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ID1104100200

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    Plenarprotokoll 11/41 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 41. Sitzung Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 Inhalt: Tagesordnungspunkt I: Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1988 (Haushaltsgesetz 1988) (Drucksachen 11/700, 11/969) Einzelplan 01 Bundespräsident und Bundespräsidialamt (Drucksachen 11/1051, 11/1081) 2689B Einzelplan 02 Deutscher Bundestag (Drucksachen 11/1052, 11/1081) 2689B Einzelplan 03 Bundesrat (Drucksachen 11/1053, 11/1081) 2689 C Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes (Drucksachen 11/1054, 11/1081) Dr. Vogel SPD 2689 D Seiters CDU/CSU 2699 C Frau Rust GRÜNE 2709B Dr. Bangemann FDP 2712D Dr. Kohl, Bundeskanzler 2720 B Koschnick SPD 2729 D Austermann CDU/CSU 2732 D Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD 2735 B Dr. Stoltenberg, Bundesminister BMF . 2739 C Frau Simonis SPD 2741B Vizepräsident Westphal 2740 D Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts (Drucksachen 11/1055, 11/1081) Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 2742 B Dr. Rose CDU/CSU 2745 A Voigt (Frankfurt) SPD 2747 B Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 2750 D Stobbe SPD 2753 D Genscher, Bundesminister AA 2756 C Rühe CDU/CSU 2760 D Einzelplan 14 Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung (Drucksachen 11/1064, 11/1081) in Verbindung mit Einzelplan 35 Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte (Drucksache 11/1076) Walther SPD 2764B, 2774A, 2781C Dr. Friedmann CDU/CSU 2766 D Frau Schilling GRÜNE 2768 D Frau Seiler-Albring FDP 2771B II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 Dr. Wörner, Bundesminister BMVg . . 2774B Jungmann SPD 2778 D Müller (Wadern) CDU/CSU 2780 D Frau Beer GRÜNE 2381 D Einzelplan 23 Geschäftsbereich des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Drucksachen 11/1069, 11/1081) Esters SPD 2783 B Borchert CDU/CSU 2785 B Volmer GRÜNE 2786 D Frau Folz-Steinacker FDP 2789 A Klein, Bundesminister BMZ 2790 A Einzelplan 27 Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen (Drucksachen 11/1071 11/1081) Hiller (Lübeck) SPD 2791 D Dr. h. c. Lorenz CDU/CSU 2793 B Frau Hensel GRÜNE 2796 B Hoppe FDP 2798 B Sielaff SPD 2799 C Frau Dr. Wilms, Bundesminister BMB . 2801D Nächste Sitzung 2803 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 2804* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 41. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 24. November 1987 41. Sitzung Bonn, den 24. November 1987 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Frau Dr. Adam-Schwaetzer 24. 11. Dr. Ahrens * 27. 11. Antretter * 24. 11. Frau Beck-Oberdorf 27. 11. Böhm (Melsungen) * 27. 11. Büchner (Speyer) * 27. 11. Bühler (Bruchsal) * 26. 11. Dr. Dollinger 27. 11. Duve 27. 11. Ehrbar 27. 11. Frau Fuchs (Verl) 27. 11. Dr. Geißler 27. 11. Dr. Haack 27. 11. Haar 24. 11. Frau Dr. Hartenstein 26. 11. Frau Dr. Hellwig 27. 11. Heyenn 27. 11. Höffkes 24. 11. Hörster 26. 11. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Ibrügger 24. 11. Kiechle 25. 11. Klose 27. 11. Kreuzeder 27. 11. Frau Luuk * 27. 11. Mischnick 24. 11. Dr. Möller 27. 11. Dr. Müller * 27. 11. Dr. Neuling 24. 11. Oesinghaus 24. 11. Paintner 27. 11. Paterna 24. 11. Petersen 27. 11. Reddemann * 26. 11. Reimann 24. 11. Schäfer (Mainz) 26. 11. Schmidbauer 26. 11. von Schmude 24. 11. Dr. Schöfberger 24. 11. Dr. Waigel 27. 11. Graf von Waldburg-Zeil 27. 11. Wieczorek (Duisburg) 27. 11. Wischnewski 27. 11. Würtz 27. 11. Zierer * 26. 11.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die politischen Auseinandersetzungen in diesem Haus werden von unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in der Regel in vorgestanzten Formeln und Schablonen wahrgenommen. Für die Debatte über den Haushalt des Bundeskanz-



    Dr. Vogel
    leramtes bietet sich dabei zumeist die Formel von der Generalabrechnung an, die da zwischen der Bundesregierung und der Opposition, zwischen Ihnen und uns, stattfindet.
    Die Kieler Ereignisse haben viele nachdenklich gemacht. Vielen erschien plötzlich schal und leer, was zur Routine geworden war. Und viele erkannten, daß zur Verdrossenheit der Bürger schon lange vor diesen Ereignissen, vor diesen beschämenden Enthüllungen über Machtbesessenheit, Mißbrauch und Menschenverachtung auch die Art und Weise beigetragen hat, in der wir hier miteinander umgehen, in der wir uns nicht nur Fehler und mangelnde Fähigkeiten, nicht nur Schwäche und mangelnde Einsicht, sondern bösen Willen und schädliche Neigungen vorwerfen. Ich meine, es ist Zeit, das nicht nur zu erkennen und zu beklagen. Es ist auch an der Zeit, daraus Folgerungen zu ziehen.
    Deshalb sage ich: Ich will hier nicht abrechnen. Ich will auch niemanden entlarven, fertigmachen oder bis aufs Messer bekämpfen. Ich will mich aber auch nicht im einzelnen mit den Mängeln und Risiken eines Haushalts auseinandersetzen, von dem auch konservative Kommentatoren sagen, er sei in ein Korsett gezwängt, das schon jetzt aus allen Nähten platze. Das wird im weiteren Verlauf der Aussprache geschehen. Ich will mich vielmehr mit den Ereignissen beschäftigen, die unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger derzeit bewegen, die sie mit Hoffnung und Sorge erfüllen. Und ich will versuchen, auf all das unsere Antwort zu geben, unsere Antwort im Vergleich zu der Ihren. Auf diese Weise wird deutlich werden, wo wir uns unterscheiden. Und die Menschen werden sich dann ihre Meinung bilden und ihre Entscheidung treffen können. Nur darin — so glauben wir — kann der Sinn einer Generalaussprache am Beginn der zweiten und dritten Lesung des Haushalts sinnvollerweise bestehen.
    Ich meine, es sind gegenwärtig vor allem vier Ereignisse, die unser Volk beschäftigen, nämlich: das bevorstehende Gipfeltreffen zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow in Washington, auf dem das Abkommen über den Abbau und die Verschrottung der Mittelstreckenraketen unterzeichnet werden soll; der Zusammenbruch der Kurse an den internationalen Börsen und der Dollarsturz; der Mord an den beiden Polizeibeamten in Frankfurt am Main und die Vorgänge in Hamburg; und schließlich die Geschehnisse in Kiel.
    Jedes dieser Ereignisse betrifft ein wichtiges Feld der Politik: das Gipfeltreffen die Friedenssicherung, der Börsenkrach die Wirtschafts- und Finanzpolitik und damit vor allem die Massenarbeitslosigkeit, der Polizistenmord und die Hamburger Vorgänge die innere Sicherheit und Liberalität und Kiel die Frage der Vertrauenswürdigkeit der politischen Parteien und ihrer Repräsentanten. Hinzu kommen die Sorge um die soziale Sicherheit und um die Erhaltung unserer natürlichen Umwelt, zwei Gebiete, die ganz unabhängig von aktuellen Ereignissen unsere besondere Aufmerksamkeit erfordern.
    Das Gipfeltreffen ist für uns ein Zeichen der Vernunft und ein Zeichen der Hoffnung.

    (Beifall bei der SPD und der FDP sowie des Abg. Rühe [CDU/CSU])

    Sein Zustandekommen und das bevorstehende Zustandekommen des INF-Vertrags zeigen, daß sich die Friedenssehnsucht der Völker Gehör verschaffen, daß der Wahnwitz des Rüstungswettlaufs durchbrochen, daß den angeblichen Sachzwängen der Gehorsam aufgekündigt werden kann. Wir danken denen, die dazu beigetragen haben,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Dem Bundeskanzler!)

    die, aus welchen Gründen auch immer, der Sache des Friedens vorangeholfen haben.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP)

    Dieser Dank gilt den Männern, die an der Spitze der beiden Supermächte Verantwortung tragen. Er gilt den politischen Kräften, die in beiden Bündnissen — ich sage ausdrücklich: in beiden Bündnissen — den Friedensprozeß gefördert haben.

