht zugelassen hätte, daß sich diese Gewalt, die sich gegen die Demokratie richtet, so ausbreitet, wie das in der Hafenstraße möglich gewesen ist.
Deswegen ist wichtig, daß wir eines erkennen, und dies ist wahr: Wenn wir Gewalt, unter welchem Deckmantel auch immer, zulassen, dann geben wir dieser Demokratie auch einen falschen Anschein. In der Auseinandersetzung um Gewalt im politischen Leben wird ja deutlich, daß man Gewalt gegen Diktaturen, gegen eine unerträgliche Herrschaft, die Menschenrechte verletzt, vielleicht dulden, akzeptieren kann. Das ist eine Frage, die auch Demokraten unterschiedlich beantworten werden. Aber wer in einer Demokratie Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung zuläßt, der gibt zu und räumt ein, daß diese Demokratie vielleicht solche Fehler aufweist, wie sie Diktaturen haben, denn nur dann ist die Anwendung von Gewalt gerechtfertigt. Wir leben in einer Demokratie. Die Bundesrepublik ist ein Staat, der so viel Freiheiten und Menschenrechte garantiert, in der Praxis schützt, wie noch nie ein deutscher Staat es geschafft hat. Wir haben keinen Anlaß, diesen Staat durch die Anwendung von Gewalt gefährden zu lassen. Wir müssen ihn verteidigen.
Dazu gehören auch gesetzgeberische Maßnahmen. Meine Partei — das wissen Sie — tut sich mit gesetzgeberischen Maßnahmen aus einem klaren Verständnis der liberalen Politik heraus besonders schwer, das immer besagt: Wir müssen prüfen, ob ein Übermaß von Gesetzen nicht schädlich ist. — Wir werden diese Prüfung vornehmen. Ich darf alle Kollegen hier im Hause bitten, sich einer Kommentierung zu enthalten, die darin besteht zu sagen: Nun schaut euch die Freien Demokraten, die Liberalen an, sie ändern ihre Meinung.
— Ja, genau. Ich habe das Wort nicht benutzt. Aber Sie sagen es, und Sie zeigen damit, wie wichtig es ist, daß man das einmal erwähnt. Daß Sie die Tatsache, daß sich eine Partei auf einem Parteitag in einem sehr demokratischen Verfahren diese Sache nicht leichtmacht, mit diesem Wort belegen, zeigt, wie wenig Sievon diesem Strukturwandel, der da notwendig ist, und von der liberalen Besonnenheit, die auch notwendig ist, verstanden haben.
Meine Damen und Herren, ich habe das schon mehrfach öffentlich gesagt, ich sage es hier noch einmal: Ich persönlich glaube, daß die Vermummung am Anfang nur ein Anzeichen von Feigheit war. Am Anfang der Demonstrationen waren Leute, die vielleicht irgendeine Karriere machen wollten zu feige, ihr Gesicht zu zeigen. Heute ist die Vermummung eine Vorbeugung zur Gewalt geworden.
Weil das so ist, muß man sie unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung der Demokratie neu bedenken. Das werden wir tun. Zu überlegen, nachzudenken, etwas zu machen, was übrigens auch der Polizei erspart, von Anfang an eine noch friedliche Demonstration unfriedlich zu machen, wenn man eingreift und gegen Vermummte vorgeht, das ist das Problem. Das war ja auch der Grund, warum wir gemeinsam mit CDU und CSU gesagt haben: erst Ordnungswidrigkeit, dann Straftat, weil wir einen Freiraum für eine polizeiliche Entscheidung erhalten wollten.Aber ich räume ein: Die Vermummung von Anfang an strafbar zu stellen, ist auch ein Zeichen dafür, daß dieser Staat das Rechtsbewußtsein seiner Bürger ernst nimmt.
Ich kann und ich will nicht daran vorübergehen, daß sich Bürger darüber aufregen, daß das vom Staat unterschiedlich bewertet wird. Aber wir müssen gemeinsam eine Möglichkeit finden, um der Polizei die Freiheit zu belassen, einzugreifen oder nicht einzugreifen, denn das ist im Rahmen dessen, was in der Demokratie auch in der Auseinandersetzung mit Gewalt bedacht werden muß.Wenn Sie das bitte ernsthaft prüfen wollen. Ich bitte Sie darum. Ich sage Ihnen das als Vorsitzender einer Partei, die im Wettstreit mit Ihnen allen steht. Aber ich bitte Sie darum — das gehört zu dieser demokratischen Prüfung unser aller Positionen — , das nicht hämisch zu begleiten, sondern uns diese Entscheidung nach den Maßstäben, die wir selber an unsere eigene Politik anlegen wollen, zu gestatten. Wir anerkennen die Maßstäbe anderer Parteien, und ich bin weit davon entfernt, irgendeiner Partei, die hier vertreten ist, ihr Existenzrecht zu bestreiten, das sie sich in einer demokratischen Auseinandersetzung erkämpft hat. Aber Liberale können das auch für sich in Anspruch nehmen. Wir wollen uns nicht überschätzen und unseren Anteil an der Herstellung demokratischer Ordnungen auch nicht. Aber daß diese Art von Nachdenklichkeit auch zur Demokratie gehört, sollte in einer solchen Debatte unbestritten bleiben.
Wenn wir das gemeinsam tun und wenn wir diese Debatten in diesem Sinne führen, dann werden Menschen in der Tat wieder Zutrauen zur Politik haben.
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2720 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Dr. BangemannMeine Damen und Herren, das Schlimmste, was wir jetzt in dieser Situation, in der Menschen nach der politischen Kultur fragen, tun könnten, wäre, uns selbst heuchlerisch zu verhalten. Zur Heuchelei und zum Pharisäertum gehören zwei Fehler. Der eine ist, sich über alle Fehler und Möglichkeiten des Versagens zu erheben. Das wird sicher niemand tun wollen. Jeder wird hier bekennen, daß er auch Fehler machen kann. Aber die andere Form der Heuchelei und des Pharisäertums ist, zu behaupten, daß man alles falsch gemacht habe, daß nichts an der Politik stimme, daß alle Menschen, die Politik beginnen, ein schmutziges Geschäft betreiben. Meine Damen und Herren, Sie alle kennen Menschen — jeder hier in diesem Raum könnte Beispiele nennen — , die in der Demokratie unter Hintansetzung ihrer eigenen Möglichkeiten und auch unter Einsatz ihres Lebens für die Demokratie eingetreten sind. Daß wir in dieser Demokratie — so wie sie heute ist — leben, verdanken wir auch diesen Menschen. Lassen wir nicht zu, daß diese zweite Form von Heuchelei und Pharisäertum um sich greift und daß die Menschen das Gefühl haben: In der Politik geht es mit anderen Maßstäben zu, als man sie im menschlichen Leben normalerweise anlegen würde. Dies ist eine freiheitliche Demokratie geworden, weil es in der Geschichte der Bundesrepublik viele Menschen aus der Opposition, aus den Regierungsparteien gab, die diese Aufgabe auf sich genommen haben, und dabei soll es bleiben. Wir sollten uns den Staat, den wir wünschen, auch nicht dadurch kaputtmachen, daß wir selber nicht mehr an uns glauben und unsere Möglichkeiten trotz unserer Fehler unterschätzen. Der Mensch macht Fehler, aber er ist zur Besserung in der Lage. Wenn das der Leitspruch dieser Diskussion wird, dann haben wir auch der Demokratie geholfen.
Ich erteile dem Herrn Bundeskanzler das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir zum Ende dieses Jahres in einer Generalaussprache über die Politik unseres Landes debattieren, ist es unerläßlich — ich tue das auch als Vorsitzender der CDU Deutschlands — , zu jenen — vor allem uns — bedrükkenden Vorgängen in Kiel zu sprechen, die viele Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zutiefst betroffen gemacht haben. Ich habe vor ein paar Tagen auf dem Bundesparteitag der Christlich Demokratischen Union in Bonn zu diesem Thema bereits eingehend Stellung genommen. Aber ich glaube doch, es ist richtig, daß ich zu Beginn meiner Ausführungen auch hier einige Bemerkungen zur Sache mache.Das erste ist: Wir alle in der CDU sind zutiefst betroffen von diesen sehr bitteren Erfahrungen. Viele von uns — ich sage das auch für mich ganz persönlich — sind nach mancherlei Erfahrungen im politischen Leben mit Erfahrungen einer Dimension konfrontiert worden, die für uns in dieser Form nicht faßbar war. Die Fragwürdigkeit menschlichen Handelns ist hier offenbar geworden. Wir sind derselben Meinung wie alle, die da sagen: Wir wollen rückhaltlose Aufklärung. Unser Freund Henning Schwarz hat in einer bewegenden Rede bei der Trauerfeier im Dom zu Lübeck gesagt: „Wir wollen die Wahrheit, auch wenn sie Schmerzen bringt. Wir wollen Recht und Menschenwürde. "Wir alle — das sage ich auch für meine politischen Freunde — müssen aus diesen Ereignissen Konsequenzen ziehen. Im politischen Leben, im Leben unserer Republik, unserer Demokratie muß es harte Auseinandersetzungen geben. Aber zwischen Demokraten darf es kein Freund-Feind-Verhältnis geben. Auch in der Politik heiligt der Zweck nicht die Mittel. Macht gehört zur politischen Gestaltung in der Demokratie, aber sie ist nicht Selbstzweck, und sie lohnt schon gar nicht jeden Preis.Demokratie, so meine ich —ich denke, ich darf sagen: so meinen wir — , braucht Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit. Sie lebt aber auch von einem Vertrauensvorschuß, den sich alle Beteiligten gegenseitig einräumen. Wo allgemeines Mißtrauen das alles beherrschende Prinzip ist, kann, so bin ich überzeugt, ein freiheitliches Gemeinwesen nicht gedeihen. So müssen wir — ich will das für meine politischen Freunde sagen — durch besondere Sensibilität und auch Besonnenheit immer wieder neues Vertrauen begründen.Ich glaube, auch angesichts der Tatsachen, die jetzt bekannt sind — ich vertraue darauf, daß der Untersuchungsausschuß und die Justizbehörden in Schleswig-Holstein zügig arbeiten und daß das Verfahren mit rückhaltloser Offenheit abgeschlossen werden kann — , und angesichts der Fragen, vor denen wir stehen, ist kein Grund zu irgendeiner Selbstgerechtigkeit gegeben. Deswegen — ich sage das in Form einer Bitte und nicht in einer scharfen Formulierung — würde ich es schon begrüßen, Herr Kollege Vogel, wenn Sie diese Debatte zum Anlaß nähmen — auch nach dem, was mein Freund und Kollege Rudi Seiters gesagt hat — , von diesem Pult aus noch einmal zu erklären, daß die Art und Weise der Vorwürfe, die Sie gegen Gerhard Stoltenberg erhoben haben und die im Namen Ihrer Partei erhoben worden sind, nicht akzeptabel sind und daß Sie sie bedauern.
Herr Kollege Vogel, Sie haben dann eine Reihe von Äußerungen zur Christlich Demokratischen Union gemacht. Es ist ganz selbstverständlich, daß man sich mit dem politischen Gegner beschäftigt. Aber die Sorge um die Zukunft der Christlich Demokratischen Union aus ihrem Munde klingt zumindest leicht heuchlerisch.
Ich finde, Herr Kollege Vogel, wir sollten uns beide als Parteivorsitzende um die jeweiligen Aufgaben in der eigenen Partei kümmern.
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Bundeskanzler Dr. KohlDas gilt für andere Parteivorsitzende übrigens auch.Bei der Betrachtung von CDU und SPD haben wir beide — Sie und ich — genug zu tun.Weil dies so ist, sollten wir nicht gegenseitig in dieser Form vorrechnen, welche Parteiprogramme mehr aus einer breiten Diskussion der Partei hervorgegangen sind und welche nicht. Sie wissen, daß es in Wahrheit einfach abwegig ist, was Sie hier gesagt haben. Die SPD hat sich im Jahr 1959 ihr Godesberger Programm gegeben. Sie ist aus gutem Grund — das respektiere ich — nach 25 Jahren zu der Überzeugung gekommen, daß sie dieses Programm fortentwickeln und fortschreiben will.Die Christlich Demokratische Union hat sich im Jahr 1978 nach zweijähriger, intensiver Diskussion in der Partei ihr Grundsatzprogramm gegeben. Niemand auf dem Bundesparteitag vor ein paar Tagen hat etwa die Forderung erhoben, daß dieses Grundsatzprogramm jetzt geändert werden müßte, sondern immer wieder ist gesagt worden: Wenn neue Aufgaben auftreten, werden wir uns den neuen Herausforderungen stellen.Herr Kollege Vogel, daß Sie hier unseren Kollegen und Freund Böhr, den Vorsitzenden der Jungen Union, erwähnen, war ja zu erwarten. Was meinen Sie, wieviel Stunden ich damit verbringen könnte, Zitate aus dem Bereich der Jusos, Ihrer Jugendorganisation, vorzutragen!
Diese Gruppierung hat Urteile über die Mutterpartei gefällt, die so vernichtend waren, wie sie es überhaupt nur sein konnten.Die Christlich Demokratische Union ist eine offene Volkspartei. Bei uns wird diskutiert, bei uns wird kritisiert — genauso wie bei Ihnen übrigens auch. Da gibt es berechtigte Kritik, und da gibt es gänzlich unberechtigte Kritik. Aber ein Parteivorsitzender muß beides ertragen, und ich habe es im Laufe von jetzt 14 Jahren ganz gut ertragen.Meine Damen und Herren, nur eines nehmen Sie bitte auch im Blick auf das Jahr 1990 mit nach Hause: Wir sind eine Partei, die aus klaren Prinzipien Probleme von heute und morgen lösen will. Wir haben dafür überzeugende Lösungen, und Sie sind die letzten, die uns dabei Ratschläge geben können.Herr Kollege Vogel, es klingt doch aus Ihrem Munde schon eigenartig, wenn Sie hier einen Nachholbedarf an Umweltschutz und Umweltpolitik konstatieren.
Sie haben in Ihrer Zeit nichts, aber auch gar nichts getan, um auf diesem Feld voranzukommen.
Sie haben hier mit betroffener Miene die Entwicklung in der Gesundheitspolitik aufgezeigt. Herr Kollege Vogel, Sie hatten lange genug Zeit, angesichts der Kostenexplosion im Gesundheitswesen in diesemFeld die notwendigen Schritte zu tun. Sie haben nichts, aber auch gar nichts getan.
Rudi Seiters hat Ihnen nachgewiesen, wie Sie , die Familie ganz bewußt aus Ihrer ideologischen Verirrung heraus in die Sackgasse getrieben haben. Ich kann die Liste beliebig fortsetzen.
Der absolute Höhepunkt — Herr Bangemann, Herr Seiters, alle haben es Ihnen gesagt — war Ihre Behauptung hinsichtlich der Abrüstungs- und Friedenspolitik. Sie sind die einzigen in Deutschland — vielleicht noch Ihre fellow-travellers aus dem Bereich der GRÜNEN —, die nicht erkannt haben, daß die Verwirklichung des von Ihrem früheren Kanzler Helmut Schmidt herbeigeführten NATO-Doppelbeschlusses durch diese Regierung dazu führte, daß wir jetzt, wie wir alle hoffen, zu dem INF-Vertrag kommen.
Meine Damen und Herren, wir haben uns doch nicht dagegen gesträubt, wie haben ihn herbeigeführt. Ihr Beitrag hat darin bestanden, aus der Angst der Menschen vor Krieg politische Geschäfte zu machen. Das war Ihr Beitrag in diesen Jahren.
Von ähnlicher Qualität waren Ihre Bemerkungen zum Thema innere Sicherheit. Nach den beiden Morden an der Startbahn West fragen doch viele im Lande, und zwar zu Recht: Wie konnte es dazu kommen, daß die Täter nicht davor zurückschreckten, gezielte Schüsse auf Polizeibeamte abzugeben? Das ist ja eine Frage an uns alle. Wir sind bereit — ich hoffe Sie auch — und entschlossen, die erforderlichen Konsequenzen aus den Frankfurter Ereignissen zu ziehen. Wir wollen dem zunehmenden Mißbrauch des Grundrechts auf friedliche Versammlung Einhalt gebieten, und wir wollen unsere Polizeibeamten besser schützen. Sie und ihre Familien haben Anspruch auf unsere Fürsorge.
Herr Abgeordneter Vogel, es kommt schon ein seltsamer Staatsbegriff zutage, wenn einer der Sprecher Ihrer Partei, der dafür zuständige Abgeordnete, vor ein paar Tagen die Bundesregierung davor warnte, „die Spirale der Gewalt ein Stückchen weiterzudrehen". Hier werden der Selbstbehauptungswille des freiheitlichen Rechtsstaates und die Zerstörungswut von Gewalttätern auf eine Stufe gestellt, und das ist ein völlig unerträglicher Vorgang.
Herr Abgeordneter Vogel, Sie preisen die Entscheidung in Hamburg. Wie wollen Sie eigentlich verantworten, daß in der Hamburger Hafenstraße die Entwicklung eines gleichsam rechtsfreien Raumes jahrelang hingenommen wurde? Wie konnten Sie es zulassen, daß sich hier ein Herd der Gewalt entwickelte, der aller Rechtsstaatlichkeit hohnspricht? Eine Demo-
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2722 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Bundeskanzler Dr. Kohlkratie — das ist nicht zuletzt die Erfahrung der Weimarer Republik — kann auch dadurch ausgehöhlt werden, daß sie sich vor aller Augen von ihren Feinden als hilflos vorführen läßt. Hier ist doch immenser Schaden entstanden, und der wird nicht dadurch wiedergutgemacht, daß in letzter Minute ein rechtswidriger Zustand legalisiert wurde. Ingo von Münch hat, glaube ich, mit seiner Bewertung Recht, daß die vorläufige Lösung des Konflikts an der Hafenstraße kein Erfolg für den Rechtsstaat ist.
— Es ist gut, daß dieser Zwischenruf kommt. Ich finde es schon ziemlich ungehörig — um kein anderes Wort zu gebrauchen — , daß Sie, Herr Abgeordneter Vogel, und andere — den Abgeordneten der GRÜNEN möchte ich in diesem Zusammenhang nicht ansprechen —
jetzt fortdauernd den Bundespräsidenten in die Debatte einbeziehen. Das ist ein Stil der Auseinandersetzung, der bislang in der Geschichte der Bundesrepublik nicht üblich war.
Der SPD-geführte Hamburger Senat hat durch jahrelanges Gewährenlassen schuldhaft eine ausweglose Situation herbeigeführt,
in der er nur noch die Wahl zwischen schlimmen Ausschreitungen und der Kapitulation des Rechtsstaates hatte.
Meine Damen und Herren, es täusche sich niemand: Wer nach den Polizistenmorden von Frankfurt an einem Haus der Hafenstraße ein Transparent mit der Aufschrift „Zwei Tote sind nicht genug" anbringt, dem kann wohl kaum die Absicht unterstellt werden, auf Dauer Frieden zu halten.
Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. — Niemand von uns — alles andere ist bloße Verdächtigung — denkt auch nur im entferntesten daran, das Grundrecht auf friedliche Versammlung anzutasten. Das Problem liegt doch nicht in diesem Feld. Das Problem ist die Verharmlosung von Gewalt.
Erinnern wir uns doch: Bei den Demonstrationen inWackersdorf und Brokdorf wurden Hunderte von Polizeibeamten zum Teil schwer verletzt. In Brokdorf zertrümmerte eine abgeschlossene Stahlkugel das Gesicht eines Polizisten.
In Wackersdorf wurde ein Kleinbus in Brand gesetzt, in dem sich Polizisten befanden, und ohne fremde Hilfe wären sie vermutlich verbrannt.
Sanitätsfahrzeuge wurden im Einsatz behindert. Vor diesem Hintergrund erscheinen die beiden Morde an der Startbahn West als die letzte Konsequenz der seit längerem zu beobachtenden Angriffe auf Leib und Leben von Polizeibeamten.Mit der Steigerung der Gewalttätigkeit geht eine Bagatellisierung der Gewalt einher.
Sie ist mit ursächlich für die zunehmende Brutalität im Umfeld von Demonstrationen. Zu viele von uns haben sich an diese Art von Gewalt wie an etwas Alltägliches gewöhnt. Nachrichten über Anschläge auf Eisenbahnen, Strommasten, Baumaschinen, das Werfen von Molotow-Cocktails bei Demonstrationen werden kaum mehr als außergewöhnlich empfunden. Wen wundert es, daß angesichts solcher Abstumpfung gewaltbereite Kriminelle an der Gewaltspirale drehen? Hier haben viele von denen versagt, die an der Bildung des öffentlichen Bewußtseins teilhaben. Wer Gewalt verharmlost, baut Gewalthemmungen ab. Wer Gewalt gegen Sachen immer noch billigt, nimmt angesichts der bisherigen Erfahrungen Gewalt gegen Menschen in Kauf. Wer Polizeibeamte als „Bullen" bezeichnet, leistet der Menschenverachtung Vorschub.
Von unseren Polizeibeamten werden neben persönlicher Einsatzbereitschaft, Entschlußkraft und zugleich Besonnenheit in kritischer Situation gefordert. Unsere Polizei hat sich im Regelfall diesen Anforderungen gewachsen gezeigt — trotz der Gefahren für Leib und Leben, denen Polizeibeamte heute bei Demonstrationen immer wieder ausgesetzt sind.Meine Damen und Herren, dieser Dienst am inneren Frieden und damit an unser aller Freiheit wird von vielen nicht angemessen gewürdigt. Unsere Polizei hat ein Recht auf Unterstützung nicht nur durch die jeweilige Regierung, sondern durch alle demokratischen Parteien und durch die Öffentlichkeit. Polizeibeamte, die ihren Dienst unter persönlicher Gefährdung wahrnehmen, müssen selbstverständlich unsere Solidarität erfahren.
Die Empörung über die Verbrechen in Frankfurt muß dauerhafte Wirkungen haben. Gewalt darf nicht als etwas Alltägliches hingenommen werden.
Schon das An- und Absägen von Strommasten ist gemeingefährlich und ist kriminiell. Alle Parteien, allegesellschaftlichen Kräfte müssen unzweideutig alle
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2723
Bundeskanzler Dr. KohlFormen der Gewalt, auch Gewalt gegen Sachen, verurteilen.Meine Damen und Herren, auch die Veranstalter von Demonstrationen mit friedlichen Absichten haben viele Möglichkeiten, Gewalttaten von Außenseitern vorzubeugen. Wir können und müssen von ihnen verlangen, daß sie diese Möglichkeiten nutzen. Wer an bestimmten Orten, wer zur Nachtzeit, wer in unübersichtlichem Gelände Demonstrationen veranstaltet, weiß im Regelfall sehr genau, welche Risiken er heraufbeschwört.
Das Bekenntnis vieler Gruppen zur Gewaltfreiheit ist unglaubwürdig, solange sie bei Demonstrationen die Zusammenarbeit mit der Polizei verweigern. Manche von ihnen scheinen sogar darauf zu spekulieren, daß Gewalt ihnen die Aufmerksamkeit der Medien sichert.Den inneren Frieden zu sichern ist nicht nur Aufgabe der Staatsorgane. Dazu können die Bürger selbst maßgeblich beitragen. Ich füge hinzu: Auch die Medien müssen sich immer wieder fragen lassen, ob nicht manche gewalttätige Demonstration deshalb veranstaltet wird, weil anwesende Kamerateams für Publizität sorgen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundesregierung und die Hessische Landesregierung erörtern mit verantwortlichen Parteiführern, welche Lehren aus den Frankfurter Vorfällen zu ziehen sind. Bei dieser Prüfung gibt es für uns keine Tabus. Die Novellierung des Versammlungsrechts, das Vermummungsverbot und der Tatbestand des Landfriedensbruchs müssen ebenso erörtert werden wie die Frage, ob die Polizeiausrüstung zu verbessern ist
und ob eine Einsatzreserve des Bundesgrenzschutzes zum Einsatz bei gewalttätigen Ausschreitungen bereitgestellt werden soll. Das Bundeskabinett wird schon sehr bald die dazu notwendigen Beschlüsse fassen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, es ist nur natürlich, daß gerade in der jetztigen Situation im Mittelpunkt der Generalaussprache Themen der wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes stehen. Zwei wichtige Sachverständigengutachten haben sich in diesen Tagen mit der Entwicklung auseinandergesetzt: zu Beginn des Monats das Herbstgutachten der wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute und am Montag dieser Woche das Jahresgutachten des Sachverständigenrates.Beide Analysen stimmen in einem wesentlichen Punkt überein: Sie gehen einvernehmlich davon aus, daß die wirtschaftliche Entwicklung auch im kommenden Jahr weiter aufwärts gerichtet bleibt. Diese Kernaussage der Sachverständigen hat gerade jetzt, angesichts der Unsicherheit auf den internationalen Finanzmärkten, ein besonderes Gewicht, denn sie macht klar, daß die realen wirtschaftlichen Bedingungen ein tragfähiges Fundament für eine gute Entwicklung darstellen.Richtig ist auch, daß die internationalen Turbulenzen der letzten Wochen Reaktionen auf nach die vor ungelöste Probleme in der Weltwirtschaft darstellen. Dabei ist ganz unbestritten, daß der Verringerung des amerikanischen Haushaltsdefizits größte Bedeutung zukommt. Die Bundesregierung begrüßt ganz besonders die jetzt konkret in Aussicht genommenen Maßnahmen zum Abbau dieses Defizits, auch und vor allem, weil hier feste Verabredungen für einen Zeitraum von zwei Jahren getroffen worden sind. Es kommt jetzt entscheidend darauf an, daß — dies ist unser dringender Wunsch — das amerikanische Parlament diesen Vorschlägen möglichst bald seine endgültige Zustimmung gibt.Meine Damen und Herren, weitere Fortschritte benötigen wir auch beim Abbau der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte. Hier stehen wir vor einer besonderen Schwierigkeit: daß nämlich nominale und reale Entwicklung bereits seit geraumer Zeit deutlich auseinanderfallen. So hat die Bundesrepulik Deutschland im vergangenen Jahr zwar auf den ersten Blick einen Rekordüberschuß in der Handelsbilanz erzielt. Bei genauem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß hierfür ausschließlich die rückläufigen Einfuhrpreise verantwortlich waren, daß also der reale Überschuß im Warenhandel 1986 nicht zugenommen, sondern — im Gegenteil — bereits um 20 Milliarden DM abgenommen hat.Anders ausgedrückt: Seit Mitte 1985 wachsen die realen Einfuhren bei uns erheblich schneller als unsere Ausfuhren. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres haben unsere ausländischen Partner ihre Verkäufe auf dem deutschen Markt real um 4 steigern können, während umgekehrt die deutschen Exporteure ihren Absatz jenseits unserer Grenzen im Verkauf nur um 1 % ausweiten konnten.Dies bedeutet: Das reale Wirtschaftswachstum fällt bei uns gegenwärtig vor allem deshalb schwächer aus, weil das Volumen unserer Importe etwa viermal so stark zunimmt wie das unserer Exporte. An diesen Zahlen, meine Damen und Herren, wird auch deutlich, daß die deutsche Wirtschaft — und ich lege Wert auf diese Feststellung — bereits ganz Erhebliches geleistet hat und weiter leistet, damit die entstandenen internationalen Ungleichgewichte abgebaut werden können.Wir wissen, daß wir auch in Zukunft — in nächster Zukunft zumindest — mit diesen außenwirtschaftlichen Belastungen rechnen müssen. Und kein Zweifel besteht auch daran, daß wir aus all diesen Gründen international aufs engste zusammenarbeiten müssen.Auch und gerade — das will ich nach der Debatte dieses Jahres hier noch einmal besonders betonen — vor diesem Hintergrund wird ja deutlich, wie richtig die von uns frühzeitig eingeleitete konsequente Politik der Steuersenkung war, eine Politik, die heute auch eine breite internationale Anerkennung findet und die in fast allen Ländern — betrachten Sie nur die EG — Nachahmung findet. Es ist ja schon bemerkenswert, wenn die Regierung Papandreou in Griechenland — ganz gewiß nicht konservativer Umtriebe verdächtig — jetzt eine Steuerreform vorlegt, die etwa hinsichtlich des Spitzensteuersatzes Vorstellungen
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2724 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Bundeskanzler Dr. Kohlenthält, die für die deutschen Sozialdemokraten völlig undenkbar wären.Meine Damen und Herren, diese Steuerreform, die wir in einem beträchtlichen Teil auf den Beginn des kommenden Jahres vorziehen, ist ein wichtiger Beitrag auch zur internationalen Politik — damit werden ja, wie jeder weiß, die Steuern am 1. Januar 1988 um knapp 14 Milliarden DM gesenkt — : ein Beitrag zur Stärkung der Inlandsnachfrage, der keinen Vergleich zu scheuen braucht.Ich betone noch einmal, weil dies im Ausland oft übersehen oder bewußt nicht zur Kenntnis genommen wird: Geld- und Finanzpolitik in der Bundesrepublik Deutschland liegen bereits seit geraumer Zeit auf einem deutlich expansiven Kurs — dies auch und gerade im Blick auf unsere Verantwortung für die internationale Wirtschaftsentwicklung. Gerade weil wir in den letzten Jahren nicht nur beim Haushalt, sondern auch in der Wirtschaftspolitik insgesamt verantwortungsbewußt und konsequent gehandelt haben, können wir jetzt unseren Beitrag zur Stabilisierung der Weltwirtschaft leisten.Ich füge hinzu: Wir sind auch bereit, gerade in der jetzigen Situation zu weiteren internationalen Anstrengungen, zur Stärkung von Wachstum und Beschäftigung aktiv beizutragen. Dies kann und darf nicht zu irgendeinem wirtschaftspolitischen Aktionismus führen, weil das von uns gewünschte Hauptziel so mit Sicherheit verfehlt würde: nämlich Vertrauen auf breiter Basis zu festigen und, wo notwendig, zu schaffen. Nicht von ungefähr, meine Damen und Herren, hat der Sachverständigenrat vor derartigem, kurzfristig orientiertem Handeln erst in dieser Woche aufs nachdrücklichste gewarnt. Entscheidend ist, daß in der internationalen Wirtschaftspolitik ein abgestimmter, ein klarer, ein überzeugender Kurs gesteuert wird. Wir werden darauf drängen, daß dies geschieht, und wir werden auch unseren Beitrag leisten.Und, Herr Kollege Vogel — ich sage das auch im Hinblick auf Ihre Bemerkung — : Wir sind auch bereit, öffentlichkeitswirksame Formen der internationalen Zusammenarbeit zu praktizieren. Aber ich glaube — ich denke, Sie stimmen hier sogar zu —, daß es nicht vernünftig wäre, ein Treffen in der üblichen Weise herbeizuführen, bevor nicht ganz klar ist, daß dieses Treffen zu einem Erfolg führt. Und ich will die sehr positive Rolle von Gerhard Stoltenberg ausdrücklich würdigen, der seine Aufgaben in den letzten Wochen auch im internationalen Konzert, und zwar mit aller Diskretion, immer wieder wahrgenommen hat.
Gerade vor diesem internationalen Hintergrund unterstreiche ich, daß die Perspektiven für eine weitere Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik positiv sind. Das Preisniveau ist weiterhin ungewöhnlich stabil. Einkommen, Löhne und Renten zeigen deutlich reale Steigerungsraten. Beides zusammen beweist einmal mehr, daß Politik für stabile Preise die wirksamste Sozialpolitik ist. Daß darüber hinaus breites Vertrauen in die Stabilität der Wirtschaftsentwicklung entstanden ist, wird ja nicht zuletzt dadurch deutlich, daß die großen Gewerkschaften mehrjährige Tarifverträge abgeschlossen haben. Rudi Seiters hat es schon gesagt, meine Damen und Herren von der SPD: Wer sich an das Geschrei und die Diskussionen um den § 116 AFG erinnert, der weiß, wie wenig die damalige Kampagne mit der Realität des Landes zu tun hatte.
Es ist positiv festzuhalten, daß die Ausfuhren im Verlauf dieses Jahres spürbar gestiegen sind, daß die Auslandsbestellungen der deutschen Industrie sich seit dem Frühjahr ebenfalls günstig entwickelt haben und daß die weiteren Exportaussichten von den Unternehmen bis zuletzt, bis in diese Tage hinein überwiegend positiv beurteilt werden.Diese deutlich verbesserte Ausgangslage der deutschen Exportunternehmen ist in den letzten Wochen durch den Rückgang des Dollarkurses zweifellos sehr viel schwieriger geworden. Wir wollen deswegen alles tun, soweit wir es tun können, daß der Dollarkurs nicht zum Spielball mehr oder weniger sinnvoller Interviewäußerungen wird. Denn gerade in der Währungspolitik gilt, daß für vermeintliche kurzfristige Vorteile im Regelfall auf lange Sicht ein hoher Preis zu zahlen ist. Deswegen liegt es im wohlverstandenen Interesse aller Beteiligten, bei öffentlichen Stellungnahmen zu Währungsfragen für Verläßlichkeit und Berechenbarkeit zu sorgen.Unbefriedigend bleibt die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenzahl von zuletzt 2,1 Millionen ist unverändert eine der großen Herausforderungen an die Politik, an die Gesellschaft, an alle Beteiligten. Ebenso unbestreitbar ist jedoch, daß es auch auf diesem Feld gewichtige Aktivposten gibt, zunächst die Schaffung von 670 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen. Durch diesen Zugewinn an Arbeitsplätzen ist es gelungen, in steigender Zahl Frauen, die wieder arbeiten wollen, bessere Chancen für die Berufstätigkeit zu eröffnen. Gelungen ist es auch — ich hebe es deutlich hervor — , Ausbildungs- und Arbeitsplätze für die jungen Leute der geburtenstarken Jahrgänge zu schaffen. Erstmals seit 1981 konnte in diesem Jahr wieder ein globaler Ausgleich von Angebot und Nachfrage bei den Lehrstellen erreicht werden.Einen konstruktiven Beitrag sehe ich auch darin, daß die Tarifparteien, beispielsweise in der chemischen Industrie, erstmals für einen großen Tarifbereich überhaupt die Teilzeitarbeit tariflich geregelt und sozialverträglich abgesichert haben.
Hier ist einmal mehr unter Beweis gestellt worden, daß sachliche Gespräche bei Wahrung eigener Interessen durchaus zu echten Fortschritten führen können, und dies im Interesse der vielen, die einen Arbeitsplatz suchen.Ob es dagegen dem Abbau der Arbeitslosigkeit dient, wenn Tarifabschlüsse aus gut verdienenden Branchen praktisch unverändert auf Industriezweige übertragen werden, die sich mitten in der Strukturkrise befinden, kann bezweifelt werden. Die Forschungsinstitute und der Sachverständigenrat haben
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Bundeskanzler Dr. Kohlgerade dazu sehr deutliche Worte an die Adresse der Tarifpartner gesagt.Die Bundesregierung wird ihre Politik der Sozialen Marktwirtschaft konsequent fortsetzen. Im Mittelpunkt steht dabei in diesem Augenblick, für diese Legislaturperiode die Steuerreform 1990. Dabei geht es nicht nur um Steuersenkungen von immerhin rund 50 Milliarden DM innerhalb von vier Jahren, sondern um eine echte Reform der Steuerstruktur, mit der wir zwei wichtige Ziele erreichen: Wir wollen ein leistungsgerechteres Steuersystem, weil wir auf Leistung und Leistungsbereitschaft weniger denn je verzichten können.
Wir wollen zugleich auch ein sozialpolitisch zukunftsfähiges Steuersystem; denn die nachhaltige Anhebung der Besteuerungsgrenze für niedrige Einkommen ist ebenso dringend geboten wie die Besserstellung von Familien mit Kindern im Steuerrecht.
Meine Damen und Herren, Bund, Länder und Gemeinden stehen gemeinsam vor einer weiteren zentralen Aufgabe. Es ist die Bewältigung des anhaltenden Strukturwandels. Es muß allen Beteiligten darum gehen, einerseits den Übergang in neue Strukturen nicht zu behindern, weil dadurch im Ergebnis Arbeitsplätze nicht gewonnen werden, sondern verlorengehen; andererseits aber muß dieser Übergang für die Betroffenen sozialverträglich gestaltet werden. Das heißt, als Politiker und Verantwortliche haben wir danach zu fragen, was den unmittelbar betroffenen Menschen zugemutet werden darf und wo diese Grenze überschritten wird.In diesem Sinne hat die Bundesregierung auf meine Initiative hin mit Unternehmen und Gewerkschaften im Frühjahr dieses Jahres Gespräche über die schwierige Situation in der Stahlindustrie aufgenommen. Diese Gespräche konnten Anfang Oktober einvernehmlich und erfolgreich abgeschlossen werden. Das dabei erzielte Ergebnis ist in zweifacher Hinsicht von Bedeutung. Zum einen wird der Weg freigemacht für die allseits als notwendig anerkannte Strukturanpassung in der Stahlindustrie. Der Übergang in neue Strukturen wird durch die zeitlich begrenzten Hilfen sozial flankiert, so daß die ohnehin schwierige Situation in den betroffenen Regionen nicht durch Massenentlassungen im Stahlbereich weiter verschlechtert wird. Zum anderen macht die erreichte Einigung deutlich, daß alle Beteiligten — Politiker, Arbeitgeber und Gewerkschaften — die Fähigkeit bewahrt haben, in einer schwierigen Situation zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Ich sehe darin ein positives Signal; denn auf diese grundsätzliche Bereitschaft zum Konsens und zum Gespräch bleiben wir auch in Zukunft angewiesen.Meine Damen und Herren, dies gilt in ganz besonderer Weise auch für die Situation im Bereich der Kohle. Die entstandenen Probleme werden von Martin Bangemann — er sprach bereits davon — und den unmittelbar Beteiligten erörtert, und zwar mit dem Ziel, bei den im Steinkohlebergbau anstehenden Kapazitätsproblemen zu einer sozialverträglichen Lösung zu kommen. Gleichzeitig geht es um eine Verringerung der Belastung durch den Kohlepfennig auf ein wirtschaftlich vertretbares Maß — und dies bei Aufrechterhaltung der im Jahrhundertvertrag vorgesehenen Kohleeinsatzmengen.Meine Damen und Herren von der SPD, ich füge hinzu: Sie haben sich in der Öffentlichkeit immer für eine Fortführung des Jahrhundertvertrags ausgesprochen. Weil dies so ist, scheint es mir nützlich zu sein, in diesen Vertrag einmal hineinzuschauen. Deswegen will ich Ihnen einmal den § 8 des Vertrags vorlesen. Dort heißt es:Elektrizitätsversorgungsunternehmen und Bergbauunternehmen sind sich darüber einig, daß der wachsende Energiebedarf in Zukunft nur gedeckt werden kann, wenn sowohl Kohle als auch Kernenergie in zunehmendem Maße zum Einsatz kommen. Sie werden daher, insbesondere in ihrer Öffentlichkeitsarbeit, alles unterlassen, was die Erreichung dieses Zieles beeinträchtigt.
Meine Damen und Herren, diese Aussage ist für jedermann klar. Es ist klar, daß Sie von der SPD von diesem Kernelement des Jahrhundertvertrags nichts mehr wissen wollen. Erst Anfang Oktober hat sich die SPD in Nordrhein-Westfalen grundsätzlich und erneut gegen die Nutzung von Kernenergie ausgesprochen. Sie hat sich damit von einer zentralen Vereinbarung des Jahrhundertvertrags, dem Konsens zwischen Kohle und Kernkraft, unmißverständlich verabschiedet. Dies zeigt deutlicher als alle Propaganda draußen, von wem Bergleute heute konkret Solidarität erwarten können.
Meine Damen und Herren, niemand sollte sich täuschen lassen. Es geht jetzt vor allem darum, gerade im Ruhrgebiet, Chancen für neue, für zusätzliche Arbeitsplätze zu eröffnen. Wer sich in einer solch kritischen Übergangssituation durch Technikfeindlichkeit aus der Verantwortung für eine der bedeutendsten Industrieregionen der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet, der läßt die Betroffenen gerade dann im Stich, wenn sie am dringendsten auf Hilfe angewiesen sind.
Wir werden uns durch dieses Verhalten nicht beirren lassen. Wir werden auch in Zukunft Hilfe zur Selbsthilfe bereitstellen. Wir werden aber auch die zuständigen Landesregierungen immer wieder an ihre besondere Verantwortung für Arbeit und Beschäftigung vor Ort erinnern. Auch hier gilt nämlich, daß die erklärten Absichten gerade im Blick auf die Beschäftigung und die Arbeitsplätze immer wieder an der Wirklichkeit des tatsächlichen politischen Handelns gemessen werden müssen. Hier gibt es in Nordrhein-Westfalen wie an der Saar eine beängstigende Lücke zwischen Worten und Taten.Wenn wir über Strukturentwicklungen sprechen, gehört in diesen Zusammenhang auch eine Bemerkung zur Agrarpolitik, zur europäischen wie zur nationalen. Auch hier biete ich ausdrücklich die Zusammenarbeit an, eine Zusammenarbeit, die allerdings
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2726 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Bundeskanzler Dr. Kohleine Profilierung mit billigen Patentrezepten verbietet. Denn die Betroffenen in der deutschen Landwirtschaft wissen nur zu gut, daß nicht in der Amtszeit dieser Regierung, sondern daß vorher, in einer Zeit, als wir nicht die Verantwortung trugen, die EG-weiten Überschüsse entstanden sind.
Vor diesem Hintergrund sind Ihre heutigen Ratschläge, die Überschußproduktion durch Preissenkungen zu verhindern, schon mehr als seltsam.
Die Bundesregierung wird die deutschen Bauern in ihrem sehr schwierigen Anpassungsprozeß nicht im Stich lassen. Wir setzen uns in Brüssel für eine behutsame Neuordnung und für die gleichzeitige Absicherung der Einkommen durch direkte Hilfen an unsere Bauern ein. Ein Drittel des Einkommens unserer Landwirte stammt inzwischen aus direkten Einkommensübertragungen. Wir werden mit dieser Politik der Marktsanierung und der gleichzeitigen Einkommenssicherung fortfahren. Wir werden alles tun, damit unsere Agrarpolitik so gestaltet wird, daß auch in Zukunft die deutsche Landwirtschaft in Europa wettbewerbsfähig bleibt.Dies ist — das möchte ich betonen — eine Aufgabe, die nicht der Bund allein, sondern die nur Bund und Länder gemeinsam bewältigen können. Ich will die Bundesländer dazu ausdrücklich einladen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, im Rahmen dieser Debatte spielen notwendigerweise Fragen der Außen-, der Sicherheits- und der EG-Politik eine große Rolle. Für uns — dies ist, glaube ich, in diesem Hause unbestritten — , für die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland ist eine unverzichtbare Grundlage unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft. Mehr als die Hälfte unserer Exporte geht in unsere EG-Partnerländer. Jeder fünfte Arbeitsplatz — das muß man auch angesichts mancher anti-europäischer Stimmungen immer wieder sagen — hängt von der Ausfuhr in diese Länder ab. Wir Deutschen haben ein elementares Interesse daran, den Weg der wirtschaftlichen und politischen Integration Europas konsequent weiterzugehen.In wenigen Tagen findet der nächste EG-Gipfel in Kopenhagen statt. Die Gemeinschaft steht erneut vor schwierigen Aufgaben. Wir müssen gemeinsam versuchen, die Reform der Agrar- und Strukturpolitik und der Gemeinschaftsfinanzen voranzubringen. Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft hat dazu Vorschläge im Rahmen des sogenannten Delors-Paketes vorgelegt. Ich will aus der Sicht der Bundesregierung dazu heute einige Anmerkungen machen:Erstens. In der Agrarpolitik geht es darum, die Produktions- und damit die Kostenentwicklung in den Griff zu bekommen. Darin wissen wir uns mit der Europäischen Kommission und mit den anderen Mitgliedsstaaten einig. Die Lösung dieses Problems muß aber aus unserer Sicht in erster Linie durch gezielte marktentlastende Maßnahmen wie Flächenstillegungen oder Vorruhestandsregelung erfolgen. Eine Politik des Preisdrucks kann die Bundesregierung nicht mittragen. Eine solche Politik ist angesichts der Struktur unserer Landwirtschaft nicht hinnehmbar.
Zweitens. Ein weiteres wichtiges Element des Delors-Pakets ist die Strukturpolitik. Damit soll die Leistungskraft der am wenigsten entwickelten Regionen der Gemeinschaft weiter gestärkt werden. Wir treten für eine substantielle Erhöhung der Strukturmittel ein. Sie müssen aber — ich lege Wert auf diese Feststellung — auf die wirklich Bedürftigen in der Gemeinschaft konzentriert werden.Drittens. Die Bundesregierung ist zu einer Aufstokkung des EG-Haushalts bereit, denn die Gemeinschaft braucht mittelfristig eine stabile finanzielle Grundlage. Das künftige System der Eigenmittel muß dem relativen Wohlstand der Mitgliedsstaaten besser entsprechen. Dabei könnte das Bruttosozialprodukt eine wichtige Bezugsgröße darstellen, die das bisherige System ergänzen kann. Ein solches Finanzierungssystem ist auch geeignet, von Ausgleichszahlungen an einzelne Mitgliedstaaten endlich wegzukommen.Die Gemeinschaft kann es sich nicht leisten, diese Probleme vor sich herzuschieben. Wir wollen daher alles tun, um dazu beizutragen, daß in Kopenhagen substantielle Beschlüsse erreicht werden, damit der Weg für morgen frei wird; denn der Weg für morgen heißt immer auch: Verwirklichung des einheitlichen Binnenmarktes. Wir müssen, wie versprochen, bis 1992 den gemeinsamen Wirtschaftsraum schaffen, wenn die Europäische Gemeinschaft auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben will. Wenn die Bundesrepublik Deutschland am 1. Januar des nächsten Jahres die Präsidentschaft der EG übernimmt, werden wir alles tun, um unseren Beitrag zur Lösung dieser Probleme zu leisten.Herr Präsident, meine Damen und Herren, die 50. deutsch-französischen Konsultationen in Karlsruhe vor wenigen Tagen haben erneut den Beweis erbracht, daß es Deutschland und Frankreich immer wieder gelingt, Wege für die Weiterentwicklung der europäischen Politik zu ebnen. Wir unternehmen auch jetzt gemeinsam alles, um die notwendigen Entscheidungen in Kopenhagen herbeizuführen. Aus der Fülle der Themen, die wir in Karlsruhe diskutiert haben, will ich zwei ganz besonders herausgreifen.Wir haben die weiteren Maßnahmen zur Intensivierung unserer militärischen und sicherheitspolitischen Zusammenarbeit erörtert. Wir wollen einen gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungsrat einsetzen. Dieses wichtige Vorhaben soll am 22. Januar 1988, dem 25. Jahrestag des Elysée-Vertrages, formell verabschiedet werden. Wir haben auch große Fortschritte auf dem Weg zur Aufstellung eines deutschfranzösischen Heeresgroßverbandes erreicht.
— Ich will auf diesen Zwischenruf gern eingehen: Es mag durchaus sein, daß dieser oder jener in Europa diese deutsch-französische Zusammenarbeit noch nicht begreift. Wir stehen hier vor der Situation, daß wir auf jeden Fall Schelte bekommen. Sind die
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Bundeskanzler Dr. Kohldeutsch-französischen Beziehungen nicht optimal geregelt, dann erhalten wir den Vorwurf, wir täten nicht genug, um Europa voranzubringen. Sind die deutschfranzösischen Beziehungen optimal, dann spricht man — wie es gelegentlich heißt — von einer „Achse Paris—Bonn" . Ich halte beides gleichermaßen für falsch. Wer die Geschichte Europas kennt, der weiß, daß nur eine enge deutsch-französische Partnerschaft und Freundschaft unserem Kontinent Zukunft verheißt. Diese Partnerschaft richtet sich gegen niemanden.
Ich stelle mit Genugtuung fest, daß alle Bundesregierungen und alle Bundeskanzler in der Kontinuität dieser Aufgabe gearbeitet haben und daß es — von außen gesehen — nicht den geringsten Grund gibt, gegenüber einer solchen Politik mißtrauisch zu sein.Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Verständigung der Verteidigungsminister über den gemeinschaftlichen Bau des Panzerabwehrhubschraubers der zweiten Generation stellt einen bedeutenden Schritt in der deutsch-französischen Rüstungszusammenarbeit dar.Einen wichtigen Schwerpunkt des Gipfels bildete die Diskussion über die wirtschaftliche Entwicklung unserer beiden Länder, natürlich immer auch die Lage der Weltwirtschaft. Es bestand zwischen uns Einigkeit darüber, daß wir alles tun müssen, um das Europäische Währungssystem zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Die aktuellen Ereignisse gerade dieser Wochen haben die Notwendigkeit bestätigt, unsere Zusammenarbeit im Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik weiter zu verbessern. Wir werden daher die Einberufung eines deutsch-französischen Koordinierungsausschusses im Wirtschafts- und Finanzbereich prüfen. Auch dieser Ausschuß soll anläßlich des 25. Jahrestages des Elysée-Vertrages eingesetzt werden. Ich sage noch einmal: Deutschland und Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland und die Französische Republik, schließen von ihrer Zusammenarbeit niemanden aus; aber wir verstehen uns als Motor für den Aufbau Europas.Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat seit Jahren eine stärkere Rolle der Westeuropäischen Union gefordert. Die von der WEU am 27. Oktober dieses Jahres verabschiedete Plattform über europäische Sicherheitsinteressen ist ein wesentlicher Fortschritt auf diesem Weg. Vor wenigen Tagen hat Präsident Reagan die größere, enger aufeinander abgestimmte Rolle der WEU-Mitglieder bei der Verteidigung Westeuropas begrüßt. Wir wollen die Atlantische Allianz durch eine Bündelung der nationalen, europäischen Sicherheitspolitiken weiter verstärken.Jeder weiß, die Atlantische Allianz steht heute vor einem großen historischen Erfolg. In wenigen Tagen — dessen bin ich sicher — werden Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow in Washington den Vertrag über die weltweite Abschaffung amerikanischer und sowjetischer Mittelstreckenflugkörper unterzeichnen.Ich will noch einmal festhalten, daß es das westliche Bündnis war, das den Vorschlag für dieses erste wirkliche Abrüstungsabkommen eingebracht hat. Durch das INF-Abkommen wird es zu einem überproportionalen Abbau des sowjetischen Waffenpotentials in diesem Bereich kommen. Deshalb — und als grundlegendes Beispiel für andere Bereiche der Rüstungskontrolle — dient ein solches Abkommen unseren langfristigen Sicherheitsinteressen. Die Bundesregierung hat entscheidende eigenständige Beiträge zum Gelingen dieses Vertrages geleistet — Beiträge, die überall in der Welt Anerkennung gefunden haben.Das bevorstehende Abkommen darf aber auf keinen Fall isoliert bewertet werden. Zwar wird die Bedrohung Westeuropas durch die Abschaffung der SS 20 gemindert, doch wird andererseits nur ein Bruchteil aller nuklearen Sprengköpfe durch diese Vereinbarung erfaßt. Gleichzeitig — das muß betont werden — gewinnt das sowjetische Übergewicht im Bereich der konventionellen und chemischen Waffen an Bedeutung. Wir werden deshalb weiterhin darauf dringen, daß ebenfalls ein START-Abkommen zur 50 %igen Verringerung aller strategisch-nuklearen Offensivpotentiale der Großmächte in absehbarer Zeit zustande kommt. Nach Ansicht der Bundesregierung kann der Abschluß dieses Abkommens weitere Impulse auf dem Weg der Rüstungskontrolle geben, beispielsweise für ein weltweites Verbot der chemischen Waffen oder für die überfälligen Verhandlungen über ein konventionelles Gleichgewicht in Europa.Die Bundesregierung kann dabei nicht die Überlegungen derjenigen teilen, die kurz vor Abschluß eines Abkommens über chemische Waffen die Überprüfbarkeit eines solchen Abkommens grundsätzlich in Frage stellen. Wenn die entscheidenden Staaten, die chemische Waffen besitzen, ein solches Abkommen wollen, kann man sich doch ohne weiteres bei allen Schwierigkeiten über eine umfassende und praktikable Kontrolle einigen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Wiener Mandatsgespräche über die Kontrolle der konventionellen Rüstung in Europa haben Fortschritte gemacht. Die Bundesregierung hofft, daß ein Verhandlungsmandat in der nächsten Zeit verabschiedet werden kann, damit die Verhandlungen so rasch wie möglich beginnen können. Wir sind dabei durchaus bereit, über militärische Strategien beider Seiten zu sprechen. Die entscheidende Frage für uns ist jedoch die tatsächliche Ausrichtung des gesamten Streitkräfte - und Ausrüstungspotentials des Warschauer Paktes.Ich habe oft genug gesagt — ich will es wiederholen — : Abrüstung ist für uns kein Selbstzweck. Jeder Schritt auf diesem Gebiet muß die Sicherheit erhöhen. Keine Materie der Abrüstung und Rüstungskontrolle darf isoliert betrachtet werden. Der umfassende Ansatz unserer Abrüstungs- und RüstungskontrollPolitik verbietet es, einzelne Gebiete von Verhandlungen mit der anderen Seite auszunehmen, insbesondere wenn auf diesen Gebieten Ungleichgewichte bestehen. Das krasse Ungleichgewicht bei den bodengestützten nuklearen Flugkörpern unterhalb von fünfhundert Kilometern Reichweite ist für uns Deutsche auf Dauer nicht hinnehmbar.
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2728 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Bundeskanzler Dr. KohlDeshalb treten wir weiterhin nachdrücklich für die Einbeziehung dieser Systeme in die Abrüstungsverhandlungen ein. Dies muß Teil eines umfassenden Konzepts sein, dessen Fortentwicklung im Kommuniqué von Reykjavik gefordert wird. Dort heißt es ausdrücklich, daß Verhandlungen über nukleare Kurzstreckensysteme im Zusammenhang mit der Herstellung eines konventionellen Gleichgewichts und der weltweiten Beseitigung chemischer Waffen stattfinden sollen. Es ist nunmehr Aufgabe der allianzinternen Diskussion, diesen Zusammenhang konkret zu gestalten und gemeinsam die Prioritäten für die weiteren Abrüstungsverhandlungen festzulegen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, das am 7. Dezember in Washington stattfindende dritte Gipfeltreffen zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow ist ein sichtbarer Ausdruck für die Verbesserungen des West-Ost-Verhältnisses. Wenn die Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft und Wirtschaft und das angekündigte neue Denken in der sowjetischen Außenpolitik Möglichkeiten zu einer qualitativen Verbesserung unserer Beziehungen mit der Sowjetunion bieten, sind wir dazu bereit. Es wäre ja töricht, diese Möglichkeiten nicht auszuloten. Wir haben mit Aufmerksamkeit die Ausführungen von Generalsekretär Gorbatschow am 4. November dieses Jahres zum Begriff der friedlichen Koexistenz verfolgt. Wenn — ich sage immer wieder: wenn — die sowjetische Außenpolitik tatsächlich von früheren Glaubenssätzen wie dem vom geschichtlich determinierten Sieg des Sozialismus Abschied nehmen sollte, so können wir das nur nachdrücklich begrüßen. Aber dann müssen den Worten konkrete Taten folgen.
Der West-Ost-Konflikt kann in Wahrheit auf Dauer nur wirklich entschärft werden, wenn die politischen Beziehungen von derartigen ideologischen Dogmen befreit sind, wenn die politischen Beziehungen auf den Boden der Tatsachen gestellt werden.Den Beweis für sowjetisches neues Denken erwarten wir und viele in der Welt, vor allem auch das afghanische Volk, zu Recht, von einer baldigen Beendigung des Krieges in Afghanistan.
Ein baldiger Abzug der sowjetischen Truppen aus diesem Land ist für uns ein wichtiger Prüfstein.Herr Präsident, meine Damen und Herren, in der vergangenen Woche habe ich die Chance gehabt, drei Staaten Afrikas — Kamerun, Mosambik und Kenia — einen Arbeitsbesuch abzustatten. Diese Reise sollte unser Interesse an der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den Staaten Afrikas südlich der Sahara unterstreichen.Afrika ist unser Nachbarkontinent. Es ist ein Kontinent, vielfach geprägt von Hunger- und Dürrekatastrophen, von Überbevölkerung und sozialer Ungleichheit, von Rassendiskriminierung, Krieg, von Ideologien verschiedenster Art, auch von politischer Unterdrückung. Der Ost-West-Konflikt und der NordSüd-Konflikt überlagern sich in vielfältiger Weise und verbinden sich zu explosiver Gefahr.Meine Damen und Herren, am Ende dieses Jahrhunderts — und das muß man sich klarmachen — werden auf diesem Kontinent i Milliarde Menschen in über 50 Staaten leben. Viele dieser Staaten umfassen mehr als 100 Stämme. Nicht wenige dieser Staaten sind erst 20 Jahre unabhängig. — Ich schildere bewußt diese Zahlen und diesen Hintergrund; denn wer will angesichts solcher Tatsachen behaupten, daß er in der Afrikapolitik über ein Patentrezept verfüge? Ich glaube, unsere Antwort auf diese Probleme muß eine vielfältige sein.Die Erwartungen der meisten afrikanischen Staaten gegenüber der Bundesrepublik Deutschland sind viel zu hoch, als daß wir diesen Erwartungen allein gerecht werden könnten. Der Westen insgesamt, die Westeuropäer, die Europäische Gemeinschaft — alle müssen zusammenwirken, um diesem Kontinent zu helfen.Wir müssen gemeinsam zur Entwicklung der afrikanischen Staaten beitragen, durch Hilfe zur Selbsthilfe, durch wirtschaftliche Zusammenarbeit, durch Bildungs- und Ausbildungshilfe, durch Förderung der Landwirtschaft. Hier kann es durchaus von Land zu Land, aber auch innerhalb der Länder zu einer für alle Seiten befriedigenden Arbeitsteilung kommen.Wir müssen die afrikanischen Staaten als Partner ernst nehmen und den politischen Dialog auf allen Ebenen fördern. Sie müssen die Chance haben, ihre eigene Identität zu finden und zu wahren, ihre Kultur, ihre Lebensgewohnheiten zu entwickeln, ihren eigenen Weg in die Zukunft zu gehen — ohne Einwirkungen von außen. Wir dürfen auf keinen Fall unsere Maßstäbe — gewachsen in einer jahrhundertelangen Entwicklung, auch mit ihren Fehlern — ohne weiteres auf die jungen Staaten Afrikas übertragen.
