Protokoll:
2143

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 2

  • date_rangeSitzungsnummer: 143

  • date_rangeDatum: 4. Mai 1956

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:02 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:05 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    2. Deutscher Bundestag — 143. Sitzung. Bonn, Freitag, den 4.. Mai 1956 7479 143. Sitzung Bonn, Freitag, den 4. Mai 1956. Mitteilung über Beantwortung der Kleinen Anfrage 243 (Drucksachen 2304, 2354) . . 7480 A Erste Beratung des Entwurfs eines Wehrpflichtgesetzes (Drucksache 2303) . . . . 7480 A Blank, Bundesminister für Verteidigung 7480 A, 7548 A, 7553 D, 7554 D Dr. Kliesing (CDU/CSU). . . . . 7484 D, 7486 C, D, 7487 A Schmidt (Hamburg) (SPD) 7486 C, 7538 B, C Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) : als Abgeordneter . . . . 7486 D, 7487 A als Vizepräsident 7516 D, 7531 A, 7537 D, 7538 B, C, 7540 D, 7548 B Vizepräsident Dr. Schneider . . . . 7488 A Erler (SPD). 7493 A, 7499 B, 7530 D, 7533 D, 7535 B, C, D, 7537 B, 7552 C, D, 7554 C Kiesinger (CDU/CSU) 7499 A Dr. Vogel (CDU/CSU) 7499 B von Manteuffel (Neuß) (DA) . . . 7504 D Dr. Reif (FDP): zur Geschäftsordnung 7516 C zur Sache 7551 B Rasner (CDU/CSU) (zur Geschäftsordnung) 7516 C Dr. Mende (FDP) . 7516 D, 7531 A, 7534 B, 7536 D, 7537 D, 7541 A Feller (GB/BHE) 7526 C Dr. Jaeger (CDU/CSU) . 7530 C, 7531 A, D, 7533 D, 7534 B, 7535 C, D, 7536 D, 7537 B, D, 7538 A, D Mellies (SPD) 7531 D, 7537 C, D Schneider (Bremerhaven) (DP). . .7539 A, 7540 D., 7541 A Eickhoff (DP) 7543 B Merten (SPD) 7543 C Wehner (SPD) 7548 B Frau Hütter (FDP) 7548 B Nellen (CDU/CSU) 7549 B Berendsen (CDU/CSU) 7552 B, D Dr. Bucher (FDP) 7554 B Überweisung an den Ausschuß für Verteidigung und an den Rechtsausschuß 7555 A Erste Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Organisation der militärischen Landesverteidigung (Drucksache 2341) 7555 A Blank, Bundesminister für Verteidigung . . 7555 A, 7558 B, 7562 C Dr. Reichstein (GB/BHE) 7555 D Dr. Mende (FDP) 7557 B Schmidt (Hamburg) (SPD) 7558 C Berendsen (CDU/CSU) 7562 D Überweisung an den Ausschuß für Verteidigung, an den Rechtsausschuß und an den Ausschuß für Angelegenheiten der inneren Verwaltung 7563 C Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten (Rentenversicherungsgesetz) (Drucksache 2314) . . 7563 D Dr. Schellenberg (SPD), Antragsteller 7563 D, 7571 D Storch, Bundesminister für Arbeit . 7570 C Horn (CDU/CSU) 7571 C Frau Finselberger (GB/BHE) . . 7572 B Dr. Hammer (FDP) 7573 A Überweisung an den Ausschuß für Sozialpolitik 7573 C Dritte Beratung des Entwurfs eines Zweiten Wohnungsbaugesetzes (Wohnungsbau- und Familienheimgesetz) (Drucksachen 2353, 2270, 722, 601, 5; Umdrucke 596, 597, 598) 7573 C Lücke (CDU/CSU) . . . . 7573 D, 7576 D Dr. Preusker, Bundesminister für Wohnungsbau 7574 D Jacobi (SPD) 7576 B, 7579 B Vizepräsident Dr. Schneider 7576 D, 7578 B Dr. Will (FDP) 7577 A Frau Heise (SPD) 7578 B Körner (DA) 7578 C, 7581 B Graaff (Elze) (FDP) 7580 B Schäffer, Bundesminister der Finanzen 7580 D Stierle (SPD) 7581 A Abstimmungen 7581 B, D Nächste Sitzung 7582 C Anlage 1: Liste der beurlaubten Abgeordneten 7582 B Anlage 2: Änderungsantrag der Fraktion der FDP, GB/BHE, DP zum Entwurf eines Wohnungsbau- und Familienheimgesetzes (Umdruck 596) 7583 A Anlage 3: Änderungsantrag der Fraktion der FDP zum Entwurf eines Wohnungsbau- und Familienheimgesetzes (Umdruck 597) 7583 B Anlage 4: Änderungsantrag der Fraktionen der DA, DP zum Entwurf eines Wohnungsbau- und Familienheimgesetzes (Umdruck 598) 7583 C Die Sitzung wird um 9 Uhr 2 Minuten durch den Vizepräsidenten Dr. Schneider eröffnet.
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    Anlage 1 Liste der beurlaubten Abgeordneten a) Beurlaubungen Abgeordneter beurlaubt bis einschließlich Dr. Starke 31. 7. Peters 15. 7. Meitmann 15. 7. Blachstein 30. 6. Gedat 30. 6. Dr. Atzenroth 16. 6. Dr. Brühler 16. 6. Dr. Hellwig 16. 6. Runge 16. 6. Frau Geisendörfer 9. 6. Altmaier 2. 6. Jahn (Frankfurt) 2. 6. Müller-Hermann 2. 6. Kahn 1. 6. Dr. Bartram 31. 5. Neuburger 31. 5. Frau Dr. Steinbiß 19. 5. Frau Friese-Korn 12. 5. D. Dr. Gerstenmaier 12. 5. Moll 12. 5. Pusch 12. 5. Frau Kalinke 10. 5. Dr. Moerchel 10. 5. Frau Niggemeyer 10. 5. Rehs 10. 5. Dewald 9. 5. Karpf 9. 5. Ollenhauer 8. 5. Dr. Orth 6. 5. Albers 5. 5. Frau Albertz 5. 5. Dr. Franz 5. 5. Dr. Greve 5. 5. Klingelhöfer 5. 5. Lemmer 5. 5. Lenz (Brühl) 5. 5. Dr. Maier (Stuttgart) 5. 5. Morgenthaler 5. 5. Pelster 5. 5. Schneider (Hamburg) 5. 5. Bauer (Wasserburg) 4. 5. Bender 4. 5. Fürst von Bismarck 4. 5. Brandt (Berlin) 4. 5. Dr. Bucerius 4. 5. Dr. Deist 4. 5. Frau Döhring 4. 5. Ehren 4. 5. Gerns 4. 5. Glüsing 4. 5. Heiland 4. 5. Dr. Graf Henckel 4. 5. Jacobs 4. 5. Dr. Keller 4. 5. Knobloch 4. 5. Kramel 4. 5. Leibfried 4. 5. Frau Dr. Dr. h. c. Lüders 4. 5. Schill (Freiburg) 4. 5. Schmitt (Vockenhausen) 4. 5. Schoettle 4. 5. Schrader 4. 5. Dr. Strosche 4. 5. Frau Wolff (Berlin) 4. 5. Ziegler 4. 5. b) Urlaubsanträge Abgeordnete bis einschließlich Dr. Gille 16. 6. Dr. Köhler 19. 5. Anlage 2 Umdruck 596 (Vgl. S. 7580 B, 7581 B) Änderungsantrag der Fraktionen der FDP, GB/BHE, DP zur dritten Beratung des Entwurfs eines Zweiten Wohnungsbaugesetzes (Wohnungsbau- und Familienheimgesetz) (Drucksachen 2353, 2270, zu 2270, 5, 601, 722, 2279 [neu]). Der Bundestag wolle beschließen: In § 18 a) erhält Abs. 1 Satz 2 folgende Fassung: Vom Rechnungsjahr 1957 ab stellt der Bund hierfür einen Betrag von mindestens 700 Millionen Deutsche Mark im Bundeshaushalt zur Verfügung. b) werden folgende neue Absätze 1 a und 1 b eingefügt: (1 a) Von dem in Absatz 1 Satz 2 bezeichneten Betrag werden im Rechnungsjahr 1958 10 vom Hundert, im Rechnungsjahr 1959 20 vom Hundert und im Rechnungsjahr 1960 30 vom Hundert für Zins- oder Annuitätszuschüsse zur zusätzlichen Förderung des Baues von Familienheimen bereitgestellt. Die nach Satz 1 gewährten Zins- oder Annuitätszuschüsse werden jeweils auf die Dauer von 20 Jahren gegeben. (1 b) Vom Rechnungsjahr 1961 ab stellt der Bund jährlich einen Betrag im Bundeshaushalt zur Verfügung, der sich gegenüber dem in Absatz 1 Satz 2 bezeichneten Betrag je Rechnungsjahr um 70 Millionen Deutsche Mark verringert, soweit er nicht für die in Absatz 2 genannten Zins- oder Annuitätszuschüsse benötigt wird. Bonn, den 4. Mai 1956 Dr. Dehler und Fraktion Feller und Fraktion Schneider (Bremerhaven) und Fraktion Anlage 3 Umdruck 597 (Vgl. S. 7582 A) Änderungsantrag der Fraktion der FDP zur dritten Beratung des Entwurfs eines Zweiten Wohnungsbaugesetzes (Wohnungsbau- und Familienheimgesetz) (Drucksachen 2353, 2270, zu 2270,1 5, 601, 722, 2279 [neu]). Der Bundestag wolle beschließen: in § 110 a) die 'Überschrift wie folgt zu ergänzen: Überleitungsvorschriften für öffentlich geförderte Eigenheime, Kleinsiedlungen, Kaufeigenheime und Eigentumswohnungen; b) in Abs. 1 zwischen Satz 1 und 2 folgenden neuen Satz einzufügen: Öffentlich geförderte Eigentumswohnungen, auf die die Vorschriften des Ersten Wohnungsbaugesetzes anzuwenden sind, sind auf Antrag als eigengenutzte Eigentumswohnungen anzuerkennen, wenn sie den in § 12 Abs. 1 Satz 2 bestimmten Voraussetzungen entsprechen. Bonn, den 4. Mai 1956 Graaff (Elze) Dr. Dehler und Fraktion Anlage 4 Umdruck 598 (Vgl. S. 7581 B, D) Änderungsantrag der Fraktionen der DA, DP zur dritten Beratung des Entwurfs eines Zweiten Wohnungsbaugesetzes (Wohnungsbau- und Familienheimgesetz) (Drucksachen 2353, 2270, zu 2270, 5, 601, 722, 2279 [neu]). Der Bundestag wolle beschließen: In § 32 Abs. 1 erhält Buchstabe b die folgende Fassung: b) über die Anzahl der nachweislich noch unzumutbar untergebrachten Wohnungsuchenden, insbesondere solcher, die in Lagern, Baracken, Bunkern, Nissenhütten oder ähnlichen nicht dauernd für Wohnzwecke geeigneten Unterkünften untergebracht sind. Bonn, ,den 4. Mai 1956 Körner von Manteuffel (Neuß) und Fraktion Schneider (Bremerhaven) und Fraktion
Gesamtes Protokol Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214300000
Die Sitzung ist eröffnet.
Eine amtliche Mitteilung wird ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Herr Bundesminister für Verkehr hat unter dem 30. April 1956 die kleine Anfrage 243 der Abgeordneten Dr. Gleissner (München), Wieninger, Lang (München), Leukert, Dr. Graf (München) und Genossen betreffend Wiederaufbau des Holzkirchner Bahnhofs in München — Drucksache 2304 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache 2354 vervielfältigt.
Ich rufe auf Punkt 1 a der heutigen Tagesordnung:
Erste Beratung des Entwurfs eines Wehrpflichtgesetzes (Drucksache 2303),
und erteile das Wort zur Begründung dem Herrn Bundesverteidigungsminister Blank.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214300100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der dem Hohen Hause vorliegende Entwurf eines Wehrpflichtgesetzes soll die Rechtsgrundlage für die Ausweitung der zunächst nur aus Freiwilligen bestehenden Bundeswehr zu einem Wehrpflichtheer bilden. Das Recht des Bundes, die allgemeine Wehrpflicht zu begründen, ist durch die Neufassung des Art. 73 Nr. 1 des Grundgesetzes vom März 1954 verfassungskräftig festgestellt. Die Grundgesetzänderungen vom März dieses Jahres gehen ebenfalls von dem Gedanken aus, daß die Bundeswehr ein Wehrpflichtheer sein wird. Das zugleich mit den Grundgesetzänderungen vom März dieses Jahres verabschiedete Soldatengesetz setzt, wie der Bericht des Ausschusses für Verteidigung zu § 1 ausdrücklich hervorhebt, voraus, daß die Bundeswehr auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht aufgebaut wird. Der vorliegende Entwurf schließt sich somit unmittelbar an das Soldatengesetz an. Er erfüllt den Willen des Gesetzgebers; denn nach § 58 Abs. 1 des Soldatengesetzes sind die Begründung der Wehrpflicht, die Heranziehung der Wehrpflichtigen zum Wehrdienst und die Beendigung des Wehrdienstes durch Gesetz zu regeln.
Die Bundesregierung hat immer die Auffassung vertreten, daß der deutsche militärische Verteidigungsbeitrag nur auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht zu leisten sei. Ich darf ihren Standpunkt anläßlich der ersten Beratung des Wehrpflichtgesetzes noch einmal begründen.
Der NATO-Vertrag sieht in seinem Art. 3 vor, daß die Mitglieder einzeln und gemeinsam durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung die eigene und gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe erhalten und entwickeln. Damit ist die Bundesregierung verpflichtet, Streitkräfte aufzustellen, die den militärischen Anstrengungen der anderen Mitgliedstaaten zur Hebung der gemeinsamen Abwehrkraft entsprechen.
Der Umfang und die Charakteristik dieser Streitkräfte werden behandelt in der Schlußakte der Londoner Neunmächtekonferenz vom 3. Oktober 1954, die ihrerseits Bezug nimmt auf den EVG-Vertrag mit seinen Zusatzprotokollen. Sie trägt die Unterschriften der Außenminister der beteiligten Staaten.
Zur Frage der Verbindlichkeit der Londoner Schlußakte stellt der Schriftliche Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, Bundestagsdrucksache 1200, in Teil I a „Generalbericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten" ausdrücklich fest:
Die Bundesregierung hält eine Ratifizierung der Londoner Schlußakte nicht für erforderlich. Der Auswärtige Ausschuß schloß sich dieser Auffassung an, die davon ausgeht, daß von allen in London zustande gekommenen Vereinbarungen und Erklärungen nur eine, die aber nicht ratifikationsbedürftig ist, nicht Gegenstand der Pariser Verträge wurde.
Dieser Bericht stellte in den Sitzungen des Deutschen Bundestages vom 24. bis 27. Februar 1955 die Grundlage der zweiten und dritten Beratung des Pariser Vertragswerkes dar. Er blieb unwidersprochen. Damit hat sich der Deutsche Bundestag zum Inhalt der Londoner Schlußakte bekannt.
Nach Anlage 5 dieser Schlußakte in Verbindung mit dem EVG-Vertrag und seinen Zusatzprotokollen besteht für die Bundesrepublik die Verpflichtung, einen Verteidigungsbeitrag zu leisten, der seinem Umfang und seiner allgemeinen Charakteristik nach dem für die EVG festgesetzten Beitrag entsprechen muß. Damit ist der Umfang der deutschen Streitkräfte auf eine Stärke von rund 500 000 Mann auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht festgesetzt. Der zu leistende Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik in Höhe von rund 500 000 Mann liegt an der unteren Grenze des Zumutbaren. Er beträgt nur 1% unserer Gesamtbevölkerung,

(ironischer Zuruf von der SPD: Jammerschade!)

während die anderen Mitgliedstaaten mit Ausnahme Italiens einen höheren Anteil leisten. Ich darf Ihnen die wesentlichen Zahlen einmal bekanntgeben. Der Anteil beträgt in Frankreich 2 % der Bevölkerung, in Amerika 1,8 %, in Belgien 1,65 %, in Großbritannien 1,5 %, in den Niederlanden 1,2 %, in Italien 0,6 %, im Durchschnitt also 1,4 %. Bei den Ostblockstaaten beträgt der Durchschnitt sogar 2%.
Bei der heutigen strategischen Weltlage können die deutschen Verteidigungsanstrengungen — und das sei hier nochmals ausdrücklich festgestellt —niemals isoliert betrachtet werden. Sie dürfen vielmehr im Hinblick auf das militärische Potential des Sowjetblocks nur im Rahmen der NATO gewertet werden. Die Zielsetzung dieser Verteidigungsgemeinschaft ist rein defensiv. Alle von ihr durchgeführten militärischen Anstrengungen haben nur das Ziel, die den demokratischen Prinzipien der Mitgliedstaaten entsprechende freundschaftliche Zusammenarbeit auf politischem, kulturellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet zu


(Bundesverteidigungsminister Blank)

schützen und zu sichern. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die gemeinsamen Streitkräfte der NATO daher eine Stärke haben, die auf jeden möglichen Angreifer abschreckend wirkt; mit anderen Worten: das für den Angreifer entstehende Risiko muß derart groß sein, daß er keine Gewißheit sieht, seine Ziele zu erreichen.
Auch bei Berücksichtigung der Tatsache, daß gerade in den letzten Jahren die Entwicklung neuer Kampfmittel, insbesondere der Atomwaffen, ungeahnt große Fortschritte gemacht hat, erscheint die beabsichtigte Stärke der Bundeswehr nicht zu hoch. Der in der Öffentlichkeit neuerdings aufkommenden Meinung, infolge dieser Entwicklung würden Streitkräfte, die auf der allgemeinen Wehrpflicht basieren, überflüssig und seien durch kleinere Berufsheere zu ersetzen, muß widersprochen werden. Die Folgerung aus der Atomsituation darf nicht lauten: kleinere Heere, sondern: viele kleine Verbände, nicht: starke Verminderung, sondern: Auflockerung und Beweglichkeit. Die Richtigkeit dieser Auffassung wird dadurch bestätigt, daß das Vorhandensein der Atomwaffen in anderen Ländern weder in Ost noch in West zu einer nennenswerten Verringerung der Kampftruppen geführt hat.
Die Beantwortung der Frage, welche Wege zweckmäßigerweise beschritten werden müssen, um ein Friedensheer in dem notwendigen Umfang ständig zu unterhalten, ergibt sich aus folgenden Überlegungen. Die Stärke des Sowjetblocks und seine Expansionsbestrebungen schaffen die dauernde Gefahr eines Angriffs. Er könnte unerwartet und mit großer Schnelligkeit erfolgen. Um einen solchen Angriff zu einem wirklichen Risiko für den Angreifer zu machen, müssen auf seiten der NATO ständig einsatzbereite Streitkräfte in genügender Zahl vorhanden sein. Die zur Zeit noch bestehende Unterlegenheit des Westens in Europa gegen mögliche Operationen großer sowjetischer Verbände wird durch die Aufstellung des deutschen Kontingents in ein für die Verteidigung tragbares Gleichgewicht umgewandelt. Hierbei ist zu bemerken, daß über die 500 000 Mann hinaus auf die Dauer gesehen eine möglichst große Zahl voll und vielseitig ausgebildeter Reserven vorhanden sein muß, um die mobilen Verbände auch nach Ausfällen rasch mit vollwertigen Soldaten auffüllen zu können. Diese Reserven werden ebenfalls für die Verbände benötigt, die im Verteidigungsfall als Unterstützungs- und Versorgungstruppenteile sowie innerhalb der bodenständigen Verteidigung aufzustellen sind. Diese Forderungen sind durch ein Berufsheer nicht zu erfüllen.
Von der vorgesehenen Zahl von 500 000 Mann sollen rund 230 000 Soldaten sein, die auf Grund freiwilliger Verpflichtung dienen, nämlich Offiziere, Unteroffiziere und länger dienende Mannschaften. Hierfür haben sich bis zum 31. März 1956 210 000 Bewerber gemeldet, darunter rund 55 000 Ungediente. Von den Bewerbern fällt, wie das bisherige Einberufungsverfahren ergeben hat, ein Teil aus den verschiedensten Gründen aus. Es wird also nicht leicht sein, die vorgesehene Zahl von 230 000 Freiwilligen zu bekommen. Die gesamte Bundeswehr von 500 000 Mann aus Freiwilligen aufzubauen ist unmöglich. Aber selbst wenn es möglich wäre, würden aus diesem langdienenden Berufsheer keine ausreichenden und einsatzfähigen Reserven erwachsen.
In der Öffentlichkeit ist in letzter Zeit vielfach die Frage diskutiert worden, ob man nicht die gleiche Wirkung wie mit einem stehenden Wehrpflichtheer erzielen könne, wenn man etwa die Hälfte der Streitkräfte aus Verbänden von Berufssoldaten bilden, für die andere Hälfte jedoch Miliztruppenteile aufstellen würde.
Hierzu ist folgendes zu sagen. Die Miliz steht nicht im Gegensatz zur Wehrpflicht, sie stellt gegenüber dem stehenden Wehrpflichtheer nur eine andere Form der Wehrpflicht dar. Ihre besonderen Merkmale sind: kurze Grundausbildung und häufige Übungen.
Die Miliz hatte in früheren Zeiten unter besonderen Verhältnissen des Geländes und der geographischen Lage Aussicht, mit Erfolg kämpfen zu können. Bei den heutigen taktischen und technischen Anforderungen des modernen Krieges wird diese Aussicht immer geringer. Das gilt besonders, wenn der mögliche Gegner über modern ausgerüstete Panzerarmeen mit starker Luftwaffenunterstützung verfügt.
Die besonderen Nachteile der Miliz sind folgende. Sie beschränkt wegen der kurzen Ausbildung die Art der zu verwendenden Waffen und Ausrüstung und damit die Einsatzmöglichkeit ihrer Verbände. Sie erlaubt keine ausreichende Verbandsausbildung, und sie ist nicht sofort einsatzbereit, da Truppenteile nur während der kurzen Zeit der jährlichen Übung bestehen.
Für die Bundesrepublik ist daher das Milizsystem für alle diejenigen Verbände der Bundeswehr, die jederzeit einsatzbereit den Schutz der Bundesrepublik sicherzustellen haben, nicht anwendbar. Vielmehr ist die Aufstellung eines stehenden Wehrpflichtheeres eine zwingende militärische Notwendigkeit.
Aber auch von staatspolitischen Gesichtspunkten her betrachtet, gebietet sich die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Die Verteidigung und ihre Vorbereitung im Frieden ist Aufgabe des ganzen Volkes, wie es die großen Reformer Scharnhorst und Gneisenau einst in anderer Lage ebenso gefordert haben wie Carnot, Jaurès und August Bebel. Der deutsche Bürger wird immer für sein demokratisches Recht eintreten und damit auch seine demokratischen Pflichten bei allen Notständen bejahen. Auf ihnen beruht die Lebensfähigkeit der Demokratie, deren „legitimes Kind" die Wehrpflicht ist.
Die Sicherung der Freiheit kommt jedem Staatsbürger zugute. Deshalb müssen hierfür von jedem einzelnen persönliche Opfer gebracht werden. Die allgemeine Wehrpflicht verteilt diese Lasten gleichmäßig in echt demokratischer Weise. Der Bürger würde sonst allzu leicht in einem Berufsheer die Institution sehen, der allein die Sicherung seiner Freiheit obliegt. Damit ist die Gefahr einer Selbsttäuschung gegeben, die den tatsächlichen Gegebenheiten und Erfordernissen des Verteidigungsfalls nicht Rechnung trägt. Der Widerstandswille der Bevölkerung gegen jeden möglichen Angreifer würde hierdurch nicht wachgehalten werden.
Ein Berufsheer steht immer in der Gefahr, ein „Staat im Staate" zu werden. Das militärische Eigenleben, wenn es nicht durch den laufenden Zustrom von Wehrpflichtigen aufgelockert wird, kann trotz allen guten Willens der politischen und militärischen Führung und der parlamentarischen Kon-


(Bundesverteidigungsminister Blank)

trolle zu einer Isolierung der Soldaten führen. Der unmittelbare Kontakt zum ganzen Volk, der allein die auch militärisch notwendige Eingliederung der Armee in die staatliche Gesamtordnung bewirkt, wird nur dann im wünschenswerten und notwendigen Ausmaß vorhanden sein, wenn alle Männer verpflichtet sind, in dieser Armee zu dienen.

(Vereinzelter Beifall in der Mitte.)

Für die eingehenden Beratungen des Ihnen vorliegenden Entwurfs in den Ausschüssen hat die Bundesregierung Ihnen eine ausführliche Denkschrift über die von mir behandelten Fragen als Arbeitsunterlage zur Verfügung gestellt.
In der Frage der Dauer des Grundwehrdienstes hält die Bundesregierung, wie Ihnen aus der Stellungnahme zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrats bekannt ist, an ihrer bisherigen Auffassung fest. Ein 18monatiger Grundwehrdienst ist nicht nur notwendig, um die unerläßlichen Ausbildungsziele zu erreichen, er ist ebenso notwendig, um die Bundeswehr auf die erforderliche Stärke zu bringen und die Leistungen der Bundesrepublik in einem angemessenen Verhältnis zu den Leistungen der anderen Staaten zu halten.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Der Grundwehrdienst in den anderen NATO-Staaten dauert, wie ich Ihnen an einigen Zahlen darlegen werde, 18 Monate und sogar noch länger. Er beträgt in Belgien 18, in Dänemark 16, in Frankreich 18, in Griechenland von 24 bis 30, in Großbritannien 24, in Italien 18 und bei der Marine bis zu 24, in den Niederlanden 18, in Portugal 18 bis 24, in der Türkei 24 und in den USA 24 Monate.
Wenn wir verpflichtet sind, einen Verteidigungsbeitrag zur NATO zu leisten, der nach seiner allgemeinen Charakteristik und nach seinem Umfang auch dem entsprechen muß, was vergleichsweise andere Staaten leisten, so mutet die Bundesregierung mit ihrer Forderung auf einen 18monatigen Grundwehrdienst den deutschen Soldaten nicht mehr zu, als den Soldaten in den Staaten der NATO zugemutet wird, ja, sie bleibt sogar mit dieser Dienstzeit unter der Dienstzeit, die in England und in Amerika geleistet werden muß. In den Ostblockstaaten, in der Sowjetunion und in den Satellitenstaaten, beträgt die Dienstzeit im Heer 24 Monate, in der Luftwaffe 36 Monate und bei der Marine in der Sowjetunion sogar 48 Monate.
Ich habe Ihnen mit Absicht diese kurze Übersicht gegeben — Sie finden sie ausführlich in der vorhin erwähnten Denkschrift —, weil ich Ihnen zeigen wollte, daß im NATO-Bereich die Dienstzeit überwiegend 18 und 24 Monate beträgt und daß die Dauer der Dienstpflicht in den Ostblockstaaten im Durchschnitt noch weit über die der NATO-Staaten hinausgeht.
Ich darf nunmehr im einzelnen zu dem Ihnen vorliegenden Entwurf des Wehrpflichtgesetzes folgendes bemerken. Für die Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht ist eine Fülle von Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen, die der Entwurf unter dem Begriff Wehrersatzwesen zusammenfaßt. Für ihre Durchführung ist eine von der Sache her gebotene Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern vorgesehen. Die Erfassung wird von den Ländern durchzuführen sein, denn bei ihr handelt es sich vor allem um eine Auswertung der bei den Meldebehörden der allgemeinen inneren Verwaltung bereits vorhandenen Unterlagen. Ebenso wird die gerichtliche Kontrolle der im Wehrersatzwesen ergehenden Verwaltungsakte bei den Verwaltungsgerichten der Länder liegen.
Die anderen Aufgaben des Wehrersatzwesens — das sind vor allem die Musterung, die Verteilung der Wehrpflichtigen auf die verschiedenen Truppenteile, die Einberufung, die Lenkung des Einsatzes der Reservisten und die Wehrüberwachung — sollen einer bundeseigenen, dem Verteidigungsminister unterstehenden Wehrersatzverwaltung zugewiesen werden. Diese Wehrersatzverwaltung wird jedoch besonders bei der Musterung gehalten sein, eng mit den Organen der allgemeinen inneren Verwaltung zusammenzuarbeiten. Die Hauptaufgaben des Wehrersatzwesens sind vor allem deswegen auf eine besondere Wehrersatzverwaltung zu übertragen, weil das Wehrersatzwesen untrennbar mit der Verteidigungsaufgabe des Bundes verbunden ist und daher auch nur der Bund die Verantwortung für eine ordnungsgemäße Durchführung übernehmen und tragen kann. Nur wenn Truppe und Ersatzorganisation durch eine gemeinsame Spitze verbunden sind, läßt sich das für eine ordnungsgemäße personelle Ergänzung der Bundeswehr erforderliche Zusammenwirken beider sicherstellen, und nur so können die besonders für die Mobilmachungsvorbereitungen und den Verteidigungsfall unerläßlichen zentralen Weisungen erteilt und in kürzester Frist durchgesetzt werden.
Trotz ihrer Unterstellung unter den Verteidigungsminister soll aber die Wehrersatzverwaltung nicht bloßes Rekrutierungsorgan der Bundeswehr sein. Sie hat nicht allein ein bestimmtes Kontingent zu erbringen, sondern sie wird Mittler zwischen militärischem und zivilem Bereich sein. Das kommt schon darin zum Ausdruck, daß sie im Gegensatz zu früher eine zivile Verwaltung sein und daß sie ferner organisatorisch neben den Verbänden der Bundeswehr stehen wird. Hierdurch wird zugleich dem von der Bundesregierung schon immer vertretenen Grundgedanken Rechnung getragen, daß der eigentliche militärische Bereich erst am Kasernentor beginnt.
Um eine Handhabe für den Kräfteausgleich zwischen dem Bedarf der Bundeswehr und dem Bedarf des zivilen Bereichs zu schaffen, übernimmt der Gesetzentwurf die aus der Vergangenheit bekannte Unabkömmlich-Stellung. Durch diese Unabkömmlich-Stellung werden Wehrpflichtige von der Einberufung ausgenommen, wenn ihr Verbleiben am Arbeitsplatz wichtiger ist, als daß sie ihrer Wehrpflicht genügen. Sie wird im Gegensatz zu früher bereits im Frieden praktische Bedeutung gewinnen und sich ausnahmsweise auch auf den Grundwehrdienst erstrecken können.
Neben der Unabkömmlich-Stellung wird durch eine vernünftige Handhabung der Einberufungen zum Grundwehrdienst und besonders auch zu den Wehrübungen dafür zu sorgen sein, daß unnötige Belastungen des zivilen Bereichs vermieden werden.
Erhebliches Gewicht legt der Entwurf auf diejenigen Vorschriften, die sich mit der Frage befassen, in welcher Weise bei der Entscheidung über die Einberufung, besonders zum Grundwehrdienst, die persönlichen Belange des Einzelnen zu berücksichtigen sind. Hier soll elastisch verfahren und nicht immer starr an einem bestimmten Einberufungsalter festgehalten werden. Ein gewisser Spielraum ist schon dadurch gegeben, daß es in Zukunft nicht nur einen, sondern vier Einberufungstermine im