    (Zuruf von der CDU/CSU)

    Und er gilt nicht zuletzt der Friedensbewegung, die bei uns und weltweit

    (Rühe [CDU/CSU]: Unglaublich!) das Bewußtsein geschärft und verändert hat


    (Weiterer Zuruf des Abg. Rühe [CDU/ CSU])

    und durch deren Anstöße die Sicherheitspolitik und die Fragen der Rüstung und der militärischen Strategien so sehr demokratisiert worden sind, daß es auf diesem Feld keine einsamen Entscheidungen mehr geben wird.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Aber dabei wollen wir nicht stehenbleiben. Wir wollen, daß der Prozeß der Abrüstung, der weltweiten Verständigung und der Zusammenarbeit weitergeht, daß die europäische Friedensordnung Wirklichkeit wird.
    Das sind die wichtigsten Schritte, die nach unserer Auffassung jetzt getan werden müssen:
    Erstens: Die drastische Reduzierung der strategischen Atomwaffen, das dauernde Verbot von Rüstungsmaßnahmen im Weltall und die endgültige Beendigung aller Atomversuche.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Zweitens der Abbau der Nuklearsysteme kurzer Reichweiten und der Abbau konventioneller Ungleichgewichte. Wir brauchen einen Umbau der konventionellen Streitkräfte, der auf möglichst niedrigem Niveau ihre Verteidigungsbereitschaft erhält, sie aber beiderseits endgültig zum Angriff unfähig macht.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Drittens. Auf dem Wege dorthin kann die Schaffung eines atomwaffenfreien Korridors, der frei ist von



    Dr. Vogel
    Atomwaffen und von schwerem konventionellen Gerät, ein Zwischenschritt sein.
    Viertens. Die weltweite Beseitigung chemischer Waffen oder, wenn das — wie in den vergangenen beiden Jahrzehnten — nicht erreichbar ist, sich weiter hinausschiebt, eine chemiewaffenfreie Zone in Europa als ein erster Schritt in diese Richtung.

    (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und bei Abgeordneten der FDP)

    Das alles muß im Bündnis und unter Wahrung der Bündnisloyalitäten, und zwar auf beiden Seiten, vorangebracht werden. Das alles, was wir hier fordern und befürworten, entspricht übrigens auch der wirtschaftlichen Vernunft. Eine Minderung der Rüstungsausgaben der beiden Bündnisse auch nur um 10 % im Jahr würde Mittel frei werden lassen, mit denen die Budgetdefizite beseitigt, Millionen von Arbeitsplätzen geschaffen und der Hunger in der Welt zurückgedrängt, ja zu einem Gutteil überwunden werden könnten.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Denn der Satz ist doch wahrer denn je: Rüstung tötet nicht erst, wenn die Waffen angewendet werden, sie tötet schon jetzt diejenigen, die mit den Mitteln gerettet werden könnten, die die Rüstung Jahr für Jahr im Übermaß verschlingt.
    Die Bundesrepublik ist keine Großmacht und schon gar keine Weltmacht. Die Bundesrepublik aber ist stark genug, Zeichen zu setzen und Dinge in Bewegung zu halten, indem sie beispielsweise jede neue Nachrüstung, auch im Kurzstreckenbereich, kategorisch ablehnt

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    oder indem sie den Helsinki-Prozeß vorantreibt, indem sie eigene Vorschläge entwickelt etwa im Rahmen des Helsinki-Prozesses für die Schaffung eines europäischen Rates für Vertrauensbildung, für eine chemiewaffenfreie Zone, für einen atomwaffenfreien Korridor oder für die Reduzierung der Panzerverbände, ein Vorschlag, der inzwischen ja auch von anderer Seite aufgegriffen worden ist.
    Herr Bundeskanzler, Herr Außenminister, drängen Sie in Ihren Reihen diejenigen zurück, die das nicht wollen, die schon der doppelten Null-Lösung ein Hindernis nach dem anderen in den Weg gelegt haben, die davon reden, daß das Mittelstreckenraketenabkommen unsere Sicherheit verringere, und die deshalb sogar von neuen Kurzstreckenraketen, also von einer Nachrüstung träumen. Wenn Ihnen das gelingt, dann sind auf diesem wichtigen Gebiet sogar gemeinsame Anstrengungen möglich. Das läge im Interesse unseres Volkes.

    (Beifall bei der SPD)

    Außerdem: Die finanziellen Realitäten — das ist Ihnen in der vorletzten Woche auf der Hardthöhe ja sehr deutlich geworden — werden den Verteidigungshaushalt und damit die Sicherheitspolitik selbst dann in diese Richtung zwingen, wenn Sie sich noch eine Zeitlang sträuben. Die Stunde der Wahrheit hat auf diesem Gebiet ja bereits begonnen.
    Weiteres muß hinzukommen: Der Abbau von Feindbildern, die mit der Realität nicht mehr übereinstimmen und nur noch innenpolitische Zwecke erfüllen; eine verstärkte Zusammenarbeit über die Grenzen der Gesellschaftsordnungen hinweg, die alle künstlichen Trennungen und die Mauern der Grenzen ebenso wie die Mauern der Vorurteile überwindet und so den Wettbewerb der Systeme zum Wohle der Menschen möglich macht. Das im Dialog mit Gesellschaftswissenschaftlern der SED erarbeitete Papier weist dafür einen schwierigen, aber gangbaren Weg, einen Weg, der schon jetzt gerade auch in der DDR selber zu Diskussionen geführt hat, die noch vor kurzem für ganz undenkbar gehalten worden wären.

    (Beifall bei der SPD)

    Weiter gehört dazu die kluge, nüchterne Förderung der Gorbatschowschen Reformpolitik, aber auch die Einigung Europas und zu ihrer Beschleunigung die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen Paris und Bonn, und zwar in sinnvoller Weise auch auf dem Felde der Sicherheitspolitik.
    Hier, in der Einigung Europas, liegt für uns Sozialdemokraten — ich hoffe, nicht nur für uns — ein Kernpunkt. Europa hat nach unserer Auffassung mehr denn je eine weltumspannende Aufgabe. Es kann auf die weltpolitische Entwicklung ausgleichend und mäßigend einwirken. Es kann helfen, Hunger und Elend in der Welt zu überwinden. Es kann Konfrontationen mildern und Zusammenarbeit voranbringen. Um diese Aufgabe zu bewältigen, muß Europa nicht zur Supermacht werden. Es muß nur sein wirtschaftliches Gewicht, seine geistigen Traditionen und seine geschichtlichen Erfahrungen einbringen, Erfahrungen, die es im Laufe von mehr als 2 000 Jahren auch aus Fehlern und aus blutigen Tragödien gewonnen hat. Es muß sich so organisieren, daß alle diese Faktoren tatsächlich zum Tragen kommen.
    Hinzu kommen muß noch vieles andere, auch eine klare Haltung der Bundesrepublik in zentralen NordSüd-Problemen, etwa in der Frage der Apartheid. Es nutzt wenig, Herr Bundeskanzler, wenn Sie bei einer Afrikareise die Apartheid kritisieren — was wir begrüßen — , gleichzeitig aber die Bundesrepublik bei einer Abstimmung der Vereinten Nationen in derselben Woche, in der Ihre Reise stattfand, zu den drei Nationen gehört, die anders als alle übrigen, als 128 andere Nationen, gegen konkrete Schritte zur Überwindung der Apartheid gestimmt haben.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Wer kann, Herr Bundeskanzler, bei solchen Widersprüchlichkeiten Ihren Beteuerungen, die wir gerne gehört haben, Glauben schenken?
    Ist der Gipfel ein Anlaß zur Hoffnung, so sind die Kurszusammenbrüche der letzten Wochen und der Absturz des Dollars Anlaß zu ernster Sorge. Gewiß, es dient niemandem, die Lage zu dramatisieren. Aber es ist genauso verfehlt, die Lage zu beschönigen und beschwichtigende Behauptungen aufzustellen, die jeweils nach 24 Stunden durch die tatsächliche Entwicklung wieder überholt sind. Ich meine, am besten sollten all die, die uns über Jahre hin mit dem Brustton der Überzeugung versichert haben, das, was jetzt seit