Die meisten Staaten Afrikas sind noch dabei, eine gesamtstaatliche nationale Identität zu entwickeln. Sie müssen dabei vielfach noch ihre Stammesgegensätze innerhalb des eigenen Landes überwinden. Wie die Beispiele von Kamerun und Kenia beweisen, kann dies um so leichter gelingen, je weniger eine Einmischung von außen erfolgt; dies gilt für Angola und Mosambik.Denn, meine Damen und Herren, wenn die Widerstandsgruppen die Regierenden von heute militärisch besiegen sollten, gehen diese nach allen Erfahrungen in den Untergrund, und blutiger Bürgerkrieg setzt sich fort. Deshalb muß man versuchen, alle an einen Tisch zu bringen, um innere Befriedung zu erreichen. Terror und Gewalt von innen und außen, von welcher Seite auch immer, müssen ein Ende haben.
Ideologien müssen abgebaut und die militärischen Interventionen von außen beendet werden. Kubaner wie Südafrikaner müssen Angola verlassen. Aber auch Mosambik, Äthiopien, Tschad, um nur einige Beispiele zu nennen, müssen ihre Chance haben, ihren Weg selbst bestimmen zu können. Unser Ziel muß sein, Hilfe zu wirklicher Blockfreiheit zu geben.Kamerun und Kenia, beides Staaten, die Blockfreiheit praktizieren und die eine liberale Wirtschaftspoli-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2729
Bundeskanzler Dr. Kohltik verfolgen, können in ihrer Entwicklung auf beträchtliche Erfolge verweisen. Beide Staaten sind Zentren wirtschaftlicher und politischer Stabilität in ihrer jeweiligen Region.Ich habe mit den Präsidenten Kameruns und Kenias die Fortsetzung und die Vertiefung unserer wirtschaftlichen, unserer entwicklungspolitischen und vor allem auch unserer kulturellen Beziehungen vereinbart.In Mosambik habe ich ein Land kennengelernt, dessen Aufbau und Entwicklung seit Erlangung seiner Unabhängigkeit von ungünstigsten politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen beeinträchtigt wurden. Dazu zählen nicht nur die fortbestehende wirtschaftliche und verkehrsgeographische Abhängigkeit von einem übermächtigen Nachbarn, sondern auch die Spannungen in der ganzen Region, vor allem der fortgesetzte Terror, der das Land seit Jahren bedroht und die Existenzgrundlage der Bevölkerung systematisch vernichtet.In meinen Gesprächen mit Staatspräsident Chis-sano habe ich dessen großes Interesse an der Zusammenarbeit mit uns feststellen können. Es ist offenkundig, daß sich dieses Land außenpolitisch öffnet. Ich habe dem Staatspräsidenten versichert, daß die Bundesregierung eine erkennbar pragmatische und auf friedlichen Ausgleich gerichtete Politik Mosambiks immer unterstützen wird.In allen drei Ländern, meine Damen und Herren, habe ich meinen Gesprächspartnern unseren Wunsch nach baldiger friedlicher Überwindung von Apartheit und Rassendiskriminierung, nach substantiellen Reformen und nach dem Beginn eines umfassenden nationalen Dialogs in Südafrika erläutert. Ich habe auch darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung weiterhin das Instrument wirtschaftlicher Sanktionen zur Durchsetzung politischer Ziele ablehnt.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, der südafrikanische Außenminister Botha hat in diesen Tagen, am 16. November, vor der Hanns-Seidel-Stiftung in München erklärt — ich zitiere wörtlich — :Wir nehmen es hin, daß die Vorherrschaft der Weißen ein Ende finden muß und daß Teilhabe an der Macht der einzige Weg ist, um Südafrika gerecht und in einer Weise zu regieren, daß auch Rechte von Minderheiten gewährleistet werden.Ich hoffe, daß diesen Worten Taten folgen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, sowohl in Yaounde als auch in Maputo und in Nairobi habe ich für unsere Politik Verständnis, Zustimmung und vor allem Kooperationsbereitschaft gefunden.Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland und auch Europa, unser Kontinent — das gilt vor allem für den kleineren Ausschnitt Europas, für die Europäische Gemeinschaft — , sind nur ein kleiner Teil unserer Welt — einer Welt, in der es überhaupt nicht mehr darum gehen kann, nationalstaatliche Vorstellungen vergangener Zeiten zu verfolgen, etwa Einflußsphären zu schaffen, sondern in der es uns allen, den reichen und den armen Nationen, darum gehen muß, gemeinsame Strategien zu entwikkeln, um der Probleme, die uns heute weltweit bedrängen, Herr zu werden. Ich glaube, es ist wichtig, daß auch wir in der Bundesrepublik bei allen Sorgen und Notwendigkeiten und auch sicherlich Nöten, die wir im eigenen Land noch haben, nicht vergessen, daß viele in der Welt sehr viel, vielleicht zu viel von uns erwarten. Wir sollten uns dennoch dieser Aufgabe stellen. Es hat etwas mit der moralischen Qualität und mit der moralischen Statur unserer Republik zu tun. Es hat etwas damit zu tun, daß wir als Deutsche am Ende dieses Jahrhunderts aus der Geschichte unseres Volkes in diesem Jahrhundert Konsequenzen ziehen.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein.
Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Beratung über den Einzelplan 04 fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Meine Damen und Herren, wir setzen die Beratungen zu Einzelplan 04 fort.
Das Wort hat der Abgeordnete Koschnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die Aufgabe des Saalfüllers. Ich übernehme sie hiermit. — Lassen Sie mich ohne große Vorreden über den Sinn oder die Bedeutung der Generalaussprache zum Haushalt des Bundeskanzlers folgendes sagen. Nach den grundsätzlichen Ausführungen des Vorsitzenden der SPDBundestagsfraktion scheint es mir geboten, einige Aspekte der Regierungstätigkeit, genauer gesagt, der Handlungskompetenz des amtierenden Bundeskanzlers auszuleuchten.Ich beginne mit den Forderungen des früheren Oppositionsführers im Deutschen Bundestag, des heute amtierenden Bundeskanzlers, nach einer geistig-moralischen Wende, nach ethisch legitimierter Führerschaft und frage, was alles sich denn in der CDU/CSUFDP-Koalition an moralisch-ethischer Grundüberzeugung geändert hat.Etwa der Bereinigungsversuch in der Spendenaffäre im Sinne des Unter-den-Teppich-Kehrens? Sollte nicht vieles, gar zu vieles unter dem Mantel angeblicher Unschuld dem Vergessen, zumindest dem Vergeben anheimgestellt werden? Haben nicht gerade Bundesgerichtshof und Bundesfinanzhof dem ein entschiedenes „schuldig" entgegengestellt?Sind nicht die immer noch aktuellen Bemühungen der Koalition, zu verhindern, daß Aufhellung in der trüben Affäre des Verkaufs von U-Boot-Bauplänen an die südafrikanische Regierung — übrigens eine Maßnahme gegen UN-Beschlüsse und gegen geltendes Bundesrecht — möglich wird, ein Symptom dafür, daß dieser Bundesregierung nicht an wirklicher Aufklärung gelegen ist? Wie anders ist sonst die permanente
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2730 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
KoschnickBehinderung der Sachaufklärung zu verstehen? Ich spreche hier ganz bewußt den Bundeskanzler an, der zwar nicht anwesend ist, der aber wahrscheinlich hinterher erfahren wird, was ich gesagt habe.
— Sehr gut, Herr Vizekanzler, ich habe es wohl verstanden! Da ich den CDU-Vorsitzenden anspreche: Den können Sie nicht vertreten.
Möglicherweise kann es Herr von Geldern tun. — Wie anders ist sonst die permanente Behinderung der Sachaufklärung zu verstehen? Ich spreche hier ganz bewußt den Bundeskanzler an und frage nach seinem Einfluß auf die Entwicklung der Dinge. Es kann doch nicht wahr sein, daß nur zum Schutze des angeschlagenen schleswig-holsteinischen Landesvorsitzenden der CDU dieser prinzipiell antiparlamentarische Verhinderungsversuch unternommen wird. In Abwandlung der bekannten Sentenz aus Schillers „Don Carlos" fordere ich von Ihnen, Herr Bundeskanzler: „Sire, geben Sie Aufklärungsfreiheit! "
Zeigen Sie endlich, daß Sie sich wirklich demokratischer Offenheit und Rechenschaft verpflichtet fühlen. Lassen Sie also zu, daß der vom Bundestag eingesetzte Untersuchungsausschuß unter sachgerechten Bedingungen seinen Auftrag, Licht in das Dunkel zu bringen, auch erfüllen kann.Moralisch-ethische Führerschaft haben Sie früher von dem Bundeskanzler unserer Republik gefordert. Doch wo ist diese auch nur im Ansatz erkennbar, wenn man an die trüben, die demokratische Entwicklung vergiftenden Ereignisse in Schleswig-Holstein denkt? Die Barschel-Pfeiffer-Affäre, inzwischen selbst in der CDU zu einer fast unerträglichen Belastung geworden, hat manches aufgehellt, was unter den pseudoethischen Schlagworten christlich-demokratischer Propaganda verborgen gehalten wurde: Machterhalt um jeden Preis; systematische Zersetzung konkurrierender Gruppen und persönliche Diffamierung des politischen Gegners in seinem privatesten Umfeld, seiner Integrität in der eigenen Familie.Warum, so frage ich den Bundeskanzler, haben Sie dagegen nicht Front gemacht? Warum haben Sie zugelassen, daß der schleswig-holsteinische Landeschef der CDU an Stelle sachgerechter Säuberung die den Skandal aufdeckende Presse unqualifiziert angreifen durfte?Waren nicht die Machenschaften der CDU-Landesorganisation und der schleswig-holsteinischen Staatskanzlei anzuprangern? Gab und gibt es für Sie nicht ein begründetes Maß kritischer, aber dennoch demokratischer Gemeinsamkeit? Müssen wir wirklich annehmen, daß nur die Aufdeckung dieses Skandals ein Ärger war und nicht die Tatsache an sich? Bedeutet das etwa, daß es nur darauf ankommt, sich nicht erwischen zu lassen, ansonsten aber alles zum legitimen Kampf zur Sicherung der bisherigen Mehrheit gehört? Fragen über Fragen.Nein, das kann ich mir nicht denken. Ich kenne den Bundeskanzler so lange, daß ich mich frage: War er gehindert, dazwischenzufahren und für ein Mindestmaß an Ordnung und Fairneß zu sorgen?
Ich will nicht spekulieren, auch keinen der Männer aus der engeren Umgebung in der Parteiführung oder aus dem Bundeskabinett verdächtigen. Aber der Bundeskanzler muß schon sagen, warum er nicht zur rechten Zeit eingegriffen oder wenigstens hinterher sein Bedauern über die Machenschaften ausgedrückt hat.
— Ich freue mich, daß der Bundeskanzler inzwischen auch eingetroffen ist, und begrüße ihn in herzlicher Verbundenheit.
Ich insistiere deshalb darauf, weil ich noch im Ohr habe, was Sie, Herr Bundeskanzler, am 30. Januar 1981 als Ihr Credo im Bundestag in Replik auf Bundeskanzler Schmidt ausgeführt haben. Sie sagten damals:Wenn es heißt, daß Sie als Kanzler die Richtlinien der Politik bestimmen, dann ist doch da mit hineingegossen, daß Politik hinüberführt zur Staatskunst, wenn es wirkliche Politik ist. Hinüberführen zur Staatskunst beinhaltet,— so sagten Sie damals —daß Politik, wir wir sie als freiheitliche Politik verstehen, auf ethischen Normen ruht und daß diese ethischen Normen im Alltag der Politik anzuwenden und zu praktizieren versucht wird. Das ist ein zutiefst geistig bewegender Auftrag. Da brauchen wir in der politischen Verantwortung — ganz gleich, ob Regierung oder Opposition, jeder Kollege hier im Hause — möglichst viele Anregungen, da brauchen wir Offenheit, Dialogfähigkeit und Sensibilität, da brauchen wir die Demut vor der Aufgabe der Geschichte.So weit Helmut Kohl als Oppositionsführer.
Sensibilität haben Sie verlangt und dennoch geduldet, daß im nördlichsten Bundesland die SPD und ihr Spitzenkandidat in übelster Weise verdächtigt und diffamiert wurden. Demut vor der Geschichte haben Sie gefordert, und heute geben Sie Ihren Parteifreunden den Rat, nur schnell zu vergessen, um sich auf den politischen Gegner — nicht auf die Selbstreinigung — zu konzentrieren. Offenheit und Dialogfähigkeit haben Sie verlangt, und herausgekommen ist der Mief der Ewiggestrigen.Lassen Sie sich messen an Ihrer Forderung, die ethischen Normen einer freiheitlichen Politik im Alltag anzuwenden.
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KoschnickWenn das geschieht, müßten Sie wegen der Vorkommnisse in Schleswig-Holstein Ihr Haupt verhüllen.
Was hier geschehen ist, Herr Bundeskanzler — mein Vorsitzender, Herr Dr. Vogel, hat das bereits ausgeführt — , hat geistig und moralisch mehr in unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zerstört, als alle Extremisten und Gewalttäter bisher erreicht haben. Sie haben auf Ihren Amtseid genommen, Herr Bundeskanzler, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Herausgekommen ist, jedenfalls auf die Affäre in Kiel bezogen, leider — und ich sage bewußt und überzeugt: leider — der zwar von Ihnen persönlich nicht betriebene Versuch, die Macht in einem Bundesland mit allen Mitteln und um jeden Preis zu erhalten. Sie haben aber, indem Sie die Mißachtung demokratischer Spielregeln durch Ihre eigenen Parteifreunde nicht anprangerten, zugelassen, daß der innere Friede in unserem Lande nachhaltig gestört wurde.
Wenn ich mir dann anhöre, was vorhin Herr Seiters gesagt hat — Sie haben es aufgegriffen, Herr Bundeskanzler — unter Bezugnahme auf eine Meldung von „PPP", dem sozialdemokratischen Pressedienst, dann sage ich: Ja, dieser Pressedienst hat nach meiner Meinung Herrn Stoltenberg unfair und unqualifiziert angegriffen. Aber Sie haben nicht erwähnt — weder Sie, Herr Bundeskanzler, noch Herr Seiters —, daß „PPP" bereits einige Tage später diese Meldung korrigiert, sie zurückgenommen hat; das im übrigen auch bezogen auf Herrn Vogel, obwohl er in dieser Frage nicht beteiligt war.
Ich glaube, wir dürfen in der Politik nicht weiter mit Halbwahrheiten oder Verschweigen von Wahrheiten arbeiten.
Lassen Sie uns gemeinsam zusammenstehen.
Doch genug von Kiel. Lassen Sie mich auf Ihre Forderung nach moralisch-ethischer Führerschaft im Verhältnis zur auswärtigen Politik eingehen. Auch hier geht es um Wertmaßstäbe, um ethische Normen, wie Sie es genannt haben. Da frage ich mich, welche Normen Sie gemeint haben, als Sie jetzt bei Ihrem Besuch in Mosambik die eindringlichen Forderungen der durch ein weißes, rassistisches Regime gequälten und bedrängten Bevölkerung in Südafrika ablehnten, ihrem Gleichheitsanspruch, ihrem sozialen und demokratischen Lebensrecht durch die Unterstützung von wirtschaftlichen Sanktionen zu entsprechen.
Ist der Einfluß von Herrn Strauß und den ihn stützenden wirtschaftlichen Gruppen denn so stark, daß Sieim schwarzen Afrika den Mann Ihres Kabinetts, dersich für uns Deutsche dort einen glaubwürdigen Namen gemacht hat, desavouieren? Hat Herr Genscher das eigentlich wirklich verdient? Oder sind Sie auf den fahrenden Zug der FDP-Schelte der CSU gesprungen, um keine weiteren Blessuren von dem für Sie starken Mann aus München zu erfahren?Hätten wir auf Grund der Erfahrungen und der Betroffenheit unserer Geschichte nicht allen Anlaß, allen rassistischen Regimen zu widerstehen? Wir dürfen doch nicht mit der für mich jedenfalls unverantwortlichen Floskel von der Gnade der späten Geburt verdrängen, was an rassistischer Verfolgung, an Repression und an Morden geschehen ist. Wir müssen doch von daher aufbegehren, wenn irgendwo in der Welt rassistische Unterdrückung stattfindet.
Sowenig die Ausrottung des europäischen Judentums ein Betriebsunfall der Geschichte war, wie es uns einige konservative Historiker gern weismachen wollen, sowenig ist das burische Regime in Südafrika eine zu vernachlässigende Größe.Wirtschaftliche Beziehungen sind gut und nützlich, aber nicht, wenn sie zu Lasten der Freiheit und des Selbstbestimmungsrechts der Mehrheit der betroffenen Bevölkerung gehen.
Wann werden Sie und Ihre Freunde eigentlich nachvollziehen und mittragen, was der Herr Bundespräsident zum 8. Mai und manch anderen wichtigen Gedenktagen über Erkenntnisse und Verpflichtungen aus unserer Geschichte gesagt hat? Ich sage das nicht, um den Herrn Bundespräsidenten in den politischen Tageskampf einzubeziehen. Aber dort, wo er prinzipielle Wahrheiten ausgesprochen hat, sollten wir gemeinsam zu dem stehen, was er gesagt hat.
Wann werden die Ideen des Widerstands gegen die Hitler-Diktatur, die Vorstellungen eines anderen Deutschland wieder prägend sein für die Politik Ihrer Regierung?So, wie Sie hier versagt oder nur unzulänglich reagiert haben, so haben Sie, Herr Bundeskanzler, auch hingenommen, daß wir Deutsche wieder als Störenfriede einer Friedensordnung in Europa empfunden werden.Haben Sie keine Sorge: Ich zitiere nicht Stimmungen und Meinungen aus dem Ostblock; nein, ich spreche von Empfindungen bei unseren Partnern und Freunden. Indem Sie, Herr Bundeskanzler, es zugelassen haben, daß von Ihrem rechten Parteiflügel wie von einigen Ihnen nahestehenden Vertriebenenverbänden die heutigen Grenzen Deutschlands als noch nicht festgeschrieben bezeichnet wurden, haben Sie erreicht, daß sich selbst ausländische Freunde von Ihrer Politik absetzten. Wie anders ist nämlich die Erklärung des Vorsitzenden der Union der christdemokratischen Parteien Europas, des italienischen Außenministers Andreotti, zu verstehen, wenn er unter An-
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Koschnickspielung auf diese Grenzdiskussion erklären konnte, daß die Teilung Deutschlands in zwei Staaten den Frieden sicherer gemacht habe?Wie anders war die Unruhe im westlichen Ausland — auch und gerade bei Ihren Freunden — zu verstehen, als Sie zögerten, die von Amerikanern und Russen ausgehandelte Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen mitzutragen, um die veralteten Pershing I a zu retten?Und welches vorzügliche Bild hat die Bundesregierung abgegeben, als Sie den Entschluß, die Einigung der Supermächte nicht weiter zu boykottieren und die Pershing I a mit in die Null-Lösung einbeziehen zu lassen, auf einer Pressekonferenz unter Berufung auf Ihre Richtlinienkompetenz bekanntgaben, aber vorher nicht das Kabinett mit dieser in der Sache richtigen Entscheidung sich befassen ließen, weil Sie Sorge hatten, daß einer Ihrer Koalitionspartner, die Schwesterpartei, Ihnen einen Strich durch die Rechnung machen würde?
Das alles reiht sich würdig ein in die letzte Affäre um die künftige Politik unseres Landes in bezug auf Sicherheit und Abrüstung. Was müssen wohl die Verteidigungsminister unserer Bündnispartner gedacht haben, als sie von dem Telegramm erfuhren, das der Vorsitzende der CDU-Fraktion, Herr Dr. Dregger,
und der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, Herr Waigel, ihnen nach Montebello, ihrem Tagungsort, übermitteln ließen, in dem sie in der Sache begründete Forderungen — ich sage: in der Sache begründete Forderungen — für den weiteren Abrüstungsprozeß unter besonderer Beachtung der unbestreitbaren Sonderbedrohung beider deutscher Staaten anmeldeten, obwohl der Bundesverteidigungsminister Konferenzteilnehmer war und man annehmen mußte, daß er dort eine im Kabinett und mit den Fraktionen der Regierungskoalition abgestimmte Haltung vertrat?Weit gefehlt! Herr Wörner war dort als Einzelkämpfer und mangels Kabinettsfestlegung in der Lage, seine — von der Meinung der Fraktionsspitze der CDU/CSU wie des Bundesaußenministers abweichende — Meinung zu vertreten.Das, Herr Bundeskanzler, verstehe ich nicht unter „Vertretung der deutschen Interessen". Wie soll das nur werden, wenn Herr Wörner den Stuhl des Generalsekretärs der NATO erklimmt? Ist er heute schon — trotz Kabinetts- und Fraktionsdisziplin — ein freischwebender „Künstler" , wie wird es dann erst morgen aussehen?Führung, Herr Bundeskanzler, ist gefragt. Lassen Sie sich nicht länger nötigen!Führung auch zur Belebung eines zukunftsgerechten Dialogs mit den Staaten der südlichen Hemisphäre ist gefragt. Wenn nicht eine so potente Wirtschaftsmacht, wie wir es ja zum Glück noch sind, ernsthafte Schritte unternimmt, ihren Beitrag zur Lösung der Schuldenkrise der Dritten Welt zu leisten, dann wird in nicht allzu ferner Zeit die Dimension derNord-Süd-Spannungen der des Ost-West-Konflikts gleichen.Wenn schon ein in öffentlichen Erklärungen so zurückhaltender Bankier wie Herr Herrhausen von der Deutschen Bank zur Überwindung der Verschuldungskrise einen prinzipiellen Verzicht auf bestimmte Rückzahlungsverpflichtungen der in Entwicklung befindlichen Staaten fordert, dann müßte doch auch bei der Bundesregierung die Alarmglocke läuten.Hier geht es doch nicht mehr um Wohltaten zugunsten von Schwächeren, sondern um die Wiederbelebung eines weltweiten Handelsaustauschs durch Maßnahmen zur Gesundung wirtschaftlich angeschlagener Staaten.
Hier — wie bei der Frage der Stimulanz des Weltmarkts durch die Verstärkung der europäischen Binnennachfrage — haben sich Bundesregierung und Bundesbank bisher nicht mit Ruhm bekleckert. Es ist an der Zeit, Herr Bundeskanzler, daß Sie das Kabinett in die Pflicht nehmen, das Erforderliche zu tun. Die gegenseitigen Alibischreiben der Herren Stoltenberg und Bangemann lassen nur den desolaten Zustand unvorbereiteter Kabinettshaltung erkennen — wahrlich kein Grund zur Freude.Jedenfalls wollen wir Sozialdemokraten im Interesse der internationalen Zusammenarbeit einen deutschen Beitrag zur Belebung der Weltkonjunktur unterstützen; nur müßte die Bundesregierung dazu endlich ihre Schularbeiten machen. Aussitzen ist in dieser wirtschaftlich gefährlicher werdenden Welt keine adäquate Antwort, wobei offen bleibt, ob Aussitzen jemals eine hinnehmbare Antwort sein kann.Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, der eine oder andere mag meinen, ich sei in meiner Kritik an der Regierung zu behutsam, zu wenig offensiv gewesen. Aber ich bitte doch, meine Anmerkungen richtig zu verstehen. Solange diese Bundesregierung nicht in sich geht, ethische Normen auch für sich als verpflichtend versteht und zugleich ihren Aufgaben für einen Interessenausgleich sachgerecht nachkommt, kann sie nicht erwarten, daß wir ihre durch die Haushaltsveranschlagung konkretisierten Politikansätze mittragen. An ihr, der Bundesregierung, liegt es also, wie wir uns zukünftig verhalten.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Austermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Abgeordnete Koschnick, einer von den vier SPD-Abgeordneten, die bisher als Ministerpräsidenten eines Bundeslandes gezeigt haben, daß sie es nicht können,
hat hier darzustellen versucht, was in einem Staat zur geistig-moralischen Führung notwendig ist.Er hat gleichzeitig eine Rede gehalten, die in schlimmer Weise gezeigt hat, wie man politisch-mora-
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Austermannlisch miteinander nicht umgehen sollte. Sein Versuch, eine Verbindung vom Bundeskanzler zur Pfeiffer-Affäre herzustellen, ist so abenteuerlich, als ob wir sagten, Herr Koschnick sei an Herrn Pfeiffer schuld, weil er aus Bremen stammt.Wenn wir uns über politische Moral unterhalten, dann muß auch die Frage erlaubt sein, ob ein Regierungschef politisch-moralisch gehandelt hat, in dessen Bundesland nach Ablauf seiner Regierungszeit — in Bremen — die höchste Arbeitslosigkeit aller Bundesländer bestand. Ist es politisch-moralisches und ethisches Handeln — wenn man es als ethische Aufgabe ansieht, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen — , daß er die Gefährdung der Wettbewerbsfähigkeit der bremischen Häfen offensichtlich zugelassen hat, daß er es zugelassen hat, daß in diesem Bundesland das geringste Wirtschaftswachstum herrschte,
daß die Bürger aus diesem Bundesland abgewandert sind und abwandern? Zeigt dies eine Politik mit geistig-moralischer Führung? Ich glaube es nicht.Dem, was Sie zu Afrika gesagt haben, will ich das Zitat eines alten Bundeskanzlers, bezogen aus Südafrika, entgegenhalten:Durch Pathos ist noch keinem Verfolgten und keiner bedrückten Minderheit, geschweige denn einer unterdrückten Mehrheit geholfen worden. Hier geht es um Augenmaß auch bei Protesten, und es geht um die Frage, ob man in erster Linie anderen helfen will oder ob man sich lieber durch Deklamationen selbst helfen will.Diesen Eindruck erweckte aber Ihre schlimme Rede eben.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, es geht bei dieser Debatte heute um die sogenannte Generalabrechnung. Es geht darum, den grundsätzlichen Unterschied zwischen Regierung und Opposition darzustellen, und darzustellen, wie die Alternative aussieht, wer führt und wer nicht führt.Sind das die Fragen, die die Bürger heute beschäftigen?Der Jahreszeit entsprechend bereiten sich unsere Mitbürger auf das Weihnachtsfest und den Jahreswechsel vor. Wenn es ihnen heute um Politik geht, geht es natürlich auch um die Affäre von Kiel, die schlimmen Aktivitäten aus der Pressestelle der dortigen Staatskanzlei hinaus, aber auch um eine Opposition, die sich heute einen Heiligenschein aufsetzt. Es geht um die Brüskierung aller gesetzestreuen Bürger durch die Duldung der Gewalt, quasi um eine Begünstigung im Amt durch Pachtverträge mit Gesetzesbrechern in Hamburg. Es geht unseren Bürgern heute aber vor allen Dingen um die Sicherheit des Arbeitsplatzes, um den Blick in die Zukunft. Zur Jahreswende stellt sich die Frage, ob es Sicherheit für die Erhaltung des Wohlstands geben kann. Ich sage ja, denn dieses Land wird ordentlich regiert.
Die Koalition aus drei Parteien hat bisher in ungezählten wesentlichen Fragen der Nation Einigkeit erzielt. Probleme oder problematisierte Entscheidungen, die oft monatelang die öffentliche Diskussion bestimmt haben, sind entschieden und vergessen.Die Antwort auf die Frage nach der Führung ist die Hypothese: was wäre, wenn es den Regierungswechsel vor fünf Jahren nicht gegeben hätte.Es hätte keinen NATO-Doppelbeschluß gegeben. Weil es ihn gegeben hat, sind Frieden und Freiheit sicherer geworden. Ohne die Wende vor fünf Jahren hätt es weniger gute Ergebnisse für die Menschen im geteilten Deutschland gegeben. Der Regierungswechsel hat ihnen mehr Erleichterungen gebracht, mehr rechtliche Verbindung, mehr Zusammenarbeit und mehr Begegnungen. Ohne die Wende vor fünf Jahren hätte es weiterhin Technologiestopp gegeben, einen Ausstieg aus der Industriepolitik. Wir haben den Technologiestopp beendet; Deutschland hat sich auf dem Weg zu einer modernen Industrienation weiterentwickelt.Von wesentlichen Teilen der damaligen Regierung wurde wirtschaftliches Wachstum schon vor 1982 als nicht wünschenswert bezeichnet; das muß man immer wieder deutlich sagen. Wirtschaftliches Wachstum wird auch jetzt — das ergibt sich aus Ihrem Programm vom vorigen Jahr — als nicht wünschenswert bezeichnet. Heute haben wir seit fünf Jahren wirtschaftliches Wachstum, und auch für nächstes Jahr wird zwar bescheidenes, aber eben wirtschaftliches Wachstum prognostiziert. Das ist dann Wachstum im sechsten Jahr.
Unsere Regierungsvorgänger hinterließen das Land in einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise.
Wir haben die öffentlichen Finanzen neu geordnet, sinkende Zinsen ermöglicht, haben stabiles Geld, niedrige Energiepreise und eine sinkende Steuerlast. Neue Schulden waren unter Finanzminister Stoltenberg in den letzten fünf Jahren nur erforderlich, um Zinsen für die alten Schulden unserer Regierungsvorgänger zu zahlen.
— Neue Schulden, etwa 120 Milliarden DM in den letzten fünf Jahren, waren nur erforderlich, um die Zinsen für die Schmidt-Altlasten zu zahlen. Ich erwähne auch, daß der Haushalt jeweils vor dem Beginn des Jahres verabschiedet wird und daß es Nachträge in den letzten fünf Jahren nicht zu geben brauchte.
Die grundsätzliche Problematik der 70er Jahre, nämlich das Leben über die eigentlichen Verhältnisse, das ja weltweit stattgefunden hat, zeigt sich heute mit ihrer ganzen Brutalität. Jetzt, wo Impulse gebraucht werden, wo sich neue Aufgaben stellen,
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Austermannsind in den meisten Ländern die Kassen leer. In der Bundesrepublik sind wir dank der Konsolidierungspolitik in einer anderen Situation, auch wenn die Zinsen der Schulden aus der Vergangenheit uns drücken.Wir haben für das Jahr 1988 eine Steuersenkung in der Größenordnung von 14 Milliarden DM, eine Steuersenkung am 1. Januar 1988, die allen Bürgern hilft, vorgesehen. Dies ist der einzige Grund, aus dem die Neuverschuldung angehoben wird, obwohl wir gewollte Mehrausgaben beim Erziehungsgeld, beim Erziehungsjahr, bei der Rentensteigerung, beim Wohngeld und bei mehr Hilfen für Landwirtschaft, Kohle, Werften sowie Luft- und Raumfahrt haben. Es wurden in den letzten Wochen eine Fülle von Entscheidungen getroffen, die zeigen, daß diese Regierung handlungsfähig ist, daß sie gehandelt hat und auch in Zukunft handelt.Zu Beginn der 80er Jahre gab es Probleme mit dem Ansturm von Wirtschaftsflüchtlingen, mit ungelösten Aufgaben in der Rechts- und Innenpolitik. Jetzt sind Freiheit und Recht im Innern gesichert, wenn dann auch die nächsten Aufgaben beim Versammlungsrecht gelöst werden, wie Herr Bangemann es auch für die FDP angekündigt hat.Über viele Jahre hinweg wurden in den 70er Jahren die Probleme strukturschwacher Regionen — dafür hätte Herr Koschnick beredte Beispiele bringen können — vernachlässigt. Die absehbare Krise der Stahl-und Kohleregionen wurde nicht angepackt, Lösungen wurden verschlafen. Wir haben jetzt, auch mit diesem Haushalt, eine Wettbewerbshilfe für die Werften eingeführt, die sicherstellt, daß die Aufträge bei den Werften eine vernünftige Strukturanpassung ermöglichen. Derzeit gibt es Anträge für ein Volumen von 3 Milliarden DM. Das Programm ist erfolgreicher, als wir zu hoffen gewagt haben.Über Umweltschutz wurde bis 1982 nur geredet. Heute ist die Bundesrepublik in der EG Vorreiter in Sachen Umweltschutz.
Mehr Steuergeld wird für die Eingliederung der Aussiedler und für Besuche unserer Landsleute aus der DDR ausgegeben.Neben all diesen Erfolgen, die ohne klare Führung nicht möglich gewesen wären, gibt es allerdings zwei Problembereiche, die nicht geleugnet werden sollen. Da ist einerseits die seit vielen Jahren bestehende Problematik in der Landwirtschaft, die man wohl eher als eine Problematik des ländlichen Raumes bezeichnen muß, und da ist andererseits die Tatsache, daß unser Volk zahlenmäßig abnimmt, wenn es nicht gelingt, unser Land kinderfreundlicher zu machen. Es kann nicht hingenommen werden, daß eines der reichsten Länder der Welt die meisten Abtreibungen zu beklagen hat — mit der Begründung: soziale Notlage. Hingenommen werden kann auch nicht, daß es im Fernsehen selbst in der Vorweihnachtszeit mehr Reklame für Hunde- und Katzenfutter als für Kinderspielzeug gibt.
Aus dem Haushalt des Bundeskanzleramtes werden Gutachten und Analysen initiiert, die in die Zukunft gerichtet sind. Die Themen lauten: Wie verbessern wir die Lebensbedingungen im ländlichen Raum? Wie stellen wir im Lande wieder ein einheitlich bejahtes Mindestmaß an Staatsräson und Gesetzestreue, einen sozialen Grundkonsens, her? Wie reagieren wir auf die zunehmende Freizeit im dritten Lebensabschnitt, wie gestalten wir das Leben im Alter? Wer gewinnt den Wettbewerb um den beruflichen Nachwuchs? Was tun wir, um unser Land kinderfreundlicher zu machen?Im Bundeskanzleramt wird in der Gegenwart geführt und für die Zukunft gearbeitet. Dabei muß allerdings zugegeben werden, daß es bei der Darstellung dieser Arbeit, die durch Momentaufnahmen von Meinungsbefragungen bestätigt wird, Schwierigkeiten gibt, die vielfältige Gründe haben. Ich will hier ein Beispiel erwähnen, das vielleicht Ihren Hochmut angesichts der Situation in Kiel etwas dämpft. Da fällt mir ein Zitat von Wolfgang Clement, der ja bis vor kurzem, als er sein Amt aus Ihnen allen bekannten Gründen niedergelegt hat, Sprecher Ihrer Partei war, aus der „Zeit" in die Hand. Er wird dort mit der Aussage erwähnt:Zu unserer Regierungszeit— also der Regierungszeit von Willy Brandt und Helmut Schmidt —wurden die Wahlkämpfe vom Bundespresseamt bestritten.
Was an Schwächen da war, wurde durch Schmidt und Regierungstätigkeit überlagert.
Nun, ich erwähne das auch deshalb, weil ja auch andere Aktivitäten bekannt sind. Da gibt es z. B. einen Mitarbeiter des Bundespresseamtes, vom Bundespresseamt besoldet, der seit einem halben Jahr beurlaubt ist, um Helmut Schmidt bei den Aufräumungsarbeiten zu helfen, und Wahlkampf in Schleswig-Holstein macht — bezahlt von diesem, unserem Bundespresseamt.
Ich glaube, wenn man dies sieht, wenn man diese Beispiele hört, dann steht es Ihnen gut an, über Mißbrauch der Öffentlichkeitsarbeit, über die Selbstdarstellung dieser Regierung etwas weniger hochmütig zu reden.
Und da ist schließlich die Diskussion zwischen den Koalitionspartnern, die von mir natürlich nicht geleugnet werden soll. Aber sie ist demokratisch notwendig, auch wenn sie das Harmoniebedürfnis der
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2735
AustermannBürger offensichtlich stört. Geht man nach den letzten Wahlen, dann wollen unsere Bürger merkwürdigerweise keine absolute Mehrheit. Sie wollen aber gleichwohl klare Konturen der Politik, Richtlinienentscheidung, straffe Organisation und die Faust auf dem Tisch des Kanzleramtes.
Ich sage, daß dies in einer Koalition mit drei Partnern kaum möglich ist. Unter unseren Vorgängern in der Regierung war dies ja noch nicht einmal bei zwei Koalitionsparteien möglich.Der Haushalt 1988 — lassen Sie mich zum Schluß kommen —,
die Finanzpolitik, alle Bereiche der Politik haben heute klare Konturen. Innere und äußere Sicherheit werden im kommenden Jahr verbessert, der wirtschaftliche Wohlstand wird wachsen, die Arbeitslosigkeit wird entschlossen bekämpft,
die Zahl der Beschäftigten wird, wie der Sachverständigenrat gesagt hat, weiter steigen — das Ganze bei stabilem Geld und steigenden Einkommen.
Dieses Land — das zeigt die Debatte um den Kanzleretat — wird ordentlich geführt.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Austermann, ich halte das Parlament eigentlich für eine Stätte des Dialogs. Ich hätte mich sehr gern mit dem auseinandergesetzt, was Sie gesagt haben.
Nachdem ich erfahren hatte, daß Sie Mitglied der CDU Schleswig-Holsteins sind, hatte ich auch gehofft, daß Sie etwas sagen würden, mit dem man sich auseinandersetzen kann, sozusagen als neuer Anfang, als neuer Stil. Ich muß sagen, ich bin enttäuscht darüber,
daß es eigentlich nichts gab als wieder die alten Platitüden. Deswegen werde ich mich nur mit einem einzigen Punkt dessen, was Sie gesagt haben, auseinandersetzen: Das, was Sie zu Hans Koschnick gesagthaben, war nicht nur ungehörig, sondern auch dumm.
Mit seiner Politik hat Herr Koschnick in Bremen eine strahlende, absolute Mehrheit bekommen, und die CDU — Entschuldigung — liegt jetzt in Bremen bei etwa 23 %.
Sie sollten sich wirklich überlegen, ob so etwas angemessen ist.Aber, meine Damen und Herren, ich möchte eigentlich einen anderen Schwerpunkt herausgreifen, und zwar das, was so nach fünf Jahren Politik von Ihnen, Herr Bundeskanzler, und Ihrer Bundesregierung, auffällt. Wir können heute hinschauen, wohin wir wollen: Politik erfreut sich keines guten Ansehens. Die Kritik an Bonn, gerade auch an Bonn, kommt — das stellen wir fest, wenn wir in die Leserbriefspalten von Zeitschriften und Zeitungen sehen, oder wenn wir Reden oder auch Umfragen durchschauen — nicht nur tröpfchenweise, nein, es hagelt geradezu Kritik.Und was wird da gesagt? Da wird gerügt, mangelnde Rationalität bestimme die Politik. An ihre Stelle sei übertriebene Rücksichtnahme auf oftmals nur vermutete Strömungen und Emotionen getreten. Wissen Sie, wer das gesagt hat? Es war der ausscheidende Präsident des Bundesverfassungsgerichts, der gleichzeitig mit einem gewissen Stolz, Herr Bundeskanzler, auf das hohe Ansehen blicken konnte, das das Bundesverfassungsgericht in unserer Gesellschaft genießt.„Das Vertrauen in die Politik nimmt ab", und „Noch nie seit 1951 war das Vertrauen der Bundesbürger so gering" — so lauten Schlagzeilen. Und das sind Schlagzeilen, Herr Bundeskanzler, die doch nicht nur uns beunruhigen, zumal wir gar nicht im Zentrum der Kritik stehen, sondern die auch Sie beunruhigen sollten. Übrigens auch das, was der Vorsitzende der Jungen Union, Herr Böhr, den Sie heute morgen gar nicht so gern mochten, Ihnen ins Stammbuch geschrieben hat, nämlich die mangelnde Dialogbereitschaft von CDU und CSU.
Das alles — das weiß ich auch — ergibt kein schönes Bild. Das möchten Sie natürlich verdrängen, das möchten Sie nicht wahrhaben. Sie stellen sich lieber — wer täte das nicht, und wer hätte dafür kein Verständnis — als den erfolgreichen Staatslenker dar, Herr Bundeskanzler. Ich verstehe das. Und dennoch ist diese Kritik berechtigt; dennoch ist diese Kritik realistisch. Das werden Ihnen auch Ihre Parteifreunde sagen, wenn sie den Mut dazu haben. Denn auch sie lesen Umfragen, auch sie werden an den Wochenenden von ihren Nachbarn und in Versammlungen ebenfalls darauf angesprochen.Wissen Sie: Die Vorgänge in Kiel haben tiefe Spuren hinterlassen; kein Zweifel. Das ist auch verständlich. Da wird noch viel getan werden müssen, um das in Ordnung zu bringen. Und ich sage hier ausdrücklich: Ich teile den Widerwillen und den Abscheu vieler
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2736 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Frau Dr. Däubler-GmelinBürgerinnen und Bürger gegen das, was da passiert ist.
Was da an Machtmißbrauch einer Staatskanzlei im Dienste einer Regierungspartei vorgefallen ist, ist widerwärtig. Was da an „schmutzigen Wahlkampftricks" angewandt wurde! So nennt man das offensichtlich heute, wenn der politische Gegner, also hier Björn Engholm, systematisch und gezielt aus der Staatskanzlei bespitzelt, verleumdet und als Person zermürbt werden soll, oder wenn um Wählerstimmen konkurrierende Parteien oder Wählergruppen „zersetzt" und madig gemacht werden sollen. Das ist schon schlimm. Und was da, Herr Bundeskanzler, mit der professionellen Hilfe eines extra dafür angeworbenen Springer-Journalisten inszeniert wurde, und vor allem, was da an Vertuschungsmanövern versucht wurde,
als alles herauszukommen drohte, das ist nicht nur unzulässig; das ist unglaublich.
Lassen Sie mich hinzufügen: Wie da mit Menschen umgegangen wurde, Herr Bundeskanzler, auch mit anständigen, unbescholtenen Menschen, mit treuen Mitarbeitern und politischen Gegnern, das kann man an der Art und Weise ablesen, wie ein so unbescholtener Mann wie der langjährige Fahrer von Uwe Barschel behandelt wurde, dem man eine nicht zutreffende eidesstattliche Erklärung zur Unterschrift vorgelegt hat. Herr Bundeskanzler, das ist schäbig. Das ist mehr als schäbig. Das muß nicht nur aufgeklärt werden, das darf nie wieder passieren. Ich füge hinzu: Es darf nicht der Schatten eines Zweifels bleiben, daß auch CDU und CSU dies wollen. Ich sage Ihnen: Ich hätte es begrüßt, wenn Sie heute morgen mehr, ausführlicher und anders dazu geredet hätten.
— Es ist nicht unglaublich, sondern ich habe Ihnen diese Bitte schon einmal vorgetragen.
Herr Stoltenberg, lassen Sie mich hinzufügen: Es wäre ein guter Neuanfang gewesen, wenn Sie es endlich über sich gebracht hätten, sich persönlich als CDULandesvorsitzender bei Björn Engholm und seiner Familie zu entschuldigen.
Ich darf es Ihnen noch einmal sagen: Als ich das schon einmal erbeten hatte, habe ich dann gehört und in den Zeitungen gelesen: Ach was; das sei doch eine recht altmodische Anregung. Wissen Sie, Herr Stoltenberg: Diese altmodische Anregung hätten Sie aufnehmen sollen.
Ich finde: Diesen Zug menschlichen Anstands
hätten Sie sich als Person leisten können, ganz egal, was Ihre Kolleginnen und Kollegen im Augenblick dazu sagen.
— Ja; gern, Herr Stoltenberg. Ich möchte das Thema nur ganz gern erst fertigbehandeln.Das hätte Mißtrauen abgebaut.
Das hätte Mißtrauen abgebaut, Mißtrauen von Bürgerinnen und Bürgern.
— Herr Austermann, Sie sollten eigentlich daran interessiert sein, auch solche Stimmen zur Kenntnis zu nehmen, die jetzt in Leserbriefen schreiben: „Die Suche nach anderen politischen Umgangsformen" — so heißt es da — „wird sich wohl darin erschöpfen, daß die CDU bei der Auswahl ihrer Medienreferenten demnächst etwas vorsichtiger sein wird." — Wissen Sie, Herr Austermann, ich bin der Auffassung, diese Resignation, diese zynische Haltung der Bürger, die
kann sich überhaupt niemand leisten, der Mitglied dieses Parlaments ist.
Und jetzt sage ich Ihnen noch eines: Es ist doch keineswegs eine bestimmte Gruppe allein, die das fordert — trotz Ihrer wirklich erstaunlichen Zurufe —
— Herr Bohl, Sie haben es gerade nötig! Hören Sie einmal zu, was Ihnen ein Konservativer wie Golo Mann ins Stammbuch schreibt, von dem Sie doch viel mehr halten müßten als ich, weil er Ihnen näher steht als mir! Golo Mann hat in der vorigen Woche ein Interview gegeben, Herr Bundeskanzler. Er wurde von einem Journalisten gefragt: „Haben Sie von Helmut Kohl in der Affäre Barschel/Pfeiffer eine andere Haltung erwartet?" Da sagte er: „Ich hätte sie mir gewünscht; hier hätte ein schärferes Abrücken erfolgen müssen." — Herr Bundeskanzler, ich teile die Auffassung von Golo Mann. Sie haben das bisher nicht getan. Ich finde das bedauerlich.
— Herr Austermann, dieser Einwurf ist — nehmen Sie mir's bitte nicht übel — einfach zu tief unter dem Standard. Wenn Sie einen anderen machen, gehe ich gern darauf ein.
Herr Bundeskanzler, die Glaubwürdigkeit Ihrer Politik leidet allerdings nicht nur an den Folgen von
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2737
Frau Dr. Däubler-GmelinKiel, auch das gehört zu dem Gesamtbild. Nein, der rapide Abfall der Glaubwürdigkeit reicht weiter zurück, sogar weiter als bis zu Ihrem diesjährigen Sommertheater, obwohl natürlich vielen Bürgern das ständige Hin und Her, das ewige Gezerre um Selbstverständlichkeiten in der CDU/CSU, in der Koalition, gegen Frau Süssmuth, von der CSU gegen die FDP und umgekehrt schon stark auf die Nerven gefallen ist. Das aber wissen Sie selber.Nehmen wir aber die Raketenfrage. Wie mußten die Weltmächte ziehen, wie mußten wir Sozialdemokraten und viele Bürgerinnen und Bürger drücken und schieben, damit Sie sich endlich bequemten, dem Abbau der Pershing Ia zuzustimmen.
Das wollen Sie dann auch noch als Machtwort und Führungsstärke hinstellen, auch heute wieder!Nein, der Mangel an Glaubwürdigkeit reicht tiefer. Immer mehr Menschen haben es satt, daß dieses Hin und Her, dieses taktische Finassieren und Ihr ständiger Koalitionspoker, den wesentlichen Teil Ihrer Politik ausmachen.Nehmen wir Ihre Steuerpläne, Herr Bundeskanzler. Es hat sich doch entgegen dem, was Sie heute morgen sagten, längst herumgesprochen — das zeigen uns alle Umfragen bis in die Reihen Ihrer Anhänger —, daß gerade die Normalverdiener von Ihren Steuerplänen nichts zu erwarten haben.
Das sieht doch auch die Mehrheit Ihrer Anhänger so.Hören Sie gut zu: Vor einigen Tagen hat sich jemand aus dem Fernsehen verabschiedet, den ich sehr schätze. Das war Hans Joachim Kulenkampff, nicht nur ein sehr guter Showmaster, sondern ein sehr kluger Mann.
— Da Sie jetzt lachen, hoffe ich, daß die vielen Millionen, die ihn im Fernsehen immer gesehen haben, Ihre Haltung richtig zur Kenntnis nehmen.Hans Joachim Kulenkampff hat sich in Abschiedsworten in einem Interview ebenfalls zu der Frage „Steuern" geäußert. Das finde ich gut. Dazu hat er als Bürger nämlich auch das Recht. Er hat an so an sich selbstverständliche Grundsätze erinnert wie an den, daß derjenige im Rahmen der Steuer am meisten beitragen soll, der das meiste Geld hat. Recht hat der Mann, kann man nur sagen. Er hat auch da recht, Herr Bundeskanzler, wo er beklagt, daß Ihre Politik „den Kontakt mit dem Normalverbraucher" einfach verliert.Nehmen wir die Arbeitslosigkeit! Was soll das ganze Gerede hin und her? Sie wissen doch selber genau, daß die Menschen schon längst bemerkt haben, daß die Arbeitslosigkeit steigt, außer in wenigen industriellen Zentren. Herr Blüm ist doch für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zuständig. Leider ist er im Moment nicht da. Ich sage es dennoch: Ich finde es gut, daß er sich in Chile und Südafrika für Menschenrechte einsetzt. Es wäre mir natürlich noch lieber, Herr Bundeskanzler, er würde Sie und die Regierung auch dazu bekommen, jetzt endlich einmal wirksame Sanktionen gegen Südafrika zu beschließen und international dafür einzutreten.
Ich finde es bedauerlich, daß er es nicht einmal schafft, die ständige Kampagne gegen Flüchtlinge und Ausländer aus Ihren eigenen Reihen zu stoppen.Ich finde, die Arbeitslosigkeit, genau das Feld, für das Herr Blüm zuständig ist, ist das Gebiet, auf dem sich das Versagen dieser Bundesregierung am deutlichsten zeigt. Ich darf die Frage anschließen: Sind es nicht eigentlich Menschenrechte von Arbeitslosen, um die es hier geht? Nehmen Sie Menschenrechte nur dann ernst, wenn sie weit weg von uns und weit weg von unserem Einflußgebiet auftauchen?
Wir haben schon vielmals Vorschläge gemacht, wie man Arbeitslosigkeit abbauen könnte. Sie waren immer so arrogant, diese Vorschläge abzulehnen. Wirtschaftsinstitute, die Bundesanstalt für Arbeit haben unsere Vorstellungen von Arbeit und Umwelt jetzt sogar auf ihre Fahnen geschrieben.
Ich denke, Sie werden nicht mehr sehr viel Zeit haben, diese Vorschläge zu übernehmen. Sie sollten sie nutzen.Meine Damen und Herren, Sie könnten damit auch in einem weiteren Punkt zu der Glaubwürdigkeit Ihrer Politik beitragen, nämlich in der Umweltpolitik. Sie können doch sagen, was Sie wollen: Die Menschen, gerade die jungen Menschen, sehen, daß die Wälder weiter sterben. Sie sehen auch, daß die Nordsee kurz vor dem Umkippen ist, allen Ihren Beschönigungen zum Trotz. Herr Bundeskanzler, das sind nun wirklich keine Probleme, die noch lange erforscht werden müssen, wie beispielsweise die Klimaveränderungen oder die dünner werdende Ozonschicht. Hier muß gehandelt werden. Dazu würde aber gehören, daß man sich nicht hinter kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen versteckt. Dazu würde gehören, daß man die Aufforderungen von Golo Mann und auch von Zeidler ernst nimmt.Das sehen die Bürger übrigens auch über die Parteigrenzen hinweg draußen genauso. Ich sage Ihnen eines: Wenn wir auf Bundesebene vergleichbare ergänzende, direkte Einflußmöglichkeiten auf die Arbeit dieses Hauses in Form von direkten Elementen der Demokratie hätten, wie wir sie beispielsweise in einigen Bundesländern oder auch in der Gemeindeordnung Baden-Württembergs, woher ich komme, haben, dann wäre sehr schnell Schluß mit dieser Politik des Laufenlassens und auch der mangelnden Kompetenz.
Lassen Sie mich ein anderes Stichwort aufgreifen, und zwar das der fehlenden Gerechtigkeit, die Ihrer Politik vorgeworfen wird. Sie wird bei den Steuerplänen deutlich, aber auch zum Beispiel im Umgang die-
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Frau Dr. Däubler-Gmelinser Bundesregierung mit dem Finanzausgleich: Wie Sie strukturschwache und benachteiligte Regionen behandeln, daß Sie Probleme der Finanzverteilung sozusagen am schwarzen Tisch des Adenauer-Hauses aushandeln, obwohl das eigentlich in dieses Haus und offen in den Bundesrat gehört, das geht nicht an. Und was Sie jetzt im Rahmen der Krankenversicherung vorhaben, nämlich Rentnern, Arbeitnehmern und Angestellten nicht nur höhere Beiträge, sondern auch zusätzliche Lasten für Brillen und für Hörgeräte ganz oder teilweise aufzubürden, das steht, meine Damen und Herren, mit Gerechtigkeit nicht mehr in Einklang.Was die Mütter, gerade die über 65jährigen, an Behandlung von Ihnen erfahren mußten, Herr Bundeskanzler, brauche ich hier nicht mehr in Erinnerung zu rufen, weil die Frauen draußen das noch wissen. Was hatten Sie denn vor, was hatten Sie beschlossen? Alle Mütter über 65 Jahre sollten weggeschoben werden, sollten eben keine Anerkennung für Kindererziehungszeiten bekommen. Das hatten Sie beschlossen.Auch jetzt, nachdem wir, die Frauen selber, die Gewerkschaften, die Verbände und die Sozialdemokraten, Sie dazu gezwungen haben, diese Pläne abzuändern, ist die Gerechtigkeit für die über 65jährigen Mütter noch nicht verwirklicht. Wir werden Sie auch hier nicht aus der Verantwortung entlassen, nein, wir werden nicht ruhen, bis auch hier Gerechtigkeit eingetreten ist.
Jetzt noch ein dritter Punkt, Herr Bundeskanzler, ein Punkt, den ich Ihnen persönlich übelnehme: Gerechtigkeit als Maxime einer Bundesregierung verlangt, daß bei uns NS-Opfer nicht mehr länger auf moralische Anerkennung oder auf materielle Hilfe warten müssen. Seit Jahren mahnen wir über die Fraktionsgrenzen hinweg an, daß die Haltung der Union und die Haltung der Regierung sich ändern möge. Wir wollen jetzt nicht mehr warten, und die Opfer können nicht mehr lange warten, sonst sind sie nämlich gestorben. Deswegen sagen wir Ihnen auch an dieser Stelle: Helfen Sie endlich mit, daß in den kommenden Monaten wenigstens dieser Schandfleck beseitigt werden kann!
Meine Damen und Herren, ich will jetzt noch einiges zur inneren Sicherheit sagen, weil heute morgen viel darüber geredet wurde. Innerer Frieden in unserem Land: Herr Bundeskanzler, wenn man an die Haltung der Union und an die Politik der Bundesregierung hierzu die Maßstäbe anlegt, über die ich gerade gesprochen habe, nämlich, wie Zeidler sagte: die der Sachgerechtigkeit und Rationalität, dann sieht es dort düster aus.Herr Bangemann hatte schon recht — ich hoffe, Sie sagen es ihm, wenn er wiederkommt —, als er auf dem letzten Parteitag der FDP ausrief — wenn auch für meinen Geschmack etwas zu pathetisch — : Wir lassen uns nicht vom Stammtischgerede beeindrucken; oder so ähnlich. Na ja! Damals gab es bereits genügend Skeptiker, die gesagt haben, die FDP würde wohl nicht lange bei dieser Auffassung bleiben; und so ist es dann auch gekommen.Meine Damen und Herren, sachgerecht ist das nicht, was Sie vorhaben, denn die Morde in Frankfurt kann man doch nicht nur dann bestrafen, wenn man eine schärfere Betrafung von Vermummten einführen würde. Das in Frankfurt war gemeiner Mord; das ist strafbar. Das ist ebenso zu Recht und schwer strafbar wie andere Gewalttaten, die — vermummt oder nicht — an Polizeibeamten unter Ausnutzung von Demonstrationen begangen werden. Das wollen wir hier festhalten, und dabei wollen wir es auch belassen, meine Damen und Herren.
Die Vermummung ist heute verboten; auch das sagen Sie draußen nicht. Als ob nicht alle hier im Hause diesen schwarzen Block vermummter Gewalttäter ablehnen würden! Nein, auf dem Gebiet der inneren Sicherheit — das sage ich zu den Kolleginnen und Kollegen der FDP — sind Sie im Moment mehr denn je in Gefahr, sich Emotionen anzuschließen, Emotionen nachzugeben und unter Druck des Koalitionspartners und taktischer Rücksichtnahme wieder einmal umzufallen.Wie gesagt, das ist gefährlich, weil Sie damit Gewalt nicht wirksam bekämpfen können. Sie werden nicht einmal die Bilder der schwarz vermummten Blocks vom Bildschirm wegbekommen. Das alles haben Ihnen die Sachverständigen sogar während des einseitig handverlesenen Anhörungsverfahrens von Herrn Zimmermann vorletzte Woche vorgetragen. Mir liegt auch ein Papier der Union vor, in dem dies ausdrücklich festgehalten ist.Vor allen Dingen sind aber Ihre jetzigen neuen Pläne, Herr Dregger, gefährlich für die Polizei selbst, die vor Ort handeln muß, die mit Demonstrationen, auch mit Gewalt zu tun hat. Wir Sozialdemokraten halten nichts davon, Entscheidungen an Stelle von unmittelbar Verantwortlichen vor Ort am grünen Tisch, sozusagen im Warmen zu treffen. Darauf hat Herr Innenminister Schnoor aus Nordrhein-Westfalen immer hingewiesen, und Sie wissen ganz gut, daß der Erfolg des bedächtigen und klugen Vorgehens der NRW-Polizei ihm recht gibt. Er hat auch recht — das sage ich jetzt zu Herrn Zimmermann — , wenn er die Polizei — jetzt ist es die Unabhängigkeit der Polizeiakademie Hiltrup — vor den Eingriffen in Schutz nimmt, die Herr Zimmermann offensichtlich vorhat.