(Bundesverteidigungsminister Blank)

Jahre geben wird, sowie auch dadurch, daß der Wehrpflichtige vorzeitig dienen kann. Darüber hinaus sind Zurückstellungen aus persönlichen Gründen vorgesehen, wenn die Einberufung für den Wehrpflichtigen eine besondere Härte bedeuten würde. Solche Härten können in sozialen Gründen liegen. Hier soll vermieden werden, daß durch die Einberufung sozial nicht tragbare Verhältnisse eintreten. Von beträchtlicher Bedeutung sind die Zurückstellungsvorschriften für solche Wehrpflichtige, die noch in der Berufsausbildung stehen. Es liegt nicht nur im Interesse dieser Wehrpflichtigen selbst, sondern es besteht auch ein erhebliches öffentliches Anliegen, in diesen Fällen die Ausbildung nicht zur Unzeit zu unterbrechen, sondern den Wehrdienst zeitlich möglichst sinnvoll mit dem Ausbildungsgang abzustimmen.
Meine Damen und Herren, es wird mir besonders daran liegen, für eine sinnvolle Handhabung der diesbezüglichen Vorschriften durch die damit befaßten Musterungs- und Einberufungsorgane zu sorgen.
Eine wichtige Aufgabe des Gesetzentwurfs ist es u. a., im Hinblick darauf, daß es in den letzten elf Jahren keine Wehrpflicht gegeben hat, mit Übergangsbestimmungen sinnvoll an die Vergangenheit anzuknüpfen. Hierher rührt die Bestimmung, daß Wehrpflichtige, die bereits früher Soldat waren, in der Bundeswehr nur noch zu Wehrübungen, nicht aber zum Grundwehrdienst herangezogen werden sollen. Hierher gehört ferner die Bestimmung, daß Angehörige der sogenannten weißen Jahrgänge, also alle diejenigen, die zwar früher nicht mehr Soldat waren, aber inzwischen über das gewöhnliche Einberufungsalter hinausgewachsen sind, nicht mehr zum vollen achtzehnmonatigen, sondern nur noch zu einem verkürzten halbjährigen Grundwehrdienst einberufen werden können. Nach einer weiteren Übergangsvorschrift wird allen Wehrpflichtigen, die früher schon Soldat waren, für den Fall der Einberufung zur Bundeswehr der in der früheren Wehrmacht erhaltene Dienstgrad zugesichert. Auch eine weitere Vorschrift des Gesetzes ist bedeutsam, wonach in Anlehnung an den Außenseiterparagraphen des Bundesbeamtengesetzes Wehrpflichtigen, die sich außerhalb der früheren Wehrmacht oder der Bundeswehr die erforderliche militärische Eignung für einen höheren Dienstgrad erworben haben, dieser Dienstgrad übertragen werden kann. In diesem Zusammenhang darf auf einen kürzlich im Verteidigungsausschuß schon erörterten Gedanken hingewiesen werden, der zwar im Gesetzentwurf noch keinen Niederschlag gefunden hat, der aber doch entwicklungsfähig sein dürfte. Das ist der Gedanke des zeitweiligen Dienstgrades als eines an eine bestimmte Verwendung geknüpften Ranges. Die Möglichkeiten, die sich dabei für den sinnvollen Einsatz wertvoller Fachkräfte auftun, verdienen es, ernsthaft durchdacht zu werden.
Der Gesetzentwurf beschreitet in vielen Punkten neue Wege. Hierher gehört in erster Linie das Bekenntnis des Entwurfs zur Rechtsstaatlichkeit. Der Entwurf sieht für die einzelnen Wehrpflichtigen einen weit umfassenderen Rechtsschutz gegen die Verwaltungsakte der Wehrersatzverwaltung vor als die entsprechenden Gesetze aller anderen Staaten. Schon die erste Verwaltungsentscheidung, in der über die Verfügbarkeit des Wehrpflichtigen entschieden wird, wird nicht bei der Wehrersatzbehörde allein liegen, sondern bei einem Ausschuß, der in seiner ausdrücklich ausgesprochenen Unabhängigkeit von Einzelweisungen fast eine gerichtsähnliche Stellung hat. Gegen die Entscheidung dieses Ausschusses wird dem Wehrpflichtigen der Widerspruch an einen weiteren Ausschuß zustehen. Dessen Entscheidung wiederum wird er mit der Klage — und zwar der Klage an das allgemeine Verwaltungsgericht — angreifen dürfen. Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts endlich wird die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zugelassen werden können. Die Vielzahl der dem Wehrpflichtigen eröffneten Rechtsmittel birgt zwar, vor allem für den Anfang, die Gefahr eines Mißbrauchs, der die planmäßige Ergänzung der Bundeswehr gefährden könnte. Das aber wird um der Rechtsstaatlichkeit willen, die auch im militärischen Bereich keine Einbuße erfahren soll, in Kauf genommen werden müssen.
In seinem Abschnitt III beschäftigt sich der Gesetzentwurf mit dem Recht der Kriegsdienstverweigerung. Er begibt sich damit auf rechtliches Neuland. Deutsche Gesetzesvorbilder, auf die zurückgegriffen werden könnte, gibt es nicht. Die Fragen der Kriegsdienstverweigerung sind in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit mit großer Leidenschaft erörtert worden. Dabei hat sich die Not, die vielen Menschen in Deutschland gerade diese Frage bereitet, mit großer Deutlichkeit gezeigt, und ich bin mir bewußt, daß ihre Behandlung eines außerordentlichen Ernstes bedarf.
Die Verfassung, deren Wortlaut „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden" Ihnen allen bekannt ist, gibt dem Bundesgesetzgeber auf, das Nähere durch Gesetz zu regeln. Diese Auflage der Verfassung wird im Rahmen des Wehrpflichtgesetzes gelöst werden müssen, denn das Recht der Kriegsdienstverweigerung gehört systematisch in den Bereich der vom Wehrpflichtgesetz zu behandelnden Fragen. Das Recht der Kriegsdienstverweigerung gewinnt erst in dem Augenblick praktische Bedeutung, in dem die allgemeine Wehrpflicht wirksam wird. Indem der Gesetzentwurf dieses Recht behandelt, befindet er sich u. a. in Übereinstimmung mit dem ausdrücklichen Wunsch der evangelischen Kirche, die dieserhalb an die Bundesregierung herangetreten war.
Die Vorschriften des Entwurfs über das Recht der Kriegsdienstverweigerung sind entstanden im Wissen um die Würde der Gewissensentscheidung und um die Schwere des Gewissenskonfliktes, den die Forderung, Wehrdienst zu leisten, für den einzelnen — auch für viele von denen, die den Wehrdienst bejahen — bedeutet. Bei ihrer Vorbereitung mußte aber auch die Verantwortung des Staates deutlich werden, der nicht durch eine unvertretbare Ausweitung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung seinen verfassungsmäßigen Bestand und seine Verteidigung in Gefahr bringen darf

(Abg. Frau Dr. h. c. Weber [Aachen] : Richtig!)

und der darum bemüht sein muß, die staatsbürgerlichen Lasten gleichmäßig zu verteilen.
Der Entwurf bestimmt in legitimer Auslegung dessen, was Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes nach Sinn und Wortlaut bedeutet, den Inhalt des Rechts der Kriegsdienstverweigerung und bezeichnet seine Grenzen. Danach wird, wer aus tiefer Gewissensnot heraus den tödlichen Waffengebrauch, das Töten im Kriege um jeden Preis für verwerflich hält,


(Bundesverteidigungsminister Blank)

keinen Wehrdienst leisten müssen, und zwar auch
nicht im Frieden. Er wird an Stelle des Wehrdienstes einen Ersatzdienst leisten, dessen verfassungsrechtliche Zulässigkeit durch die Grundgesetzänderungen vom März dieses Jahres ausdrücklich
bestätigt ist. Andererseits wird unter dem Gesichtspunkt des Rechts der Kriegsdienstverweigerung
vom Wehrdienst nicht befreit werden können, wer
seine Weigerung, den von ihm geforderten Wehrdienst zu leisten, aus anderen Gründen als aus
einem grundsätzlichen Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit herleitet. Aus der jeweiligen Situation erwachsene politische oder persönliche Gründe rechtfertigen nach Auffassung der Bundesregierung den
Schutz des Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes nicht.

(Hört! Hört! bei der SPD.)

— Das ist immer die Auffassung der Bundesregierung gewesen.
Der Entwurf will verhindern, daß das Recht der Kriegsdienstverweigerung zu einer mit seinem Wesen nicht zu vereinbarenden Handhabe innerpolitischer Gegnerschaft oder gar staatsfeindlicher Unterminierung der staatlichen Ordnung wird, und daher will dieser Entwurf kein Ausbrechen aus der demokratischen Verantwortungsbindung des einzelnen zulassen. Der Entwurf dient damit zugleich dem anderen Ziel, das echte Anliegen der Kriegsdienstverweigerer aus tiefster, auf das Töten im Kriege bezogener Gewissensnot nicht durch den Einlaß unkontrollierbarer Gelegenheits- und politischer Motive verfälschen zu lassen.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Zum Schluß noch ein Wort zu der Frage, die in der letzten Zeit verschiedentlich aufgeworfen worden ist: Weshalb wird der Entwurf zum Wehrpflichtgesetz von der Bundesregierung schon jetzt dem Hohen Hause vorgelegt? Erlauben Sie, meine Damen und Herren, mir dazu folgenden Hinweis.
Eine baldige Verabschiedung des vorliegenden Entwurfs ist schon aus technischen Gründen notwendig. Vergegenwärtigen Sie sich bitte, daß vor der Einberufung der ersten Wehrpflichtigen die Wehrersatzorganisation aufgebaut und arbeitsfähig sein muß. Die rechtlichen, haushaltsrechtlichen, persönlichen und sachlichen Voraussetzungen für den Aufbau der Dienststellen dieser Organisation können erst nach der Verabschiedung des Wehrpflichtgesetzes geschaffen werden. Das nimmt Zeit in Anspruch. Erst danach können die ersten Wehrpflichtigen einberufen werden, und bei der Durchführung der beabsichtigten quartalweisen Einziehung der Wehrpflichtigen kann die vorgesehene Gesamtstärke des Heeres erst etwa in anderthalb Jahren nach der Einziehung der ersten Wehrpflichtigen erreicht werden. Deshalb ist eine baldige Verabschiedung des Gesetzentwurfes ein dringendes Anliegen der Bundesregierung. Andernfalls würde die gesamte Aufstellung entsprechend später, vielleicht zu spät beendet sein.

(Zuruf von der SPD: Was heißt das?)

— Daß Ihre Sicherheit ernstlich in Gefahr geriete und Sie eines Tages bös erwachen würden!

(Beifall in der Mitte. — Lachen und Zurufe von der SPD.)

— Ich weiß, daß Sie das sogar lächerlich finden. Wir aber wissen um den Ernst unserer Verantwortung in dieser Frage.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zurufe von der SPD.)

Ich bin mir bewußt, daß der Gesetzentwurf schwerwiegende Probleme enthält, die eine sorgfältige und gewissenhafte Erörterung im Gesetzgebungsverfahren notwendig machen. Ich hoffe aber zuversichtlich, daß es gelingen wird, durch gemeinsames Bemühen zu gemeinsamen Auffassungen zu kommen.
Dieses Gesetz ist in der Reihe der Wehrgesetze, die Ihnen vorgelegen und die Sie behandelt haben, meine Damen und Herren, eines der bedeutendsten. Es ist das Gesetz, das die Verteidigungsverpflichtungen auf das ganze Volk verteilt. Es ist das Gesetz, das Sie seit langem erwartet haben.

(Ironische Zustimmung und Lachen bei der SPD.)

Es ist das Gesetz, das die Frage behandelt, die bisher in Deutschland nicht strittig gewesen ist, seit wir über den deutschen Verteidigungsbeitrag sprechen. Es ist das Gesetz, meine Damen und Herren, das gewissermaßen den Schlußstein einfügt

(Zuruf des Abg. Wehner)

und damit dem deutschen Volke, der deutschen Öffentlichkeit, unseren Bündnispartnern und der ganzen Welt zeigt, daß wir gewillt sind, unsere Freiheit und die rechtsstaatliche Ordnung Deutschlands zusammen mit den freien Völkern des Westens zu bewahren und zu sichern.

(Beifall bei den Regierungsparteien. — Lebhafte Zurufe von der SPD.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214300200
Meine Damen und Herren., ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Kliesing.

Dr. Georg Kliesing (CDU):
Rede ID: ID0214300300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dieser Beratung tritt die Erörterung der Frage, welches Wehrsystem, welche Wehrverfassung dem Aufbau der Bundeswehr zugrunde gelegt werden soll, eine Frage, die die Öffentlichkeit in der letzten Zeit bereits sehr lebhaft beschäftigt hat,

(Zuruf von der SPD: Gott sei Dank!)

in ihr entscheidendes Stadium. — Selbstverständlich „Gott sei Dank"! Ich begrüße das auch sehr, und deshalb erwähne ich es eigens hier.
Die außerordentliche soziologische, staatspolitische und wohl auch außenpolitische Bedeutung des Problems Wehrpflicht oder Berufsarmee läßt eine sehr gründliche Behandlung des Gesetzentwurfs in den zuständigen Ausschüssen erhoffen und als wünschenswert erscheinen. Dies um so mehr, als mit der grundsätzlichen Frage nach der Wehrpflicht auch andere Fragen unlösbar verbunden sind, etwa die nach der Dauer der Grundausbildung, der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und die Frage nach der Organisation des Wehrersatzwesens, um zunächst einmal nur die wichtigsten Fragen zu erwähnen.
Nun sagt man uns, der Zeitpunkt der heutigen Debatte sei vielleicht etwas unglücklich gewählt. An sich ist das nichts Neues, und es gehört eigentlich schon zu dem Zeremoniell der ersten Lesungen von Wehrgesetzen, daß der Zeitpunkt als inopportun angesprochen wird.

(Sehr gut! und Heiterkeit in der Mitte.)

Ich denke jetzt auch an gewisse Argumente, die draußen in der Öffentlichkeit gebracht worden sind. Da hat man uns gefragt, ob es denn richtig sei,


(Dr. Kliesing)

gerade jetzt, während der Londoner Abrüstungsgespräche, mit diesen Dingen im Parlament zu kommen. Nun, der Stand der Londoner Verhandlungen — ich möchte ausdrücklich sagen: der bedauerliche Stand dieser Verhandlungen — unterstreicht dieses Argument wohl in keiner Weise. Kein Volk der Erde würde glücklicher sein als das deutsche, wenn es zu einer wirklichen globalen Abrüstung käme. Aber angesichts des wahrhaft entmutigenden Standes der Londoner Gespräche müssen wir uns doch ernstlich die Frage vorlegen, ob wir durch einen Verzicht auf die heutige Beratung dem Gedanken der Abrüstung überhaupt einen Dienst oder nicht einen Bärendienst erweisen würden und ob auch durch eine derartige Vorleistung von unserer Seite der Osten nicht viel mehr ermuntert würde, an seiner bisherigen Taktik zermürbender und ergebnisloser Verhandlungen festzuhalten.

(Zuruf von der SPD: Das ist sehr logisch!)

— Allerdings.

(Erneuter Zuruf von der SPD: Ja, ja!)

Was die angebliche Erschwerung der Wiedervereinigung durch den vorliegenden Gesetzenwurf angeht, so glaube ich, meine Damen und Herren, mich in diesem Augenblick damit begnügen zu können, einmal an den Charakter und die Art des Ostberliner Mai-Aufmarsches zu Anfang dieser Woche zu erinnern.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Die Bilder müssen doch geradezu den Gedanken aufzwingen, ob es nicht höchste Zeit ist,

(anhaltende Zurufe von der SPD)

auch auf dem Gebiete der Verteidigung der Bundesrepublik das nachzuholen, was nötig wäre, um den anderen die Wiedervereinigung in ihrem Sinn und damit die Verewigung der gegenwärtigen Zustände in der Zone und ihre Ausbreitung auf die Bundesrepublik zu erschweren.
Ich habe gerade heute morgen einen Bericht von drüben bekommen, der in sehr interessanter Form nachweist, daß beispielsweise — —

(Abg. Eschmann: Da war der Bericht ja gerade rechtzeitig hier!)

— Ja, er ist gerade vor einer Stunde gekommen, Herr Eschmann. Ich bin so menschenfreundlich, daß ich ihn Ihnen sofort darbieten will. Da wird gesagt — —

(Abg. Wehner: Bleiben Sie beim Manuskript!)

— Ich bleibe nicht beim Manuskript; ich bleibe hier bei dem, was ich zu sagen habe. Es wird auch Sie interessieren, Herr Wehner, man sollte an solchen Tatsachen nicht achtlos vorbeigehen: daß beispielsweise die taktische und strategische Ausbildung der Volkspolizeioffiziere nur zu etwa 10 % auf die Verteidigung der Zone, dagegen zu 90 % auf partisanenartige Angriffsaktionen ausgerichtet ist. Das sind Dinge, die wir doch immerhin, sagen wir einmal, zur Kenntnis nehmen sollten. Man kann ja dazu stehen, wie man will, das ist jedem unbenommen, aber man soll sie doch wenigstens nicht lächerlich finden.

(Zuruf von der SPD: Findet ja keiner!)

— Sie haben sich aber doch den Anschein gegeben.
Ehe ich mich nun mit dem Grundproblem der Wehrpflicht befasse, gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, zwei Vorbemerkungen zur meines Erachtens notwendigen Klarstellung. Erstens: In der öffentlichen Diskussion dieses Problems ist seit längerem u. a. die Meinung vertreten worden, es gebe zur Frage Wehrpflicht oder Berufsheer noch eine weitere Alternative, nämlich die Milizverfassung. Ich muß diese Auffassung ganz entschieden zurückweisen, da sie geeignet ist, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Keine Regierung in einem demokratischen Lande wäre in der Lage, auch nur einen Mann zum Milizdienst einzuberufen, wenn ihr die Voraussetzungen dazu — nämlich in der Form eines Wehrpflichtgesetzes — fehlten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Die Milizverfassung steht in keinem Gegensatz zur Wehrpflicht, sondern sie ist eine Form dieser Wehrpflicht. Am klarsten und entschiedensten hat das meines Wissens Karl Kautsky mit den Worten ausgesprochen, — —

(Lachen bei der SPD und Zurufe.)

— Ja, wir interessieren uns auch für die Äußerungen aus Ihrem Lager. Oder ist es etwa Ihr Monopol, Kautsky zu zitieren?

(Abg. Neubauer: Sie sollten nur mehr von ihm lesen! — Heiterkeit links.)

— Habe ich schon getan! Wenn Sie so viel von ihm
gelesen haben wie ich, können Sie zufrieden sein.

(Anhaltende Unruhe bei der SPD.) Also Karl Kautsky sagt folgendes:

Milizsystem bedeutet nicht Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht, sondern sie wird durch es erst voll in Kraft gesetzt.
Die Frage „Stehendes Heer oder Miliz" ist also keine grundsätzliche Entscheidung, sondern eine Frage der wirtschaftlichen, sozialen, aber vor allem verteidigungspolitischen Zweckmäßigkeit. Nun, über die verteidigungspolitische, die militärische Zweckmäßigkeit hat der Herr Minister bereits einiges gesagt. Sollte Sie das nicht überzeugt haben, so ist, glaube ich, mein Freund Berendsen gern bereit und in der Lage, Ihnen dazu noch einige zusätzliche fachliche Argumente zu liefern. Ich hoffe ja, daß Sie nicht nur für politische, sondern auch für fachliche Argumente ansprechbar sind.
Eine zweite Bemerkung! Die Frage nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ist eng gekoppelt mit der Frage nach der personellen Höchststärke der Bundeswehr. Der Herr Minister hat die Auffassung der Bundesregierung auch in dieser Frage bereits dargelegt. Ich verzichte darauf, seine Argumente, die ich übrigens voll anerkenne, zu wiederholen; ich möchte ihnen nur eines hinzufügen.
Meine Damen und Herren, es ist die objektive historische Wahrheit, daß im Gesamtverlauf der Beratungen der Pariser Verträge in diesem Hohen Hause von keiner Seite irgendwann ernstlich bestritten wurde, daß die Verpflichtungen aus dem EVG-Vertrag auf die Pariser Verträge zu übertragen seien.

(Abg. Berendsen: Sehr richtig!)

Im Gegenteil, die Zahl 500 000 und die zu ihrer
Aufbringung erforderliche Einführung der allge-


(Dr. Kliesing)

meinen Wehrpflicht bildeten die ganz selbstverständliche Diskussionsgrundlage, und das zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamten Protokolle der Verhandlungen. Um diese Behauptungen zu beweisen, gestatten Sie mir, Herr Präsident, einiges aus den damaligen Verhandlungen kurz zu zitieren. Zum Beispiel in der ersten Lesung, und zwar in der 62. Sitzung dieses Hohen Hauses vom 16. Dezember 1954, befaßte sich mein Freund Rasner mit der finanziellen Seite des Verteidigungsbeitrags, und er wurde von dem Kollegen Ritzel mit der Frage unterbrochen: „Sind Sie in der Lage, die Behauptung zu entkräften, daß die Erstausstattung der 500 000-Mann-Armee der Bundesrepublik mindestens ca. 60 Milliarden DM kosten wird? Ja oder nein?" — Ich will hier nicht auf die Finanzfrage eingehen, sondern ich habe das zitiert, um Ihnen zu beweisen, daß auch der Kollege Ritzel bei seiner Frage doch von der ganz selbstverständlichen Annahme ausging,

(Lachen bei der SPD)

daß es sich hier um 500 000 Mann handelte.

(Anhaltendes Lachen und Zurufe von der SPD. — Abg. Neubauer: Das ist doch kindisch, was Sie da sagen! — Abg. Wienand meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

— Einen Augenblick! Wenn Sie das als kindisch empfinden, dann hören Sie doch bitte weiter zu, was ich als nächstes zitiere.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214300400
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?

Dr. Georg Kliesing (CDU):
Rede ID: ID0214300500
Im Augenblick möchte ich das nicht, sondern erst nach dem nächsten Zitat.

(Fortgesetzte Zurufe von der SPD. — Abg. Wehner: Die authentischen Texte und nicht solche Zitate! — Abg. Schmidt [Hamburg] : Sie können doch die 500 000 Mann nicht mit Hilfe von Herrn Ritzel beweisen wollen? — Heiterkeit bei der SPD.)

— Nein, aber ich will sie jetzt mit Hilfe der SPD beweisen, Herr Kollege Schmidt.

(Zuruf von der SPD: Geistige Armut!)

— Hören Sie mir doch bitte zu,

(Abg. Wehner: Das müssen wir ja! Leider!)

und seien Sie nicht so besorgt um das, was kommen wird! — Als wenig später in dieser ersten Lesung mein Freund Richard Jaeger sich mit dem Ohne-Mich-Komplex beschäftigte, sagte er, daß man draußen im Lande überall Plakate angeschlagen habe, auf denen zu lesen sei — ich zitiere wörtlich —: „Ergebnis der Pariser Konferenz: 500 000 Deutsche in die Kasernen. Unterschrift: SPD."

(Abg. Wehner: Lesen Sie doch mal den Accord spécial vor! — Abg. Schmidt [Hamburg] : Ist das der Autoritätsbeweis, Herr Kliesing?)

— Über den Accord spécial haben wir uns im Verteidigungsausschuß auch dieses 2. Bundestages unterhalten.

(Abg. Wehner: „Unterhalten"! Lesen Sie vor!)

Das Protokoll der Sitzung aber vermerkt an dieser Stelle: „Zurufe von der SPD: Stimmt doch!" Meine Damen und Herren, was stimmt denn, Ihre heutige Behauptung, daß es sich nicht um 500 000
Mann handle, oder Ihre damalige Behauptung, daß I es sich doch um 500 000 Mann handle?

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

— Meine Damen und Herren von der SPD, ich frage Sie — und bitte, antworten Sie mir darauf klar —: wenn Sie heute ernstlich die Verpflichtung der Bundesrepublik, einen Verteidigungsbeitrag in Höhe von 500 000 zu stellen, bezweifeln, wie kamen Sie dann vor anderthalb Jahren dazu, an sämtlichen Litfaßsäulen der Bundesrepublik mit Ihrer Unterschrift zu verkünden: Die Pariser Verträge bedeuten 500 000 Deutsche in die Kasernen?!

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214300600
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?

Dr. Georg Kliesing (CDU):
Rede ID: ID0214300700
Ja, bitte!

Helmut Schmidt (SPD):
Rede ID: ID0214300800
Herr Kollege Kliesing, daß Sie unseren Plakaten diese Autorität beimessen, ist sehr schmeichelhaft. Aber wäre es nicht viel interessanter, wenn Sie ein Dokument vorlesen könnten, welches die Bundesrepublik ratifiziert hat, aus dem die von Ihnen behauptete Verpflichtung klar und einwandfrei hervorgeht?

Dr. Georg Kliesing (CDU):
Rede ID: ID0214300900
Nun, diese Dinge sind in der Behandlung der Pariser Verträge des weiteren besprochen worden.

(Lebhafte Zurufe von der SPD: Vorlesen!)

— Moment!

(Zuruf von der SPD: Kann er nicht!)

— Wir stehen hier in einer ganz anderen Debatte.

(Lachen bei der SPD.)

Ich möchte Ihnen etwas anderes vorlesen.

(Abg. Arnholz: Nur, was Ihnen paßt!)

— Tun Sie doch nicht so, als wenn Ihnen heute die Dinge zum erstenmal gesagt würden.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Schröter [Wilmersdorf]: Zu schwach auf der Brust! — Anhaltende Zurufe von der SPD.)

— Nein, keineswegs, mein lieber Herr Kollege!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214301000
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?

Dr. Georg Kliesing (CDU):
Rede ID: ID0214301100
Bitte!

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214301200
Herr Kollege Kliesing, ist Ihnen nicht bekannt, daß die Bundesregierung sich unter anderem auf die Notwendigkeit der Einführung der Wehrpflicht deswegen beruft, weil wir durch internationale Verträge zur Aufstellung von 500 000 Mann verpflichtet seien?

Dr. Georg Kliesing (CDU):
Rede ID: ID0214301300
Selbstverständlich; ich werde darauf noch zu sprechen kommen.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214301400
Darf ich Sie weiter fragen: Halten Sie es dann wirklich für ein unbilliges Verlangen dieses Parlaments, zu fordern, daß ihm diese Vereinbarungen mitgeteilt werden, und zwar im offiziellen Wortlaut?


Dr. Georg Kliesing (CDU):
Rede ID: ID0214301500
Ich glaube, daß erstens einmal der Herr Verteidigungsminister dazu schon einiges gesagt hat,

(Lachen bei der SPD)

was Sie bitte zur Kenntnis nehmen wollen.

(Zurufe von der SPD.)

Zweitens, Herr Professor Schmid, ist über diese Frage des Accord spécial einschließlich der 500 000 Mann bereits im Verteidigungsausschuß gesprochen worden.