    Dr. Vogel
    Wochen passiert, werde niemals passieren, überhaupt erst einmal eine Zeitlang schweigen und uns mit weiteren Erklärungen verschonen. Die Anhänger Ihrer Politik, der Angebotspolitik und des Monetarismus, sollten einräumen, daß diese Politik gescheitert ist.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich greife ein Zitat von Professor Wolfram Engels auf, Herausgeber der „Wirtschaftswoche", der weiß Gott eher in Ihrem, als in unserem Lager steht: In Wahrheit, sagt dieser Mann, tickt hier eine Zeitbombe, deren Explosion nicht weniger schlimme Folgen auslösen würde als die Ereignisse des Jahres 1929, deren Entschärfung — das ist der Unterschied zu 1929 — nach unserem heutigen Kenntnisstand und mit den heutigen Instrumenten aber möglich sei.
    Abgesehen davon, daß ein System, bei dem jeweils innerhalb von Stunden Summen verloren oder gewonnen werden, die größer sind als das Jahreseinkommen ganzer Völker, ein System, bei dem allein die Kursverluste an den amerikanischen Börsen im Monat Oktober höher waren als das gesamte Volkseinkommen von 416 Millionen Lateinamerikanern im Jahr 1986, abgesehen davon, daß ein solches System Fragen nach seinem Sinn und seiner Rechtfertigung aufwirft, zeigen die Vorgänge und der Kursverfall des Dollars jedenfalls, daß die Fundamente der Weltwirtschaft in hohem Maße krisenanfällig und instabil sind.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Sie hätten es lieber wie in Rumänien, nehme ich an!)

    Das sind die Hauptursachen der Instabilität:
    Erstens das gigantische Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit der Vereinigten Staaten, zu dem — es ist ein Gebot der Wahrheit, das auszusprechen — insbesondere die übersteigerten Rüstungsprogramme der Vereinigten Staaten wesentlich beigetragen haben.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Zweitens die hohen Leistungsbilanzüberschüsse Japans und der Bundesrepublik, die zu einem hohen Anteil als Kredite in die USA anstatt in arbeitsplatzfördernde Investitionen im Inland fließen. Wir als Bundesrepublik belasten die Weltwirtschaft, weil Sie sich weigern, im Inland mehr von unserem Leistungsbilanzüberschuß für die Beschäftigung einzusetzen und mehr für die Beschäftigung zu tun.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Drittens die Überschuldung der Dritten Welt — —

    (Unruhe auf der Regierungsbank)

    — Warum sind Sie heute morgen denn so unruhig, Herr Bundeskanzler? Hören Sie doch mal in Ruhe zu!

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU)

    Wir sind hier nicht in Afrika, wir sind hier im Deutschen Bundestag, Herr Bundeskanzler.

    (Beifall bei der SPD — Oh-Rufe bei der CDU/ CSU — Dr. Rose [CDU/CSU]: Wollen Sie damit Afrika beleidigen?)

    — Wenn ich Ihren Bundeskanzler erwähne, beleidige ich nicht Afrika. Das ist Ihre Vorstellung, mein Lieber.

    (Unruhe bei der CDU/CSU)

    — Ich freue mich, daß jetzt alle wach geworden sind.

    (Bohl [CDU/CSU]: Jetzt sind wir wirklich wach!)

    Drittens die Überschuldung der Dritten Welt, deren erdrosselnde Wirkung durch den Dollarverfall gegenüber den Währungen der wichtigsten Kreditgeberländer noch gesteigert wird. Ich glaube nicht, daß das Anlaß zur Heiterkeit geben kann, wenn wir sehen,

    (Kolb [CDU/CSU]: Wenn Sie von Dingen reden, die Sie nicht kennen!)

    wie die Entwicklungsländer durch den Dollarverfall noch tiefer in wirtschaftliches Elend geraten.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Viertens die latenten und teilweise inzwischen auch offenen Handelskonflikte zwischen den USA, Japan und dem EG-Raum. Eine weitere Ankündigung von Maßnahmen im Rahmen dieser Handelskonflikte haben wir heute morgen aus Amerika gehört.
    Fünftens die Tatsache, daß Geldströme in Höhe von Hunderten von Milliarden Dollar täglich ohne jede Kontrolle rund um den Globus zirkulieren und jede Verbindung mit Investitionen, mit Waren- oder Dienstleistungsbewegungen inzwischen verloren haben.
    Wir Sozialdemokraten halten es im Augenblick für weniger dringlich, der Frage nachzugehen, wem für diese Gegebenheiten welche Vorwürfe zu machen sind und wer die Lunte an dieses Pulverfaß gelegt hat, wenn wir auch den Ton, den der amerikanische Finanzminister als erster angeschlagen hat, für ganz unangemessen erachten. Uns geht es darum, wie die Zeitbombe entschärft, wie schlimmerer Schaden verhindert werden kann. Nach unserer Ansicht bedarf es dazu im internationalen Bereich des raschen, allerdings nicht ruckartigen Abbaus der amerikanischen Defizite. Die Einigung zwischen dem Weißen Haus und dem Kongreß, deren exakter Inhalt allerdings heute von uns noch nicht zuverlässig zu beurteilen ist, könnte dazu einen ersten Schritt darstellen. Die ersten Reaktionen auf diesen Schritt sind aber so, daß man eher wieder zweifeln muß. Weiter bedarf es weltweit der Bereitstellung ausreichender Liquidität und der Entspannung des Zinsniveaus, und vor allem bedarf es einer intensiven Zusammenarbeit der großen Industrienationen, die sich rasch auf ein neues Weltwirtschaftskonzept einigen müssen. Nicht der Austausch von Vorwürfen und von Schimpfereien über den Atlantik und unter den Sieben, sondern das rasche Zusammentreten der Verantwortlichen zu einer internationalen Weltwirtschaftskonferenz ist das Gebot der Stunde.

    (Beifall bei der SPD)

    Zu den internationalen Schritten gehören für uns insbesondere auch Fortschritte auf dem Weg zur Europäischen Währungsunion, etwa die Schaffung eines



    Dr. Vogel
    europäischen Reservesystems nach dem Muster des Federal Reserve System der Vereinigten Staaten. Vieles wäre leichter, wenn wir wenigstens eine europäische Zweitwährung hätten. Die Bundesbank muß sich ernsthaft fragen lassen, ob sie ihren hinhaltenden Widerstand auf Grund der Erfahrungen der letzten Wochen in diesem Punkt nicht endlich aufgeben will.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Im nationalen Bereich müssen wir uns immer wieder deutlich vor Augen führen, daß wir nach fünf Jahren eines weltwirtschaftlichen Aufschwungs, nach einem Zeitraum, in dem das Jahresbruttosozialprodukt um 350 Milliarden DM gestiegen ist, 370 000 Arbeitslose mehr haben als 1982 auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftsrezession und, so füge ich hinzu, mehr Arbeitslose als am Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 im ganzen Deutschen Reich, nämlich 2,1 Millionen im Vergleich zu damals 1,6 Millionen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Dieser Vergleich ist unzulässig!)

    Ich will heute nicht mit Ihnen darüber rechten, warum entgegen all Ihren Versprechen und Ankündigungen die Zahl der Arbeitslosen unter Ihrer Verantwortung gestiegen und nicht gesunken ist. Ich erinnere nur ganz beiläufig daran, von welchem hohem Roß herab Sie jahrelang unsere Warnungen mißachtet und unsere Vorschläge zur Überwindung der Arbeitslosigkeit abqualifiziert und verworfen haben.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Mit Recht!)