Zur FDP noch ein Wort: Wenn die FDP nachgibt — und das sage ich zu den Erörterungen von Herrn Bangemann heute vormittag — , hat die Polizei nicht mehr die Freiheit, einzugreifen oder auch nicht — die Worte „die Freiheit, einzugreifen oder auch nicht" stammen von Herrn Bangemann — , es sei denn, Sie lassen es zu, daß am Verfassungsprinzip, am Legalitätsprinzip gekratzt oder daß es durchbrochen wird. Aber das machen wir nicht mit.Nein, wir sagen, an die Bundesregierung gerichtet, das Gleiche, was wir sagen, wenn es um die Bekämpfung von Terrorismus geht: Die Anwendung der geltenden Vorschriften ist wichtig, Fahndungserfolge
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Frau Dr. Däubler-Gmelinmüssen her. Da hapert es bei Ihnen. Wer statt dessen Gesetzesänderungen fordert, führt die Bürgerinnen und Bürger an der Nase herum.Jetzt noch ein Wort zur Hafenstraße. Da hat mir das, was Herr Bangemann heute morgen sagte, besser gefallen, als seine sonstigen Worte zur Vermummung. Nur eines: Bürgermeister von Dohnanyi kennt das Risiko wie jeder, der sich vor Ort erkundigt hat, ganz genau. Er braucht nicht von Ihnen darauf aufmerksam gemacht zu werden, welche politische Verantwortung er trägt. Er hat sie übernommen, und er hat damit den Mut bewiesen, den wir gerade an vielen in der Bonner Politik Tätigen vermissen. Die CDU greift ihn an. Und jetzt will ich Sie ganz direkt fragen, Herr Bundeskanzler, oder auch die anderen Ratgeber von heute morgen: Hätten Sie einen Polizeieinsatz angeordnet, wie Sie mit Ihren Reden glauben machen wollen?
— Sie haben von Opportunismus geredet. Ist das nicht menschlich mies, wenn andere die Verantwortung für die Folgen zu tragen haben? Herr Austermann, ich habe diese Form der Scharfmacherei vor 20 Jahren erlebt. Da war alles zu finden: CDU-Besserwisser, scharfmacherische Unterstützung à la Fromme und Löwenstern, alles war da, und das hat dann zu gravierenden Fehleinschätzungen der Lage geführt. Dann lag da ein junger Mann tot auf der Erde, damals Benno Ohnesorg, ein Student. Heinrich Albertz hat daraus Konsequenzen gezogen. Daß er heute Bürgermeister Dohnanyi Mut macht, das ehrt ihn.Herr Bundeskanzler, ich denke, unser Staat vergibt sich nichts, wenn er den Hamburger Versuch wagt. Ich denke, Sie sollten mit uns an alle Beteiligten, gerade auch an die Bewohner der Hafenstraße, appellieren, diesen Versuch zum Erfolg zu führen. Glaubwürdigkeit, Herr Bundeskanzler, fehlt dieser Politik von Klaus von Dohnanyi am allerwenigsten. Er hat ein Signal gesetzt.Ich darf jetzt mit einem Zitat schließen. Das Zitat kommt aus dem „Spiegel" dieser Woche. Da schreibt Erich Böhme:Seit den Sudelwochen in Kiel galt das Politikerwort weniger in Deutschland ... Verdruß an der Politik und ihren Politikern war aufs neue begründet. Am Donnerstag abend um 20.06 Uhr hat von Dohnanyi mit seiner Unterschrift unter den Pachtvertrag der Hafenstraße die deutschen Politiker rehabilitiert.
Jetzt hören Sie gut zu!
Und insofern mag selbst die CDU davon profitierthaben, nur bemerkt hat sie es noch nicht.Ich finde, er hat recht. Ganz herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Finanzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Däubler-Gmelin, Sie haben mich persönlich — übrigens auch den Bundeskanzler — in Verbindung mit der Kieler Affäre hier in einer Form angesprochen, die ich so nicht stehenlassen will. Vielleicht ist das, was ich sage, auch geeignet — ich will das ohne besondere Emotionen hier vortragen — , einen klärenden Beitrag zu den Positionen zu leisten und auch zu dem, was uns und mich im Hinblick auf Ihre Partei, jedenfalls Ihre Parteifreunde, die diese Kampagne führen, und einigen Publikationen beschwert.
— Wir haben uns die Attacke Ihrer Kollegin in Ruhe angehört.
Ich hoffe, daß Sie auch mich jetzt in Ruhe anhören.Sie haben eine Reihe von Dingen gesagt, Frau Kollegin, die eine Richtigstellung erfordern.Es ist leider wahr: Es gibt zahlreiche Verletzungen durch die schlimme Affäre in Schleswig-Holstein, die unser Land hart betroffen hat. Das gilt für einige Ihrer Parteifreunde. Es gilt auch für andere. Es gilt auch für mich. Zu den Dingen, die mich persönlich schwer verletzt haben — ich lasse andere jetzt unerwähnt —, gehört der ständige Versuch sozialdemokratischer Organe und auch einzelner Persönlichkeiten Ihrer Partei, mich persönlich, den Vorstand unserer Christlich Demokratischen Union und die Fraktion unserer Christlich Demokratischen Union im Lande wahrheitswidrig in eine Mitwisserschaft oder gar in eine Mittäterschaft zu den verwerflichen Aktivitäten des früheren Angestellten Pfeiffer zu bringen. Herr Kollege Seiters hat heute morgen schon ein besonders übles Zitat aus dem „Parlamentarisch-Politischen Pressedienst" hier vorgetragen, das nur Abscheu verdienen kann. Ich könnte Ihnen, Frau Kollegin, allein aus diesem Organ des Sozialdemokratischen Pressedienstes hier eine Viertelstunde Verleumdungen, Verunglimpfungen und Verdrehungen vortragen.Ich habe zum erstenmal in meiner langen politischen Laufbahn daraufhin rechtliche Schritte ergriffen. Ich habe das bisher nie für nötig gehalten. In diesem Falle war es erforderlich, weil es nicht nur um meine Integrität geht, sondern auch um die Integrität unserer Landespartei. Ich lese Ihnen gern einmal — das begrüße ich dann auch — mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zu Protokoll vor, was die Rechtsvertreter der „Parlamentarisch-Politischer Pressedienst" GmbH in dieser Sache am 6. November geschrieben haben. In der Auseinandersetzung Dr. Stoltenberg gegen die Sozialdemokratischer Pressedienst GmbH Schmidt und Uhse heißt es:Sehr geehrter Herr Kollege, Ihnen liegt die Klarstellung unserer Mandanten vom 4. 11. 1987 vor, die erklärt worden ist, bevor Sie in die Sache eingeschaltet waren. Daraus ergibt sich zweifelsfrei, daß unsere Mandanten— Sozialdemokratischer Pressedienst GmbH —
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2740 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Bundesminister Dr. Stoltenbergnicht behaupten wollten und werden, daß Ihr Auftraggeber— also ich —persönlich von den in der Staatskanzlei des Landes Schleswig-Holstein ausgeheckten Machenschaften gewußt oder daran mitgewirkt habe.
Diese Erklärung unserer Mandanten gilt nicht nur im Hinblick auf die in der Klarstellung revozierte Äußerung, sondern allgemein, insbesondere auch im Hinblick auf den zweiten Absatz des Artikels „Im Geiste Stoltenbergs" in der Ausgabe vom 26. 10. 1987.
Infolgedessen werden unsere Mandanten im Hinblick auf die mit den Namen Pfeiffer und Barschel verbundenen Wahlkampfentgleisungen nicht von einer „erprobten Technik Ihres Auftraggebers" und auch nicht mehr davon sprechen, daß er entscheide, wer „als Alleintäter präsentiert werde".Damit beende ich dieses traurige Kapitel.
— Ich spreche jetzt zu Ihnen, verehrte Frau Kollegin.
— Ich beantworte keine Suggestivfragen. Ich nehme zu Ihren Vorhaltungen gegen den Bundeskanzler und mich Stellung. Das müssen Sie sich jetzt anhören,
nachdem Sie den Bundeskanzler und mich hier in einer Form gewertet und angesprochen haben, die ich nicht akzeptieren kann. Auch das ist ein guter parlamentarischer Brauch. Man kann hier nicht mit großer Erhabenheit den Vorredner wegen angeblich parlamentarisch nicht optimaler Darstellung kritisieren, Frau Kollegin, und sich dann so benehmen, wie Sie das jetzt mit Ihren Zwischenrufen versuchen.
Ich will auch etwas an die Adresse des Herrn Kollegen Vogel sagen. Herr Kollege Vogel hat sich in dieser Serie sehr unerfreulicher Äußerungen gegen unsere Landespartei und mich persönlich immer auf den Begriff der politischen Verantwortung zurückgezogen.
Ich könnte hier ein ganzes Bündel von seinen Interviews und seinen zum Teil auch unerfreulichen Unterstellungen bringen. Herr Kollege Vogel, wenn es eine politische Verantwortung gibt, dann stellen Sie als Bundesvorsitzender der SPD endgültig diesen miserablen Stil der Unterstellungen und Unwahrheiten in Presseorganen Ihrer Partei ab!
Herr Minister — —
Nein, ich erlaube keine Zwischenfrage, Herr Gansel.
Zu Ihnen können wir in Verbindung mit dem „Parlamentarisch-Politischen Pressedienst" auch noch einiges sagen, Herr Gansel, wenn wir die Debatte fortsetzen.
Ich komme jetzt zu den Punkten, die wichtig sind.
— Also, der Herr Gansel redet hier von „Feigling" und disqualifiziert sich damit erneut.
Herr Minister, lassen Sie sich bitte einen Moment unterbrechen. — Der Zuruf „Feigling" kann hier nicht hingenommen werden. Herr Gansel, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf.
Ich kommentiere das natürlich nicht, meine Damen und Herren, und fahre in der Sache fort.
— Nein, ich tue das auch nicht. Da haben Sie vollkommen recht, Herr Kollege Vogel. Ich tue das nicht.
Ich fahre in der Sache fort: Nachdem Sie durch die Ausführungen von Herrn Koschnick und Frau Däubler-Gmelin diese Diskussion herausgefordert haben, muß sie jetzt auch geführt werden, auch im Deutschen Bundestag.
Ich will Ihnen folgendes sagen: Die Erwartung, daß eine solche eindeutige Erklärung, die nicht nur für mich gilt, sondern die ich für die gewählten Vorstandsmitglieder und die Fraktion meiner Landespartei gleichermaßen in Anspruch nehme, nun endlich zu einem Schluß von unerfreulichen Unterstellungen und Unwahrheiten führt, ist leider durch den Landesparteitag der Sozialdemokratischen Partei am Wochenende in Kiel enttäuscht worden.
Was der neugewählte Landesvorsitzende der SPD,Herr Walter, erneut an diffamierenden und unwahrenBehauptungen gegen die CDU Schleswig-Holsteins
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Bundesminister Dr. Stoltenbergund mich persönlich vorgetragen hat, muß auf das schärfste zurückgewiesen werden.
Und ich muß Ihnen leider sagen, daß auch der Oppositionsführer Engholm, zumindest in einer Äußerung, erneut den wahrheitswidrigen Eindruck erwekken wollte, als ob die Führung unserer Landespartei etwas mit diesen Machenschaften des Herrn Pfeiffer zu tun hat.
Bringen Sie diese Dinge zunächst in Ordnung, bevor Sie als Anwalt des Anstandes gegen uns im Land und hier im Deutschen Bundestag auftreten wollen, meine Damen und Herren!
— Kümmern Sie sich mal um Ihren „ParlamentarischPolitischen Pressedienst" , Herr Vogel, wir kümmern uns um unsere eigenen Organe.
Wenn wir das beide mit Erfolg tun, wird das sicher ein Stück besser werden für die künftige Auseinandersetzung in Land und Bund.
Ich bedaure es, wie ich es schon früher gesagt habe, daß auch andere Persönlichkeiten, darunter Persönlichkeiten der Sozialdemokratischen Partei, durch die üblen Machenschaften des Herrn Pfeiffer verletzt oder beschwert sind. Nur, Sie können keine Entschuldigung verlangen, solange ein derart miserabler Stil in der Sozialdemokratischen Partei und ihren Organen gepflegt wird, meine Damen und Herren.
Ich spreche hier ausdrücklich mein Bedauern dafür aus, daß Persönlichkeiten Ihrer Partei durch die Machenschaften von Pfeiffer beschwert und belästigt wurden. Aber ich erwarte, daß Sie jetzt Schluß machen, in Bund und Land,
mit dem Versuch, die Integrität unserer Landespartei im Zusammenhang mit den Methoden in Frage zu stellen, die in dieser Diskussion zu Recht gegeißelt wurden.
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Simonis.
Herr Dr. Stoltenberg, wieviel Worte, wieviel Herummeierei statt eines einfachen, schlichten Satzes: ich entschuldige mich für das, was in der CDU in Schleswig-Holstein an Wahlkampfschweinereien passiert ist;
wie es sehr mutig Ihre Parteikollegin, die als Landtagsabgeordnete für die CDU im Kieler Untersuchungsausschuß ist, auf einem emotional sehr aufgeheizten CDU-Landesparteitag geschafft hat, wie es auch sehr honorig, sehr anständig und sehr mutig der amtierende Ministerpräsident Schwarz geschafft hat, einfach politische Verantwortung für etwas zu übernehmen, was ja nicht vom Himmel heruntergefallen ist, Herr Dr. Stoltenberg.
Herr Pfeiffer ist doch nicht über Sie gekommen; Herr Pfeiffer ist nicht vom Himmel gefallen. Das war der Chef vom Dienst Ihrer Wahlkampfzeitung, die unter Ihrem Vorsitz herausgegeben worden ist.
Den Artikel über Kindersex hat keiner aus der Staatskanzlei geschrieben, den hat jemand geschrieben, für den Sie die Verantwortung zu übernehmen haben,
nämlich der Pressesprecher Ihrer Partei, Herr Kohl; ich entschuldige mich für die Namensgleichheit.An der Broschüre „Betrifft: Engholm" haben ja dann wohl auch Leute mitgearbeitet, für die Sie die Verantwortung zu übernehmen haben, wie z. B. der Generalsekretär Ihrer Partei, Herr Reichardt. Dies ist nicht irgend etwas, was im abgehobenen Raum stattgefunden hat, sondern Sie müssen davon gewußt haben oder Sie müßten eigentlich Ihr Amt als Landesvorsitzender niederlegen, weil es in Ihrer Partei drunter und drüber geht, weil gedruckt, geschrieben, getan und gemacht werden darf, ohne daß Sie davon Notiz haben, ohne daß Sie davon Kenntnis haben und ohne daß es Ihnen zur Kenntnis gebracht worden ist bzw. ohne daß Sie es wahrgenommen haben.
Ist Ihnen vielleicht schon einmal aufgefallen, Herr Dr. Stoltenberg, daß möglicherweise auch Frau Barschel daran zweifelt, die Sie ja nicht als Sprecher auf der Trauerfeier haben wollte. Dafür muß es Gründe geben. Vielleicht hat auch Frau Barschel nur gewollt, daß Sie sagen: Ich entschuldige mich und übernehme die politische Verantwortung für etwas, was in ungeheuerlicher, einmaliger und geradezu entsetzlicher Weise in der Politik passiert ist.Unter Ihrer politischen Verantwortung, Herr Dr. Stoltenberg, hat Ihre Partei ja nicht nur einen Menschen und seine Familie angegriffen; Sie haben etwas gemacht, was eigentlich nicht zu verzeihen ist. Wir haben es bis jetzt geschafft — und davon lebt die deutsche Demokratie —, daß in Vereinen, bei Kollegen, in Familien und zwischen Freunden die Parteizugehörigkeit nicht eine Rolle spielt, die dazu führt, daß Freundschaften kaputtgehen, daß Familien daran zerbrechen, daß sich Kollegen nicht mehr grüßen und daß Leute nicht miteinander Fußballspielen. Das ist etwas, worauf wir stolz sind. Das machen Sie kaputt, wenn Sie nicht den Mut aufbringen, bei etwas, was in Ihrem Zuständigkeitsbereich passiert ist, zu sagen: ich
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2742 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Frau Simonisentschuldige mich — , wenn Sie also nicht diesen schlichten, einfachen Satz sagen.
Solange Sie diesen schlichten, einfachen Satz, der Ihnen ja offensichtlich so viel Mühe macht — dafür muß es ja Gründe geben — , nicht sagen, werden wir nicht aufhören, nach den Verantwortlichkeiten für das zu fragen, was im CDU-Landtagswahlkampf in Schleswig-Holstein passiert ist.
Meine Damen und Herren! Ich schließe die Aussprache über den Einzelplan 04.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 04 — Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes — in der Ausschußfassung. Wer diesem Einzelplan seine Zustimmung geben will, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Einzelplan ist mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun auf:
Einzelplan 05
Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts
— Drucksachen 11/1055, 11/1081 —
Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Rose Hoppe
Würtz
Frau Vennegerts
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1220 vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung zwei Stunden vorgesehen. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, erlauben Sie mir eine Vorbemerkung: Ich habe mit großem Respekt Ihre Worte zu den Kieler Vorgängen zu Beginn Ihres Redebeitrags gehört. Erlauben Sie mir, eine Frage zu stellen, und zwar als jemand, der 1978 in Niedersachsen zu den Gründern einer neuen Partei gehörte und der erst ein Jahr danach — weil wir in Niedersachsen die „Süddeutsche" damals nicht so regelmäßig lasen — eine Notiz der „Süddeutschen Zeitung" vom Sommer/Herbst 1977 vom Bonner Korrespondenten lesen konnte, in der es folgendermaßen hieß:Es gehen in Bonn tolle Gerüchte um. Beispielsweise sollen im Bundesvorstand der CDU Überlegungen angestellt werden, ob man nicht in Niedersachsen eine Umweltschutzpartei energisch fördern solle in der Hoffnung, daß diese dann etwa zwei Drittel Wählerschaft bei der SPD und nur ein Drittel bei der CDU abziehen werde,wodurch die damals nur auf einer schweigendenStimmenmehrheit beruhende Regierung Albrecht stabilisiert worden wäre. Erlauben Sie also jemandem, der dies 1978 erleben mußte und der als einer der Landessprecher der GRÜNEN im Wahlkampf 1986 genau dieselbe Schmutzkampagne, die ein Jahr später die SPD in Schleswig-Holstein traf, erlebt hat — damals gab es noch keinen Pfeiffer in der Staatskanzlei in Niedersachsen, erlauben Sie mir also als jemand, der nun zweimal über solche Dinge nachdenkt, einfach einmal zu fragen, ob das, was in so schlimmer Weise in Kiel dann passierte, nicht auch einen Nährboden in einem manipulativen, einem sehr technokratischen Umgang mit Menschen und Politik hatte, der nicht allein in Kiel zu Hause war, sondern möglicherweise auch hier im Bundesvorstand Ihrer Partei. So wurde über Politik geredet, so machte man Politik. Kiel war dann eine ganz schlimme Geschichte. Aber ein bißchen, denke ich, muß man auch über den Wurzelboden, auf dem solche persönlichen Sachen dann erwachsen, sprechen.
Doch ich möchte jetzt zu erfreulicheren Dingen und zum für mich allerdings wieder nicht so erfreulichen Etat des Herrn Außenministers kommen. Ich möchte mit einem Zitat beginnen:Die Eltern überall auf der Welt lieben ihre Kinder.— Sie sehen, wir begeben uns jetzt in eine freundlichere Welt. —Aber schützen wir wirklich schon ausreichend Rechte und Zukunft unserer Kinder? Wir wollen unseren Kindern eine bessere Welt überlassen, eine Welt, in der Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit gewährleistet sind, in der Frieden herrscht und in der die natürlichen Lebensgrundlagen geschont und gepflegt werden.Diese herzerhebenden Worte stammen nicht aus einem grünen Programm, wie man vielleicht meinen könnte; sie stammen aus der Rede, die unser Außenminister vor zwei Monaten vor der UNO gehalten hat.Mißt man diese und andere schöne Reden aus dem Hause des Herrn Außenministers an der konkreten Politik, die von dieser Bundesregierung im Ausland gemacht wird, mißt man sie beispielsweise am scheinbar so unwichtigen Haushaltsplan des Auswärtigen Amtes, dann ergibt sich allerdings ein ganz anderes Bild: Was hat etwa die NATO-Verteidigungs- und Rüstungssonderhilfe für die Türkei, Griechenland und Portugal mit der Schaffung von Frieden zu tun? Was haben Ausstattung und Ausbildung von Polizei in Entwicklungsländern mit Menschenwürde und sozialer Gerechtigkeit zu tun?Während sich der Außenminister gern den Anschein „neuen Denkens" gibt, wird im Budget seines Hauses, Herr Außenminister, massiv „altes Denken" fortgeschrieben. Ansätze zur Gestaltung einer neuen Politik jedenfalls finden sich nicht.Wir haben den Haushaltsplan 05 geprüft und legen 28 Änderungsanträge vor. Ich fasse sie unter vier Aspekten zusammen.Erstens: Entmilitarisierung der Außenpolitik. Mehr als 10 % eines Haushalts, der doch immerhin die
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Dr. Lippelt
gesamten deutschen Auslandsvertretungen trägt, der die weltweit wirkenden Goethe-Institute, die deutschen Schulen im Ausland und das ehrwürdige Archäologische Institut mit seinen vielen Niederlassungen trägt, sind reine Rüstungsausgaben.Die Bundesrepublik als einziges westeuropäisches NATO-Land läßt seit 1964 zur sogenannten Stützung der Südflanke jährlich erhebliche Mittel in die Rüstung der Türkei, Griechenlands und Portugals fließen. Über die Jahre sind es insgesamt fast schon 5 Milliarden DM. Wir sehen keinen Sinn darin und fordern den Abbruch dieses Programms.
Für mindestens ebenso bedenklich halten wir die sogenannte Ausstattungshilfe, gedacht zur Stabilisierung von Ländern der Dritten Welt. Diese Mittel werden zum Teil über das Bundesinnenministerium verausgabt. Man fragt sich natürlich: Was hat das Innenministerium eigentlich mit Außenpolitik zu tun? Man lernt es kennen, wenn man sieht, daß es — hinter dem Bundesinnenministerium — letztlich das Bundeskriminalamt ist. Man stößt auf eine umfangreiche Schulungstätigkeit des BKA bei den Polizeien in afrikanischen und südamerikanischen Ländern, verbunden mit kleinen Zuwendungen von Spezialmaterial. Viele dieser Länder werden autoritär regiert. Wer glaubt im Ernst daran, daß die dortigen Polizeien die Unterscheidung von politischer Opposition und Kriminellen lernen? Nun lief zuvor — das ist ein besonders guter Witz — diese Polizeiausbildung zum Teil auch über den Haushalt des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit.Am besonders drastischen Fall von Guatemala ist den Entwicklungspolitikern dieses Hauses im vorigen Jahr das Problem klargeworden, und sie haben verlangt, Entwicklungshilfe nicht weiterhin mit Polizeihilfe zu belasten und statt dessen den Etat Ihres Ministeriums, Herr Außenminister, voll zu belasten. Ob wohl ein Opfer staatlicher Repression je den feinen Unterschied zwischen über Einzelplan 05 oder über Einzelplan 23 ausgebildeten Polizisten begreift, wenn es von ihnen unterdrückt wird?In der Zeitschrift „Kriminalistik" , Heft 10 1987, findet sich aus der Feder eines Kriminaldirektors des Bundeskriminalamts die Quintessenz dieser Art von Außenpolitik — ich zitiere — :Zur Zufriedenheit des Partnerstaats ausgefallene Ausbildungs- und Ausrüstungsprogramme auf dem für ihn wichtigen Gebiet der inneren Sicherheit bilden eine gute Grundlage für die zukünftige diplomatische Arbeit der betreffenden deutschen Auslandsvertretung.Herr Außenminister, ist dies nicht eine Perversion von Außenpolitik? Streichen wir also den Ansatz zusammen und schicken wir die bis zu 50 teils Langzeitberater, teils Kurzzeitberater aus dem BKA, die bei den deutschen Botschaften sitzen, nach Haus. Wir, unsere Fraktion, haben statt dessen mit einem ersten Ansatz die Einrichtung von Stellen für Referenten für Menschenrechtsfragen gefordert. Ich denke, man sollte sich eher auf die Seite der Opfer stellen.
Zweitens. Wir treten für eine stärkere Einbindung deutscher Außenpolitik in die sogenannte Weltinnenpolitik, d. h. für eine stärkere Unterstützung von sinnvollen UN-Aktivitäten, ein. Während der Haushalt 05 in seinen Ansätzen im großen und ganzen fortgeschrieben worden ist, so hat er doch an einer Stelle unsinnige Kürzungen hinnehmen müssen: in allen freiwilligen Leistungen zu Hilfsprogrammen, sei es beim Beitrag zum Hilfsfonds des Hohen Flüchtlingskommissars, sei es beim Beitrag zum Hilfsprogramm der Vereinten Nationen für die Palästinenser-Flüchtlinge, sei es beim speziellen deutschen Beitrag für die Palästinenser-Lager. Überall dort wurde eine 6 %ige Kürzungsauflage wirksam; denn es handelte sich um freiwillige Leistungen. Bei den zuvor genannten Rüstungs- und Ausrüstungsprogrammen findet man so etwas natürlich nicht.Wir fordern deshalb selbstverständlich die Wiederherstellung der ursprünglichen Ansätze und — je nach der besonderen Lage der einzelnen Hilfsprogramme — auch noch etwas mehr. Da wir aber bei Streichung der zuvor erwähnten NATO- und Polizeiausbildungsprogramme über einige Mittel verfügen könnten, schlagen wir vor, damit ein besonderes Zeichen zu setzen. Wir schlagen vor, diese Mittel als Grundfinanzierung in den von der UN-Sonderkonferenz für Abrüstung und Entwicklung geforderten Weltentwicklungsfonds einzubringen. Wir machen uns die Forderung der UN-Konferenz zu eigen, die ins Gigantische gewachsenen Rüstungsausgaben einzugrenzen, mit ihrem Abbau zu beginnen und diese Gelder in Programme zur Abmilderung der enormen sozialökonomischen Disparitäten umzuleiten.Drittens: Ostpolitik. Auch in der Ostpolitik bleiben die verbalen Entspannungsbemühungen der Bundesregierung weit hinter den Möglichkeiten zurück, die der Haushalt des Auswärtigen Amtes eigentlich bieten könnte. Wir denken, daß sich vielfältige Möglichkeiten zur Verstärkung des gesellschaftlichen Engagements für eine Friedens- und Entspannungspolitik gegenüber Osteuropa bieten, sei es durch Verstärkung des Wissenschaftler- und Lektorenaustausches und ein Angebot zur Errichtung von Gastlehrstühlen für Friedens- und Umweltforschung in osteuropäischen Nachbarländern, sei es durch Förderung der grenzüberschreitenden Friedensarbeit von Basisgruppen, sei es durch Einführung von Schüleraustauschprogrammen.Abschließend möchten wir auch unterstreichen, daß wir Reformmaßnahmen im auswärtigen Dienst für erforderlich halten. Unabhängig von dem vielfach angekündigten Gesetz zum auswärtigen Dienst möchten wir zumindest eine Sofortmaßnahme schon jetzt vorschlagen, nämlich die Auflage eines umfassenden Frauenförderungsprogramms. Bekanntlich gibt es gerade 5 % Frauen im höheren Dienst des Auswärtigen Amtes.Aus den vorgetragenen Korrekturen am Haushalt des Auswärtigen Amts sind schon einige Prinzipien grüner Außenpolitik deutlich geworden. Die Ziele, die grüne Politik in der Bundesrepublik und weltweit verfolgt, sind Frieden, Ökologie, Menschenrechte und Solidarität.
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2744 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Dr. Lippelt
Für die Außenpolitik heißt das unserer Ansicht nach erstens die prinzipielle Entmilitarisierung der internationalen Beziehungen, d. h. nicht nur die zähneknirschende Zustimmung zu Abrüstungsvereinbarungen der Supermächte, sondern Stopp der Militarisierung, die von der Bundesrepublik selbst ausgeht,
Stopp der Aufrüstung und Vervollkommnung der Bundeswehr einerseits und Stopp der Waffenlieferungen in die ganze Welt andererseits.Wir weisen nochmals darauf hin, daß im Golfkrieg deutsche Waffen auf beiden Seiten schießen. Mehrfach schon wurden auch bundesdeutsche Schiffe mit Exocet-Raketen angegriffen, deren Zielsuchvorrichtung bekanntlich von MBB in der Bundesrepublik stammt. Und nach wie vor rüstet in Absprache mit Frankreich die Firma Fritz Werner mit ihrer zur SchahZeit errichteten iranischen Niederlassung Khomeinis Truppen aus. Wenn Sie, Herr Außenminister, von einer angeblichen Neutralität im Golfkrieg sprechen, so ist das eine sehr bewaffnete Neutralität. Es wird Zeit, daß alle kriegsrelevanten Lieferungen in den Iran und Irak eingestellt werden, so wie wir GRÜNEN überhaupt den Stopp jeglicher Rüstungsexporte fordern.Zweitens. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen heißt für die Außenpolitik der Bundesregierung auch die Einstellung aller Exporte, die die Umwelt schädigen: von den umfangreichen Biozid-Exporten der Chemieindustrie für die Landwirtschaft von Polen bis Brasilien bis hin zum Stopp der AKW-Exporte.
Vor einigen Monaten rühmte sich die brasilianische Regierung, nunmehr in der Lage zu sein, Atomwaffen herzustellen.
Vor einigen Tagen kam bei einem irakischen Angriff auf das iranische AKW Buschehr ein deutscher TÜVPrüfingenieur ums Leben. Beide Nachrichten gehören zusammen; denn beide bezeichnen sehr deutlich, Herr Außenminister, den Bankrott einer speziell von Ihnen geprägten deutschen Außenpolitik. Sie waren es schließlich, der sich das deutsch-brasilianische Atomabkommen als besonderes Verdienst zurechnete. Sie haben es gegen schwerste Proliferationsbedenken der Carter-Administration durchgesetzt. Nun ist eingetreten, was befürchtet wurde: Wir haben eine Atommacht mehr.Gleichzeitig kommt es zu dem furchtbaren CäsiumUnfall in Brasilien, der beweist, daß der Export unserer Probleme, die durch unsere Wirtschaftsweise produziert wurden, in Staaten der Dritten Welt, die noch wesentlich schlechter als wir auf die Bewältigung dieser Probleme vorbereitet sind, ein Verbrechen ist.
In mindestens so hohem Maße gilt das für das Atomgeschäft mit dem Iran. Es wurde abgeschlossen mit dem Schah. Er galt als besonders stabil und dem Westen treu ergeben. Buschehr ist jetzt in die Hand eines theokratischen Politikers gefallen, der für besonders irrational und unverantwortlich gehalten wird und der sich in einem außerordentlich mörderischen Krieg befindet. Und trotzdem, weil offensichtlich der Ausbau der diplomatischen und der wirtschaftlichen Beziehungen für wichtiger gehalten wird, werden die Arbeiten an diesem AKW fortgesetzt, das, wenn es erst einmal einige Tage gelaufen ist, eine Atomwaffe in sich selbst darstellt.Wann wird diese Regierung endlich begreifen, daß es keine friedliche Atomenergie gibt und daß der Export von Atomanlagen geächtet werden muß?
Am 7. Dezember wird zu unserer Freude der Abrüstungsvertrag über die Mittelstreckenraketen von den USA und der UdSSR unterzeichnet werden. Was folgt daraus für die Bundesregierung? In ihren Reden hören wir von Zustimmung und Freude; in ihren Taten aber sehen wir die Förderung einer deutsch-französischen militärischen Zusammenarbeit, die wir für außerordentlich gefährlich halten. In der Bundesrepublik und in Frankreich sind in den letzten 30 Jahren vielfältige freundschaftliche Beziehungen entstanden, die wir sehr begrüßen. Diese freundschaftlichen Beziehungen dürfen nicht mißbraucht werden zur Förderung gemeinsamer militärischer und sogar — nach der Haager Sicherheitserklärung — atomarer Stärke.
Angesichts des Abkommens zwischen den beiden Supermächten brauchen wir ein neues Konzept für Europa; ein Konzept, das nicht durch westeuropäische Aufrüstung die Spaltung unseres Kontinents vertieft, das nicht durch Milliardenkredite stagnierende ökonomische und gesellschaftliche Verhältnisse scheinhaft stabilisiert, sondern ein Konzept, das gemeinsame Entmilitarisierung mit dem Aufbau von Fonds verbindet, die gemeinsame ökologische Projekte fördern und die öffentlich kontrollierbar sind.Wir GRÜNEN unterstützen eine Politik der Entspannung und der Zusammenarbeit zwischen West- und Osteuropa. Übrigens: Wir sind nicht blauäugig und wissen, daß eine Entspannungspolitik genauso vom Rückzug der sowjetrussischen Truppen aus Afghanistan abhängt wie von der Aufgabe des Drucks der USA auf die Regierung in Nicaragua.Wir halten die Teilung unseres Kontinents in zwei feindliche Militärblöcke für anachronistisch in jeder Hinsicht. Die großen ökologischen und friedenspolitischen Aufgaben am Ende des 20. Jahrhunderts sind nur gemeinsam und sie sind nicht militärisch zu lösen. Weder Mauer und Stacheldraht noch Panzer und Atombomben können die Verschmutzung und die Verseuchung von Luft, Wasser und Boden aufhalten.Aber neben die Zusammenarbeit der Staaten, wie sie jetzt sind, die unbedingt notwendig ist, müssen unserer Ansicht nach tiefgehende Reformen in Ost- und Westeuropa treten, damit diese Zusammenarbeit nicht einfach die bestehenden schlechten Zustände betoniert.Ich schließe hiermit, weil ich meinen Nachrednern keine Zeit wegnehmen will. Ich denke — das hätte ich sonst noch ausgeführt — , daß es unbedingt wichtig ist, daß neben die Außenpolitik von oben eine solche von unten tritt; eine Politik, die von der Gesellschaft getra-
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Dr. Lippelt
gen wird, die von den Friedensgruppen getragen wird, wie das beispielsweise auf einer Konferenz in Budapest der Fall war, an der zusammen mit Friedensgruppen z. B. aus Polen, Ungarn und der DDR teilzunehmen ich die große Freude am vergangenen Wochenende hatte.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rose.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Aufgabe der deutschen Außenpolitik ist es, für Frieden in Freiheit zu sorgen. Jede Diskussion über den Einzelplan des Auswärtigen Amts muß sich dieser Überschrift unterordnen.Die heutige Aussprache über den Kanzlerhaushalt hat bereits Linien gezogen. Der Weg zum Frieden — ich würde lieber sagen: die Weiterwanderung auf dem Weg des Friedens; ich sage auch bewußt nicht „Weitermarsch" — mag umstritten sein, doch das Ziel soll uns alle vereinen, ich hoffe: wirklich alle. Keiner soll den Begriff „Frieden" verfälschen; denn auf keinen Fall kann Frieden ohne Freiheit sein.
Zur Sicherung dieses Friedens können viele beitragen. Es sind natürlich die Politiker, es sind die Kirchen, es sind die Kaufleute, es sind die Touristen, und es sind die Medien. Es sind aber auch die Diplomaten, die für unser Vaterland Dienst in aller Welt tun.Ich weiß, daß in gewissen Kreisen über den auswärtigen Dienst nicht immer das beste Urteil gefällt wird. Man sollte zumindest wissen, daß man dort einen schweren Dienst leistet, weil nicht immer der Kaviar in Moskau oder der Champagner in Paris locken. Die Masse der Diplomaten, die über die ganze Welt verstreut sind — von Port au Prince auf Haiti bis Hanoi oder von Ouagadougou bis Bandar Seri Begawan, um ein paar exotische Namen zu nennen — , beweist, daß hier auch schwere Posten zu versehen sind.Das Parlament und der Haushaltsausschuß haben der Bedeutung des auswärtigen Dienstes erneut Rechnung getragen. In diesem Zusammenhang möchte ich etwas aufgreifen, was vorhin vom Redner der GRÜNEN und was auch von der Opposition insgesamt bestritten wurde. Wir sind im Haushalt 1988 wiederum auf dem Wege zur Wirksamkeit und Leistungsfähigkeit des auswärtigen Dienstes fortgeschritten. Schwerpunkt der Haushaltsberatung war, durch personelle Verstärkungen und strukturelle Verbesserungen dem großen Ziel näherzukommen, nämlich auf den klassischen Feldern des diplomatischen Korps sowie auf den Gebieten der Wirtschaftsförderung, der Kulturbegegnung und der Völkerverbindung voranzuschreiten. Deshalb haben wir in einem Drei-Stufen-Plan 1986, 1987 und 1988 insgesamt 250 neue Stellen geschaffen. Auch wenn jetzt wieder wie im ganzen Bundeshaushalt 1 % der Stellen eingespart werden muß, bleiben trotzdem 188 zusätzliche Stellen übrig. Das ist ein größerer Zuwachs als bei allen anderen vergleichbaren Ministerien. Das Ergebnis ist mit 6 159 Stellen des auswärtigen Dienstes die zweitbeste Quote seit 1975.Auch in der Qualität der Stellen gibt es einen deutlichen Schritt nach vorn; denn bekanntlich werden nur geringerwertige Stellen eingespart, während höherwertige neu geschaffen werden. So gibt es kaum mehr eine Botschaft, deren Leiter unter A 16 eingestuft ist, und auch im mittleren und im gehobenen Dienst ist einiges getan worden.Ich möchte deshalb mögliche Aussagen der Opposition, die auch schon im Ausschuß gefallen sind, zurückweisen. Wer selbst zu einer Kappung der Planstellen um 127 beigetragen hat, darf jetzt nicht beim Zuwachs von 188 Stellen wehklagen. Wer die entsprechende Personalausstattung trotz schwieriger gewordener Arbeits- und Lebensbedingungen verweigert hat, solange er regierte, der ist jetzt mit Forderungen aus der Opposition heraus unglaubwürdig.
Trotzdem freue ich mich, daß die Opposition unseren Weg unterstützt. Das gilt besonders für die überschwenglichen Forderungen, noch mehr zu tun; das hat die SPD im Ausschuß laufend gemacht. Auch die GRÜNEN haben heute noch einmal vorgetragen, sie wollten unendlich viel mehr tun, allerdings bei gewissen anderen Bereichen sparen. Ich bin sicher, wir werden uns irgendwo in der Mitte treffen.Wir alle haben die Herausforderungen der Zukunft erkannt. Die Tendenz zu immer stärkerer internationaler Verflechtung wird sich fortsetzen. Die Bedeutung der Außenpolitik wird sich vergrößern. Die Bundesrepublik als Mittelmacht an der Schnittstelle des geteilten Europa ist besonders auf Absicherung und Abstützung angewiesen, im Verbund der Europäischen Gemeinschaft und des westlichen Bündnisses, in der Verständigung mit den Ländern Osteuropas und in der Zusammenarbeit mit allen Staaten und Völkern, die hierzu bereit sind. Diese Zusammenarbeit zu fördern soll unser aller Ziel sein.Damit möchte ich zu einigen wenigen Inhalten der deutschen Außenpolitik kommen.
Sie berühren beispielsweise die politische Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt. Hier möchte ich einen Punkt aufgreifen, zu dem sich der Kollege von den GRÜNEN bereits geäußert hat, nämlich unsere Ausstattungshilfe. Im Gegensatz zu Ihnen von den GRÜNEN, die die Ausstattungshilfe insgesamt ablehnen, ja, sogar verteufeln wollen, und auch im Gegensatz zu manchen von der SPD, die sich zwar umgestellt haben, aber immer noch meinen, die Ausstattungshilfe sei nicht der richtige Weg, um in der Dritten Welt zu helfen, sind wir der Überzeugung, daß diese Hilfe, die seit mehr als 20 Jahren geleistet wird, mit kleinen, aber sinnvollen und anerkannten Schritten zu einer wesentlichen Verbesserung der Infrastruktur der Länder Afrikas und sonstiger Länder der Dritten Welt beitragen kann. Wir werden demnächst das neue Dreijahresprogramm erörtern, und ich kann nur hoffen, daß es im Interesse der Sache zu einer breiten Übereinstimmung der Fraktionen kommt. Es wäre schön, wenn die GRÜNEN ihre ideologischen
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Dr. RoseScheuklappen ablegen könnten. Denn die Ausstattungshilfe ist ein ideales Programm, mit wenig Mitteln viel zu helfen. Jeder, der einmal im Jahr bei der Ausstattungshilfe-Reise dabei ist — und da sitzen viele Kollegen; es ist also nicht bloß immer der Klaus Rose, der durch die Welt reist,
sondern es sind viele Kollegen, die bei solchen Anlässen dabei sind —, weiß, wie die Ausstattungshilfe geachtet wird, daß sie als wertvoll betrachtet wird, und ich hoffe deshalb sehr, daß wir auch diesen Mitteln unsere Zustimmung geben können.Meine Damen und Herren, auch im Bereich der humanitären Hilfe bleiben wir gefordert. Selbstverständlich könnte man da noch viel mehr machen. Es liegen Anträge, die Mittel für die humanitäre Hilfe aufzustocken, sowohl von den GRÜNEN als auch von der SPD vor, und auch wir sind überzeugt, daß man mehr tun müßte. Aber das Instrument der im Notfall einsetzbaren überplanmäßigen Ausgaben führt uns auf jeden Fall dazu, daß dann, wenn Not am Mann ist, auch die entsprechenden Mittel gegeben werden können, so daß man nicht unbedingt vorher im Haushalt höhere Millionenbeträge einsetzen muß. Wo Not ist, muß geholfen werden. Das ist auch unsere Auffassung. Nur sind die Mittel für den Haushalt 1988 nicht ohne weiteres auszuweiten gewesen.Eines muß man allerdings wissen: Bei der humanitären Hilfe tauchen meistens Länder auf, die plötzlich in Notsituationen kommen, die durch ihr politisches System verursacht sind. Es sind neben Afghanistan, Äthiopien oder Angola eine Reihe anderer Länder, die hauptsächlich wegen marxistischer Systeme in Schwierigkeiten geraten sind. Auch das muß man der Öffentlichkeit sagen, wenn nach Hilfe gerufen wird. Die humanitäre Hilfe wird von uns unabhängig von Schwierigkeiten, die in einem Land auf Grund seines politischen Systems entstehen, gegeben, aber man muß wissen, warum es zu den Flüchtlingsströmen in der Welt kommt, man muß wissen, warum es dazu kommt, daß ein Land überhaupt in Not gerät, und man soll auch wissen, warum die Bundesrepublik Deutschland dann trotzdem hilft.
Ich meine deshalb, wir sollten z. B. von Angola, wo der Herr Bundesaußenminister vor kurzem war, nicht bloß die eine Seite, die Regierungsseite, also die marxistische Seite, sehen, sondern sollten auch die freie Republik Angola sehen. Da übermorgen in Bonn eine Pressekonferenz mit dem Ziel, deren Schicksal darzustellen, stattfindet, meine ich, es wäre schön, wenn unsere Journalisten dorthin genauso eilen würden wie früher zu Vietnam-Terminen oder zu Nicaragua-Sit-ins.
Meine Damen und Herren, jeder weiß, daß die Bundesrepublik Mitglied in zahlreichen internationalen Organisationen ist. Neben der UNO sind dies vor allem die UNESCO und das Internationale Kinderhilfswerk UNICEF. All diese Organisationen leiden unter Finanzproblemen. Uns kann nicht daran liegen, diese Organisationen auszutrocknen, doch ideologischeBocksprünge können wir ebensowenig durchgehen lassen. Die UNESCO scheint ja nun auf einem guten Weg zu sein, wobei ich noch einmal daran erinnern möchte, daß es ohne eine deutliche Haltung der Koalitionsfraktionen und hier auch und ganz besonders der CSU nicht zur Reform und nicht zu einem neuen Generalsekretär gekommen wäre. Vor drei oder vier Jahren haben wir das auch in diesem Hause noch anders beurteilt, und wir können nur dafür dankbar sein, daß mit einem neuen Generalsekretär auch ein neuer Weg auf finanziellem Sektor beschritten wird.
Ein ähnliches Problem taucht ja jetzt bei der UNICEF auf. Mühsam bettelt dieses Kinderhilfswerk um jeden Dollar, bettelt um viele Mark. Der Steuerzahler in der Bundesrepublik gibt derzeit 15,5 Millionen Mark für UNICEF aus. Was aber reitet die Verantwortlichen von UNICEF? Sie vergraulen einen ihrer spendenträchtigsten Sonderbotschafter und jammern über entgangene Einnahmen.
Es geht heute nicht um die Tennisleistungen von Boris Becker. Darüber will ich gar nicht reden. Wer ihn aber nicht mehr als UNICEF-Botschafter will, weil er vor vielen Jahren als unpolitischer Jüngling in Südafrika Tennis spielte,
der braucht eigentlich auch nicht den deutschen Steuerzahler zu bemühen.
Ich gebe auch Steffi Graf recht, wenn sie sich jeglicher politischer Bewertung künftiger Tennisspiele mit Südafrikanerinnen enthielt. Hier schlägt nämlich Ideologie in Blindheit um, und das ist dann genauso wie bei dem berühmten Siegerpferd, das in Neuseeland einen Preis nach dem anderen einritt und dann plötzlich aus dem Verkehr gezogen wurde, weil sich herausgestellt hatte, daß das arme Pferd in Südafrika geboren war.
Südafrika ist offensichtlich überhaupt das Hauptreizwort der deutschen Politik, zumindest der deutschen Außenpolitik. Doch alles kommt sowieso in Bewegung: Der Herr Bundeskanzler reiste nach Mosambik, und Strauß wird es ebenfalls tun. Der Herr Genscher hat Angola besucht, vielleicht wird er demnächst auch Südafrika besuchen. Der Vorsitzende der Nord-Süd-Kommission war überall, vielleicht noch nicht in Südafrika. Aber vielleicht kommt er auch dorthin.
Man merkt: Alles ist in Bewegung. Die alten Griechen hätten gesagt: Panta rhei.
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Dr. RoseIch finde es gut, daß alles im Fluß ist, weil dadurch auch die unterschiedlichsten Gruppen miteinander reden und dadurch vielleicht auch, so wie wir einmal eine neue Ostpolitik hatten, eine neue Südpolitik entstehen kann, die zum Nutzen der Menschen in der ganzen Welt sein kann.
Denn zahlreiche neue politische Kräfte sind dort entstanden. Der Gegenpol, den manche immer noch sehen — hier sind die bösen Buren, und da ist der fortschrittliche und menschliche ANC — , ist längst verschwunden. Es gibt eine Reihe neuer Kräfte, mit denen man reden sollte. Diese neuen Kräfte sind auch aufgerufen, zum friedlichen Prozeß in Südafrika beizutragen. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll, daß ein deutscher Lehrer an einer Auslandsschule in Südafrika Bedenken hatte, ob er damit der Apartheid hilft oder ob er nicht vielleicht doch eine vernünftige Kooperation durchführt, die auch den Schwarzen helfen soll. Ich bin dankbar, daß vom Jahre 1988 an, z. B. in der deutschen Schule in Kapstadt, Programme für nichtweiße Schüler entwickelt werden und damit der gemischt-rassige Prozeß auch auf diese Weise unterstützt wird.
Meine Damen und Herren, wir haben das Programm südliches Afrika deshalb nochmals aufgestockt. Aber ich möchte folgendes sagen: Wenn wir dankbar und stolz sind, daß Goethe-Institute inzwischen nicht bloß in Bukarest, sondern auch in Budapest oder in Peking sind, wenn wir damit rechnen können, daß Goethe-Institute in Prag oder Warschau eröffnet werden, dann frage ich, was denn daran verkehrt sein soll, daß deutsche Schulen oder GoetheInstitute auch im südlichen Afrika sind.
Wir sollten diese Scheuklappen ablegen, wir sollten uns nicht scheuen, überall hinzufahren und damit auch zu zeigen, daß wir Außenpolitik zu machen verstehen, indem wir mit den Leuten und nicht übereinander reden und niemanden aussparen, der nach irgendeinem Lehrbuch, das Sie irgendwo gelesen haben, vielleicht nicht in Ihr Konzept paßt.Ich meine, die deutsche Außenpolitik ist auch auf Grund des Haushalts 1988 auf einem guten Weg. Die Änderungsanträge, die von den GRÜNEN gestellt worden sind, überzeugen nicht. Ich meine, die CDU/ CSU kann dem Haushalt zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Voigt .
Herr Rose, Ihre Bemerkungen zu Südafrika waren ausführlich. Aber das, was Sie möglicherweise als Humor verstanden haben, war angesichts der Realität des Rassismus, der Unterdrückung und der Morde durch die staatliche Seite unangemessen, falsch und meiner Meinung nach beschämend.
Sie sind Mitglied im Haushaltsausschuß, Sie sind hier Sprecher für die CDU/CSU. Sie haben kein Wort zu dem Gesetz über den auswärtigen Dienst gesagt. Das erfüllt mich mit Sorge. Dieses Gesetz ist immer wieder verzögert worden. Es zeichnet sich ab, daß der Bundesaußenminister, der auf unser Drängen jetzt zugesagt hat, daß die Regierung ein solches Gesetz vorlegen werde, wieder einmal nicht damit rechnen kann, daß er für die gesamte Koalition spricht, sondern daß hier Vertreter aus der CDU/CSU so etwas sabotieren. Das bestärkt uns in unserer Absicht, durch Drängen, durch parlamentarische Initiativen und auch durch die Diskussion in der nächsten Sitzung des Auswärtigen Ausschusses endlich eine Vorlage der Bundesregierung in diesem Bereich zugunsten der Beschäftigten im auswärtigen Dienst zu verlangen.
Das Wichtigste, was in der Außenpolitik in den nächsten Wochen bevorsteht, wird das Gipfeltreffen zwischen den beiden führenden Männern der USA und der Sowjetunion sein. Wir sehen in diesem Treffen und den Fortschritten in der Zusammenarbeit zwischen den USA und der Sowjetunion eine große Chance für die Verwirklichung auch spezifisch europäischer Interessen. Wir sehen Chancen dafür, daß das, was wir lange Zeit gefordert haben, nämlich eine zweite Phase der Entspannungspolitik, jetzt auch zu einer Politik werden könnte, der sich die USA zwar nicht insgesamt anschließen, aber der sie doch in weiten Teilen zu folgen bereit sind. Wir Sozialdemokraten haben in einer Phase, als die USA und die Sowjetunion zunehmend in Widerspruch und Spannung zueinander gerieten, versucht, die Ergebnisse der ersten Phase der Entspannungspolitik zu retten. Wir gerieten damals in Widerspruch zu der Reagan-Administration, weil sich diese nicht genug um Abrüstungsschritte bemühte.
Heute geraten Teile der CDU/CSU mit der Reagan-Administration in Konflikt, weil sich USA und Sowjetunion auf Abrüstungsschritte einigen.
Dieser Gegensatz im Verhalten ist Ausdruck der unterschiedlichen Natur unserer Parteien. Wir Sozialdemokraten hatten innerparteiliche Schwierigkeiten beim Beginn der Stationierung. Die CDU/CSU hat innerparteiliche Schwierigkeiten bis zum Rücktritt ihres „abrüstungspolitischen Sprechers" — so hieß er ja — Todenhöfer beim Beginn von abrüstungspolitischen Vereinbarungen. Im Gegensatz zur CDU/CSU begrüßen wir die doppelte Null-Lösung ohne Vorbehalte und auch ohne Hintergedanken. Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner hat noch vor wenigen Tagen vor dem Reservistenverband gesagt: Die Abschaffung der nuklearen Mittelstreckenwaffen er-
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Voigt
höht die Gefahr. — Er hat Angst vor nuklearer Abrüstung.
— Sie können hier nachher endlich einmal Ihre Haltung klarstellen, ob Sie wieder einmal einer neuen Nachrüstung das Wort reden, so wie Sie damals eigentlich schon gegen den Doppelbeschluß waren,
weil Sie fürchteten, er könne in Abrüstung enden, oder ob Sie endlich einmal bereit sind, ohne Wenn und Aber
die doppelte Null-Lösung zu unterstützen. Und wenn Sie sie aus sicherheitspolitischen Gründen bejahen, Herr Wörner, dann müßten Sie auch dafür sorgen, daß nicht jetzt in der NATO weiter über eine Kompensation durch die Stationierung von FB-111-Bombern und F-15- oder F-16-Bombern oder zusätzlichen anderen nuklearen Bomben und Raketen nachgedacht wird.
Entweder haben Sie den Mut, zu sagen: Ich stehe zur doppelten Null-Lösung, weil sie den sicherheitspolitischen Interessen des Westens nützt. Aber wenn sie ihnen nützt, dann brauchen wir doch keine Nachrüstung und keine Kompensation auf der anderen Seite, weder bei den größeren noch bei den kürzeren Reichweiten.
Oder sie nützt den sicherheitspolitischen Interessen des Westens nicht, so wie Sie es dort gesagt haben. Dann sollten Sie sich hier hinstellen und sagen: Ich als Verteidigungsminister kann die Verantwortung nicht übernehmen; ich trete zurück. Aber dieses Geeiere, daß einerseits der Bundesaußenminister immer sagt, wie löblich und schön das immer sei, und daß Sie dann zu diesen NATO-Treffen fahren und immer schon dabei sind, wenn die neue Nachrüstung vorbereitet wird, dieser Widerspruch ist kein Ausdruck konzeptioneller Einheit, dieser Widerspruch ist kein dialektischer Widerspruch; er ist ausschließlich Ausdruck von Konzeptionslosigkeit und Handlungsunfähigkeit.
Ich glaube, es geht jetzt darum, daß wir nicht neue Aufrüstung vorbereiten, während dieser Vertrag, der ein erster Schritt zur Abrüstung ist, noch nicht einmal unterzeichnet ist. Es geht darum, daß wir die folgenden Schritte der Abrüstung sowohl bei den interkontinentalen Systemen wie auch bei den kürzeren Reichweiten — den Kurzstreckensystemen und den Gefechtsfeldwaffen — , bei konventionellen und bei chemischen Waffen konzeptionell vorbereiten.Herr Dregger und Herr Rühe haben hier immer gesagt — übrigens zu Recht — : Die Abrüstung darf nach der doppelten Null-Lösung nicht enden; da darf es keine Brandmauer geben. Ich teile diese Auffassung.Das entspricht den deutschen Interessen. Doch wo sind Ihre Vorschläge für die Abrüstung in diesem Bereich? Ich warte darauf. Ein Appell an die Sowjetunion, etwas zu tun, ist noch kein abrüstungspolitisches Konzept. Sie haben doch selber immer gesagt: Man kann nicht allein durch einseitige Gesten etwas lösen; man muß erst etwas in Verträge gießen, damit es völkerrechtlich verbindlich ist. Das sind doch die Aussagen aus den vergangenen Jahren. Das damalige Argument, daß jede Seite es revidieren kann, wenn es nicht völkerrechtlich verbindlich ist, ist wirklich gültig. Also wo sind da Ihre Vorschläge für Verhandlungen und Verhandlungsergebnisse in diesem Bereich?Ich glaube, es geht hier darum, ein Konzept zur Abrüstung — konventionell und nuklear für die kürzeren Reichweiten — vorzulegen. Ich habe einen Vorschlag. Sie sollten sich auch heute festlegen. Das sollten Sie heute auch sagen. Sonst dürfen Sie sich nicht wundern, wenn wir Ihnen vorwerfen, daß Sie hier in Wirklichkeit eine neue Aufrüstung vorbereiten. Sie sollten heute klar sagen: Eine Nachrüstung im Bereich der Raketen unter 500 Kilometer gibt es für uns nicht. Eine solche klare Aussage von Ihrer Seite vermisse ich bisher. Sie wissen genau, daß im westlichen Bündnis die Absicht besteht, die Lance-Raketen mit größerer Reichweite in größerer Stückzahl bei uns zu stationieren. Diese Debatte ist eine Möglichkeit, klar zu sagen: Wir als Koalitionsfraktionen — das wären dann Sie — sagen kategorisch nein. Wie Jochen Vogel vorhin gesagt hat, gäbe das eine Möglichkeit zu neuen Gemeinsamkeiten. Oder aber Sie entwickeln andere Konzepte der Abrüstung, z. B. den Vorschlag für eine dritte Null-Lösung als Einstieg für den Reichweitenbereich zwischen 150 und 500 km. Dies vielleicht, weil dort überwiegend Raketen mit einer Reichweite sind, von denen der Westen bisher so gut wie nichts hat, wo die Sowjetunion tatsächlich asymmetrisch abrüsten müßte.Dafür muß man dann auch ein solches Verhandlungskonzept vorlegen. Man kann nicht sagen, daß man das gemeinsam mit der konventionellen Abrüstung verhandeln will, wenn man weiß, daß der eigene Bündnispartner, die Franzosen, bezüglich der Wiener Verhandlungen, die jetzt im nächsten Jahr beginnen sollen, gesagt haben: Wenn bei diesen Wiener Verhandlungen über nukleare Abrüstung gesprochen wird, dann steigen wir aus. Bei dieser Realität, die nicht ein Teil der Problematik zwischen Ost und West, sondern ein Teil der Problematik innerhalb des Westens ist, müßten Sie Konsequenzen ziehen, entweder indem Sie die Franzosen zur Meinungswende bekehren, oder aber indem Sie sagen: Wir machen daneben ein paralleles Verhandlungsforum auf, wir als CDU/CSU, als Bundesregierung fordern das. Ich habe so etwas von Ihnen bisher nicht gehört. Ich bin gespannt, was der Herr Bundesaußenminister nachher dazu sagen kann.Wenn Raketen mit dieser Reichweite dann in Ost und West wegverhandelt worden sind, dann kommt tatsächlich unser Vorschlag für einen atomwaffenfreien Korridor zum Tragen, weil dort schon von der Kategorie der Atomwaffen und ihrer Trägersysteme her zwischen nuklearen und konventionellen Waffen
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gar nicht unterschieden werden kann. Wenn man dort einen nuklearwaffenfreien Korridor vereinbart, dann muß man tatsächlich auch Schritte in Richtung auf eine beiderseitige strukturelle Nichtangriffsfähigkeit machen. Das ist auch unser Ziel.Nun hat es in den letzen Tagen eine Diskussion über die europäischen Interessen innerhalb der NATO gegeben. Ich möchte ausdrücklich der britischen Premierministerin widersprechen, die behauptet hat, daß eine engere Koordinierung der westeuropäischen Interessen innerhalb der NATO der NATO insgesamt und den transatlantischen Beziehungen insbesondere schaden würde. Das ist nicht wahr. Ein wachsendes Selbstbewußtsein, eine wachsende Zusammenarbeit innerhalb Westeuropas und eine größere Gleichberechtigung der Westeuropäer innerhalb der NATO sind Voraussetzungen für eine Gesundung des transatlantischen Verhältnisses. Ein europäischer Pfeiler ist also nötig, um die NATO auch auf Dauer in ihrem Verhältnis zwischen den USA und Westeuropa zu stabilisieren. Ich möchte der britischen Ministerpräsidentin ausdrücklich widersprechen. Ich glaube, dieses Signal sollten wir gemeinsam von dieser Debatte aus in Richtung London senden.