(Lachen bei der SPD. — Zuruf von der SPD: Texte!)

Drittens glaube ich, im Verlaufe meiner Ausführungen noch einiges dazu sagen zu können.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214301600
Glauben Sie wirklich, Herr Kollege, daß es parlamentarischer Gepflogenheit entspricht, sich mit der bloßen Behauptung der Regierung zu begnügen, es liege eine Verpflichtung vor? Glauben Sie nicht, daß das Parlament ein Anrecht darauf hat, diese Verpflichtung auf Grund der Dokumente kennenzulernen?

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Georg Kliesing (CDU):
Rede ID: ID0214301700
Herr Professor Schmid, ich bin keineswegs der Ansicht, daß die Bundesregierung

(Abg. Dr. Mommer: Dann geben Sie dem Herrn Bundeskanzler das Wort!)

sich damit begnügt, das hier zu behaupten, angesichts der unbestreitbaren Tatsache, daß Sie selbst und Ihre Freunde bei den Beratungen der Pariser Verträge

(Zurufe von der SPD : Sie weichen wieder aus!)

das als ganz selbstverständliche Diskussionsgrundlage angesehen haben.

(Abg. Erler: Das ist doch ein Eiertanz! Der spottet jeder Beschreibung! — Weitere Zurufe von der SPD.)

Nun aber lassen Sie mich fortfahren und lassen Sie mich, auch wenn es Ihnen nicht gefällt, Ihnen einiges aus der zweiten Lesung dieses Vertragswerkes sagen. Gestatten Sie mir, den mündlichen Bericht des Kollegen Brandt zu zitieren, der im Hinblick auf die Frage der Verpflichtung der Bundesrepublik folgendes sagte: aus der tatsächlichen organisatorischen Entwicklung der NATO ergebe sich mit großer Wahrscheinlichkeit ein Automatismus, auf den im Vertrag nur mit Rücksicht auf das Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten habe verzichtet werden müssen.

(Abg. Mellies: „Mit großer Wahrscheinlichkeit"!)

Die Beistandspflicht vor allem aber der Westeuropäischen Union setze geradezu das Vorhandensein militärischer Streitkräfte voraus. So richtig es sei — so argumentierte die Mehrheit —, daß über den Umfang des deutschen Beitrags nur mit deutscher Zustimmung entschieden werden könne, so unbestreitbar sei es andererseits, daß die Haltung der anderen Partner zur Bundesrepublik davon abhängig sei, ob die Bundesrepublik in angemessener Weise ihren Verpflichtungen nachkomme.

(Abg. Mellies: Was wollen Sie damit beweisen? — Weitere Zurufe von der SPD: Na und?)

— Nun, über den Begriff „angemessen" kann man natürlich streiten.

(Lachen bei der SPD. — Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Das entscheidet der Verteidigungsminister!)

Ich werde mich nachher noch damit befassen.
In der gleichen zweiten Lesung wurde hier eine sehr ausgiebige Debatte über das Problem „Jugend und Wehrpflicht" geführt, an der sich Sprecher fast aller Fraktionen des Hohen Hauses beteiligten: der Kollege Wienand, der Kollege Kutschera, der Kollege Majonica. Ich möchte Sie fragen: Was hätte diese Debatte damals überhaupt für einen Sinn und eine Berechtigung gehabt, wenn nicht das Problem der allgemeinen Wehrpflicht, d. h. des Wehrdienstes der deutschen Jugend, zur Diskussion gestanden hätte?

(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Aber natürlich! — Abg. Wehner: Lesen Sie das nun vor? — Weitere Zurufe von der SPD.)

In der gleichen zweiten Lesung führte Kollege Erler aus:
In demselben Ausmaße, in dem eine deutsche Streitkraft von 500 000 Mann aufgestellt wird, in demselben Ausmaße werden die amerikanischen Heerestruppen um 400 000 Soldaten verringert.
Ohne auf diese Argumentation des Kollegen Erler hier eingehen zu wollen, möchte ich feststellen, daß auch er von 500 000 Mann ausging.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214301800
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?

Dr. Georg Kliesing (CDU):
Rede ID: ID0214301900
Nein, ich möchte jetzt wenigstens diesen Abschnitt zu Ende bringen.

(Zuruf von der SPD: Das ist auch besser!)

In der dritten Lesung wurde es an einer anderen Stelle sehr klar und deutlich, daß es sich nicht nur um 500 000 Mann, sondern auch um die Frage der allgemeinen Wehrpflicht handle.

(Abg. Hansen [Köln] : Sie zitieren immer die falschen Texte!)

Es war damals der Kollege Dehler, der in der Schlußaussprache ausführte:
Etwas Positives möchte ich für meine Freunde feststellen, was wir in diesen Verträgen sehen: das Bekenntnis zum Wehrwillen, zur Wehrhaftigkeit. Es gibt keinen freiheitlichen Rechtsstaat, der auf Wehrlosigkeit gegründet ist.
Er kommentierte seine Auffassung dann durch die
Zitierung des bekannten Wortes: „Die allgemeine
Wehrpflicht ist das legitime Kind der Demokratie."
Wenn man das alles überliest und dann weiterhin liest, was so heute gesagt wird über angebliche Verpflichtungen und Nichtverpflichtungen, dann muß man sich doch schon wundern, wie kurz das menschliche Gedächtnis ist.

(Sehr gut! in der Mitte. — Zurufe von der SPD.)

Jedenfalls, meine Damen und Herren, geht aus den Beratungen der Pariser Verträge in diesem Hohen Hause klar und unbestritten die damalige Auffassung des Deutschen Bundestags über die Höhe der zu übernehmenden Verpflichtung hervor,

(Zuruf von der SPD: Text vorlesen!)



(Dr. Kliesing)

und man sollte schon um der Würde des Parlaments willen und wegen der Glaubhaftigkeit seiner Aussagen, auf die wir Wert legen müssen, nicht daran deuteln und drehen.

(Beifall in der Mitte. — Zuruf von der SPD: Lesen Sie doch vor! — Abg. Schröter [Wilmersdorf]: Was man schwarz auf weiß besitzt . . . ! — Weitere Zurufe von der SPD: Er hat es nicht! — Geistiges Eintopfgericht! — Abg. Wehner: „Eintopfgericht" ist kein Grund für einen Ordnungsruf, Herr Präsident! — Heiterkeit.)

Wenn wir nun von den 500 000 Mann ausgehen,

(Anhaltende Zurufe. — Glocke des Präsidenten.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214302000
Vielleicht gut, daß ich es nicht verstanden habe, Herr Wehner!

(Abg. Wehner: „Geistiges Eintopfgericht"!)


Dr. Georg Kliesing (CDU):
Rede ID: ID0214302100
Jeder nach seinem Geschmack!

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214302200
Ich darf doch bitten, mit derartigen parlamentarischen Glossierungen etwas vorsichtiger zu sein.

(Sehr gut! in der Mitte und Heiterkeit.)


Dr. Georg Kliesing (CDU):
Rede ID: ID0214302300
Meine Damen und Herren, eines dürfte jedenfalls klar sein: Wenn man von einem Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik in der Höhe von 500 000 Mann spricht — es dürfte Ihnen ja weithin unbenommen sein, diese Verpflichtung zu bezweifeln —, dann muß man sich auch darüber im klaren sein, daß dieser Beitrag nur auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht geleistet werden kann. In diesem Punkte darf ich mich auf den Kollegen Erler berufen, der in seiner im Jahre 1952 geschriebenen Broschüre „Soll Deutschland rüsten?" schreibt: Es ist ein Rechenexempel, daß ohne allgemeine Wehrpflicht das vorgesehene deutsche Kontingent gar nicht aufgebracht werden kann. — Ich glaube, Herr Kollege Erler, wenigstens in dieser Frage sind wir uns einig. — In der gleichen Broschüre fährt Kollege Erler fort:
Der Vertrag
— er spricht vom EVG-Vertrag —
legt die Wehrpflicht fest und bestimmt eine einheitliche Dauer. Auch damit sind viele Diskussionen in Deutschland gegenstandslos geworden. Es ist immerhin nützlich, zu wissen, — —

(Zuruf von der SPD: Wird das behauptet?)

— Warum? Gefällt Ihnen das nicht?

(Abg. Wehner: Natürlich gefällt uns das! Sie glauben nicht, wie sehr uns Ihre Rede gefällt! — Beifall und Heiterkeit bei der SPD.)

— Freut mich! Sehen Sie, Herr Kollege Wehner, ich bin es ja nicht, der erklärt, daß damit die Diskussionen gegenstandslos geworden seien, sondern es ist der Kollege Erler, der dies erklärt. —
Es ist immerhin nützlich, zu wissen, daß ein Ja zum Verteidigungsbeitrag auch ein Ja zur allgemeinen Wehrpflicht in sich schließt.

(Zurufe von der SPD.)

— Meine Damen und Herren, ich glaube, Sie müssen nun schon anerkennen, daß diejenigen, die für die Verträge gestimmt haben, auch heute für die allgemeine Wehrpflicht eintreten müssen, wenn sie nicht bei allen vernünftigen Menschen im In- und Ausland den Eindruck erwecken wollen, sie wollten sich vor den eingegangenen Verpflichtungen drücken.

(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] : Die sie gar nicht kannten!)

Art. 3 des NATO-Vertrages — der Herr Minister sprach bereits davon — verpflichtet die Mitglieder, die eigene und gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe zu erhalten und fortzuentwickeln. Glaubt man denn wirklich, daß irgendeiner unserer Verbündeten angesichts der Tatsache, daß ihr Durchschnittsaufkommen an Soldaten 1,4 % der Bevölkerung ausmacht, ja daß einzelne dieser Staaten, wie der Herr Minister vorhin ausführte, sogar 1,8 und 2 % aufbringen, noch an unseren guten Willen, im Sinne der Verpflichtungen des Art. 3 zu handeln, glauben würde, wenn wir erheblich unter die 1-%-Relation gehen würden?

(Zuruf von der SPD: Aber das sind doch falsche Relationen!)

Glaubt denn irgend jemand, daß ein derartiges Verhalten auf unserer Seite die Entschlossenheit unserer Verbündeten, die deutsche Wiedervereinigung herbeizuführen, anspornen würde?

(Abg. Wehner: Nennen Sie doch das Wort nicht in dem Zusammenhang!)

Es ist wirklich nicht einzusehen, wieso eine brutale Drosselung des vorgesehenen deutschen Verteidigungsbeitrages die Chancen für eine Wiedervereinigung erhöhen sollte.
Nun ein Wort zu den Verteidigungsplanungen der NATO. Wir haben kürzlich im „Rheinischen Merkur" den Artikel des Generals Gruenther gelesen, der auch im Bulletin veröffentlicht wurde.

(Abg. Wienand: Der war doch alt!)

Es ist wohl nicht anzunehmen, daß General Norstad über diese Fragen wesentlich anders denken wird. Gestatten Sie, Herr Präsident, daß ich einiges aus dem Artikel von General Gruenther wieder einmal in Erinnerung rufe.

(Abg. Schmidt [Hamburg] : Statt des Vertrages lesen Sie den „Rheinischen Merkur" vor! Das ist vielleicht ein Ersatz!)

— Herr Kollege Schmidt, wenn Sie etwas aufmerksam gewesen wären, dann würden Sie wissen, daß ich mich zur Zeit mit dem Verteidigungsplan der NATO befasse.

(Zurufe von der SPD.) Wir sind der Auffassung,

— so schreibt General Gruenther —
daß wir nach der Aufstellung der deutschen Streitkräfte, der zwölf Divisionen, der 1300 Maschinen der taktischen Luftstreitkräfte und des Marinekontingents, in der Lage sein werden, Westeuropa einschließlich der Bundesrepublik Deutschland gegen einen auf breiter Front geführten Angriff verteidigen zu können. Wir der Meinung, daß sie in drei bis vier Jahren voll einsatzfähig sein werden. Wieviel Zeit verstreichen wird, ehe diese Streitkräfte einsatzbereit sein können, hängt weitgehend von dem deutschen Volke und der deutschen Regierung ab.


(Dr. Kliesing)

An einer anderen Stelle sagt er:
Man muß vor allem erkennen, daß wir nach dem Wirksamwerden des deutschen Verteidigungsbeitrages in der Lage sein werden, eine auf breiter Front geführte Aggression niederzuschlagen, und das entspricht der in unseren Plänen etwa vorgesehenen Stärke unserer Kampfkraft.

(Zuruf von der SPD: Der Herr erhalte Deinen Glauben! — Abg. Schmidt [Hamburg] : Ist Herr Gruenther Ihre einzige Autorität, Herr Kliesing?)

— Nein, keineswegs! — Damit dürfte doch wohl etwas Entscheidendes gesagt sein.

(Abg. Schmidt [Hamburg]: Das Interview war doch schon ein Jahr alt!)

Daraus ergibt sich klipp und klar, daß die gegenwärtigen Verteidigungsplanungen insbesondere hinsichtlich der Verteidigung der Bundesrepublik den deutschen Beitrag in der von General Gruenther angegebenen Stärke einkalkulieren. Daraus ergibt sich weiterhin, daß bei Wegfall eines erheblichen Teiles dieses Beitrages die gegenwärtige Verteidigungsplanung der NATO insbesondere hinsichtlich der Verteidigung der Bundesrepublik zusammenbrechen würde und vielleicht dann durch den Einsatz strategischer Atomwaffen von der ersten Stunde an ersetzt werden müßte. Das aber würde das Ende unseres Volkes bedeuten. Dann möchte ich, selbst auf die Gefahr hin, das Problem etwas zu vereinfachen, sagen: dann schon lieber Wehrpflicht als Wasserstoffbomben!

(Zustimmung in der Mitte. — Lachen bei der SPD.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214302400
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?

Dr. Georg Kliesing (CDU):
Rede ID: ID0214302500
Nein, jetzt nicht.

(Lachen bei der SPD. — Abg. Wehner: Er kann nicht! Verschonen wir ihn!)

Nun sagt man uns, das wäre alles gut und wohl, aber man übersehe, daß die NATO-Planung von 1950/51 einschließlich der eingeplanten 500 000 deutschen Soldaten militärisch längst ebenso veraltet sei wie die allgemeine Wehrpflicht. Gestatten Sie mir dazu zwei Fragen.
Erstens. Wenn die allgemeine Wehrpflicht wirklich so veraltet ist, wie man sagt, weshalb ziehen dann die Generalstäbe in aller Welt, in Ost und West, nicht die Konsequenzen daraus?

(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt]: Weil sie das meistens zu spät tun, Herr Kliesing!)

— Nun, Herr Professor Schmid, dann bekennen Sie sich mit dieser Auffasung zu der Meinung, daß moderne strategische Weisheit einzig und allein in Ihrem Lager und dem Ihrer Gesinnungsfreunde zu finden sei und nicht in den Generalstäben aller Welt.

(Abg. Schmidt [Hamburg]: Strategische Weisheit hat nur der Bundeskanzler! Fragen Sie ihn mal!)

— Nun, meine Damen und Herren, diese Argumente scheinen Sie doch sehr zu interessieren, sonst würden Sie nicht so häufig versuchen, mich zu stören.

(Lachen und Zurufe bei der SPD.)

Warum unterhalten wohl die Ostblockstaaten weiterhin ihre Millionenheere? Weshalb behält denn die Sowjetunion, die doch über alle atomaren Waffen verfügt und die nach dem Urteil des amerikanischen Verteidigungsministers Wilson auf dem Sektor der Atomausrüstung bald die USA eingeholt und nach Meinung ihrer Englandbesucher in der Atomphysik Großbritannien weit überflügelt hat, trotz ihres erheblichen Mangels an Arbeitskräften in der Versorgungsindustrie die angeblich veraltete dreijährige Dienstzeit bei?
Blicken wir zum Westen! Weshalb gibt es in fast allen NATO-Ländern und in fast allen neutralen Ländern der westlichen Welt noch die Wehrpflicht? Weshalb besteht sie insbesondere noch in Großbritannien und in den USA

(Abg. Wienand: Noch!)

entgegen allen Traditionen dieser Länder erstmalig in Friedenszeiten?
Nun ein Wort zu Großbritannien. Man sagt uns — und wir werden das wahrscheinlich heute noch zu hören bekommen —, in Großbritannien stehe die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht längst auf dem Programm.

(Sehr wahr! links.)

Wir hatten ja jüngst in Königswinter bei den deutsch-englischen Gesprächen Gelegenheit, uns auch danach zu erkundigen. Ich habe von dieser Möglichkeit der Erkundigung bei Vertretern beider englischen Parteien Gebrauch gemacht. Was dabei zutage trat, läßt sich am besten mit den Worten eines Engländers wiedergeben, der übrigens auch in Ihren Kreisen ein gutes Renommee besitzt. Der sagte: Es stimmt schon, daß die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht in England auf dem Programm steht, etwa in dem Sinne, wie die Verwirklichung des Christentums seit 2000 Jahren auf dem Programm steht.

(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt]: Oh, das hätten Sie nicht sagen sollen!)

— Das hat ein Engländer gesagt,

(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt]: Das hätten Sie nicht zitieren dürfen!)

und er kommentierte das in dem Sinne, Herr Professor Schmid: Das System der allgemeinen Wehrpflicht widerspricht allen englischen Traditionen und ist infolgedessen in der Meinung der englischen Öffentlichkeit irgendwie ein Fremdkörper in der politischen Wirklichkeit; beide Parteien drängen deshalb danach, wenn möglich dem Wunsche des Volkes nachzukommen und sie abzuschaffen. Aber die Mehrzahl der Abgeordneten beider Parteien ist sich längst darüber einig, daß die gegenwärtige weltpolitische Situation eine derartige Maßnahme einfach nicht zuläßt und daß man daher erst nach der grundlegenden Veränderung der weltpolitischen Situation an die Abschaffung der Wehrpflicht in England denken könne.

(Lachen und Zurufe links.)

Nun, meine Damen und Herren, Sie mögen die Meinung vertreten, daß das strategische Denken sämtlicher Generalstäbler der Welt veraltet sei; jedenfalls müssen Sie zur Kenntnis nehmen, daß dieses gegenwärtige stategische Denken in all diesen Staaten keineswegs allein auf dem Einsatz der atomaren Waffen basiert und daß die konventionellen Waffen ebensowenig als überholt gelten wie die allgemeine Wehrpflicht.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214302600
Herr Abgeordneter, ich muß Sie pflichtgemäß fragen, ob Sie eine Frage gestatten.

(Zurufe von der Mitte: Nein!)


Dr. Georg Kliesing (CDU):
Rede ID: ID0214302700
Nein! Also, Herr Kollege, — —

(Zuruf von der Mitte: Dieses Spiel muß endlich aufhören! — Lachen bei der SPD. — Zuruf links: Sonst werden aber doch Fragen gestattet! —Abg. Berendsen: Nicht so oft, Herr Kollege! — Abg. Frau Dr. Rehling: Sie können ja hinterher reden!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214302800
Ich bitte, zur Kenntnis zu nehmen, daß der Abgeordnete nicht gefragt werden möchte.

(Anhaltende Zurufe.)

— Bitte, lassen Sie ihn doch aussprechen.

Dr. Georg Kliesing (CDU):
Rede ID: ID0214302900
Man kann ja aus dieser Taktik, die Sie hier gegenüber meinen Ausführungen einschlagen, gewisse Rückschlüsse ziehen, und diese Rückschlüsse veranlassen einen dann zu gewissen Konsequenzen.

(Zurufe links.)

Damit komme ich zu der zweiten Frage. Wer weiß denn überhaupt, ob die atomaren Waffen eine künftige kriegerische Auseinandersetzung entscheiden würden? Bisher hat in der Weltgeschichte noch kaum eine Waffe allein einen Krieg entschieden.

(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt]: Hiroshima! — Weiterer Zuruf von der SPD: Sie hätten Geschichte studieren sollen!)

Wer wagt es denn, genau vorher zu sagen, daß die atomaren Waffen überhaupt eingesetzt werden?

(Abg. Baur [Augsburg]: Sie harmloser Mensch, Sie!)

— Warten Sie mit Ihren voreiligen Bemerkungen noch ein paar Augenblicke, bis ich Ihren Parteifreund Brandt aus Düsseldorf zitiere.

(Abg. Wehner: Sie beschäftigen sich zuviel mit sozialdemokratischen Zitaten! Sie sind schon ganz „zersetzt"!)

— Herr Kollege Wehner, ich weiß nicht, ob das Niveau Ihrer Zwischenrufe dem Ernst der Auseinandersetzung entspricht.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.)

Aber ich überlasse es selbstverständlich Ihnen, das Niveau Ihrer Zwischenrufe weiterhin zu bestimmen.
Seit Hiroshima haben verschiedene blutige und grausame Kriege in der Welt stattgefunden, ohne daß Atomwaffen entweder taktischer oder strategischer Art eingesetzt worden wären. Schließlich wissen wir alle, daß das Zeitalter der nationalen Kriege vorbei ist und daß an ihre Stelle der Streit der Ideologien getreten ist, ein Streit, der, wenn er die Form kriegerischer Auseinandersetzung annimmt, mehr und mehr den Charakter eines Bürgerkriegs hat. Bezeichnend für gewisse Pläne und Hoffnungen im Osten scheint es mir zu sein, daß noch vor einigen Wochen auf der dritten Parteikonferenz der SED der Parteisekretär Wandel wiederum die These zur Anerkennung brachte, ein gewaltsamer kommunistischer Umsturz sei ein durchaus demokratischer Vorgang.
Dies und vieles andere läßt es verständlich erscheinen, daß in Politik, Wissenschaft und vor allem in Kreisen von Militärfachleuten sich die Stimmen derer mehren, die der Auffassung sind, daß der Einsatz atomarer Waffen in einem künftigen Kriege mehr und mehr zweifelhaft werde. Noch jüngst erklärte eben der Staatssekretär Brandt, ein anerkannter Fachmann, nach seiner innersten Überzeugung sei der Einsatz atomarer Waffen durchaus fraglich, da hierdurch politische Entscheidungen hervorgerufen würden, die in ihrem Ausmaß überhaupt nicht abzusehen seien.

(Abg. Wienand: Was sagt Gruenther dazu?)

Deshalb müsse zunächst der Schutz der Bevölkerung gegen herkömmliche Waffen sichergestellt werden.

(Abg. Schmidt [Hamburg]: Sehr richtig! Bauen Sie endlich Luftschutzbunker!)

Was aber den herkömmlichen Waffen recht ist, ist der herkömmlichen Wehrverfassung billig.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, was Liddell Hart, der von den Anhängern der These, die allgemeine Wehrpflicht sei veraltet, stets als Kronzeuge ins Feld geführt wird, neuerdings zur Frage der konventionellen Waffen zu sagen hat. In der Aprilnummer der „Schweizer Monatshefte" untersucht er kritisch die Verteidigungsplanungen des Westens und kommt dabei zu folgenden Schlußfolgerungen. Er meint, die Wasserstoffbombe, der große Abschrecker, wie er sie nennt, sei ein wenig wirksames Abschrekkungsmittel insbesondere gegen kleinere Angriffe und eine sehr unsichere Versicherung gegen die Gefahr einer Ausbreitung bis zu dem Punkt, wo das allgemeine Hineingleiten in einen selbstmörderischen Atomkrieg beginne. Nachdem Liddell Hart sich dann weiterhin mit der sogenannten abgestuften Aktion befaßt, worunter er die Verwendung der H-Bomben nur im äußersten Falle versteht, kommt er schließlich zu der Feststellung, die sicherste Stufe des Vorgehens bei der Verteidigungsplanung würde jedoch in der Schaffung — ich zitiere jetzt wörtlich — einer genügenden Zahl Erdtruppen liegen, die auch ohne Atomwaffen jeden Angriff abschlagen könnten. Dabei würden sie den Gegner eben auch schon vom Versuch eines Angriffs abhalten, und zwar auch eines kleineren. Die Lösung dieser Aufgabe betrachtet Liddell Hart weitgehend als ein Problem der Organisation.
Dies führt uns wieder zu der Frage, ob es denn außer der Form des stehenden Heeres, das in eine Vielzahl kleiner, selbständiger, feuerstarker und hochbeweglicher Einheiten gegliedert ist, überhaupt eine Organisationsform gibt, die den an sie gestellten Aufgaben gewachsen ist.

(Abg. Schmidt [Hamburg]: Dann reichen Ihre 500 000 gar nicht aus, dann müssen Sie noch viel mehr haben, Herr Kliesing!)

Die Schwierigkeit, vor der die westlichen Planer einer militärischen Verteidigung heute stehen — meine Damen und Herren, ich bitte Sie, diesen Gedanken wirklich mit Ernst durchzudenken —, ist doch im Grunde die, daß sie davon ausgehen müssen, daß ein potentieller Angreifer nicht nur — wie


(Dr. Kliesing)

früher — Ort und Zeitpunkt des Angriffs, sondern nun auch den Charakter der Angriffsmittel und -waffen bestimmen kann. Daraus ergibt sich für die verantwortlichen Planungsstellen in den westlichen Hauptquartieren die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, daß einem jeden Angriff mit einer ausreichenden Chance auf erfolgreiche Verteidigung entgegengetreten werden kann, ganz gleich, ob es sich dabei um einen Angriff mit interkontinentalen, atomaren oder mit konventionellen Waffen handelt, ob der Angriff mit strategischen Atomwaffen eingeleitet wird oder ob er den Charakter einer bürgerkriegsähnlichen, partisanenkriegsähnlichen Situation trägt, wie wir sie etwa noch aus den zwanziger Jahren in Erinnerung haben.
Es wäre jedenfalls sehr bedenklich, wenn die westliche Verteidigungsplanung ihre Aussichten einzig und allein mit dem Hinweis auf die Stärke der strategischen Luftwaffe der Amerikaner begründen würde. Eine Vernachlässigung der konventionellen Waffen und der konventionellen Heeresformen im Westen würde den Westen in jedem Falle, auch in dem Falle, daß ein Angriff von Osten her nur mit konventionellen Waffen erfolgen würde, unbedingt dazu zwingen, von der ersten Stunde an die schweren atomaren Waffen zur Verteidigung einzusetzen, worauf natürlich die andere Seite die Antwort nicht schuldig bleiben würde. In einem solchen Falle wäre es also nicht etwa die Sowjetunion, sondern wäre es der Westen, der für sich in Anspruch nimmt, Freiheit und Menschenwürde zu schützen, der zuerst zur Anwendung dieser Mittel apokalyptischer Schrecken greifen würde, eben weil er dazu gezwungen wäre, weil er die überkommenen Formen der Wehrverfassung und der Bewaffnung vernachlässigt hätte. Ich brauche wohl nicht näher darauf einzugehen, daß eine solche Situation für den Westen nicht nur tragisch, sondern auch moralisch fragwürdig wäre.
Gewiß, die Aufrechterhaltung der allgemeinen Wehrpflicht schließt die Möglichkeit eines Angriffs mit atomaren Waffen keineswegs aus, weil, wie ich bereits sagte, der Angreifer die Wahl der Mittel hat. Aber die Aufrechterhaltung der allgemeinen Wehrpflicht schafft doch wenigstens die Möglichkeit, einem Angriff mit konventionellen Waffen in der gleichen Form zu begegnen, und bietet damit eine gewisse Chance, die Möglichkeit des Atomkrieges zu verringern. Umgekehrt wird man natürlich sagen müssen: wer die allgemeine Wehrpflicht ablehnt, erhöht das Risiko des Atomkrieges.

(Abg. Wehner: Haben Sie ein Zitat dafür? — Abg. Wienand: Ist das nicht sehr leichtsinnig?)