    Wichtig ist uns, daß jetzt alles geschieht, damit wir gegensteuern, damit wir die Zeitbombe auch mit nationalen Mitteln entschärfen. Denn jeder kann sich doch ausmalen, wie sich die Arbeitslosigkeit entwikkeln würde, wenn wir in eine neue Rezession mit einem Sockel an Arbeitslosigkeit eintreten, der nicht nur höher liegt als 1982, sondern auch deutlich höher als 1929. Um das zu vermeiden, um endlich die Zahl der Arbeitslosen zu verringern, ja, um ihr weiteres Ansteigen, das schon angekündigt ist, zu verhindern, sind folgende Maßnahmen notwendig.
    Erstens eine weitere Senkung der Zinsen. Die Gefahr droht gegenwärtig nicht von der Geldmenge, die Gefahr droht vom Erlahmen der Investitionen und vom Erlahmen der Nachfrage.
    Zweitens zusätzliche Investitionen, und zwar zusätzliche private ebenso wie zusätzliche öffentliche Investitionen und Investitionen zum Schutz der bedrohten und zur Wiederherstellung der schon zerstörten Umwelt, etwa nach unserem Programm „Arbeit und Umwelt", das bereits vor Jahren vorgeschlagen worden ist. Inzwischen wird das ja auch aus Ihren Reihen gefordert. Herr Franke, Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, fordert beispielsweise zusätzliche Investitionen im Bereich der Stadt- und Dorfsanierung und im Umweltschutz. Hier — so sagt er wörtlich — ließen sich zehn Jahre lang 10 Milliarden DM pro Jahr ökonomisch und ökologisch sinnvoll einsetzen. — Das ist doch genau das, was wir schon seit Jahr und Tag sagen.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Herzlich willkommen, Herr Franke und Ihre Sozialausschüsse, meine Damen und Herren von der Union, haben vor kurzem in Hamburg wörtlich folgendes beschlossen: „Der Staat" — man höre und staune: der Staat — „muß sinnvolle Arbeit zusätzlich organisieren, wenn das vom Markt nicht zu erwarten ist." — Sehr wahr! Eine bessere Bestätigung hätten wir Sozialdemokraten uns kaum wünschen können.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir dürfen durchaus daran erinnern, daß die auch durch das Zukunftsinvestitionsprogramm, ZIP, und die anderen Programme in der zweiten Hälfte der 70er Jahre ausgelösten Beschäftigungseffekte fast viermal so hoch waren wie die von Ihnen in der Periode des Aufschwungs erreichten Beschäftigungseffekte. Denn das, meine Damen und Herren, ist die schlichte Wahrheit: Während in der zweiten Hälfte der 70er Jahre die Beschäftigtenzahl um knapp 1 Million stieg, waren es in der Aufschwungphase seit 1982 nur 260 000 Beschäftigte mehr als am Beginn dieses Abschnitts. Wir haben heute immer noch 310 000 Beschäftigte weniger als 1980.
    Ebenso muß daran erinnert werden, daß alle Investitionsquoten, alle, die der öffentlichen Hand wie die privaten, die des Bundes wie die der Länder und der Gemeinden, seit Beginn Ihrer Regierungszeit rapide gesunken sind — ich wiederhole: sowohl die privaten wie die öffentlichen Investitionen. Der Anteil der Investitionen am Bruttosozialprodukt insgesamt hat inzwischen mit etwas weniger als 20 % den niedrigsten Stand seit 1955 erreicht, der der Investitionen im Bundeshaushalt den niedrigsten seit Gründung der Bundesrepublik, und der Investitionsstand der Gemeinden ist jetzt etwa wieder auf dem der 50er Jahre. In dem Absinken aller Investitionen liegt eine der wesentlichen Ursachen für die Massenarbeitslosigkeit.

    (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Drittens. Schließlich bedarf es einer grundlegenden Korrektur der Steuerpläne. Die Finanzkraft — und das heißt, die Investitionskraft der öffentlichen Hände — darf gerade jetzt nicht noch weiter geschwächt werden. Steuersenkungen dürfen nur denen zugute kommen, die die Entlastungen nicht über die Banken wieder in Finanzvermögen in den USA anlegen, sondern nachfragesteigernd bei uns ausgeben, und das sind eben nicht die Spitzenverdiener, sondern die Bezieher der kleinen und mittleren Einkommen.
    Das heißt: Ziehen Sie Ihre bisherigen Steuerpläne zurück. Senken Sie statt dessen die Steuerlast für kleine und mittlere Einkommen durch eine nachhaltige Erhöhung des Grundfreibetrages, und verzichten Sie vor allem auf die sogenannten Deckungsmaßnahmen, die die Arbeitnehmer und ihre Familien belasten und mit denen Sie dann die Entlastung der Spitzeneinkommen finanzieren.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei den GRÜNEN)

    Das wäre nicht nur gerecht, es wäre auch beschäftigungsfreundlich.

    (Zuruf des Abg. Dr. Bötsch [CDU/CSU])




    Dr. Vogel
    — Nehmen Sie den Herrn nicht ernster, als es unbedingt sein muß.

    (Dr. Rose [CDU/CSU]: Der hat da rübergeschaut!)

    Er hat auch einen ziemlich hohen Blutdruck, und wir müssen auch ein bißchen für seine Gesundheit Sorge tragen.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Da sind Sie aber sehr im Irrtum! 110 : 70!)

    — Ja, das ist immer am Anfang des Tages. Wenn Sie sich hier aber so aufregen, sind die Werte viel höher. Seien Sie vorsichtig, Herr Bötsch.

    (Rühe [CDU/CSU]: Ärztliche Schweigepflicht, Herr Dr. Vogel! — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU] : „Dr. med. Vogel" ! )

    — Wenn Sie sich über den Blutdruck des Herrn verständigt haben, können wir ja weitermachen.
    Es ist doch nicht so, daß es uns für eine solche Politik an Arbeit oder an den Mitteln fehlen würde. Es fehlt weder an der Arbeit noch an den Mitteln. Das Bruttosozialprodukt — ich sagte es schon — hat seit 1982 um 350 Milliarden DM zugenommen. Der Leistungsbilanzüberschuß betrug 1986 mehr als 80 Milliarden DM, die Sparkapitalbildung in unserem Volk fast 150 Milliarden DM und der Kapitalabfluß ins Ausland fast 70 Milliarden DM.
    Ich wiederhole es: Es geht darum, diese Mittel im Inland wirksam werden zu lassen, zum Schutz der Umwelt. Die Umwelt schreit doch geradezu nach Investitionen. Die Kohle-, Stahl- und Werftenregionen, die schwierige Strukturveränderungen zu bewältigen haben, schreien doch ebenso nach Investitionsmitteln. Dorthin müssen doch diese Gelder fließen.

    (Beifall bei der SPD)

    Oder auch nach Berlin. Für Berlin, meine Damen und Herren, wollen Sie die Investitionsförderungsmittel um fast 1 Milliarde DM kürzen.
    In diesem Zusammenhang ist angesichts der gegenwärtigen Konstellation aus niedriger Endnachfrage, hoher Sparquote, wachsender Arbeitslosigkeit und akutem Rezessionsrisiko auch eine vorübergehende Erhöhung der Kreditaufnahme durch den Bund vertretbar, wenn sie zur Verstärkung der Investitionen oder zur Steigerung der Binnennachfrage eingesetzt wird.
    Es besteht also international und national dringender Handlungsbedarf. Sie, Herr Bundeskanzler, sind dabei selbst gefordert. Gute Ratschläge, die sich die Herren Bangemann und Stoltenberg gegenseitig brieflich geben, genügen zur Überwindung dieser Situation nicht.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD)

    Ihr Appell an die Gewerkschaften, Herr Stoltenberg, die Gewerkschaften sollten höhere Löhne fordern, ist ja wohl auch eher ein Zeichen, daß Sie mit Ihrem Latein am Ende sind.

    (Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU]: Die indirekten Kosten sind zu hoch!)

    Vielleicht, Herr Stoltenberg, hat Herr Edzard Reuter
    auch daran und an Sie gedacht, als er vor wenigen
    Tagen von einem — wörtliches Zitat — „katastrophalen Mangel an weltwirtschaftlicher Führungskompetenz " sprach.

    (Kolb [CDU/CSU]: Der soll sich in seinem eigenen Haus umgucken!)

    — Ich will niemanden von diesem Urteil ausschließen.
    Die Ermordung der beiden Polizeibeamten am Rande des Frankfurter Flughafens ist ein weiteres Ereignis, das unser Volk aufgewühlt hat und es auch jetzt, drei Wochen später, unverändert mit großer Sorge erfüllt. Es geht dabei um die elementare Frage, ob Menschen im allgemeinen und diejenigen Menschen, die im Dienste unseres Staates die Rechtsgüter und die Bürgerfreiheiten zu schützen haben, also die Polizeibeamten, im besonderen in unserer Mitte ihres Lebens sicher sind oder ob sie um ihr Leben fürchten müssen.
    Es geht um die ebenso elementare Frage, ob das Gewaltmonopol des Staates gewahrt bleibt, ob Meinungsverschiedenheiten in unserer Gemeinschaft auch in Zukunft gewaltfrei ausgetragen werden und ob das Demonstrationsrecht seinen verfassungsmäßigen Rang behält. Für uns und die erdrückende Mehrheit unseres Volkes gibt es nicht die geringsten Zweifel daran, wie diese Fragen zu beantworten sind.
    In der Tat, die Demonstrationsfreiheit, die Gewaltlosigkeit des Meinungskampfes und das an die Regeln und Kontrollen des Grundgesetzes gebundene Gewaltmonopol des Staates sind zentrale Errungenschaften unserer Rechtsordnung und unserer Rechtskultur. Wir haben sie wie unseren Augapfel zu hüten.
    Ebenso lehnt die erdrückende Mehrheit unseres Volkes zu Recht jede Vermummung ab. Wer seine Meinung äußert, soll auch sein Gesicht zeigen; das ist allgemeine Meinung in unserem Volke, jedenfalls unsere.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Gestritten wird ja — von einigen Außenseitern abgesehen — auch nicht darüber; gestritten wird vielmehr darüber, was konkret geschehen soll, um das zu gewährleisten. Die einen — wir haben sie gerade gehört — sagen lautstark, dazu bedürfe es jetzt vor allem der Änderung von Gesetzen; mehr Verhaltensweisen als bisher müßten mit Strafe bedroht werden. Sie reden dabei vor allem von der Vermummung und tun so, als ob sie nicht jetzt schon verboten wäre. Diejenigen, die das fordern, erwecken zugleich den Eindruck, als ob die Frankfurter Beamten noch am Leben wären und andere nicht verletzt worden wären, wenn dieser Forderung schon entsprochen worden wäre.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Billig!) Das ist nicht redlich.