Andererseits möchte ich den GRÜNEN widersprechen, die glauben, eine solche westeuropäische sicherheitspolitische Kooperation und Integration sei im Widerspruch zu einer gesamteuropäischen Entmilitarisierung.
Das ist falsch. Im Gegenteil: Auf der Grundlage einer sicherheits- und abrüstungspolitischen Zusammenarbeit in Westeuropa kann Westeuropa selbstbewußter, gleichberechtigter
auch mutige Schritte der Entspannungspolitik innerhalb des Westens formulieren und gemeinsam gegenüber Osteuropa initiativ werden.
Die westeuropäische Kooperation und Integration auch im militärischen Bereich sind kein Widerspruch zu dem Ziel der gesamteuropäischen Entmilitarisierung des Ost-West-Konflikts und der Entspannungspolitik, so wie wir sie wünschen.Es geht nicht, wie Sie meinen, um eine westeuropäische Nuklearstreitmacht. Da sind wir dagegen. Deshalb glauben wir, solange Nuklearwaffen im Ost-West-Konflikt noch eine Rolle spielen, so lange bleiben wir in dieser Beziehung abhängig von den Vereinigten Staaten. Ich bin ausdrücklich der Meinung — wir Sozialdemokraten insgesamt —, daß wir uns gegen jede Tendenz wenden sollten, die französischen und britischen Nuklearwaffen in eine europäische Nuklearstreitmacht umzuwandeln.
Im Gegenteil: Uns geht es darum, daß der jetzige Zustand der französischen Kurzstreckenraketen, der sogenannten prästrategischen Waffen, der ja unsere spezifischen Interessen betrifft, geändert wird. Als Herr Präsident Mitterrand hier war, hat er einen wichtigen Hinweis in diese Richtung gegeben. Ich glaube, wir sollten hier sagen: Wir Sozialdemokraten sind der Meinung, ihr Franzosen tut dem deutsch-französischen Verhältnis keinen Gefallen, ihr schadet dem deutsch-französischen Verhältnis, ihr könnt ihm aber nutzen, wenn ihr diesen Zustand ändert; die jetzige Stationierung von Pluton, die spätere Stationierung von Hades ist nicht unseren Interessen gemäß; schafft diese Waffen weg!
Ich glaube, der Präsident der Französischen Republik hat recht, wenn er sagt, daß Abschreckungswaffen nicht potentielle Freunde und Verbündete bedrohen dürfen. Deshalb, glaube ich, sollte man daraus nicht nur in der Deklaration, sondern auch in der eigenen Strategie und in den Beschaffungsprogrammen Konsequenzen ziehen. Deshalb müssen diese prästrategischen Waffen weg; sie sind ein Hindernis für eine Vertiefung der Zusammenarbeit, auch in sicherheitspolitischen und militärischen Fragen in Europa, die wir im konventionellen Bereich insbesondere zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich wünschen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, darf ich am Schluß meiner Ausführungen noch etwas zu dem sagen, was Bundeskanzler Kohl heute morgen bereits ausgeführt hat und worauf Herr Rose auch noch einmal eingegangen ist, nämlich zur Afrikapolitik der Bundesregierung?Es ist zwar nett, daß der Bundeskanzler dort hingefahren ist. Das finde ich gut: Reisen bildet — kann man wenigstens hoffen.
Aber, Herr Bundeskanzler, es ist beschämend, daß Sie zwar nach Mosambik gefahren sind und sagen, wir sind bereit, an Mosambik bestimmte Hilfen zu zahlen, daß Sie aber nicht bereit sind, die Destabilisierungspolitik Südafrikas in Angola zu verurteilen. Herr Rose hat dort in bezug auf den unter dem Einfluß der Unita stehenden Bereich sogar von der freien Republik Angola gesprochen. Das ist eine Destabilisierungspolitik, die die Republik Südafrika dort betreibt.
Selbstverständlich müssen wir uns auch dagegen wenden, und selbstverständlich hat nicht nur Mosambik, sondern auch Angola die Wiederaufnahme der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit verdient.
Eine Reise nach Mosambik, sosehr sie bildet, sosehr sie zu Erkenntnissen und Einsichten führt, ist kein Ersatz für eine klare Politik gegenüber dem Apartheid-Regime.
Das Apartheid-Regime muß weg. Die Bundesregierung müßte sich den Sanktionen, die in den Vereinten
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Voigt
Nationen gefordert worden sind anschließen. Sie sollte dort anders abstimmen. Sie sollte in den Vereinten Nationen nicht weiter der treueste Verbündete des südafrikanischen Rassistenregimes sein. Die Bundesregierung sollte den Mut haben, zumindest die Sanktionen zu unterstützen, die der amerikanische Kongreß für sich, für die Vereinigten Staaten selber, begrüßt und beschlossen hat.Solange die Bundesregierung nicht bereit ist, in diesem Bereich aus der allgemeinen verbalen Kritik am Apartheid-Regime konkrete Konsequenzen zu ziehen in bezug auf Sanktionen und in bezug auf die Aufnahme formeller Beziehungen und Kontakte mit dem ANC, so lange glaube ich, daß es eine allgemeine, verwaschene Rhetorik bleibt, die dazu führt, daß einerseits zwar Strauß ein bißchen murrt, sich aber auch noch ein bißchen in dem repräsentiert fühlen kann, was der Entwicklungshilfeminister Klein sagt, und daß andererseits die FDP sagen kann: Eigentlich meinen wir, das, was der Bundeskanzler gesagt hat oder gesagt haben könnte — seine Äußerungen sind ja immer vielfältig interpretierbar — , könnte auch den Vorstellungen der FDP entsprechen.Diese Ambivalenz, diese Vieldeutigkeit, diese Nebulosität auch während der Reise des Bundeskanzlers nach Afrika ist kein Ersatz für ein gemeinsames Konzept. Hier heißt es, sich zu entscheiden, hier heißt es, Farbe zu bekennen, und hier heißt es, daraus praktische Konsequenzen zu ziehen. Ich glaube, daß die Konsequenzen noch ausstehen.Ich halte es auch nicht für ganz zufällig — vielleicht sagt der Bundesaußenminister nachher dazu noch etwas —, daß die früher so bekannten und berühmten Namibia-Initiativen, zu denen er sich auch hier im Parlament mehrfach bekannt hat, inzwischen sanft entschlummert sind, daß aber Namibia im Rahmen der Beschlüsse der Vereinten Nationen noch immer nicht selbständig geworden ist und daß die Bundesregierung in diesem Zusammenhang auch nichts Konstruktives mehr getan hat. Im Gegenteil: Der Entwicklungshilfeminister Klein hat sogar für die Aufnahme der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit Namibia, das letzten Endes noch unter Kolonialstatus steht, plädiert. Dies halte ich für einen untragbaren Zustand.
Gerade angesichts der deutschen rassistischen Vergangenheit muß gegenüber Südafrika klar Position bekannt werden.
Zu den neckischen Bemerkungen von Herrn Rose am Anfang über Sportler und Nichtsportler: Ich glaube, daß man deutschen Sportlern sagen muß: Bundesdeutsche Sportler gehören nicht in eine sportpolitische Zusammenarbeit nach Südafrika.
Dies ist nicht eine Absage an die sportpolitische Zusammenarbeit, sondern es gibt bei dieser Frage, bei der Frage der Zusammenarbeit auch im sportlichen Bereich mit Südafrika, auch moralische Kategorien. Sport ist ein Element der Völkerverständigung, und Sportzusammenarbeit darf nicht einer Legitimierung von Regimen oder einer Zusammenarbeit mit Regimen dienen, die vom Rassismus geprägt sind.
— Vielen Dank für den Zwischenruf. Ich sage Ihnen bei aller Kritik an der Sowjetunion, die ich übrigens im Gegensatz zum Herrn Bundeskanzler nicht damit beleidige, daß ich Goebbels und Gorbatschow miteinander vergleiche — das lasse ich jetzt mal weg — , vergleiche ich die Sowjetunion nicht mit dem Rassisten-regime in Südafrika; denn dies ist das einzige Regime, wo sich Leute aufgrund ihrer Hautfarbe und ihrer Rasse nicht gleichberechtigt an dem Staatswesen beteiligen dürfen.
Wer diesen Unterschied zwischen dem Prinzip, auf dem das Apartheid-Regime beruht, und unserer Kritik an anderen Diktaturen in der Welt, Ost wie West, nicht begreift, der hat die deutsche Geschichte nicht begriffen. Das muß ich sagen.
Insofern beweisen Ihre Zwischenrufe, daß der Ungeist, der zu Ihrem Vergleich zwischen Goebbels und Gorbatschow geführt hat, bei Ihnen eigentlich immer noch nicht ausgeräumt ist. Sie müssen noch ein bißchen geschichtlichen Nachhilfeunterricht nehmen. Eine solche historische Diskussion, wie sie jetzt in der Sowjetunion mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte stattfindet, täte Ihnen auch ganz gut.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die SPD bereitet eine zweite Phase der Entspannungspolitik vor. Wir sind froh, daß die FDP und Teile der CDU/ CSU mit uns in dieser Frage einen gemeinsamen Weg gehen wollen. Wir wollen eine zunehmende Entmilitarisierung des Systemgegensatzes zwischen Ost und West. Schritte in diese Richtung sind nur möglich, wenn man die Sowjetunion in ihrem neuen Denken testet. Es geht darum, konstruktive Gegenvorschläge zu machen. Die stehen bisher aus. Die fordern wir. Wir haben sie vorgelegt.Vielen Dank.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir als einer der mittlerweile wohl dienstältesten Parlamentarierinnen in unserer jungen Demokratie, daß ich noch mal auf den erregenden Schlagabtausch zurückkomme, der zwischen Rednerinnen der SPD und dem
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2751
Frau Dr. Hamm-BrücherHerrn Bundesfinanzminister Stoltenberg stattgefunden hat.
— Herr Kollege, ich will das gleich begründen. So gut ich diese Empörung verstehe, Frau Simonis, habe ich irgendwie auch verstanden, daß sich Herr Stoltenberg, an dessen Honorigkeit bei uns allen wohl gar kein Zweifel besteht, auch verletzt fühlt.
Darum meine ich, daß wir allen Anlaß haben, auch hier im Plenum des Deutschen Bundestages etwas behutsamer mit diesem zerbrechlichen Instrument unserer demokratischen Kultur umzugehen. Wenn wir diese schrecklichen Ereignisse hier bedenken, sollten wir ein bißchen mehr nach vorn schauen. Wir müssen doch — da wird mir angst und bange — demnächst einen Wahlkampf in Schleswig-Holstein führen. Wie wir diesen Wahlkampf führen und wie wir uns hier ohne Schiedsrichter, Pfarrer und Bischöfe auf einen fairen Umgang miteinander verständigen, wird entscheidend für die weitere Entwicklung, für die Glaubwürdigkeit und das Ansehen unserer Demokratie sein. Darum möchte ich wirklich an uns alle appellieren, daß wir alle ein paar Konsequenzen ziehen: In Amtsstuben haben Wahlkampfvorbereitungen nichts zu suchen, wer auch immer, wo auch immer, wann auch immer. Das muß doch eine Bilanz sein. Wahlkämpfe müssen kürzer sein, müssen sparsamer sein und müssen, meine Damen und Herren, um die Sache gehen und nicht in dubioser Weise Menschen beschädigen.
Das ist das Wichtige, worüber wir reden müßten, und wir sollten nicht neue Wunden und neue Verletzungen schaffen
— gern, Frau Kollegin, sofort —, die wir uns in unserer demokratischen Situation nicht leisten können und nicht leisten sollen. Zu dieser gemeinsamen Verantwortung möchte ich hier am Beginn meiner Ausführungen doch noch einmal ein sehr nachdrückliches Wort sprechen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte schön, Frau Matthäus-Maier.
Frau Hamm-Brücher, meinen Sie nicht, daß es unserer zerbrechlichen Demokratie — das waren Ihre Worte — und dem politischen Stil besser helfen würde, wenn Herr Stoltenberg, der Landesvorsitzender der CDU in Schleswig-Holstein ist, sich für den CDU-Wahlkampf dort schlicht und einfach hier entschuldigen würde? Um mehr ging es nicht.
Frau Kollegin, ich gebe Ihnen recht, daß wir alle viel öfter bereit sein sollten, uns für das eine oder andere bei jemandem zu entschuldigen. Das gilt auch in diesem Falle. Aber ich verstehe andererseits, daß das, wenn man es hier so lauthals fordert, nicht so gut gelingt, wie es Herrn Stoltenberg, wie ich sehr hoffe, bei geeigneter Gelegenheit doch noch gelingen wird.
Nun zum Haushalt des Auswärtigen Amtes, meine Damen und Herren. Ich wollte eigentlich nur auf Probleme eingehen, die mit dem Haushalt direkt zu tun haben. Aber nach Ihren Bemerkungen zur Afrikapolitik, Herr Kollege Voigt, möchte ich doch einmal ganz nachdrücklich sagen: Ihre Bemerkung, daß die Bundesrepublik Deutschland in den Vereinten Nationen zu den treuesten Verbündeten des rassistischen Systems gehört, ist einfach völlig abwegig und stimmt in keiner Weise mit den Realitäten überein.
Wir haben in der westlichen Fünfergruppe des Sicherheitsrates und auch als wir nicht mehr im Sicherheitsrat waren, alles getan, um eine friedliche Lösung in Namibia herbeizuführen. Wir werden das auch weiterhin so halten. Wir haben die Übergangsregierung nicht anerkannt, Herr Voigt. Ihre Bemerkungen dienen nicht der Auseinandersetzung, sondern sind reine Polemik. Entschuldigen Sie, daß ich das hier so deutlich sage.
Ich möchte hinzufügen, daß es die FDP außerordentlich begrüßt, daß die Afrikapolitik, die seitens der Liberalen und ihres Außenministers seit eh und je verfolgt wird, durch die Reisen des Bundeskanzlers und durch die Reisen des Außenministers nur bekräftigt und unterstützt wird. Daß eine Botschafterkonferenz in Dakar im Senegal vorgeschaltet war, war eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Verlauf dieser Reisen.
Für die FDP ist in der Afrikapolitik Kontinuität angesagt. Ich darf das sehr nachdrücklich sagen. Wir berufen uns ausdrücklich auf die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD zur Afrikapolitik aus dem Jahre 1983. Wir begrüßen es außerordentlich, daß der Herr Bundeskanzler unter dem Eindruck, den er in den besuchten Ländern gewonnen hat, die Bereitschaft bekräftigt hat, Unterstützung zu leisten, damit alle an einem — notwendigen — Friedensprozeß beteiligten Parteien ins Gespräch kommen. Wir schließen hier ausdrücklich, meine Kollegen von der CDU/CSU, den ANC ein, weil er eine schwarze Mehrheit vertritt, die man aus diesen Gesprächen einfach nicht ausschließen kann.
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2752 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Frau Dr. Hamm-BrücherLassen Sie mich eines noch hinzufügen, meine Damen und Herren: Nach diesen Reisen stehen wir im Wort, wir, einer der wirtschaftlich stärksten Staaten der Welt. Wir stehen gegenüber diesem ärmsten, am wenigsten begünstigten und in künstliche Staaten zerrissenen Kontinent im Wort. Ich glaube, das war der Haupteindruck, den Sie, Herr Bundeskanzler, mitgebracht haben. Wir müssen diesem Kontinent verstärkt zur Selbsthilfe verhelfen. Das ist sehr viel schwieriger als die Formel von der Hilfe zur Selbsthilfe. Die Hilfe zur Selbsthilfe hat in den letzten 25 Jahren in den allermeisten Fällen deshalb nichts genützt oder nicht ausreichend genützt, weil die Befähigung zur Selbsthilfe in diesem Teil der sich entwikkelnden Welt noch nicht genügend vorhanden ist. Das zu aktivieren, das ist die Aufgabe unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Wir müssen uns beim Wort nehmen lassen, und wir müssen Taten folgen lassen.Meine Damen und Herren, wir Liberalen werden niemals schweigen zu den schrecklichen Menschenrechtsverletzungen in Südafrika. Und auch wir sagen: Apartheid läßt sich nicht reformieren, Apartheid muß abgeschafft werden. Ich möchte das hier noch einmal nachdrücklich sagen.
So wichtig die eine oder andere Verbesserung ist: Am Ende läßt sich dieses System nicht verbessern, sondern nur überwinden. Und dabei kann man auch nicht neutral sein. Ich sehe nicht, wo die Bundesrepublik hier neutral sein und bleiben kann.
Das heißt natürlich stärkeren Druck auf Südafrika,
und das heißt natürlich, sich doch noch Gedanken darüber machen, ob die Linie der Vereinigten Staaten in punkto Sanktionen nicht auch von der Europäischen Gemeinschaft in der gleichen Richtung intensiver verfolgt werden müßte.
Nun aber zu zwei Bereichen im Zusammenhang mit dem Haushalt, Herr Bundesaußenminister: Rund 40 % Ihres Etats gehen in den Bereich der auswärtigen Kulturpolitik. Trotz aller Bemühungen Ihres Hauses und auch bei Anerkennung der Haushaltslage müssen wir feststellen, daß es in diesem Bereich alles andere als rosig aussieht.Eines der wichtigsten Instrumente unserer Kulturarbeit sind unsere Auslandsschulen, Herr Minister und meine Damen und Herren. Wir müssen immer wieder feststellen, daß die Lehrerversorgung quantitativ, aber leider auch qualitativ, einfach nicht ausreichend gewährleistet ist, so daß die Idee, die wir mit diesen Schulen verbinden, die wir auch im Bericht der Enquete-Kommission des Bundestages besonders unterstrichen haben, die Idee der Begegnung junger Menschen in einer deutschen Schule, der Begegnung mit Land und Leuten, mit Kultur und Sprache des Gastlandes irgendwie verkümmert. Wir hätten die Aufgabe, dieses Instrument Begegnungsschulen wieder zu aktivieren, um es zu einem Pfeiler der internationalen Zusammenarbeit und der Verständigung zu machen.Sogar innerhalb der Schulen, meine Damen und Herren, kommt es oft nicht zu der notwendigen Begegnung zwischen deutschen Lehrern und einheimischen Ortskräften, zwischen deutschen Kindern und ausländischen Kindern. Da brauchen Sie nur einmal nach Athen zu fahren. Da können Sie das schon sehen, weil die deutschen Kinder mit den griechischen Kindern derselben Schule so gut wie überhaupt keinen Kontakt haben. Das finden wir schade, meine Damen und Herren, weil uns diese Schulen am Herzen liegen müssen, wenn mit der jungen Generation ein friedlicheres Zusammenleben zwischen Völkern und Kulturen möglich sein soll.
Goethe-Institut: Quantitativ eine durchaus positive, eindrucksvolle Expansion. Aber ich muß hier dem Herrn Finanzminister — oder seinem Staatssekretär — wirklich einmal sagen: 1 % Programmittelkürzung bei Goethe-Instituten schlägt so voll durch auf die Programmarbeit, daß wir das in Zukunft einfach nicht mehr so mit dem Rasenmäher machen dürfen,
wenn die Programmarbeit der Goethe-Institute gewährleistet sein soll.Ich bin ein frei gewähltes Mitglied des Goethe-Instituts und nicht von der Fraktion entsandt. Deshalb erlaube ich mir die Warnung vor einer Expansion unserer Goethe-Institute, an deren Ende mehr Schein als Sein steht.Ich will das belegen: Wenn wir in Peking ein Goethe-Institut errichten — und wir freuen uns, daß dies gelingen wird — , genügt es eben nicht, drei entsandte Kräfte aus München hinzuschicken, dann brauchen wir Ortskräfte, dann brauchen wir vor Ort Mitarbeiter für dieses Institut. Und die haben wir nicht. Die stehen nicht im Haushalt.Wir haben in Afrika, Herr Bundeskanzler, GoetheInstitute, die fast alle nur Ein-Mann-Institute sind. Das heißt, da ist ein einziger entsandter Mitarbeiter. Wie wollen Sie denn die Kulturarbeit in Schwarzafrika vertiefen, mit einem einzigen Mann, der auch mal in Urlaub gehen muß, der auch mal krank ist, der auch mal ins Land reisen muß?
In den USA ist es um unsere Goethe-Institute ganz genauso arg bestellt. Da haben wir neue Goethe-Institute gegründet, die Bereiche abdecken sollen, die größer als die Bundesrepublik Deutschland sind, manchmal mit über hundert Colleges, in denen Deutschunterricht erteilt werden soll. Da sind dann ein oder zwei Leute, die diese Arbeit im Dienste unserer deutschamerikanischen kulturellen Zusammenarbeit leisten sollen. Das meine ich, wenn ich sage: Ich warne davor, immer wieder Goethe-Institute zu gründen, ohne die erforderlichen Personalstellen und die Programmittel
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Frau Dr. Hamm-Brücherzur Verfügung zu stellen. Das schadet unserem Ansehen eher, als daß es ihm nützt.
Ein dritter Punkt zur Kulturarbeit: Meine Damen und Herren, in bezug auf die Länder der Dritten Welt haben wir ein einziges Instrument, mit dem wir konstruktive kulturelle Förderung leisten können. Das ist der Kulturhilfefonds. Wir haben ihn mit gemeinsamen Anstrengungen von 2,5 auf 2,6 Millionen DM erhöht. Es liegen entscheidungsreife und förderungswürdige Projekte, die mindestens die doppelte Höhe an Mitteln benötigen, vor. Ich bitte Sie, Herr Bundesaußenminister, für den nächsten Haushaltsplan, dieses Instrument wirklich so auszustatten und so auszubauen, daß wir die kostbaren Kulturgüter, die in weiten Teilen der Dritten Welt verlorengehen, kaputtgehen und nie wieder reparabel sind, rechtzeitig mit unserer Hilfe — das sind immer ganz geringe Mittel — doch noch retten können. Dies ist ein Instrument, wie ich mir Kulturbeziehungen mit Ländern der Dritten Welt auf partnerschaftlicher Ebene wirklich vorstellen kann.Nun komme ich zur Lage des auswärtigen Dienstes. Das wurde ja, glaube ich, auch von Herrn Voigt reklamiert. Ich will hierzu ebenfalls ein klares Wort sagen, meine Damen und Herren. Wir befassen uns hier im Parlament seit genau 20 Jahren mit den Reformvorstellungen des auswärtigen Dienstes. Es hat eine hervorragend besetzte Kommission gegeben, die Vorschläge gemacht hat, die wir nur teilweise und mühsam und immer hinter der Entwicklung herhinkend dann nachvollzogen haben. Wenn wir eine Bilanz unserer Bemühungen und vieler — immer gemeinsamer, Herr Kollege Voigt — Beratungen im Parlament ziehen, dann geht doch die Bilanz dahin, daß die Ausstattung des auswärtigen Dienstes und die Entscheidungsstrukturen in diesen Jahren mit der Erweiterung und dem Wandel der Aufgaben des zentralen Instruments unserer Außenpolitik eben nicht Schritt gehalten haben. Hier im Parlament haben wir uns bei der Anhörung sehr beeindruckt gezeigt über die erschwerten Lebensverhältnisse der Familien, der Angehörigen und der Kinder unserer Mitarbeiter im auswärtigen Dienst.Deshalb, meine Damen und Herren, sind wir dem Bundeskanzler und der Bundesregierung dankbar, daß eine Grundsatzentscheidung über das Vorhaben eines eigenen Gesetzes für den auswärtigen Dienst gefallen ist. Wir drängen mit Ihnen, Herr Kollege Voigt, daß dieser Gesetzentwurf nun baldmöglichst das Licht der Welt erblickt und wir ihn im nächsten Jahr beraten können. Es geht ja gar nicht darum, hier ein Sondergesetz mit Sonderprivilegien zu schaffen, sondern es geht darum, den veränderten Verhältnissen und Aufgaben besser gerecht zu werden. Wir haben ja Sondergesetze für die Bundesbank, die Bundespost und die Bundesbahn usw. Für den auswärtigen Dienst ist ein solches Gesetz wirklich überfällig.Ich möchte hier nur noch ein Beispiel erwähnen, weil ich mich darum schon während meiner Amtszeit sehr gekümmert habe. Wir müssen den Kindern der Bediensteten nun wirklich mehr helfen. Wir haben uns 1979 dafür eingesetzt, daß endlich eine vernünftige Beihilferegelung für die oft exorbitanten Kosten der Kindergärten im Ausland geschaffen wird. Damals wurden wir informiert, daß das Problem gelöst sei und die Richtlinien aufgelockert worden seien. In diesen Tagen höre ich und hören wir mit Befremden — ich muß Ihnen einmal sagen: mit Empörung — , daß die den Abgeordneten des Deutschen Bundestages mitgeteilte Entscheidung wegen des Widerspruchs des Innenministers wenige Monate später auf der Verwaltungsebene, ohne daß wir informiert worden wären, wieder revidiert wurde, so daß viele Angehörige des auswärtigen Dienstes bis zu 30 000 DM jährlich zusätzlich ohne jede Beihilfe zahlen müssen, um ihre Kinder in einem Kindergarten auf die Schule vorzubereiten.
Das dürfen wir als Parlament nicht zulassen.Zusammenfassend, meine Damen und Herren: Als Abgeordnete und als Fraktion fühlen wir uns für den auswärtigen Dienst und für seine Angehörigen mit verantwortlich.Ich bitte die Bundesregierung, den Herrn Bundeskanzler und den Herrn Außenminister darum, ihrer Verantwortung in ihren Ankündigungen zu entsprechen und uns wirklich Anfang des Jahres diesen Gesetzentwurf vorzulegen.Wir danken allen, die sich so sehr um die Verbesserung der Stellensituation, aber auch der sozialen Lage und der Arbeitssituation der Angehörigen dieses wichtigen Dienstes, der große Leistungen und viele Opfer erbracht hat, bemüht haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Stobbe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Anforderungen, die an die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland in der gegenwärtigen Phase zu stellen sind, richten sich an einen Außenminister, dessen Politik immer wieder im eigenen Regierungslager auf Widerstand stößt. Die Außenpolitik der Bundesregierung wird dadurch entweder widersprüchlich oder verschwommen. Wir Sozialdemokraten müssen diese Situation kritisieren, weil sie den außenpolitischen Interessen des deutschen Volkes nicht dient.Wir haben deshalb Forderungen an den Außenminister: Stellen Sie sicher, Herr Außenminister Genscher, daß die Gunst der Stunde in den Weltmächtebeziehungen von der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition voll genutzt wird, um die Ost-West-Zusammenarbeit auf breitester Ebene neu zu beleben!
Wir glauben, daß Sie das wollen, aber wir fordern mehr: Bringen Sie die Bundesregierung bei der Vorbereitung einer zweiten Phase der Entspannungspolitik in eine Führungsrolle, und setzen Sie sich ins-
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Stobbebesondere gegenüber denjenigen politischen Kräften im Regierungslager durch, deren offen zur Schau getragene Skepsis gegenüber den sich abzeichnenden positiven Veränderungen nur allzu deutlich verrät, daß sie sich in einer einseitig auf westliche Sicherheitsinteressen einigelnden Position wohler fühlen als in der zugegebenermaßen anspruchsvolleren und weitaus mühevolleren Politik der gesamteuropäischen Sicherheit und Zusammenarbeit.Wir Sozialdemokraten möchten gern, Herr Außenminister, daß Sie vor allen Dingen durch ein Vorantreiben der innerwestlichen Diskussion dafür sorgen, daß die konzeptionellen Grundlagen für eine zweite Phase der Entspannungspolitik in unserem eigenen Bündnis auch wirklich abgesichert werden. Wir sehen dort noch große Defizite und intellektuelles Durcheinander. Heute wurden ein paar Beispiele schon genannt. Ich will aus Zeitgründen darauf verzichten, noch weitere zu nennen.Es ist aber die Aufgabe der Bundesregierung, in der Frage der Vorbereitung einer zweiten Phase der Entspannungspolitik mutig voranzugehen, gerade weil der Bundesrepublik Deutschland bei den Aufgaben, die in den Ost-West-Beziehungen vor uns liegen, eine Schlüsselrolle zukommt. Sie stehen in der Verantwortung, Herr Außenminister, den europäischen Nationen und beiden Weltmächten unzweideutig klarzumachen, daß die Bundesregierung Entspannung meint, wenn sie Entspannung sagt. Sie müssen zweifelsfrei klarstellen, daß die Bundesregierung Abrüstung meint, wenn sie dieses Wort benutzt. Deshalb ist es Ihre Pflicht, jenen klar und deutlich zu widersprechen, die dieses Wort zwar auch im Munde führen, aber in Wahrheit Aufrüstung damit meinen.Ich denke, es ist von Ihnen auch zu fordern, daß Sie den BewuBtseinswandel in der Führung der Sowjetunion in all seinen Facetten ausloten, um herauszufinden, welche Chancen er für die gesamteuropäische Sicherheit und Zusammenarbeit konkret bedeuten kann. Ich glaube, daß wir das gemeinsam so sehen. Deshalb stehen Sie aber auch in der Pflicht, jenen im Westen klar und deutlich entgegenzutreten, welche die neue sowjetische Politik zwar verbal begrüßen, deren unüberwindbarer Argwohn aber bestenfalls zu einer Politik des tatenlosen Abwartens führt. Diese Tendenzen gibt es ja leider im Westen.
Denn es wird darauf ankommen, die im östlichen Lager in Gang befindlichen eigenständigen Prozesse durch eine entsprechende Politik des gesamten Westens zu fördern und zu stützen.Das gilt vor allen Dingen für die große Aufgabe, in Europa konventionelle Stabilität und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit herzustellen. Wir müssen die Widersprüche kritisieren, die sich zu diesem Thema innerhalb der Bundesregierung aufgetan haben. Wir fordern Sie auf, mit einer einheitlichen politischen Konzeption der Bundesregierung aufzuwarten, damit wir diese im Deutschen Bundestag diskutieren können; das ist überfällig.Natürlich gibt es zwischen Sicherheit und Abrüstung einen Zusammenhang, der einer ständigen Abwägung bedarf. Von der deutschen Außenpolitik ist zu erwarten, daß sie in der vor uns liegenden Zeit diejenigen Kräfte im westlichen Lager stärkt, die im Interesse des Friedens und vermehrter Sicherheit die Chance zu weiterer Abrüstung auch wirklich nutzen wollen. Das bedeutet, daß Sie als Außenminister der Bundesrepublik Deutschland denen eine eindeutige Absage erteilen müssen, welche die Eliminierung bestimmter militärischer Optionen, die das INF-Abkommen erfreulicherweise mit sich bringen wird, nunmehr mit einer ganzen Batterie von Modernisierungs-, sprich Aufrüstungsvorhaben konventioneller und nuklearer Art kompensieren wollen. Ich will damit ausdrücklich nicht sagen, daß nach Herstellung von konventioneller Stabilität und struktureller Nichtangriffsfähigkeit nicht auch weiterhin Verteidigungsanstrengungen in Europa vonnöten sein werden. Es kann sich durchaus als notwendig erweisen, daß auch über neue und andere Waffen gesprochen werden muß. Aber in den vor uns liegenden Jahren darf der Abrüstung nicht dadurch die Chance verbaut werden, daß wichtige Lösungsoptionen durch die Einführung neuer oder die Modernisierung bestehender Waffensysteme verbaut werden.Ich glaube, Herr Außenminister, daß es auch von Anfang an notwendig ist, daß Sie dem Gerede von der Gefahr einer weiteren Denuklearisierung Europas entgegentreten, das wir jetzt überall hören. Dies ist ein Wort von bestürzender sprachlicher Ungenauigkeit. Käme es in der Zukunft zu einem weiteren oder gar vollständigen Abzug sämtlicher landgestützter amerikanischer Nuklearsysteme, wäre Westeuropa nicht nuklearfrei. Es gäbe dann immer noch die britischen, die französischen wie die seegestützten amerikanischen Nuklearsysteme mit Zielen in Europa.Nun ist es gewiß realistisch, bei der Herstellung von konventioneller Stabilität und struktureller Nichtangriffsfähigkeit mit einem langen Prozeß der Streitkräfteumwandlungen und -reduzierungen zu rechnen. Dabei muß unserer Auffassung nach die nukleare Komponente von Anfang an auch eine Rolle spielen; man kann sie nicht ausschließen. Deswegen steht die deutsche Außenpolitik in diesem Prozeß von Anfang an in der Pflicht, dem klar erkennbaren Versuch einer politischen Tabuisierung der weiteren nuklearen Abrüstung in Europa mit Entschiedenheit entgegenzutreten. Sie müssen im westlichen Bündnis in dieser Frage offen Farbe bekennen; das fordert die SPD.Man kann diese Frage nicht mit einer Heute-neinmorgen-vielleicht-ja-Position angehen, weil das die Verhandlungen in viel zu starkem Maße belasten würde. Selbst wenn Sie die Position einnehmen, daß die Rolle dieser Nuklearsysteme innerhalb der westlichen Verteidigungsstrategie vernünftig ist — Sie wissen, daß die Sozialdemokraten diese Auffassung nicht teilen — , selbst wenn Sie weiterhin zu dieser nuklearen Komponente der westlichen Verteidigungsstrategie stehen, müssen Sie nach unserer Auffassung mit Blick auf die Ost-West-Verhandlungen, die anstehen, eine Haltung vertreten, der zufolge Sie bereit sind, diese nukleare Komponente unserer Verteidigungsstrategie ebenfalls zur Disposition zu stellen. Gerade wenn wir die militärische Fähigkeit des Warschauer Pakts zum Überraschungsangriff und zur raumgrei-
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Stobbefenden Offensive eliminieren wollen, muß klar sein, daß auf westlicher Seite auch die Bereitschaft zu einer Verringerung und zum schließlichen Abbau der landgestützten amerikanischen Nuklearsysteme vorhanden ist. Das ergibt sich aus der Logik des Gedankens, in Europa konventionelle Stabilität herstellen zu wollen. Es kommt dabei auf das Wort „von Anfang an" an.Wir haben als Oppositionspartei eigene Aussagen zu diesem Thema zu einem Zeitpunkt entwickelt, als sich noch niemand in der Bundesregierung von überkommenen Bedrohungsanalysen und einseitigem westlichem Sicherheitsdenken lösen konnte. Wir wären natürlich bereit, die Bundesregierung zu unterstützen, wenn sie sich dem großen Gedanken der gemeinsamen Sicherheit in Europa verschreibt. Das ist ein Ost-West-Thema nicht nur aus dem Bereich der Sicherheitspolitik, sondern der allgemeinen Außenpolitik. Aber wir werden die Bundesregierung und auch ihren Außenminister hart kritisieren, solange die Aussagen der Bundesregierung zu diesem Thema unscharf bleiben und solange wir vermuten müssen, daß sich hinter verschwommenen Formulierungen Kompromisse verbergen, mit denen eine auf ganz andere Ziele gerichtete Politik kaschiert werden soll.Uns wird es dann wichtiger sein, dem deutschen Volk in unserer Rolle als Oppositionspartei klarzumachen, welche Chancen zu vermehrter Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa heute tatsächlich gegeben sind. Wir sind davon überzeugt, daß das deutsche Volk die Nutzung dieser Chancen im Interesse des europäischen Friedens will.Ich möchte in diesem Zusammenhang auch einige Bemerkungen zur Politik der Bundesregierung gegenüber unserem Nachbarn Frankreich machen. Gerade weil wir Sozialdemokraten selbst die Zukunft der europäischen Entspannung und Sicherheit in ganz entscheidendem Maße davon abhängig sehen, ob es den Staaten Westeuropas gelingt, ihre Rolle im Bündnis zu stärken und zunehmend selbst für ihre Verteidigung verantwortlich zu sein, versehen wir die jetzige Politik der Bundesregierung — insbesondere scheint es die des Bundeskanzlers zu sein — mit einer Reihe von Fragezeichen: Dient die jetzige Art der Annäherung in Fragen der Sicherheitspolitik zwischen der Bundesrepublik und Frankreich wirklich einer größeren europäischen Selbstbehauptung? Der Weg zu einer größeren eigenständigen Verantwortung Westeuropas gerade auch in Fragen der Sicherheit kann doch nur bedeuten, daß sich die Staaten Westeuropas so im Rahmen des westlichen Bündnisses organisieren, daß eine Neuordnung im Sinne einer eigenständigeren und gemeinsam verantworteten Sicherheitspolitik möglich ist.Dienen die gemeinsame Brigade und der Sicherheits- und Verteidigungsrat einem solchen Ziel, oder sind sie nicht vielmehr ein Eingehen von unserer Seite auf immer noch sehr enge Definitionen des nationalen französischen Sicherheitsdenkens? Auch der Bundeskanzler hat mit seinen Bemerkungen zu diesem Thema im Grunde genommen Fragen von erheblicher Bedeutung offengelassen. Wir vermissen ein klares Wort der Bundesregierung.Wohin soll die Reise gehen? Sollen auf dem Boden Westeuropas zwei Verteidigungsstrukturen nebeneinander entstehen? Welche Rolle soll die WEU spielen? Was hat die Bundesregierung der französischen Regierung zu der Existenz und der Entwicklung von prästrategischen nuklearen Waffen gesagt? Wie wird die konventionelle und die nukleare Komponente der französischen nationalen Verteidigung in die 23erVerhandlungen in Wien eingebracht? Welche Position hat die Bundesregierung dazu?Wir befürchten — ich sage aber nicht, daß die Sozialdemokraten schon zu der Auffassung gelangt sind, das ist bereits alles den Bach runter; wir glauben, daß dort Entwicklungsmöglichkeiten vorhanden sind —,
daß weder Ziel noch Methodik unserer aktuellen deutsch-französischen Zusammenarbeit so durchdacht sind, daß die Bundesregierung im Deutschen Bundestag klar Auskunft darüber geben kann, in welcher Weise sie unseren abrüstungspolitischen Vorhaben förderlich sein werden oder wie sie die Position der westeuropäischen NATO-Mitglieder, also der Staaten Westeuropas im Bündnis im Sinne des ZweiPfeiler-Gedankens stärkt. Deshalb wäre es gut, Herr Außenminister, wenn Sie heute dem Deutschen Bundestag klarlegen würden, welche Ziele die Bundesregierung als NATO-integriertes Land hinsichtlich Frankreich in der gesamtpolitischen Zielsetzung konkret verfolgt.Außenpolitik ist gewiß mehr als Abrüstungspolitik. Wir Sozialdemokraten sind enttäuscht über die Europapolitik der Bundesregierung. Am 1. Januar 1988 — der Kanzler hat darauf hingewiesen — übernimmt die Bundesrepublik Deutschland die Präsidentschaft in der Europäischen Gemeinschaft. Der Bundesregierung fällt dabei die Aufgabe und Verantwortung zu, entscheidende Weichen für die weitere Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft zu stellen. Sie ist aufgefordert, eine dem Gewicht der Bundesrepublik entsprechende Rolle in dieser für die Zukunft Europas wichtigen Phase zu übernehmen.Fragen: Welche Vorschläge und praktischen Initiativen wird die Bundesregierung zur Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments und seiner Rechte unternehmen?Ist die Bundesregierung bereit, die eingeleitete Neuorientierung der Agrarpolitik der EG in Richtung auf eine stärkere marktwirtschaftliche Ausrichtung nachhaltig zu fördern und damit die Isolierung zu durchbrechen, in die sie durch ihren Widerstand gegen die von der EG-Kommission und dem EG-Ministerrat mehrheitlich gefaßten Reformbeschlüsse in den letzten Jahren geraten ist?Welche eigenen Vorschläge wird die Bundesregierung vorbringen, um die hohe Arbeitslosigkeit in der EG zu überwinden?Wird die Bundesregierung die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene kooperative Strategie für Wachstum und Beschäftigung unterstützen?
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StobbeWir hören wohl die allgemeinen Erklärungen der Bundesregierung, daß die Einheitliche Europäische Akte das für alle verbindliche Ziel sei, nämlich die Europäische Union, und daß das jetzt festgeschrieben ist; dies sei das vorrangige Ziel der deutschen Außenpolitik. Aber wir vermissen doch schmerzlich die konkrete Politik, und durch die Erklärung des Bundeskanzlers heute morgen sind wir auch nicht schlauer geworden.Wir sehen noch nicht, wie sich die Bundesregierung von den Widersprüchen befreien kann, in die sie sich gerade auch hinsichtlich der Europapolitik begeben hat. Wir müssen deshalb fordern, daß den Worten der Bundesregierung auch Taten folgen. Wir werden sie gerade im Jahr der Präsidentschaft an diesen Taten messen.
— Diesen Satz hören wir nun schon so lange, aber es passiert ja nichts, verehrter Herr Kollege, und das ist das Problem.Auch in ihrer Politik gegenüber den Ländern der Dritten Welt ist die Bundesregierung in vielen Punkten in einen schreienden Gegensatz zwischen Worten und Taten geraten
und hat sich darüber hinaus in vielen Fällen auch hier in eigene Widersprüche verwickelt. Nirgendwo wird das deutlicher sichtbar als in den Vereinten Nationen, wo die Bundesrepublik in den guten Jahren unmittelbar nach der Aufnahme als Mitgliedsstaat geachtet war wegen ihres Willens und wegen ihrer Fähigkeit, für den Nord-Süd-Interessenausgleich einzutreten.Wenn man sich jetzt das Abstimmungsverhalten der Bundesrepublik in der Weltorganisation anschaut, dann kann einem das Jammern kommen
über den Verlust an eigenständigem Profil deutscher Außenpolitik in diesen Bereichen. Wir benehmen uns dort wirklich wie ein zu eigenem Urteil unfähiges Land und schöpfen die Möglichkeiten in keiner Weise aus, die uns das Gewicht der Bundesrepublik in den Vereinten Nationen durchaus zugute kommen ließe.
Die jüngste Südafrikadebatte hat dies gerade wieder gezeigt, Herr Außenminister. Ich weiß nicht, ob Sie schon den Bericht über die Fragen haben, die dort zur Intensität gestellt worden sind, mit der die Bundesregierung die Untersuchung über den Verkauf von U-Boot-Blaupausen an Südafrika betreibt. Ich fand die Debatte peinlich, die es dort gegeben hat; peinlich für unser Land.
Der Worte gibt es natürlich viele. Die des Bundeskanzlers während seiner Afrikareise und auch seine Ausführungen heute im Bundestag zeigen, was diese Fragen angeht, sogar einen gewissen Läuterungsprozeß. Aber der kommt natürlich viel zu spät und ist in keiner Weise ein Ersatz für konkrete Maßnahmen gegenüber Südafrika, die überfällig sind und zu denensich die Bundesregierung im Interesse der Menschen in diesem Land und im Interesse ihrer eigenen Glaubwürdigkeit endlich aufraffen muß.Jedenfalls ist das die Forderung von Sozialdemokraten an eine Bundesregierung, deren Außenpolitik wir in so vielen Bereichen — wir sagen: leider — scharf kritisieren müssen, weil sie eben nicht aus einem Guß ist, weil sie die der Regierungskoalition innewohnenden Widersprüche nicht in sinnvollen Kompromissen auflösen kann, weil sie dadurch unscharf und verworren wird und damit den Interessen des deutschen Volkes eben nicht dient.
Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die zeitliche Enge dieser Debatte, die ich als Mitglied der Bundesregierung nicht zu kritisieren, aber als Mitglied des Deutschen Bundestages wenigstens zu bedauern habe, zwingt mich, mich auf zwei Themen zu beschränken: die Lage des auswärtigen Dienstes und die Abrüstungspolitik.
Vorab aber: Meine verehrten Kollegen Stobbe und Voigt von der Sozialdemokratischen Partei, ich denke, daß Sie noch einmal genau überprüfen sollten, was Sie hier zur jüngsten Entwicklung im deutschfranzösischen Verhältnis gesagt haben.
Entweder gehen die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich bei der europäischen Einigung zusammen, oder Europa wird nicht werden.
Entweder gehen die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich in der Sicherheitspolitik zusammen,
oder es wird keine sicherheitspolitische Identität in Europa geben.
Ich möchte Ihnen zwei große Reden des französischen Staatspräsidenten Mitterrand in Erinnerung rufen, die er in Deutschland gehalten hat, die eine hier im Januar 1983; die haben Sie nicht gern gehört. Die zweite hat er bei seinem Besuch in Aachen gehalten. In keiner Rede eines verbündeten Staatsmannes habe ich so viel Verständnis für deutsche Sicherheitsinteressen entdecken können, wie in dieser Rede von Präsident Mitterrand in Aachen, gerade auch in der uns bedrückenden Frage nuklearer Kurzstreckensysteme.
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Nein, ich möchte aus Zeitgründen fortfahren. Ich werde Ihnen später gern Rede und Antwort stehen.
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Bundesminister GenscherIch möchte mich bei dem ganzen Hohen Hause für das große Verständnis bedanken, das dem auswärtigen Dienst bei diesem Haushalt entgegengebracht worden ist. Die Arbeit in diesem Dienst ist schwieriger geworden. Die Arbeits- und Lebensbedingungen an vielen Dienstorten haben sich verschlechtert. Auch der Umfang der Arbeit, die mit ihr verbundenen Anforderungen an das Fachwissen und die Einsatzbereitschaft aller Mitarbeiter sind rapide angestiegen und wachsen weiter. Der auswärtige Dienst steht im wahrsten Sinne des Wortes an der Grenze seiner Belastbarkeit; an manchen Dienstorten ist sie überschritten. Das Fehlen gesetzlicher Regelungen, die der Besonderheit der Tätigkeit im Ausland Rechnung tragen, erweist sich zunehmend als ein Hemmnis.Ich möchte den Angehörigen des auswärtigen Dienstes und ihren Familienangehörigen für ihren Einsatz für unser Land danken. Es ist ein Einsatz, der viele persönliche Opfer erfordert. Es handelt sich nicht nur um das Opfer von ungezählten Überstunden und um Versorgungs- und Sicherheitsprobleme, sondern es ist ein Opfer, das bis zum Einsatz des eigenen Lebens gehen kann, und, wie wir wissen, auch gegangen ist. Ich möchte in diesen Dank die Ehepartner unserer Mitarbeiter ausdrücklich einschließen.
Sie sind freiwillig und unbezahlt in vielfacher Weise an der Erfüllung der Berufspflichten unserer Bediensteten beteiligt. In den meisten Fällen sind sie gehindert, ihre eigene berufliche Erfüllung zu finden, weil sie an den ausländischen Dienstorten ihren Beruf nicht ausüben können. Sie tragen in Haus und Familie die Hauptlast eines Lebens unter erschwerten äußeren Bedingungen. Dieser Beitrag zur Funktionsfähigkeit des auswärtigen Dienstes muß wenigstens ein Minimum an dienstrechtlicher und sozialer Anerkennung erfahren.Die Probleme des auswärtigen Dienstes haben in der letzten Legislaturperiode wie nie zuvor die Aufmerksamkeit des ganzen Deutschen Bundestags gefunden. Zuletzt hat die Debatte des Bundestags über den Stand der Reform des auswärtigen Dienstes am 13. November 1986 die Bereitschaft aller Fraktionen bekräftigt, über punktuelle Verbesserungen hinaus nach dauerhaften und grundsätzlichen Lösungen für die Probleme des auswärtigen Dienstes zu suchen.Diese Lösung kann nur in einem Gesetz über den auswärtigen Dienst bestehen. Ich bin dankbar für die Unterstützung, die ich für dieses Vorhaben bei allen Fraktionen des Deutschen Bundestages gefunden habe. Ich habe dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses, Herrn Kollegen Dr. Stercken, mit Schreiben vom 27. Oktober 1987 mitgeteilt, daß die Bundesregierung mit dem Auswärtigen Ausschuß darin übereinstimmt, daß die notwendige grundlegende Reform des auswärtigen Dienstes ein Gesetz erfordert, das seinen besonderen Verhältnissen Rechnung trägt. Der Bundeskanzler unterstützt mich in diesen Bemühungen. Der Inhalt des Gesetzentwurfs der Bundesregierung wird sich an den Themen orientieren, die bisher schon im Vordergrund der parlamentarischen Beratungen über die Reform des auswärtigen Dienstes gestanden haben. Der von der Bundesregierung beabsichtigte Gesetzentwurf wird sich auf die Regelung der spezifischen Aufgaben und Probleme des auswärtigen Dienstes konzentrieren; er wird deshalb kein Leistungsgesetz sein. Der entscheidende Schritt für die Reform liegt nunmehr vor uns. Es geht jetzt um die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für den auswärtigen Dienst, und dafür bitte ich alle Fraktionen des Deutschen Bundestages um ihre Unterstützung.Meine Damen und Herren, es kann nicht anders sein, als daß angesichts der Beratungen der Außenminister der USA und der Sowjetunion zur Vorbereitung des Gipfeltreffens in Washington die Fragen der Abrüstung in dieser Aussprache eine wichtige Rolle spielen müssen. Der diesjährige Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Hans Jonas, hat uns beim Empfang dieses Preises gesagt: „In der Tat versteht es sich im Atomzeitalter von selbst, daß Friede als Nichtkrieg zwischen den Nationen, zumal den Supermächten, zur allerersten und hinfort permanenten Aufgabe weltweiter Verantwortung geworden ist. " Er fährt fort: „Hier wird nur am grellsten sichtbar, daß die übergroße Macht der Technik Verhütung zum Hauptauftrag an die Verantwortung macht. "Meine Damen und Herren, es kann deshalb nicht anders sein: Das Ziel unserer Sicherheitspolitik ist und bleibt die Sicherung des Friedens durch Verhinderung eines atomaren wie eines konventionellen Krieges. Die im Harmel-Bericht von 1967 entwickelte Doppelstrategie von militärischer Sicherheit und Zusammenarbeit verpflichtet uns gleichermaßen zu ausreichenden Verteidigungsanstrengungen wie auch zur ernsthaften, beharrlichen Suche nach Wegen, die politischen Spannungen im West-Ost-Verhältnis abzubauen. Solange die Welt so ist, wie sie sich gegenwärtig darstellt, müssen wir ausreichende konventionelle und nukleare Mittel zu unserer Verteidigung und damit zur Sicherung des Friedens bereithalten. Der Dienst in der Bundeswehr ist deshalb Friedensdienst.
Aus der Verantwortung für das Überleben der Menschheit und für das Ziel, die Welt humaner und friedlicher zu gestalten, muß zugleich eine breit angelegte Politik der Zusammenarbeit, Entspannung und Abrüstung erwachsen. Deshalb wollen wir die zentrale Bedeutung der Beziehungen zur Sowjetunion unterstreichen und diese Beziehungen in allen Bereichen ausbauen und vertiefen. Die Bundesregierung wird keine Möglichkeit auslassen, neue Entwicklungen in der Sowjetunion und in anderen Staaten des Warschauer Paktes zu nutzen und sie auch zu ermutigen. Eine solche Politik ist integraler, unverzichtbarer Bestandteil unserer Sicherheitspolitik.Nur die konsequente Anwendung der HarmelStrategie in ihren beiden Elementen garantiert unsere Sicherheit. Abschreckung muß unter den Bedingungen des nuklearen Zeitalters der Kriegsverhinderung dienen. Nukleare Waffen erfüllen eine politische Funktion. Die Zuweisung einer anderen Funktion, die Verwischung der qualitativen Grenzen zwischen atomaren und konventionellen Waffen, würde den abschüssigen Weg eines Denkens in Kriegsführungssze-
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Bundesminister Genschernarien und damit der Führbarkeit von Kriegen öffnen.
Die Strategie der flexiblen Erwiderung bedeutet die Ausweitung der Optionen für die Kriegsverhinderung. Sie darf nicht die Versuchung des vermeintlich bequemen, in Wahrheit aber gefährlichen Ersatzes für konventionelle Anstrengungen erwecken.
Im nuklearen Zeitalter muß es letztlich darum gehen, den Verbund der konventionellen und der nuklearen Mittel zur Abschreckung als einen wechselseitigen politischen Zwang zu verstehen, militärische Auseinandersetzungen erst gar nicht entstehen zu lassen, Konflikte nur noch auf dem Verhandlungswege zu lösen und von der Konfrontation allmählich, aber unaufhaltsam zur Zusammenarbeit überzugehen.Unsere Sicherheitspolitik erfordert ein Denken über die bisherigen Vorstellungen hinaus. Wir wollen eine neue, eine höhere Qualität der Sicherheit schaffen. Heute soll die Abschreckung durch ein hohes, nicht kalkulierbares Risiko für den potentiellen Aggressor einen Angriff von vornherein verhindern. Die nächste Stufe muß es sein, durch zielgerichteten Abbau der Fähigkeit zum Angriff zusätzliche Sicherheit zu schaffen.
Das heißt: Es muß eine sozusagen doppelte Sicherung für die Kriegsverhinderung geschaffen werden. Zur eigenen Fähigkeit der Kriegsverhinderung durch Abschreckung von der Aggression muß auf beiden Seiten die Beseitigung der Fähigkeit zur Invasion hinzukommen, wie das für unser Bündnis heute schon gilt. Das ist, Herr Kollege Voigt, das Ziel der Brüsseler Erklärung des Bündnisses vom Dezember 1986 zur konventionellen Abrüstung.Wir werden dieses Ziel und diese Erklärung durch Einführung unseres Konzepts zur konventionellen Abrüstung in die NATO im einzelnen ausfüllen. Die Brüsseler Erklärung muß jetzt in den in Wien geplanten Verhandlungen über die konventionelle Abrüstung vom Atlantik bis zum Ural umgesetzt werden. Die in einer Reihe von Punkten entsprechende Erklärung des Warschauer Pakts vom 29. Mai 1987 muß sich in diesen Verhandlungen bewähren. Wir appellieren an alle unsere Verbündeten, die Verhandlungen über die konventionelle Stabilität mit dem Ziel der Nichtangriffsfähigkeit auf beiden Seiten — nicht nur bei uns — in ihrer ganzen Bedeutung richtig zu erkennen und mit uns entsprechend zu handeln und zu verhandeln.Die Politik der Kriegsverhinderung muß die Offensivoptionen immer stärker beseitigen. Es geht im Kern darum, die Fähigkeit des Warschauer Pakts zur raumgreifenden Offensive und zum Überraschungsangriff zu beseitigen.
Der Entwurf des Westens für ein Verhandlungsmandat lautet deshalb: Ziel dieser Verhandlungen ist:Stärkung der Stabilität und Sicherheit in Europadurch Schaffung eines stabilen und gesicherten konventionellen Kräftegleichgewichts auf niedrigem Niveau; Beseitigung von Ungleichgewichten, die sich auf die Stabilität und Sicherheit nachteilig auswirken; vordringliche Beseitigung der Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und zur Einleitung raumgreifender Offensiven. Dieser Zielsetzung muß unsere Abrüstungspolitik als wesentlicher Teil der Kriegsverhinderungsstrategie konzeptionell Rechnung tragen.Mit dem Abbau von Waffen und der Herstellung von Parität auf niedrigem Niveau kann es allein nicht getan sein. Es kommt darauf an, wirksame Strukturen kooperativer Sicherheit zu entwerfen.
Das von den USA und der Sowjetunion angestrebte Mittelstreckenabkommen und die Bemühungen um eine 50 %ige Reduzierung der strategischen Waffen werden erste Schritte von der Rüstungsbegrenzung zu wirklicher Abrüstung sein. Wir unterstützen das eine wie das andere ohne jede Einschränkung.
Die doppelte Null-Lösung ist ein großer Erfolg unserer Sicherheitspolitik, ein Erfolg, dessen Voraussetzungen in den Jahren 1982 bis 1984 schwer genug geschaffen werden mußten.
Dieser Erfolg, meine Damen und Herren, wird eine schwere Bedrohung für uns beseitigen. Für uns ist die Vernichtung von mehr als 1 500 uns jetzt noch bedrohenden sowjetischen atomaren Sprengkörpern, von denen jeder die vielfache Vernichtungskraft der Bombe von Hiroshima hat, ein Anlaß zur Erleichterung.
Die doppelte Null-Lösung schafft nicht neue Risiken, sondern sie beseitigt vorhandene. Das ist deshalb der Fall, weil mehr Sicherheit nicht durch die Anhäufung von — dazu noch einseitig — überlegenen Vernichtungspotentialen, sondern nur durch ihren Abbau geschaffen wird. Kein Gegner der doppelten NullLösung in der inneramerikanischen Diskussion kann sich auf uns berufen. Der amerikanische Kongreß soll wissen, daß wir uneingeschränkt dafür eintreten, daß dieser Vertrag rasch in Kraft tritt und der Abbau der sowjetischen Raketen damit beginnen kann.
Wer in Europa die falschen Signale in Richtung USA gibt, lädt eine schwere Verantwortung auf sich.