Nun aber, meine Damen und Herren, möchte ich mit allem Nachdruck darauf hinweisen, daß wir den Gedanken der allgemeinen Wehrpflicht keineswegs nur aus den erwähnten außen- und verteidigungspolitischen Gründen vertreten, sondern daß uns diese Frage unserer künftigen Wehrverfassung in ganz entscheidendem Maße ein staatsbürgerliches Anliegen ist. Vor einigen Wochen las man in einer Wochenzeitung, es sei sehr merkwürdig, daß in gewissen Kreisen, die sich in früheren Jahren sehr bemüht hätten, den Nachweis zu erbringen, daß die Reichswehr ein Staat im Staate gewesen sei, heute betretenes Schweigen herrsche, wenn man auf diese Dinge zu sprechen komme. Nun, wie dem auch sei: dadurch, daß man die Probleme totschweigt, schafft man sie nicht aus der Welt. Gewiß, die Geschichte beweist uns, daß die allgemeine Wehrpflicht sich nicht immer und überall als das legitime Kind der Demokratie benommen hat. Aber der Mißbrauch einer Idee läßt nicht den Schluß zu, daß die Idee an sich falsch sei.
In der Vergangenheit ist es uns Deutschen nicht gelungen, die politischen und sozialen Folgerungen aus dem Wesen der allgemeinen Wehrpflicht zu ziehen. Für das Schicksal unserer Demokratie wird es mit entscheidend sein, ob es der Bundeswehr gelingt, die Versäumnisse und Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Es erscheint uns jedoch sehr fraglich, ob einer Bundeswehr, die sich nur aus freiwillig dienenden Berufssoldaten zusammensetzen würde, die Lösung dieser schweren Aufgabe überhaupt zugemutet werden könnte. Es braucht dies keineswegs eine Frage des guten Willens der Beteiligten zu sein, sondern die Frage ist, ob eine in sich abgekapselte soldatische Gemeinschaft selbst gegen den Willen ihrer Mitglieder auf die Dauer nicht schon aus der Natur der Sache heraus in der Gefahr schwebt, eine Sonderstellung im Volke einzunehmen, eine eigene Mentalität zu entwickeln, die der des Volkes fremd sein muß, und schließlich zum Staat im Staate zu werden, vor allem dann, wenn diese Soldaten das Bewußtsein haben müssen, daß sie die einzigen sind, denen im Ernstfalle die Verteidigung des Volkes obliegen würde, weil die anderen Staatsbürger mangels Ausbildung dafür nicht in Frage kommen würden.
Es ist daher die Frage zu stellen, ob alle diese Gefahren nicht besser mit einem Wehrpflichtheer vermieden werden können, in das nach dem Willen der Bundesregierung in vierteljährlichen Abständen junge Menschen aus dem zivilen Arbeitsleben hereinströmen, die das Klima der Fabriken und Werkstätten,

(Abg. Wehner: Vorsichtig!)

der bäuerlichen Wirtschaften und der städtischen Büros in die Kasernen hineintragen, die auch dort in den Kasernen das Bewußtsein haben, daß ihre Militärdienstzeit nur ein Durchgang sein soll und daß sie wieder in das zivile Arbeitsleben zurückkehren werden. Diese jungen Menschen können nachher draußen erzählen, wie es in der neuen Bundeswehr aussieht, ob gut oder schlecht,

(Heiterkeit bei der SPD)

wes Geistes Kind diese Bundeswehr ist, und sie können dann dazu beitragen, daß diesmal das Problem gemeistert wird, an dem die Weimarer Republik mit gescheitert ist, nämlich die Herstellung einer Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens zwischen Volk und Bundeswehr.
Man sollte nicht sagen, diese Probleme seien im vorliegenden Fall bereits durch die Ergänzungen unseres Grundgesetzes gelöst, sie seien nicht mehr so schwierig, weil wir neuartige Formen der parlamentarischen Kontrolle geschaffen hätten. Ich unterschätze, wie Sie wissen, wie insbesondere die Kollegen aus dem Verteidigungsausschuß wissen, die Bedeutung der angesprochenen verfassungsrechtlichen Bestimmungen keineswegs und halte die parlamentarische Kontrolle für außerordentlich wichtig. Aber wir sollten uns doch darüber klar sein, daß Maßnahmen der parlamentarischen Kontrolle sich nur mit handgreiflichen Tatbeständen befassen können und wenig geeignet sind, das Klima, das doch z. B. in der Reichswehr entscheidend war und das auch in der Bundeswehr wieder entscheidend sein wird, in dem richtigen Geiste zu


(Dr. Kliesing)

schaffen; und verfassungsrechtliche Bestimmungen können gewiß vieles Wichtige bewirken, aber sie stellen keinen sicheren Schutz gegen das Aufkommen unerwünschter Mentalitäten dar.
Schließlich müssen wir uns angesichts der weltpolitischen Situation und der außenpolitischen und der geistig-ethischen Situation unseres eigenen Volkes die Frage vorlegen, die meines Erachtens die entscheidende überhaupt ist: Läßt sich angesichts der Bedrohung, in der wir leben, einer Bedrohung, die den Menschen erstmals in seiner Geschichte an den Rand seiner personalen Existenz — ich meine das sowohl im physischen wie geistig-sittlichen Sinne— gedrängt hat, die Verteidigung der Freiheit und Menschenwürde überhaupt noch als Standesangelegenheit nach draußen hin dokumentieren? Wir kennen die drohenden Gefahren einer geistig-sittlichen Verflachung. Werden diese Gefahren insbesondere im Hinblick auf unsere Jugend nicht gerade hochgezüchtet, wenn man dem Menschen durch das Verhalten des Staates das Empfinden suggeriert, die Verteidigung der Freiheit brauche ihn nicht zu kümmern, dafür habe man die Freiwilligen, das sei Aufgabe einer Leibwache, für die man ja seine Steuern zahle? Man muß sich die ernste Frage vorlegen, ob mit dem Aufkommen derartiger Mentalitäten, die leider heute in Deutschland keineswegs außerhalb des Bereichs des Möglichen liegen, nicht die Freiheit selbst schon in tödlicher Gefahr wäre. Es sei hier als selbstverständlich nur am Rande bemerkt, daß es sich angesichts der Bedeutung der Frage der Wehrpflicht für das gesamte staatsbürgerliche Ethos schon um der Würde der Freiheit willen verbietet, die Fragen dieses Gesetzentwurfs mit einem leichten Schielen auf die nächstjährigen Bundestagswahlen zu betrachten. Wer die Frage der Wehrpflicht unter dem Aspekt entscheidet, eine möglichst populäre Wahlparole zu haben, der spekuliert auf die Instinkte der Bequemlichkeit und der Lustlosigkeit und der legt damit zugleich die Axt an die Wurzel unserer Demokratie.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ein paar Worte nur zu den übrigen Hauptfragen des Gesetzentwurfs. Die Frage der Dauer der Grundausbildung wird im Verteidigungsausschuß sehr gründlich zu prüfen sein. Ich habe bereits vor einigen Wochen an einer anderen Stelle meine grundsätzliche Auffassung mit den Worten dargelegt: so lange wie aus verteidigungspolitischen Gründen notwendig, so kurz wie möglich aus sozialen und wirtschaftlichen Gründen.
Was das Wehrersatzwesen und die Organisation betrifft, so begrüßen wir die in dem Gesetzenwurf zutage getretene Tendenz, der Organisation des Wehrersatzwesens einen rein zivilen Charakter zu geben und sie von der Wehrverwaltung zu trennen.
Noch ein Wort zur Frage der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen. Der Gesetzentwurf geht über die Regelung einiger anderer Staaten, etwa der USA, die bekanntlich nur religiöse Überzeugung anerkennen, hinaus und gesteht das Recht der Kriegsdienstverweigerung auch denen zu, die sich aus ethisch-weltanschaulichen Gründen grundsätzlich zur Gewaltlosigkeit hinsichtlich der Beziehungen der Staaten bekennen. Wir stimmen dieser Ausweitung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung zu, weil sie unseres Erachtens den weltanschaulichen Gegebenheiten in unserem Volke Rechnung trägt.
Es bleibt natürlich darüber hinaus die Frage derer, die nicht grundsätzlich, sondern nur in einer bestimmten politischen Situation oder einem bestimmten Angreifer gegenüber den Dienst mit der Waffe verweigern wollen. Das sind z. B. diejenigen, die das Recht der Kriegsdienstverweigerung wegen der gegenwärtigen Teilung Deutschlands für sich beanspruchen. Ich behaupte keineswegs, daß es sich dabei um Kommunisten oder kommunistenfreundliche oder neutralistische Elemente handelt. Viele von ihnen lehnen im Gegenteil sogar die Übertragung der sowjetzonalen Zustände auf die Bundesrepublik ausdrücklich ab und wären, wie sie sagen, gegebenenfalls sogar willens, sich einem kommunistischen Gewaltakt mit allen Mitteln zu widersetzen. Man muß sich dabei nur fragen, wie denn dieses Sich-Widersetzen und diese aktive Ablehnung des Kommunismus im Verteidigungsfalle aussehen sollte. Handelt es sich hier nicht nur um eine platonische Erklärung? Denn wie könnten sich diese Menschen z. B. einer Aktion im Sinne des Herrn Wandel wirkungsvoll entgegenstellen, wenn sie es aus politischen Gründen, Gründen ihrer Überzeugung, ausdrücklich ablehnen, sich auf diesen Fall vorzubereiten und sich die für eine tatsächliche Abwehr notwendigen ausbildungsmäßigen Voraussetzungen zu verschaffen! Nun, mit dieser und ähnlichen Fragen wird sich der Verteidigungsausschuß sehr gründlich befassen, und er wäre meines Erachtens gut beraten, wenn er sich auch bei diesem Fragenkomplex wiederum des fachlichen Urteils kirchlicher und weltanschaulicher Gemeinschaften bediente.
Meine Damen und Herren, ohne in dieser oder den anderen grundlegenden Fragen, die der Gesetzentwurf aufwirft, dem Ergebnis der Beratungen vorgreifen zu wollen, möchte ich zusammenfassend doch erklären, daß die Fraktion der CDU/ CSU den Grundgedanken des Gesetzentwurfs, nämlich der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, zustimmt. Wir tun dies nicht aus irgendwelchen emotionalen Gründen und ohne uns in dieser Entscheidung durch Ressentiments, wie sie noch auf dieser oder jener Seite in unserem Volke bestehen mögen, beeinflussen zu lassen. Denn eine Stellungnahme zu einem derartig schwerwiegenden Problem kann unseres Erachtens nur von Nüchternheit und Ethos getragen sein.

(Zuruf von der SPD: Ethos vor allen Dingen!)

Alles übrige wäre fehl am Platze. Wir treffen unsere Entscheidung allein aus der ehrlichen Überzeugung und der klaren Erkenntnis einer bitteren Notwendigkeit, die zu meistern uns die weltpolitische Situation, insbesondere aber die Lage unseres Volkes aufgibt.
Niemand würde glücklicher sein als wir, wenn wir feststellen dürften, daß diejenigen, von deren Einsicht und gutem Willen die Abrüstung und damit die Festigung des Friedens der Völker abhängt, sich einigten und wenn unser wiedervereinigtes Volk sich auch in der Wehrfrage einer völlig neuen Situation gegenübersähe.

(Sehr gut! in der Mitte.)

Angesichts der schweren Blutopfer unserer Vergangenheit und der drohenden Gefahren, die uns umgeben, können und wollen wir nur hoffen, daß dieser Tag dem unsrigen nicht mehr allzu fern ist.


(Dr. Kliesing)

Bis dahin aber, meine Damen und Herren, wird ein jeder von uns nach seinem persönlichen besten Wissen und Gewissen den harten Weg zu gehen haben, den ihm die schwere Verantwortung und die schmerzliche Sorge um die Freiheit und die Sicherheit unseres ganzen Volkes weisen.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214303000
Das Wort hat der Abgeordnete Erler.

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0214303100
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der ersten Lesung des Wehrpflichtgesetzes ist vielen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland erst richtig zum Bewußtsein gekommen, was das von der Mehrheit gewünschte Ziel ihrer Politik bei der Verabschiedung der Pariser Verträge gewesen ist — wir haben nie daran gezweifelt —: die Aufstellung einer Armee der Bundesrepublik Deutschland von einer halben Million Mann und die Einführung — das ist ein Rechenexempel — der zu einer solchen Armee notwendigen allgemeinen Wehrpflicht.

(Abg. Dr. Seffrin: Stimmt doch nicht!)

Die Unruhe in der deutschen Öffentlichkeit — —

(Abg. Bausch: Haben Sie hervorgezaubert!)

— Nein, Kollege Furler — —

(Zuruf von der Mitte.)

— Ich weiß nicht, von wem das kam; dann war es also jemand anders. —Die Unruhe in der deutschen Öffentlichkeit ist im wesentlichen dadurch entstanden, daß viele Menschen, die Ihnen im Jahre 1953 die Stimme gegeben haben — auch für Ihre Außenpolitik —, sich der wirklichen Konsequenzen dieser Politik erst in dem Augenblick bewußt werden, wo es nun auch um die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht geht.

(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der Mitte.)

Der Kollege Kliesing hat in einem Punkt ganz recht.

(Abg. Rasner: Nicht nur in einem!)

Wir haben — auf Plakaten — darauf aufmerksam gemacht, und Sie bestätigen die Richtigkeit dieser Plakate, daß Ihre Politik führen sollte zur Aufstellung einer Armee von einer halben Million Mann und zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. So weit ist das absolut in Ordnung. Aber, meine Damen und Herren, ich möchte Sie doch — und wir werden das an den Vertragstexten, die zu zitieren Sie ja unterlassen haben, gleich sehen — darauf aufmerksam machen, daß es jedenfalls bis zur Stunde einen Unterschied in dem erklärten Ziel der Mehrheit dieses Hauses auf der einen Seite und den juristisch bindenden völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik auf der anderen Seite gibt. Das ist zweierlei.

(Beifall bei der SPD.)

Man kann die Mehrheit dieses Hauses nicht daran hindern, ihren Zielen nachzustreben; aber Sie sollen sich dann nicht hinter einer Vertragspflicht verstecken, die es in dieser Form gar nicht gibt.

(Erneuter Beifall bei der SPD.)

Doch bevor ich dazu komme, dies im Lichte der Vertragstexte darzustellen — denn ein großer Teil der Argumentation sowohl der Bundesregierung als
auch des Sprechers der Christlichen Demokraten beruhte ja auf dieser angeblichen Vertragspflicht, den durch die Verträge statuierten Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik gerade so, nämlich mit der Wehrpflicht, und auch in dieser Höhe, nämlich mit einer halben Million Mann, zu leisten —, möchte ich noch einiges zu dem gemeinsamen Lehrmeister gewissermaßen des Kollegen Kliesing und von mir selbst sagen, nämlich zu dem inzwischen in die Geschichte eingegangenen ehrwürdigen Karl Kautsky. Herr Kollege Kliesing hat einiges von Karl Kautsky zitiert, indem er darauf aufmerksam gemacht hat — mit Recht übrigens —, daß auch die Miliz — das ist unbestritten — nichts anderes als eine besondere Form der allgemeinen Wehrpflicht ist, die sich erheblich von der Form der Wehrpflicht unterscheidet, die auf einem großen stehenden Heer beruht, wie es das kaiserliche Deutschland gekannt hat und wie es jetzt auch die Bundesrepublik nach dieser Vorlage wieder einführen soll.
Aber Karl Kautsky — ich habe rasch einmal nachgesehen, nachdem Kollege Kliesing ihn hier zitiert hat — hat sich zu dem uns heute beschäftigenden Problem in mehr als einer Hinsicht außerordentlich treffend geäußert. Es heißt hier:
Dieser die internationale Atmosphäre vergiftende Umstand, der die eigentliche große Kriegsgefahr unserer Zeit bildet,

(Abg. Kliesing: Welcher Zeit?)

ist das Wettrüsten, das, aus Mißtrauen geboren, immer wieder neues, wachsendes Mißtrauen auf allen Seiten erzeugt.

(Beifall bei der SPD.)

An Stelle greifbarer Streitpunkte, die man messen und wägen und über die man sich verständigen kann, setzt es die Furcht vor etwas Ungreifbarem, Unmeßbarem, das gerade dadurch in den Gemütern die ungeheuerlichsten Dimensionen annehmen kann. Dabei wird die ökonomische Last des Wettrüstens immer unerträglicher, so daß schließlich ein Moment kommt, in dem man ein Ende mit Schrecken einem Schrecken ohne Ende vorzieht.

(Hört! Hört!)

Aber hören Sie weiter! Ein anderes Problem des Wettrüstens wird auch behandelt, und das steht heute hier mit zur Debatte, nämlich die Politik der Bündnisse. Kautsky sagt dazu:
Zu der Politik des Wettrüstens gehört auch die der Bündnisse. Eine Allianz ist nichts anderes als die Vermehrung der Bajonette des eigenen Landes durch die des verbündeten. Wie jede neue Waffe, jedes neue Regiment in dem einen Lande die anderen Staaten drängt, neue Waffen einzuführen, neue Regimenter aufzustellen, so drängt auch jedes Bündnis auf der einen Seite die andere auch zu neuen Bündnissen. Das führt schließlich dahin, daß die ganze Welt in zwei große Bünde geteilt ist, die einander gegenüberstehen. So wird jeder Konflikt zwischen zwei Staaten zu einem Konflikt zwischen zwei Bünden, in die die Welt zerfällt. Seine Lokalisierung ist nun ganz unmöglich.
Die Sozialdemokratie hat seit jeher darauf hingewiesen, daß die Politik des Wettrüstens und der Allianzen nicht der Erhaltung des Friedens diene, sondern den Krieg unvermeidlich mache.

(Beifall bei der SPD.)



(Erler)

So weit in geradezu hellseherischer Vorausschau — nämlich der beiden großen Blöcke — Karl Kautsky. Aber er hat sich auch mit den Argumenten befaßt, die sich auf die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht bezogen, und auch das englische Beispiel in seiner Schrift kurz erwähnt. Es heißt:
Es mußte eine so ungeheure Katastrophe kommen wie der Weltkrieg, um zu bewirken, daß der Grundsatz der Freiwilligkeit durchbrochen und die allgemeine Wehrpflicht in England durchgesetzt wurde. Im Frieden
— das war nach dem ersten Weltkrieg —
wurde sie wieder aufgehoben. Gerade die Arbeiter lehnen dort am entschiedensten die allgemeine Wehrpflicht ab. Sie befürchten keine Gefährdung der Freiheit durch ihr Söldnerheer, das klein und parlamentarischer Kontrolle unterworfen ist. In einem Land mit überwiegender Arbeiterschaft und hochentwickelten Gewerkschaften fürchten sie dieses Heer nicht, um so weniger als seine Mannschaften zum großen Teil der Arbeiterschaft entnommen sind. Dabei schließt es das Wesen eines Freiwilligenheeres keineswegs aus, es stark zu demokratisieren, es statt zu einer Gefährdung zu einem Bollwerk der Demokratie zu machen. Die Verhältnisse liegen in dieser Beziehung heute ganz anders als in der Zeit des Absolutismus.
Sehen Sie, meine Damen und Herren, das hat der Kautsky alles schon geschrieben, bevor wir die Grundgesetzänderungen geschaffen haben, die natürlich das erst recht ermöglichen.

(Beifall bei der SPD.)

Als letztes Kautsky-Zitat, verehrter Kollege Kliesing, aus einer anderen Stelle der gleichen Schrift:
Aber es würde eine große Erschwerung der Abrüstung bedeuten, wenn wir an dem Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht unbedingt festhalten wollten.
Ich sage das hier, um die Legende zu zerstören, als ob die Sozialdemokratie immer und für alle Zeiten ganz blind eingeschworen gewesen sei auf eine bestimmte Wehrverfassung, nämlich die der allgemeinen Wehrpflicht. Was sie immer bekämpft hat, war die allgemeine Wehrpflicht auf Grund eines großen stehenden Heeres. Was sie im kaiserlichen Deutschland gefordert hat, war die allgemeine Volksbewaffnung im Sinne der Miliz; das ist absolut richtig. Ich will Ihnen das nur zeigen, damit Sie begreifen, daß es eigentlich einer großen Partei wohl ansteht, neuen Lagen mit neuen Mitteln zu begegnen. Das ist die Aufgabe.

(Beifall bei der SPD.)

Wenn wir nun schon die Grundfragen der allgemeinen Wehrpflicht auch in dem Sinne diskutieren, ob sie das legitime Kind der Demokratie sei oder nicht, dann, verehrter Kollege Kliesing, gestatten Sie mir, daß ich Sie an einen Ausspruch des Papstes Leo XIII. erinnere, der die allgemeine Wehrpflicht einmal sogar — so weit will ich gar nicht gehen, aber immerhin, Sie müßten sich diesen Satz eigentlich zu eigen machen! — als ein Attentat auf die Selbstbestimmung der sittlichen Persönlichkeit bezeichnet hat.

(Hört! Hört! und Beifall bei der SPD.)

Meine Damen und Herren, die wesentliche Grundfrage, die wir eigentlich hätten erörtern müssen, bevor wir jetzt die Wehrpflichtvorlage zur Beratung der Einzelheiten dem Verteidigungsausschuß des Bundestags überweisen, ist doch die: Ist es unbedingt erforderlich, überhaupt die Wehrpflicht einzuführen? Ich habe ja gestern in der Geschäftsordnungsdebatte schon gesagt, daß ich es bedauert habe, daß der Verteidigungsminister, der bei zahlreichen anderen Gelegenheiten die Möglichkeit ausgeschöpft hat, die kommenden Fragen erst einmal mit dem Verteidigungsausschuß des Bundestags zu erörtern, bevor die Regierungsvorlage ihre endgültige Gestalt gewann, hier in der Prinzipienfrage, ob Wehrpflicht oder nicht, nicht so vorgegangen ist.

(Abg. Wienand: Vielleicht durfte er nicht!)

Meine Damen und Herren, ganz gleich welches Schicksal die Regierungsvorlage in dieser Stunde haben wird, auf die Aufstellung der Bundeswehr in dem für dieses Jahr vorgesehenen Zeitplan hat das gar keinen Einfluß!

(Sehr wahr! bei der SPD.)

Es ist also gar nicht richtig, daß das Schicksal dieser Vorlage etwa das Zutrauen der Bundesgenossen in die loyale Erfüllung der für dieses Jahr bestehenden vertraglichen Verpflichtungen — für dieses Jahr gibt es welche, jawohl — in Frage stellt.
Aber wie sieht es denn mit der gesamten Planung überhaupt aus? Auch das ist ein Punkt, bei dem ich Sie nur mit wenigen Zahlenvergleichen davon in Kenntnis setzen möchte, auf wie abenteuerlichen Grundlagen dieses Unterfangen hier beruht. Als eine von uns allen verdammte Gewaltherrschaft die Macht im alten Deutschen Reich an sich riß und dann ihre Politik der schnellen Aufrüstung betrieb — mit dem Ergebnis, das wir alle haben bezahlen müssen mit der Zerstörung unseres Landes und beispiellosen Opfern des deutschen und anderer Völker —, da hat jener Gewaltherrscher für die Verzehnfachung der Armee, nämlich von 120 000 Mann auf 1 173 000 Mann am 1. Juli 1939, einen Zeitraum von immerhin mehr als sechs Jahren gebraucht. Sie haben sich vorgenommen, vom Nullpunkt, oder sagen wir einmal großzügigerweise von 20 000 Mann Bundesgrenzschutz, den Sie ja jetzt vereinnahmen wollen für die Aufstellung der Bundeswehr, bis auf 500 000 Mann zu kommen — also im Gegensatz zu der Verzehnfachung damals eine Verfünfundzwanzigfachung vorzunehmen — in drei Jahren. Wir wissen alle, von welchen Spannungen, von welchen Entbehrungen, von welchen Sorgen die Verzehnfachung der Armee in den 30er Jahren begleitet gewesen ist. Bitte, malen Sie sich doch aus, was angesichts der völligen Revolutionierung der Technik und der Waffen dieser Versuch, eine Armee von einer halben Million Mann in drei Jahren gewissermaßen aus dem Boden zu stampfen, für das gesellschaftliche Leben unseres Volkes bedeutet!

(Sehr gut! bei der SPD.)

Das scheint manchem bei der Reißbrettplanung, die man sich da vorgenommen hat, noch nicht so richtig klargeworden zu sein.

(Sehr richtig! bei der SPD.)

Nun zu der Frage: Ist die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich verpflichtet, eine Armee von einer halben Million Mann auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht aufzustellen, oder kann sie die von ihr eingegangene Ver-


(Erler)

pflichtung zur Stellung eines Verteidigungsbeitrags auch auf andere Weise erfüllen? Ich habe gesagt: ist die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet? Es ist nämlich etwas anderes, ob es eine völkerrechtliche Pflicht der Bundesrepublik gibt oder ob lediglich die Bundesregierung den Bundesgenossen in Aussicht gestellt hat, sich hier in diesem Hause für eine bestimmte Lösung einzusetzen.

(Beifall bei der SPD.)

Ich bedaure es, daß diese beiden völlig verschiedenen Tatbestände sowohl in der Denkschrift der Bundesregierung als auch in den Reden des Herrn Verteidigungsministers und des Kollegen Kliesing vollkommen durcheinandergeworfen worden sind. Sowohl der Minister als auch der Kollege Kliesing haben es — das möchte ich an die Adresse des Kabinetts und an die Adresse der Mehrheitsfraktion dieses Hauses richten — eigentlich nicht verdient, daß man sie mit so mangelhafter Unterstützung an Argumenten auf die Rednertribüne heraufgelassen hat.

(Beifall bei der SPD.)

Wie ist die Lage? Der EVG-Vertrag sah in seinen Artikeln die Wehrpflicht vor, und, Kollege Kliesing, was Sie aus meinen Schriften zitiert haben, stützte sich auf die klare Lage des EVG-Vertrags, der aber nicht ratifiziert worden ist.

(Zuruf von der SPD: Das hat Herr Kliesing nicht gemerkt! — Abg. Dr. Kliesing: Das habe ich wörtlich gesagt; Sie haben nicht zugehört!)

Zum zweiten: Das Sonderabkommen zum EVG-Vertrag, der sogenannte Accord spécial, aus dessen Zusammenrechnung sich dann die Zahl — die gar nicht drinsteht — von einer halben Million sinngemäß tatsächlich ergibt, legte den tatsächlichen Beitrag der sechs Partner der nicht zustande gekommenen Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, den sie zu dieser Gemeinschaft leisten sollten, fest. Es war in diesem Sonderabkommen auch vorgesehen, in welcher Reihenfolge, in welchem Rhythmus gewissermaßen, die einzelnen Beiträge geleistet werden sollten und zu welchem Endzustand — etwa in drei Jahren — die Zahl und Art der vorgesehenen Verbände gebracht werden sollte.
Nun berufen Sie sich auf die Londoner Akte und tun so, als ob der Bundestag mit der Londoner Akte, und zwar der Anlage 5, auch noch dieses geheime Sonderabkommen zum EVG-Vertrag nachträglich ratifiziert hätte. Das ist nicht wahr. Die Londoner Akte war eine Vereinbarung, die Vertreter der Regierungen anzuweisen, in Paris bestimmte Vorschläge für einen deutschen Verteidigungsbeitrag auszuarbeiten. Diese Vorschläge sollten u. a. auf folgendem Grundsatz beruhen: Der deutsche Beitrag muß seinem Umfang und seiner allgemeinen Beschaffenheit nach dem für die EVG festgesetzten Beitrag entsprechen. Er muß, um für die NATO geeignet zu sein, auf den heutigen Stand gebracht und, soweit erforderlich, angepaßt werden.
Mit dieser Marschroute an die Unterhändler in Paris haben diese sich an die Arbeit gemacht und Texte ausgearbeitet, und die Texte sehen eben etwas anders aus als diese Marschroute. Ein Mann, der dabei war, hat nach meiner Erinnerung als Sprecher der Bundesregierung im Auswärtigen Ausschuß erklärt, die Marschroute sei insofern ungenau abgefaßt, als der ausgearbeitete Text, wonach es sich bei dem Sonderabkommen künftig nur um Höchstgrenzen handeln sollte, von Anfang an gemeint gewesen sei.
Ratifiziert worden ist durch den Bundestag nur der Text, der sich im Atlantikpaktvertrag, im Vertrag über die Gründung der Westeuropäischen Union und in den dazugehörigen Protokollen findet, nichts anderes. Diese Texte sind eindeutig. Nur diese Texte binden die Bundesrepublik, keine anderen Texte.
Wie lautet der Art. 1 des Vertrags über die Gründung der WEU?
Die Land- und Luftstreitkräfte dürfen nach Gesamtstärke und Anzahl der Verbände nicht übersteigen
— Es steht nicht da: Sie werden so und so groß sein, sondern: Sie dürfen nicht übersteigen —
für . . .
— dann kommen die einzelnen Länder, darunter die Bundesrepublik —
die Höchstgrenzen, wie sie in dem Sonderabkommen zu dem am 27. Mai 1952 in Paris unterzeichneten Vertrag über die Gründung der EVG für Friedenszeiten festgelegt sind.
Das heißt: Aus der festen Beitragsgröße der EVG ist das nicht zu überschreitende Höchstmaß der Westeuropäischen Union geworden. Um jeden Zweifel auszuschließen, heißt es in Abs. 3 — und, Herr Verteidigungsminister, wenn Denkschriften wirklich Denkschriften sein sollen, durfte man diesen Satz nicht unterschlagen, sondern dann hätte man ihn in die Denkschrift aufnehmen und dann dazu Stellung nehmen müssen, warum er vielleicht etwas anderes bedeutet, als der klare Wortlaut sagt —:
Die Festlegung dieser Höchststärken verpflichtet keinen der Hohen Vertragschließenden Teile, Streitkräfte dieser Stärke aufzustellen oder zu unterhalten,

(Hört! Hört! bei der SPD)

beläßt ihnen aber das Recht, dies, wenn erforderlich, zu tun.
Meine Damen und Herren, die Vertragschließenden müssen sich doch dabei etwas gedacht haben, als sie das zu Papier brachten und unterzeichneten, und der Bundestag wird sich auch etwas dabei gedacht haben, als er es ratifizierte. Wir haben darüber auch in den Ausschüssen gesprochen. Dort ist lediglich darüber Einmütigkeit erzielt worden, daß die Idee, die manche hatten, wonach diese Bestimmung auch erlaube, den deutschen Verteidigungsbeitrag auf Null anzusetzen, nicht stichhaltig sei, sondern es schon einen Verteidigungsbeitrag geben müsse.
Dann muß man sich darüber unterhalten: Was erwarten die Bundesgenossen von uns? Was ist die Planung, auf die man sich einrichtet? Gut, das sind Absichten und Planungen, aber keine völkerrechtlichen Verbindlichkeiten. Das ist der entscheidende Unterschied.