    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Bohl [CDU/CSU]: Sie sind nicht redlich!)

    Alle nur denkbaren Arten von Gewaltanwendung sind schon jetzt mit Strafe bedroht. Wer bei Demonstrationen Gewalt anwendet, wer bei gewalttätigen Demonstrationen vermummt auftritt, wer mit Steinen



    Dr. Vogel
    oder Molotowcocktails geworfen hat, wer mit Stahlkugeln auf Polizisten geschossen hat, der ist doch nicht deshalb in vielen — ich sage: in zu vielen — Fällen straffrei geblieben, weil es an Paragraphen gefehlt hätte, sondern deshalb, weil er nicht ergriffen, weil er nicht festgenommen und nicht zur Verantwortung gezogen worden ist; das ist doch die Lage.

    (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE] — Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

    Die Ausdehnung der Strafbarkeit auf Tausende, ja, wenn man an große Demonstrationen und Ihre Forderung, den alten Landfriedensparagraphen wiederherzustellen, denkt, auf Zehntausende von Personen, von denen im besten Fall jeweils nur einige wenige mehr oder weniger zufällig zur Verantwortung gezogen werden können, würde daran doch überhaupt nichts ändern. Im Gegenteil: Rasch nach diesen Gesetzesänderungen würde sich bei der nächsten Demonstration herausstellen, daß diese Änderungen überhaupt nichts verändert und überhaupt nichts bewirkt haben.

    (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: So ist es!)

    Darum warnen ja gerade auch Polizeiexperten, warnt der Deutsche Richterbund, warnt die deutliche Mehrheit der Staatsanwälte, und zwar sogar aus CDU-regierten Ländern, vor solchen Änderungen. Mit Recht sagen diejenigen, die so warnen, die emotionalisierte und parteipolitisierte Diskussion über solche Änderungen lenke nur vom eigentlichen Kern der Sache ab.

    (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: So ist es!)

    Leider hat sich inzwischen auch die FDP in diese Diskussion hineinzerren lassen oder auch selbst verstrickt. Nicht alle — das anerkenne ich — , aber ein großer Teil sind offenbar jetzt geneigt, den Widerstand aufzugeben, den man um der Sache willen auch gegen Emotionen und Stimmungen leisten muß.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Hoss [GRÜNE])

    Um die Welle der Gewalt einzudämmen, ist jetzt vor allem dreierlei notwendig:
    Erstens. Es muß alles geschehen, damit diejenigen, die Gewalt anwenden, und vor allem die Angehörigen der militanten Gruppen, die von Ort zu Ort reisen, ermittelt, vor Gericht gestellt und verurteilt werden.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Nur auf diese Weise ist in den Jahren zwischen 1977 und 1982 dem Terrorismus Einhalt geboten worden. Seitdem hat es nicht an Gesetzen, sondern an Fahndungserfolgen und an Verhaftungen gefehlt.

    (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Zweitens. Die Sicherheitsorgane und die Polizei bedürfen aber auch des Vertrauens und des Rückhalts bei allen gesellschaftlichen Kräften und auch bei der Politik. Insbesondere darf die Gesellschaft, darf die Politik die Polizei nicht allein lassen, und erst recht darf sie der Polizei nicht die Bewältigung von Problemen aufbürden, zu deren Lösung die Politik selbst nicht willens oder nicht fähig gewesen ist.

    (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Das ist in der Vergangenheit mehr als einmal geschehen. Das beginnt schon, wenn dieser Gesichtspunkt bei politischen Entscheidungen überhaupt nicht in Betracht gezogen wird.
    Drittens. Es bedarf der eindeutigen Absage an die Gewalt, und zwar gerade durch die, die Strukturen unserer Gesellschaft verändern, die früher getroffene politische Entscheidungen korrigieren wollen. Der Satz des Herrn Bundespräsidenten, von dem auch in diesem Zusammenhang wichtige Orientierungen ausgehen, daß die menschliche Gesellschaft nicht mit unmenschlichen Mitteln herbeigeführt — ich füge hinzu: auch nicht mit solchen Mitteln verteidigt — werden darf, kann nicht oft genug wiederholt werden. Gleiches gilt für die Mahnungen im Brief der Brüder von Braunmühl an die Mörder ihres Bruders.
    Frau Kollegin Schoppe, deren Ansichten ich, wie jeder weiß, in vielen Punkten nicht teile, hat mit ihrer Rede in der Debatte gleich nach den Frankfurter Morden ein bemerkenswertes Beispiel dafür gegeben, wie dieser Gedanke auch denen nahegebracht werden kann, die erst durch die Morde zur Nachdenklichkeit gekommen sind.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Das ist ein Beispiel, das sich wohltuend von dem schlimmen Satz der Frau Ditfurth abhebt, sie lehne die Distanzierungsrituale der GRÜNEN von der Gewalt ab, da diese nur eine prima Methode seien, um vom allgegenwärtigen Staatsterrorismus abzulenken. Gerade in Anbetracht dieser ganz unannehmbaren Aussage, für Sozialdemokraten absolut unannehmbaren Aussage, danke ich Frau Schoppe für ihre Äußerung.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Ich kann nur hoffen, daß sich in den Reihen der GRÜNEN ihr Standpunkt durchsetzt.
    Ich bedaure allerdings, daß Frau Schoppe während ihrer Rede hier im Hause aus bestimmten Reihen dieses Hauses Feindseligkeit auch an dieser Stelle entgegenschlug.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Wer so reagiert — Sie tun es jetzt wieder — , möge bitte bedenken, daß die Spirale der Gewalt auch durch ein solches Verhalten eine neue Umdrehung erfahren kann.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Ebenso kann sich die Spirale der Gewalt dadurch weiterdrehen, daß Gewaltanwendung zwar verurteilt, aber zugleich als brauchbares Vehikel zur Förderung eigener politischer, parteipolitischer Interessen und zur Verteufelung abweichender Positionen benutzt wird.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Kolb [CDU/CSU]: Sie wollten doch friedlich sein! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU: Unverschämt! — Frechheit!)




    Dr. Vogel
    Manche Kolleginnen und Kollegen der FDP können von dieser Verteufelungsmethode auf Grund ihrer Erfahrungen in den letzten Wochen und Tagen ein spezielles Lied singen.
    In Hamburg ist dagegen ein ganz anderes Zeichen gesetzt worden: Dort hat die Politik gezeigt, daß sie willens ist und in der Lage sein kann, die Bewältigung kritischer Situationen nicht auf die Polizei zu überwälzen, sondern selbst in der Hand zu behalten.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Verträge statt Fahndung!)

    Dort hat sich gezeigt, daß ein Politiker bereit ist, frühere Irrtümer einzugestehen,

    (Rühe [CDU/CSU]: Opportunismus!)

    und daß er im entscheidenden Moment den Verbleib in seinem Amt und seine ganze Person in die Waagschale wirft, um das, was er für geboten hält, auch gegen Emotionen und Stimmungen zu verwirklichen. All das hat Herr von Dohnanyi als Bürgermeister von Hamburg getan. Dafür verdient er unseren Dank und unsere Anerkennung.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Ich meine, er verdient nicht nur unseren Respekt, sondern auch den Respekt derer, die in der Sache selbst anderer Meinung waren oder noch sind.
    Natürlich wäre auch ein massiver Polizeieinsatz Rechtens und — ich füge hinzu — ohne das Einlenken der Bewohner der Hafenstraße wohl auch unvermeidlich gewesen. Aber die Entscheidung des Herrn von Dohnanyi, die sich streng am Prinzip der Verhältnismäßigkeit orientiert hat, war genauso Rechtens. Sie hat die Stadt der dauerhaften Wiederherstellung des Rechtsfriedens ohne einen massiven Einsatz staatlicher Mittel ein Stück nähergebracht.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das Wort „dauerhaft" bleibt Ihnen noch im Hals stecken!)