Die INF-Vereinbarung darf aber kein isoliertes Ereignis bleiben. Das Bündnis hat auf der NATO-Ministerratstagung in Reykjavik ein umfassendes westliches Konzept zur Rüstungskontrolle und Abrüstung beschlossen, das es umzusetzen gilt. Es sieht im einzelnen folgende dringliche Abrüstungsschritte vor: eine 50 %ige Reduzierung der strategischen nuklearen Offensivwaffen der USA und der Sowjetunion; die weltweite Beseitigung chemischer Waffen; die Her-
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Bundesminister GenscherStellung eines stabilen Gleichgewichts bei den konventionellen Waffen in ganz Europa und die Vorbereitung von Verhandlungen über die amerikanischen und sowjetischen bodengestützten Flugkörpersysteme kürzerer Reichweite, die entsprechend der Erklärung von Reykjavik zu gleichen Obergrenzen führen.Dem baldigen Abschluß eines Abkommens zur weltweiten Ächtung chemischer Waffen kommt nach Auffassung der Bundesregierung hohe Priorität zu. Ein C-Waffen-Abkommen muß der in besorgniserregenderweise voranschreitenden Proliferation, Ausbreitung chemischer Waffen Einhalt gebieten und der Gefahr entgegenwirken, daß in den Konfliktherden der Dritten Welt die chemischen Waffen zur Vernichtungswaffe des kleinen Mannes werden.Um diese gefährliche Ausbreitung zu verhindern, um die Probleme der Verifikation, der Nachprüfbarkeit nicht noch zu erhöhen, Herr Kollege Vogel, wäre ein auf Europa begrenztes Verbot der chemischen Waffen ein gefährlicher Irrweg, der das große Ziel der weltweiten Ächtung der chemischen Waffen gefährden würde.
Wir werden mit aller Kraft auf die Beseitigung der letzten Hindernisse auf dem Weg zu einem C-WaffenAbkommen in der Verhandlungsperiode 1988 hinarbeiten. Wir stehen in einem Meinungsaustausch darüber mit der Sowjetunion, der DDR, der CSSR und anderen Staaten des Warschauer Pakts.Bei den künftigen Verhandlungen im konventionellen Bereich kann es nicht nur um die bloße zahlenmäßige Senkung von Waffen und Streitkräften auf ein gleiches Niveau gehen, weil Gleichgewicht nicht ausreicht, um den Ausbruch militärischer Auseinandersetzungen zu verhindern — die Geschichte belegt das leider —. Bei den konventionellen Rüstungskontrollverhandlungen muß sich vielmehr die neue, die höhere Qualität des Sicherheitsdenkens bewähren. Es geht deshalb bei diesen Verhandlungen auch darum, auf beiden Seiten einen Zustand herbeizuführen, bei dem die Streitkräfte allein am Erfordernis der Verteidigung ausgerichtet sind und keine Invasionsfähigkeit haben, wie es für den Westen heute schon gilt.Mit der Erklärung der NATO zur konventionellen Abrüstung vorn Dezember 1986 wird ein besonders wichtiges Ziel der westlichen Sicherheitspolitik definiert. Es wäre eine Illusion, und es würde auch unserem Ziel, Sicherheit mit weniger Waffen zu schaffen, widersprechen, wollte man der östlichen Überlegenheit im konventionellen Bereich mit eigener konventioneller Nachrüstung begegnen. Ebensowenig darf die Versuchung verstärkt werden, konventionelle Disparitäten durch nukleare Optionen auszugleichen.
Es geht vielmehr darum, durch asymmetrische Abrüstung und durch Abbau von Offensivfähigkeit zusätzliche Stabilität zu schaffen.
Um die Fähigkeit zu Überraschungsangriffen und raumgreifend angelegten Offensiven zu beseitigen, sollten Reduzierungsbemühungen zunächst das bodengestützte kampfentscheidende Großgerät, vor allem Panzer und Artillerie, erfassen.
Mit dem Abbau von kampfentscheidendem Großgerät wäre das entsprechende Streitkräftepersonal ebenfalls zu erfassen.Das Erreichen des Ziels gleicher Höchstgrenzen verlangt angesichts der östlichen Überlegenheit deutlich stärkere Einschnitte auf seiten des Warschauer Pakts als bei uns. Wir erwarten, daß der Warschauer Pakt den Erklärungen von Generalsekretär Gorbatschow folgt und zu asymmetrischen Reduzierungen bereit ist. Wer mehr hat, muß auch mehr abrüsten.
Ein Rüstungskontrollansatz, der konventionelle Stabilität zum Ziel hat, muß neben Umfang und Bewaffnung von Streitkräften auch deren Stationierungsregionen, die Bereitschaftsgrade sowie Strukturen und Einsatzoptionen berücksichtigen. Erst die Kombination von Militärpersonal und Waffen, organisiert in Einheiten und Verbänden, ergibt die militärische Stärke, die für Angriffs- wie für Verteidigungsfähigkeit ausschlaggebend ist. Im Zusammenhang mit der Herstellung von Parität bei kampfentscheidendem Großgerät soll die Entwicklung der Streitkräfte in Richtung auf den Ausbau ihrer Defensivfähigkeit zu Lasten ihrer Angriffsfähigkeit angestrebt werden.
Schon bei MBFR war es ein besonderes deutsches Anliegen, mit den sogenannten stabilisierenden Maßnahmen Regeln für den Umgang mit militärischer Macht zu vereinbaren. In dem neuen, regional größeren und ehrgeizigeren Verhandlungsrahmen wird erst recht ein Bedarf an begleitenden Maßnahmen bestehen, die überraschende Offensivaktionen erschweren und zusätzliche Warnzeit für den Verteidiger erbringen. Zugleich muß der geographischen Disparität, die ebenfalls zu Lasten des Westens geht, Rechnung getragen werden.Die Bemühungen um konventionelle Stabilität lassen sich von einer Verständigung über die der Verteidigung zugrundeliegende Philosophie nicht trennen. Es muß also auch darum gehen, im Rahmen von Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle ein gemeinsames Verständnis über die Aufgabenstellung von Streitkräften herbeizuführen und Prinzipien herauszuarbeiten, welchen Umfang, welche Ausrüstung und welche Dislozierung von Streitkräften die erklärte Aufgabe der Kriegsverhinderung und Selbstverteidigung ergibt.Meine Damen und Herren, es ist genauso entscheidend, daß wir uns darüber im klaren sind, die Fähigkeit zum Frieden verlangt auch die Fähigkeit zur Friedensgesinnung, zur Achtung vor dem anderen. Des-
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Bundesminister Genscherhalb gehört zur Abrüstung auch die Abrüstung der Feindbilder, wo immer sie auftreten mögen.
Meine Damen und Herren, wenn wir mit dieser Gesinnung an unsere Verantwortung herangehen und unsere Verantwortung erfüllen, dann werden wir dem gerecht werden, was das gemeinsame Ziel deutscher Sicherheitspolitik sein muß, nämlich Frieden schaffen mit immer weniger Waffen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rühe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Waffen haben mit Spannung zu tun. Nur wer Spannung abbauen kann, kann auch Waffen abbauen. Deswegen brauchen wir eine neue Dimension der Vertrauensbildung zwischen Ost und West, wenn wir Spannung und Waffen langfristig, zuverlässig und tiefgreifend abbauen wollen. Deswegen wünsche ich mir, daß es keinen reinen Raketengipfel gibt.
Ich bin auch darüber enttäuscht, daß der Kollege Voigt so viel über Raketen gesprochen hat,
als ob man unserere Sicherheit alleine durch Waffen definieren könnte. Ich finde, wir brauchen einen anderen Sicherheitsbegriff. Wenn es etwas gibt, was mich in vielen Diskussionen, gerade auch mit jungen Leuten, bestürzt, dann ist es die Tatsache, daß wir durch eine solche Diskussionsweise, daß wir nur über Pershing und SS 20 reden, den Eindruck erwecken, als ob der Unterschied zwischen NATO und Warschauer Pakt auf den Unterschied zwischen Pershing II und SS 20 zusammenschmilzt. Das ist ein fataler Eindruck.
Wir brauchen einen erweiterten Sicherheitsbegriff.
Es gibt eine militärisch bedeutsame Vertrauensbildung seit dem Ergebnis der Stockholmer Konferenz. Das aber ist Vertrauensbildung für Generäle auf dem Manöverfeld. Ich finde, das kommt zu spät, so schön es ist. Deswegen müssen wir an die Sache anders herangehen. Wenn Feindbilder abgebaut werden sollen, wenn sich die Gesellschaften öffnen sollen, dann muß man bei Jüngeren anfangen.
Da meine ich z. B., daß sowjetische Schulklassen nicht zu Gegenbesuchen hierher kommen. Ich spreche von meinem Wahlkreis, wo in einer Schule jedes Jahr eine Klasse nach Leningrad fährt. Man kann an der Schule in meinem Wahlkreis Russisch lernen. Wir warten auf den Gegenbesuch. Auch als ich mich eingeschaltet habe, kam von der sowjetischen Seite die Bedingung: Sie dürfen aber nicht in deutschen Familien untergebracht werden. Ich hätte sehr viel mehr
Vertrauen zu einem Staat und einem Generalsekretär, wenn er seine jungen Leute, seine Schüler herauslassen würde und wenn sie in unseren Familien leben könnten, damit sich die jungen Leute kennenlernen und in die Augen schauen.
Herr Abgeordneter, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Voigt?
Aber gerne, wenn es der Vertrauensbildung dient.
Bitte schön.
Ja, in einem doppelten Sinne, glaube ich. Lieber Kollege Rühe, wären Sie bereit, Ihr Bild über die Sowjetunion und die neue sowjetische Führung zu verändern, wenn es erreichbar wäre — ich würde mich gemeinsam mit Ihnen darum bemühen — , daß eine Schulklasse aus Leningrad zu einem Besuch nach Hamburg kommt? Wenn das eintritt, wenn das realisiert wird, ist das für Sie ein Signum dafür, daß sich alles verändert hat? Wenn ja, bin ich bereit, mich gemeinsam mit Ihnen dafür einzusetzen. Ich glaube auch, es würde klappen.
Ich bedanke mich für die Mithilfe. Ich habe das bisher auch schon über den sowjetischen Botschafter versucht. Ich nutze aber jeden Einfluß. Ich möchte das aber nicht gerne auf meinen Wahlkreis beschränkt haben. Ich möchte, daß hier in jedem Wahlkreis, wo Schulen solchen Austausch haben, junge Menschen aus der Sowjetunion hierher kommen können — die Kollegen melden sich schon — , daß Feindbilder abgebaut werden.Ich nenne ein zweites Beispiel, das auch viel mit Sicherheit zu tun hat. Es gibt 20 000 junge Chinesen aus der anderen kommunistischen Weltmacht, die im westlichen Ausland studieren. Die sowjetischen Studenten, die im westlichen Ausland studieren, können sie an den Fingern von ein paar Händen abzählen. Ich sage Ihnen, ich hätte sehr viel mehr Vertrauen zu einem Land und zu dem Generalsekretär Gorbatschow, wenn er einige tausend sowjetische Studenten herauslassen würde, damit sie in den Vereinigten Staaten oder in Westeuropa studieren könnten.
Erstens können sie da etwas lernen, und zweitens würde das helfen, Feindbilder abzubauen. Ich finde, das hat etwas mit Sicherheit zu tun, weil es Vertrauen schafft. Sicherheit kann langfristig nur entstehen, wenn es mehr Vertrauen gibt.Ein Maßstab für die Friedfertigkeit eines Landes ist auch die Beachtung der Menschenrechte in dem Land. Um es platt zu sagen: Je nachdem, wie eine Regierung ihre eigenen Leute behandelt, kann man
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Rüheeine ganze Menge erkennen, wie aggressiv dieses Land ist.
Deswegen finde ich den Vorschlag, den die Sowjetunion gemacht hat, interessant, eine Konferenz über Menschenrechte nach Moskau einzuberufen. Zunächst muß man schlucken und sagen: ausgerechnet nach Moskau. Ich finde aber, der Westen täte gut daran, dieses offensiv aufzugreifen, Bedingungen zu stellen, um einmal darüber zu sprechen, was wir eigentlich unter Menschenrechten verstehen, um z. B. auch über den Unterschied zwischen menschlichen Erleichterungen und Menschenrechten zu sprechen.So schön es auch ist, daß jetzt sehr viel mehr Deutsche aus der Sowjetunion herauskommen können, im Grunde ist das Willkür. Zwar ist das positive Willkür, aber wie bei einem Wasserhahn wird mal auf- und mal zugedreht. Das wird zugeteilt; das hat überhaupt nichts mit Menschenrechten zu tun.
Menschenrechte sind vorstaatliche Rechte; meine Rechte stammen nicht von der Bundesrepublik Deutschland und schon gar nicht von der Bundesregierung. Menschenrechte sind vorstaatliche Rechte. Das sind Grundrechte, und die Grundrechte unserer Verfassung sind mit überhaupt keiner Mehrheit zu ändern. Wenn die Sowjetunion — was man nur begrüßen kann — stärker den Menschen in den Mittelpunkt stellen und eine Konferenz über Menschenrechte veranstalten will, müssen wir bitte schön darüber reden, was Menschenrechte sind und was es für die Friedfertigkeit eines Landes bedeutet, je nach dem, inwieweit man sich an Menschenrechte hält oder nicht.Ich glaube also, daß man nicht nur über Raketen, sondern auch über Stipendien auf einem solchen Gipfel reden sollte.
Wenn man das vorschickt, sagen einige auch im Westen: Das ist eine Zumutung; die sehen hier zu viele Autos und die werden ideologisch beeinflußt. Nein, wer den offenen friedlichen Wettbewerb will, muß sich öffnen, muß seine jungen Leute herauslassen und muß sich dem internationalen Wettbewerb stellen. Das hat etwas mit Sicherheit zu tun.
— Jetzt ist über das bevorstehende Abkommen gesprochen worden.Ich will nur kurz etwas hinzufügen: Meine Kollegen und auch ich finden Genugtuung darüber, daß dieses Mittelstreckenabkommen unterzeichnet wird. Aber wir glauben, es ist kein Anlaß zur Euphorie, weil vieles davon abhängen wird, wie die Entwicklung weitergeht.Warum Genugtuung? Vor dem Hintergrund dieser Bemerkung muß man sich manchen Debattenbeitrag der Sozialdemokraten noch einmal sehr genau ansehen. Wenn wir Ihnen gefolgt wären, hätten wir auch eine Null-Lösung, aber eine einseitige, und zwar auf der westlichen Seite. Deswegen empfinden wir Genugtuung, daß wir gleichgewichtige Abrüstung erreicht haben.
Den Sowjets muß man sagen: Wir mußten leider einen Umweg gehen. Das haben übrigens auch sowjetische Kommentatoren festgestellt. Wir hätten die Null-Lösung ja vor der westlichen Stationierung haben können. Ich weiß noch wie heute, daß manche sowjetische Gesprächspartner gesagt haben, das sei eine Unverschämtheit, und auch die Sozialdemokraten haben 1983 die Null-Lösung als Zumutung bezeichnet. Diese sowjetischen Gesprächspartner und auch Sozialdemokraten haben gesagt: Da gibt es auf der einen Seite real existierende sowjetische Raketen aus Stahl und Titan, die verschrottet werden sollen, und auf der anderen Seite gibt es ein Stück Papier — und das war es bis zum November 1983 —, und darüber steht: Doppelbeschluß, und wir werden, falls die Sowjetunion nicht einseitig abbaut, im Laufe von fünf Jahren Systeme aufstellen. Da wurde gesagt: Das ist doch völlig ungleichgewichtig, ein Stück Papier, und auf der anderen Seite real existierende Raketen. Wir haben gesagt — deswegen war dies ein moderner Beschluß — : Muß man denn Raketen immer erst stationieren, bevor man über sie verhandeln kann?
— Leider haben wir es machen müssen. Leider mußte dieser Umweg gegangen werden, weil Sie auch gegenüber der Sowjetunion den Eindruck erweckt haben, als ob dieses Stück Papier nicht fest ist, weil der Wille nicht klar war.
Das ist kein Anlaß zur Euphorie, weil entscheidend sein wird, wie dieser Prozeß weitergeht.Wenn man sich die Ost-West-Rüstungskontrollverhandlungen ansieht, dann hat es bisher ein Schwergewicht bei den nuklearen Abrüstungsverhandlungen gegeben. Das ist überhaupt gar keine Frage. Es gibt bisher kein einziges Ergebnis von Rüstungskontrollverhandlungen im Bereich der sogenannten herkömmlichen konventionellen Waffen, und von daher meine ich schon, daß bei der europäischen Rüstungskontrolle Anlaß zu einer neuen Schwerpunktbildung besteht. Ich halte die konventionellen Waffen und dieses enorme Ungleichgewicht in Verbindung mit unserer geographischen Situation für die eigentliche Gefährdung in Europa.Im übrigen: Dieses wird der Test für Gorbatschow sein, das neue Denken und das neue Tun; denn die Hebelwirkung, die wir bei den Mittelstreckenraketen durch die Nachrüstung gehabt haben, haben wir hier nicht, und das sage ich mit aller Klarheit.
Wir können Herrn Gorbatschow sagen: Verschrotte20 000 Panzer, aber wir können und wir wollen nichtsagen: Wenn du das nicht tust, werden wir selbst, um
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Rüheden Unterschied zu verringern, 8 000 neue Panzer aufstellen.
Deswegen ist es leichtfertig, zu sagen: Das Abkommen, das jetzt kommt, ist der Beweis für neues Tun und neues Denken in Moskau. Nein, der Beweis muß in einem Bereich erbracht werden, wo wir kaum eine Hebelwirkung haben und wo wir uns auf die sowjetische Einsicht verlassen müssen, daß es auf die Dauer nicht vernünftig sein kann, 13 bis 14 % des Bruttosozialprodukts für Rüstung auszugeben.Ich stimme mit den Zielsetzungen überein, die der Außenminister hier angesprochen hat, und das wird auch im Westen diskutiert, für die konventionelle Rüstungskontrolle. Ich wünsche mir dabei das Mitwirken der Opposition, da das auch wichtig ist, damit Sie nun Ihrerseits auch Druck auf Herrn Gorbatschow in einem Bereich entfalten, wo es mit der Hebelwirkung schwieriger ist, um zu Ergebnissen zu kommen.
Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Mechtersheimer möchte eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Herr Rühe, wie erklären Sie sich die Bereitschaft der Sowjetunion, den Bereich von Short-range-INF ebenfalls in ein Verhandlungspaket zu schnüren, obwohl der Westen auf diesem Gebiet das nicht getan hat, was Sie als einziges Rezept empfehlen, nämlich vorzurüsten?
Wenn Sie mir zugehört hätten, dann hätten Sie mitbekommen können, daß ich gerade dafür plädiert habe, nicht immer nur über Nuklearwaffen zu verhandeln. Wissen Sie, es gibt Leute, nicht nur in Moskau, sondern es gibt auch manche — —
— Ich weiche überhaupt nicht aus, ich komme noch auf das Thema.
Es gibt manche Fundamentalisten in Washington, die den Eindruck erweckt haben, als ob die Nuklearwaffen unmoralisch sind und man sich im wesentlichen bei Abrüstungsfragen um Nuklearwaffen zu kümmern hat, und im Umkehrschluß, wenn man sich die Vernachlässigung von konventionellen Waffen bei den bisherigen Verhandlungen ansieht, kann man konventionelle Waffen fast als Kavaliersdelikt empfinden. Dieser Eindruck ist teilweise erweckt worden; der muß korrigiert werden, Herr Mechtersheimer.
Jetzt komme ich zu der weiteren Behandlung von Nuklearwaffen. Da sage ich: Es ist wichtig für unsere Sicherheit, daß dieser Prozeß weitergeht; denn ein Abkommen über Mittelstreckenraketen kann natürlich von oben wie von unten unterlaufen werden. Man braucht kein großer Experte zu sein, um zu wissen, daß Interkontinentalraketen nicht 7 000 km weit fliegen müssen. Die könnten natürlich auch kürzer fliegen, und damit könnten vergleichbare Ziele auch mit Interkontinentalraketen abgedeckt werden. Unter anderem besteht auch deswegen die Notwendigkeit, im Anschluß an einen Vertrag über Interkontinentalraketen zu kommen, nämlich zu einer 50 %igen Reduzierung.
Der Vertrag kann auch von unten her unterlaufen oder in Frage gestellt werden, und deswegen muß das Thema der Kurzstreckenraketen auf der Tagesordnung bleiben. Hier sind wir dabei, einen westlichen Gesamtansatz zu finden, der nicht kurzfristig sein darf, sondern langfristig tragen muß.
Ich muß Ihnen sagen, daß ich der Meinung bin, daß sich diejenigen, die nukleare Abschreckung für vernünftig und in voraussehbarer Zeit nicht ersetzbar halten, gründlich überlegen sollten, welches Mindestmaß wir in Europa hinsichtlich der Zahl und der Art eigentlich brauchen.
Bei all diesen Überlegungen muß für uns im Vordergrund stehen — ich bitte die Verteidigungspolitiker um Entschuldigung, daß in der außenpolitischen Debatte solche Überlegungen verstärkt schon eine Rolle spielen — , wie in der Vergangenheit auch in der Zukunft mit absoluter Sicherheit auch den begrenztesten konventionellen Konflikt zu vermeiden. Dafür brauchen wir eine für unsere Bevölkerung akzeptable Struktur der Abschreckung und eine glaubwürdige Struktur der Abschreckung.
Bei diesen schwierigen Zukunftsfragen in den Bereichen Sicherheits-, Außen- und Abrüstungspolitik, von denen ich eben nur einiges habe andeuten können, geht es darum, deutsche Sicherheitsinteressen durchzusetzen. Es ist entscheidend, glaubwürdig, berechenbar und langfristig zu arbeiten. Ich glaube, daß die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik insbesondere gefordert ist, langfristig angelegt zu sein. Sie muß über den Tellerrand der nächsten oder übernächsten Landtagswahl hinausreichen.
Sie gestatten? Rühe : Bitte, gern.
Herr Kollege Rühe, bezugnehmend auf Ihr eben gemachtes Angebot — über die Frage, konventionelle Abrüstung und nukleare Abrüstung und Stabilität so, daß beides dazu führt, daß auch das Risiko eines konventionellen Kriegs nicht wächst, sondern sich verringert, zu sprechen — möchte ich für die SPD erklären, daß wir ausdrücklich annehmen. Wir bitten um Terminierung, damit wir uns gemeinsam bemühen können, bestimmte Grundkonzepte wenigstens gemeinsam zu entwickeln, vielleicht auch gemeinsam vorzuschlagen.
Herr Abgeordneter, zunächst einmal würde ich, wenn es eine Frage wäre, die Antwort stehend entgegennehmen. Im übrigen
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Vizepräsident Cronenbergdarf ich daran erinnern, daß es Zwischenfrage und nicht Zwischenfeststellung heißt.
Lieber Karsten Voigt, wir brauchen keine Termine zu vereinbaren, um miteinander zu reden. Das wollen wir nicht auf eine solch offizielle Ebene schieben. Wir haben immer eine offene Tür für Gespräche. Aber ich bin der Meinung, daß das, was hier von Kollegen der sozialdemokratischen Fraktion vorgetragen worden ist, die Glaubwürdigkeit der westlichen nuklearen Abschreckung so weit schwächt, daß in der Tat damit die Gefahr verbunden ist, daß ein begrenzter konventioneller Konflikt wieder vorstellbar würde. Hier muß ich eine Warnung an die Kollegen richten, sich nicht in dieser Weise auf eine Denuklearisierung Europas zuzubewegen. Denn wenn Sie eine weitere Null-Lösung draufsetzen und sagen, im übrigen gelte unter 150 km die atomwaffenfreie Zone, dann frage ich mich, wo die glaubwürdige Abschreckung des westlichen Bündnisses bleiben kann.
— Ich finde es phantastisch, daß Ihr bereit seid, darüber zu sprechen.
Aber im Plenum
sollten wir darüber sprechen, damit jeder verfolgen kann, wer die besseren Argumente hat.
Ich finde es wichtig — hier komme ich nochmals zur SPD — , daß unsere Grundsätze klar sind. Wir dürfen über die nach wie vor bestehenden grundsätzlichen Unterschiede zwischen Ost und West nicht schweigen, sie nicht mit falschen illusionären Formeln wie der der Sicherheitspartnerschaft mit der Sowjetunion oder der gemeinsamen Sicherheit verschleiern. Die Sowjetunion ist für mich ein Verhandlungspartner für mehr gegenseitige Sicherheit zwischen Ost und West. Wer nicht mehr sagt, warum wir Verteidigungsanstrengungen erbringen müssen, mit wem zusammen wir das tun und vor wem wir Sicherheit organisieren müssen, der bringt die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik auf eine schiefe Ebene. Es gibt leider Ansätze dazu, was die Gespräche der Sozialdemokraten mit der SED angeht. Da hat es ein fabelhaftes Papier über die Kultur des Streits
zwischen der SPD und der SED gegeben. Die beiden haben sich großzügig Friedfertigkeit bescheinigt. Ich finde es etwas beschämend, daß sich die SPD von der SED bescheinigen läßt,
daß sie friedensfähig ist. Ich möchte mir das von einer
solchen diktatorischen Partei wie der Sozialistischen
Einheitspartei Deutschlands nicht bescheinigen lassen.
— Seien Sie nicht so aufgeregt. Jeder hat jetzt feststellen können, auf welchen Pfad der Selbsttäuschung Sie sich haben begeben können.
Denn kaum hatte die ehrenwerte historisch gewachsene freie deutsche Sozialdemokratische Partei der SED Friedensfähigkeit bescheinigt,
meldete sich vor wenigen Wochen Kurt Hager, zuständiges SED-Politbüromitglied, und erklärte, was die SED unter der neuen Kultur des politischen Streits versteht:
Unser Feindbild ist klar: Wir hören nicht auf, die aggressiven Kräfte des Imperialismus als Feinde, als Gegner des friedlichen Lebens der Menschheit zu bekämpfen.
Ich meine, deutlicher kann eine Ohrfeige für den sozialdemokratischen Partner für diese neue Kultur des Streits gar nicht ausfallen.
Deswegen kann ich nur sagen: Das ist ein schlechter Weg und auch ein schlechter Ratschlag für die deutsche Außenpolitik. Das schafft viel Mißtrauen im Westen, verschärft das an Mißtrauen, was Sie sich selbst durch Ihr Versagen und Ihren Wortbruch 1982/83 bereitet haben und führt die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in ein Zwielicht. Von daher gibt es für uns alle Anlaß, zwar mit der DDR zu sprechen, aber nicht darauf zu hören, wenn Sie solche Wege vorschlagen.
Wir werden weiter auf dem Weg fortfahren, den diese Regierung 1982 begonnen hat.
Das heißt: Vertrauen im Westen, Berechenbarkeit in der West- und Sicherheitspolitik und dadurch auch ein großer Spielraum in der Deutschland- und Ostpolitik, um dort unsere Interessen durchzusetzen.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor, so daß wir zur Abstimmung kommen können, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/1220? — Wer stimmt dagegen? — Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Einzelplan 05.Wer dem Einzelplan 05 — Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts — in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen.
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2764 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Vizepräsident Cronenberg— Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich? — Damit ist der Einzelplan 05 angenommen.Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr auf: Einzelplan 14Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung— Drucksachen 11/1064, 11/1081 —Berichterstatter:Abgeordnete Müller Dr. FriedmannDr. Weng
Frau Seiler-AlbringKühbacherWaltherKleinert
Einzelplan 35Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte— Drucksache 11/1076 —Berichterstatter:Abgeordnete Würtz RossmanithKleinert
Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/1307 bis 11/1310 sowie ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/ CSU und FDP auf Drucksache 11/1319 vor.Meine Damen und Herren, auf Grund einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsamen Beratungen der Einzelpläne 14 und 35 insgesamt 90 Minuten vorgesehen. — Das Haus ist mit diesem Vorschlag einverstanden, so daß ich die Aussprache eröffnen kann. Zunächst hat Herr Abgeordneter Walther das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn der Verteidigungsminister zuhörte, würde ich mich gern an ihn wenden; denn also sprach Manfred Wörner mit unheilschwangerer Stimme, hochgezogenen Brauen, stählernen Augen im Haushaltsausschuß: Wenn jetzt noch eine Mark gestrichen wird, dann geht es an die Substanz,
dann ist die Verteidigungsfähigkeit gefährdet.
Wir haben das zwar nie geglaubt, Herr Minister — wir haben in der Sommerpause ja einmal eine öffentliche Auseinandersetzung, jedenfalls was den Haushalt 1988 angeht, geführt —, aber auch Ihre Koalitionäre im Haushaltsausschuß haben das nicht geglaubt; denn sie haben Ihnen nämlich jetzt glatt eine halbe Milliarde DM gestrichen.
Wenn das zu unserer Zeit, als Hans Apel Verteidigungsminister gewesen ist, passiert wäre, Herr Wörner, hätten Sie hier gestanden und glatt den Rücktritt von Hans Apel gefordert.
Damit niemand, der die Ausschußdrucksachen gelesen hat, in Irrtümer verfällt, sage ich: 195 Millionen DM hat die Koalition herzlos, gnadenlos durch Einzelstreichungen weggedrückt. Dann hat sie Ihnen eine 3 %ige Sperre bei den Hauptgruppen 51 bis 54 aufgedrückt: 170 Millionen DM futsch. 1 700 Stellen wurden bei der Zivilverwaltung gestrichen; auch da sind wieder ein paar Millionen futsch. Von der globalen Minderausgabe, lieber Herr Wörner, bekommen Sie mindestens auch noch 100 Millionen DM aufgedrückt. Also sind Sie eine knappe halbe Milliarde DM los.
Das sagt die Koalition zu dem Verteidigungsminister, der da bemerkt hat: Jede Mark, die jetzt noch gestrichen wird, wird die Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik wirklich ernsthaft gefährden. Nun bin ich einmal gespannt, lieber Herr Wörner, was Sie nachher, wenn Sie hierherkommen, dazu sagen werden. Ich bin wirklich gespannt, mit welcher Rolle rückwärts Sie sich aus dieser Argumentationsfalle wieder herausbewegen wollen.
Bernhard Friedmann, der das ja federführend gemacht hat, und Ulla Seiler-Albring sind ja keine Hasardeure. Sie haben das ja nicht so aus Jux und Dollerei gemacht, sondern erstens wissen sie, daß der Finanzminister kein Geld hat, und zweitens sind sie mit mir davon überzeugt, daß Sie für 1988 zuviel Geld haben. Da sind wir sicherlich einer Meinung. Aber daß der Koalition finanzpolitisch das Wasser bis zum Halse steht,
das haben wir nun wirklich in den letzten Tagen sowohl hier im Hause als auch in der Öffentlichkeit erörtert.Der Bundeswehrplan 1988, lieber Herr Wörner, war ja schon Makulatur, als Sie ihn aufgeschrieben hatten: Nun ist er ja so geheim, daß man darüber nicht reden darf. Aber das wird man sicherlich, ohne die Geheimhaltung zu verletzen, sagen dürfen: Makulatur war er schon, als Sie gerade Ihren Namen darunter geschrieben hatten.
Der Minister Wörner, Frau Kollegin Traupe, hat sich ja gebrüstet, er habe nun endlich wieder so eine richtige Bundeswehrplanung eingeführt. Kaum hat er sie, ist sie schon wieder Makulatur. Denn, Herr Minister, was nutzt Ihnen denn eine Planung, wenn sie hinten und vorne nicht stimmt? Was nutzt Ihnen eine solche Planung? Dieser falschen Planung liegen ja auch nicht Fehler der Militärs zugrunde, sondern die Fehler liegen in den Vorgaben der politischen Führung. Den Militärs wurde nämlich vorgegaukelt, es könne mehr
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2765
WaltherGeld verplant werden, als tatsächlich zur Verfügung steht.Vor diesem Hintergrund, lieber Herr Kollege Wörner, wundert es mich gar nicht, daß schon drei hochrangige Generäle zur NATO geflüchtet sind und Sie stante pede hinterher wollen.Der Bundesverteidigungsminister, wie immer er auch heißen mag — das sage ich jetzt einmal — , soll sich realistisch darauf einstellen, daß in den nächsten 20 bis 25 Jahren prozentual eher weniger als mehr Geld für den Verteidigungshaushalt zur Verfügung stehen wird. Denn die Anforderungen an den Bundeshaushalt nehmen ja dramatisch zu, z. B. durch die Rentensicherung; das wissen wir doch alle. Deshalb rate ich Ihnen, Herr Minister, oder Ihrem Nachfolger, sich darauf einzustellen, daß Ihre finanziellen Blütenträume nicht reifen werden.Ich habe übrigens auch die NATO-Forderung aus dem vergangenen Jahr, jedes Jahr real 3 % zuzulegen, für Quatsch gehalten. Denn wenn man das wirklich ernst genommen hätte, dann hätte man ja ausrechnen können, wann der Verteidigungshaushalt den ganzen Bundeshaushalt aufzehren würde.Nun, meine Damen und Herren, ich sage noch einmal: 1988 kommt der Minister auch jetzt noch gut mit dem Geld aus. Danach — das gebe ich zu — wird es kritischer, lieber Kollege Wörner.
Deshalb sage ich Ihnen: Die Prioritäten müssen jetzt anders gesetzt werden. Sie haben im Haushaltsausschuß gesagt, für Sie stehe der Soldat an erster Stelle. Recht haben Sie!Der Minister hat drei Prioritäten gesetzt: erstens Soldaten, zweitens Betrieb und drittens Rüstung bzw. Beschaffung; aber das meint ja dasselbe. Im Haushalt 1988 und in der mittelfristigen Finanzplanung und in dem zur Makulatur gewordenen Bundeswehrplan habe ich eine solche Prioritätensetzung nicht feststellen können.
Das Bundeskabinett hat zwar gestern so ganz auf die Schnelle noch einmal ein paar Zulagen erhöht. Inhaltlich will ich das nicht kritisieren. Im Gegenteil: Wir finden das in Ordnung und tragen das auch mit. Den Änderungsantrag, der hier heute zu diesem Sachverhalt gestellt wird, tragen wir ebenfalls mit. Aber erstens kommt es zu spät, und zweitens ist es zu wenig, lieber Herr Wörner. Es ist zu wenig, was Sie gegenüber dem Finanzminister durchgesetzt haben. Denn es ist bei weitem nicht alles, was eigentlich hätte getan werden müssen. Insofern war der gestrige Beschluß des Bundeskabinetts bei weitem nicht zufriedenstellend.Es bleibt die Frage: Warum kam der Beschluß eigentlich erst gestern,
warum nicht früher, warum nicht so rechtzeitig — dasfrage ich jetzt einmal als Haushälter — , daß die erf or-derlichen Geldmittel durch den Haushaltsausschuß in den Haushaltsplan hätten eingestellt werden können? Die erforderliche Deckung in Höhe von, wie ich gelesen habe, rund 53 Millionen DM kann deshalb auch nur durch Scheinumbuchungen, durch Luftumbuchungen, genauer gesagt, durch überplanmäßige Ausgaben im Haushaltsvollzug gefunden werden. Das ist ein Verfahren, welches sich am Rande des Haushaltsrechts bewegt. Deshalb sage ich: Dies hätte sich die Bundesregierung ersparen können, wenn sie rechtzeitig und vor allen Dingen umfassend gehandelt hätte.
Dagegen sind die Investitionsmittel für den Neubau, Umbau und die Unterhaltung von Unterkünften für die Soldaten drastisch gekürzt worden, was im Hinblick auf die Lage der Soldaten ein falsches Signal ist und übrigens die Lage der Bauwirtschaft und ihrer Beschäftigten auch nicht gerade verbessert.Aber da, wo der Minister im Haushaltsausschuß die dritte Priorität gesetzt hat — bei der Rüstungsbeschaffung — , ist er dabei, schon jetzt Entscheidungen zu treffen, die den Finanzrahmen ab Mitte der 90er Jahre so erheblich vorbelasten, daß überhaupt nicht zu sehen ist, Herr Kollege Wimmer, wie das überhaupt bezahlt werden soll. Die Personal- und insbesondere die Personalnebenkosten explodieren vor allem, wenn der Minister an der unrealistischen Zahl von 456 000 aktiven Soldaten festhalten will. Bei Zeit- und Berufssoldaten wird die Hardthöhe mit der Wirtschaft um die besten Fachkräfte konkurrieren müssen. Das wird viel mehr Geld kosten. Bei den Wehrpflichtigen wird es angesichts der geburtenschwachen Jahrgänge zu unsozialen Härten kommen. Denken Sie nur an die Verheirateten und die jungen Familien. Deren Unterhaltssicherung wird dann weiter verbessert werden müssen. Das werden Sie nicht durchhalten. Das werden Sie auch dann nicht durchhalten, wenn Sie 300 000 oder gar 400 000 Reservisten einberufen wollen. Diese können Sie nicht mit einer 70- oder 90 %igen Unterhaltssicherung abspeisen. Das geht nicht, Herr Minister, wenn Sie nicht noch mehr Unfrieden unter denen schaffen wollen, die dann einberufen werden.Die Bundeswehr wird, wenn sie die bisherige Sollstärke erhalten will, Personalprobleme bekommen. Ich sage noch einmal: Die Zahl von 456 000 aktiven Soldaten wird nicht aufrechtzuerhalten sein. Der Verteidigungsminister täte gut daran, auch darüber nachzudenken. Dieses Nachdenken, Herr Minister, sollte in den Bundeswehrplan 1989 einfließen, damit er bei Aufstellung Realität ist und nicht wiederum nur Makulatur. Denn was bedeutet der Rückgang der Zahl der aktiven Soldaten insbesondere für das Heer und seine Bewaffnung? Welche Folgen ergeben sich für die Verteidigungsfähigkeit? Hier muß der Öffentlichkeit, aber auch unseren Verbündeten endlich reiner Wein eingeschenkt werden.Das immer teurer werdende Gerät wird zunehmend mehr Geld für Wartung, Unterhaltung und die Versorgung mit Ersatzteilen verschlingen. Wie der Minister angesichts dieser voraussehbaren Entwicklung immer neue, in astronomische Größenordnungen expandierende Großwaffensysteme auf den Weg bringen
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2766 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Waltherkann, bleibt leider schleierhaft. Der Panzerabwehrhubschrauber 2, Herr Minister, für den Sie in der letzten oder in der vorletzten Woche mit großem Brimborium die Unterschrift mit Ihrem französischen Kollegen geleistet haben, ist so, wie er jetzt geplant ist, ein Musterbeispiel für mangelendes Kostenbewußtsein. Einerseits soll mit viel Geld das Rad oder sogar das Dreirad noch einmal erfunden werden, andererseits werden die technisch-militärischen Forderungen so hoch geschraubt, daß noch gar nicht sicher ist, ob diese allesamt in ein System integriert werden können. Vor allem deshalb sind die Entwicklungskosten doch so hoch und dauert die Entwicklung so furchtbar lange, bis Mitte der 90er Jahre. Deswegen sage ich Ihnen schon heute voraus, daß die Gesamtkosten nicht 8,6 Milliarden DM, sondern mindestens das Doppelte betragen werden, also pro Stück 80 Millionen DM. Damit ergibt sich ein fast so hoher Stückpreis wie beim Tornado.Eine ähnliche Entwicklung vollzieht sich beim Jäger 90, nur noch viel rasanter. Sie, Herr Minister, haben im Haushaltsausschuß meiner Schätzung, daß dieses Waffensystem, so es denn wie geplant beschafft werden sollte, rund 52 Milliarden DM kosten wird, nicht widersprochen. Daneben wollen Sie NATO-Fregatten, U-Boote, Haubitzen, Kampfwagen, Bodenabstandswaffen, intelligente Munition — um nur einiges aufzuzählen — entwickeln und beschaffen.Auch die Forschungsmittel sollen immer weiter gesteigert werden. Sie sind nach meiner Meinung mit über 2 Milliarden DM schon jetzt weit überhöht, denn allein 800 Millionen DM entfallen auf freie Forschung. Herr Minister, das ist nichts anderes als eine subtile Subvention der Industrie.
Dies geschieht unter einer Regierung, die angetreten ist, um angeblich Subventionen abzubauen. Das glaubt zwar kein Mensch, aber sie sagt es nach wie vor.
Das sage ich auch ganz ernst: Es besteht für mich kein Zweifel daran, daß in der bundesdeutschen Rüstungsindustrie erheblich überhöhte Kapazitäten vorhanden sind. Es wäre besser — jedenfalls in dem einen oder anderen Falle — , schon jetzt auf zivile Produktionen umzusteigen, denn durch diese überhöhten Kapazitäten wird eine Vielzahl von hochqualifizierten Fachleuten — z. B. Ingenieure — gebunden, die dringend in der zivilen Forschung gebraucht werden.Alle diese hochfliegenden Pläne — mehr Geld für das Personal, mehr Geld für Unterhaltung und Wartung, mehr Geld für die Rüstung — könnten nur noch über erheblich mehr neue Schulden bezahlt werden, Herr Kollege Dr. Friedmann. Dies aber kann im Ernst niemand verantworten. Aber es ging ja noch weiter. Die nächste Runde der Rüstungsspirale wäre, wenn nichts passierte, schon heute abzusehen. Das Haseund-Igel-Spiel, das da heißt: Kaum hat die eine Seite etwas Neues, hat die andere Seite etwas Besseres!, würde ununterbrochen weitergespielt, und zwar mit immer höheren, noch gigantischeren Kosten. Jedermann, der sich ein bißchem mit der Materie beschäftigt, weiß: Jedes neue Waffensystem ist mindestens zehnmal so teuer wie das System, das gerade abgelöst werden soll. Ich sage auch dies in allem Ernst: Dies kann kein Land der Erde mehr bezahlen, weder die Vereinigten Staaten noch die Sowjetunion noch die Bundesrepublik Deutschland. Niemand kann diese explodierenden Kosten des Rüstungswahnsinns mehr bezahlen.
Sie, Herr Kollege Wörner — ich muß das leider sagen — , sind bisher im Haushaltsausschuß — ich vermute: auch im Verteidigungsausschuß — die Antwort auf die absehbaren Finanzierungskalamitäten schuldig geblieben. Sie hätten heute nachmittag die Gelegenheit, in aller Öffentlichkeit die ja nicht nur von uns gestellten Fragen zu beantworten. Eines sage ich Ihnen schon jetzt, auch im Hinblick auf die Diskussion, die gerade abgeschlossen worden ist, Herr Kollege Rühe: Die Antwort auf die sich abzeichnende Teilrüstung im nuklearen Bereich kann nicht mehr Aufrüstung im Bereich der atomaren Kurzstreckenwaffen und auch nicht mehr Aufrüstung im sogenannten — so sage ich bewußt — konventionellen Bereich heißen, weil das nicht mehr zu bezahlen ist. Die Antwort muß vielmehr lauten: Abrüstung auf allen Ebenen, sowohl im nuklearen als auch im konventionellen Bereich.
Meine Damen und Herren, niemand wird, denke ich, widersprechen, wenn ich sage: Dies wäre nicht nur die Aufgabe dieses Ministers, sondern auch die verantwortungsvolle Aufgabe der deutschen Politik.Vielen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedmann.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Wenn Sie, lieber Kollege Walther, soeben so daherlamentiert haben, wir hätten da herzlos eine halbe Milliarde DM herausgestrichen,
dann möchte ich nur daran erinnern: Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, dann hätten wir rund 1 Milliarde DM herausstreichen müssen.
— Der Beifall zeigt, daß Sie da noch edel sind, gemessen an dem, was andere in Ihrer Fraktion wollen.
Bei Ihnen herrscht wirklich die Meinung vor: Wenn man irgendwo Geld braucht — sei es im sozialen Bereich oder wo auch immer — , bei der Verteidigung könnten wir es holen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2767
Dr. FriedmannDamit hier keine Mär entsteht, möchte ich hier klipp und klar auch für unsere eigenen Kollegen noch einmal darlegen, wie der Betrag zustande kommt. Herr Wimmer, wir haben bei den Berichterstattergesprächen 142 Millionen DM herausgestrichen und haben dies auch mit dem Verteidigungsminister besprochen. Es war ein offenes Gespräch. Auf den Dollarkurs, der materiell überhaupt nichts ausmacht, kommen 43 Millionen DM. Dazu kommt dann die prozentuale Auswirkung der globalen Minderausgabe, die alle Ressorts betrifft, plus die 3 %ige Kürzung der Verwaltungsausgaben, die auch alle Ressorts betrifft. Dann ergibt sich ein Betrag von etwas mehr als 450 Millionen DM.
— Wird mir das angerechnet?
Das wird natürlich nicht angerechnet, wenn es nicht übertrieben wird.
Bitte sehr, Sie haben die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen.
Herr Kollege, können Sie mir sagen, warum die Kollegen des Haushaltsausschusses klüger sind als die der Fachausschüsse, die sich auch über fünf Tage Gedanken gemacht haben, wie dieser Haushalt aussehen soll?
Herr Abgeordneter Biehle, hätten Sie die Güte, die Usancen des Hauses zu praktizieren?
Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Kollege Biehle, wir zweifeln nicht an der unergründlichen und unerschöpflichen Weisheit des Fachausschusses. Das dürfen Sie mir abnehmen. Aber am Schluß, wenn wir den Gesamthaushalt in Ordnung bringen müssen, geht es halt nicht anders, als so, wie verfahren wurde. Wir standen vor der Aufgabe, die Neuverschuldung auf 29,5 Milliarden DM zu begrenzen.
Die Maßnahmen, die wir dabei ergriffen haben, sind nicht zum erstenmal in gleicher Weise ergriffen worden.
Der Verteidigungshaushalt hat dieses Mal ein Volumen von 51,4 Milliarden DM. Das sind rund 550 Millionen DM mehr als das letzte Mal. Wir befinden uns vor folgendem Dilemma. Auf der einen Seite ist es Auswirkung des bevorstehenden Abkommens über Mittelstreckenraketen, daß die konventionelle Verteidigungsfähigkeit noch wichtiger als bisher wird und entsprechend Geld kostet. Auf der anderen Seite sehen wir den Anforderungen, die auf den Bundeshaushalt zukommen. Insoweit haben wir eben einen beengten Spielraum.
Ein Zweites: Wegen der geburtenschwachen Jahrgänge gewinnen die Personalkosten künftig eine größere Bedeutung im Gesamthaushalt; denn es kommen nicht mehr genug Wehrpflichtige. Wenn wir statt ihrer mehr Zeitsoldaten nehmen, kostet das mehr Geld. Damit engt sich der Rahmen ein, der noch für Materialbeschaffungen und Betriebskosten zur Verfügung steht. Das ist auch ein Problem, mit dem wir fertig werden müssen.
Herr Abgeordneter Klejdzinski möchte auch eine Zwischenfrage stellen.
Wenn es nicht angerechnet wird, Herr Präsident, bitte schön.
Noch geht es.
Herr Kollege, stimmen Sie mir zu, daß man, wenn man eine realistische Einschätzung der Friedensstärke vorgenommen hätte — auch bezogen auf die zukünftige Planung — , erhebliche Finanzmittel frei gehabt hätte, die Sie jetzt aus haushaltstechnischen Gründen gestrichen haben und mit denen man sonst Schwerpunkte hätte setzen können?
Herr Kollege Klejdzinski, ich werde gleich noch auf einige Punkte eingehen, die zeigen, wie man mit dem vorhandenen Geld trotzdem die Verteidigungsfähigkeit steigern kann. Insoweit ist meine Antwort eine Ergänzung zu dem, was Sie ansprechen wollten.Wir stehen vor der Notwendigkeit, mit den vorhandenen knappen Mitteln, die nur begrenzt zu steigern sind, so viel Verteidigung wie möglich zu produzieren. Vor diesem Hintergrund möchte ich mir einige Anregungen erlauben, die auch für die Öffentlichkeit bestimmt sind; denn ich möchte klarmachen: Auch mit den vorhandenen und nur in geringem Maße zu steigernden Mitteln läßt sich die Verteidigungsfähigkeit erhöhen.Punkt eins: Die Bundeswehr muß davon Abschied nehmen, immer das Modernste, das Hypermodernste zu verlangen.
Es reicht oft, auf marktgängige Waren zurückzugreifen. Ich bringe einige Beispiele dafür.
Wenn man alle Anforderungen zusammenstellt, die heute an einen Kampfwagen 2000 gestellt werden, dann müßte der Panzer 72 t wiegen. Zum Vergleich: Der Leo 2 wiegt ganze 52 t.Ein anderes Beispiel: Wenn man sich beim Jäger 90 auf 9,5 t einigt, dann heißt das, daß noch Material erfunden und entwickelt werden muß, das es noch gar nicht gibt. Allein diese Festsetzung bedeutet eine Preistreiberei der Güteklasse eins.
Ich bringe Beispiele aus dem Bereich anderer Wehrmachten. Mir ist z. B. zugegangen, wie die US Air Force für einen bestimmten Flugzeugtyp, für die Ga-
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2768 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Dr. Friedmannlaxy, Kaffeemaschinen beschafft hat: das Stück zu 7 400 Dollar.
— Warten Sie doch einmal ab. — Die Kaffeemaschine muß Anforderungen hinsichtlich der Rüttelfestigkeit usf. erfüllen, d. h. die Kaffeemaschine muß überleben, was das Flugzeug und was die Besatzung nicht überlebt.
Es gibt andere Beispiele.
Ich möchte damit nur sagen: Die technischen Anforderungen werden manchmal in einer Weise überzogen, die nicht sein muß. Man kann dabei Geld einsparen.Ein Zweites: Ich möchte zu bedenken geben, daß oft technische Anforderungen nachgeschoben werden, die Geld kosten. Es muß klar sein: Wenn man sich einmal auf die Anforderungen geeinigt hat, hat es dabei zu bleiben, damit die Kosten nicht aus dem Ruder laufen.
Ich möchte drittens anregen, daß die sogenannten Einschiebungen, die oft von der Industrie her kommen, kritisch bedacht werden müssen. Man kann nicht allem nachgeben, was da nachgeschoben wird, zumal dafür oft die Bedrohungsanalyse herhalten muß, die so gar nicht gegeben ist.
Ich möchte noch als Beispiel anführen, daß das Projekt-Management sorgfältig zu handhaben ist. Herr Verteidigungsminister, das sind keine Vorwürfe an Sie persönlich, aber man muß einmal aufzeigen, was man vielleicht noch bessermachen kann.Bei jeder Beschaffung eines Rüstungsguts gibt es verschiedene Phasen. Es gibt die Konzeptions-, die Definitions-, die Entwicklungs- und die Beschaffungsphase. Es wäre, wenn man den Projekt-Manager wechseln muß, sinnvoll, dies nur zwischen den einzelnen Phasen, aber nicht in den Phasen selber zu tun, damit der einzelne das, was er vorhat, auch durchziehen kann.Dabei wäre zu überlegen, ob es beamtenrechtlich möglich ist, daß sogenannte temporary ranks eingeführt werden, d. h. Höherstufungen nur für die Dauer des Beschaffungsvorgangs, erfolgen.
Ich möchte daran erinnern, daß es sinnvoll sein könnte, die sogenannte technische Intelligenz stärker zu nutzen. Das kann bewirken, daß man mit weniger Besatzungskräften in Kampfpanzern, in Flugzeugen, in Schiffen auskommt.Ich möchte daran erinnern — darauf sind wir im Rechnungsprüfungsausschuß gestoßen — , daß es möglich ist, z. B. Simulationszentren einzurichten, so daß es gar nicht mehr nötig ist, daß die Panzerübung immer auf der Straße stattfindet.In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, daß ich sehr dafür bin, ein DV-Zentrum für das Heer in Meppen einzurichten, das sich schwerpunktmäßig diesen Aufgaben widmen wird.
Es wird auch nötig sein, die Beschaffungsvorgänge nicht nur militärisch, sondern auch industriepolitisch auszurichten. Die Beschaffungen erfolgen oft wellenmäßig. Da kann es sinnvoll sein, im allseitigen Interesse auf eine gleichmäßige Mindestauslastung der Rüstungsfirmen zu achten; denn wenn sie ihre Kernmannschaften zunächst entlassen und dann wieder einzustellen haben, kommt das beide Seiten zu teuer.
Dies alles mögen nur Beispiele sein, wie es durch ein entsprechendes Handling möglich ist, die vorhandenen knappen Finanzmittel effektiv zu nutzen.
Ich möchte auch daran erinnern, daß es notwendig werden wird, wenn im nächsten Jahrzehnt mehrere große Beschaffungsvorgänge zusammenfallen, diese Beschaffungen zeitlich geschickt zu strecken, damit das ganze auch finanzierbar ist. Es darf nicht dazu kommen, daß in zwei oder drei Jahren alles anfällt und die Beschaffungen dann unter das Fallbeil der Finanzen geraten.
Dies alles sind Möglichkeiten, die man nutzen muß. Sie werden nicht alles durch mehr Effizienz gut machen können, darüber bin ich mir im klaren. Wir werden in künftigen Jahren entsprechend mehr Geld für die Verteidigung ausgeben müssen. Wir müssen dann allerdings auch politisch die Schwerpunkte setzen. Wir haben der Bevölkerung zu verdeutlichen, daß Verteidigung ihren Preis hat. Wir werden politisch sagen müssen, was nicht mehr geht, damit eine Verteidigung möglich ist. Vor diesem Hintergrund werden wir die kritischen Diskussionen in der Öffentlichkeit noch verstärkt offen zu führen haben.Die Zusammenarbeit unter uns war kritisch, aber konstruktiv. Ich möchte dem Herrn Verteidigungsminister, der Frau Staatssekretärin, ich möchte der Hardthöhe insgesamt und auch den Soldaten dafür den Dank unserer Fraktion sagen.Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schilling.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Guten Abend! Vielleicht ist es doch noch möglich, daß hier einige Leute ihrem Namen Ehre machen. Die Haushaltsdebatte ist ritualisiert wie kein anderes Verfahren im Bundestag, und sie wird als Höhepunkt insgesamt angesehen, weil es ums Geld geht, mit dem Fakten geschaffen werden sollen. Daher möchte ich am Anfang einen Appell an die Gewissensfreiheit und an die persönliche Verant-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2769
Frau Schillingwortung aller Abgeordneten richten. Ich zitiere den Artikel 38 des Grundgesetzes:
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages ... sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Der sogenannte Verteidigungshaushalt, der Einzelplan 14, ist kein Haushalt für die Bevölkerung, sondern gegen die Interessen der Bevölkerung.
Aber wer weiß das schon, wer kann das schon nachprüfen, zumal es auch einen geheimen Teil gibt? Desweiteren sind mindestens 11 Einzelpläne ebenfalls von militärischen Ausgaben betroffen, offen oder verdeckt. Aber warum erzähle ich das alles? Weil der Sozialhaushalt mit 60,2 Milliarden als größter und der Verteidigungshaushalt mit 52,3 Milliarden als zweitgrößter Posten bezeichnet wird. Abgesehen davon, daß beide ihren Namen nicht verdienen, stimmt das auch nicht. Der Einzelplan 14 ist der größte Haushaltsposten; den der Einzelplan 14 und die vorhin genannten Posten aus mehreren Einzelplänen ergeben schon eine Summe von 62,9 Milliarden Mark. Damit ist er höher als der Sozialetat.Ein Staat, der mehr Rüstungs- und Militärausgaben als Sozialausgaben hat, verdient den Namen „Sozialstaat" nicht. Als antimilitaristische und pazifistische Partei sind die GRÜNEN prinzipiell für die Streichung sämtlicher Rüstungsausgaben bzw. für ihre Umwandlung in Ausgaben für soziale und ökologische Zwecke.
Wir wissen, daß wir das nicht von heute auf morgen erreichen können, sondern daß ein schrittweises Vorgehen erforderlich ist. Dabei gehen wir nicht quantitativ vor, sondern wir setzen dort an, wo uns die militärisch einschneidendsten und friedenspolitisch bedeutsamsten Effekte von Kürzungen bzw. Streichungen möglich zu sein scheinen.Wir haben Anträge auf Kürzung um ungefähr 35 vorgelegt, um Alternativen möglich zu machen, um überhaupt Gelder zu haben, die Alternativen ermöglichen. Vor allen Dingen werden die aggressiven und offensiven Optionen von Bundeswehr und Nato beschnitten. Wir wollen von einer Aufrüstungs- und Bedrohungspolitik zu einer Politik einseitiger Abrüstung und Vertrauensbildung kommen. Das existierende Massenvernichtungspotential muß abgebaut werden, damit nicht zerstört wird, was eigentlich verteidigt werden soll.Wir tun das nicht aus einer Verweigerungshaltung heraus, sondern wir schlagen das vor, weil kein einziger Mensch in diesem Raum — und auch nicht all die vielen, die nicht hier sind — das, was in diesem Einzelplan 14 steht, überhaupt verantworten kann. Wer den Einzelplan 14 und die Geheimausgaben durchliest, dem schwirrt wirklich der Kopf vor Waffensystemen. Alles mögliche wird da benannt. Das läßt sich aber immer auf vier Begriffe zurückführen: Umrüstung, Aufrüstung, Kampfwertsteigerung und Lebensverlängerung — allerdings Lebensverlängerung für Waffen und Waffensysteme, nicht für Menschen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Klejdzinski?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, gern. Ich wollte nur noch einen Satz loswerden: Statt dieser Ausgaben wäre es wichtiger, intelligente Minister zu haben an Stelle intelligenter Waffen.
Bitte, Herr Abgeordneter Klejdzinski!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Aber das wird mir auch nicht angerechnet.
Sie werden nicht schlechter behandelt als Herr Abgeordneter Dr. Friedmann.
Sehr geschätzte Frau Kollegin, nach Ihrer Einschätzung darf ich Sie fragen, wie oft Sie im Ausschuß waren und dies im Ausschuß vorgebracht haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich wußte, daß Sie diese Frage stellen würden. Ich habe Ihnen schon x-mal gesagt: Es gibt wichtigere Dinge, als im Verteidigungsausschuß für oder gegen irgendwelche Waffensysteme zu stimmen und sich damit von der eigentlichen Arbeit abhalten zu lassen. Ich war des öfteren nicht im Verteidigungsausschuß, weil ich derweil an Blockaden der Friedensbewegung teilgenommen habe, weil ich der Kampagne „Ziviler Ungehorsam bis zur Abrüstung" angehöre und das immer wieder so tun werde.