(Abg. Dr. Kliesing: Warum haben Sie dann in den Beratungen der Pariser Verträge immer mit der Zahl 500 000 operiert?)

— Weil wir Ihre Absichten kannten. Die Absichten sind doch heute deutlich sichtbar geworden, die bestreiten Sie doch auch gar nicht.

(Beifall bei der SPD.)



(Erler)

Wir haben immer gesagt: Es ist der klare Wille derer, die die Pariser Verträge ratifiziert haben, eine Armee von einer halben Million Mann aufzustellen und die Wehrpflicht einzuführen. Nun, daß wir recht hatten, sehen wir heute.

(Sehr richtig! bei der SPD.)

Das war unbestritten. Und daß Sie Ihre Absichten zu verwirklichen entschlossen sind, wissen wir auch. Ob Ihnen dabei die Luft ausgeht, das werden wir sehen.

(Beifall bei der SPD.)

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung selbst hat in ihrer Begründung — Drucksache 1061, Seite 50 — folgendes ausgeführt:
Die Festsetzung betrifft nur die Höchststärken; im Gegensatz zum EVG-Vertrag ist kein Vertragsstaat — mit Ausnahme von Großbritannien, das in Artikel 6 eine Sonderverpflichtung übernommen hat — verpflichtet, Streitkräfte in der festgesetzten Höhe zu unterhalten.
Meine Damen und Herren, wenn die Regierung ihren jetzigen Rechtsstandpunkt früher schon vertreten hätte, dann hätte sie diese Sätze nicht in die Begründung hineinschreiben dürfen.

(Sehr richtig! bei der SPD.)

Sie hat also entweder früher von dieser angeblichen Verpflichtung nichts gewußt oder sie hat diese andere Verpflichtung dem Parlament verschwiegen. Beides wäre gleichermaßen schlimm.

(Beifall bei der SPD.)

Ich bin aber der Meinung, in Wirklichkeit ist es ganz anders. Die Regierung benutzt jetzt lediglich die angeblich völkerrechtlich bindende Verpflichtung der Bundesrepublik, um sich der unbequemen Debatte über die Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit der Einführung der Wehrpflicht überhaupt entziehen zu können.

(Lebhafter Beifall bei der SPD.)

In der Denkschrift der Bundesregierung wird der Generalbericht des Auswärtigen Ausschusses zitiert. Herr Minister, weisen Sie doch bitte die Mitarbeiter an derartigen Dokumenten an, sich das, was sie zitieren, auch genau anzusehen! Der Kollege Furler, der dort zitiert worden ist, hat überhaupt nicht über den Atlantikpakt und über die Westeuropäische Union berichtet, er hat berichtet über den Vertrag zur Ablösung des Besatzungsstatuts!

(Hört! Hört bei der SPD.)

Berichterstatter über den Nordatlantikvertrag und über die Westeuropäische Union war für den Auswärtigen Ausschuß der Kollege Brandt, und wir haben im Auswärtigen Ausschuß diesen Bericht des Kollegen Brandt alle miteinander gebilligt. Er enthielt die Ergebnisse, zu denen wir entweder gemeinsam gekommen waren, oder die Mehrheits-
und die Minderheitsauffassung. Was ich Ihnen jetzt hier vortrage, stammt aus diesem Bericht, und der fehlt in der sehr lückenhaften Denkschrift der Regierung.

(Hört! Hört! bei der SPD. — Zuruf von der SPD: Alles Absicht!)

Da heißt es:
Nichtsdestoweniger ist vor dem federführenden Ausschuß festgehalten worden, daß der
Bundestag in bezug auf die Bestimmung des konkreten Maßes des deutschen Beitrags das letzte und entscheidende Wort habe, und es ist von seiten der Bundesregierung vorausgesetzt worden, daß dabei politische Erwägungen eine Rolle spielen werden.
Natürlich, politische Erwägungen: Was werden die Bundesgenossen möglicherweise sagen? — Das können Sie alles ins Feld führen, das ist aber etwas anderes als eine verbindliche Rechtsverpflichtung!

(Zustimmung bei der SPD.)

Der Bericht des Verteidigungsauschusses, erstattet von seinem Vorsitzenden, dem Kollegen Dr. Jaeger, sagt ganz klar:
Während in der EVG . . . das Ausmaß der Truppenstärke geregelt wurde, ist in der WEU nur eine Begrenzung nach oben ausgesprochen. Die Festlegung dieser Höchststärke gibt zwar jedem Vertragsteil das Recht, Streitkräfte dieser Stärke aufzustellen oder zu unterhalten, legt ihm aber keineswegs die Pflicht auf, dies zu tun.
So steht's in den Drucksachen,

(Hört! Hört! bei der SPD)

auf deren Grundlage damals das Vertragswerk hier ratifiziert worden ist.

(Zuruf von der SPD: Was sagt Blank?!)

Die gleichen Ausführungen hat Herr Staatssekretär Halls t ein nach meinen Aufzeichnungen im Auswärtigen Ausschuß gemacht. Er hat ausdrücklich noch erklärt, daß in bezug auf die Bestimmung des konkreten Maßes des deutschen Beitrages der Bundestag das letzte und entscheidende Wort habe. Ich möchte noch hinzufügen, daß der Kollege Becker nach meiner Erinnerung einmal die Frage des Wehrsystems aufgeworfen hat, die Frage also, ob Wehrpflicht oder etwas anderes in unserer Entscheidung liege oder ob das durch die Verträge bestimmt sei. Daraufhin wurde ihm klar und eindeutig geantwortet — das hat auch jetzt der Generalsekretär der Atlantikpakt-Organisation Lord Ismay gesagt —: Es liegt ausschließlich in der Zuständigkeit des deutschen Parlaments und ist nicht völkerrechtlich vorgeschrieben, die Wehrpflicht einzuführen. Vielleicht lesen Sie einmal nach, was Herr Ismay auf einer Pressekonferenz in Berchtesgaden dazu und übrigens auch zu den Plänen gesagt hat, in England die Wehrpflicht wieder abzuschaffen. Ich glaube, den Erklärungen des Generalsekretärs des Atlantikpaktes sollte man ein größeres Gewicht beimessen als denen eines etwas verborgen gebliebenen Engländers, den der Kollege Kliesing hier als Gewährsmann angeführt hat.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir aber, Sie noch auf folgendes aufmerksam zu machen. Die Bundesregierung hat sich durch den Verteidigungsminister sowohl bei der Lesung des EVG-Vertrags als auch später in den Ausschüssen dahin geäußert — die Ausschüsse haben das in ihren Berichten auf den Seiten 48 und 56 der Drucksache 1200 festgehalten, wie Sie nachlesen können —: Wir erwarten, daß kein deutscher Minister im Rat des Atlantikpaktes Verpflichtungen über materielle und finanzielle Leistungen eingeht, bevor nicht die Ausschüsse des Bundestages gehört worden sind. Diese Erwartung ist nicht erfüllt worden.


(Erler)

Sie meinen vielleicht, eine Verpflichtung zur Aufstellung von 500 000 Mann sei bereits im Atlantikpakt eingegangen worden. Auch dort kann sie gar nicht eingegangen worden sein. Im Atlantikpakt sieht es nämlich so aus, daß man immer in einem Jahr Empfehlungen nur mit Zustimmung aller Regierungen — da wollten wir als Ausschuß vorher gehört werden — für das nächste Jahr verabschiedet. Diese Empfehlungen sind dann den anderen Partnern gegenüber eine Art Selbstverpflichtung. Für das Jahr 1956 gibt es — wie uns aus den Erklärungen des Verteidigungsministers bekannt ist — eine solche Verpflichtung der Bundesrepublik in der Größenordnung von etwa 95- bis 96 000 Mann. Für die nächsten beiden Jahre gibt es nur Programme, die selbst innerhalb der Atlantikpakt-Organisation noch nicht den Charakter von Empfehlungen, noch nicht den Charakter von Verpflichtungen angenommen haben.
Das ist in aller Deutlichkeit die Lage. Der Herr Außenminister hat sich dazu bekannt. Er wurde nämlich in Straßburg von dem englischen Abgeordneten Edwards gefragt, ob diese zwölf Divisionen als förmliche Verpflichtung gedacht seien oder ob das die Grenze der Streitkräfte sei, die nicht überschritten werden dürfe. Darauf erhob sich der englische Abgeordnete Sir Hutchison mit dem Vertragstext unter dem Arm und sagte, dort stehe es ganz klar, daß Deutschland als Maxi m u m zwölf Divisionen haben werde. Der Herr Außenminister hat sich ausdrücklich mit dem Satz angeschlossen, daß die Frage von Herrn Edwards durch die liebenswürdige Intervention von Sir Hutchison beantwortet sei. Er sagte: „Ich habe dieser Antwort nichts hinzuzufügen."

(Hört! Hört! bei der SPD. — Abg. Berendsen: Im Rahmen der WEU!)

— Ich habe Ihnen eben ausdrücklich erklärt, Herr Kollege Berendsen, daß Sie diesem Hause unmöglich zumuten können, eine Vertragsbestimmung zu ratifizieren, in der drinsteht, daß kein Vertragsstaat verpflichtet sei, die vorgesehene Höchstgrenze zu erfüllen. Gleichzeitig sagen Sie, im Atlantikpakt, der zu gleicher Zeit das Haus hier passiert, stehe aber etwas anderes. Da steht auch nichts anderes drin. Ich habe Ihnen eben ausdrücklich die Art des Zustandekommens der Selbstverpflichtungen im Atlantikpakt erläutert. Die Sache ist eindeutig. Es gibt keine völkerrechtliche Verbindlichkeit, eine Armee von einer halben Million Mann aufzustellen und die Wehrpflicht einzuführen. Ich verstehe übrigens gar nicht die Hartnäkkigkeit, mit der Sie sich hinter den Verträgen verstecken.

(Sehr richtig! bei der SPD.)

Warum müssen Sie denn unbedingt mehr hineinlesen, als eigentlich drinsteht? Sagen Sie doch klar und deutlich: Wir von der CDU halten eben die Einführung der Wehrpflicht für nötig und richtig, und deshalb führen wir sie ein. Warum verkrümeln Sie sich denn hinter den angeblichen Vertragspflichten?

(Beifall bei der SPD. — Abg. Berendsen: Das sagen wir ja! Weitere Zurufe. — Zuruf von der Mitte: Das behaupten ja nur Sie!)

— Nein, nein, das steht alles in der Denkschrift der
Bundesregierung als Hauptargument: daß man völkerrechtlich verpflichtet sei. Und das ist eben nicht wahr.

(Abg. Schröter [Wilmersdorf]: Deshalb haben wir sie so spät bekommen! — Weiterer Zuruf links: Das ist Falschmünzerei!)

Meine Damen und Herren, eines verstehe ich außerdem nicht: Warum in aller Welt wird jener Accord spécial, der im Jahre 1952 unterschrieben worden ist und der auf Verhandlungen zurückgeht, die im Jahre 1950 begonnen haben, eigentlich heute noch geheimgehalten? Alles, was drinsteht, ist bekannt. Es ist nur nicht bekannt, daß es da drinsteht.

(Heiterkeit links.)

Der Verteidigungsminister hat in der Darlegung seiner Pläne längst jede einzelne Zahl bekanntgegeben, die in dem Accord spécial enthalten war. Und daß der geplante Zeitablauf des Accord spécial durch die inzwischen vergangenen Jahre sich von selbst überholt hat, das haben wir alle gemerkt. Infolgedessen stünde dem gar nichts im Wege, daß die Bundesregierung nun endlich einmal die Initiative ergriffe, einen Vertrag, dessen Inhalt gar nicht mehr geheim ist, der Öffentlichkeit bekanntzugeben.

(Abg. Schmidt [Hamburg] : Dann müßte sie sich Lügen strafen und zugeben, daß es doch Geheimverträge gegeben hat!)

Der Vertrag stammt aus dem Jahre 1952 und geht auf Pläne von 1950 zurück. Jetzt schreiben wir 1956. Die Wehrpflicht wollen Sie 1957 einführen. Nach den Plänen wird die Bundeswehr etwa im Jahre 1960 fertig sein. Das heißt: wenn Sie sich so sklavisch an den Accord spécial klammern, dann haben Sie im Jahre 1960 eine Armee, die auf der Planung des Jahres 1950 beruht. Na, das wird was Schönes sein!

(Heiterkeit und Beifall links.)

In der Denkschrift wird auf den Seiten 10 und 11 damit operiert, daß die Bundesrepublik Deutschland als Partner des Atlantikpakts doch nicht hinter den Leistungen der anderen Bundesgenossen zurückbleiben dürfe. Dabei ergibt sich selbst aus dieser Denkschrift ein Gesichtspunkt dafür, daß die Leistungen der meisten anderen Partner eben höher sein müssen aus Gründen, die für uns nicht zutreffen. Da heißt es z. B., daß nach 1945 Großbritannien etwa elf Divisionen in allen Teilen der Welt unter Waffen halten mußte. Hier in diesem Hause hat doch wohl hoffentlich niemand die Absicht, Divisionen der Bundeswehr in allen Teilen der Welt unter Waffen zu halten, sondern wahrscheinlich nur in der Bundesrepublik. Wir haben keine Kolonialgebiete zu schützen,

(Zuruf von der SPD: Kann noch werden! — Heiterkeit)

wir haben keine überseeischen Verbindungslinien zu bewachen. Wir führen keinen Krieg in Nordafrika. Wir haben nicht die Schwierigkeiten um Zypern. Wir sind auch nicht die Verpflichtungen der anderen Partner des Atlantikpakts in Südostasien eingegangen,

(Abg. Wehner: Wer weiß?! — Heiterkeit links)

um dort bestimmte Gebiete abzusichern. Wir haben
z. B. auch keinen Kongo. Das einzige Land aus


(Erler)

dieser Aufstellung hier auf Seite 10 unter a), mit dem wir überhaupt verglichen werden können, weil es eben auch keine derartigen anderen Verpflichtungen hat, sondern seine Verpflichtung im Interesse der anderen darin besteht, sich selbst zu schützen und damit eben gewissermaßen den eigenen Teil der gesamten Front zu halten, ist Italien mit ähnlicher Bevölkerungszahl und einer Armee von 286 000 Mann, die 0,6 % der Bevölkerung entsprechen.

(Hört! Hört! links.)

Das stimmt sogar in der Denkschrift der Bundesregierung, auch wenn eine Reihe anderer Länder darin fehlt.

(Zurufe und Lachen links.)

Aber, meine Damen und Herren. damit der Humor über die Sorgfältigkeit der Aufstellung in der Denkschrift der Bundesregierung nicht gar zu kurz kommt, möchte ich Ihnen nicht verschweigen, daß der sehr sorgfältige Sachbearbeiter dort unter anderem verzeichnet hat, daß die Dienstzeit der Marine Luxemburgs zwölf Monate beträgt.

(Große Heiterkeit und Zurufe links.)

Wenn alle Angaben so korrekt sind wie diese, dann ist mir etwas bange um die Zuverlässigkeit der Unterrichtung des Hohen Hauses.

(Abg. Mellies: Da sieht man, was die Bundesregierung dem Parlament zumutet!)

Nachdem also diese Legende von der völkerrechtlichen Verbindlichkeit einer Pflicht zur Aufstellung einer Armee von einer halben Million auf der Grundlage der Wehrpflicht hoffentlich zerstört worden ist — denn sie ist eine Legende —, komme ich zu einem anderen Kapitel, das uns alle sehr bewegen sollte. Der Herr Verteidigungsminister hat davon gesprochen, daß es die Aufgabe der Bundeswehr sei, die Verteidigung Deutschlands zu sichern. Meine Damen und Herren, wir sollten uns davor hüten, gerade bei diesem Thema immer in so leichtfertiger Weise die Bundesrepublik Deutschland, also den freien Teil Gesamtdeutschlands, einfach mit Deutschland gleichzusetzen.

(Beifall bei der SPD und beim GB/BHE.)

Wir sprechen für Deutschland, jawohl; hier ist das einzige frei gewählte Parlament, jawohl. Aber das Gebiet und die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland sind nicht identisch mit dem ganzen deutschen Volk.

(Sehr gut! bei der SPD.)

Gerade dieses Kapitel, nämlich die Auswirkungen der Einführung der Wehrpflicht auf die Vertiefung der Spaltung Deutschlands, ist in der Denkschrift wahrlich zu kurz gekommen. Die Denkschrift stellt einfach fest: die Spaltung Deutschlands wird nicht vertieft, Punkt. Ein Beweis wird nicht erbracht.
Meine Damen und Herren, überlegen wir doch einmal kurz den Hergang der Ereignisse. Es ist sicher, daß die unheilvolle Spaltung unseres Landes, nachdem es im Jahre 1945 nicht zur Herstellung gesamtdeutscher Verwaltungskörperschaften gekommen ist, im wesentlichen auf den von der sowjetischen Besatzungsmacht systematisch durchgeführten sozialen und politischen Entfremdungsprozeß in ihrer Zone zurückzuführen ist. Das ist richtig. Aber juristisch haben die Leute drüben bewußt immer erst nachgezogen gegenüber den Dingen, die hier, mitunter aus Notwendigkeit geboren, geschehen sind. Die Währungsreform ging hier voran, dann kam sie drüben. Die Verfassung haben wir 1949 gemacht, die drüben trat 1950 in Kraft. Die Souveränität wurde uns verliehen und später erst der sowjetischen Besatzungszone. Denken wir diese Kette des Verhängnisses weiter, in dem sich die juristische Ausprägung der Separierung der Teile Deutschlands voneinander manifestiert,

(Zuruf von der CDU/CSU: Und die Volkspolizei?)

dann kommen wir dazu, daß außer der schon vorhandenen Armee, die es drüben gibt

(Abg. Dr. Krone: Sehr wichtig, Herr Erler!)

— darauf komme ich noch zu sprechen, das wissen Sie genau wie wir —, dann auch die Wehrpflicht mit allen Konsequenzen eingeführt wird.

(Beifall bei der SPD.)

Bisher wird drüben mit jeder erdenklichen Art von Druck gearbeitet; das weiß ich. Aber Zehntausende von jungen Menschen haben es dennoch fertig bekommen, diesem Druck nicht stattzugeben und nicht in die Volkspolizei hineinzugehen. Von uns kann es abhängen, ob wir dadurch, daß es auch drüben kein Wehrpflichtgesetz gibt, es Zehntausenden unserer Landsleute ermöglichen, nicht gegen ihr Gewissen in einer kommunistischen Armee dienen zu müssen.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg. Arnholz: Das alles interessiert den Bundeskanzler nicht!)

Sollte es, was immerhin möglich ist, drüben aus anderen Gründen nicht zur Einführung der Wehrpflicht kommen, dann haben wir den Kommunisten sogar noch unfreiwillig einen Propagandapunkt für ihre Agitation geliefert.

(Sehr richtig! bei der SPD.)

Aber es gibt ja noch ein anderes Gebiet. Die Wehrpflicht löst die Wehrüberwachung aus. Wir wissen, welche große politische und nationale Bedeutung es hat, daß im vergangenen Jahre rund zwei Millionen Besucher aus der sowjetischen Besatzungszone zu uns gekommen und daß rund eine Million Menschen von hier in die sowjetische Besatzungszone gefahren sind. Das waren ebenso viele Möglichkeiten, den Deutschen diesseits und jenseits der Zonengrenze das Bewußtsein zu erhalten, daß sie e i n Volk sind und nicht zu zweien gehören. Das waren ebenso viele Möglichkeiten, der Bevölkerung der Zone immer wieder einen Hauch freiheitlichen Denkens, freiheitlicher Vorstellungen darzubieten. Meine Damen und Herren, ich bin der Überzeugung, daß wir auf diese Weise, durch diese Reisen, mehr für die Ungebrochenheit des Willens, das kommunistische Regime in der Zone abzulehnen, getan haben, als unter Umständen der Unterschied zwischen Wehrpflichtheer und Freiwilligenheer militärisch auszumachen vermag, selbst wenn es einen geben sollte.

(Beifall bei der SPD.)

Meine Damen und Herren, denken Sie an die Konsequenzen gerade für die persönlichen Beziehungen der Deutschen untereinander, die nach allen bisherigen Erfahrungen unvermeidlich mit der Einführung der Wehrpflicht verbunden sind.

(Zuruf von der SPD: Schade, daß der Kanzler wieder nicht zuhört!)



(Erler)

Denken Sie auch an die weitere Erschwerung der Situation Berlins!

(Zuruf von der SPD: Er soll doch hinausgehen, wenn er nicht zuhören will! Unerhört!)

Ich richte die Frage an den Herrn Bundeskanzler, —

(Lebhafte Zurufe von der SPD: Zuhören! — Unruhe. — Glocke des Präsidenten.)

Ich richte die Frage an den Herrn Bundeskanzler,

(Zuruf von der SPD: Was interessiert ihn denn die Ostzone! — Weiterer Zuruf von der SPD: Pfui!)

auf welche Weise die Bundesregierung, wenn es zur Einführung der Wehrpflicht käme, die Folgen in bezug auf die Erschwerung des Personenverkehrs zwischen den beiden Teilen Deutschlands zu verhindern gedenkt. Das soll uns die Regierung einmal sagen, bevor wir dazu Stellung nehmen.

(Beifall bei der SPD und beim GB/BHE. — Abg. Majonica: Sie provozieren ja die Maßnahmen der Regierung drüben! — Widerspruch bei der SPD. — Abg. Schröter [Wilmersdorf] : Oh wie billig, meine Herren!)

— Das ist ein billiges Argument! Seit wann warten die Kommunisten darauf, daß sie ein anderer erst gewissermaßen zu etwas anreizt!

(Abg. Dr. Krone: Sehr richtig!)


Dr. Kurt Georg Kiesinger (CDU):
Rede ID: ID0214303200
Sie haben das ja selber gesagt, Herr Erler! Sie widersprechen sich. Darf ich Sie fragen, wie diese Bemerkung eben in Einklang zu bringen ist mit Ihrer vorherigen Feststellung, daß man drüben immer erst nachgezogen habe, nachdem man im Westen vorangegangen sei.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0214303300
Vollkommen richtig! Ich habe damit sagen wollen: Wehrüberwachung hier bedeutet nach allen bisherigen Erfahrungen auch die Wehrüberwachung drüben und damit das Ende des Personenverkehrs.

(Zustimmung bei der SPD. — Abg. Majonica: Das ist keine Antwort! — Abg. Schröter [Wilmersdorf] : Das provozieren Sie!)

Das ist keine Frage der Reden dieses Bundestages,
sondern eine Frage der Gesetze, die Sie beschließen.

(Zustimmung bei der SPD. — Zuruf von der SPD: Dazu gehört nur ein bißchen Verstand! — Gegenruf des Abg. Majonica: Kann ich mir ja von Ihnen ausleihen!)

— Ja, das wäre vielleicht ganz nützlich, um das Niveau der Debatte allgemein zu heben.

(Abg. Pelster: Herr Hansen hat aber nichts übrig!)


Dr. Rudolf Vogel (CDU):
Rede ID: ID0214303400
Würden Sie bitte die groß& Freundlichkeit haben, uns zu sagen, durch welche deutsche Maßnahmen die Entstehung und der Aufbau der Volkspolizei provoziert worden ist?

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0214303500
Herr Kollege Dr. Vogel, wenn Sie vorher zugehört hätten, wüßten Sie, daß ich ganz klar gesagt habe, daß der politische und soziale Trennungsprozeß immer drüben vorangegangen ist, daß aber die juristischen Konsequenzen von der anderen Seite nach uns gezogen worden sind,

(Widerspruch bei der CDU/CSU)

und das ist für die Frage der Wehrpflicht etwas ganz Entscheidendes.

(Beifall bei der SPD.)

Da nützt es nichts, wenn Sie die Hände heben!

(Erneuter Beifall bei der SPD.)

Meine Damen und Herren, die Hände gegenüber einem Argument hilflos heben zeigt, daß man sich der Beweiskraft dieses Arguments eben nicht entziehen kann.

(Widerspruch bei der CDU/CSU.)

Ich sprach soeben von dem Gewissenskonflikt, in dem ein großer Teil unserer jungen Generation sich befindet — ob Sie die Gefühle der jungen Menschen teilen oder nicht, sie sind eine Realität — angesichts der möglichen Aussicht eines Bruderkrieges. Und da habe ich einmal gehört, daß ein Kollege dieses Hauses gesagt hat: Na ja, wenn der Bruder zum Verbrecher wird, dann müßte man sich eben doch auch dieses verbrecherisch gewordenen Bruders erwehren. Meine Damen und Herren, es handelt sich dabei nicht um den verbrecherischen Bruder, sondern um den Bruder, der unter Umständen von anderen, von den wirklichen Übeltätern gezwungen wird, sich so zu verhalten.

(Abg. Wienand: Das ist der Unterschied! — Weiterer Zuruf von der SPD: Siehe „Drittes Reich"!)

Ich warne davor, diese Dinge allzu leicht zu nehmen. Wo kommt die Bundesrepublik hin, wenn wir allzu leicht über die Gewissensbedenken des einzelnen Staatsbürgers hinweggehen und glauben, nur die Staatsräson, nur die militärischen Notwendigkeiten seien es, die unser gesamtes Handeln im wesentlichen beeinflussen und gestalten dürften. Ich frage mit großer Sorge: Wohin geht unsere Bundesregierung? Wir haben heute hier noch keine Debatte über das Vierte Strafrechtsänderungsgesetz. Aber ich finde, daß der Geist dieses Gesetzes, so wie es nach der Regierungsvorlage gestaltet werden soll, nicht frühzeitig genug im Zusammenhang mit der Einführung der Wehrpflicht hier zur Aussprache gestellt werden kann.

(Beifall bei der SPD und vereinzelt beim GB/BHE.)

Darin heißt es:
Wer unwahre oder gröblich entstellte Behauptungen tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, um andere vom Wehrdienst abzuhalten oder die Bundeswehr in der Erfüllung ihrer Aufgaben zu behindern, wird mit Gefängnis bestraft.
Die Vorschrift habe, wie es heißt, im früheren deutschen Strafrecht kein Vorbild. In den USA, England, Italien usw. sei sie auf Kriegs- oder Krisenzeiten beschränkt. Sie solle in erster Linie dazu dienen, den modernen Methoden des sogenannten kalten Krieges entgegenzuwirken; denn — so heißt es weiter — es müsse damit gerechnet werden, daß die verfassungsfeindlichen Elemente versuchen würden, durch Aufstellen unwahrer oder gröblich entstellter Behauptungen die Bereitschaft der Bevölkerung zum Wehrdienst zu untergraben.


(Erler)

Man will damit auch der gefährlichen Flüsterpropaganda entgegenwirken.

(Zurufe von der SPD.)

Meine Damen und Herren, warum führe ich das hier an? Weil damit gezeigt wird, auf welchen Gleisen von der freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung weg wir uns begeben würden, wenn wir in dieser Weise versuchten, die aus lauteren Motiven geborene Kritik an einer bestimmten konkreten Ausprägung der Politik mit strafrechtlichen Mitteln zu bekämpfen.

(Lebhafter Beifall bei der SPD sowie vereinzelt beim GB/BHE und rechts.)

Über den notwendigen Schutz militärischer Institutionen — wenn Sie schon die Bundeswehr haben — vor klaren Fällen von Sabotage und dergleichen besteht gar keine Meinungsverschiedenheit.

(Abg. Pelster: Na also!)

Aber die Meinungsverschiedenheiten setzen dort ein, wo mit Gummiparagraphen, mit Gummiartikeln in Wirklichkeit die Meinungsäußerung getötet werden soll.

(Lebhafter Beifall bei der SPD sowie vereinzelt beim GB/BHE und rechts.)

Meine Damen und Herren, sowohl in den Ausführungen des Verteidigungsministers als auch in denen des Kollegen Kliesing ist ein Blick auf die strategische Situation in der Welt geworfen worden. Am Anfang dieser Debatte steht ja eigentlich noch unvergessen das gelassene Wort des Bundeskanzlers: Wenn die Bundesrepublik in den Atlantikpakt eintritt, dann wird sie nicht Kriegsschauplatz,

(Abg. Wienand: Woher weiß er das?)

während sie sonst Kriegsschauplatz wird. Meine Damen und Herren, wenn es zu einem großen Konflikt — den es hoffentlich nie geben wird — zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, zu einem Zusammenprall der beiden Blöcke kommt, wird ganz Deutschland Kriegsschauplatz, gleichgültig, wie groß die Armee ist, die sich in diesem Lande befindet.

(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der CDU/CSU.)