    — Herr Bötsch, sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, daß Sie mit Ihrem Zwischenruf den schlimmen Eindruck hervorrufen, Sie wünschten vielleicht sogar, daß es dort nicht zur Befriedigung kommt?

    (Lebhafter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Ich sage nicht, daß der Rechtsfrieden bereits dauerhaft wiederhergestellt ist. Ich sage: Herr von Dohnanyi hat die Stadt der dauerhaften Wiederherstellung des Rechtsfriedens ohne einen massiven Einsatz staatlicher Machtmittel ein Stück nähergebracht, ohne einen massiven Einsatz, der erhebliche, im einzelnen gar nicht abzuschätzende Gefahren für Leib und Leben auch auf seiten der Sicherheitsorgane mit sich gebracht hätte und zum Ausgangspunkt einer langanhaltenden Konfrontation mit nicht unwesentlichen Teilen der jungen Generation und Ausgangspunkt für falsche Solidarisierungen hätte werden können.
    So betrachtet hat nach meinem Urteil der Bürgermeister für die Eindämmung der Gewalt, für den Frieden in unserer Gesellschaft mehr getan, als es zehn
    Polizeieinsätze oder gar die Scheinaktivität nutzloser Gesetzesänderungen ermöglichen würden.

    (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Schon die Frankfurter Morde und die Militanz einer Gruppe reisender Gewalttäter berühren die innere Verfassung und die politische Kultur unserer Gesellschaft und beeinträchtigen sie und das Vertrauen in unser Gemeinwesen. In noch höherem und nachhaltigerem Maße gilt beides aber für die Vorgänge, die sich seit Beginn dieses Jahres in Kiel zugetragen haben, Vorgänge, die man bis dahin in der Bundesrepublik so nicht für möglich gehalten hätte. Dabei rede ich nicht von den Sachverhalten, die noch strittig sind und deren abschließende Bewertung nach den Regeln des Rechtsstaates dem Untersuchungsausschuß des Schleswig-Holsteinischen Landtags, den schleswigholsteinischen Justizbehörden und den Genfer Justizbehörden vorbehalten bleiben muß. Ich beschränke mich vielmehr auf das, was unstreitig und unzweifelhaft feststeht.

    (Bohl [CDU/CSU]: Jansen und Nilius!)

    Fest steht zunächt einmal, daß ein Ministerpräsident einen sogenannten Medienexperten in seiner Staatskanzlei mit den Bezügen eines Oberregierungsrats für die Dauer eines Jahres eingestellt hat, damit er dort nicht etwa staatliche Aufgaben wahrnimmt, sondern damit er auf Kosten der Steuerzahler den Wahlkampf seiner Partei fördert und unterstützt. Schon das allein ist in Anbetracht der klaren Regeln, die das Bundesverfassungsgericht schon im März 1977 in einem Urteil aufgestellt hat, eine eindeutige Verletzung der Verfassung.
    Fast steht weiter, daß der Betreffende unter Mißachtung wesentlicher Verfahrensgrundsätze in den öffentlichen Dienst übernommen und während seiner Zugehörigkeit zum öffentlichen Dienst auch noch erhebliche Zahlungen von dritter Seite erhalten hat. Fest steht, daß er der Dienstaufsicht von zwei CDUStaatssekretären unterstanden hat. Fest steht, daß er seine Aktivitäten nicht etwa vom dritten Ort, sondern aus der Staatskanzlei, aus seinem Dienstzimmer entfaltet hat, das ganze 30 m vom Dienstzimmer des Ministerpräsidenten entfernt war.

    (Kolb [CDU/CSU]: Und wie war das in Düsseldorf?)

    Der Machtmißbrauch, die elementare Mißachtung der Spielregeln, die Gleichsetzung von Staats- und Parteiinteresse, die Hybris, die Verblendung, von denen ja auch bei Ihnen gesprochen worden ist, ergeben sich bereits aus diesem Sachverhalt und nicht erst aus den unsäglichen Machenschaften im einzelnen oder aus der etwaigen Verstrickung des ehemaligen Ministerpräsidenten in diese Machenschaften. Die Linie dessen, was nicht geht, ist schon viel früher überschritten worden.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Hoss [GRÜNE])

    Auch diese Machenschaften sind inzwischen bis ins Detail bekannt: die anonyme Denunziation angeblicher Steuerhinterziehung, die Bespitzelung durch Detektive und schließlich der infame Versuch, den Her-



    Dr. Vogel
    ausforderer des Ministerpräsidenten durch psychischen Terror eines anonymen Telefonanrufs aus dem Rennen zu werfen.
    Diese Vorgänge haben nicht nur der CDU Abbruch getan und deren Glaubwürdigkeit erschüttert, sie haben vielmehr die Parteien und das demokratische System insgesamt in Mitleidenschaft gezogen, nicht so sehr deshalb, weil es in Randfragen auch auf unserer Seite Fehler gegeben hat, die besser vermieden worden wären, sondern weil von bestimmter Seite planmäßig der Eindruck gefördert wurde, alle Parteien würden im gegebenen Fall ähnlich handeln, wie es hier von Ihrer Seite geschehen ist.
    Dem kann nur begegnet werden, wenn ein solches Fehlverhalten auch Folgen hat, wenn eine Partei, deren Repräsentanten derartige Verstöße gegen die demokratischen und parlamentarischen Grundregeln zu verantworten haben, für geraume Zeit die Regierung verläßt und die Chance erhält, sich in der Opposition zu regenerieren.

    (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Denn das ist wohl wahr: Skandale gibt es auch in anders verfaßten Staaten, etwa in Diktaturen. Ich sage für unsere Bürgerinnen und Bürger: Es gibt dort schlimmere Skandale. An Beispielen fehlt es nicht. Die Demokratie wird auch nicht durch Skandale als solche dauernd beschädigt, so abstoßend sie auch sein mögen. Sie wird aber dauerhaft beschädigt, wenn Skandale vertuscht werden oder wenn sie ohne Folgen bleiben, wenn die Herrschenden so tun, als ob gar nichts geschehen wäre, oder wenn sie das alles auch noch für mehr oder weniger alltäglich erklären.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie, Herr Bundeskanzler, haben sich bisher im Deutschen Bundestag zu den Vorgängen noch nicht geäußert. Es wäre gut, wenn Sie es heute täten.
    Für uns Sozialdemokraten füge ich hinzu: Wir erheben uns nicht über andere.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Nein, nein!)

    Wir wissen, daß auch wir Versuchungen ausgesetzt sind. Wir wissen, daß wir uns selbst immer wieder zu prüfen haben

    (Bohl [CDU/CSU]: Zum Beispiel Herr Nilius!)