Ich hoffe nur, daß Sie mich eines Tages einmal begleiten!
Nun, Frau Abgeordnete, bittet der Abgeordnete Ronneburger um eine Zwischenfrage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ja, bitte.
Frau Kollegin, habe ich Sie recht verstanden, daß es für Sie als Bundestagsabgeordnete wichtigere Dinge gibt, als die Pflichten wahrzunehmen, die wir nach unserem Auftrag als Abgeordnete in diesem Hause und seinen Ausschüssen zu erfüllen haben?
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2770 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie haben mich richtig verstanden. Es gibt wichtigere Dinge, nämlich draußen für das Leben zu kämpfen, statt hier für Waffensysteme zu stimmen, die den Tod bedeuten, oder darüber zu beraten.
Das halte ich allerdings für wichtiger.
— Man kann beides verbinden, Außerparlamentarisches und Parlamentarisches, und ich versuche das. Ich denke, das ist auch sehr wichtig und sehr legal.Ich meine, daß durch diese ganzen Waffen und Waffensysteme und durch alles, was damit an militärischer Infrastruktur im Einzelplan 14 zusammenhängt, deutlich wird, daß man an die Kraft und an die Macht von Waffen glaubt, daß man an Gewalt glaubt, an organisierte Gewalt glaubt, nicht jedoch, was ich besser fände, an die eigene Kraft. Ich möchte hier dafür plädieren, an die eigene Kraft zu glauben, Gewaltfreiheit zu praktizieren.
Was für Privatleute gilt — ich erinnere an die beiden Morde an der Startbahn West und an andere Gewalttaten — , gilt noch viel mehr für die Vorbildfunktion des Staates. „Gewaltmonopol" allein schon als Begriff gefällt mir nicht; ich möchte es lieber „Machtmonopol" nennen. Der Staat soll sein Machtmonopol haben, aber ich habe den Anspruch an diesen Staat,
daß er gewaltfrei damit umgeht. Diesen Anspruch kann man in einem demokratischen Gemeinwesen wohl wahrlich stellen.Wer den Einzelplan 14 liest, merkt, daß Frieden hier überhaupt nicht vorgesehen ist. Es wird immer gesagt: Die Waffen sind der Weg zum Frieden, sind der Preis dafür, und wir kommen nur so zum Frieden. Ich kann dazu nur sagen: Dieser Preis ist mir zu hoch, weil er alles vernichtet. Hier wird die Verharmlosung von Gewalt und von kriegsnaher Ausbildung der Bundeswehr und der NATO betrieben, und dieser Preis ist mir zu hoch. Der Weg zum Frieden ist der Frieden.Herr Wörner, nehmen Sie bitte — das meine ich wirklich ernst — Ihre Vermummung ab,
zeigen Sie Ihr Gesicht, zeigen Sie, wie ein demokratisches Gemeinwesen verantwortlich und gewaltfrei mit dem Machtmonopol des Staates umgeht! Zeigen Sie das! Sie vermummen sich ebenfalls: mit Waffen, und dagegen habe ich genauso etwas wie gegen die andere Vermummung.
Der sogenannte Verteidigungshaushalt beschafft Waffen, die mit Verteidigung nichts zu tun haben, die allgemein oder zusammen mit anderen Waffensysternen aggressive und offensive Optionen offenhalten, bis zu 1 000 km tief ins gegnerische Hinterland —ABC-Waffen, konventionell, elektronisch, alles vorgesehen. Das ist nicht nur grundgesetzwidrig, weil es das friedliche Zusammenleben der Völker stört und zerstört, sondern auch völkerrechtswidrig. Warum hat die Bundesregierung die Genfer Konvention noch nicht ratifiziert? Unter anderem doch deshalb, weil dann schwarz auf weiß stünde, daß die NATO-Strategie der „flexible response" völkerrechtswidrig ist. Das würde dann schwarz auf weiß herauskommen; die Signatarstaaten verpflichten sich nämlich, umweltverändernde militärische oder andere feindselige Techniken, die weiträumige, langandauernde oder schwerwiegende Auswirkungen haben, nicht anzuwenden. Die Bundesregierung weiß ganz genau, was sie vorhat; im Einzelplan 14 soll es nämlich finanziert werden. Deswegen will sie nicht ratifizieren.Ich fordere Sie auf, Herr Kohl, Herr Wörner, Sie alle,
diese Ratifizierung vorzunehmen, damit der Bevölkerung mindestens 62 Milliarden an Steuergeldern für Waffen erspart werden.Und noch etwas, Herr Wörner: Ich bitte Sie, ich fordere Sie auf: Stellen Sie den ehemaligen Völkerrechtsexperten des Bundesverteidigungsministeriums, den Herrn Schneider, der 1982 kaltgestellt wurde, wieder ein und an seinen Platz! Er hat nämlich diese Expertise dazu gemacht,
aus der sich ergibt, daß die Genfer Konvention die Völkerrechtswidrigkeit erweisen würde. Bitte stellen Sie ihn wieder ein, damit er seine Arbeit fortsetzen kann. Die war nämlich gut. Deswegen mußte er auch gehen.
Wenn mensch nachschlägt, stellt er fest: Manöver bedeutet übersetzt Kriegsübung. All das, was hier im Einzelplan 14 finanziert werden soll, wird geübt. Das kostet viel Geld, zerstört unwiederbringlich viel Natur und ist überhaupt nicht wiedergutzumachen.Besonders im Zusammenhang mit Manövern möchte ich — wir haben ja auch unsere Streichungsanträge eingebracht — deswegen den Tiefflugterror erwähnen, der bezahlt und organisiert wird. Wer verteidigen will, braucht keinen Tiefflug. Wer verteidigen will, darf dafür kein Geld ausgeben. Den Lärm, der Menschen und Tiere krank macht, nehmen Sie, Herr Wörner, zynisch in Kauf. Und ich frage mich immer, ob man mit Ihnen als sogenanntem Verteidigungsminister hier nicht den Bock zum Gärtner gemacht hat. Ich habe hier eingemachte Tiefflieger dabei, die garantiert geräuschlos, umweltfreundlich, sicher ohne Konservierungsmittel sind und die vom „Bürgerprotest gegen Tiefflieger" abgefüllt worden sind. Ich werde Ihnen nachher eine Kostprobe davon anbieten. Ich hoffe, Sie greifen zu. Das würde Ihnen jedenfalls gut anstehen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2771
Frau SchillingIch bitte Sie zum Schluß wirklich ganz herzlich — ich appelliere an Ihr Gewissen, auch nach dem Motto: Es ist nie zu spät, Herr Wörner, Herr Kohl, der jetzt nicht hier ist,
an alle Abgeordneten richtet sich mein Appell —: Beziehen Sie Stellung, aber nicht im militärischen Sinne, sondern durch Einstellung der Waffenlieferungen, z. B. an den Iran und den Irak! Diese zynische Neutralität ist überhaupt nicht tragbar und nicht ertragbar.
Heben Sie Ihre Hand nicht für den Einzelplan 14! Die Verantwortung können Sie überhaupt nicht tragen. Wer für diesen Einzelplan 14 stimmt, der stimmt für Gewalt gegen Menschen und gegen Sachen.
Frau Abgeordnete, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten, und ich war großzügig.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bin sofort fertig. — Geben Sie einer wirklichen Verteidigungspolitik eine Chance, damit soziale Verteidigung bezahlt und organisiert werden kann und nicht zerstört wird! Beteiligen Sie sich an der Kampagne für zivilen Ungehorsam!
Frau Abgeordnete, — —
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich möchte schließen mit einem Wort von Einstein, der gesagt hat: Man kann nicht gleichzeitig den Krieg vorbereiten und ihn verhindern. Und ich füge hinzu: Wer den Frieden will, muß auch den Frieden vorbereiten.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Seiler-Albring.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte erlauben Sie, daß ich Ihnen zu Beginn meiner Rede den Text eines Telex' vorlese, der uns, glaube ich, allen Grund zur Freude gibt:
Die Außenminister der beiden Supermächte haben sich am Dienstagnachmittag in Genf auf den Text des Vertrages über die Abschaffung der nuklearen Mittelstreckenwaffen geeinigt. Das gab Außenminister George Shultz nach einer kurzen Nachmittagssitzung mit seinem sowjetischen Kollegen Eduard Schewardnadse in der amerikanischen UNO-Mission bekannt.
Ich glaube, hiermit werden eine ganze Menge Hoffnungen der Menschen in allen Teilen der Welt realisiert.
Meine Damen und Herren, lieber Kollege Walther, Sie haben natürlich recht, daß der Verteidigungsminister gesagt hat, daß sein Haushalt sehr knapp bemessen sei. Er wäre natürlich ein ausgesprochen schlechter Verteidigungsminister,
wenn er nicht versuchen würde, für sein Ministerium und für seine Soldaten aus dem Bundeshaushalt so viel wie möglich herauszuholen. Aber, meine Damen und Herren, es ist auch richtig, daß wir als Berichterstatter der Koalitionsfraktionen im Verlauf unserer Berichterstattergespräche eine Kürzung um fast 200 Millionen DM vorgenommen haben. Doch dieser Verteidigungshaushalt bleibt nach wie vor der zweitgrößte Einzeletat des Bundeshaushalts.
Ich weiß, daß diese Sparmaßnahmen im Bereich der Bundeswehr auch in unseren eigenen Reihen nicht besonders populär sind und angesichts der engen Spielräume von vielen als zu massiv betrachtet werden. Aber ungeachtet einer uneingeschränkten Bejahung des Verteidigungsauftrags der Bundeswehr und der zunehmenden Bedeutung der konventionellen Verteidigungsfähigkeit muß auch der Verteidigungshaushalt im Zusammenhang mit der gesamten Haushaltslage des Bundes und in der Konkurrenz zu anderen Politikbereichen gesehen werden.
Unsere Kürzungsvorschläge, die wir im Haushaltsausschuß beschlossen haben, sind entsprechend den Erfahrungswerten aus den vergangenen Haushaltsjahren über eine Reihe von Positionen verteilt und angemessen.
Die Kürzungsvorschläge der Sozialdemokraten allerdings würden vor allem dort, wo sie, wenn sie so realisiert würden, in die Materialtitel gingen, nach unserer Meinung tief in die Substanz eingreifen. Wer wüßte nicht, daß es sehr viel populärer ist, die soziale Komponente im Verteidigungshaushalt zu betonen und zu stärken?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Walther?
Bitte.
Herr Kollege Walther.
Frau Kollegin, da Sie hier die wahrheitswidrige Behauptung aufgestellt haben, wir hätten im Haushaltsausschuß tiefe Einschnitte in die Titel für die Materialerhaltung beantragt,
frage ich: Können Sie mir einen einzigen Beweis dafür liefern — in einer Haushaltsausschuß-Drucksache —, daß wir einen solchen Antrag gestellt haben?
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2772 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Herr Kollege Walther, Sie wissen ganz genau, daß wir in dem Berichterstattergespräch auf der Hardthöhe — —
Die Protokolle, die Sie ausdrücklich gelobt haben und die ich nachgelesen habe, sprechen eine sehr deutliche Sprache. Sie können das Protokoll der Berichterstattergespräche nachlesen und hier Kürzungsvorschläge, die Sie zum Teil gemeinsam mit dem Kollegen Kleinert gemacht haben, nachlesen. Also wahrheitswidrig? Nein.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Walther, Frau Kollegin?
Nein.
Keine weitere Zwischenfrage.
Herr Kollege Walther, ich werde nachher gern mit diesen Unterlagen zu Ihnen kommen und wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie dann Ihre — —
— Ach so! Das heißt: Wenn Sie sich hier in den Berichterstattergesprächen — —
— Herr Kollege Walther, Sie haben diese Anträge im Berichterstattergespräch gestellt.
— Wir haben sie dort diskutiert. Ich nehme nicht an, daß Sie unsere Zeit im Berichterstattergespräch vergeuden. Wir haben nämlich alle eine ganze Menge anderer Dinge zu tun.
Wenn Sie das dort nicht ernst meinen, ersparen Sie uns in Zukunft solche Dinge!
Was soll das denn dann? Dann ersparen wir uns doch in Zukunft die Berichterstattergespräche!
— Nein. Also Herr Kollege Walther, — —
Jetzt hat die Rednerin das Wort.
Herr Kollege Walther!
— Herr Kollege Walther!
Ich darf hier feststellen, daß in den Berichterstattergesprächen seitens Ihrer Fraktion eine ganze Reihe von Kürzungsanträgen gestellt worden ist. Wollen Sie das bestreiten? Wenn ich mich mit dem „Haushaltsausschuß" falsch ausgedrückt haben sollte, nehme ich das zurück. Sie haben diese Anträge gestellt. Und somit fahre ich jetzt fort.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Walther, Frau Kollegin?
Nein, Frau Präsidentin.
Meine Fraktion hat durch ihre Anträge und Beschlüsse in der Vergangenheit und anläßlich dieser Haushaltsberatungen gezeigt, daß sie der Situation der Menschen in den Streitkräften eine besondere Bedeutung zumißt. Dennoch ist uns bewußt, daß die soziale Lage der Soldaten, ob wehrpflichtiger Mannschaftsgrad, Unteroffizier oder Offizier, weiterhin verbessert werden muß.Lassen Sie mich nur einige Stichworte herausgreifen. Es besteht weiterhin die Aufgabe, die Dienstzeitbelastung in einer befriedigenden Form zu lösen, die sowohl den Anforderungen des Dienstes als auch dem berechtigten Wunsch der Soldaten und ihrer Familien nach planbarer Freizeit entgegenkommt. Das ist in anderen gesellschaftlichen Bereichen eine pure Selbstverständlichkeit. Es geht weiter um ein Umzugskostenrecht, das der auch in Zukunft unverzichtbaren Mobilität Rechnung trägt, die damit verbundenen Belastungen für die Familien aber so gering wie möglich hält. Wer die Attraktivität des Soldatenberufs steigern und fördern will, muß die Situation besonders der mitarbeitenden Ehefrauen beachten. Es paßt ganz und gar nicht mehr in die gesellschaftliche und politische Landschaft, wenn die weitere Förderung eines Soldaten bei gleicher Qualifikation vom sofortigen Umzug bei neuer Verwendung, so wünschenswert dieser aus der Sicht des Dienstherrn auch sein mag, abhängig gemacht wird.Auf der anderen Seite wird es mit der Motivation der Soldaten gerade in einer Wehrpflichtigenarmee sehr schnell zu Ende gehen, wenn die Überlebensfähigkeit durch veraltete, unmoderne Waffensysteme gefährdet ist. Deshalb sind die Aufrechterhaltung des hohen technischen Standards der Bundeswehr und die kontinuierliche Erneuerung und Modernisierung des Geräts unverzichtbar.An dieser Stelle wäre es angebracht, sich auch mit den Kürzungsvorschlägen der GRÜNEN einmal näher zu befassen, etwas näher, als dies aus Zeitgründen möglich ist, weil hieran die ganze Widersprüchlichkeit und Konfusion ihrer Politik zum Ausdruck kommen. Bundeswehr? NATO? Nein, danke! — Oder vielleicht doch ein bißchen?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2773
Frau Seiler-AlbringDas führt dann zu ganz erstaunlichen Vorstellungen. Herr Kleinert, es tut mir leid; ich weiß, Sie haben es zur Zeit in Ihrer Fraktion ohnehin nicht allzu leicht, aber das muß ich hier dann doch noch vortragen dürfen: Die Materialkapitel werden zwar gehörig zusammengestrichen, der Verteidigungsminister aber darf ein paar Schiffe, Flugzeuge und Panzer behalten. Die Betriebsstoffe werden dann natürlich so knapp gehalten, daß kein Betrieb möglich ist. Um die List ganz vollkommen zu machen, möchten die GRÜNEN dann kurzerhand die Bezüge der Berufs- und Zeitsoldaten, die Sozialversicherungs- und Arbeitslosenversicherungsbeiträge für wehrpflichtige Soldaten — das muß man sich einmal ganz genau anhören —,
das Trennungsgeld und die Fahrtkostenzuschüsse und als krönenden Abschluß die Beschaffung von persönlicher Ausrüstung und Bekleidung streichen.
— Herr Kleinert, ich kann es Ihnen gleich an Hand des Protokolls nachweisen.
Meine Damen und Herren, von der einprozentigen Stellenkürzung wird der militärische Teil der Bundeswehr naturgemäß ausgenommen, der zivile Sektor allerdings nicht. Wir wissen, daß diese Maßnahmen wie die übrigen Einsparungen auf Kritik stoßen. Vor dem Hintergrund der deutlichen Strukturverbesserung im zivilen Sektor aber sind sie nach unserer Ansicht zumutbar. Der Vorschlag, die geplante Einsparung über eine weitere globale Minderausgabe zu erzielen, ist unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung aus haushälterischen Überlegungen nicht durchführbar.Im Zusammenhang mit der ersten Lesung wurde festgestellt, auch seitens des Verteidigungsministeriums, daß der Verteidigungshaushalt 1988 zwar knapp bemessen ist, die konventionelle Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr aber in vollem Umfang gewährleistet ist. Dies ist nach unserer festen Überzeugung auch nach den vorgenommenen Kürzungen der Fall.Meine Damen und Herren, beim Blick über den tagespolitischen Tellerrand hinaus — darin sind wir uns alle sicherlich einig — sehen wir, daß auf die Bundeswehr bereits in den nächsten Jahren ganz erhebliche Finanzprobleme und -risiken zukommen werden. Wir stehen in einer Phase, in der grundlegende Weichenstellungen für die Bundeswehr der nächsten 20, 30 Jahre vorgenommen werden müssen. Die Sicherung des notwendigen Personalumfangs der Bundeswehr und die Beschaffung moderner konventioneller Waffensysteme bei allen drei Teilstreitkräften in der Mitte der 90er Jahre sind angesichts eines absehbar engen Finanzrahmens eine gewaltige planerische und organisatorische Herausforderung.Meine Fraktion besteht daher vor der Entscheidung über ein Jagdflugzeug der 90er Jahre darauf, daß das Verteidigungsministerium seine Planung im personellen wie im materiellen Sektor konkretisiert und präzisiert. Wir wollen wissen, wie die notwendige Steigerung der Attraktivität des Soldatenberufes nicht nur postuliert, sondern in konkrete Vorschläge umgesetzt wird und welche Verdrängungseffekte in den einzelnen Teilstreitkräften die geplanten Beschaffungen haben werden.
Eine Bemerkung zum geplanten deutsch-französischen Panzerabwehr-Hubschrauber. Ich sage hier sehr deutlich, daß ich diesem Vorhaben nur mit sehr großen Bedenken zugestimmt habe
und daß dieses Verfahren nicht beliebig wiederholbar sein kann.
Meine Bedenken und die meiner Kollegen richten sich nicht grundsätzlich gegen einen PanzerabwehrHubschrauber. Wir wissen, daß das deutsche Heer diesen dringend benötigt. Sorgen machen uns sowohl der späte zeitliche Zulauf, nämlich erst kurz vor der Jahrtausendwende, und vor allen Dingen die Mehrkosten, die die gemeinsame deutsch-französische Entwicklung verursachen wird.Als Bewohnerin eines Bundeslandes, in dem die deutsch-französische Freundschaft nicht nur postuliert, sondern seit langem praktiziert und gelebt wird, unterstütze ich die Bestrebungen der Bundesregierung, die Zusammenarbeit mit unseren französischen Nachbarn auch in Fragen der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zu vertiefen. Meine Kollegen und ich haben aus diesem Grunde dem Vorhaben PAH II zugestimmt. Ich glaube aber, daß es sehr angezeigt und in diesen Tagen sehr wichtig ist, auch gegenüber unseren anderen NATO-Partnern deutlich zu machen, daß in der engen Zusammenarbeit mit ihnen die Garantie für ein Leben in Frieden und Freiheit in Mitteleuropa gewährleistet ist.
Die FDP setzt aus Überzeugung auf einen Frieden durch Vertrauen und nicht auf Nichtkrieg durch Abschreckung. Vor allem deswegen, aber auch vor dem Hintergrund der beschriebenen engen finanziellen Spielräume sowohl in unserem eigenen Haushalt als auch in den Haushalten unserer Verbündeten, fordern wir als logische Konsequenz aus den ersten nun erfolgreichen Abrüstungsschritten auf nuklearem Sektor die Entwicklung eines von allen Seiten getragenen, akzeptablen Kompromisses und Konzepts zur Abrüstung im konventionellen Bereich und zur Förderung der Stabilität.Ich möchte schließen mit einem Dank an die Mitarbeiter des Ministeriums. Mein besonderer Dank gilt den Soldaten und den zivilen Mitarbeitern in den Streitkräften. Gemeinsam mit ihnen ist es uns gelungen, erstmals in der deutschen Geschichte eine voll in der Demokratie verwurzelte Armee zu schaffen. Mit ihrem Engagement und ihrem fachlichen Können haben die Mannschaften, Unteroffiziere, Feldwebel und Offiziere Streitkräfte geschaffen, deren hohe Qualität
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2774 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Frau Seiler-Albringim Bündnis unbestritten ist und die bei unserem sicherheitspolitischen Gegner respektiert werden.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Abgeordnete Walther.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem die Frau Kollegin Seiler-Albring eine weitere Zusatzfrage von mir nicht zugelassen hat, sehe ich mich gezwungen, hier die Wahrheit darzustellen.
Es hat Berichterstattergespräche auf der Hardthöhe gegeben. In diesen Berichterstattergesprächen haben der Kollege Kühbacher und ich eine Reihe von Vorschlägen gemacht, die in der Sitzung des Haushaltsausschusses nicht aufgenommen worden sind. Im Haushaltsausschuß wird über Anträge abgestimmt, die dort gestellt werden. Da stelle ich fest, daß die SPD-Gruppe nicht einen einzigen Antrag zur Kürzung von Materialtiteln gestellt hat.
Richtig ist vielmehr, daß die SPD-Gruppe den Antrag gestellt hat, bei der Materialerhaltung der Luftwaffe 50 Millionen DM draufzusatteln. Diesen Antrag hat die Koalition abgelehnt, wie sie übrigens auch Anträge abgelehnt hat, die die Möglichkeit geschaffen hätten, die Situation der Soldaten zu verbessern. Dies ist die Wahrheit, und ich füge hinzu, Frau Kollegin: Wenn sich ein solcher Vorgang noch einmal wiederholen sollte, werden wir keine gemeinsamen Berichterstattergespräche mehr machen.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundesminister der Verteidigung, Dr. Wörner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Zunächst einmal: Die Frage, die bei einer Haushaltsdebatte über den Verteidigungsetat wirklich interessiert, ist nicht die, was der Verteidigungsminister gern hätte oder nicht, ist auch nicht die, was ein General, ein Soldat oder ein ziviler Bediensteter der Bundeswehr gerne hätte oder nicht; die Frage, über die wir uns hier zu unterhalten haben, ist alleine die, was im Interesse der Sicherheit der Bundesrepulik Deutschland und ihrer Bürger vonnöten ist.
Lassen Sie mich dazu ein paar Feststellungen treffen:Erstens: Die internationale Lage wie auch die nationale Sicherheit erfordern zwingend die Aufrechterhaltung der Kampfkraft und der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr auch in den 90er Jahren — das ist das Zentrale, darauf kommt es an — , und zwar auch nicht um der Bundeswehr willen, sondern aus der Erkenntnis der letzten Monate und Jahre heraus. Die Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses, für die wir hier alle dankbar sind, die Lage unserer Strategie und die Lage im Bündnis gestatten kein Nachlassen unserer Verteidigungsanstrengungen.Wenn es Fortschritte bei der Abrüstung gegeben hat — wir alle sind ja übereinstimmend der Meinung, es gibt sie — , wenn es Fortschritte im Ost-West-Verhältnis gegeben hat, dann doch vor allem auf Grund zweier Tatsachen: einmal wegen des Zusammenhalts im Bündnis und zum zweiten wegen der Stärke und der Wirksamkeit unserer Verteidigung. Deswegen sage ich Ihnen: Beides, der Zusammenhalt im Bündnis und die Stärke unserer Verteidigung, bleibt entscheidende Voraussetzung für weitere Fortschritte zu einer sichereren und friedlicheren Zukunft unseres Landes und ganz Europas.Damit komme ich zu einem Problem, das die Kollegen der SPD hier angesprochen haben — zum großen Teil sind die, die es angesprochen haben, nicht mehr hier; ich wäre dankbar, wenn man ihnen das sagen könnte — : Die politische Architektur der europäischen Sicherheit wird sich natürlich mit dem Abschluß des Mittelstreckenraketenabkommens ändern. Dieses Abkommen — ich stelle das erneut fest — ist ein Erfolg dieser Bundesregierung und weder ein Erfolg der SPD noch gar ein Erfolg der Friedensbewegung.
Wir haben Mut, wir haben Stehvermögen in der Umsetzung des Doppelbeschlusses bewiesen.
Wären wir den Ratschlägen der Opposition — damit meine ich in erster Linie die SPD-Fraktion — gefolgt, wären wir den Ratschlägen des Kollegen Voigt, der vorher hier dagegen gesprochen hat, gefolgt, gäbe es heute kein INF-Abkommen.
— „Ein falscher Eindruck", sagt der Kollege Voigt. Ich lese ihm vor, was der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt in der „Zeit" vom 8. Mai 1987 in einem Namensartikel geschrieben hat: „Die Sowjetunion wäre ohne westliche Nachrüstung nicht dazu bereit gewesen."
Da kann ich nur sagen: Herr Voigt, woher nehmen Sie den Mut, sich hierher zu stellen und diesen Erfolg auf Ihr Konto zu buchen? Das ist unser Erfolg, und den lassen wir uns von Ihnen nicht madig machen.
Dann, lieber Herr Voigt, greifen Sie wirklich zu einem ganz — ich sage das jetzt absichtlich — miesen Trick,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2775
Bundesminister Dr. Wörnerden ich Ihnen an sich nicht zugetraut hätte. Sie zitieren mich absichtlich — ich sage: absichtlich — falsch.
In der Rede, die Sie angeführt haben, habe ich folgendes zum INF-Abkommen gesagt: „Die Abschaffung der nuklearen Mittelstreckenwaffen erhöht die Gefahr" — hier haben Sie Schluß gemacht —, „die vom konventionellen Übergewicht des Warschauer Pakts auf unsere Sicherheit ausgeht". Ich habe daraus eine einzige Schlußfolgerung gezogen: Nach dem INFAbkommen stellt sich die Frage nach dem konventionellen Gleichgewicht um so dringlicher, und dabei bleibe ich. Das INF-Abkommen ist nur dann ein historischer Durchbruch, wenn ihm andere Abrüstungsabkommen, insonderheit im konventionellen Bereich, folgen, wo das Übergewicht des Warschauer Pakts drückend ist.
Geben Sie doch den Versuch auf, mich dauernd wieder falsch zu zitieren und in eine falsche Ecke zu setzen. Hierzu stelle ich fest: Im Kommuniqué der nuklearen Planungsgruppe in Monterey finden Sie eine Formulierung, die ich mit geschrieben und mit unterstützt und abgesegnet habe. Da heißt es klar und eindeutig: Wir begrüßen und unterstützen in vollem Umfang die grundsätzliche Einigung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion über die weltweite Vernichtung landgestützter INF-Flugkörper.Allerdings — jetzt komme ich zu dem Punkt, über den wir hier bei einer Verteidigungsdebatte zu reden haben — müssen wir die Wirksamkeit unserer Strategie im Interesse der Kriegsverhinderung erhalten.
Wir wollen Kriege in Europa ja nicht nur heute verhindern, wir wollen auch zukünftig dafür sorgen, daß keiner auf die Idee kommen kann, daß Kriege in Europa wieder führbar werden, und zwar weder konventionelle noch nukleare Kriege. Darum geht es, und deswegen brauchen wir eine wirksame Strategie. Es gibt zu dieser Strategie — —
— Lieber Herr Mechtersheimer, erstens wissen Sie es besser, und zweitens kann ich nur sagen: Wenn es eine Vernichtungsstrategie wäre, dann hätte sie Ihnen doch nicht ermöglicht, in aller Freiheit, Ruhe und im Frieden dauernd Ihre Unsinnsthesen hinzustellen, um das einmal klar zu sagen.
Zu dieser Strategie der flexiblen Antwort gibt es keine Alternative, und zu ihrer Glaubwürdigkeit gehört eine wirksame konventionelle Verteidigung genauso wie die nukleare Abschreckung auf allen Ebenen. Dafür gibt es keinen Ersatz. Es gibt diesen Ersatz auch nicht in Gestalt der Idee der gemeinsamen Sicherheit, wie sie jetzt im Augenblick von der SPD propagiert wird, und Sie wissen das allesamt recht gut. Es ist doch eine Wunschvorstellung, oder — sagen wir es so — es könnte eine Zielvorstellung sein.
Aber es ist nicht die Realität und kein Ersatz, wie Sie unser Volk glauben machen wollen, für die Strategie der flexiblen Antwort,
d. h. für eine Abschreckung der Anwendung von Gewalt uns gegenüber. Solange der Warschauer Pakt seine Panzer, seine Kanonen, seine Geschütze, seine Flugzeuge gegen uns gerichtet hat, können wir nicht sagen: Wir sind in einer Landschaft gemeinsamer Sicherheit. Im Augenblick ist unser Problem, daß wir unsere Sicherheit gegen diese Bedrohung aufrechterhalten müssen; auch das muß klar gesagt werden.
Auch das ist etwas, was angesprochen werden muß — keiner spricht es mehr aus — : Der Aufbau der militärischen Macht des Warschauer Pakts vollzieht sich konsequent, und zwar bis zum heutigen Tag. Auch unter Gorbatschow modernisiert die Sowjetunion ihr Potential ununterbrochen, und zwar nuklear wie konventionell.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfragen zu.
Das haben übereinstimmend sowohl die Außenminister wie die Verteidigungsminister aller Staaten der Allianz zum Ausdruck gebracht.
Ich sage in aller Ruhe den Kolleginnen und Kollegen der SPD: Sie sind mit Ihrer Auffassung isoliert. Sie sind die einzigen im ganzen Bündnis.
Nehmen Sie es endlich zur Kenntnis.Nur zwei Zahlen. Ich will hier niemanden langweilen. Ich will nur einige Fakten in Erinnerung rufen.Das erste. Seit 1970 hat der Warschauer Pakt sein Panzerpotential um 22 000 Kampfpanzer erhöht. Er hat damit in 17 Jahren nahezu dreimal so viele Panzer neu beschafft wie die NATO.Ein anderes. Allein in den Jahren von 1984 bis 1986, also zum großen Teil unter der Verantwortung auch von Gorbatschow, hat die Sowjetunion pro Jahr 1 600
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2776 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Bundesminister Dr. Wörnermoderne Kampfpanzer neu eingeführt. Das ist die Ausstattung von fünf Panzerdivisionen. Die Bundeswehr hat deren sechs. Anders ausgedrückt: Die Sowjetunion hat in einem Jahr mehr moderne Panzer gekauft, als Frankreich insgesamt besitzt.
Dann sagen Sie, lieber Herr Walther — ich meine das genauso wie Sie — , es sollte nicht aufgerüstet, sondern abgerüstet werden. Hierzu kann ich nur sagen: Wie recht Sie haben. Bloß kann sich Abrüstung nicht einseitig auf unserer Seite vollziehen.
Sie muß sich zunächst einmal auf der Seite der Sowjetunion vollziehen. Denn dort wird weiter aufgerüstet und pausenlos modernisiert.
Nun hat der Herr Kollege Vogel — auch darauf möchte ich kurz eingehen — ein kategorisches und einseitiges Wort gegen jede Nachrüstung — wie er sagte — von uns verlangt.
Ich sage ganz knapp und auch ganz ruhig: Sie haben nichts dazugelernt, gar nichts. Wieder versuchen Sie, ein imaginäres Schreckgespenst, eine angebliche Nachrüstung heraufzubeschwören, obwohl Sie genau wissen, daß eine Nachrüstung im nuklearen Bereich gegenwärtig nicht auf der Tagesordnung der deutschen Politik steht.
Wieder richten Sie Ihren Appell einseitig gegen uns, d. h. an die falsche Adresse. Es gibt kein Wort darüber, daß die Sowjetunion weiterrüstet, kein Wort über die SS 24, kein Wort über die SS 25.Jetzt sage ich ganz bewußt mit Blick auf die Zukunft: Wer einseitig und kategorisch ein für allemal Modernisierung auf unserer Seite ablehnt, der schwächt nicht nur unsere Sicherheit, sondern macht beiderseitige Abrüstung unmöglich.Das heißt, Sie müssen sich darüber im klaren sein: Wenn Sie versuchen, bei uns Modernisierung zu tabuisieren — sie steht im Augenblick nicht an, trotz Ihrer dauernden Behauptung —, wenn Sie Modernisierung auf unserer Seite einseitig zu unterbinden versuchen, beseitigen Sie damit nicht nur die Grundlagen der Entspannung, zerstören Sie damit nicht nur unsere Verteidigungsfähigkeit, sondern Sie werden damit vor allen Dingen eines nicht erreichen: beiderseitige Abrüstung.Daß Sie aus der Geschichte des Doppelbeschlusses nichts gelernt haben, ist das eigentlich Erstaunliche der letzten Wochen und Monate in Ihrem politischen Verhalten.
Sie machen die gleichen Fehler wieder und wieder. Deswegen sind weder Sie noch Ihre politischen Vorstellungen eine Alternative zu unserer Sicherheitspolitik.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Lieber Herr Koschnick, ich würde das so gerne tun. Aber ich habe nur zwanzig Minuten.
Die Uhr halten wir für Sie natürlich an.
Okay. Wenn das so ist, dann bitte, lieber Herr Koschnick.
Herr Koschnick, bitte.
Herr Minister, Sie sagen, wir hätten nichts gelernt. Darf ich fragen: Wie groß war Ihre Lernbereitschaft, als durch unseren Nachrüstungsbeschluß, den wir damals gemeinsam getragen haben, die Sowjetunion angefangen hat, die vielen Kurzstreckensysteme in der DDR und CSSR aufzubauen?
Ich muß sagen, lieber Herr Koschnick: Ich verstehe diese Frage überhaupt nicht.
Ich kann nur sagen: Wir haben die richtige Konsequenz aus den von Ihnen getroffenen Entscheidungen gezogen. Wir haben die Nachrüstung umgesetzt. Und da hat sich die Sowjetunion wieder an den Verhandlungstisch begeben. Wir haben erreicht, was wir erreichen wollten: Die SS 20 verschwindet. Aber Sie hätten sie akzeptiert. Das ist der ganze Unterschied. Deswegen waren wir konsequent und Sie nicht.
Aber nun zu der Frage, der ich nicht ausweichen will.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Schilling?
Nein. Liebe Frau Präsidentin, ich möchte jetzt wirklich zum zweiten Teil kommen, und zwar zu dem, was der Kollege Walther liebenswürdigerweise angesprochen hat, nämlich zu den Haushaltsfragen: Gesicherte Verteidigungsfähigkeit verlangt vor allem, daß wir die Bundeswehr personell und materiell einsatzfähig halten.Dann zunächst einmal die Feststellung voraus: Die Bundeswehr ist heute eindeutig und nachweislich in einem wesentlich besseren Zustand als vor fünf Jahren, als wir die Verantwortung übernahmen. Sie hat heute die beste Personallage ihrer Geschichte. Wir
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2777
Bundesminister Dr. Wörnerhaben die Wehrgerechtigkeit verbessert. Unsere Wehrpflichtigen sind besser ausgestattet und für ihren Dienst auch materiell besser entschädigt.
Wir haben Probleme angepackt und gemeistert, die die Vorgängerregierung liegen ließ. Ich nenne nur zwei Beispiele: Verwendungs- und Beförderungsstau und Absicherung gegen Arbeitslosigkeit.Da kommt der Herr Walther her und sagt: Alles zuwenig. — Lieber Herr Walther, Sie haben recht. Wir gehen Schritt für Schritt vor. Aber wir hätten es viel einfacher gehabt, wenn Sie die Probleme nicht liegenlassen, sondern schon angefangen hätten, sie zu lösen; dann hätten wir weitergemacht.
Wir haben auch im materiellen Bereich entscheidende Verbesserungen erzielt. Die konventionelle Kampfkraft der Bundeswehr ist in den letzten fünf Jahren nachhaltig gesteigert worden. Auch in der Ausbildung und in der Menschenführung haben wir neue Akzente gesetzt. Vor allem haben wir eines erreicht: Wir haben Fortschritte gemacht in der öffentlichen Anerkennung der Bundeswehr und im Selbstbewußtsein der Streitkräfte.Nun zu meinen Planungen für die Zukunft — ich höre ja dauernd diese Katastrophenprophezeiungen; die höre ich, übrigens, seit ich im Amt bin — : Wir haben in der Tat die Bundeswehrplanung wieder eingeführt.
Wir haben sie Jahr für Jahr nicht nur aufgestellt, sondern Jahr für Jahr umgesetzt. Lieber Herr Walther, obgleich Sie es besser wissen müssen, stellen Sie sich hierher und sagen, der Bundeswehrplan 1988 sei Makulatur.
— Sie wissen — ich habe es Ihnen schon im Verteidigungs- und im Haushaltsausschuß gesagt — : Der Bundeswehrplan 1988 ist in der Tat, wenn auch nicht Makulatur, so doch überholt, weil wir im Augenblick im Endstadium der Aufstellung des Bundeswehrplans 1989 sind, in einem ganz normalen Planungsverfahren. Das gibt es erst, seitdem wir an der Regierung sind. Wir werden auch in Zukunft unsere Planungen realistisch bemessen und dann entschieden umsetzen. Das gilt personell wir materiell.
Damit bin ich bei den Fragen. Punkt eins, personell. Auch da höre ich pausenlos von Ihnen Unheilsprophezeiungen: das sei nicht realistisch, das könnten wir niemals durchhalten. — Nehmen Sie zur Kenntnis: Wir sind voll im Plan. Wir hatten 1986 ein Rekordergebnis. Wir werden 1987, wie es aussieht, unser Verpflichtungssoll erfüllen können. Zwei Jahre hintereinander Rekordergebnisse und voll im Plan!Jetzt komme ich zur Zukunft — das wissen Sie so gut wie ich — : Unsere Planung sieht 256 000 aktive Soldaten vor, dazu eine Reservistenkonzeption, die ich in den nächsten Tagen erlassen werde.
Das heißt, daß wir Anstrengungen unternehmen müssen. Die Frage ist — da brauchen wir uns doch nicht zu streiten — : Sind unsere Planungen realistisch, und was heißt „realistisch"? Sind sie bei zumutbaren Anstrengungen erreichbar? Ja oder nein? Ich sage: Sie sind erreichbar.
Allerdings müssen wir es dann schaffen, die Bundeswehr attraktiv zu halten, den Dienst des Soldaten attraktiv zu halten.Lieber Herr Kühbacher, Sie haben recht: Das wird Geld kosten.
Und das wird Anstrengungen kosten. Darum kämpfe ich im Augenblick in der Bundesregierung. Das, was Ihnen vorliegt, die Entscheidung über Zulagenverbesserung, ist ein Teilstück auf diesem Wege. Andere werden folgen müssen. Aber niemand komme hierher und sage mir: deine Personalplanungen sind unrealistisch — , nur weil ich sie auf Anstrengungen zugeschnitten habe. Ich tue das ja nicht zum Vergnügen; ich tue es, weil wir zusammen die Bundeswehr in den 90er Jahren in der Lage halten müssen, ihren Auftrag zu erfüllen. Das gilt auch im materiellen Bereich. Das ist das letzte, was ich dazu sagen möchte.
Gestatten Sie trotzdem noch einmal eine Zwischenfrage von Herrn Gerster?
Liebe Frau Präsidentin, ich komme mit meiner Zeit nicht zu Rande. Wenn Sie mir die Zeit auch hier anhalten, bitte schön.
Ja.
— Einen Augenblick! Frau Schilling, Sie haben sich hier so benommen, daß ich gut verstehe, wenn der Herr Bundesminister Ihnen keine Zwischenfrage gestattet.
Herr Minister Wörner, glauben Sie, daß Sie oder Ihr Nachfolger auch in einigen Jahren noch werden aufrechterhalten können, daß 456 000 präsente Bundeswehrsoldaten das operative Minimum sind?
Das ist eine gute Frage. Ich sage Ihnen: Das ist mein Ziel. Ich glaube, daß wir es mit Anstrengungen und mit
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2778 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Bundesminister Dr. Wörnerdem Maßnahmenkatalog, den wir vorgesehen haben und der politische — auch unpopuläre — Anstrengungen erfordert, erreichen können. Sie sind jetzt am Punkt. Eine Garantie dafür kann Ihnen niemand geben, weil Sie so wenig wie ich — da geht es ja um die Jahre 1995, 1996 und 1997 — voraussagen können, ob im Jahre 1995, 1996 oder 1997 beispielsweise die Weiterverpflichtungsbereitschaft höher oder weniger hoch sein wird, wie die Wirtschaftslage sein wird, wie die Zahl der Wehrdienstverweigerer sein wird. Das heißt, eine verbindliche Garantie kann Ihnen kein Mensch heute abgeben. Nur eines weiß ich: Nach unserem jetzigen Erkenntnisstand und den Maßnahmen, die wir vorgesehen haben, ist dieses Ziel erreichbar.Ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland an der Grenzlinie zwischen Ost und West, der an der Sicherheit großes Interesse hat und der im Bündnis seinen Beitrag auch morgen erbringen wird, muß alles tun, um ein solches Ziel möglich zu machen; das ist der Sinn dessen, was ich hier vorzutragen versuche.Dazu kommt jetzt der materielle Bereich. Dort ist es genauso schwierig. Jetzt sage ich das, was der Kollege Walther von mir hören wollte. Da gibt es keinen Salto rückwärts, weder einen halben noch einen ganzen. Ich habe das gestern in meiner Fraktion sehr deutlich angesprochen, und ich wiederhole das hier: Ich bin mit der Entscheidung des Haushaltsausschusses, die ich als Regierungsmitglied hinzunehmen habe, weil es die Entscheidung des Souveräns, des Parlaments ist, nicht glücklich. Ich bin in der Tat der Meinung, daß insonderheit die pauschale Kürzung um 1 700 Stellen im zivilen Bereich mir die Aufgabenerfüllung der Bundeswehr über Gebühr erschwert.
Das sage ich hier in der gleichen Offenheit. Ich bemäntele nichts. Etwas anderes hören Sie von mir heute nicht und auch morgen nicht. Ich weiß, daß ich als Verteidigungsminister auch der Gesamtlage des Haushalts Opfer zu bringen habe. Ich gehe auch nicht her und breche den Stab über die Kollegen des Haushaltsausschusses, die vor einer schweren Verantwortung stehen und die das Ganze zusammenbinden müssen. Ich weiß, daß mein Kollege Stoltenberg eine schwierige Aufgabe zu lösen hat. Deswegen weiß ich, daß ich als Verteidigungsminister auch einmal Strekken mit einem Etat durchlaufen muß, die nicht ganz dem entsprechen, was der Verteidigungsminister haben möchte und was an sich für die Bundeswehr erforderlich wäre.Nur lasse ich keinen Zweifel daran — Herr Walther, das habe ich in der Bundesregierung gesagt; das habe ich in der Öffentlichkeit gesagt; das habe ich vor den Ausschüssen gesagt, und das wiederhole ich hier — : Jeder in diesem Volk muß wissen, daß der Verteidigungsetat nicht die Reservekasse werden darf.
Man kann nicht erst andere Staatsaufgaben bedienen und dann am Schluß fragen: Was bleibt noch für die äußere Sicherheit übrig?
Das sage ich als Verteidigungsminister, und ich hoffe, daß hier nur die widersprechen, die in der Tat glauben, daß eine Verteidigung nicht mehr sein muß.Viele in unserem Volk glauben ja, daß Frieden und Freiheit selbstverständlich geworden seien. Sie sind die Frucht unserer Anstrengungen, auch und gerade unserer Verteidigungsanstrengungen. Jeder von uns weiß doch ganz genau — auch Sie, Herr Walther, wissen das, und Sie bestreiten es ja auch nicht — : Die Bundesrepublik Deutschland hat immer schon ihre Verteidigungsanstrengungen nicht auf das Optimum ausgerichtet, sondern auf das Minimum dessen, was man eben zu Ihren Zeiten genauso wie zu unseren zu brauchen glaubte, um den Frieden zu halten und unsere Freiheit zu schützen. Wir wollen doch keine Überlegenheit dem Warschauer Pakt gegenüber. Was wir wollen, ist nur das Ausmaß an Sicherheit und Verteidigung, das uns gestattet, unseren Bürgern zu sagen: Ihr könnt vor einem Krieg sicher sein, und ihr könnt auch morgen in Freiheit leben.Deswegen sage ich Ihnen: Als Verteidigungsminister und als Bundesregierung werden wir den Verteidigungsetat so anfordern und hoffentlich vom Parlament in der Zukunft — ich spreche hier die mittelfristige Finanzplanung an — so bewilligt erhalten, daß wir auch in Zukunft unseren Bündnisbeitrag erbringen können und in Zukunft die Verteidigung unserer Sicherheit unseren Bürgern gewährleisten können.Schönen Dank.
Das Wort hat der Abgeordnete Jungmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Wörner, wenn Sie sich die Rede des Kollegen Friedmann einmal angehört hätten — ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie in Anspruch nehme, weil Sie nachher von Ihrer Fraktion für diese Rede wahrscheinlich zur Rechenschaft gezogen werden —, hätten Sie auch den Eindruck gewonnen, den ich jetzt einmal deutlich schildere: Das war eine Rede, die hier ein unabhängiger Parlamentarier vorgetragen hat, in der er seine Bedenken vorgetragen und in der er ganz deutlich die Gefahren dargestellt hat, die die Finanzierung der Verteidigungsausgaben beinhalten. Das verdient Anerkennung, und dafür bedanke ich mich bei Ihnen; denn es gibt wenige — das muß man zugeben — , die so offen, auch wenn sie der Regierungsfraktion angehören, ihre parlamentarische Kontrollpflicht wahrnehmen
— und den Mut haben, dies zu tun. — Das muß man hier einmal ansprechen. Das hat sich, Frau Kollegin Seiler-Albring, wohltuend von dem abgehoben, was Sie gemacht haben.Herr Wörner, wenn Sie einmal weniger rechthaberisch wären und auch einmal zugeben würden, daß Sie genauso ein Mensch wie alle anderen Abgeordneten und Mitglieder der Regierung und mit Fehlern behaftet sind, dann würde das hier alles sehr viel harmonischer und leichter ablaufen; denn nicht alles was
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2779
JungmannSie als machbar und wünschbar hinstellen, ist auch aus Sicht anderer machbar und wünschbar, sondern muß überprüft werden.Wenn Sie sich hier als Verfechter des Doppelbeschlusses hinstellen, dann muß ich Ihnen sagen: Gleichzeitig bezweifeln Sie ja die Wirkung des Doppelbeschlusses. Die doppelte Null-Lösung bringt weniger Sicherheit, sagen Sie, wenn nicht die oder jene Dinge eintreten, nämlich die Kontrolle der konventionellen Rüstung eingeleitet wird. Dann frage ich mich: Was hat denn das zu bedeuten, wenn im Haushalt gleichzeitig noch 3 Millionen DM für die Modernisierung der Pershing I a drin sind? Was hat das zu bedeuten, Herr Wörner? Wenn wir die Pershing I a im Rahmen der doppelten Null-Lösung abbauen wollen: Warum müssen dort dann 3 Millionen DM drin sein? Führen Sie die deutsche Öffentlichkeit eventuell hinters Licht und wollen doch eine Modernisierung in anderen Bereichen, die sie heute noch nicht zugeben? Sie wissen doch, daß im Monterey-Kommuniqué der NATO steht: kein Modernisierungsbedarf. Aber dieser Modernisierungsbedarf kann sich ja im nächsten Frühjahr, wenn die wieder tagen, ändern, und dann werden wir eine Nachrüstung im Kurzstreckenbereich bekommen.Wir haben nicht einseitig einem Verzicht in diesem Bereich das Wort geredet. Herr Vogel hat die gleichen Ansprüche in diesem Bereich auch an die Sowjetunion gestellt. Warum sind Sie denn nicht bereit, mit der Sowjetunion gemeinsam eine dritte Null-Lösung zu machen und dann über die konventionelle Reduzierung in beiden Bereichen zu reden? Daß die Sowjetunion bereit ist, in diesen Bereichen mit Ihnen zu verhandeln und zu diskutieren, ist mehrfach gezeigt worden. Nur tun Sie hier so, als wären alle Abrüstungsvorschläge und alle Abrüstungserfolge — die wir noch nicht haben; der 7. Dezember ist erst in 14 Tagen — durch Sie bewirkt. Wenn Sie gelesen haben, was heute in Genf zwischen Herrn Shultz und Herrn Schewardnadse gelaufen ist, Frau Kollegin Seiler-Albring, so kann man manchmal Zweifel bekommen, ob das tatsächlich zum Erfolg führt.
— Doch, ich will ihn. Ich will ihn auch deshalb, weil es ein wichtiger Vertrag ist, der die Türen für andere Abrüstungsmöglichkeiten im strategischen Bereich, im Kurzstreckenbereich und im konventionellen Bereich öffnet. Nur, die Vorschläge zur Abrüstung kommen ja nicht von diesem Verteidigungsminister, sondern aus anderen Bereichen. Die NATO hat ja dem, was von der anderen Seite an Vorschlägen kommt, nichts entgegenzusetzen; sie hat kein Konzept.So sieht es doch aus: Auf der einen Seite sind die Europäer, die Franzosen, und auf der anderen Seite sind die USA in diesem Bereich. Eine gemeinsame Strategie für die Abrüstung im konventionellen Bereich und im nuklearen Bereich bei Reichweiten unter 500 km gibt es heute zwischen den NATO-Partnern nicht. Das muß einmal ganz deutlich festgehalten werden.Sie haben vorhin auf die Frage des Kollegen geantwortet, eine Stärke von 456 000 Mann sei operativesMinimum. Herr Wörner, Sie haben das so dargestellt, als bezweifelten wir alles, was Sie hier vortragen. Wir glauben nicht, daß Sie die Anstrengung unternehmen wollen, die Zahl von 456 000 zu erreichen. Denn Sie haben schon in den letzten Wochen selbst Abstriche von dem gemacht, was Sie uns vor einem Jahr im Verteidigungsausschuß vorgestellt haben. Ich erinnere mich daran, daß 15 000 Wehrübungsplätze auch ein Teil Ihres Konzepts waren. Wenn man diese 15 000 Wehrübungsplätze nimmt, dann weiß man genau, daß Sie 500 000 Wehrübende im Jahr einberufen müßten.Nun haben Sie schon erkannt, daß dies bis 1995 nicht realisierbar ist, und haben gesagt: Ich werde nicht mehr als 300 000 Wehrübende einberufen. Das ist schon ein Abstrich von Ihrem bisherigen Konzept, den Stand von 495 000 präsenten Soldaten bis 1995 aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus ist es natürlich schwierig. Wenn Sie bei dem Dogma von 495 000 Soldaten bleiben, dann werden Sie nicht darum herumkommen die Wehrpflicht, die Sie ja schon einmal verlängert haben, ab 1. Juni 1989 noch einmal zu verlängern.Wenn Sie hier erzählen, Sie erfüllten Ihre Verpflichtungszahlen, dann frage ich mich, warum Sie den Ausschüssen mitteilen, daß die Verpflichtungsbereitschaft bei Erstverpflichtungen im ersten Halbjahr 1987 um fast 10 % zurückgegangen ist und daß die Weiterverpflichtungsbereitschaft von 4 und mehr auf 15 Jahre um 14,9 % zurückgegangen ist. Dann haben Sie dem Ausschuß vorgetragen, es müßten mehrere Dinge getan werden, um die Attraktivität für die Verpflichtungsbereitschaft zu erhöhen; es müsse eine Verpflichtungsprämie eingeführt werden, aber diese ist im Haushalt nicht abgesichert. Sie können also in diesem Fall keine Attraktivität erreichen.Sie haben das Problem der Dienstzeitbelastung nicht geregelt. Das ist ein wichtiger — eigentlich der wichtigste — Punkt im Hinblick auf die Verbesserung der Attraktivität der Streitkräfte. Dies ist auch zur Verbesserung des Konkurrenzverhältnisses zwischen der Wirtschaft und der Bundeswehr notwendig. Dies alles haben Sie nicht geregelt. Sie haben zwar gerade noch in letzter Minute das vom Kollegen Walther hier angesprochene Zulagenpaket im Kabinett beschlossen, aber auch nicht mehr; und das reicht nicht.Sehen wir uns einmal den Brief an, den ein Generalmajor des Heeresamts pflichtgemäß an Sie geschrieben hat. Dort heißt es, daß die haushaltsmäßige Deckung für alle Lehrgänge, die bis einschließlich Oktober 1987 beginnen, bereits nicht mehr gesichert ist. Die entscheidende Kürzung in der Ausbildung des Heeres könne vor der Öffentlichkeit nicht mehr verborgen bleiben. Mit politischen Auswirkungen muß gerechnet werden. Das Vertrauen in die militärische Führung wäre — ich füge hinzu: wenn nicht Mittel bereitgestellt werden — bei den Soldaten wie auch in der Öffentlichkeit geschwächt. Nein, Herr Wörner, nicht gegenüber den Soldaten, sondern gegenüber der politischen Führung ist das Vertrauen geschwächt, weil Sie nach außen den Eindruck erwekken, als wäre alles machbar, aber anschließend Sie mit leeren Händen dastehen und noch nicht einmal die
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Jungmannangekündigte Ausbildung in der Bundeswehr in einem Jahr realisieren können.Herr Wörner, ich glaube, es ist richtig, was mein Kollege Walther vorhin gesagt hat: Sie werden sicherlich froh sein, wenn Sie Ihren Posten als Verteidigungsminister gegen den von Ihnen angestrebten Posten des Generalsekretärs der NATO eintauschen könnten. Nur, vor dieser Wahl haben auch Sie einige Hindernisse zu überwinden. Der Kollege Walther hat auch angesprochen, daß schon vier hohe Offiziere, die mit der Planung zu tun haben, in Brüssel sind; Sie wären der fünfte. Es wäre ja wohl fatal, wenn Sie von Brüssel aus das einforderten, was Sie als Verteidigungsminister an Unmöglichem in die Planung hineingeschrieben haben. Ihr Nachfolger könnte dann nur noch das bezahlen, was Sie glauben bestellen zu müssen, bevor Sie nach Brüssel entfleuchen.Für die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland stelle ich die Frage: Kann man zu einem solchen Verteidigungsminister, der noch nach Höherem in der NATO strebt und dort vielleicht noch mehr Unsinn anstellen könnte, überhaupt noch Vertrauen haben,
einem Verteidigungsminister mit seinen ungeklärten Situationen in der Kießling-Affäre, wo Sie eigentlich hätten zurücktreten müssen, einem Verteidigungsminister, der in der NATO Forderungen zustimmt, den Haushalt um 3 % zu erhöhen, und dann tatsächlich, real nur 1,5 % bekommt, einem Verteidigungsminister, der dem Parlament eine Planung vorträgt und rechtfertigt, von der seine Soldaten sagen, daß sie nicht zu verwirklichen ist, einem Verteidigungsminister, der ständig die Aufrüstung bzw. Nachrüstung, Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit im Mund führt und damit den Außenminister in seinen Abrüstungsbemühungen nicht in dem Maße unterstützt, wie das notwendig wäre? Nein, einem solchen Verteidigungsminister kann man aus der Sicht der Sozialdemokraten und aus meiner Sicht nicht vertrauen.Ihre Politik und Ihre Planung, Herr Wörner, sind unredlich, unrealistisch, nicht bezahlbar und überzogen. Wir fordern deshalb den Bundeskanzler auf, Schluß zu machen mit der Roßtäuscherei gegenüber der Bevölkerung. Er kann den Verteidigungsminister unseretwegen ja in die Wüste schicken, aber bitte nicht auf den Posten des NATO-Generalsekretärs nach Brüssel, wo er vielleicht noch mehr Unheil anrichtet, als er das in Bonn schon getan hat.
Herr Wörner, ich glaube, Sie wären gut beraten, wenn Sie bei Ihrer zukünftigen Planung etwas mehr Überzeugungskraft hinsichtlich der tatsächlichen Daten aufbrächten als Pathos in Ihren Reden in der Öffentlichkeit.
Das Wort hat der Abgeordente Müller .
Frau Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Nicht nur für das Material, sondern vor allem für die Menschen in der Bundeswehr muß mehr getan werden.
Diese Leitlinie, die der Bundeskanzler selbst ausgegeben hat, war die Richtschnur für den Verteidigungshaushalt 1988. Gerade Minister Wörner hat das in die Tat umgesetzt. Nicht allein deswegen, aber gerade auch deswegen weise ich schärfstens die Vorwürfe zurück, die Sie, Herr Kollege Jungmann, vorgebracht haben.
Im übrigen habe ich den Eindruck, daß Sie dieselbe Rede wie im letzten Jahr gehalten haben.
Diese Bundesregierung hat den Weg, den sie 1982 begonnen hat, gradlinig fortgesetzt. Zentrales Ziel ist das Bemühen, den Friedensumfang auch für die 90er Jahre zu sichern. Ein gutes Stück des Weges sind wir dabei vorangekommen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Klejdzinski?
Nein, danke. Ich gestatte keine Zwischenfragen. Das gilt grundsätzlich, Frau Präsident, wegen der Minuten, die mir zugestanden worden sind.
Der 88er Haushalt verbessert die Bedingungen für den Dienst in den Streitkräften. Er verbessert auch die Vorsorge für die kommenden schwierigen Jahre. Die Regierung hatte einen Entwurf vorgelegt mit einem breit gefächerten Katalog von neuen Planstellen, Hebungen und sonstigen Verbesserungen, ein Paket, das wir kritisch geprüft und sogar noch angereichert haben.