Die wirkliche Abschreckung eines solchen großen Angriffs, an den heute in der Welt niemand mehr glaubt, ist das Bewußtsein der beiden Seiten, daß der große Konflikt nur mit der nahezu völligen Zerstörung

(Abg. Hilbert: Aller!)

der beiden Hauptbeteiligten, hüben wie drüben, enden könnte. Und da wollen wir doch jetzt hier nicht so tun, als ob wir morgen oder übermorgen mit einer Aggression durch die Sowjetunion als unmittelbar bevorstehender militärischer Bedrohung zu rechnen hätten.
Herr Kollege Kliesing hat, ich glaube, zu Recht, darauf aufmerksam gemacht, daß es immerhin noch eine andere Seite der Betrachtung dieses Problems gibt, nämlich die gegebene Notwendigkeit für den Fall, daß einmal die beiden großen Weltblöcke ihre physische Anwesenheit hier im Herzen des Kontinents — und solange sie da sind, beißen sie sich auch nicht — verändern werden. Er hat gemeint, man müsse — wohl für den Fall, daß sich bis dahin die Wiedervereinigung nicht unter dem Schutz der vier Mächte bereits friedlich und in Freiheit vollzogen habe — ein Gegengewicht haben gegen das, was in der sowjetischen Besatzungszone aufgebaut sei. Wenn Sie diesem Gedanken des Kollegen Kliesing folgen, sollten Sie sich darüber im klaren sein, daß Sie dafür nun_ weiß Gott weder eine Armee von einer halben Million Mann noch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht brauchen,

(Zustimmung bei der SPD)

zumal da Sie selbst immer wieder darauf hinweisen, in welchem Umfang sich die Armee der sowjetischen Besatzungszone innerlich durch Abwanderung in die Bundesrepublik Deutschland schwächt und zersetzt.
Ich bin der Überzeugung, daß die paar Bemerkungen, die der Herr Verteidigungsminister hier gemacht hat und die wir für heute zum Anlaß nehmen konnten, etwas auf die strategische Lage in der Welt einzugehen, nicht ausreichend sind zur Beurteilung der Notwendigkeit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht.

(Abg. Mellies: Sehr richtig! — Abg. Schröter [Wilmersdorf]: Das kann man wohl sagen!)

Die wirkliche Aufgabe der Bundeswehr, die sich nur aus einer gründlichen weltpolitischen und strategischen Analyse ergeben könnte, ist seit Jahren im Ausschuß nicht zur Diskussion gestellt worden. Ich bin daher der Meiung, daß wir, da sich immerhin seit den Jahren 1950 bis 1952, als die Pläne ausgearbeitet wurden, etwas verändert hat, den Vorschlag aufgreifen sollten und verlangen müssen, daß eine unabhängige Sachverständigenkommission alles erreichbare Material zusammenträgt, um mit großer Sachkunde und großem Freimut und in wirklicher Unabhängigkeit von denen, die natürlicherweise nur ihre Politik durchzusetzen entschlossen sind, oder von denen, die die Politik der anderen bekämpfen, wie das bei der Opposition der Fall ist, das Problem der Sicherheit zu erörtern. Ein Mann, der etwas davon versteht — man kann sonst zu ihm stehen, wie man will —, der frühere Generalfeldmarschall von Manstein, hat dazu geschrieben, daß „die Frage ,Wehrpflicht oder Berufsheer` mit anderen Problemen verknüpft ist, deren Lösung kein Politiker oder Journalist aus dem Ärmel schütteln kann". Er schreibt weiter:
Welcher Art ist die Kampfführung im atomaren Zeitalter, durch die die Form künftiger Streitkräfte bestimmt wird? Wie muß neben den aktiven der NATO unterstehenden Streitkräften die „Heimatverteidigung" organisiert werden? Wie findet die Abgrenzung dieser beiden Aufgaben gegeneinander statt, und welchen Kräfteaufwand erfordern sie?
Schließlich:
Wie soll nach Art und Dauer ein etwaiger Wehrdienst beschaffen sein unter Berücksichtigung der militärischen Erfordernisse sowie der finanziellen und wirtschaftlichen Folgen?
Daher empfiehlt Herr von Manstein gleichfalls die Schaffung eines solchen Organs. Wir haben das mehrfach von dieser Tribüne her gefordert, und ich möchte Ihnen sagen: wenn die Bundesregierung keine Anstalten trifft, diesem Wunsche in vertretbarer Weise zu entsprechen, werden wir eben notfalls von den Möglichkeiten Gebrauch machen müssen, die dem Verteidigungsausschuß als Untersuchungsausschuß zur Verfügung stehen, um auf diese Weise einmal eine Klärung dieser Grund-


(Erler)

probleme zu erreichen, bevor wir die Frage der Wehrpflicht endgültig mit Ja oder Nein beantworten.

(Zustimmung bei der SPD.)

Die Bundesregierung hat sich in ihrer Denkschrift einige Bemerkungen gestattet, die nicht ohne weiteres unwidersprochen bleiben können. Da heißt es z. B., daß die Sowjetunion nach ihren letzten Erklärungen auch vor der Anwendung von Atomwaffen nicht zurückschrecken wird. Das ist sicher richtig. Aber eines möchte ich dem Kollegen Kliesing hier zu seinem strategischen Gemälde noch mit auf den Weg geben: aus den Erklärungen gerade des Oberkommandierenden der Atlantikorganisation, General Gruenther, geht seit geraumer Zeit eindeutig hervor, daß er der Meinung ist, auch für den Fall der Bereitstellung einer deutschen Armee von einer halben Million Mann sei die numerische Unterlegenheit der Atlantikmächte in Europa gegenüber dem sowjetischen Aufgebot so groß, daß im Falle eines Angriffs auf jeden Fall sofort mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen geantwortet würde. Es ist also nicht so, daß man sagen kann: Wer die halbe Million will, der sichert uns vor dem Einsatz von Atomwaffen, und wer statt dessen eine kleinere Armee — da es nun eine geben wird — für erträglicher hält, der beschwört den Einsatz von Atomwaffen herbei.

(Vizepräsident Dr. S c h m i d übernimmt den Vorsitz.)

So ist es gar nicht. Die Erklärungen Gruenthers sagen eindeutig, daß auf jeden Fall — und so ist es auch beschlossen — die Planung der Atlantikpaktorganisation zum Ausgleich der sowjetischen Zahlenüberlegenheit den sofortigen Einsatz von taktischen Atomwaffen vorsieht. Und darauf haben die Russen nun ihre Erklärung gesetzt: Wer taktische Atomwaffen einsetzt, muß eben wissen, daß es damit den allgemeinen Atomkrieg gibt.
Meine Damen und Herren, ich weiß, derart schauerliche Gedankengänge zu erörtern ist unangenehm, auf allen Seiten des Hauses. Aber wir müssen nun einmal die Realitäten ins Auge fassen. Wir können doch nicht so tun, als gäbe es dieses böse Problem nicht.
An einer anderen Stelle heißt es in der Denkschrift, daß die Basen für eine Vergeltung mit Atomwaffen nicht geräumt werden dürften und man aus diesem Grunde hier in der Bundesrepublik die Armee in der geplanten Größe haben müsse. Aber diese Basen für die Vergeltung befinden sich gar nicht in der Bundesrepublik!

(Zurufe von der SPD: Eben! Sehr wahr!)

Die hat man nämlich dem mutmaßlichen Gegner zu Recht nicht so nahe vor die Haustür gesetzt, daß er sie mit einem Prankenhieb auslöschen könnte. So selbstmörderisch ist die Atlantikpaktorganisation gar nicht gewesen. Deshalb ist mir dieser Satz in der Denkschrift schlechthin unverständlich.
Ich könnte noch sehr vieles zu der Denkschrift im einzelnen bemerken. Ich glaube, die bisherigen Beispiele haben schon völlig ausgereicht, den unvollkommenen Charakter dieser Schrift darzutun.

(Abg. Mellies: Das ist aber sehr freundlich ausgedrückt!)

Aber eine Frage möchte ich an die Regierung richten; denn sie bedarf dringend der Klärung. Auf Seite 7 der Denkschrift heißt es:
Dabei muß mit zivilen Organisationen eng zusammengearbeitet werden. Für diese bodenständigen Streitkräfte sind rund 50 000 Mann als aktiver Stamm nötig. Dieser muß stets verwendungsfähig sein.
Wenn Worte einen Sinn haben, dann heißt das, daß die 50 000 Mann, die man aus den aktiven Streitkräften entnimmt, als aktiver Stamm für eine bodenständige Verteidigung doch nur den Kern einer größeren Organisation darstellen. Vielleicht ist die Bundesregierung so freundlich und erklärt uns einmal, was dieser Satz bedeutet und welche Gesamtplanung sie auf diesem Gebiet eigentlich hat, weil ich nämlich der Meinung bin, daß dann manches, was wir hier vom Minister an vernichtenden Urteilen über die Miliz gehört haben, zum Schluß dadurch widerlegt wird, daß für diesen Zweck die Bundesregierung die Einführung einer Miliz beabsichtigt.

(Zurufe von der SPD.)

Hier ist — um kurz das innenpolitische Problem zu berühren — davon gesprochen worden, daß Wehrpflicht und Demokratie untrennbar miteinander verbunden seien. Wenn wir von freundschaftlichen Gefühlen innerhalb der im Atlantikpakt zusammengeschlossenen Staaten füreinander ausgehen wollen, dann meine ich, daß man keine so harten, verdammenden Urteile über die angelsächsischen Völker hätte fällen dürfen. Das haben sie nicht verdient, daß wir ihnen in dieser Weise den demokratischen Charakter ihrer mehrhundertjährigen Geschichte deshalb absprechen, weil sie sich zu den Gegnern der Wehrpflicht gezählt haben.

(Sehr gut! bei der SPD.)

Weiterhin ist gesagt worden, ein Freiwilligenheer stelle eine größere Gefahr als ein auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht gebildetes Heer dar, zum Staat im Staate zu werden. Meine Damen und Herren, der Anteil der Berufssoldaten wächst in allen Armeen der Welt, in Großbritannien und in den USA ganz besonders, wie wir — in dem Punkt wenigstens zutreffend — der Denkschrift der Regierung entnehmen können. Auch bei uns ist ein hoher Anteil an derartigen länger dienenden Freiwilligen und Berufssoldaten beabsichtigt. Der Geist der Gesamtarmee hängt — auch wenn Sie die Wehrpflicht einführen — nicht von der Gesinnung der Wehrpflichtigen, sondern von der Gesinnung des Kerns und der Vorgesetzten ab,

(Beifall bei der SPD und der FDP)

denn der ist in beiden Fällen identisch. Wer sich als demokratisch gewählte Regierung — die es gegeben hat, bevor mit dem Aufbau der Streitkräfte begonnen worden ist — nicht zutraut, jedes Offiziers- und Unteroffizierskorps, gleich, bei welcher Wehrverfassung, zu einem zuverlässigen Träger dieser Demokratie zu machen, der ist für sein Amt nicht tauglich, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der SPD und der FDP.)

Nach den früheren mannhaften Worten des Kollegen Blank möchte ich annehmen, daß er sich das durchaus zutraut, und er hat lediglich aus propagandistischen Gründen das Argument gebraucht, daß jedes Berufsheer Gefahr laufe, ein Staat im Staate zu werden, und daß in einem Berufsheer nur schwer jener Typ des Offiziers herangebildet werden könne, der sich der demokratischen Verfassung verpflichtet wisse und die Achtung genieße, die ihm zukommt. Wenn hier verantwortliche Männer das


(Erler)

Steuer der Personalpolitik fest in Händen halten, muß es in jeder Form der Heeresverfassung möglich sein, einen Typ von Offizieren heranzubilden, der sich der demokratischen Verfassung verpflichtet weiß. Wer das nicht mit einer Freiwilligenarmee schafft, der schafft es mit denselben Leuten auch dann nicht, wenn Sie ihnen noch ein paar hunderttausend Wehrpflichtige zur Ausbildung überantworten.

(Beifall bei der SPD.)

Eine neue Lage erfordert neue Mittel. Wir können die Lage, in der sich das deutsche Volk durch die Spaltung befindet, nicht einfach mit der Lage irgendwelcher anderer Staaten und Völker, die sich im Zustande der freien Einheit befinden und von daher für ihre Sicherheit zu sorgen sich bemühen, vergleichen. Wir haben ein Interesse daran — das ist die Hauptsorge unserer Politik —, alles zu tun, damit die Wege, die zur Wiedervereinigung Deutschlands führen können, offengehalten werden, alles zu tun, damit nicht durch eigenes Verschulden neue Hindernisse auf diesem Weg getürmt werden.
Früher hat der Herr Bundeskanzler mit Recht auf den inneren Zusammenhang aufmerksam gemacht, den es zwischen dem großen Problem der Abrüstung in der Welt, dem Problem der europäischen Sicherheit und der Wiederherstellung der deutschen Einheit gibt. Wir wissen alle, daß wir die Welt davor warnen müssen, der Illusion nachzujagen, als könnte man ein wirksames Abrüstungsabkommen auf der Grundlage der deutschen Spaltung erreichen. Es wird keine Liquidierung des Kalten Krieges geben können und infolgedessen auch kein auf Abbau des Mißtrauens gegründetes Ende des Wettrüstens, solange hier im Herzen Europas das deutsche Volk gegen seinen Willen in zwei verschiedene Teile zerrissen ist und diese Teile aneinander rütteln. Es gibt keine dauerhafte Friedensordnung in Europa und vermutlich also auch kein wirksam funktionierendes Abrüstungsabkommen, ohne daß die deutsche Wiedervereinigung in Freiheit in dieses System von Vereinbarungen eingebaut wird.
Aber auf der anderen Seite wissen wir, daß ohne einen merklichen Abbau der Spannungen zwischen Ost und West, ohne eine Beendigung des Wettrüstens beide Teile nicht daran denken, ihre militärischen Positionen im Vorfeld ihrer Verteidigung irgendwie in Mitleidenschaft ziehen zu lassen. Deutschland bleibt also automatisch zerrissen, solange dieser Zustand der internationalen Spannungen und des Wettrüstens andauert. Daher besteht ein deutsches Interesse daran, daß Fortschritte bei den Abrüstungsverhandlungen erzielt werden. Wir haben keinen Grund, etwa schadenfroh zur Kenntnis zu nehmen: Man ist wieder einmal ohne Einigung auseinandergegangen.

(Sehr wahr! bei der SPD. — Abg. Dr. Kliesing: Wer ist denn schadenfroh?)

— Nein, ich habe nur gesagt, daß wir keinen Grund haben; und ich freue mich, daß Sie dieselbe Auffassung haben, Herr Kollege Kliesing.
Ist es denn nicht gestattet, daß in diesem Hause einmal ein Mann zu einer solchen Frage seine Sorge ausdrückt und dabei für das ganze deutsche Volk spricht, auch wenn er einmal aus den Reihen der Opposition kommt?

(Lebhafter Beifall bei der SPD.)

Wir alle haben kein Interesse daran — Sie auch
nicht —, schadenfroh darauf zu blicken. Wir alle
wären froh gewesen, wenn man viele Fortschritte ermöglicht hätte, um auch in der Deutschlandfrage, die nach unserer festen Überzeugung politisch untrennbar mit dem Problem der Entspannung und der Abrüstung verbunden ist, weitere Fortschritte zu erzielen. Insofern ist es bitter zu beklagen, wenn an die Stelle von Vereinbarungen lediglich ein Kommuniqué getreten ist, daß man sich in bestimmten Punkten nähergekommen sei, aber eben doch in Wahrheit der Zustand der Spannungen und des Wettrüstens weiter andauert. Ich jedenfalls beklage dieses Karussell, das seit einigen Jahren im Gange ist, in dem die Position der einen Seite heute die der anderen von gestern ist und die der anderen von gestern die der einen von heute.
Wie ist denn das z. B. bei den konventionellen und den Atomwaffen? Da hat man auf sowjetischer Seite erst gesagt: Man muß mit dem Atom anfangen! Die Amerikaner haben - mit Recht — gesagt: Es wäre Selbstmord, wenn wir unsere Überlegenheit bei den Atomwaffen wegwerfen würden und die russische Überlegenheit bei den konventionellen Waffen übrig bliebe. Jetzt kommen die Russen mit Vorschlägen über die Beschränkung und Kontrolle der konventionellen Waffen, und sofort kommt die Kritik der Westmächte: Ja, und wo bleibt die Atomkontrolle? — Die Fronten sind also jetzt völlig verschoben. Ich will gar nicht untersuchen, auf wessen Verhalten das im einzelnen zurückzuführen ist. Das Entscheidende, worauf es ankommt, ist, daß sich angesichts dieses Karussells in den letzten Jahren keine Einigung abzeichnet. Ähnlich sieht es mit dem Hin und Her auf dem Gebiet der Bodenkontrolle aus, die die Russen zuerst nicht wollten und jetzt zugegeben haben, und auf dem Gebiet der Luftinspektion, die nun von der andern Seite als wesentliche Forderung bezeichnet worden ist.
Aber der Grund, weshalb ich eigentlich diese Frage hier anschneide, ist der innere Zusammenhang zwischen der Aufstellung einer deutschen Armee von einer halben Million Mann und einer weiteren Erschwerung der internationalen Abrüstungsdiskussion. Die Vereinigten Staaten hatten ursprünglich vorgeschlagen, man sollte eine Obergrenze für die Truppenstärke der Länder festlegen. Die Sowjetunion hat diesen Vorschlag ursprünglich nicht akzeptiert. Dann ist die Sowjetunion auf den Vorschlag eingegangen. Nun ergab sich, da von beiden Seiten bis zu diesem Zeitpunkt annähernd gleiche Zahlen in die Debatte geworfen worden waren, daß diese Festlegung der international eventuell geplanten Grenzen die Armee von einer halben Million Mann der Bundesrepublik Deutschland als unproportioniert groß erscheinen ließ. Plötzlich ist auch diese sich abzeichnende Einigung wieder in die Brüche gegangen. Ich darf Ihnen vorlesen, was heute von dem dpa-Korrespondenten aus London zu diesem Thema gemeldet wird:
Als Höchststärken für die Streitkräfte wurden von beiden Seiten Ziffern genannt, die zwar nicht miteinander übereinstimmen, aber nach der Meinung von Sachverständigen Raum für Verhandlungen bieten. Für die USA und die Sowjetunion sollten nach dem amerikanischen Vorschlag je 2,5 Millionen Mann, nach dem sowjetischen Vorschlag je 1,5 Millionen, für Großbritannien und Frankreich je 750- bzw. 650 000 und für andere Mächte je 500 000 bzw. 200 000 festgelegt werden.


(Erler)

Nun kommt der entscheidende Satz:
Die russischen Zahlen waren im vorigen Jahr aus einem anglo-französischen Plan übernommen worden. Deshalb wird den Westmächten jetzt von der Sowjetunion vorgehalten, daß sie ihre eigenen Pläne in demselben Augenblick ablehnen, in dem die Sowjetunion sie sich zu eigen macht.
Das heißt, daß man den Kommunisten in dieser Abrüstungsdiskussion noch einen Propagandapunkt hingespielt hat. Warum eigentlich? Der Zusammenhang ist leider so klar, daß wir uns ein bißchen an die eigene Brust schlagen müssen. In Washington wurde in einer Pressekonferenz der amerikanische Außenminister gefragt: „Wenn es zu einer so beabsichtigten Festlegung der Höchststärken der Armeen käme, hätte das irgendwelche Einwirkungen auf das Ausmaß des deutschen Verteidigungsbeitrags?" Darauf hat der amerikanische Außenminister Dulles gesagt: „Wenn es zu einer solchen Einigung kommt, dann ja." Damit wurde klar, daß in einem solchen Fall die Halbmillionen-armee eben zu groß wäre. Alsdann hat das Interesse an der Aufstellung der Halbmillionenarmee das Interesse daran, sich auf der Grundlage einer Maximalgrenze für die Weltmächte von 1,5 Millionen Mann zu einigen, überwunden. Damit wir eine halbe Million aufstellen dürfen, fordern die Vereinigten Staaten jetzt 21/2 Millionen für sich und die Sowjetunion.

(Hört! Hört! bei der SPD.)

Meine Damen und Herren, deutlicher kann man, glaube ich, nicht zeigen, wie das starre Festhalten an einer unter völlig anderen Umständen geborenen Zahl die Lösung jener Frage erschwert, mit der zusammen auch Fortschritte in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands erreicht werden können. Wir sind schlecht beraten, wenn wir sagen: Wir bestehen wie Shylock auf unserem Pfund Fleisch, wir haben die Erlaubnis, eine halbe Million Mann aufzustellen, und nun muß das auch bis zum letzten Grenadier ausgeschöpft werden. Ich finde, auch das Argument sticht eigentlich nicht, daß man, um zu einer Abrüstung zu kommen, erst einmal aufrüsten müsse. Man kann sich unter Umständen auch gleich auf der vorgesehenen mittleren Linie treffen.
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen diesen Zusammenhang deswegen klargemacht, weil wir begreifen müssen, daß Rüstungsbeschränkung und -kontrolle, ganz gleich, was wir tun, aus objektiven Gründen im internationalen Gespräch bleiben werden. Die tödliche Gefahr der Wasserstoffwaffen ist es, die beide Teile immer wieder an den Tisch zwingt, an dem über diese Frage geredet wird. Wir müssen dafür sorgen, daß dann die deutsche Frage so mit Vorschlägen in die Weltdiskussion um Rüstungsbegrenzung und -kontrolle hineingepaßt wird, daß wir das Zustandekommen einer Regelung auf beiden Gebieten erleichtern und nicht erschweren.
Ich möchte mich noch kurz zu einigen Einzelfragen äußern. Zum Problem der Kriegsdienstverweigerung wird mein Kollege Merten noch Ausführungen machen. Wir finden, daß die Regelung, die das Gesetz vorsieht, dem Geist und Buchstaben des Art. 4 des Grundgesetzes nicht gerecht wird.

(Sehr richtig! bei der SPD.) Gestatten Sie mir eine Bemerkung hierzu. Sie berufen sich darauf, Politik aus christlicher Verantwortung zu treiben. Wer das tut, der sollte sich nicht dazu hergeben, bei der Erörterung der Kriegsdienstverweigerung den Grundsatz aufzustellen, man könne Politik und Gewissen trennen Das geht gar nicht.


(Beifall bei der SPD.)

Noch einige Probleme minderer Bedeutung. Ich habe es für eine sehr verunglückte Sache gehalten, daß der Herr Verteidigungsminister sich bemüßigt gefühlt hat, in seiner Verteidigung der Wehrpflicht ein paar Argumente mit ins Feld zu führen, die man eigentlich nur mit der linken Hand behandeln kann. Da heißt es, daß mancher Jugendliche eine Freundschaft fürs Leben finden wird. Gibt es keine anderen Möglichkeiten, Jugendlichen zu Freundschaften zu verhelfen?

(Lachen und Zurufe von der SPD.)

Oder es heißt, daß die allgemeine Wehrpflicht die Volksgesundheit verbessern wird.

(Lachen bei der SPD.)

Ich finde, mit dem Bau von Turnhallen wäre
auch ein ganz schätzenswerter Beitrag geleistet.

(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP.)

Es gibt in Ihren Reihen eine ganze Reihe von Gründen für die Wehrpflicht, die nicht die unseren sind. Aber auf diese Gründe sollten Sie, meine Damen und Herren, in Ihrem eigenen Interesse besser verzichten.

(Abg. Kiesinger: Es gehen nicht alle in die Turnhallen!)

— Doch, es liegt auch an den Turnhallen. Allein in Baden-Württemberg fehlen noch über 1000, wie Ihnen wahrscheinlich aus unseren Wahlprogrammen bekannt sein dürfte.

(Abg. Kiesinger: Trotzdem nicht genug!)

— Ich hoffe, daß die neue Landesregierung in Baden-Württemberg sich unverzüglich an die Erfüllung ihrer Zusage macht, in den nächsten vier Jahren tausend Turnhallen zu bauen.
Die Denkschrift, die ich damit jetzt auf die Seite legen möchte

(Abg. Berendsen: Nur zunächst!)

— nein, nicht zunächst, ganz und gar! —, wird in dieser Form nicht die Grundlage der Beratungen des Ausschusses über die Frage sein können, ob Wehrpflicht oder nicht. Dazu erwarte ich, daß die Denkschrift erst einmal zu einer wirklichen Denkschrift mit der Darlegung aller wesentlichen Gründe des Für und Wider ausgeweitet wird und sich nicht auf eine mitunter etwas volkstümlich gehaltene reine Apologetik beschränkt.

(Sehr wahr! bei der SPD.) Ich will hier mildernde Umstände geben


(Heiterkeit)

und, als Überschrift ein Wort des Kollegen Horn von gestern aufgreifend, der Denkschrift den Titel verleihen: Eine rein agitatorische Denkschrift der Bundesregierung.

(Beifall bei der SPD.)



(Erler)

Dabei ist noch eines fraglich. Vielleicht äußert sich einmal der Herr Bundeskanzler dazu. Ich habe den Eindruck, daß es sich nicht einmal um eine Denkschrift der Bundesregierung handelt. Sie müßte dann jedenfalls in einem sehr späten Stadium noch so beschlossen worden sein. Vielleicht kann uns der Herr Bundeskanzler einmal sagen, wann diese Denkschrift in dieser Form vom Verteidigungskabinett gebilligt, dem Kabinett zugeleitet und von diesem beschlossen worden ist,

(Sehr gut! bei der SPD)

damit wir einmal prüfen können, wie weit wirklich das Gewicht der Bundesregierung hinter dieser Denkschrift steht oder wie weit sich die Bundesregierung nicht vielleicht doch entschließt, für die Beratungen des Ausschusses ein etwas besser abgerundetes und zuverlässigeres Dokument zur Verfügung zu stellen.
Das Wehrpflichtgesetz entspringt dem Denken, die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus vorwiegend als ein rein militärisches Problem anzusehen. Auch der Kollege Kliesing hat sich hier bemüht, es so darzutun, daß die Verteidigung von Freiheit und Menschenwürde untrennbar mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht verbunden sei, also im wesentlichen ein militärisches Problem sei.
In der gleichen Zeit, in der der Westen wie gebannt auf die Zahl der Divisionen hüben und drüben gestarrt hat, hat die Sowjetunion politischen Erfolg auf Erfolg eingeheimst, obwohl das eigentlich gar nicht notwendig gewesen wäre. Welche Chance hätten die Entthronung Stalins und die damit im Gefolge eintretende Erschütterung des sowjetischen Systems in der Sowjetunion und in den Satellitenstaaten einer wirklich konstruktiven Politik der Westmächte geboten! Statt dessen ist der Sowjeteinfluß gestärkt worden im Nahen, Mittleren und Fernen Osten, auch in Nordafrika. Wir haben die Auseinandersetzung also meist am falschen Ort, zur falschen Zeit und mit den falschen Mitteln geführt. Wettrüsten allein ist kein Ersatz für Politik. Wie heißt es dazu in der Osterbotschaft des Papstes?
Festes Vertrauen ist unerläßliche Voraussetzung für den Triumph des Friedens. Deshalb sind sicherlich nicht die seine Verteidiger, die sich beugen lassen vorn Wind des Pessimismus, der, absichtlich verbreitet, seinen Ausdruck findet in dem entmutigenden Wort: Es nutzt ja doch nichts ...
Jeder Tag bedeutet einen traurigen Schritt voran auf dem unheilvollen Weg in ein Rennen, um allein, um zuerst, um besser zum Ziel zu kommen. Und die Menschheit verliert beinahe die Hoffnung, daß es möglich sein werde, diesen menschen- und selbstmörderischen Wahnsinn
— der Papst spricht vom Atomwettrüsten — aufzuhalten.
Damit wandte er sich an alle Seiten, das ist selbstverständlich. Solche Worte darf man nie nur einer Seite sagen, denn dann bleiben sie sinnlos.
Es wird jetzt gelegentlich so getan, als ob eine neue Initiative zur Ausweitung oder Inkraftsetzung des Art. 2 des Atlantikpaktes dem Westen hier ein neues Feld der Betätigung geben würde. Damit verändern Sie doch den Charakter der Blockbildung und der Militärallianzen nicht! Wenn wir die Initiative zurückgewinnen wollen, wir aus der besonderen Lage des deutschen Volkes heraus, dann nicht durch Beharren auf jedem Buchstaben alter militärischer Pläne, sondern durch ernsthafte politische Vorschläge, welche die Wiedervereinigung Deutschlands mit einem System der Rüstungsbegrenzung und -kontrolle verbinden. Dann sollen wir aber nicht nur fordern, daß es die andern tun, sondern dann sollen wir durch eigene Gedanken, von der Bundesregierung unseren Partnern vorgetragen, vorschlagen, wie man diese Verbindung herstellen kann. Für unser Volk, ob mit oder ohne Wehrpflicht, gibt es keine wirkliche Sicherheit, bevor es nicht in Frieden und Freiheit wiedervereinigt ist.

(Beifall bei der SPD.)

Bis dahin handelt es sich nur um Notlösungen, und dann sollte der Inhalt dieser Lösung auch dem Charakter der Notlösung entsprechen.

(Erneuter Beifall bei der SPD.)