    und daß auch wir uns der Kritik stellen müssen. Aber wir haben uns stets zu den berühmten Sätzen von Kurt Schumacher bekannt, die Herbert Wehner auch vom Pult des Deutschen Bundestags aus so oft zitiert hat und die so lauten:
    Die Demokratie beruht auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und der Ehrlichkeit. Die Demokratie kann nur leben, wenn die Menschen selbständig sind und den Willen zur Objektivität haben. Aber die technokratische und geradezu kriegswissenschaftliche Handhabung der politischen Mittel führt zum Gegenteil.
    Diese Sätze haben für uns unverändert Gültigkeit. Wir sollten sie über die Parteigrenzen hinweg als allgemeine Maxime akzeptieren.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD sowie Beifall der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Auf anderen Feldern der Politik sind die Probleme nicht in der gleichen Weise durch bestimmte Ereignisse so eindringlich ins Bewußtsein gehoben worden wie auf den Gebieten, die ich soeben behandelt habe. Sie sind deswegen aber nicht weniger dringlich. Das gilt beispielsweise für die Reform und die Stabilisierung zweier zentraler Systeme der sozialen Sicherheit, die für Millionen von Menschen von ganz entscheidender Bedeutung sind, nämlich die Alterssicherung und die Strukturreform im Gesundheitswesen. Für beide Bereiche sind jetzt konkrete politische Entscheidungen überfällig.
    Bei der Alterssicherung, meine Damen und Herren, halten wir Sozialdemokraten eine interfraktionelle Verständigung für wünschenswert, aber auch für möglich. Allerdings genügt es jetzt nicht, nur die Liquidität der Rentenversicherung auf mittlere Frist zu gewährleisten. Wir brauchen vielmehr eine umfassende Erneuerung der Alterssicherungssysteme. Es liegt jetzt vor allem an Ihnen, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, zunächst einmal darüber Klarheit zu schaffen, welche Bundeszuschüsse langfristig zur Verfügung gestellt werden.
    Daß Ihre Steuerpläne die finanziellen Spielräume des Bundes auch in dieser Hinsicht gefährlich verengen, haben Sie allerdings vorläufig allein zu verantworten, und das ist Ihnen ja wohl auch bewußt.
    Im Gesundheitswesen sind die Aufwendungen der gesetzlichen Krankenkassen seit 1982, also seit Sie die Regierungsverantwortung übernommen haben, von 97 auf 120 Milliarden DM im Jahr 1986 geradezu explodiert, und sie steigen weiter. Die Krankenversicherungsbeiträge haben infolgedessen mit durchschnittlich 12,7 % — die ersten Beitragserhöhungen bewirken jetzt schon eine Belastung von über 14 %; 14,8 %, wie ich gehört habe; einzelne Beiträge sind sogar noch höher — den höchsten Stand seit der Gründung der Bundesrepublik erreicht.
    Ihre Abhilfevorschläge, meine Damen und Herren, kommen spät und sind überdies nach allem, was wir hören, in der Bundesregierung und in der Koalition noch nicht abgestimmt. Die bislang bekanntgewordenen Absichten der Bundesregierung sind auf seiten der Versicherten mit Recht auf Ablehnung gestoßen. Sie laufen nämlich darauf hinaus, die Machtpositionen und die Gewinne auf der Anbieterseite, etwa die beispiellose Machtstellung der Pharmaindustrie, unangetastet zu lassen und die Kosten der Sanierung im wesentlichen den Versicherten aufzubürden.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Dem werden wir nicht zustimmen. Vielmehr werden wir, auch gestützt auf die Arbeiten der Enquete-Kommission zur Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung, Ihren Absichten unsere Gegenvorschläge entgegenstellen.
    Nicht weniger dringlich sind unverändert die Umweltprobleme und die Frage des Übergangs zu einer



    Dr. Vogel
    sicheren Energieversorgung ohne Atomkraft. Um hier jeden Zweifel auszuräumen: Wir bleiben bei unserem Nein zu einer Technologie, deren gefahrlose Beherrschbarkeit nur gewährleistet sehen kann, wer glaubt, daß Menschen unfehlbar seien.
    Mit vollem Ernst, Herr Bundeskanzler, füge ich hinzu: Sie sprechen in letzter Zeit so oft vom christlichen Menschenbild. Zum christlichen Menschenbild gehört die Erkenntnis, daß der Mensch Fehler macht, daß er nicht unfehlbar ist, und zwar auch dann nicht, wenn er Atomkraftwerke plant, baut und betreibt. Auch das folgt aus dem christlichen Menschenbild.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Bohl [CDU/CSU]: Ihre Rede ist auch nicht fehlerfrei!)

    Wir bleiben bei der Forderung, eine sichere Energieversorgung ohne Atomkraft möglich zu machen. Diese Forderung findet gerade in letzter Zeit zunehmende Unterstützung: in den Beschlüssen des Bundesausschusses des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des geschäftsführenden Hauptvorstands der ÖTV und des Bundeskongresses der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft.
    Aber auch international bewegen sich die Dinge, und zwar in derselben Richtung, wie zuletzt die Volksentscheide in Italien gezeigt haben.

    (Gerstein [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Das ist eine völlig falsche Interpretation!)

    Immerhin haben sich dort drei Viertel der Abstimmenden für Gesetzesänderungen ausgesprochen, die die Errichtung neuer Kernkraftwerke de facto unmöglich machen.
    Das Nein zu einer bestimmten Technologie verbinden wir mit einem Ja zu wirklichem, zu menschenfreundlichem technischen Fortschritt. Wir haben Vertrauen zu unseren Naturwissenschaftlern, zu unseren Ingenieuren und zu unseren Facharbeitern. Wir trauen ihnen zu, daß sie die gewaltigen Reserven der Energieeinsparung nutzen und alternative Arten der Energieerzeugung entwickeln können, wenn wir nur unsere nationalen Kräfte auf dieses Ziel konzentrieren. Wir weigern uns ein für allemal, zu akzeptieren, daß Wissenschaft und Technik zu solchen außerordentlichen Anstrengungen nur auf militärischem, nicht aber auf zivilem Gebiet in der Lage sein sollen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wir müssen in diesem Zusammenhang auch die Frage aufwerfen, welcher Anteil der öffentlichen Mittel vernünftigerweise für die Förderung alternativer Energien, etwa die Entwicklung der Solartechnik, und welcher für die Förderung der Raumfahrt aufgewendet werden soll. Die Aufteilung, die sich gegenwärtig für diese öffentlichen Mittel abzeichnet, kann nach unserer Meinung nicht das letzte Wort sein.
    Ihre Partei, Herr Bundeskanzler — damit greife ich vielfache Äußerungen aus Ihren eigenen Reihen auf — , befindet sich seit geraumer Zeit in einer Krise. Das ist von vielen Rednern — nicht von Ihnen, aber von Herrn Geißler und anderen — auf dem letzten
    Parteitag Ihrer Partei hier in Bonn eingeräumt worden. Ich spreche das an, weil die Krise der stärksten Regierungspartei auch auf die Bundespolitik und auf die Regierungsgeschäfte durchschlägt. Deshalb ist es durchaus legitim, hier und bei dieser Gelegenheit nach den Ursachen dieser Krise zu fragen. Der Vorsitzende der Jungen Union, Herr Böhr, jetzt gerade wiedergewählt, hat diese Frage unter anderem wie folgt beantwortet — wörtliches Zitat —
    In der CDU wird zuwenig diskutiert, zuwenig kontrovers diskutiert, zuwenig grundsätzlich diskutiert.
    Und Herr Böhr fuhr fort:
    Wo stehen wir
    — die Union —
    eigentlich in zentralen Fragen, wo steht die CDU in der Reform des sozialen Sicherungssystems, des Gesundheitswesens, wie steht sie zum Schutz des ungeborenen Lebens, zur Manipulierbarkeit menschlichen Lebens durch die Gentechnologie? Darüber
    — das sagt Herr Böhr, immerhin Sprecher der jungen Generation in Ihrer Partei —

    (Bohl [CDU/CSU]: Wie heißt denn Ihr JusoVorsitzender?)

    hat die Partei zuwenig diskutiert, darauf ist sie die Antwort schuldig geblieben. Der Fehler war, daß die CDU seit der Verabschiedung des Grundsatzprogramms im Jahr 1978 breit verankerte Diskussionen über Zukunftsperspektiven nicht mehr geführt hat.
    Herr Böhr muß ja wissen, wovon die Rede ist, und ich glaube, Herr Böhr hat recht.

    (Zuruf von der CDU/CSU)

    Die Union leidet vor allem darunter, daß von ihr kaum mehr Perspektiven und Orientierungen ausgehen, daß sie den großen gesellschaftlichen Veränderungen und den meisten Herausforderungen unserer Zeit
    — etwa auf dem Gebiet des Umgangs mit der Natur, der Frage nach der Zukunft der Arbeit, dem neuen Selbstverständnis der Frauen, der, wie es der Bundespräsident gesagt hat, auch systemöffnenden Zusammenarbeit mit den Staaten des Warschauer Paktes oder der Überwindung des Nord-Süd-Konflikts — nur noch mit einem stereotypen „Weiter so" begegnet. Hier liegen wohl auch die Wurzeln des sogenannten Richtungsstreits, der übrigens bisher nicht in Form breiter und offener Diskussion innerhalb der Partei, sondern im wesentlichen in Form polemischer Auseinandersetzungen zwischen Spitzenfunktionären geführt wird.
    Es mag parteipolitisch sein, daß wir Sozialdemokraten aus diesem Zustand Nutzen ziehen, und die Meinungsumfragen der letzten Zeit bestätigen das auch. Für unser Gemeinwesen hingegen ist dieser Zustand nachteilig. Er lähmt die Regierungstätigkeit gerade in einer Phase, in der kraftvolle, überzeugende und zukunftsweisende Antworten auf die Herausforderungen notwendiger sind denn je. Es wird Ihnen auch immer weniger gelingen, Herr Bundeskanzler, sich und Ihre Regierung von der Krise Ihrer Parteien abzu-