Ich bedanke mich ausdrücklich für die faire und gute Zusammenarbeit mit dem Haus, mit der Hardthöhe, aber auch mit dem Finanzministerium. Ich bedanke mich auch für die gute Zusammenarbeit mit den Kollegen. Deswegen, Herr Kollege Walther, verstehe ich nicht die Auseinandersetzung, die eben mit der Frau Kollegin Seiler-Albring geführt worden ist. Sie müssen mir einmal erklären, Kollege Walther: Wo liegt denn der politische Qualitätsunterschied zwischen einem Kürzungsantrag im Haushaltsausschuß und einem in den Berichterstattergesprächen? Für mich ist das politisch, von der Qualität her absolut dasselbe, Herr Kollege.
— Bitte schön, Frau Kollegin.
Eben haben Sie gesagt, Sie wollten keine Zwischenfragen zulassen.
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Ja, ich lasse keine Zwischenfragen zu. Ich habe mich so entschieden.
Es tut mir außerordentlich leid, Frau Kollegin SeilerAlbring.
Noch einmal: Vielleicht können wir einmal klären, worin denn wirklich der Unterschied besteht, wenn man in einem Berichterstattergespräch eine Kürzung vornimmt, sich dann hier aber herausredet, weil man diese Kürzung nicht im Haushaltsausschuß vorgenommen hat.
Ich möchte jetzt die neun wesentlichen Punkte, die Verbesserungen für das Personal bedeuten, darstellen.
Erstens. Der Anteil der Längerdiener am Gesamtumfang der Streitkräfte wird erneut erhöht auf 266 000. Damit ist der Prozeß, der 1982 eingeleitet worden ist, abgeschlossen.
Zweitens. Im nächsten Jahr wird die Zahl der Wehrübungsplätze nicht aufgestockt. Dies geschieht aber in den Folgejahren. Ich nutze die Gelegenheit, an alle zu appellieren, auch an die Arbeitgeber im öffentlichen und im privaten Bereich, sehr viel Verständnis für die zusätzliche Einberufung von Reservisten aufzubringen.
Drittens. Die Offiziersanwärterstellen werden um 300 Planstellen für Oberfähnriche aufgestockt. Unter bestimmten Bedingungen gibt es sogar 600 Beförderungsmöglichkeiten.
Viertens. Es wird damit begonnen, die Empfehlung des Haushaltsausschusses im Zusammenhang mit der auf 1 200 gekürzten Zahl von Zurruhesetzungen nach dem Personalstrukturgesetz in die Tat umzusetzen.
Fünftens. Es werden 70 neue Planstellen für Portepee-Unteroffiziere geschaffen, um das WHNS-Abkommen mit den USA mit Leben zu erfüllen.
Sechstens. Es werden 200 neue Planstellen für Sanitätsoffiziere geschaffen, u. a. auch deshalb, um die Schwierigkeiten zu überwinden, die mit dem Stichwort Arzt im Praktikum entstehen.
Siebtens. Es ist ein Hebungspaket geschnürt worden, das Spitzendotierungen im Bereich der Offiziere des militärfachlichen Dienstes sowie der Berufsoffiziere deutlich verbessert.
Achtens. Erwähnen möchte ich auch die vom Haushaltsausschuß vorgeschlagene Verbesserung des Verbundes für militärische Sachbearbeiter und Bürosachbearbeiter im Ministerium.
Neuntens. Ich weise auf unseren Antrag auf Drucksache 11/1319 hin, der 52,6 Millionen DM zusätzlich für Zulagen vorsieht.
Hinzu kommt auch noch ein ganz respektables Ergebnis von rund 2 000 Hebungen im zivilen Bereich. Dadurch haben wir seit langem bestehende Mängel in der Ausstattung des Verteidigungsministeriums mit Beförderungsplanstellen weiter abgebaut.
Es sind nicht alle Probleme gelöst worden. Zu erwähnen wären hier noch Verbesserungen in den Sonderbereichen: bei den Universitäten der Bundeswehr, beim Bundeswehrbeschaffungsamt in Koblenz, wo die Situation für den höheren Dienst ebenfalls verbessert wurde.
Ich möchte zum Schluß nur sagen: Sie sehen, das ist eine geradlinige erfolgreiche Politik für die Menschen in der Bundeswehr,
eine Politik, die Ihre Zustimmung verdient.
Ich bedanke mich, daß Sie mir zugehört haben.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Walther.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es tut mir leid: Wenn die Kollegen von der Koalition meine Zwischenfrage nicht zulassen, muß ich hier die Wahrheit darlegen. Man kann diese Debatte doch nicht mit einer solchen Rede ausklingen lassen; das ist doch unzumutbar.
Frau Kollegin Seiler-Albring und ich haben den Sachverhalt im Privatgespräch geklärt. Wir haben unseren Streit beigelegt. Deshalb will ich ihn hier nicht fortsetzen.
Gehen Sie bitte nachher beim Bier — ich bezahle es — zu Frau Kollegin Seiler-Albring, die Ihnen dann genau erklärt, wie es gewesen ist. Dann ist der Streit mit Ihnen auch ausgestanden. Das ist besser, als wenn Sie noch einmal hier herkommen und die Unwahrheit sagen. Dann würde die Debatte wieder so unfreundlich ausklingen.
Machen wir es also so: zwei Bier von mir — eines für Sie, Ulla Seiler-Albring, eines für den Kollegen Müller , Sie klären den Kollegen Müller auf, und beim nächsten Mal bleibt er hier bei der Wahrheit.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, das Wort hat Frau Abgeordnete Beer.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! Aus all diesem ziemlich allgemeinen Gerede möchte ich einen speziellen Punkt herausgreifen. Ich möchte sozusagen versuchen, die Debatte auf den Punkt zu bringen. Nicht auf das Gerede kommt es schließlich an, sondern darauf, was wir tun.Das Verbotsabkommen über die nuklearen Mittelstreckenraketen wird hoffentlich am 7. Dezember in Washington unterzeichnet. Angeblich sind ja alle hier im Hause für dieses Abkommen. Regierungssprecher Ost sprach sogar von einer „gewissen Krönung" der Außenpolitik. Wenn das wirklich so ist, wenn Sie wirklich so froh sind, daß die Mittelstreckenraketen verschwinden und verboten werden sollen, dann müs-
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Frau Beersen Sie auch die unmittelbaren Konsequenzen daraus ziehen.Erstens. Sie müßten mit dem 7. Dezember, dem Daturn der Vertragsunterzeichnung, wenigstens aufhören, weitere Raketen zu stationieren.
Welchen Sinn soll es denn haben, noch weitere Raketen hierher zu holen, wenn man sie doch gleich wieder verschrotten will?
Die Stationierung fortzusetzen macht doch nur einen Sinn, wenn man doch noch auf ein Scheitern des Vertrages spekulieren sollte.Zweitens. Sie müßten mit dem 7. Dezember die Bauarbeiten an den Stationierungsorten einstellen und mit den ständigen Manövern aufhören, die an den Stationierungsorten mit den Raketen gemacht werden.
Die Stellungen weiter auszubauen, obwohl man sie doch nach dem Vertrag überhaupt nicht mehr braucht, ist mindestens Geldverschwendung. Die Manöver fortzusetzen, dieses ständige Umherfahren auf Landstraßen bedeutet eine ständige Beunruhigung und eine massive Gefährdung der Bevölkerung. Die Unfälle mit den Pershing-Raketen haben dies ja gezeigt.Eine Hürde muß der Vertrag noch nehmen: die Ratifizierung im US-Senat mit einer Zweidrittelmehrheit. Da gibt es erheblichen Widerstand. Zum Beispiel haben kürzlich alle republikanischen Präsidentschaftsbewerber — bis auf Vizepräsident Bush — ihre Skepsis oder Ablehnung zu dem Vertrag geäußert. Ein wesentliches Argument sind dabei die Bedenken, die es gegen den Vertrag bei vielen europäischen Konservativen gibt. Herr Wörner, Sie selber haben als Verteidigungsminister vor zehn Tagen diesen Vertrag sogar als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik bezeichnet.Durch die von uns geforderten Maßnahmen — Stationierungsstopp, Baustopp, Manöverstopp — würde der Bundestag ein wichtiges Signal an den US-Senat geben, daß wir eine rasche Ratifizierung des Vertrags erwarten. Dieses Signal wäre auch ein Akt der sonst von Ihnen so gern beschworenen Solidarität der Europäer. Denn die Belgier und die Niederländer haben längst erklärt, daß ihnen nach der Unterzeichnung des Vertrages keine einzige neue Rakete mehr ins Land kommt. Sie werden am kommenden Freitag Gelegenheit haben, zu zeigen, wie ernst Ihnen Ihr angebliches Ja zum INF-Vertrag ist. Wir werden unsere Forderung nach Stationierungsstopp am Freitag als Entschließungsantrag zum Verteidigungshaushalt zu namentlichen Abstimmung stellen.Wir GRÜNE wollen selbstverständlich mehr als das. Wir wollen die Pershing und die Cruise Missiles sofort beseitigen und nicht erst im Laufe der Jahre. Wir wollen auch im konventionellen Bereich wirkliche Abrüstung und nicht das, was Sie tun. Allein 1988 geben Sie 11,8 Milliarden DM für die Beschaffung neuerWaffen aus, und noch weit mehr sollen es in den folgenden Jahren werden, wie Herr Wörner eben selber erklärt hat. Wie hatten Sie, Herr Wörner, 1983 im Rahmen der Stationierungsdebatte im Bundestag erklärt? Ich zitiere:Im Gegensatz zu den Staaten des Ostblocks sind wir als demokratische Nation dankbar für jede einzelne Waffe, die wir abziehen oder vernichten können.Nach diesem Wort aus der Stationierungsdebatte werden wir bei der namentlichen Abstimmung am Freitag sehen, Herr Wörner, ob Sie wenigstens bereit sind, auf offensichtlich überflüssige Raketen zu verzichten.
Durch die Rede der Kollegen Seiler-Albring sehe ich mich veranlaßt, noch einmal zu dieser Diffamierung Stellung zu nehmen und sie zurückzuweisen. Die GRÜNEN haben nachweislich keinen einzigen Streichungsantrag eingebracht,
mit dem irgendwelche sozialen Hilfen oder Unterstützungen gestrichen werden sollen. Wenn die Kollegin meinen beiden Reden zum Unterhaltssicherungsgesetz zugehört hätte, dann hätte sie gewußt, daß das falsch ist, was sie hier behauptet hat. Ich bin gern bereit, Ihnen unsere Broschüre zum Rüstungshaushalt mit dem Titel „60 Milliarden zuviel" zur Verfügung zu stellen.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.Wir kommen nun zur Abstimmung. Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion der GRÜNEN vor. Ich rufe die Änderungsanträge in der Reihenfolge der Drucksachennummern auf.Wer stimmt für den Änderungsantrag der GRÜNEN Drucksache 11/1307? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der GRÜNEN Drucksache 11/1308? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag der GRÜNEN auf Drucksache 11/1309? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist abgelehnt.Wer stimmt für den Antrag der GRÜNEN auf Drucksache 11/1310? — Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Antrag ist ebenfalls abgelehnt.
Meine Damen und Herren, wir stimmen jetzt über den Änderungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/1319 ab. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Die Gegenprobe! — Enthaltungen? — Bei einigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen ist der Antrag angenommen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2783
Vizepräsident Frau RengerWir stimmen jetzt über den Einzelplan 14 ab. Wer dem Einzelplan 14 — Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung — in der Ausschußfassung mit der soeben beschlossenen Änderung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. —Gegenstimmen? — Enthaltungen? — Der Einzelplan des Bundesministers der Verteidigung ist angenommen.
Wir müssen nun noch weiter abstimmen. Jetzt kommt Einzelplan 35. — Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie wissen, was das bedeutet, wenn Sie alle jetzt weggehen.Wir kommen also zur Abstimmung über den Einzelplan 35: Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte. Wer diesem Einzelplan in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Einzelplan 35 ist bei einigen Gegenstimmen angenommen.Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt auf: Einzelplan 23Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit— Drucksachen 11/1069, 11/1081 —Berichterstatter:Abgeordnete Esters BorchertFrau Seiler-Albring Frau RustHierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/1279 bis 11/1281 vor.Im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? — Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Esters.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten in diesem Jahr den Einzelplan 23 unter dem frischen Eindruck einer Afrika-Reise. Wir halten es für gut, daß sich in der letzten Woche der Bundeskanzler persönlich ein Bild davon gemacht hat, wofür dieser Haushalt benötigt wird. Es kann der Regierung nur nutzen, wenn ihre Entwicklungspolitik von möglichst viel Sachverstand und Zustimmung bei uns und in den Ländern der Dritten Welt getragen wird.Wenn es denn aber inzwischen Allgemeingut geworden ist, daß wir die afrikanischen und alle anderen Entwicklungsländer trotz ihrer zahlreichen Krisen nicht einfach abschreiben können, müssen wir vom Bundeskanzler auch erwarten, daß er seine Richtlinienkompetenz zukünftig zu einer deutlichen Erhöhung des Etats für die wirtschaftliche Zusammenarbeit nutzt.
Das derzeitige Ergebnis kann niemanden zufrieden-stellen, obwohl ich anerkennen will, daß bei den Beratungen im Haushaltsausschuß noch einige Korrekturen zum Besseren hin erfolgen konnten.Trotzdem wird der Einzelplan 23 in 1988 mit 6 848 000 000 DM erstmals hinter dem bereinigten Ansatz des Vorjahres zurückbleiben. Nach Jahren der Stagnation sinkt nun der Plafond sogar um 0,52 %.
Es kann also keine Rede mehr davon sein, daß der Einzelplan 23 eine höhere Steigerungsrate aufweist als der Gesamthaushalt; ganz im Gegenteil. Das ist mehr als enttäuschend, und eine Besserung ist nicht in Sicht.
Denn nach der korrigierten Finanzplanung soll das ursprünglich für 1988 angepeilte Ziel von 7,2 Milliarden DM erst nach 1990 wieder ins Auge gefaßt werden.
Wenn die Bundesregierung dem steigenden Problemdruck in den Ländern der Dritten Welt mit einem solchen Haushalt gerecht werden will, kann das das Parlament nicht gleichgültig lassen. Die Verantwortung für die immer stärker werdende Kritik am Volumen unserer Hilfe trägt allein die Bundesregierung.
Wer die jährlichen Verpflichtungsermächtigungen gegen alle parlamentarischen Ratschläge jahrelang drastisch gekürzt hat,
der darf sich nicht wundern, daß heute nicht genügend geprüfte Projekte und Programme vorliegen.Zu den besonderen Ungereimtheiten dieses Haushalts zählt auch, daß die Verpflichtungsermächtigungen für die Länder südlich der Sahara ausgerechnet jetzt, nachdem wichtige Teile der Bundesregierung ihr Herz für Afrika entdeckt haben,
gegenüber dem Vorjahr abgesenkt werden.
Die Kürzungen im Einzelplan 23 sind auch ein schlechtes Omen für die 1988 erstmals in Berlin stattfindende Tagung der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds. Hier lassen die Bundesregierung und die Koalition ihren neuen Minister im Regen stehen.
Denn dies ist der erste Etat, den wir hier verabschieden, der unter seiner Verantwortung ausgehandelt worden ist. Dieses Manko ist durch erhöhte Öffentlichkeitsarbeit im Zusammenhang mit dieser internationalen Tagung nicht wettzumachen.Wir erwarten von der Bundesregierung vor allem eins: daß sie sich in Berlin konstruktiv und in der Rolle
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Esterseines Vordenkers und Wegbereiters an der Lösung der Schuldenkrise beteiligt.
Lösungsansätze sind national und international in der Gesellschaft, in der Wissenschaft und auch bei den privaten Banken zur Genüge vorhanden.
Es wird nun höchste Zeit, daß sich die Bundesregierung damit auch inhaltlich befaßt.Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung vom 18. März 1987 versprochen — Zitat — : „Wir wollen Rückflüsse aus der Kapitalhilfe schrittweise wieder zur Finanzierung neuer Maßnahmen einsetzen. " Dieses Versprechen ist bislang nicht eingelöst worden.
Darüber kann auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, daß 1988 100 Millionen DM der Mehreinnahmen aus Rückflüssen theoretisch für neue Darlehen zur Verfügung stehen.
Die Bedingungen, unter denen diese Mittel genutzt werden können, sind jedoch für Minister Klein unerfüllbar. Der Minister mag sich mit dieser Regelung laut „Wirtschaftswoche" „sehr fair behandelt" fühlen, wir im Parlament können und dürfen dies nicht.
Wir haben die Bundesregierung seit längerem, zuletzt vor zwei Jahren, aufgefordert, Lösungsvorschläge zur zukünftigen Verwendung von Tilgungs- und Zinsrückflüssen aus der bilateralen Finanziellen Zusammenarbeit im Rahmen des Einzelplans 23 vorzulegen.Wir haben die Bundesregierung ferner aufgefordert, zu prüfen, ob die Bildung eines deutschen Entwicklungsfonds bei der Kreditanstalt in Frankfurt oder die Schaffung nationaler revolvierender Entwicklungsfonds in geeigneten Entwicklungsländern selbst die richtigen Instrumente sein könnten.Mit dem Zögern der Bundesregierung droht die einmalige Gelegenheit verpaßt zu werden, der internationalen Gebergemeinschaft ein Modell zu präsentieren, wie die entwicklungspolitische Zweckbindung früher gewährter Darlehen im Rahmen der Finanziellen Zusammenarbeit in vollem Umfang erhalten bleiben kann,
wie zusätzliche Wachstumsimpulse im beiderseitigen Interesse von Geber- und Nehmerländern ausgelöst werden können und wie die Verschuldungssituation solcher Entwicklungsländer, die inzwischen Nettozahler geworden sind, spürbar erleichtert werden kann.
Wir erwarten von der Bundesregierung, daß das bislang Versäumte, Herr Minister, möglichst schnell nachgeholt wird.
Der Problembereich darf nicht nur ein wichtiges Thema bei unverbindlichen Pressekonferenzen bleiben. Ich bin sicher, daß der neue Minister die breite Zustimmung des gesamten Parlaments auf seiner Seite hat, wenn er in dieser Frage neue politische Lösungen anbietet. Wir bieten Ihnen dafür unsere Unterstützung an, wenn es darum gehen wird, derartige Entscheidungen gegen administrative Widerstände durchzusetzen. Ich bin auch ganz sicher, daß die Mitglieder des Haushaltsausschusses, wenn ausreichend Beratungszeit zur Verfügung steht, kein Verständnis für komplizierte Verfahrensregelungen haben werden, die von ihren Erfindern im Finanzministerium zur Verhinderung einer Problemlösung erdacht worden sind. — Herr Staatssekretär Voss, ich nehme an, Sie haben das gehört. —
Die betroffenen Entwicklungsländer haben davon nämlich im Endeffekt gar nichts.Noch haben Sie es, Herr Minister Klein, in der Hand, zu beweisen, daß die Bundesrepublik Deutschland aktiv für eine gerechte und soziale Weltwirtschaftsordnung eintritt. Ich meine, die Weltbank-Konferenz in Berlin ist der geeignete Rahmen, dies zu bestätigen.Mutige neue Schritte erwarten wir auch bei der Technischen Zusammenarbeit.
Auf Initiative der CDU-Fraktion und unter maßgeblicher Beteiligung des Parlamentarischen Staatssekretärs im BMZ hat der Bundestag 1982 einen grundlegenden Beschluß zur Reform der personellen Hilfe gefaßt. Seit Sie aber in der Regierungsverantwortung stehen, haben wir auf diesem Gebiet, Herr Staatssekretär, so gut wie keine Bewegung mehr verspürt.
Den Fachkräftemangel in Entwicklungsländern ständig als Sündenbock für ausbleibende Erfolge der Entwicklungshilfe hinzustellen, macht nämlich langsam keinen Sinn mehr. Wenn allein in der Bundesrepublik Deutschland bis Ende 1986 rund 134 000 Fach-und Führungskräfte ausgebildet worden sind und jedes Jahr 13 000 hinzukommen, und wenn man ferner weiß, daß wir allein für diese Ausbildung 2,2 Milliarden DM ausgegeben haben, dann muß sich jeder vernünftige Mensch die Frage stellen, was denn bei all diesen Bemühungen herausgekommen ist. Es darf doch nicht wahr sein, daß die von uns ausgebildeten Fach- und Führungskräfte nach ihrer Rückkehr einfach spurlos verschwinden. Es kann doch nicht stimmen, daß ein in Deutschland ausgebildeter Ingenieur oder Wirtschaftswissenschaftler oder Städteplaner nach seiner Rückkehr nicht geeignet sein soll, in ei-
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Estersnem von uns finanzierten Entwicklungsprojekt mitzuarbeiten.
Für uns alle muß es in Zukunft eine wichtige Aufgabe sein, möglichst viele der hier Ausgebildeten an einer ihrer Fähigkeit entsprechenden Entwicklungsaufgabe mitarbeiten zu lassen.
Ihre positiven Eindrücke von ihrem früheren Gastland Bundesrepublik Deutschland müssen auch wir nach der Rückkehr in ihre Heimatländer am Leben erhalten, wie es viele andere Industrieländer mit Erfolg praktizieren. Dies, Herr Minister, darf nicht nur Aufgabe der auswärtigen Kulturpolitik sein. Bei der Lösung dieser wichtigen, aber noch unerledigten Aufgabe können Sie unserer parlamentarischen Unterstützung sicher sein. Wir erwarten, daß der Entwicklungsminister auf diesem Gebiet neue Konzepte entwickelt, die weniger eine Globallösung als vielmehr am Anfang einige länderbezogene Pilotprogramme zum Ziel haben.Ich will aber noch ein anderes Tabu-Thema unserer Entwicklungszusammenarbeit anschneiden, das nicht mehr in die Landschaft paßt: die berühmten „Inlandskosten" in der Finanziellen Zusammenarbeit. Die fehlende Bereitschaft der Bundesregierung, vor allem des Bundesfinanzministeriums, diese Kosten mitzufinanzieren, ist immer häufiger die Ursache dafür, daß entwicklungspolitisch sinnvolle Projekte scheitern, an deren Realisierung auch wir ein Interesse haben. Ich möchte Sie, Herr Minister, ausdrücklich ermuntern, sich dieser Frage ganz besonders anzunehmen und sie nicht länger im Gestrüpp der Grundsatzbedenkenträger hängen zu lassen.Zu viele Entwicklungsländer haben inzwischen erkannt, daß Programme und Projekte nur dann erfolgreich sein können, wenn sie nicht ausschließlich von der Vorgabe bestimmt werden, unsere Entwicklungshilfe allein zur Finanzierung von Devisenkosten einzusetzen. Wenn Sie auf diesem Gebiet neue Wege aufzeigen, dann wird sich der Haushaltsausschuß sicherlich auch nicht verweigern Ihr Haus bei der Überprüfung der vom Parlament vorgegebenen länderbezogenen Rahmenplanung zu unterstützen. Es kann in der Tat nicht der Weisheit letzter Schluß sein, nur solche Projekte zu berücksichtigen, die gerade in den bereitgestellten Finanzrahmen eines Landes passen. Hier werden wir zukünftig um mehr Flexibilität nicht herumkommen.Ein solches Arbeitsprogramm für den Bereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit wird nicht nur auf begeisterte Zustimmung stoßen, nachdem die Mehrheit des Haushaltsausschusses auch über dieses Ressort die einprozentige Stellenkürzung verhängt hat. Aus unserer Sicht hat das BMZ wegen seiner gestiegenen Aufgaben einen erheblichen Personalbedarf.
Der Bundeskanzler kann nur dann eine bessere Qualität seiner Entwicklungspolitik erwarten, wenn das BMZ seine Aufgabe als politisches Führungs- und Kontrollinstrument ausreichend wahrnehmen kann.
Der neue Minister wird besonders darauf zu achten haben, daß ihm diese Verantwortung nicht von den agilen Durchführungsorganisationen aus der Hand genommen wird. Im Interesse der Sache hoffen wir, daß ihm dies nach Ablauf der für jeden neuen Entwicklungsminister reichlich bemessenen Einarbeitungszeit und Schonfrist gelingen wird.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Borchert.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem Etat des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit für das Jahr 1988 werden eine Reihe von wichtigen Weichenstellungen eingeleitet, die dem neuen Minister die Möglichkeit geben, die deutsche Entwicklungspolitik qualitativ weiter zu verbessern. Wer Entwicklungspolitik nur mit Blick auf Haushaltszahlen und Prozentsätze beurteilt — wie es der Kollege Esters soeben streckenweise getan hat — und dabei als wichtigstes Kriterium die Entwicklung des Einzelplans 23 im Vergleich zum Gesamthaushalt heranzieht, der übersieht, in welchem Umfang sich heute die Anforderungen an die Entwicklungspolitik verändert haben. Der Kollege Esters hat recht, daß im Vergleich zu 1987 der Etat um 0,52 % absinkt. Aber unter Berücksichtigung der 100 Millionen DM, die aus den Rückflüssen wieder für die finanzielle Zusammenarbeit eingesetzt werden können, steigt der Etat um 0,9 %.Der Vergleich dieser Haushaltsansätze sagt aber nur wenig über den tatsächlichen Umfang der Entwicklungshilfe aus. Der Rückgang der Mittel im Einzelplan 23 bedeutet nicht, daß materiell weniger Hilfe geleistet werden kann. Im Bereich der bilateralen Zusammenarbeit sind die Etatansätze um rund 2 % erhöht worden. Es kann daher in größerem Umfang Hilfe geleistet werden.Während sich damit einerseits der reale Ressourcentransfer aus der Bundesrepublik in die Entwicklungsländer durch eine Steigerung vieler Haushaltsansätze erhöht, sinkt andererseits der Gesamtplafond im Einzelplan 23, weil in der internationalen Zusammenarbeit unsere Leistungen auf der Dollar-Basis festgesetzt sind. Der veränderte Dollarkurs führt dazu, daß sich die Ausgaben in D-Mark verringern, dies aber keine Auswirkungen auf das reale Volumen der tatsächlichen Hilfe hat.Der Zwang, angesichts mangelnder Absorptionsfähigkeiten mehr Geld mit den bisherigen Instrumenten in den Entwicklungsländern unterzubringen, darf nicht noch gesteigert werden. Der schnelle Mittelabfluß um jeden Preis begünstigt vielfach nur Großprojekte; er führt sehr schnell zu kapitalintensiven Ar-
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2786 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Borchertbeitsplätzen an der Stelle von vielen Arbeitsplätzen im Rahmen angepaßter Technologien.
Die Bundesregierung hat im Haushalt 1988 erstmalsden Wiedereinsatz von Mitteln aus Darlehensrückflüssen vorgesehen. Ob sich die für das nächste Jahr gefundene Lösung bewährt, Mehreinnahmen aus den Rückzahlungen bis zu einer Höhe von 100 Millionen DM wieder für die finanzielle Zusammenarbeit einzusetzen, wird sich im Haushaltsvollzug 1988 herausstellen. Wir werden diesen Versuch kritisch begleiten und die Erfahrungen dann bei den Haushaltsberatungen in einem Jahr erneut berücksichtigen.Das entwicklungspolitische Umfeld hat sich auch im abgelaufenen Jahr weiter verändert. Ein großer Teil der Entwicklungsländer ist so sehr überschuldet, daß sie die Aufwendungen scheuen, die ihnen durch neue Entwicklungshilfeprojekte der bisherigen Art entstehen. Sie können ihren Anteil an diesen Vorhaben oft nur noch unter großen Schwierigkeiten finanzieren oder bleiben ihren Anteil schuldig. Hier sind neue Formen der Hilfe erforderlich.Als neues Instrument der wirtschaftlichen Zusammenarbeit ist im letzten Jahr die Strukturhilfe im Haushalt eingeführt worden. Die Strukturhilfe ist für das kommende Jahr im Umfang auf 500 Millionen DM aufgestockt worden. Die Bundesregierung bedient sich damit eines Instruments, das bereits von der Weltbank mit Erfolg eingesetzt worden ist.Die eingeleitete Neuorientierung der Entwicklungspolitik wird also auch mit dem Haushalt 1988 fortgesetzt. Eine neue Qualität der Entwicklungspolitik ist aber nicht nur mit mehr Geld zu erreichen. Mehr Qualität erfordert mehr Koordination und einen intensiveren Dialog mit den Entwicklungsländern, um die spezifischen Ausgangsbedingungen der einzelnen Länder bei der Projektgestaltung mit berücksichtigen zu können. Nur so kann Entwicklungshilfe auf gewachsene Strukturen in den Entwicklungsländern aufbauen und kulturelle und soziale Verhaltensnormen berücksichtigen.Wirksame Entwicklungshilfe bedeutet in Zukunft noch stärker kleinere Projekte und mehr Mitsprachemöglichkeiten der Betroffenen. Eine erfolgreiche Entwicklungspolitik muß die eigenen Anstrengungen der Entwicklungsländer unterstützen und Selbsthilfeprozesse in diesen Ländern stärken. Das kann nur bedeuten: mehr ländliche, mehr kleinbetriebliche Förderung und eine integrierte ländliche Entwicklung an der Stelle von Großprojekten.Mehr Qualität in diesem Sinne bedeutet nicht unbedingt mehr Geld, sondern ist zeitraubender und arbeitsintensiver. Mehr Qualität in der Entwicklungshilfe bedeutet, daß wir die Menschen in diesen Ländern in den Stand versetzen müssen, sich selbst zu helfen, statt auf Dauer Empfänger von Hilfe zu sein.Vielen Ländern können wir wirksam helfen, wenn wir die personelle Zusammenarbeit ausbauen und etwa Hilfe leisten beim Aufbau eines leistungsfähigen Schul- und Ausbildungssystems, aber auch einer leistungsfähigen Verwaltung.
Der Einsatz deutscher Lehrer in Entwicklungsländern zum Ausbau und zum Aufbau leistungsfähiger Schulsysteme und einer daran anschließenden Berufsausbildung, die am Bedarf dieser Länder orientiert ist, sind Formen der personellen Zusammenarbeit, mit denen wir wirksam die Eigenanstrengungen der Länder unterstützen können. Wir haben daher die Mittel für die Ausbildung qualifizierter Fachleute und für den Einsatz deutscher Experten in den Entwicklungsländern weiter aufgestockt.Mehr Qualität bedeutet aber auch — da stimme ich dem Kollegen Esters zu — , daß wir schneller und flexibler auf Veränderungen reagieren müssen. Wenn Mittel der technischen und finanziellen Zusammenarbeit in vielen Bereichen langsamer abfließen, müssen wir eben Länderquoten flexibler handhaben, um im Rahmen bilateraler Vereinbarungen Hilfe nach dem Umfang des tatsächlichen Mittelabflusses einplanen und zusagen zu können. Starre Länderquoten können hier Mittel in der Entwicklungshilfe blockieren.Die Ansätze im Einzelplan 23 tragen den veränderten Bedingungen der Entwicklungshilfe Rechnung. Dort, wo in Selbsthilfeansätzen eine Absorptionsfähigkeit besteht, sind die Mittel erhöht worden. Durch ausreichende Verpflichtungsermächtigungen haben die entsprechenden Organisationen die erforderliche und notwendige Planungssicherheit. Die Arbeit der privaten Träger soll durch ein Dienstleistungszentrum, das vom Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit finanziert wird, erleichtert werden, und die Maßnahmen im Bereich der Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe sind finanziell weiter abgesichert. Die schnell und flexibel einsetzbare Strukturhilfe ist erhöht worden, und erstmals werden Darlehensrückflüsse wieder entwicklungspolitisch eingesetzt. Damit bietet der Einzelplan 23 für das Haushaltsjahr 1988 eine solide Grundlage für die qualitative und quantitative Weiterentwicklung der Entwicklungspolitik. Aus diesen Gründen stimmen wir dem Einzelplan 23 zu.Ich möchte abschließend für die gute Zusammenarbeit bei der Vorberatung und bei der Beratung im Haushaltsausschuß Ihnen, Herr Minister Klein, und den Mitarbeitern des Ministeriums für die sehr offene und sehr ausführliche Information und für die gute Zusammenarbeit sehr herzlich danken.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Volmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Beschäftigungswirksamkeit, Lieferbindung, Mischfinanzierung, das waren die Schlagworte und die Kernpunkte der Entwicklungspolitik der Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode. Davon hört man heute überhaupt nichts mehr. Der Grund dafür ist folgender: Als Sie diese Form des Mißbrauchs von Entwicklungshilfe begonnen und betrieben haben, hat sich sehr schnell deutliche und vehemente Opposition geregt. Es waren die GRÜNEN, die dieses Thema seit drei Jahren intensiv aufgegriffen
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Volmerund bearbeitet haben. Wir haben den Protest in die entwicklungspolitische Öffentlichkeit hineingetragen.
Dem hat sich die SPD angeschlossen, dem haben sich die Kirchen angeschlossen, dem haben sich die NichtRegierungsorganisationen angeschlossen, und dem haben sich breite Teile der CDU angeschlossen. Dies ist der Grund dafür, daß diese Form des Mißbrauchs jetzt verschwunden ist. Dies ist ein eindeutiger Erfolg der Oppositionsarbeit der letzten drei, vier Jahre, und dies sollte man durchaus mal herausstellen.
Dies heißt nicht, daß dieser Mißbrauch nicht mehr betrieben würde; es wird nur nicht mehr herausgestellt. Betrieben wird das noch an Einzelprojekten, und ich kann nur hoffen — Herr Kollege Pinger, Sie schauen gerade herüber — , daß wir beide und der Kollege Schanz uns in Sachen Philippinen und Siemens-Großprojekt dahin gehend durchsetzen können, daß dieses Projekt von der Bundesregierung nicht finanziert wird.Mißbrauch wird allerdings auch mit anderen Methoden betrieben. Mißbrauch wird weiterhin auch in dem Bereich der Konzernförderung betrieben. Wir sind diesen Dingen auf der Spur, Informationen gibt es genügend, und wir werden sie demnächst in aufbereiteter Form als Dokumentation herausgeben, genauso wie wir das bei der Mischfinanzierung getan haben.Der Kernpunkt des Mißbrauchs von Entwicklungshilfe durch die Bundesregierung liegt auf einem anderen Gebiet. Dies hat Herr Borchert gerade schon — allerdings zustimmend — herausgestrichen. Das ist der Bereich der Strukturhilfen. Hiermit wird ein neues Instrument aufgebaut oder verstärkt,
das unseres Erachtens den Effekt hat, die Projekte der Weltbank, die durchaus kritikwürdig und zum großen Teil auch abzulehnen sind, kozufinanzieren, teilweise auch mit Mitteln der bilateralen Entwicklungspolitik zu finanzieren. Die Kritik an der Weltbank ist eben wegen ihrer ganz gravierenden negativen sozialen und ökologischen Auswirkungen gewachsen. Um die Kritik abzupuffern und um die Akzeptanz für diese Weltbankprojekte zu erhöhen, haben Sie das Mittel der Strukturhilfe geschaffen. Faktisch ist das eine Kofinanzierung von Projekten, die auch auf multilateraler Ebene von diesem Bundesminister mitbetrieben werden. Es ist ja nicht so, daß der Minister auf der Weltbankebene Kritik übt und tatsächlich versucht, bilateral gegenzusteuern. Auf der multilateralen, auf der Weltbankebene betreibt er die alte brutale Weltbankpolitik weiter. Sie wird nun ergänzt durch diese bilaterale Entwicklungspolitik.Das bedeutet faktisch, daß große Teile, nämlich der Kern der bundesdeutschen Entwicklungszusammenarbeit, der multilateralen Ebene untergeordnet wird. Es bedeutet weiterhin, daß der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit noch weniger Mitspracherecht haben wird als heute. Denn es wird von diesen Projekten lediglich informiert, ohne daß wesentliche Weichenstellungen mitbestimmt werden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Pinger?
Von Herrn Pinger immer.
Herr Kollege Volmer, nachdem Sie eben formuliert haben, daß aus Ihrer Sicht die meisten Projekte der Weltbank nicht geeignet seien, haben Sie konzediert, daß es doch einige gäbe. Dies unterstellt und auch unterstellt, daß dadurch in den von Ihnen konzedierten Fällen wirtschaftliche Wirkungen erzeugt werden, die positiv sind, würden Sie dann nicht auch zugeben, daß es sinnvoll sein kann, die negativen Auswirkungen, die im sozialen Bereich eintreten können, durch Strukturanpassungsmaßnahmen abzufedern?
Die Strukturhilfen heißen richtig, wie Sie gerade ausgeführt haben und wie auch der englische Ausdruck lautet: Strukturanpassungsmaßnahmen. Wir kritisieren genau die Projekte bei der Weltbank, die Strukturanpassungspolitik betreiben, die zum Ziele haben, die Drittweltländer zwangsweise in die Weltbank zu integrieren, wo sie wirklich nichts zu gewinnen haben. Wir kritisieren nicht irgendwelche anderen Projekte der Weltbank, die es auch noch geben mag. Genau zur Flankierung dieser Strukturanpassungsmaßnahmen, die wir vom gesamten Ansatz her ablehnen, dient die bilaterale Finanzierung. Deshalb lehnen wir die gleichermaßen ab.Für diese Form von Strukturhilfen hatte das Ministerium ursprünglich 400 Millionen DM beantragt, zuzüglich 100 Millionen DM, die eventuell aus Rückflüssen vergebener Entwicklungskredite resultieren. Der Haushaltsausschuß hat auf Betreiben des Kollegen Esters gefordert, dieses Instrument mit 600 Millionen DM zu finanzieren, also mit 200 Millionen DM mehr, als die Bundesregierung gefordert hat. Geeinigt hat sich der Haushaltsausschuß gegen die Stimmen der GRÜNEN auf 500 Millionen DM. Das heißt, auch der sozialdemokratische Sprecher im Haushaltsausschuß hat dieses Instrument mit gefördert, völlig im Gegensatz zum entwicklungspolitischen Experten Hauchler z. B., der sich ganz rigoros gegen dieses Instrument ausgesprochen hat. Ich muß die SPD auffordern, doch einmal in ihren Reihen zu klären, wer eigentlich die entwicklungspolitischen Richtlinien bestimmt: ob dies die Leute aus dem AWZ sind oder die aus dem Haushaltsausschuß.Es gibt einen weiteren Kernbestandteil der Politik der Bundesregierung. In dem Maße, wie die Kritik an der Weltbank, am IWF, an den Strukturanpassungsmaßnahmen steigt — und zwar bei allen Nichtregierungsorganisationen, bis weit in die Kirchen hinein —, in dem gleichen Maße versucht die Bundesregierung nun, diese Nichtregierungsorganisationen zu gängeln. Wir wissen, daß der Europarat beschlossen hat, 1988 eine Kampagne zum Nord-Süd-Thema zu machen. Wir alle haben das begrüßt. Zu diesem Zweck hat sich in der Bundesrepublik ein Trägerkreis gegründet, bestehend aus den kirchlichen Trägern, aus dem Bundeskongreß entwicklungspolitischer Ak-
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Volmertionsgruppen, aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund. Dieser Trägerkreis hat beantragt, aus dem BMZ-Haushalt finanziert zu werden. Das sollte angeblich passieren. Es wurden 540 000 DM eingestellt, allerdings bei einem Titel, der nicht der entwicklungspolitischen Öffentlichkeitsarbeit der NGOs dient, sondern der Selbstdarstellung der BMZ. Die SPD hat sich bei den Abstimmungen im AWZ über den Tisch ziehen lassen mit dem Zugeständnis, daß diese Mittel, die dem BMZ zugeschrieben werden, für die NordSüd-Kampagne genutzt werden könnten.Gucken wir uns an, wie diese Nutzung aussieht. Es wurde ausdrücklich abgelehnt, dem Trägerkreis eine Infrastruktur für diese Kampagne zu finanzieren. Es wurde abgelehnt, daß die ein Büro einrichten dürfen. Es wurde sogar abgelehnt, daß sie in eigener Regie Broschüren erarbeiten dürfen, die dann in kritischer Weise den ganzen Komplex Weltwirtschaft beleuchten. Vielmehr hat der Herr Minister darauf bestanden, daß jedes Papier, das von den NGOs produziert wird, ihm zur Genehmigung vorgelegt werden muß und erst dann passieren kann und erst dann aus diesem Topf finanziert wird, wenn es die Genehmigung der Bundesregierung findet. Dies nenne ich Gängelung, dies nenne ich Zensur. — Dies ist ein Kernbestandteil der Entwicklungspolitik der Bundesregierung.
Was sich hier im Großen tut, tut sich auch im Kleinen. Es gibt die Kontakt- und Informationsstelle für Rückkehrer aus Entwicklungsländern. Damit sollen ehemalige Entwicklungshelfer, man könnte sagen: reintegriert werden in die gesellschaftlichen Zusammenhänge in der Bundesrepublik. Diese Kontaktstelle soll nun aufgelöst werden, höre ich. Was ist dies wiederum für eine Gängelung und Zensur der Arbeit, die dort stattfindet? Wir fordern, daß diese Stelle aufrechterhalten bleibt.
Noch einmal zum Thema Rückflüsse und Haushaltsausschuß: Erste Schritte sind geschehen, um die Rückflüsse aus der finanziellen Zusammenarbeit in die entwicklungspolitische Arbeit zu recyclen. Dies reicht bei weitem nicht aus. Wir fordern, daß sämtliche Mittel aus der finanziellen Zusammenarbeit und zusätzlich auch sämtliche Mittel aus der technischen Zusammenarbeit, die als Kredite vergeben worden sind und die nun zurückfließen, wieder in den Entwicklungsprozeß eingespeist werden. Es geht nicht an, daß der Prozeß weiterläuft, der darauf hinauslaufen würde, daß Ende der 80er Jahre, die Nettohilfsleistungen, die von der Bundesrepublik in Drittweltländer transferiert werden, gegen null gehen, weil die Rückzahlungen genauso hoch wären. Heute betragen die Rückzahlungen der TZ schon 60 % der vergebenen Mittel. Dies ist ein Skandal.
Es geht nicht an, daß die Defizite im Bundeshaushalt dadurch abgedeckt werden, daß den Drittweltländern das Geld aus der Tasche gezogen wird.
Nun zum letzten Punkt, der für mich ein ganz gravierender ist: Da hat der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit mehrheitlich, mit zahlreichen Stimmen aus den Koalitionsfraktionen, einen Antrag beschlossen, den die GRÜNEN vorgelegt hatten. Der Antrag lautete:Die Vorhaben der Entwicklungshilfe sind prioritär so auszuwählen, daß den Grundbedürfnissen der armen und ärmsten Bevölkerungsschichten direkt Rechnung getragen wird. Dabei sollen ökologische Gesichtspunkte und solche, die der Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung der Frauen dienen, besonders berücksichtigt werden.Wie gesagt, diese Formulierung fand eine deutliche Mehrheit im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Und der Haushaltsausschuß ging nun hin, wieder unter Führung des Sozialdemokraten Esters, und kippte diese Formulierung, akzeptierte die einfach nicht, strich sie raus. Da frage ich wiederum: Wer hat eigentlich die Richtungskompetenz in der inhaltlichen Ausgestaltung der Entwicklungspolitik? Daß der Haushaltsausschuß die Finanzen prüft, ist sein gutes Recht, seine Pflicht.
Aber daß er bestimmen will, wie inhaltlich entwicklungspolitische Zusammenarbeit aussieht, daß eine Schwerpunktsetzung im Bereich Ökologie und Frauenpolitik nicht stattfinden darf, ist ein starkes Stück. Das kann sich der Haushaltsausschuß nicht erlauben. Wir stellen deshalb den Antrag, daß das Parlament die vom Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit beschlossene Formulierung genehmigt, stellen die hier also zur Abstimmung.
Ich komme zu dem Fazit: Der Kern der Entwicklungspolitik der Bundesregierung heißt nach wie vor Mißbrauch der Entwicklungshilfe für außenwirtschaftliche Ziele, nicht nur auf der bilateralen, sondern jetzt vor allen Dingen auf der multilateralen Ebene. Dies wird flankiert durch eine zunehmende Gängelung und Zensur von kritischen Nichtregierungsorganisationen. Deshalb lehnen wir den Einzelplan 23 ab.Ich möchte noch hinzufügen — und dies an die Adresse der SPD — : Sie müssen sich wirklich überlegen, wen Sie als Berichterstatter für Entwicklungspolitik im Haushaltsausschuß nominieren. Das, was der Herr Esters betreibt und was er auch in den letzten Jahren betrieben hat, ist für fortschrittliche Entwicklungspolitiker fast ebenso eine Zumutung wie die Politik, die Minister Warnke betrieben hat und die uns jetzt von Minister Klein droht.Danke.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Folz-Steinacker.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2789
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute den Einzelplan 23 des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit abschließend beraten, können wir dies nicht ohne Berücksichtigung der für den Bundeshaushalt 1988 insgesamt geltenden Grundsätze tun. Trotz zurückgehender Einnahmen und unabweisbaren Mehrbedarfs ist es gelungen, durch konsequente Ausgabendisziplin an der haushaltspolitischen Strategie der letzten Jahre festzuhalten.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben damit die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die berechenbare und zuverlässige Wirtschafts- und Finanzpolitik fortgesetzt werden kann.
Eine solche Politik ist jedoch nicht nur in unserem eigenen Interesse erforderlich; sie ist gleichzeitig die Voraussetzung dafür, daß wir auch künftig unseren Beitrag bei der Überwindung von Armut und Unterentwicklung in den Ländern der Dritten Welt leisten können.
Daß der Haushalt 1988 dennoch nicht alle Erwartungen erfüllen kann, ist angesichts der Vielzahl von Problemen, die sich im nationalen wie im internationalen Rahmen stellen, nur allzu verständlich. Dies gilt sicherlich auch für den Einzelplan 23.Meine Damen und Herren, mit einem Plafond von mehr als 6,8 Milliarden DM ist 1988 gegenüber dem Vorjahr ein leichter Rückgang zu verzeichnen, den ich als Entwicklungspolitikerin sehr bedauern muß. Ursache hierfür ist vor allem ein erheblicher Minderbedarf auf Grund günstigerer Wechselkurse im Bereich der multilateralen Zusammenarbeit. Der sich hierdurch ergebende finanzielle Spielraum konnte auch dank der von den Fraktionen im Zuge der parlamentarischen Beratungen eingebrachten Änderungsanträge zum wesentlichen Teil für eine Erhöhung von Titelansätzen in entwicklungspolitisch wichtigen Förderungsbereichen genutzt werden.Zusätzlich zum Plafond von 6,8 Milliarden DM können 1988 erstmalig bis zu 100 Millionen DM Tilgungsrückflüsse aus der Kapitalhilfe für neue Maßnahmen der finanziellen Zusammenarbeit wieder eingesetzt werden. Dem Problem, daß die Gesamteinnahmen des Einzelplans 23, und zwar insbesondere aus FZ-Rückflüssen, relativ stärker ansteigen als die Gesamtausgaben, ist somit für 1988 in einem ersten Schritt Rechnung getragen worden. Damit ist die Bundesregierung gleichzeitig einer auf parlamentarischer Ebene erhobenen Forderung gefolgt. Dies begrüßen wir ganz ausdrücklich.
Um den Nettoeffekt des Einzelplans 23 zugunsten der Entwicklungsländer erhalten zu können, wird allerdings in den künftigen Haushaltsjahren geprüft werden müssen, ob eine Erhöhung der wiedereinzusetzenden FZ-Tilgungsrückflüsse erforderlich ist.Zu begrüßen ist auch, daß nach der Finanzplanung in den Jahren 1989 bis 1991 eine überdurchschnittliche jährliche Steigerungsrate von mehr als 3 % vorgesehen ist und durch eine erhebliche Steigerung der Verpflichtungsermächtigungen 1988 die Voraussetzungen für einen erweiterten Handlungsrahmen in den künftigen Haushaltsjahren geschaffen werden.Neben einer weiteren Verbesserung der Wirksamkeit unserer Hilfe ist dies auch dringend erforderlich, meine Damen und Herren. Denn wir müssen erkennen, daß sich das Wohlstandsgefälle zwischen den Industrieländern und der Mehrzahl der Entwicklungsländer nicht vermindert hat.Als ganz zentrales Problem, meine Damen und Herren, stellt sich heute eine für alle Seiten vorteilhafte Integration der Wirtschaft der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft dar. Dem jedoch stehen Verschuldung, Protektionismus, Verfall der Rohstoffpreise und der generelle Rückgang des Kapitalzuflusses aus den Industrieländern in die Entwicklungsländer entgegen. Eine dauerhafte Lösung der Verschuldungskrise kann nur durch gemeinsame Anstrengungen der Regierungen, der Gläubiger- und der Schuldnerländer, der internationalen Finanzinstitute und der privaten Banken ermöglicht werden. Auf die Notwendigkeit, im Einzelfall durch größere Flexibilität zur Erreichung sachgerechter Lösungen auf der Basis von Vereinbarungen zwischen Schuldnern und Gläubigern beizutragen, darf ich in diesem Zusammenhang hinweisen.Eine solche Möglichkeit, meine Damen und Herren, böte sich z. B. in der Unterstützung der bolivianischen Regierung, und zwar beim Rückkauf von Forderungen der privaten Gläubigerbanken zum Marktwert. Wir erbitten, wir fordern und wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie diesen Vorschlag aufgreift.
Protektionismus belastet die Entwicklung des Welthandels und verhindert eine notwendige Integration der Entwicklungsländer in den Welthandel. Am Ende der neuen Verhandlungsrunde des GATT muß daher eine deutliche Liberalisierung des Welthandels stehen.
Der Absatz von Ernährungsgütern und industriellen Fertigwaren der Entwicklungsländer muß durch eine stärkere Marktöffnung in den Industrieländern gesteigert werden. Vor allem im Agrarsektor verzerrt die Exportsubventionierung der Europäischen Gemeinschaft den Wettbewerb zu Lasten der Entwicklungsländer, meine Damen und Herren. Ich bitte, das zu bedenken.Will man die weltweiten Agrarhandelsprobleme wirklich lösen, so ist es unausweichlich, daß auch die Europäische Gemeinschaft zu Korrekturen ihrer Agrarpolitik bereit ist. Hierzu gehört vor allem, die Überschußproduktion in der EG abzubauen, die Wettbewerbs- und marktverzerrenden Exportsubventionen zu beseitigen und den Entwicklungsländern einen stärkeren Zugang zum EG-Markt zu ermöglichen.Es gilt also, die Bemühung um gemeinsame Lösungen bei der Überwindung von Armut und wirtschaft-
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2790 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Frau Folz-Steinackerlicher Rückständigkeit in den Ländern der Dritten Welt verstärkt fortzusetzen. Die Bundesrepublik Deutschland wird dazu auch weiterhin ihren Beitrag leisten.Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion stimmt dem Einzelplan 23 zu. Wir fordern Sie, Herr Minister, auf: Setzen Sie die bewährte Entwicklungspolitik der Koalition fort!
Hierzu haben Sie unsere vollste Unterstützung. Danke.
Das Wort hat der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Herr Klein.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Die Haushaltsmittel des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit werden 1988 ein knappes Prozent höher als im laufenden Jahr sein. Herr Kollege Esters, ich halte die 100 Millionen DM Rückflüsse eben nicht für theoretisch.
Das ist aber nicht das Entscheidende. Viel wichtiger ist, daß mit diesem Haushalt auf die zum Teil dramatisch veränderte Situation in den Entwicklungsländern zielgenauer reagiert werden kann.Bevor ich dies im einzelnen darlege, erlauben Sie mir ein Wort des Dankes an das Hohe Haus, insbesondere aber an den Haushaltsausschuß, an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und vor allem an die Haushaltsberichterstatter des Einzelplans 23. Bitte betrachten Sie das nicht als eine Höflichkeitsfloskel des zuständigen Ressortministers, der sich rechtzeitig um die parlamentarische Geneigtheit für die nächsten Haushaltsberatungen bemüht.Das Engagement des Deutschen Bundestages für die Menschen in der Dritten Welt, die Bereitschaft, Armut und Elend wirksam zu bekämpfen und zu einer nachhaltigen Entwicklung der Länder Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und Ozeaniens sinnvoll beizutragen, ist groß. Die zuständigen Kolleginnen und Kollegen verfügen zum größten Teil über eindrucksvolle Sachkunde.Bei den Beratungen dieses Haushalts haben die parlamentarischen Berichterstatter und die Fachleute des Ministeriums, denen ich an dieser Stelle ebenfalls danke, weit mehr geleistet, als nur die zur Verfügung stehenden Steuermittel haushaltstechnisch korrekt auf die einzelnen Untertitel zu verteilen. Sie haben sich mit der Aufgabe identifiziert, unsere Entwicklungszusammenarbeit mitgestaltet und damit neue politische Weichenstellungen ermöglicht.
Die fünf entscheidenden Punkte, auf die auch mein Kollege Jochen Borchert zum größten Teil bereits eingegangen ist, sind:Erstens: Erhöhung des Zuschußelements durch Steigerung der Verpflichtungsermächtigungen im Rahmen der Technischen Zusammenarbeit um 17 auf 1,4 Milliarden DM und durch Steigerung des entsprechenden Barmittelansatzes um 5 % auf 975 Millionen DM.Zweitens: Verbesserung des langfristigen Entwicklungsengagements durch Erhöhung der Verpflichtungsermächtigungen im Rahmen der Finanziellen Zusammenarbeit um 7 % auf 3,2 Milliarden DM. Der entsprechende Barmittelansatz liegt mit 2,7 Milliarden DM deutlich über den zu erwartenden IstAusgaben von 1987.Drittens: Vergrößerung des Anteils der Mittel für allgemeine Waren- und Strukturhilfen im Rahmen der Finanziellen Zusammenarbeit auf insgesamt 600 Millionen DM, was uns in der Entwicklungszusammenarbeit raschere und flexiblere Reaktionen ermöglicht.Viertens: Einstieg in die von Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung angekündigte schrittweise Lösung der Rückflußproblematik durch den Ansatz von 100 Millionen DM aus Rückflüssen innerhalb des allgemeinen Waren- und Strukturhilfe-Titels.Fünftens: Überproportionale Steigerung der Mittel für die Förderung von Vorhaben nichtstaatlicher Träger und für die personelle Hilfe um 14,1 % auf zusammen 968 Millionen DM. Damit wird auch eine erneute Ausweitung der so besonders wertvollen — weil im Regelfall auf die ärmeren Schichten zielenden — Entwicklungsarbeit der Kirchen ermöglicht.Angesichts der Not in weiten Teilen der Dritten Welt, angesichts der Überschuldung fast aller Entwicklungsländer, angesichts des gefährlichen Rückgangs des Netto-Kapitaltransfers von Nord nach Süd, aber auch angesichts unseres ehrlichen Willens zu helfen, und unseres wohlverstandenen Eigeninteresses an einem weltweiten wirtschaftlichen und politischen Fortschritt können wir mit dem Erreichten selbstverständlich nicht zufrieden sein. Zumindest aber haben wir mit diesem Haushalt den Weg eingeschlagen, auf dem wir den neuen entwicklungspolitischen Herausforderungen angemessen begegnen können, und wir werden ihn fortsetzen. Frau Kollegin Folz-Steinacker, Herr Kollege Borchert, Herr Kollege Esters, ich bedanke mich ausdrücklich für die auch in dieser Debatte bekräftigte Bereitschaft, diesen Weg — um Ihren Ausdruck aufzugreifen — konstruktiv als Vordenker und Wegbereiter zu unterstützen.Die große Mehrheit der Deutschen empfindet ihre weltweite Verantwortung. Provinzielle Selbstbezogenheit wird ihr meist zu Unrecht von solchen Politikern und Funktionären unterstellt, die sich ausschließlich an egoistischen Gruppeninteressen orientieren. Gerade deshalb aber kommt korrekter Information über Beweggründe und Ziele unserer Entwicklungszusammenarbeit hohe Bedeutung zu. Hier sind wir alle gefordert.Wer jedoch Not und Unterentwicklung der Menschen in der Dritten Welt zynisch zur innenpolitischen Profilierung oder gar zur ideologischen Hetze mißbraucht, der muß auf unseren geschlossenen Widerstand stoßen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2791
Bundesminister KleinIch sage dies aus aktuellem Anlaß. Der sogenannte Bundeskongreß entwicklungspolitischer Aktionsgruppen, eine von Kommunisten und anderen Linksextremisten beeinflußte Organisation, bereitet eine breite Kampagne zur Störung bis zur Verhinderung der nächstjährigen Herbsttagung von Weltbank und IWF in Berlin vor.
Gewalt ist — wenn auch noch verklausuliert — bereits von einer Reihe der Beteiligten angesagt. Den freigewordenen Kapazitäten von der Hamburger Hafenstraße, der Startbahn West und der WAA eröffnet sich ein neues Aktionsfeld. Der erste Brandanschlag ist bereits versucht worden.
Und wieder besteht die Gefahr, daß sich seriöse Organisationen und wohlmeinende Personen in das Netz grün-kommunistischer Radikaler einspinnen lassen.
Ausdrücklich begrüße ich die Zurückhaltung der Gewerkschaften und politischen Stiftungen gegenüber dieser Kampagne.
Gestatten Sie mir, dazu einen Satz aus der Ansprache von Kirchenpräsident Spengler beim Trauergottesdienst für die beiden ermordeten Polizisten in Frankfurt zu zitieren:Wir alle fragen uns, ob wir nicht Anfängen hätten wehren müssen. Haben wir in den Kirchen die christliche Bejahung des Staates und seiner Aufgaben deutlich genug geltend gemacht?Wirksame mitmenschliche Solidarität mit Afrikanern, Asiaten und Lateinamerikanern läßt sich nicht mit Brandsätzen und Brandreden bekunden. Sie bedarf vielmehr der Opferbereitschaft, der Nachdenklichkeit und immer wieder auch der Selbstkritik.