Ich fasse zusammen: Wir sind völkerrechtlich nicht zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gezwungen. Meine politischen Freunde halten unter den heutigen Bedingungen die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für schädlich. Deshalb werden wir der Überweisung der Vorlage an die Ausschüsse des Bundestags nicht zustimmen.

(Langanhaltender lebhafter Beifall bei der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214303600
Das Wort hat der Abgeordnete von Manteuffel.

Hasso von Manteuffel (FDP):
Rede ID: ID0214303700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine politischen Freunde haben mich beauftragt, nur zu zwei Fragen heute Stellung zu nehmen, die jetzt zur Entscheidung stehen, und zwar zu der Frage nach dem Wehrsystem und danach kurz auch noch zur Frage der Dienstzeitdauer, weil wir die anderen Fragen ja im Ausschuß besprechen können.
Die Frage des Wehrsystems ist nach meiner Auffassung nur aus der Schau zu beantworten: Wie kann unter Berücksichtigung aller politischen, wirtschaftlichen und militärischen Verhältnisse die Wehrkraft des Volkes am wirkungsvollsten eingesetzt werden? Hierbei sind dann die Lage innerhalb der Gemeinschaft, in der wir leben, die Lage, die durch die zersetzende Zweiteilung Deuschlands entstanden ist, die personellen, psychologischen, gegesetzgeberischen und finanziellen Schwierigkeiten — um nur einige zu nennen — gleichfalls in Rechnung zu stellen. Ich stelle das voran, weil in der Debatte in der Öffentlichkeit und in dem, was man darüber liest und hört, die Grundzüge sehr verschwommen dargestellt werden. Ich meine, die gesamte Frage sollte, wie es soeben bei meinen beiden Vorrednern geschehen ist, nur unter rein sachlichen Gesichtspunkten der staatspolitischen Notwendigkeiten und nicht etwa unter wahltaktischen Berechnungen, erst recht nicht mit einem spekulativen Blick auf die nächste Bundestagswahl erörtert werden. Das ist herauszustellen, weil ein Teil der Sprecher in der Öffentlichkeit im Grundsatz einer allgemeinen Wehrpflicht zustimmt, aber mit den merkwürdigsten Verklausulierungen sich in der Gegenwart der unangenehmen Pflicht entledigen will, klar Stellung zu nehmen. Ich bin der Auf-


(von Manteuffel [Neuß])

Fassung, daß Wehrprobleme keine Wahlschlager sind,

(Abg. Kiesinger: Sehr richtig!) jetzt nicht, 1957 nicht — und nicht so!


(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Bei dem politischen Aspekt, unter den die ganze Problematik zu stellen ist, sollten wir nicht vergessen, daß es heute keine einzelnen Völkerschicksale mehr gibt, sondern daß auch wir einer Gemeinschaft von Völkern angehören, die, wie Herr Erler früher mehrfach gesagt hat, entweder gemeinsam weiterlebt oder in der Umwelt, in der wir nun einmal leben müssen, gemeinsam untergeht. In diesem Sinne wird eben viel zu oft vergessen, daß die gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen in der Gemeinschaft, in der wir leben, kein Selbstzweck sind, sondern daß es darauf ankommt, aus politischen wie aus militärischen Gründen das Gleichgewicht zwischen militärischer Stärke und wirtschaftlichen, sozialen und politischen Notwendigkeiten zu wahren und diese Dinge miteinander in Einklang zu bringen, und zwar nicht nur bei uns, sondern auch im Verhältnis zu unseren Verbündeten. Ich meine, wir sollten bei dieser Schau auch nicht vergessen, daß wir nicht der freie souveräne Staat wären, der wir heute sind, wenn nicht die äußerst kostspieligen Verteidigungsanstrengungen unserer jetzigen Verbündeten nach dem Kriege gewesen wären.
Der deutsche Verteidigungsbeitrag hat nur einen Sinn im Rahmen der Gemeinschaft, und die Bundeswehr kann nur ein Teil der westlichen Verteidigungsmacht sein. Die Verträge verpflichten uns — wie Herr Erler soeben sehr ausführlich dargelegt hat — zu einem angemessenen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung, wobei jedes Mitglied — das ist richtig — über das Ausmaß seiner politischen und militärischen Vertragsverpflichtungen selbständig zu entscheiden hat. Ich bin aber der Auffassung, daß die Aufstellung eines nach Zahl, Art, Bewaffnung und Ausrüstung nicht wirksamen Verteidigungsinstrumentes einer solchen Verpflichtung nicht gerecht wird.
Ich schicke dies voraus, weil teilweise die politische und strategische Folgerung gezogen wird, daß die Streitkräfte der Bundeswehr keine andere Funktion haben als die, das militärische Gleichgewicht zu dem Potential der sogenannten DDR herzustellen. Ich glaube, dieser Definition liegt — das ist jedenfalls meine und die Auffassung meiner politischen Freunde — der Wunsch zugrunde, die Bundesrepublik zu einem regionalen Sondergebiet innerhalb der NATO zu machen. Ich halte das für falsch und für gefährlich. Erstens sind die militärischen Leistungen der einzelnen Staaten nicht auf deren jeweilige Nachbarn zugeschnitten, sondern sie werden als Teilbeträge für die Aufgaben innerhalb des Gesamtorganismus verstanden und gewertet werden müssen. Man kann zweitens auch nicht übersehen, wie stark die Sowjets militärisch unter Einschluß der Armeen ihrer Einflußgebiete und unter Einbeziehung der vormilitärischen Ausbildung beider Geschlechter auf breitester Grundlage im Zusammenhalt mit den sogenannten Werkschutzeinheiten, Werkschutzabteilungen und vielem anderen in ihrem Lande und in den Ländern ihres Einflußbereiches — auch in der DDR — tatsächlich sind.
Nun wird gesagt, wir sollten nicht auf der uns durch die Verträge zugebilligten Stärke bis zu
500 000 Mann bestehen. Deshalb erhebt sich die Frage, ob sich die Verpflichtung zu gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen mit einer geringeren Stärke erfüllen läßt. Diese Folgerung ist in Deutschland — nach meiner Auffassung fälschlicherweise — gezogen worden. Sie wird damit begründet, daß die Sicherheit gegenüber der sowjetischen militärischen Bedrohung jetzt verhältnismäßig unwichtig sei und daß die Wiedervereinigung am besten durch die Preisgabe der Sicherheit, die die NATO bietet, erreicht werden könne.
Ein Sprecher im Bundesrat hat dem mit den Worten Ausdruck gegeben: „Militärisch kommt es in Westeuropa auf ein paar westdeutsche Divisionen mehr oder weniger nicht an. Der schmale Gebietsstreifen Resteuropas genügt nicht für die Raumanforderung eines modernen Krieges. Deutschland kann im besten Fall immer nur Vorfeld sein, dessen Schicksal aus der Erfahrung heraus bekannt ist."
Nun erlauben Sie mir, auch ein paar Worte von General Gruenther anzuführen, den mein Kollege Erler vorhin angezogen hat. Er hat so formuliert: „Wir können unsere Pläne nicht aus der Tagespolitik herleiten. Die Verteidigungsplanung ist eine Funktion der Beurteilung des militärischen Potentials eines eventuellen Gegners. Ich stelle fest, daß dieses nach wie vor im steten Anwachsen begriffen ist", und ich meine, die zahlenmäßige Schwäche der Streitkräfte der NATO in bezug auf konventionelle Waffen muß beseitigt werden, um den Gegner eben nicht zu kleinen Kriegen wie z. B. in Korea unter Vermeidung von Atomwaffen zu verleiten. Diesetwegen ist nach meiner Auffassung die deutsche Beteiligung an der gemeinsamen Verteidigung Europas militärisch dringlich. Die Einbeziehung der Bundesrepublik in die NATO hat damit ihren Wert für sich, indem sie eben die Grenzen des NATO-Inspektionsgebietes weiter nach Osten vorgeschoben und damit den allgemeinen Sicherheitskoeffizienten erhöht hat. Deutsche Truppen haben dabei die Aufgabe, mitzuhelfen, ganz Europa so weit vorwärts wie möglich im Osten zu verteidigen.
Ich meine: Wenn wir eben nicht wollen, daß der Raum zwischen Rhein und Elbe nur als Vorfeld betrachtet wird, das man nach Belieben verteidigen oder auch aufgeben kann, ist die Erfüllung der Verpflichtung in der Stärke notwendig, die in den eingegangenen Verträgen vereinbart worden ist und die — das darf doch nicht übersehen und auch nicht verschwiegen werden — der jährlichen Überprüfung durch die politischen Gremien der Atlantikpaktorganisation unterliegt.
Man löst militärische Probleme — und von denen wird hier im Augenblick gesprochen — nicht durch ausgleichende politische Kompromisse. Die strategische Planung mag wohl von einem Kompromiß zwischen den gegeneinanderstehenden Risiken ausgehen; aber ihr Wert steht und fällt mit der richtigen Entscheidung über die vordringlichen Aufgaben auf dem militärischen Sektor. Ein kleineres deutsches Kontingent aufzustellen, als es beabsichtigt ist, heißt eben, der Verteidigungskraft der westlichen Gemeinschaft einen Stoß zu versetzen.
Im Zeitalter der atomaren Waffenführung kann der Sinn eines größeren Kontingents zweifelhaft sein. Das ist heute schon mehrfach berührt worden und wird auch noch von mir eingehend beleuchtet werden. Aber dann werden wir eben mit


(von Manteuffel [Neuß])

den anderen Atlantikpaktstaaten gemeinsam einen Entschluß über die Umstellung der Wehrorganisation auf eine andere gemeinsame Organisationsform fassen müssen. Solange aber die UdSSR trotz der Entwicklung neuartiger Waffen — ich denke dabei an die transkontinentalen Raketen usw. — ihre zahlenmäßig sehr starken herkömmlichen Streitkräfte nicht abschafft, sollte man dies im Westen auch nicht tun.
Die 'Unterstellung dabei, es handle sich bei der Aufrüstung unsererseits um eine Maßnahme „um jeden Preis", wie, wenn nicht schon gesagt, so doch sicher geschrieben wurde, ist nach meiner Auffassung falsch. Sie ist deshalb nicht richtig, weil der Deutsche Bundestag durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes in Art. 87 a selbst festgelegt hat, daß sich „die zahlenmäßige Stärke der vom Bund aufgestellten Streitkräfte und die Grundzüge ihrer Organisation aus dem jährlichen Haushaltsplan ergeben müssen."
Ich komme daher von diesem außenpolitischen Aspekt zu dem Schluß, daß eine Stärke des Beitrags bis zu 500 000 Mann militärisch erforderlich erscheint, auch im Zeitalter der neuesten Waffen. Diese Stärke würde selbst bis zur vollen Höhe von 500 000 Mann, wie ja auch gesagt wurde, nur 1 % der Bevölkerung der Bundesrepublik darstellen und liegt infolgedessen zum großen Teil unter den Leistungen anderer Partner in der Gemeinschaft, in der wir leben. Ich bin der Auffassung, daß man ansonsten nicht von einem „angemessenen" Beitrag sprechen kann und daß diese Verpflichtung ohne die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nicht erfüllt werden kann.
Nun ist aber der Einwand sehr sorgsam und sorgfältig zu prüfen, ob und gegebenenfalls weshalb die Aufstellung eines deutschen Kontingents in der beabsichtigten Höhe und durch die allgemeine Wehrpflicht die Abrüstungsverhandlungen stört. Die Gegner der allgemeinen Wehrpflicht sagen, daß es unsinnig sei, jetzt, wo die Abrüstungsgespräche noch laufen, die Bundesrepublik auf eine Stärke aufzurüsten, die nachher wieder abgebaut werden müßte. Dieses Argument stützt sich, glaube ich jedenfalls, mehr auf die Hoffnung, daß die Bereitschaft zu dieser Abrüstung im Westen auch von den Sowjets geteilt wird. Aber abgesehen von der Frage, ob es für die Sowjets nicht viel entscheidender ist, inwieweit sie die USA mit ihrem riesigen Potential zu einem Abrüstungsabkommen bringen können, weil das dann für sämtliche NATO-Staaten militärisch ganz erhebliche und bedeutsame Folgen hätte, abgesehen davon, daß es für die Abrüstungswilligkeit der Sowjets nicht übermäßig interessant, wenn auch nicht uninteressant ist, ob 250-, 350- oder 500 000 Soldaten der Bundesrepublik existieren, — abgesehen von alledem wird man sich fragen, ob man unsererseits ein mögliches Abrüstungsabkommen nicht dadurch geradezu verschenkt, daß man sich von vornherein freiwillig in einer Weise beschränkt, ohne daß die andere Seite, die Sowjets nämlich, bisher irgend etwas dazu getan hat;

(Sehr gut! in der Mitte)

denn die kürzlich vorgenommene Verminderung ihrer Landstreitkräfte hat doch bei den riesigen dahinterstehenden Reserven ausschließlich taktische Bedeutung. Dieses Verschenken birgt ein Risiko, vielleicht sogar ein allzugroßes Risiko in sich.
Ich pflichte daher der Bundesregierung bei, die erklärt, Deutschlands Forderung nach Einheit in Freiheit solle den Abrüstungsverhandlungen nicht im Wege sein, nur solle sie auch nicht ausgeklammert und nicht isoliert behandelt werden. Denn niemand kann stärker hoffen — da unterstreiche ich das, was auch der von mir geschätzte Kollege Erler so deutlich gesagt hat —, daß die Bemühungen um Abrüstung in der Welt zu einem Erfolg führen, als gerade wir, die wir zwischen diesen beiden großen Weltblöcken geradezu eingeklemmt sind. Aber diese Abrüstung darf eben nicht auf Kosten der Lebensinteressen des deutschen Volkes zustande kommen, muß also die Wiedervereinigung einschließen. Diese Frage wiederum kann nicht gewaltsam gelöst und behandelt werden, sondern auch im deutschen Interesse nur bedächtig und vorsichtig. Nur wenn die Bundesrepublik ihre militärische Planung mit Entschlossenheit verwirklicht, hat sie Aussicht, daß sie bei Abrüstungsverhandlungen ihren Einfluß in die Waagschale werfen kann, wobei auch zu berücksichtigen und zu werten ist, daß die Bundesrepublik bereits freiwillig Beschränkungen in militärischer Hinsicht auf sich genommen hat. Diese Beschränkungen liegen in der beabsichtigten Stärke, in der Nichtherstellung der sogenannten ABC-Waffen, in dem Verzicht auf die operative Luftwaffe und auch in der Absicht des Gesetzgebers, für bestimmte Jahrgänge eine verkürzte Grundwehrausbildung zuzulassen, Beschränkungen, die vom Standpunkt der militärischen Wirksamkeit der Landesverteidigung einigen vielleicht sogar bedenklich erscheinen mögen. Die Beschränkungen liegen weiterhin in den Festsetzungen der Marinestreitkräfte.
Erschrecken Sie nicht, meine Damen und Herren, aber ich glaube: wie weit die völkerrechtliche Bindung reicht, die uns Herr Erler hier sehr eingehend dargestellt hat, mag vielleicht die wesentliche Frage einer Doktorarbeit sein, denn es ist sicher, daß die Verbindlichkeit nicht bestritten werden kann. Wenn das deutsche Kontingent seinem Umfang nach beschränkt werden soll, muß es eben mit den anderen Vertragspartnern ausgehandelt werden.
Von der Außenpolitik her verbinden sich die Überlegungen auch mit der Frage, ob die Aufstellung der Bundeswehr in dem von der Bundesregierung im Endziel beabsichtigten Rahmen eine Wiedervereinigung fördert oder ihr womöglich abträglich ist. In diesem Sinne wird gesagt, wenn die Bundesrepublik die allgemeine Wehrpflicht einführe, werde die sogenannte DDR das gleiche tun, wodurch viele junge Deutsche in schwere Gewissenskonflikte kommen würden, zumal sich in der Welt das Bild einer Entspannung ergebe, damit also auch einer Abkehr von der rein militärischen Denkkategorie, und somit auch eines Bedeutungswandels der deutschen Aufrüstung.
So verständlich und so notwendig es ist, diesen Überlegungen nachzugehen, so bedeuten sie doch in gewissem Sinne nach meiner Auffassung eine einseitige Betrachtung, die meines Erachtens nicht genügt, die außenpolitische Bedeutung der Existenz deutscher Streitkräfte zu erkennen. Denn die Tatsache des Bestehens deutscher Streitkräfte wird das Schwergewicht der Bundesrepublik innerhalb der westlichen Bündnisse zunächst einmal wesentlich verstärken. Auch große neutrale Staaten wissen genau, daß sie ihre Existenz auf Grund starker militärischer Streitkräfte aufrechterhalten können.


(von Manteuffel [Neuß])

Aber eine Tatsache, die zur Grundlage der Beurteilung der Wehrpolitik gemacht werden muß, ist die jedem vernünftigen Beobachter erkennbare Tatsache, daß der Bolschewismus ja doch nicht nur revolutionär, sondern auch im höchsten Grade aggressiv ist. Wer diese Erkenntnis nicht hat und wer in seiner Politik dem militanten Charakter des Bolschewismus nicht Rechnung trägt, wer aus ihm nicht die meiner Auffassung nach notwendigen Konsequenzen zu ziehen bereit ist, handelt nicht der Wirklichkeit entsprechend. Der Kreml selber hat ja früher die Wiedervereinigung Deutschlands als eine Frage der Sicherheit hingestellt. Eine effektive allgemeine Abrüstung ist in der Tat nur denkbar, wenn die Ursachen der Spannung beseitigt und Voraussetzungen der allgemeinen Sicherheit vorhanden sind. Die Abrüstung aber vor der Errichtung eines Sicherheitssystems und vor der deutschen Wiedervereinigung wäre eine Vorleistung des Westens, nach der dieser meiner Auffassung nach kein Mittel mehr hat, die Sowjets zu Zugeständnissen in der deutschen Frage zu veranlassen. Wenn den Sowjets so sehr an dem Gedanken einer militärisch verdünnten Zone liegt und er ihnen so sehr gefällt, sollten sie doch einmal auf die Probe gestellt werden, welche Gegenleistung sie zu geben bereit sind. Denn kollektive Sicherheit kann für Europa nach meiner Auffassung nur dann verwirklicht werden, wenn die Bedrohung — als deren Gegengewicht die NATO geschaffen wurde — aufhört zu bestehen. Diese Bedrohung durch die Sowjetunion — daran muß erinnert werden, weil Herr Erler vorhin bezüglich der Reihenfolge sagte, die Sowjets hätten immer nachgezogen nach gewissen Maßnahmen, die wir getroffen hätten —, entsprang dem besonderen Verhältnis, in dem die 1 UdSSR zu den osteuropäischen Ländern steht. Man darf dabei also nicht allein die UdSSR betrachten; bei jeder Diskussion über kollektive Sicherheit ist nach meiner Auffassung das interne Regime in den Satellitenstaaten und deren Abhängigkeitsverhältnis zur UdSSR von ausschlaggebender Bedeutung. Solange die Satellitenstaaten Moskau unterworfen bleiben, ist es für die westlichen Länder notwendig, untereinander ein ähnliches — allerdings, das ist der Unterschied, freiwilliges — Verhältnis aufrechtzuerhalten.
Deshalb drängt sich mir die Schlußfolgerung auf, daß die wahre Probe auf die Bereitschaft der UdSSR, über eine allseitige Entspannung zu verhandeln, ihre Bereitschaft ist, ihre eigene Vormachtstellung in der einen Hälfte Europas zur Diskussion zu stellen mit dem Ziel, diese Abhängigkeit zu lösen und das durch Taten dann wirklich glaubhaft zu machen.
Man wird der „Welt der Arbeit" zustimmen können, wenn sie vor einiger Zeit die Erhaltung des Friedens als vor allem von den Sowjets abhängig bezeichnete und schrieb — erlauben Sie, Herr Präsident, das ich das kurz vorlese —:
Wenn sie,
— die Sowjets —
statt aufzurüsten, Frieden schließen, ihre Truppen aus Europa abziehen, sich und ihre Satelliten abrüsten und damit die Räumung Deutschlands von allen Besatzungsmächten ermöglichen, dann gibt es keine Gefahr eines Zusammenstoßes auf unserem Kontinent, dann bedarf es keines Verteidigungssystems, dann ist die Frage der deutschen Einheit gelöst. An die Adresse des Kremls also, der alle Abrüstungsverhandlungen sabotiert und überall in der Welt Unruhe stiftet, muß daher jeder Protest in erster Linie gerichtet sein.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Ich meine, der enge Zusammenhang der Probleme um die deutsche Wiedervereinigung mit einem europäischen Sicherheitssystem hat eine gewisse Abhängigkeit geschaffen — wie heute hier schon erwähnt —, die parallele Fortschritte bei der Lösung beider Fragen erforderlich macht. Deren Lösung würde erleichtert werden, wenn auch bei der Vorbereitung eines allgemeinen Abrüstungsabkommens Fortschritte in dem hiermit zusammenhängenden Problem der Wiedervereinigung erzielt würden.
Es erscheint mir aber ebenso einseitig, meine Damen und Herren, die außenpolitische Bedeutung der deutschen Streitkräfte für die Wiedervereinigung nur aus dem Gesichtswinkel sehen zu wollen, auf welche Sympathien oder Antipathien ihre Existenz bei der Pankower Regierung beispielsweise stößt, wie ich neulich gelesen habe. Ich meine, überragend und entscheidend ist doch die Überlegung, ob und inwieweit die gesamte Politik der UdSSR als der wirklichen Machthaberin in dieser Zone durch die Existenz der Bundeswehr beeinflußt wird oder nicht. Das Bekenntnis zu den eingegangenen Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft sichert der außenpolitischen Entwicklung der Politik der Bundesregierung eine Stetigkeit, die auf die Dauer die einzige Möglichkeit garantiert, ein langsames Zurückweichen des sowjetischen militärischen Machtbereichs zu bewirken und damit auch der Wiedervereinigung näherzukommen. In diesem Sinne vermag der deutsche Beitrag zu der gemeinsamen Verteidigungsanstrengung auch eine militärische Klammer zu der Schicksalsgemeinschaft darzustellen dadurch, daß mit jedem Verband, der in der Bundesrepublik aufgestellt wird, auch die politische Front des Westens gestärkt wird und damit die sowjetische Strategie des divide et impera Erfolgschancen verliert. Deshalb sind wir der Auffassung, daß auch das mit der Freiheit unvermeidlich verbundene Risiko und auch die Opfer getragen werden müssen, die zur Erhaltung der persönlichen Freiheit für jeden Mitbürger in der Bundesrepublik hiermit verbunden sind.
Im übrigen bleibt festzuhalten, daß Freiheit ja nur dann ein Dauerwert ist, wenn sie erlebt und erfahren ist, d. h. die Frage verteidigungswerter Werte kann nach unserer Auffassung befriedigend und überzeugend nur aus dem Gewissen des Einzelnen und vor einer höheren Instanz als der des politischen Zweckmäßigkeitsdenkens gegeben werden. Daß die Freiheit des Menschen in erster Linie aber zu den Werten gehört, die es wert sind, verteidigt zu werden, daß sie damit Voraussetzung und ständige Aufgabe jeder demokratischen Rechts- und Staatsordnung ist, ist der Ausgangspunkt dieser Betrachtung für jeden Einzelnen oder sollte es zumindest sein. Uns sind diese Werte verteidigungswert, und wir sind daher bereit, hierfür Opfer auf uns zu nehmen, die diese Gewissenskonflikte lösen helfen.
Die Wurzel der gegenwärtigen Auseinandersetzungen ist ja gar nicht so sehr strategischer oder militärischer Art, sondern im wesentlichen politischer Art, weil die atomare Überlegenheit im Konfliktsfalle manche Politiker hier im Westen zu der Auffassung verleitet, daß es genügt, wenn man lediglich mehr oder weniger kleine Heere aufstellt. Dieser Gedanke spielt auch bei den Befürwortern


(von Manteuffel Neuß])

eines verhältnismäßig kleinen Berufsheeres in der Bundesrepublik eine nicht unerhebliche Rolle. Die politische Kehrseite davon ist jedoch, daß dies eine Entspannung auf der Grundlage des Status quo voraussetzt, auch wenn dies nicht ausgesprochen oder nicht beabsichtigt ist. Dies wird leider oft übersehen. Es bedeutet eine Einigung der Großmächte über das geteilte Deutschland hinweg, und dieser Gedanke liegt wahrscheinlich auch — ich möchte es annehmen — dem letzten sowjetischen Abrüstungsplan zugrunde, der eine Entspannungszone in einem geteilten Deutschland vorsieht. Der Status quo bleibt aber nach unserer Auffassung eher bestehen, wenn die Bundesrepublik ihre Politik auf eine unrealistische und widerspruchsvolle Konzeption versteift. Die politische Frage, wie die Bundeswehr mit der NATO verklammert werden soll, darf doch, weil sie dies soll und weil man darin einen Ausdruck der Außenpolitik der Bundesregierung sieht und deshalb ablehnt, sicher nicht zu Lasten der Verteidigungsbereitschaft und Wirksamkeit des zu schaffenden Verteidigungsinstruments ausgefochten werden, die beide darunter ganz entscheidend leiden müssen. Der Schlüssel für diese Abrüstung liegt nach unserer Auffassung im Plan einer qualitativen Abrüstung in Verbindung mit einem geeigneten Verfahren der technischen Überwachung, und der gemeinsame Nenner ist die Erkenntnis, daß eine Abrüstung ohne ein gewisses Maß an Inspektion und, wie ich glaube, erzwingbarer Kontrolle vorläufig eine Illusion ist und bleibt; denn die Kernfrage ist nicht die Durchführbarkeit, sondern die Annahme von seiten der Großmächte.
Dazu gehört, wie es von beiden Herren Vorrednern auch gesagt worden ist, wiederum Vertrauen zwischen der UdSSR und den Westmächten. Aber man kann sich des Eindrucks, jedenfalls auf Grund des bisherigen Verhaltens der UdSSR auch in den Abrüstungsverhandlungen, nicht ganz erwehren, daß der Kreml eben keine Verständigung, sondern nur eine Entspannung sucht. Nun kann man zwar sagen, daß die Entspannung die Vorstufe zur Verständigung sein könnte. Sie muß es aber nicht sein; denn nur die Verständigung löst Probleme, während die Entspannung ein Vorbeisehen an den Tatsachen und Zudecken von Gegensätzen bedeutet. Auch die Abrüstungspolitik kann also, wie überhaupt die Politik, nicht von einer Situation der Schwäche ausgehen.
Es ist richtig, wenn gesagt wird: Ein Denken in militärischen Stützpunkten und Verteidigungsgürteln, in Divisionsstärken und mehr allein ist sicherlich falsch. Darüber kann, glaube ich, kein Zweifel bestehen. Aber ich meine, militärische Sicherungen sind in der Umwelt, in der wir, wenn Sie so wollen, verdammt sind zu leben, notwendig und unerläßlich.

(Abg. Berendsen: Sehr richtig!)

Es ist ein Irrtum, zu glauben, für die Abwehr des militanten Bolschewismus genüge es allein, wirtschaftliche und soziale Zustände zu schaffen, die eine Infizierung durch die kommunistische Ideologie unmöglich machen. Jawohl, meine Damen und Herren, sie sind notwendig, bitter notwendig, gerade auch in unserer noch nicht gefestigten Ordnung. Aber die Abwehr gegen diesen militanten Bolschewismus ist eben auf allen Gebieten zu führen, d. h. neben die Schaffung gesunder wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse muß der Aufbau einer wirksamen militärischen Abwehr treten.
Ich komme deshalb in diesem Sinne zu dem Schluß: das rein politische Argument, die allgemeine Wehrpflicht würde die Spaltung vertiefen, ist sowieso nicht durchschlagend, weil die politische Entscheidung durch die Annahme der Verträge gefallen ist, und man würde, wenn man ihm nachgäbe, unseren Verteidigungswillen in Frage stellen. Über die Stärke kann man sich nachher unterhalten. Ich meine: gerade von der Plattform einer festgefugten und auch militärisch abgesicherten Bundesrepublik haben wir zwecks Wiedervereinigung eine bessere Verhandlungsposition, wenn diese keine Selbstaufgabe, sondern eine freie Entfaltung der Nation sein soll.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Bevor man aber über die wirksamste Verteidigungsorganisation und damit auch über die Stärke und die zweckmäßigste Wehrform entscheiden kann, muß noch Stellung dazu genommen werden, ob nicht im Lichte der Entwicklung und Weiterentwicklung neuartiger Waffen — ich meine sowohl die Atomwaffen wie Wasserstoffbomben wie nun auch die transkontinentalen Raketen — ein militärisches Umdenken notwendig ist, und zwar im besonderen hinsichtlich der sogenannten herkömmlichen Waffen. Das ist, worüber wir zunächst zu entscheiden haben.
Wir haben dabei die Frage zu beantworten, ob sie überhaupt noch in der Stärke notwendig sind, wie sie hier bisher alle militärischen Staaten als erforderlich bezeichnet haben. Ich darf an den Anfang stellen, daß der Präsident der USA kürzlich gesagt hat, „daß die Abrüstung in erster Linie in der Beschränkung der Waffen, statt in der von Soldaten gesucht werden muß". „Die Personalstärken", sagte er, „beginnen mit der Vervollkommnung der Fernvernichtungswaffen uninteressanter zu werden." Hierzu ist zu sagen — erlauben Sie mir einen kleinen Abstecher in dieses operativ-strategische Gebiet —: Auf allen Landkriegsschauplätzen der Vergangenheit war jeweils das Heer der Hauptträger des Kampfes. Es hatte hierbei sofort beim Ausbruch der Feindseligkeiten durch Vernichtung des feindlichen Landheeres und seiner Helfer bei gleichzeitiger Besetzung des feindlichen Territoriums die Entscheidung herbeizuführen. Dies trifft heute nicht mehr in dieser Weise zu, weil leider bezweifelt werden muß, ob durch Vernichtung aller Atom- und Wasserstoffbomben infolge eines internationalen Abkommens nun endlich der Alpdruck behoben werden kann, unter dem die gesamte Menschheit jetzt leidet und schon seit einem Jahrzehnt lebt. Aber gegen die Gefahr — das muß allerdings hier eingeflochten werden —, daß nukleare Waffen und Kampfgeräte im geheimen doch erzeugt und gestapelt werden können, gibt es jedenfalls vorerst anscheinend keine Garantie. Ich glaube sogar, daß diese Garantie, daß diese Waffen nicht eingesetzt werden, so grotesk es klingt, wahrscheinlich eher in dem Vorhandensein, nämlich in der abschreckenden Wirkung des Risikos bei gegenseitigem Einsatz liegt. Das heißt, ihr Vorhandensein in entschlossener Hand garantiert, daß der weltrevolutionäre Osten, der zwar von Zeit zu Zeit seine Taktiken ändert, nicht aber sein strategisch weitgestecktes Ziel der Welteroberung, nicht angreift. Und so scheinen vorerst jedenfalls — das Bild hat uns Herr Erler, wenn ich so sagen darf, richtig ausgemalt — Atom-und Wasserstoffbomben zum Mittel der Abschrekkung geworden zu sein.