    Dr. Vogel
    koppeln. Deshalb fordern wir Ihre Parteien, aber auch die anderen Parteien zum Wettbewerb heraus.
    Wir haben mit unseren Nürnberger Beschlüssen die Diskussion zum Lernprozeß zu einem vorläufigen Abschluß gebracht. Sie liegt noch vor Ihnen; Sie haben damit überhaupt noch nicht begonnen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir arbeiten bereits an einem neuen Grundsatzprogramm. Wir haben unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger eingeladen, sich daran zu beteiligen. Wir Sozialdemokraten wissen: Sachverstand, Perspektiven über den Tag hinaus, Verantwortungsbewußtsein auch für das Leben kommender Generationen, gesellschaftliches Engagement und soziale Phantasie, das alles gibt es nicht nur innerhalb der Parteien, das gibt es in reichem Maße in allen Schichten und in vielen Institutionen unseres Volkes. Wir wären — das sage ich für alle Parteien — töricht, wenn wir uns das schöpferische Potential in unserer Gesellschaft nicht auch für diese Aufgabe zunutze machen würden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Den Wettbewerb, zu dem ich Sie auffordere, sind wir unserem Volk schuldig. Sie haben ihn bisher verweigert. Wenn sie ihn weiterhin verweigern, werden Sie die Regierungsmacht, die schon zu bröckeln begonnen hat, auch aus diesem Grunde verlieren.
    Auch das sieht Herr Böhr, der Sprecher der jungen Generation in Ihrer Partei, genauso, wenn er sagt: Die Regierungsfähigkeit der Union, also die Mehrheitsfähigkeit und damit der Machterhalt, ist gefährdet, wenn die Partei weiter den Fehler macht, in ihren programmatischen Aussagen auf der Stelle zu treten. Er sagt weiter: Ich glaube nicht, daß die Wähler in den nächsten Jahren die Union mit der notwendigen Mehrheit unterstützen werden, die auf Zukunftsprobleme in der Breite, wie sie sich darstellen, so wenig Antworten gibt. Er schließt mit den Worten: Die Regierungsfähigkeit ist eine Frage unserer Zukunftskompetenz. — So ist es, Herr Bundeskanzler!

    (Zustimmung der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])

    Es wird niemanden verwundern, wenn ich einen Schritt weiter gehe als der Sprecher der jungen Generation in Ihrer Partei und sage: Ihre Regierungsfähigkeit steht nicht nur deshalb in Frage, weil Sie die Zukunftskompetenz verlieren;

    (Zuruf von der SPD: Die hat er nie gehabt!)

    Sie verlieren auch zunehmend die Gegenwartskompetenz. Sie führen nicht, Herr Bundeskanzler, Sie verteidigen nur noch Machtpositionen, und deshalb lehnen wir Ihren Haushalt ab.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD — Zustimmung der Abg. Frau Unruh [GRÜNE])



Rede von Dr. Philipp Jenninger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seiters.

(Zuruf von der SPD: Der spricht für den Kanzler, was?)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Rudolf Seiters


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Fraktionsvorsitzende der SPD hat davon gesprochen, der Bürger müsse die Politik der Parteien voneinander unterscheiden und die Alternativen kennen. Das ist auch meine Meinung. Der Bürger soll gewichten, er soll vergleichen — in Kenntnis der Tatsachen und der wahren Sachverhalte. Aber ich muß feststellen, Herr Kollege Vogel: Von konkreten Alternativen habe ich jedenfalls heute morgen herzlich wenig gehört.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Bei Ihrer heutigen Rede ist mir aufgefallen, was Sie gesagt haben, aber auch was Sie bewußt weggelassen haben, weil Ihnen offensichtlich bestimmte Argumente fehlen oder ausgegangen sind. Ich sage: Wer den Zustand unseres Landes und die Arbeit dieser Regierung von vornherein so parteiisch und so einseitig, so verbissen und so griesgrämig betrachtet, der muß ein verzerrtes Bild von der Bundesrepulik Deutschland bekommen. Herr Vogel, dieses Bild findet in der Realität des politischen Lebens unseres Landes keinerlei Berechtigung und Bestätigung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Es zeigen sich Glaubwürdigkeit und Augenmaß manchmal auch an kleinen Beispielen, und eines will ich Ihnen nicht vorenthalten. Wir haben vor zwei Wochen unseren Bundesparteitag in Bonn gehabt. Dabei hat der Bundesfinanzminister, auf den die SPD sich ja seit Wochen glaubt einschießen zu müssen, von den sieben stellvertretenden Bundesvorsitzenden das beste Ergebnis erzielt, ein besseres Ergebnis noch als auf dem letzten Parteitag. Die „Frankfurter Rundschau" sprach von einem überragenden Stimmergebnis; die Überschrift bei der Deutschen Presseagentur lautete: Großer Vertrauensbeweis für Stoltenberg. Nur der Fraktionsvorsitzende der SPD, der Herr Vogel, konstatierte — wörtliches Zitat — : viele Gegenstimmen, viele Enthaltungen, sinkende Zustimmung zu Gerhard Stoltenberg.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    Herr Kollege Vogel, das ist ein, wie ich finde, typisches Beispiel. Es zeigt nämlich nicht nur — —

    (Dr. Vogel [SPD]: Das Zitat ist unvollständig, wie Sie wissen! Gemeint war Timmendorfer Strand!)

    — Nein, Sie haben — —

    (Dr. Vogel [SPD]: Timmendorfer Strand! Erkundigen Sie sich erst einmal! Das ist fahrlässig! — Weitere Zurufe von der SPD — Gegenruf von der CDU/CSU: Vogel ist gestrandet! — Weitere Gegenrufe von der CDU/ CSU)

    — Darauf habe ich gewartet, Herr Kollege Vogel. Ich habe hier die dpa-Meldung. Sie beziehen sich mit der wörtlichen Formulierung auf Stoltenberg und sagen, Finanzminister Gerhard Stoltenberg habe auf dem Parteitag in Bonn am Montag

    (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)




    Seiters
    als stellvertretender Bundesvorsitzender viele Gegenstimmen und Enthaltungen hinnehmen müssen, und Sie sprechen von sinkender Zustimmung.

    (Dr. Vogel [SPD]: Lesen Sie meine Äußerung und nicht dpa!)

    Ich sage Ihnen, Herr Kollege Vogel: Das ist nicht nur Realitätsverlust, sondern Sie sind auch nicht mehr fähig zur Objektivität. Das ist der entscheidende Punkt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Peinlich, peinlich!)

    Was mich im übrigen am meisten empört, ist doppelte Moral. Deswegen komme ich auf das, was Sie zu Kiel gesagt haben, noch einmal zurück.

    (Zurufe von der SPD)

    — Ja, Herr Vogel, Sie haben sich hier hingestellt und eine sehr pathetische Rede gehalten. Aber Sie tun
    — mit Blick auf Schleswig-Holstein — nichts gegen die Diffamierung der Union und des Bundesfinanzministers außerhalb dieses Hauses.

    (Widerspruch bei der SPD — Glocke des Präsidenten)

    Am 26. Oktober 1987 schreibt der ParlamentarischPolitische Pressedienst der SPD unter der Verantwortung des SPD-Fraktionsvorsitzenden — Zitat — :
    Von der erprobten Technik Stoltenbergs, den politischen Gegner wider besseres Wissen öffentlich zu denunzieren, führt ein gerader Weg in die Fälscherwerkstatt des Reiner Pfeiffer.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Pfui! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist der Moralist Vogel! — Bundeskanzler Dr. Kohl: Das ist politische Kultur!)

    Herr Vogel, nichts gegen eine harte politische Auseinandersetzung über die Vorgänge in Kiel und ein volles, klares und uneingeschränktes Ja zur vollständigen Aufklärung der Vorgänge. Aber Sie können sich hier nicht hinstellen, von Moral und Anständigkeit reden, mit dem Finger anklagend auf andere zeigen, wenn Sie gleichzeitig aus rein parteipolitischen Gründen versuchen,

    (Dr. Vogel [SPD]: Dummes Zeug! — Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das tut er doch gar nicht!)

    die persönliche Integrität eines politischen Gegners,
    der mit den Machenschaften des Herrn Pfeiffer überhaupt nichts zu tun hat, in einer solch unanständigen
    - ich sage: unanständigen — Weise zu beschmutzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Frau Unruh [GRÜNE]: Was war denn das für ein Landesvorsitzender?)

    Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie müssen nun wirklich — —