Vor allem jedoch erfordert sie ernsthafte Arbeit und solide Sachkenntnis.Mit dem zu beschließenden Haushalt von 6,948 Milliarden DM — die 100 Millionen DM erwarteter Rückflüsse eingeschlossen — , mit dem vergleichsweise kleinen, aber engagierten Mitarbeiterstab des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, mit den hauptamtlichen Mitarbeitern der anderen staatlichen Organisationen, den hauptamtlichen und freiwilligen Helfern nichtstaatlicher Träger und mit Ihnen allen, meine Kolleginnen und Kollegen in diesem Hohen Hause, werden wir uns weiter bemühen, unseren Beitrag zur Erfüllung der Menschheitsaufgabe Entwicklungszusammenarbeit zu leisten.Ich bedanke mich.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über die Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN. Ich rufe die Änderungsanträge nach der Reihenfolge der Drucksachennummern zur Abstimmung auf. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/1279? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit Mehrheit bei einer größeren Anzahl von Enthaltungen abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/1280? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/1281? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Änderungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzelplan 23. Wer dem Einzelplan 23 — Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit — in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? - Der Einzelplan ist mit Mehrheit angenommen worden.
Ich rufe nun den Einzelplan 27 auf:
Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen
— Drucksachen 11/1071, 11/1081 —
Berichterstatter: Abgeordnete Nehm
Dr. h. c. Lorenz Hoppe
Kleinert
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. — Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Hiller.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst etwas Positives: Auf Grund von Bitten der SPD-Fraktion haben sich alle Fraktionen verständigt, daß die Gemischte Wirtschaftskommission auch in Berlin tagen wird. Ich glaube, diese volle Einbeziehung wird die Zustimmung aller Deutschlandpolitiker in diesem Hause finden.Meine Damen und Herren, wie es zu einer vernünftigen Deutschlandpolitik gekommen ist und wer sie durchgesetzt hat, ist von Rednern meiner Fraktion bereits in der Debatte zur Lage der Nation zum Ausdruck gebracht worden: Es waren Sozialdemokraten wie Willy Brandt, Egon Bahr und Herbert Wehner gegen den erbitterten Widerstand aus CDU und CSU. Heute, fünf Jahre nach der sogenannten Wende, gibt es immer noch erbitterten Widerstand bei CDU und CSU. Eine einheitliche deutschlandpolitische Konzeption ist bis heute nicht vorhanden. Man operiert konzeptionslos von Tag zu Tag.
Dabei ist zu sagen, daß wir einverstanden sind mit dem Honecker-Besuch und insbesondere mit der vielfältigen Verbesserung des Reiseverkehrs.
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Hiller
Ebenso begrüßen wir die Amnestie in der DDR. Wir stellen fest, daß die Vereinbarungen, die Helmut Schmidt und Erich Honecker am Werbellinsee getroffen haben, heute verwirklicht sind. Genau das erwarten wir auch für die Ergebnisse des Honecker-Besuchs jetzt in der Bundesrepublik.Positive Teilergebnisse und nochmehr positive Erwartungen reichen zur Beurteilung der Politik jedoch nicht aus. Hier muß neben der Frage nach der Konzeption auch die Frage gestellt werden, ob die Bundesregierung alle ihre Möglichkeiten ausgenutzt hat. Hier ist die Bilanz eindeutig negativ. Zum Beispiel vermissen wir die Nutzung der Chancen friedenspolitischer Zusammenarbeit. Diese ist aber notwendig, damit das Wort von Helmut Schmidt und Erich Honekker „Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen" verwirklicht werden kann.
Außerdem ist nichts Entscheidendes geschehen, um die Streitpunkte zwischen den beiden deutschen Staaten auszuräumen. Immer noch ist der Verlauf der Elbegrenze nicht einvernehmlich geregelt. Die Fischer in der Lübecker Bucht warten nun schon Jahre auf zusätzliche Fanggebiete, die sie bei ihren wirtschaftlich dringenden Problemen benötigen. Auch die Bürger in Kiel und in Hamburg würden gern mit in den Reiseverkehr im grenznahen Bereich einbezogen. Für eine Reinigung des Elbewassers ist es bereits fünf Minuten vor zwölf.
Die DDR ist dazu bereit, wenn es zu einer einvernehmlichen Regelung in der Frage der Elbegrenze kommt.Die Bundesregierung dagegen verhindert mit ihrem dogmatischen Immobilismus weitere Erfolge in der Deutschlandpolitik, die den Menschen direkte Vorteile brächten.Diese Beispiele belegen, daß die Union noch nicht ausdiskutiert hat, welches deutschlandpolitische Konzept sie nun verfolgen will. Die Annäherung an die sozialdemokratische Deutschlandpolitik ist immer noch nicht vollkommen gelungen. Wir müssen feststellen, daß die Deutschlandpolitik der Bundesregierung nicht im Ministerium für innerdeutsche Beziehungen operativ vollzogen wird, sondern im Bundeskanzleramt. Deshalb richtet sich die Zustimmung der SPD auch an diese operative Politik des Kollegen Schäuble.Das innerdeutsche Ministerium ist dagegen vor allem durch die Konterkarierung dieser Politik hervorgetreten.
Auf die unsäglichen Reden des Parlamentarischen Staatssekretärs dieses Hauses will ich hier nicht weiter eingehen,
auch nicht auf den blühenden Unsinn des Kollegen Friedmann hinsichtlich seiner Wiedervereinigungsvorschläge.
Diese müssen in der CDU/CSU-Fraktion geklärt werden.Aber, meine Damen und Herren, die Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen verlagert sich leider immer mehr dorthin, wo die Feindbilder gegen die DDR künstlich erhalten werden sollen,
wo den Teilnehmern an Bildungsveranstaltungen nicht Tatsachen unterbreitet werden, sondern die Werturteile der 50er Jahre, wie Frau Wilms dies ausdrücklich verlangt.
Dafür wollen wir den enormen Mitteleinsatz im Einzelplan 27, die Erhöhung um 410/0, nicht verstanden wissen. Wo die Kritik an der DDR zu sehr im Vordergrund steht, tritt eine Verblendung ein, die die Chancen und Möglichkeiten zu einer friedensfähigen Kultur des politischen Streits nicht wahrhaben kann. Statt nötiger Kritik predigt das Ministerium Abgrenzung, obwohl vorurteilsfreie Analyse und pragmatische Politik im Interesse der Menschen notwendig wären.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es kommt noch schlimmer. In Sonntagsreden wird immer die deutschlandpolitische Verantwortung für das Zonenrandgebiet hervorgehoben. So haben wir es auch in der Regierungserklärung gehört. Diese Aufgabe soll die Folgen der Teilung mildern. Doch die Ausweglosigkeit des Bundesfinanzministers bei der Finanzierung seiner sogenannten Steuerreform schlägt in Brutalität für die strukturschwachen Gebiete im Zonenrandgebiet um. Der Beitrag der strukturschwachen Regionen zur Refinanzierung der Steuergeschenke an Spitzenverdiener und Bessergestellte beträgt über 2,7 Milliarden DM während eines Zeitraums von fünf Jahren. Auch für Berlin treten in diesem Zusammenhang negative Folgen auf. Wo bleibt da der Protest der Deutschlandpolitiker im Ministerium für innerdeutsche Beziehungen, bei der CDU/CSU und bei der FDP?Da ist schon ein perfider Zusammenhang. Die Mittelkürzung für das Zonenrandgebiet entspricht etwa der Steigerung der Mittel für das Ministerium für innerdeutsche Beziehungen.
Statt Propaganda fordern wir keine Kürzung der Mittel für das Zonenrandgebiet. Die Koalition will nicht nur die Umverteilung der Einkommen von unten nach oben, sie will offensichtlich auch die Umverteilung der Entwicklungschancen von den armen Regionen zu den entwickelten Regionen. Die Streichung der Mittel für die Regionalpolitik ist ein Schlag ins Gesicht des Zonenrandgebiets und der strukturschwachen Regionen. Dies ist nicht nur unmoralisch, es ist auch wider
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2793
Hiller
den Auftrag des Grundgesetzes, das dem Gesetzgeber aufgibt, die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse für alle Regionen anzustreben.Wir haben von den Zonenrandpolitikern der CDU und der FDP dazu nichts gehört.
Der Verrat an den Lebensinteressen der strukturschwachen Regionen auf dem Altar der Finanzierbarkeit der Stoltenbergschen Reform ist damit vorprogrammiert. Nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die kleinen und mittleren Unternehmen können diese ungerechte Politik nicht billigen. Mindestens 28 000 Arbeitsplätze gefährdet die Bundesregierung mit dieser Politik.
— Sie wissen genau, daß gerade dieses Thema im Unterausschuß für Zonenrandförderung angesprochen wird. Wir sind sehr gespannt, was Sie dort dazu sagen werden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sielaff?
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Sielaff.
Herr Kollege, haben Sie bemerkt, daß die zuständige Ministerin bisher in keiner Weise Ihrer Rede zuhört?
Das stört mich nicht sehr. Ich hoffe aber, daß sie zu dieser Benachteiligung des Zonenrandgebiets klare Ausführungen aus deutschlandpolitischer Sicht machen wird. Es ist nicht nur so, daß die Frau Ministerin möglicherweisse kaum zuhört; auch der zuständige Staatssekretär ist ständig in Unterhaltungen vertieft.
Ich darf zusammenfassen. Wir lehnen den Haushalt ab, und wir fordern die CDU- und FDP-Landräte, -Bürgermeister und -Gemeindevertreter im Zonenrandgebiet auf, diesen Plänen von Stoltenberg und der Regierungskoalition entgegenzutreten.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Lorenz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Hiller, eine eindrucksvollere Darstellung sozialdemokratischer Deutschlandpolitik habe ich selten gehört.
Es ist ja sehr schön, daß Sie noch einmal schildern, welche Intentionen die Regierungen Brandt und Schmidt bei ihrer Deutschlandpolitik hatten.
Wenn Sie aufmerksam die politische Entwicklung verfolgt haben — was ich doch wenigstens hoffe —, dann müßte Ihnen aufgefallen sein, daß in den letzten Jahren Erfolge in der Deutschlandpolitik zu verzeichnen sind, und zwar gerade im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, von denen die Regierungen Brandt und Schmidt vorher nur geträumt hätten.
Alle Möglichkeiten und Notwendigkeiten, die Sie hier angesprochen haben und die diese Regierung angeblich versäumt hat, aber auch alle, sind Gegenstand von Gesprächen mit dem Generalsekretär Honecker während seines Besuchs in Bonn gewesen, soweit sie nicht bereits erledigt sind.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte im Zusammenhang vortragen.
— Gut, wenn es mir auf meine Zeit nicht angerechnet wird, bitte!
Also eine Frage, und sie wird nicht auf die Zeit angerechnet. Bitte!
Herr Kollege, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß die Politik der Regierung Brandt/ Scheel, das Viermächteabkommen über Berlin, der Grundlagenvertrag und der Vertrag von Moskau, also die Politik, die Sie heute fortsetzen, während Sie sie früher bekämpft haben, die Grundlagen gelegt hat?
Herr Kollege, ich möchte Ihnen einmal folgendes sagen. Wir setzen natürlich kontinuierlich die Politik der Bundesrepublik Deutschland fort, wie sie 1949 von Adenauer begründet worden ist und wie sie von den anderen Regierungen fortgeführt worden ist.
Das finden wir vor, und das ist natürlich die Grundlage, auf der wir diese Politik betreiben.
Nur, wir haben uns vorgenommen, auf diesen Grundlagen und aus diesen Grundlagen das Beste zu machen, was man machen kann, und das ist uns sehr viel besser gelungen als Ihren Regierungen, meine Damen und Herren.
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2794 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Dr. h. c. LorenzÜber den Einzelplan 27 zu berichten ist für uns, die CDU/CSU, deshalb eine insgesamt sehr erfreuliche Angelegenheit. Während in den letzten Jahren vor 1982 sinkende Haushaltsansätze für die Deutschlandpolitik beklagt werden mußten, sind diese Ansätze seit 1983 Jahr für Jahr gestiegen, und zwar proportional erheblich höher als der Anstieg des Bundeshaushalts insgesamt. Gegenüber dem laufenden Haushalt 1987 weist der Haushalt 1988 eine Steigerung von 41,4 % aus. Meine Damen und Herren, der gesamte Haushalt steigt um 2,4 %.
Der deutschlandpolitische Gestaltungswille dieser Koalition zeigt sich also nicht nur in verbalen Bekundungen, sondern läßt sich auch an handfesten Zahlen nachweisen. Den Notwendigkeiten und dem Anspruch des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen entsprechen dann auch die Steigerungen in den einzelnen Haushaltsabschnitten. Den Willen zur Einheit in einem Land zu erhalten, durch dessen Mitte Mauer und Stacheldraht verlaufen, erfordert besondere Anstrengungen. Deshalb dankt meine Fraktion der Bundesministerin Frau Dr. Wilms, dem Parlamentarischen Staatssekretär Hennig, dem Staatssekretär Rehlinger und allen Mitarbeitern des innerdeutschen Ministeriums für die geleistete Arbeit, die mit bemerkenswertem Erfolg verbunden war.
Lassen Sie mich einige Beispiele nennen. Wir sind ja schließlich in der Haushaltsdebatte, und da muß man auch einiges über den Haushalt sagen dürfen; das habe ich in Ihrem Beitrag vermißt, Herr Kollege Hiller.So bietet der Bereich der Bildungs- und Informationsarbeit
die Chance, auf vielfältige Art Anstöße zu geben.
1988 werden dafür 80,5 Millionen DM ausgegeben; das sind rund 2,5 Millionen mehr als im laufenden Jahr. Dabei möchte ich darauf hinweisen, daß besonders die Reisen großes Interesse bei Jugendlichen finden.
Für Reisen nach Berlin wird eine Million mehr ausgegeben,
während schon im laufenden Haushaltsjahr 1,7 Millionen zusätzlich zur Verfügung gestellt werden konnten.
Hinweisen möchte ich auch auf die Zeitschrift „Wir in Ost und West",
die mit einer Auflage von rund 600 000 Stück hauptsächlich für Schüler und Jugendliche konzipiert ist. Sie wird immer mehr gelesen,
und ich möchte das Bundesministerium eigentlich ermuntern, in den kommenden Jahren die Auflage zu erhöhen und die Zeitschrift auch an den deutschen Auslandsschulen zu verteilen.
Auch die deutschlandpolitische Forschung dient dem Zweck, gesicherte Erkenntnisse über die DDR und die Entwicklung der deutsch-deutschen Beziehungen zu gewinnen. Durch eine Erhöhung um 200 000 DM hat sich der Ansatz seit 1982 auf fast 6,3 Millionen verdoppelt.Eine erhebliche Steigerung erfahren, Herr Kollege Heimann, erstmals im Jahre 1988 die Aufwendungen für den RIAS Berlin. 50 Millionen DM zusätzlich werden nämlich für den Sendebeginn des RIAS-Fernsehens bereitgestellt. Der Sender hat nach unserer Auffassung seinen Auftrag, umfassend über die Verhältnisse und Entwicklungen in der Welt und insbesondere im geteilten Deutschland zu berichten, in der Vergangenheit ausgezeichnet erfüllt. Durch das Medium Fernsehen, wird er noch besser in der Lage sein, seinen Beitrag zur Förderung der Zusammengehörigkeit der Deutschen in Ost und West zu leisten.
Durch den Abschluß des Kulturabkommens mit der DDR hat der Kulturaustausch eine besondere Bedeutung bekommen. Um diesen zusätzlichen Aufgaben gerecht zu werden, werden die Ausgaben dafür auf 20 Millionen DM erhöht. Es hat in Duisburg die Kulturtage der DDR mit 70 000 interessierten Besuchern gegeben. Wir würden uns ausgesprochen wünschen, daß auch die Bundesrepublik bald die Möglichkeit erhält, ihr Kulturgeschehen in einer großen Stadt der DDR zu präsentieren.Meine Damen und Herren, einer der größten Erfolge der Deutschlandpolitik dieser Regierungskoalition ist die außerordentliche Steigerung der Zahl der Menschen, die aus der DDR zu uns reisen, insbesondere der Menschen unterhalb des Rentenalters.
Als Zeichen der Solidarität mit unseren Landsleuten, die wir hier herzlich willkommen heißen, und um ihnen und ihren Angehörigen den Aufenthalt hier zu erleichtern, wurde das Begrüßungsgeld auf 100 DM jährlich für jeden Besucher erhöht. Wir hoffen, damit auch ihre Gastfamilien zu entlasten.Nach den Zusagen, die Generalsekretär Honecker anläßlich seines Besuchs in Bonn im Oktober abgegeben hat, rechnen wir im kommenden Jahr mir rund 2,8 Millionen Reisenden aus dem anderen Teil Deutschlands und aus anderen Ländern Osteuropas. Gemeinsam mit zusätzlichen Kosten aus dem Gesundheitsab-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2795
Dr. h. c. Lorenzkommen werden für diese Zwecke 340 Millionen DM vorgesehen. Das ist zwar viel Geld, meine Damen und Herren, aber es wird sinnvoll verwandt. Denn wir helfen damit den Menschen in unserem geteilten Land, zusammenzukommen, ihre Beziehungen zu vertiefen oder neue Kontakte zu knüpfen. Wir möchten erreichen, daß in Zukunft auch viel mehr Deutsche aus der Bundesrepublik den anderen Teil Deutschlands besuchen. Hier besteht noch ein großer Nachholbedarf. Deshalb bleibt es bei unserer Forderung, Beschränkungen und Hindernisse im innerdeutschen Reiseverkehr weiterhin abzubauen,
vor allem den Zwangsumtausch und die Einreise- und Kontaktverbote.Als weitere wichtige Aufgabe empfinden wir es nach wie vor, die durch die Teilung entstandenen Nachteile für das Zonenrandgebiet zu mildern. Für die Zonenrandförderung sollen 1988 128,2 Millionen DM aufgewandt werden. Davon sind mehr als 2 Millionen DM für kulturelle Veranstaltungen größerer Art gedacht,
die in diesen strukturschwachen Gebieten ohne Zuschüsse sonst kaum stattfinden könnten.
Und um Sie ganz besonders zu erfreuen, weise ich noch darauf hin, daß die Flüchtlings- und Vertriebenenverbände und die Landsmannschaften für ihre deutschlandpolitische Arbeit 4,1 Millionen DM und damit 447 000 DM mehr erhalten. Damit bringen wir unseren Vertriebenen unsere Anerkennung für die wichtige Arbeit dieser Organisationen zum Ausdruck, meine Damen und Herren. Besonders im humanitären Bereich und in Menschenrechtsfragen wird hier Vorbildliches geleistet. Ich sage das besonders deshalb, weil es in Mode gekommen ist, die Arbeit der Vertriebenenverbände möglichst herabzusetzen und zu diffamieren.
Dazu besteht nicht die geringste Veranlassung. Wir weisen diese Methoden mit Nachdruck zurück.
Ein weiterer wesentlicher Fortschritt für die innerdeutschen Beziehungen zeigt sich an der steigenden Zahl der Städtepartnerschaften zwischen Städten der Bundesrepublik und der DDR. 15 solcher Partnerschaften sind bereits geschlossen, und weitere 12 stehen kurz vor dem Abschluß. Für 531 weitere Partnerschaften liegen Anfragen und Wünsche vor.
— Es werden immer mehr. Das hängt ja auch ein bißchen von der Annahme durch die DDR ab, Herr Kollege.Es ist hier die Aufgabe des Ministeriums, zu koordinieren und die Städte beim Abschluß von Partnerschaftsverträgen und ihrer praktischen Durchführung zu beraten. Wir haben dafür gesorgt, daß das Ministerium diese neuen Aufgaben auch personell bewältigen kann.All das sind Zeichen für positive Veränderungen im innerdeutschen Verhältnis, die Anlaß zur Befriedigung und Hoffnung auf eine immer größer werdende Durchlässigkeit der innerdeutschen Grenze und auf einen Austausch von Meinungen und Informationen geben.Leider sind solche Signale nicht überall im gleichen Ausmaß zu spüren. Entscheidend für das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zur DDR — ebenso übrigens zur Sowjetunion — wird sein, ob das freie Berlin in den Ausbau der Beziehungen voll einbezogen wird.
Wir haben leider feststellen müssen, daß die Bürger Berlins von manchen positiven Veränderungen im innerdeutschen Verhältnis ausgegrenzt blieben. Die DDR muß aber wissen, daß eine Verbesserung in den Beziehungen der beiden Staaten in Deutschland auf die Dauer nur möglich ist, wenn Berlin in diesen Ausbau voll einbezogen wird. Ich wiederhole hier die Worte des Bundeskanzlers: „Eine Deutschlandpolitik unter Umgehung Berlins ist für uns gänzlich ausgeschlossen! "
Wieviel Zeit habe ich noch, Herr Präsident? Vizepräsident Westphal: Eine Minute.
Oh Gott. — Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, daß die Parteien in diesem Hause — mit Ausnahme der GRÜNEN — in bezug auf die Mittel und Methoden der Deutschlandpolitik — trotz der Worte meines Vorredners — einander wieder ein großes Stück nähergekommen sind.
Das ist sehr zu begrüßen, weil es den Erfolg einer solchen Politik wahrscheinlicher macht.Ich bin mir jedoch im Zweifel, ob das Endziel unserer Deutschlandpolitik, in dem wir uns früher immer einig waren, heute noch von allen in gleicher Weise mitgetragen wird. Gerade im Jahr 1987 ist das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands von führenden Vertretern der sozialdemokratischen Fraktion und der Sozialdemokratischen Partei wieder in Frage gestellt worden, ein Ziel, in dem wir früher alle übereinstimmten und das unsere Arbeit im Kuratorium Unteilbares Deutschland verbindet.So hat der Kollege Heimann dazu aufgefordert, die Deutschen sollten anerkennen, daß die Normalität aller anderen europäischen Nationen, nämlich die staatliche Einheit, für sie nicht gelten dürfe. Es werde zur Normalität in Europa nicht kommen, wenn die Deutschen am Recht auf Selbstbestimmung und nationale Einheit festhielten.
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2796 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Dr. h. c. LorenzDer Kollege Büchler hält die Bestimmung des Art. 7 des Deutschlandvertrages historisch für überholt.
Ich will jetzt gar nicht die Worte des Oberbürgermeisters von Saarlouis, Nosper, anführen, der die Wiedervereinigung für eine Chimäre erklärt hat. Schließlich hat Johannes Rau erklärt, er wisse nicht, ob seine Zukunftsvision mit dem Wort „Wiedervereinigung" richtig umschrieben ist.Namens der CDU/CSU-Fraktion erkläre ich hierzu ganz deutlich: Unsere Zukunftsvision jedenfalls ist mit dem Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit durchaus richtig beschrieben.
Sicher ist das Prinzip des alten Nationalstaats überholt. Wir wollen eine Union der europäischen Völker. Und wie diese Völker, die Franzosen, Briten, Italiener, Spanier, Polen, Ungarn und alle anderen, ihr Vaterland lieben, so lieben auch wir unser Vaterland. Wir glauben nicht, daß es für die Schaffung eines freien und geeinten Europas notwendig ist, daß allein die Deutschen auf ein einheitliches Vaterland verzichten. Wir sind überzeugt, daß kein europäisches Volk, wenn es frei entscheiden kann, einen solchen Verzicht von uns verlangen würde.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hensel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben soeben von Herrn Dr. Lorenz gehört, daß das Ziel eines alten Nationalstaats sicher überholt sei. Aber dann haben wir sehr wenig davon gehört, wie denn die Perspektiven der Unionsparteien dazu aussehen. Er selber hat in seinen Worten vorher den Beweis dafür geliefert, daß es, wenn wir heute über den Einzelplan 27 debattieren, im strengen Sinn nur ganz wenig mit den deutsch-deutschen Beziehungen und ihrer politischen Rolle in Europa zu tun hat. Es hat auch wenig mit einer operativen Politik gegenüber der DDR zu tun.Wie wir alle wissen, hat das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen so gut wie gar keine entsprechenden Kompetenzen in diesem Sinne, sondern es hat im wesentlichen die Aufgabe, als Ideologiebehörde der Bundesregierung die innenpolitische Legitimation für ein Fossil namens Wiedervereinigung und Nationalstaat aufrechtzuerhalten.
Dies ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, daß dieoperative und konzeptionelle deutsch-deutsche Politik durch das Bundeskanzleramt bzw. das AuswärtigeAmt wahrgenommen und gestaltet wird, wie sich bei jedem bedeutenden politischen Ereignis zeigt, zuletzt beim Besuch von Erich Honecker. Wer hat den denn vorbereitet? Doch nicht das Ministerium für innerdeutsche Beziehungen.
Schon vor diesem Hintergrund dürfte einleuchten, daß meine Fraktion an der Forderung nach Auflösung des innerdeutschen Ministeriums und der Überführung der vorhandenen Sachkompetenzen und Abteilungen in die entsprechenden Ministerien festhält.
Ein Blick in die Struktur des Einzelplans 27 genügt, um festzustellen, daß eine Regierung, die es mit Semantik und Namensklarheit genau nähme, dieses Ministerium umbenennen müßte, z. B. in „Ministerium zur Förderung der Vertriebenenverbände" oder so ähnlich.
Das zeigen vor allem die Etatansätze 685 02 und die unter Titelgruppe 03. Denn hier sind die größten prozentualen Steigerungsraten in der Mittelzuweisung zu finden.
Dabei stehen die Flüchtlings- und Vertriebenenverbände mit einzigartigen 12 % Steigerung einsam an der Spitze.
Das ist eine Tendenz, die 1983 mit 2,5 Millionen DM begann und heute bei 4,1 Millionen DM angekommen ist.
Bemerkenswert daran ist, daß diese Mittel nur an einen sehr kleinen Kreis von Verbandsfunktionären ausgeschüttet werden, die immer noch für ein Deutschland in den Grenzen von 1937 Politik machen,
und auch, daß 68 % des Etatansatzes der institutionalisierten Förderung, also der Aufrechterhaltung, von Apparaten dienen. Dabei können sich die so geförderten Vertriebenenfunktionäre noch nicht einmal als Repräsentanten der Vertriebenen legitimieren,
da die Mehrzahl dieser Gruppe nicht oder zumindest nicht meinungsbildend in den entsprechenden Organisationen tätig ist. Hier wird in unmoralischer Weise eine Klientel der Unionsparteien an den Tropf von Staatsgeldern gehängt.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 2797
Frau HenselFür eine auf Entspannung und Verständigung in Europa zielende Politik sollte es sich verbieten,
in derartiger Form eine Kleinstschar Unverbesserlicher politisch und materiell zu unterstützen.
Meine Damen und Herren, bei der Vorstellung Ihres Etatansatzes haben Sie, Frau Wilms, hervorgehoben, daß Sie sich besonders um die politische Bildungsarbeit kümmern wollen. Dementsprechend steigen auch die Ansätze in der Titelgruppe 03. Im „Deutschlandarchiv" vom September ist dankenswerterweise nachzulesen, wie Sie sich, Frau Wilms, die Bildungsförderung vorstellen. Was die Ministerin da entwikkelt, läuft auf ein simples Strickmuster hinaus: Hier die Bundesrepublik, liebenswert und fehlerfrei, die eine vaterländisch gesonnene Jugend untertänigst zu schätzen weiß, weil sie, die Jugend, sozusagen als monströses Kontrastprogramm im Osten sieht, daß ein Weg, nämlich in der DDR, zu Elend und Unterdrückung führt. Anders ausgedrückt: Kritik an den hiesigen Verhältnissen ist nur statthaft mit Blick auf die DDR, weil dort nämlich alles noch viel schlimmer ist. Das Ungenügende der hiesigen Verhältnisse soll als Bagatelle erscheinen gegenüber den Verhältnissen im anderen Deutschland. Dies ist kein Ausrutscher von Ihnen, Frau Wilms, sondern das hat System.Das zeigt sich auch in der ideologiegeprägten Haltung im Teil A der Materialien zur Lage der Nation, der im ökonomischen Bereich ein ebenso irreführendes Bild der Realitäten aufzeigt, wie Sie es, Frau Wilms, im Bildungsbereich beabsichtigen. Das ganze könnte als ein etwas zu schlicht geratener Ansatz abgetan werden, stünden nicht wirtschaftliche und machtpolitische Interessen dahinter. Daraus kann sehr schnell wieder ein Rahmen werden, in dem wie in den 50er und 60er Jahren in obrigkeitsstaatlicher Manier jeder Kritiker bundesdeutscher Verhältnisse als totalitärer Freiheitsfeind oder Kommunist
verunglimpft oder ausgegrenzt wird. Sie erinnern sich bestimmt daran, daß auch heute noch der platte Satz diesen Kritikern häufig an den Kopf geworden wird: So geh doch rüber! — erinnern Sie sich bitte — zum Schaden von Toleranz und demokratischer Meinungsvielf alt.Nun weisen Sie, Frau Wilms, auch noch darauf hin, daß die Erziehung zu einem überzeugten Demokraten für die Sicherung des Staatswesen allein nicht ausreichend ist. Hier sei die Förderung eines gesunden, gesamtdeutschen Nationalbewußtseins durch verstärkte deutschlandpolitische Bildung notwendig. Zum Beleg weisen Sie auf die erheblich gestiegenen Jugend-, Schüler- und Studentenfahrten nach Berlin , an die Grenze zur DDR und in die DDR hinein sowie auf die gestiegene Nachfrage der geförderten Bildungs- und Informationsveranstaltungen hin.Ob Sie selber an diese Interpretation glauben, vermag ich nicht zu beurteilen. Auf jeden Fall aber sind diese Erscheinungen weniger ideologisch begründet, als dies allenthalben behauptet wird. In der Mehrzahl der Fälle entscheiden sich Gruppen für entsprechende Fahrten und Seminare, weil sie im Gegensatz zu anderen Bildungsangeboten gut bezuschußt werden. Die Veranstaltungen locken mit Brötchen und Getränken, und die Fahrten sind einfach billiger als andere. Wenn Sie, Frau Wilms, das nicht glauben, dann fragen Sie doch die CDU-Referenten nach ihren Eindrücken und Erfahrungen.Ich denke aber, Sie wollen einfach nicht sehen, daß die überwiegende Mehrzahl nicht nur der jüngeren Bundesbürger und -bürgerinnen mit Vaterlandsduseleien und gesamtdeutschen Nationalismen wenig am Hut haben. Die Untersuchungen von Ronge über die Aufnahme von DDR-Übersiedlern in der Bundesrepublik bestätigen dies übrigens in aller Deutlichkeit. Die Motive für die Anteilnahme bei der bundesdeutschen Bevölkerung sind eben nicht national, sie sind humanitär geleitet. Das ist das Wichtige. Warum sehen Sie in der Entwicklung keinen Fortschritt, keine Chance für eine postnationale, multikulturelle europäische Entwicklung?
Warum wollen Sie zurück zu Bewußtseins- und Politikformen des 19. Jahrhunderts? Wir GRÜNEN treten für einen politischen Paradigmawechsel in der Deutschlandpolitik ein.
Ich muß mich etwas kürzer fassen. — Sie werden verstehen, daß wir aus den vorgenannten Gründen dem Haushaltsansatz, der sich im wesentlichen auf eine verquere Bildungs- und Propagandaarbeit beschränkt und im geschilderten Kontext zu sehen ist, nicht zustimmen können.
— Dann würden Sie es vielleicht nicht verstehen.Aber trotz oder gerade wegen dieser Kritik bemüht sich unsere Fraktion auch weiterhin, Bewegung in die festgefahrenen Verhältnisse zu bringen. Schon im März 1986 haben DIE GRÜNEN in einem Grundsatzpapier in bezug auf die deutsch-deutschen Beziehungen einen Dialogbegriff entwickelt, der verständnisorientiert einen uneingeschränkten Dialog zwischen den Staaten und den Gesellschaften fordert.Es ist an der Zeit — ich komme jetzt langsam zum Schluß —
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2798 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Frau Hensel— vielleicht hören Sie noch auf das Schlußwort —, den Versuch zu unternehmen, all diese politischen Initiativen fruchtbar zu bündeln. Es ist nicht vorstellbar, z. B. zu einem interfraktionellen Arbeitspapier zu kommen. Die Herren von der CDU waren in der DDR und haben den Dialog gesucht
— die CSU auch —, die SPD hat ein SED-SPD-Grundsatzpapier vorgelegt. Ist es nicht an der Zeit, und ist es nicht vorstellbar, zu einem interfraktionellen Arbeitspapier und vielleicht auch zu einem gemeinsamen Entschließungsantrag zu kommen, der Formen und Inhalte eines zwischenstaatlichen und zwischengesellschaftlichen Dialogs einer politischen Streitkultur darlegt. Ich möchte diesen Vorschlag hier ganz ernsthaft zur Diskussion stellen, weil ich es bedauerlich fände, wenn die positiven Impulse der jüngsten Zeit, vor allen Dingen das SED-SPD-Papier, in einer jeweils bilateralen Exklusivität endeten.Deshalb sind DIE GRÜNEN der Auffassung, daß eine derartige interfraktionelle Initiative ein konstruktiver und beispielhafter Beitrag für eine europäische Begegnungskultur auf allen Ebenen sein kann.Ich danke sehr fürs Zuhören.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für Nachtgedanken zur Deutschlandpolitik ist es eigentlich noch zu früh, für Tagträume nie zu spät. Aber die Realität gibt uns die Aufgabe vor, und das heißt, die bedrückende Teilung zu mildern.Unsere Politik — ich hoffe, die gemeinsame Politik aller Parteien — will Wunden schließen, die Wunden der Trennung. Der Preis, den wir für menschliche Erleichterungen zahlen, ist kein Beitrag zur Stabilisierung der DDR, und schon gar kein Beitrag zur Stabilisierung der SED. Wir zahlen ihn gewissermaßen als Liebhaberpreis für die Einheit der Nation.
Wir wissen, Deutschlandpolitik ist eingebettet in die West-Ost-Beziehungen. Im Bewußtsein dieses Rahmens kann es für uns keinen Alleingang oder einen deutsch-deutschen Sonderweg geben. Ziel unserer Deutschlandpolitik muß bleiben, eine europäische Friedensordnung zu gestalten, in der das deutsche Volk seine Einheit und Freiheit in voller Übereinstimmung mit seinen Nachbarn in West und Ost vollenden kann.Mit unseren amerikanischen Freunden teilen wir die feste Überzeugung, daß die Verwirklichung der Menschenrechte und die Überwindung der unnatürlichen Teilung Deutschlands und Europas in einem engen Zusammenhang stehen.Wir schulden dem Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten Dank für seine Resolution vom 17. November 1987, mit der es gegenüber der Führung der DDR entschlossen für eine Aufhebung des Schießbefehls und die Beseitigung der Berliner Mauer eingetreten ist.
Das Repräsentantenhaus hat hiermit einen wichtigen Anstoß für eine Verbesserung der Menschenrechtslage der Deutschen in der DDR und für weitere Fortschritte im KSZE-Prozeß gegeben.Meine Damen und Herren, ob und in welchem Umfang die neue Politik Gorbatschows sowie die positiven Schritte der beiden Großmächte im Abrüstungsbereich tatsächlich neue Perspektiven in der Deutschlandpolitik eröffnen, bleibt abzuwarten. Die Chancen — wenn sie sich ergeben — sind von uns zu nutzen, aber ich warne vor Illusionen.Nach Auffassung des ersten stellvertretenden Leiters der internationalen Abteilung des Zentralkomitees der sowjetischen Kommunisten, des Herrn Sagladin, untergräbt die westliche Gesellschaftsordnung die Grundfesten der normalen Existenz der Menschheit. Darin liege die Bestätigung dafür, daß diese Gesellschaft die historische Rechtfertigung ihrer Existenz beinahe schon erschöpft habe. So Ende Oktober im Organ der Sozialistischen Einheitspartei „Die Wahrheit". Solche unheilschwangeren Orakel passen eigentlich so gar nicht zu den Schalmeienklängen von Glasnost und Perestroika, die ja nach ihrer Ankündigung nicht nur innen-, sondern auch außenpolitisch gedacht sind. Sie stehen allerdings in bedenklichem Einklang mit den Ausführungen Kurt Hagers im „Neuen Deutschland" etwa zur gleichen Zeit.Dennoch sollten wir uns durch solche Töne nicht daran hindern lassen, die Politik des neuen Denkens auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu testen; aber wir dürfen auch nicht blauäugig darüber hinwegsehen, daß das von Gorbatschow verkündete Aktionsprogramm natürlich in erster Linie ein groß angelegter Versuch ist, durch eine Effizienzsteigerung der sowjetischen Wirtschaft das kommunistische System lebensfähig zu machen und das Monopol der Partei über das Leben in der Sowjetunion unverrückbar zu erhalten.
Meine Damen und Herren, weniger Wodka und mehr Technologie ist noch nicht die Gleichung für Demokratie,
und diejenigen, die plötzlich krampfhaft nach vermeintlichen Gemeinsamkeiten suchen, sollten dies nicht übersehen. Die Sowjetunion könnte ja gerade in Berlin beweisen, daß ihr an wirklicher Entspannung gelegen ist. Statt dessen streut sie mit Querschüssen gegen die Beteiligung Berliner Abgeordneter am Besuch des Auswärtigen Ausschusses in Moskau Sand in das Getriebe unserer Beziehungen. Sowjetunion und DDR müssen wissen, daß es keine Entspannungspolitik um Berlin herum geben wird, und die DDR kann ihre Bereitschaft zu einem neuen Herangehen an die West-Ost-Beziehungen glaubwürdig untermauern, wenn sie die Altlasten beseitigen würde.Ich habe immer wieder deutlich gemacht, daß die Absenkung des Mindestumtauschs und die Einbezie-
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Hoppehung Berlins in die erweiterte Besuchsregelung gerade für Berlin eine essentielle humanitäre und soziale Frage ist.
Immer noch wartet der jetzige Bundestagspräsident Dr. Jenninger auf die Verwirklichung der ihm noch als Staatsminister im Kanzleramt gegebenen Zusage, auch die Berliner in die erweiterte Besuchsregelung einzubeziehen.
Meine Damen und Herren, der Antrag der SPD zur Zukunft Berlins zwischen Ost und West kommt deshalb, wie mir scheint, gerade im richtigen Zeitpunkt. Wenn auch einige der dort aufgezeigten Ziele zunächst noch illusionär erscheinen mögen, so knüpft er mit anderen doch an sehr konkrete Vorhaben unserer Politik an, bei denen wir wieder zur Gemeinsamkeit in der Deutschlandpolitik zurückfinden könnten.
Die Erhaltung des Konsenses zwischen den Parteien ist gerade in Berlin-Fragen ein vitales Element unserer Außen- und Deutschlandpolitik, und Chancen für Gemeinsamkeit gibt es für die Pläne zur Verbesserung der Verkehrswege nach Berlin; denn im innerdeutschen Ausschuß ist damals ein weitgehend übereinstimmender Beschluß gefaßt worden, der jetzt auch seinen Niederschlag in Kommuniqué des Honecker-Besuchs gefunden hat. Und ebenso zeichnet sich zum Antrag „Gemischte Wirtschaftskommission" im innerdeutschen Ausschuß Übereinstimmung darüber ab, daß diese Kommission, wenn es sie dann geben soll, auch in Berlin tagen muß und die Rolle Berlins durch die Einrichtung nicht geschmälert werden darf.
Überhaupt sollten wir das bevorstehende neue Jahr dazu nutzen, darüber nachzudenken, wie wir wieder zu mehr Gemeinsamkeit zurückfinden können, wie sie in der gemeinsamen Entschließung von CDU/ CSU, SPD und FDP vom Februar 1984 Ausdruck gefunden hat. Die Aussichten dafür sind ja dann wohl auch gar nicht so schlecht, insbesondere dann nicht, wenn die SPD es wagen würde, ein wenig Rückbesinnung zu betreiben.Meine Damen und Herren, wir brauchen miteinander ein operatives Konzept unserer Deutschlandpolitik. Operatives Konzept bedeutet, daß wir eigene konkrete Vorstellungen für unsere mittelfristige Politik entwickeln. Selbst agieren statt reagieren, nicht allen Anstößen der DDR sofort nacheilen, sondern eigene Anstöße geben, das muß die Losung unserer Politik sein.Denn wenn wir nicht in der Lage sind, uns aus unserer politischen Defensivhaltung zu lösen, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn eines Tages das Wort des angesehenen früheren Regierungssprechers von Hase auch auf uns Anwendung findet:Schlimm, wenn gute Politik schlecht verkauft wird, aber gefährlich, wenn schlechte Politik gut verkauft wird.
Das Wort hat der Abgeordnete Sielaff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Hennig, warten Sie erst ab. Sie haben die Möglichkeit, darauf zu antworten. In der Deutschland- und Vertriebenenpolitik wird nämlich das Janusgesicht dieser Bundesregierung besonders deutlich und sichtbar.
Leider — so muß ich sagen — ist das so, Herr Hoppe. Denn wir stimmen mit dem, was Sie hier über die Einbindung Berlins in der Deutschlandpolitik gesagt haben, voll überein. Außenpolitisch werden mit Recht Elemente der Entspannungspolitik und vertrauensbildende Maßnahmen aufgenommen. Aber in der Innen-und Deutschlandpolitik werden dagegen alte Feindbilder und friedenstörende Klischees gepflegt und zur Beruhigung von Vertriebenenfunktionären verkündet. Der Etat und die Mittelverteilung für die Vertriebenenarbeit machen das deutlich.Die Erhöhung der Mittel für die Eingliederung von Um- und Aussiedlern ist zu begrüßen, wenn sie benötigt und eingesetzt würden, weil z. B. die Deutschen, die heute aus Ost- und Südosteuropa zu uns kommen, mehr und intensivere Sprachförderungen benötigen. Hier klagen Kirchen und Wohlfahrtsverbände, daß die Mittel nicht ausreichen und wichtige Integrationsarbeit nicht mehr in vollem Maße geleistet werden kann oder gar aufgegeben wird, und das, obwohl die Mittel Jahr für Jahr erhöht werden. Allerdings partizipieren nicht die kirchlichen Organisationen oder die Wohlfahrtsverbände daran, sondern die Vertriebenenorganisationen ganz allein. Hier sind es insbesondere die Verbände, die nicht auf der Grundlage der abgeschlossenen Ostverträge ihre Arbeit betreiben, sondern immer wieder die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 fordern.
— Herr Hennig, lesen Sie Ihre eigenen Reden durch und das, was in Ihren Verbänden fast tagtäglich verkündet wird.Offensichtlich soll die realistische Außenpolitik in der Deutschland- und Ostpolitik innenpolitisch kaschiert und überdeckt werden,
sozusagen — Herr Werner — Beruhigungspillen für Vertriebenenfunktionäre, die inzwischen zahnlos geworden sind,
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2800 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Sielaffgroß reden, aber nicht mehr beißen können, wobei sie von der Bundesregierung auf Grund ihres Gebells überschätzt werden. Das ist die Situation.
Beim Innenminister und auch bei der Ministerin für innerdeutsche Beziehungen und ihren Staatssekretären steht hinter dieser Politik im Gegensatz zum Außenministerium offensichtlich auch eine eigene Ideologie, eine Ideologie, die noch immer von einem blinden Antikommunismus geprägt wird.
Die Vertriebenenpolitik der Bundesregierung, Herr Staatssekretär, ist im Grunde die Fortsetzung des Historikerstreits mit anderen Mitteln. Da schreibt Frau Wilms zur deutschlandpolitischen Bildungsarbeit — auch ich möchte wie Frau Hensel aus dem Deutschland-Archiv, Nr. 9/87, zitieren — :Das tatsächliche neue Deutschland, die Bundesrepublik Deutschland, hat sich in der Annahme der ganzen deutschen Geschichte, in der Distanzierung von der Nazi-Diktatur und in der Auseinandersetzung mit dem totalitären Kommunismus geformt und seine Identität gefunden.
Hier wird behauptet, daß sich die Bundesrepublik Deutschland seit Bestehen klar und eindeutig von der Nazidiktatur distanziert habe.
— Vorsicht!
Gab es wirklich keine ungebrochene Weiterbeschäftigung von Befürwortern der Rassengesetze im Kanzleramt?
Ist vergessen, Herr Hennig, daß es ein Marinerichter des Dritten Reiches zum Ministerpräsidenten eines Bundeslandes bringen konnte und daß ein jahrelanger Beisitzer am Sondergericht des Naziregimes in unserer Republik Bundesminister der Vertriebenen werden konnte?
War das, Frau Ministerin, etwa die Distanzierung von der Nazidiktatur, so frage ich. Wird nicht wieder Feindbilderziehung, wie Sie es eben gerade tun, betrieben und ein falsches Geschichtsbild vermittelt, wenn allein die Bundesrepublik Deutschland als daswahre Deutschland dargestellt wird? Ist die DDR denn das unwahre Deutschland?
Welche Wurzeln hat danach die DDR, meine Damen und Herren, in der deutschen Geschichte, und worin besteht dann eigentlich das Gemeinsame der beiden deutschen Staaten?
Das Feindbildklischee führt doch geradezu zur Aufgabe der Gemeinsamkeiten in der Geschichte und in der Kultur.
— Ich weiß, daß das für Sie vielleicht ein bißchen zu differenziert ist. So differenziert denkt man in der Union offensichtlich nicht.Ich zitiere:Nach außen hin Frieden zu fordern, nach innen Feindbilder zu predigen und die Menschen zum Haß zu erziehen, fördert nicht gerade ihre Glaubwürdigkeit.
— „Luftblasen"? Warten Sie darauf, wer das gesagt hat: Ihre Ministerin.Ich zitiere weiter:Nur wer selbst friedfertig ist, kann glaubhaft zur Gestaltung des Friedens beitragen, denn der Frieden beginnt zu Hause.
Dem ist zuzustimmen. — Fangen wir in unserem eigenen Haus damit an, statt daß wir neue Feindbilder aufbauen
oder alte, Herr Sauer, wiederbeleben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Hitler nutzte die Uneinsichtigkeit der Tschechengeschickt aus, um die Sudetenkrise anzuheizen.dann unterstellt er wohl damit, daß die Tschechen selbst an Hitlers Einmarsch schuld sind. Dies, meine Damen und Herren, ist geschichtlich falsch und entspricht wohl auch in keiner Weise dem Geist der Entspannungs- und Versöhnungspolitik, sondern erweckt erneut Befürchtungen in Ost- und Südosteuropa.Herr Lorenz, Sie haben die alten Klamotten vorhin ja wieder gebracht, indem Sie gesagt haben, die CDU sei für die Einheit und die SPD nicht. Das ist eine alte Strategie der Unionsparteien: emphatisch für Wiedervereinigung reden, aber immer eine Politik betreiben, die nicht zur Wiedervereinigung führen kann, son-
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Sielaffdern sie blockiert und die Einheit der Nation in der Praxis immer mehr in Frage stellt.
Wer die Entspannungspolitik fortsetzen will und im Frieden die oberste Priorität sieht, muß die gegenwärtigen unterschiedlichen Systeme akzeptieren und darf nicht die Friedensfähigkeit von vornherein in Frage stellen, wie Sie es ständig tun.Das gemeinsame Papier von SPD und SED zum Streit der Ideologien kann Grundlage solch einer offenen Diskussion sein.
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen sind für Hilfen zur Integration von Deutschen aus Ost- und Südosteuropa. Wir sind auch für die Pflege ostdeutscher Kultur und für die Erinnerung an die Heimat, z. B. im heutigen Polen, in Rumänien, in der Tschechoslowakei. Das wird auch von den Verantwortlichen der genannten Länder akzeptiert.
Aber die Bundesregierung sät doch Mißtrauen und Unverständnis, ja Ängste, wenn sie insbesondere die Verbände finanziell und ideell unterstützt, die die heutigen Grenzen in Frage stellen.
Müssen unsere friedlichen Absichten und die vertrauensbildenden Maßnahmen nicht ins Zwielicht geraten, wenn wir den sogenannten Sudetendeutschen Rat immer noch mit öffentlichen Geldern, insbesondere Bundesmitteln, massiv unterstützen
und wenn wir nicht bereit sind, das Relikt der Patenschaften von bundesdeutschen Regionen und Kommunen mit ehemaligen deutschen Gebieten, teilweise mit tschechischen Gemeinden, deren Zugehörigkeit zu Deutschland mehr als umstritten ist, neu zu überdenken?
Der Sudetendeutsche Rat hat ja die Aufgabe, bis zur Rückkehr ins Sudetenland die Interessen aller Sudeten wahrzunehmen. Wäre es nicht viel wichtiger, mitzuhelfen, daß deutsche Kultur dort, wo sie entstand, intensiv gefördert wird und daß die Kontaktmöglichkeiten zu Kulturverbänden, zu Verlagen, zu Journalistinnen und Journalisten deutscher Sprache in Ost- und Südosteuropa verändert und verbessert werden und auf der Grundlage der gegenseitigen Nichtinfragestellung intensiv genutzt werden und daß diese Arbeit nicht allein der DDR überlassen wird?Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.
Die Doppelgesichtigkeit in der Politik dieser Bundesregierung wird deutlich, wenn die Verbände, die die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937 fordern, ständig steigende Mittel aus dem Bundeshaushalt erhalten,
aber diejenigen, die auf der Grundlage der Entspannungspolitik und der abgeschlossenen Ostverträge arbeiten, vom innerdeutschen Ministerium Mittelkürzungen und eben keine institutionelle Förderung erfahren.
Das ist eine verfehlte Politik.Ich meine, die Bundesregierung wird Gelegenheit haben, über diese Punkte nachzudenken. Vielleicht nutzt sie diese Gelegenheit, über die Pflege ostdeutscher Kultur neu nachzudenken, um Klarheit und Eindeutigkeit auch in dieses Feld ihrer Politik zu bringen. Es ist an der Zeit, die Förderung der Vertriebenenarbeit grundlegend — ich betone: grundlegend — zu überdenken.
Das Wort hat die Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einzelplan 27 steht zwar am Ende eines langen Debattentages, aber ich hoffe nicht, daß das sozusagen den Rangwert dieses Themas berührt. Ich denke, wir sind uns alle darüber einig — und ich hoffe, daß diese Einigkeit wenigstens noch besteht —, daß die Deutschlandpolitik einen hohen Rang hat. Die Bundesregierung hat seit 1982 außerordentlich aktiv und positiv Deutschlandpolitik gestaltet und auch viele Erfolge erzielt, die gerade von den Damen und Herren Kollegen der Opposition nicht erwartet worden sind.
Wir haben auch im Gegensatz zu den Behauptungen, die ich da eben natürlich alle mitbekommen habe — denn ich habe ja eifrig mitgeschrieben, was Sie da erzählt haben —,
eine klare deutschlandpolitische Konzeption, die beispielsweise in der Rede von Bundeskanzler Kohl am
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2802 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987
Bundesminister Frau Dr. WilmsAbend des Honecker-Besuches in herausragender Weise dargestellt wurde.
Wir stellen fest, daß sich die Menschen in den beiden Teilen Deutschlands wieder nähergekommen sind. Die Zahl der Besuchsreisen ist gestiegen; 5 Millionen werden es in diesem Jahr sein. Jüngere Menschen kommen; über eine Million werden es sein. Ich denke, daß sich die Solidität und die Verläßlichkeit unserer Deutschlandpolitik positiv für die Menschen auswirkt.Die Zustimmung der Menschen auch bei uns zu unserer Deutschlandpolitik steigt, und zwar gerade deshalb, weil wir im Gegensatz zu den Sozialdemokraten — von den GRÜNEN will ich in diesem Zusammenhang gar nicht reden —
klar zu unserer verfassungsmäßigen Wert- und Grundordnung stehen. Dazu gehört beispielsweise, daß wir zur Präambel des Grundgesetzes stehen.
Wir sind auf das Grundgesetz verpflichtet. Das Bundesverfassungsgericht hat noch einmal klargestellt, worum es geht: daß wir auf die Einheit der Nation, auf die Einheit der Deutschen verpflichtet sind.Wir verwischen keine Wertordnungen, wie man das jetzt gelegentlich in politischen Diskussionen hört, sondern wir versuchen, in praktischen Bereichen der Politik für die Menschen etwas zu erreichen. Die Durchsetzung der Menschenrechte, allüberall meine Damen und Herren Kollegen, gehört zu den Eckpunkten unserer Politik.
Dies kommt auch im Haushaltsansatz zum Ausdruck.
Der Haushalt des BMB — nun hören Sie, meine Kollegen von der SPD, einmal ganz gut zu! — wurde von 439 Millonen DM im Jahre 1982 auf 1,1 Milliarden DM für 1988 erhöht. Diese Zahlen muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Es lohnt.
Diese Steigerung, die auch mit Preisstabilität einhergeht, was Sie in Ihren Jahren auch nie erreicht haben, drückt den Willen der Bundesregierung aus, eben auch 1988 deutliche Schwerpunkte zu setzen.Ich darf Ihnen nur einige Themen nennen. Ich will hier nicht die ganze Palette ausbreiten. Wir wünschen weiter eine Stärkung des innerdeutschen Reiseverkehrs. Dies ist für uns ein zentraler Punkt. Wir wünschen die Begegnungen, die Hilfsmaßnahmen über die innerdeutschen Grenzen hinweg, die Fortführung der besonderen humanitären Bemühungen, insbesondere auch die Familienzusammenführungen. Ich denke, daß in diesem Zusammenhang die per 1. September 1987 vorgenommene Erhöhung des Begrüßungsgeldes auf 100 DM pro Jahr eine wirkliche Hilfe war, die für die Menschen zu Buche schlägt.Meine Herren Kollegen von der SPD, ich darf auch zu Ihrer — Herr Sielaff war es, glaube ich, der dies ansprach — , Kenntnisnahme mitteilen, daß bisher kein Hilfsantrag von karitativen Organisationen abgelehnt wurde, soweit er sich auf Landsleute in der DDR bezog. Ich lege Wert auf diese Feststellung. Hier steht die Bundesregierung zu ihrem Wort.
Wir werden auch bemüht sein, die deutschlandpolitische Forschung ein Stück weiter voranzutreiben. Wir werden Grundlagen auch für Materialien zur Lage der Nation erarbeiten, damit wir fundiertes Material haben,
um Deutschlandpolitik gestalten zu können. Ich bin froh, Herr Kollege Hoppe, daß auch Sie von der Notwendigkeit der Gestaltung der Politik gesprochen haben.Natürlich — das wird die Kollegen von der Opposition vielleicht wieder nicht so freuen — werden wir auch die Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit — gerade bei der jungen Generation — verstärken.
Wir werden es nicht versäumen, der jungen Generation auch die Positionen des Grundgesetzes,
wie sie in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts niedergelegt sind, mitzugeben.
Die Erlebnisgeneration — wir — stirbt aus. Aber wir werden diese Position an die junge Generation weitergeben. Dies gehört zu unserer Verpflichtung.
Wir werden auch die Menschen aus anderen Ländern, die bei uns auf Dauer oder vorübergehend leben, mit unseren Problemen vertraut machen, damit sie ihre Kenntnisse dann auch mit in ihre Heimatländer nehmen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch sagen, daß wir das Zonenrandgebiet keineswegs aus dem Auge verloren haben,
daß wir bemüht sind — Sie werden die Ergebnisseschon sehen — , das Zonenrandgebiet und seine Förderung auch weiterhin in den Mittelpunkt unserer
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Bundesminister Frau Dr. WilmsArbeit zu stellen. Als SPD wäre ich an diesem Punkt überhaupt ganz still,
denn 1982 haben wir hier einen Titelansatz von 100 Millionen DM vorgefunden. Heute stehen wir bei einem Titelansatz von 128 Millionen DM.
Also ich würde ganz schweigen.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch ein Wort zu Berlin sagen. Ich möchte gerne das unterstreichen, was Kollegen eben schon gesagt haben, vor allen Dingen Sie, Herr Kollege Hoppe: Keine deutschlandpolitische und keine innerdeutsche Vereinbarung kann und darf um Berlin herum entwickelt werden.
Im Gegenteil, wir müssen uns darum bemühen, die ökonomischen, die sozialen und die kulturellen Bindungen Berlins an die Bundesrepublik, auch im Verkehrsbereich, weiter zu vertiefen. Die Bundesregierung wird hier das ihr notwendig Erscheinende tun.
Ich begrüße es übrigens sehr, wenn ein gemeinsamer Antrag des Ausschusses über die gemischte Wirtschaftskommission zustande käme, denn ich halte es für dringend notwendig, daß bei der Einrichtung solcher neuen Kommissionen und Gruppen hier in vernünftiger Weise auf die Belange von Berlin Rücksicht genommen wird.
Ich würde es sehr begrüßen, wenn das Parlament hier die Haltung der Bundesregierung unterstützte.Meine Damen und Herren, vielleicht darf ich noch etwas erwähnen, was immer wieder untergeht, was aber mit großer Systematik auch von den einzelnen Referaten und Abteilungen des Hauses gepflegt wird, nämlich den engen Kontakt mit unseren Bundesländern und die konkreten Verhandlungen und Expertengespräche über Umweltschutz, Rechtshilfe, Gesundheitswesen, Wirtschaft, Kultur und Verkehr. Vieles wird hier im Stillen getan, über das man nicht reden kann und vielleicht auch nicht reden sollte. Aber bei einer Haushaltsdebatte darf das hier auch einmal erwähnt werden.
Insgesamt gehe ich davon aus, daß der Haushalt 1988 und die Finanzplanung für die kommenden Jahre gute Voraussetzungen bieten, um die Entwicklung weiter voranzutreiben und vor allen Dingen für die Menschen in beiden Teilen Deutschlands noch mehr an Hilfe und an Zusammensein zu ermöglichen.Ich möchte mir am Schluß der Beratungen zur zweiten Lesung erlauben, allen Kolleginnen und Kollegen im Haushaltsausschuß, aber selbstverständlich auch im innerdeutschen Ausschuß meinen herzlichen Dank zu sagen. Ich bedanke mich bei den Herren Berichterstattern, die uns mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Jede Anregung, auch jede kritische Anregung ist willkommen. Ich bitte um weitere gute Zusammenarbeit auch in der kommenden Zeit.Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über Einzelplan 27. Wer dem Einzelplan 27 — Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen — in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? —Enthaltungen? — Der Einzelplan ist mit Mehrheit angenommen.
Wir sind nun am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Meine Damen und Herren, ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 25. November 1987, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.