(von Manteuffel [Neuß])

Und doch ist es falsch, meine Damen und Herren, die Verteidigung des Westens allein auf diese Waffen abzustellen. Denn seitdem die Atomwaffen und weiteren Zerstörungsmittel — ich denke dabei gerade an die transkontinentalen Raketen, die ja Herr Chruschtschow in London noch kürzlich erwähnt hat und die die Sowjetunion nun auch besitzt — im Besitz der beiden Großmächte sind, und je mehr die Sowjetunion den anfänglichen Vorsprung auf diesem Gebiet aufholen wird, desto sicherer ist es vielleicht — ich habe die Hoffnung —, daß eine uneingeschränkte Verwendung dieser Waffen für beide Teile nunmehr dem absoluten Selbstmord gleichkommen würde, wie Herr Erler das sagte.
Wollten sich daher die freien Völker Europas im wesentlichen auf den Schutz durch die Atomwaffen der NATO verlassen, würden sie wahrscheinlich selbst dazu beitragen, das Unheil des Kampfes mit diesen neuartigen Waffen heraufzubeschwören. Es kommt hinzu, daß diese Abschreckungstheorie bisher im wesentlichen auf dem Vorhandensein der strategischen Luftwaffen der NATO-Staaten beruhte, die in der Lage sind, alle Teile des sowjetischen Machtbereichs mit Atomwaffen zu erreichen.
Entscheidend verändert hat sich nun diese militärische Lagebeurteilung durch die allerneueste waffentechnische und daraus auch folgend die strategische Entwicklung insofern, als eben diese strategischen Luftwaffen durch die transkontinentalen Raketen in gewissem Sinne abgelöst wurden, zumindest in manchen Gebieten. Diese Raketen werden heute — das wissen wir — von beiden Großmächten mit Nachdruck entwickelt und ausprobiert. Ich glaube, es ist noch gar nicht abzusehen, wohin die technische Entwicklung dieser Waffen führt. Damit werden auch die Grundlagen der Strategie, nicht nur die politischen Grundlagen übrigens, verändert. Daraus folgt, daß die sogenannten herkömmlichen Waffen im weiteren Fortschritt der technischen Vervollkommnung dieser neuen von mir eben genannten Waffen wieder an Bedeutung gewinnen. Warum? Konnte man bisher glauben, daß ein atomarer Überraschungsangriff bei Beginn der Feindseligkeiten die Entscheidung auf militärischem Gebiet bringen könnte, so fällt dieses Merkmal mit der Entwicklung und der weiteren Vervollkommnung der transkontinentalen Raketen fort. Sie können nämlich von jeder beliebigen Stelle ohne den zeitraubenden Bau von Anlagen abgeschossen werden. Da sie weiterhin durch die Luftbildaufklärung kaum zu entdecken sein werden, kann man ihre Abschußbasen nicht in gleicher Weise zerstören, wie dies bei den sonstigen Anlagen möglich war und ist. Die Sowjets sollten wissen - und ich glaube, sie wissen es auch, ich habe darüber keinen Zweifel —, daß ihnen dieser entscheidende erste Schlag nicht mehr gelingen kann, d. h. mit anderen Worten, daß der Erfolg eines sowjetischen Überraschungsangriffs mit atomaren Waffen keineswegs mehr so hundertprozentig gesichert ist, daß durch ihn ein entscheidender Sieg errungen werden könnte.
Die entscheidende Folgerung daraus ist, daß es dem Gegner infolgedessen nicht mehr gelingen wird, die Möglichkeiten eines für ihn im wahrsten Sinne des Wortes katastrophalen Gegenschlages auszuschalten. Der Angreifer — beiderseits, wer es sein sollte — muß damit rechnen, daß ein erheblicher Teil dieser Abschußbasen intakt und diese furchtbare Waffe lange anhaltend wirksam bleibt, woraus folgt, daß der Angreifer damit zu rechnen hat, daß ihn diese neuartigen Waffen genauso schwer treffen und seine für die Gesamtkriegführung lebensnotwendigen und militärisch notwendigen Anlagen, wenn nicht sogar erhebliche Teile des Landes und der Industrie zerstören könnten. Deshalb werden die herkömmlichen Waffen gerade auch im Zuge der Weiterentwicklung dieser Zerstörungswaffen wieder an Bedeutung gewinnen. Damit wächst dann die Gefahr lokaler, d. h. begrenzter Konflikte, wozu die herkömmlichen Waffen lebensnotwendig geworden sind.
Dies ist nach meiner Auffassung auch der Grund, daß sich bei den sich gegenwärtig so hinschleppenden Abrüstungsgesprächen der Schwerpunkt der Verhandlungen in London um die Lösung einer brauchbaren ersten Stufe einer allgemeinen Abrüstung wieder weg von den atomaren Waffen mehr den konventionellen Waffen zuwendet, wie es Herr Kollege Erler auch sagte, wobei der sowjetische Plan sich und dem Ostblock eben seine bisherige zahlenmäßige Überlegenheit in diesen herkömmlichen Waffen sichern und sie bei den westlichen Ländern sehr stark begrenzen will.
Es besteht also durchaus die Möglichkeit, daß infolge der Gefahr der unmittelbaren Vernichtung die Weltmächte veranlaßt werden könnten, Konflikte, die irgendwo in der Welt ausbrechen, zu lokalisieren und sich möglichst selber herauszuhalten, um dem Zwang zu entgehen, diese für sie tödlichen und vernichtenden Waffen einzusetzen. Derartige lokalisierte Konflikte dürften dann aller Wahrscheinlichkeit nach nur mit den herkömmlichen Waffen ausgetragen werden, - ein Fall, der nach meiner Auffassung auch von der Bundesregierung nicht ohne weiteres übersehen und als ausgeschlossen angesehen werden sollte.
Deshalb müssen sich Rüstung und Strategie — leider, kann man nur immer wieder hinzufügen — auf beide Fälle einstellen. Sie stehen unter dem Zwang, sich auf beide Möglichkeiten in der Abwehr vorzubereiten, d. h. gewissermaßen zweigleisig zu denken und zu planen, weil eben niemand voraussehen kann, welcher von den gegebenen Möglichkeiten die Zukunft gehört.
Diese Folgerung muß nach meiner Auffassung auch für die deutsche Aufrüstung gezogen werden. Aber eine Aufrüstung im Rahmen des sowjetischen Abrüstungsvorschlags — 200 000 Mann in der ersten Stufe — würde der Bundesrepublik nicht die Sicherheit geben, die sie in ihrer geographischen Lage im Verhältnis zu dem vermutlichen potentiellen Gegner braucht.

(Sehr richtig! bei den Regierungsparteien.)

Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Sowjetunion 21/2 Millionen Mann in sofortiger Einsatzbereitschaft hat, ohne den Einschluß der Armeen ihrer Einflußzone, der Satellitenstaaten, der vormilitärischen Ausbildung usw. Ich brauche das nicht alles zu wiederholen. Es ist den Damen und Herren auch durchaus geläufig.
Nun wird das Abrüstungsgespräch meines Erachtens auch deshalb nicht gestört, weil selbst bei Verabschiedung dieses Gesetzes in naher Zukunft ja doch nicht sofort 500 000 Mann eingezogen werden. Die Aufstellung wird sich vielmehr über einen längeren Zeitraum hinausziehen, und — deswegen sage ich das — im Verlauf dieser Aufbauzeit liegt es an den Sowjets, ihre ehrliche Bereitschaft zu


(von Manteuffel [Neuß])

einer kontrollierbaren allgemeinen Abrüstung zu zeigen und durch Taten zu beweisen.

(Erneute Zustimmung bei den Regierungsparteien.)

Sowenig man theoretisch die denkbare Wirkung der atomaren Kriegführung bestreiten kann, so eindeutig zeigt doch die bisherige Praxis, daß bisher kein Land, das die herkömmlichen Streitkräfte besitzt, diese konventionellen Waffen abschafft. Diese Tatsache dürfte wohl kaum allein darauf zurückzuführen sein, daß etwa die Militärs zu zäh und allzulange am Überkommenen festhalten. Ich glaube, sie beruht vielmehr darauf, daß eben kein Land auf Streitkräfte herkömmlicher Art verzichten zu können glaubt, solange andere Mächte, die es etwa angreifen könnten, über derartige Streitkräfte in großer Zahl verfügen.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Es ist nun falsch, glaube ich, die Diskussion so zu führen, als ob die einzige Möglichkeit bewaffneter Auseinandersetzung, in welche die Bundesrepublik einbezogen werden könnte, der nukleare Weltkrieg wäre. Wer so argumentiert, muß doch zuvörderst erst einmal klären, warum der Ostblock neben der nuklearen Rüstung noch die herkömmlichen Waffen in dieser ungeheuren Zahl besitzt. Ich meine, der Einsatz — der strategische, operative oder taktische Einsatz — von Atomwaffen kann auch für sich allein Entscheidungschlachten nicht schlagen, so wie keine Waffe und kein Waffensystem jemals eine Kampftruppe voll ersetzen können. „Ein Krieg ohne Menschen" oder „ein Krieg durch Druck auf den Knopf" etwa, all das sind falsche Lehren. Die These, man könne ohne die lebendige Kraft des Menschen Krieg führen, wird durch die Atomtaktik und all das, was unsere Militärexperten auf diesem Gebiet wissen — ich meine die Herren des Bundesverteidigungsministeriums, die das zu prüfen haben —, nicht bestätigt.
Wie immer die Erfindung und vor allen Dingen die Weiterentwicklung dieser neuartigen Waffen aussehen wird, wohin sie führen wird, auch wenn man dazu übergeht, die herkömmlichen Waffen anders zu organisieren, auszurüsten, zu gliedern und zu verwenden, — entbehrlich werden sie so lange nicht sein, solange die UdSSR und ihre Satelliten derartige Streitkräfte in einer überwältigenden Zahl bereithalten. Dabei bleibt auch zu berücksichtigen, daß die bolschewistische Ideologie genauso wie der jahrhundertealte Expansionsdrang der russischen Nation auch dann eine latente Gefahr für die freien Völker im Westen bleibt, wenn eine Periode der friedlichen Koexistenz die derzeitige Spannung vorübergehend in den Hintergrund treten ließe.
Ich komme deshalb aus diesem Aspekt zu der Schlußfolgerung: es ist nicht darüber zu entscheiden, meine verehrten Damen und Herren, welches System einer Wehrpflicht uns das angenehmste oder welches dasjenige ist, das uns die wenigste Mühe macht und die geringsten Opfer an Einsatzbereitschaft erfordert. Wir müssen die Armeen jener Macht betrachten, die uns bedroht, und die Art der Abwehr hat sich — das ist das, was mein Kollege Kliesing sagte — nach dem mutmaßlichen operativen und technischen Verhalten des möglichen Angreifers zu richten. Nur nach dem Wert, den wir den Soldaten des möglichen Gegners beimessen, haben wir unsere Anstrengungen zu berechnen. Es gibt nach meiner Auffassung keinen anderen und keinen besseren Maßstab für das, was wir zu tun haben. Der ausreichende, d. h. der wirksame Schutz durch herkömmliche Waffen vermindert die Gefahr, daß die westliche Verteidigungsgemeinschaft selber zu Atomwaffen greifen muß, um sich zu schützen.
Aber noch eines dazu! Sicherlich müssen im Zeitalter der atomaren Waffenführung Maßnahmen zum Schutze der Zivilbevölkerung einen gleich wichtigen Anteil an der Landesverteidigung ausmachen wie die Aufstellung der Verteidigungskräfte selbst. Sie können aber durch diese Maßnahmen niemals alles ersetzen. Alle Schutzmaßnahmen für die Zivilbevölkerung können doch bestenfalls das Überleben ermöglichen; die Freiheit sichern sie allein nicht. Aber es kommt darauf an, nicht nur das Leben, sondern auch die Freiheit, so wie wir sie westlich verstanden wissen wollen, zu bewahren. Das ist das Entscheidende.

(Beifall bei der DA und der CDU/CSU.)

Sie kann gegenüber einem Angreifer eben nur durch aktive Verteidigung behauptet werden.
Nun zu der Stärke dieses angemessenen, wie mir scheint, militärisch notwendigen Beitrages. Diese Stärke macht einen angemessenen deutschen Beitrag politisch und militärisch in etwa der beabsichtigten Höhe erforderlich. Er kann auch nach unserer Auffassung nur durch die allgemeine Wehrpflicht, wenn sie eingeführt werden soll, in dem vorgesehenen Ausmaß erreicht werden. Denn eines der ewigen und unabänderlichen Gesetze, welche die Wirklichkeit, d. h. das Leben der einzelnen Völker beherrschen, setzt das Recht und für den normalen Menschen die Pflicht zur Notwehr und Selbstverteidigung voraus. Wer die Souveränität will — das haben wir früher ausgesprochen —, muß auch die Landesverteidigung bejahen. Das ist auch von keiner Seite bestritten worden. Vor dieser Frage gibt es kein Ausweichen. Sie muß von jedem Bürger, auch von dem jüngeren Bürger gestellt und beantwortet werden, der heute — aber nicht nur heute — in dem sich immer mehr zuspitzenden Meinungsstreit über die zweckmäßigste Wehrform sein Urteil beisteuern muß. Das müssen wir auch von denjenigen fordern, die politischen Einfluß geltend machen wollen. Das Hoheitsrecht der Selbstverteidigung ist ein Naturrecht des Staates,

(Sehr gut! in der Mitte)

und es ist unverlierbar. Wenn der Staat es nicht
hätte oder nicht in Anspruch nehmen würde, hätte
' er nach meiner Auffassung überhaupt keine Staatsqualität und könnte sie auch niemals aus einem unabdingbaren Recht heraus gewinnen. Es entspringt allem anderen als militaristischem Denken, wenn man eine Wehrmacht als ein natürliches konstitutionelles Organ jeder staatlichen Gemeinschaft anerkennt. Die Wehrhaftmachung ist damit zugleich eine Frage der Weiterentwicklung und der weiteren Vervollkommnung unserer demokratischen Volks- und Staatsordnung.

(Beifall in der Mitte. — Abg. Wehner: Am vollkommensten war die bekanntlich, als wir die größte Wehrmacht hatten!)



(von Manteuffel [Neuß])

— Wenn wir damals schon die Sicherungen eingebaut hätten, die wir jetzt glauben geschaffen zu haben, würde ich Ihnen recht geben.
Die Umwandlung des stehenden Heeres in ein Volksheer war bekanntlich eine alte bürgerlichliberale Forderung, die später von der Sozialdemokratie aufgenommen wurde und auch in allen Programmen dieser Partei bis 1914 wiederkehrte. Ihr entsprach die Forderung nach einer strengen vormilitärischen Ausbildung der Jugend und nach wirklich allgemeiner Erfassung aller Wehrpflichtigen. August Bebel wollte sogar die männliche Schuljugend durch altgediente Unteroffiziere an Waffennachahmungen, durch Marsch- und Erkundungsübungen ausbilden lassen. Er hat in seiner berühmt gewordenen Rede — ich sage es, um es allen Herren, die es vergessen haben sollten, ins Gedächtnis zurückzurufen — am 13. Dezember 1892 über eine Militärvorlage gesagt — der Herr Präsident erlaube, daß ich einen kurzen Auszug vorlese —.
Will also Deutschland einen wirklichen Vorsprung vor den übrigen Staaten, insbesondere vor seinen zukünftigen Feinden haben, so bleibt nichts anderes übrig, als daß es den Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht in vollster Wirksamkeit zur Ausführung bringt, indem es die allgemeine Volkswehr, die Volksbewaffnung Hand in Hand mit der militärischen Jugenderziehung durchführt.
Weiter hat Bebel zu den Rüstungsvorlagen 1913
— das war bekanntlich die Heeresvermehrung um etwa zwei Armeekorps — gesagt:
Die Sozialdemokratische Partei hat niemals verkannt, daß die geographische und politische Lage des Reiches die Vorbereitung einer starken Schutzwehr notwendig macht. Infolgedessen rechtfertigt sich nicht nur die Wehrhaftmachung des letzten Mannes bei uns, sondern sie ist eine notwendige Folgerung.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ausgezeichnet!)

Der ehemalige Reichswehrminister Noske, unter dem auch ich gedient habe, brachte 1920 zum Ausdruck — wörtlich —:
... sich in aller Zukunft für den Bestand eines Heeres einzusetzen, in dem auch der letzte Mann seiner Pflicht zu genügen habe.
Die auf dem Parteitag 1929 zu Magdeburg beschlossenen Richtlinien der Sozialdemokratischen Partei zur Wehrpolitik lauten:
Die Abrüstung wird nur dann dem Frieden dienen, wenn sie nicht eine einseitige Verpflichtung ist, wie sie dem Besiegten des Weltkriegs durch die Sieger auferlegt wurde. Nur zwischen gleichberechtigten Nationen ist dauernder Friede zu erreichen.

(Abg. Schmidt [Hamburg] : Sie übersehen bloß, Herr von Manteuffel, daß zu all den Zeiten, aus denen Sie Zitate hervorholen, Deutschland nicht gespalten war und daß das eine ganz andere Situation gewesen ist!)

— Herr Schmidt, ich habe das ja vorhin schon vorausgeschickt; ich komme ,dann zu der Schlußfolgerung.
Der Bundesausschuß des Deutschen Gewerkschaftsbundes sagt in seiner Entschließung vom November 1950:
Den inneren und äußeren Feinden dieser Idee gegenüber kann es keine Neutralität geben, denn sie bedrohen nicht nur die Existenz der freiheitlichen Gewerkschaftsbewegung, sondern den sozialen Fortschritt und den kulturellen Aufstieg der arbeitenden Menschen.
Ich meine, an diesem Kampf sollten sich wirklich alle Staatsbürger beteiligen.
Die Forderung, daß das Volk zur allgemeinen Wehrpflicht erzogen werden müsse, wie ich sie mit einigen Zitaten der Sozialdemokratischen Partei vorgetragen habe, wird jeder selbstverständlich unterschreiben, der aus der Geschichte gelernt hat, daß nur das Volk ein Recht auf nationale Existenz und politische Selbständigkeit besitzt, in dem auch der letzte Staatsbürger jederzeit bereit ist, mit der Waffe in der Hand das Vaterland gegen äußere Feinde zu verteidigen, wenn diese Freiheiten bedroht sind.
Damit geht es im Grunde auch darum, wieweit jeder die Verantwortung für diesen Staat zu übernehmen hat und übernehmen will. Jedenfalls wird nach unserer Auffassung keine Lösung annehmbar sein, bei der ein Teil des Volkes im Stillen glaubt, daß der andere ja gut oder lediglich gut genug ist, die Pflichten dieser Art allein zu übernehmen, und man diesen anderen Teil gegebenenfalls dafür finanziell entschädigen kann. Man kann auf dieser Welt nichts umsonst haben — das wissen wir —, am wenigsten einen freiheitlichen Staat. Will man ihn in den Herzen und Gemütern verwurzeln, braucht man ein staatsbürgerliches Bewußtsein; das muß auch hier erwähnt werden. Aber gerade ein solches Bewußtsein setzt ein Gleichgewicht von Rechten und Pflichten voraus. Aus dem Recht zur Freiheit — wie wir sie westlich verstanden wissen wollen, füge ich allerdings immer hinzu — erwächst die Pflicht zu ihrer Erhaltung.

(Beifall bei den Regierungsparteien.) Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die Wirklichkeit diesen idealen Gedanken allzuoft mißbraucht hat, vor allem im zweiten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts, der unter der Diktatur militärischer Erwägungen steht; denn die Politik ist mehr oder weniger, das wissen wir, eine Militärpolitik geworden. Daß im übrigen — das muß hier in Parenthese gesagt werden — die strategischen Probleme den Vorrang vor allen anderen erhalten haben, ist eine Folge der sowjetischen Politik.


(Abg. Dr. Seffrin: Sehr richtig!)

Es handelt sich damit zugleich um ein sehr bedeutsames sozial-ethisches Anliegen erster Ordnung, weil die Zumutung persönlicher Wehrdienstleistung für die Massen nur tragbar ist, wenn sie absolut gerecht verwirklicht wird. Nur dann kann sie zu einem echten Gemeinschaftsopfer werden. Aus diesen Gründen ist nach unserer Auffassung der allgemeinen Wehrpflicht der Vorzug zu geben, weil jeder Bürger auch diese staatsbürgerliche Verpflichtung zu übernehmen hat. Er kann gegenüber der Gemeinschaft nicht nur Grundrechte für sich und seine Angehörigen in Anspruch nehmen; er muß auch bereit sein, ein gewisses Maß an Grundpflichten auf sich zu nehmen, wenn er Rechte von der Gemeinschaft fordert oder in Anspruch nehmen will. Hieraus folgt auch, daß man das Opfer einer militärischen Ausbildung zu bringen bereit ist und es eben nicht nur denen überläßt, die sich freiwillig hierzu melden. Gerade die Last der Ver-


(von Manteuffel [Neuß])

teidigung muß auf möglichst viele Schultern verteilt werden als eine Verpflichtung für alle, denen der Schutz der Freiheit und Sicherheit erst ihre eigene Freiheit und Sicherheit ermöglicht.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Es muß in diesem Zusammenhang festgehalten werden, was die „Welt der Arbeit" vor Jahren schrieb. Der Herr Präsident erlaube noch einmal, daß ich diesen kurzen Auszug verlese.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214303800
Bitte sehr!

Hasso von Manteuffel (FDP):
Rede ID: ID0214303900
Die „Welt der Arbeit" schrieb vor gar nicht langer Zeit:
Nie hätten Länder wie die Schweiz und Schweden — —

(Abg. Wehner: Da wird aber der Herr Stolz stolz sein! Das scheint Ihre Lieblingslektüre zu sein!)

— Ich wollte es nur meinen Kollegen sagen. Sie wissen es wahrscheinlich, Herr Wehner. Aber in diesen Zusammenhang paßt es gut hinein.

(Erneuter Zuruf des Abg. Wehner.)

— Ja, weil immer von gewissen Herren, auch Kollegen, gesagt wird: die Opfer sind zu groß. Ich darf in Ihre Erinnerung zurückrufen, Herr Wehner, was die „Welt der Arbeit" schreibt:
Nie hätten Länder wie die Schweiz und Schweden sich gegen ihre viel größeren und mächtigeren Nachbarn behaupten und den Weltkrieg von ihren Grenzen fernhalten können, wenn sie nicht Opfer gebracht hätten, die, gemessen an ihrer Volkszahl, geradezu gewaltig sind. Sie mußten verhältnismäßig viel mehr Menschen zum Waffendienst einberufen und größere Steuern für die bewaffnete Erhaltung des Friedens aufbringen als manche kriegführende Staaten.
— Die „Welt der Arbeit" schreibt das! —
Das muß einmal ausgesprochen werden angesichts der vielen verschwommenen Vorstellungen, die darüber in Deutschland im Umlauf sind.
Bis dahin die „Welt der Arbeit".
Ein anderer Gesichtspunkt, der für die allgemeine Wehrpflicht spricht, ist, daß sie die Jugend eines Volkes zum Dienst an der Gemeinschaft erzieht, neben Elternhaus, Schule, politischen Parteien, Kirche usw., und daß die militärische Dienstzeit jedem Einzelnen zum Bewußtsein bringt, daß er ein wichtiges Glied in der Gemeinschaft seines Volkes ist, zu der alle Söhne des Vaterlandes rechnen, wes Berufes und Standes sie auch sein mögen. Wenn auch dieses Argument allzuoft von kriegslüsternen Führern gebraucht worden und darum etwas anrüchig geworden ist, so ganz leichtfertig kann man es nach meiner Ansicht doch nicht von der Hand weisen; denn die allgemeine Wehrpflicht ist und bleibt eine feststehende Aufgabe, die ebenso in unserer räumlichen Lage wie in der politischen Situation begründet liegt. In einer Demokratie gehört auch der Dienst mit der Waffe zu den Bürgerpflichten.

(Beifall in der Mitte.)

Wer eine Verteidigung bejaht, muß fordern, daß sie an der Zonengrenze, und zwar operativ, wirksam wird. Das heißt selbstverständlich, daß die Truppen in Ausbildung, Bewaffnung, Ausrüstung,
Organisation, innerer Festigkeit usw. dem möglichen Gegner gleichwertig sein müssen, wobei man sich bekanntlich unter „Front" nicht nur die vorderste Linie der kämpfenden Truppe vorstellen darf, sondern einen mehr oder weniger tiefen Raum.
Nun sind die englischen, amerikanischen und französischen Divisionen an der europäischen Landfront — das ist allgemein bekannt und wurde heute auch von Herrn Erler schon erwähnt — zur Zeit nicht in der Lage, die in Mitteleuropa stationierten starken sowjetischen Truppen aufzuwiegen. Die deutschen Streitkräfte, auf eine berufsmäßige Spezialistenausbildung beschränkt, wie es von einigen Befürwortern auch in diesem Hause ausgesprochen wird, würden nach meiner Auffassung von der sowjetischen Dampfwalze einfach überrollt. Wir brauchen deshalb im eigenen Interesse zahlenmäßig größere, ausgebildete Reserven für die eigentliche Kampftruppe, denn nur die stete Auffüllung der durch Verluste entstandenen Lücken gewährleistet die Kampfkraft der bestehenden operativen Verbände, und diese wiederum können nur schöpfen aus einem Reservoir ausgebildeter Männer. Auch ist die Frage der Reserven wichtig, weil von deren Zahl und Art abhängt, ob das militärische Risiko kleiner oder größer ist. Wenn aber unsere Wehrpolitik einen Sinn haben soll, dann doch wohl nur den, diese militärischen Risiken so klein wie nur irgend möglich zu halten, so daß der Westen keine militärische Intervention aus dem Osten zu fürchten braucht und daß er deshalb, weil er diese nicht zu fürchten braucht, eine elastische und geschmeidigere Politik treiben kann.
Ich muß dabei als Begründung für die allgemeine Wehrpflicht, für die meine politischen Freunde sich aussprechen, noch anführen, daß ein Heerwesen sich nur trägt, wenn der gesamten Bürgerschaft das Bewußtsein der Landesverteidigung als demokratische Haltung eigen ist. Dazu gehören dann auch die gründliche Erhaltung und Vervollkommnung der militärischen Kenntnisse, zumal die Technik morgen womöglich die Mittel aufhebt, die sie heute geschaffen hat. Es handelt sich also demnach nicht, wie ein Sprecher vom Bundesrat hierzu ausführte, „um eine kurz und schnell ausgebildete Quantität im Gegensatz zu einer geübten und länger dienenden Qualität," womit er ein mehr oder weniger kleines Berufsheer begründen wollte. Ich glaube vorerst jedenfalls nicht, daß die atomare und nukleare Waffenführung mit ihrer flächenzerstörenden Wirkung die Bewegung in der operativen Führung im Verteidigungsfalle auf die Dauer zum Stillstand bringen wird und damit den Krieg etwa erstarren läßt. Das muß hier einmal ausgesprochen werden, meine Damen und Herren, wenn Sie mir diesen kleinen Ausflug in die strategische Konzeption gestatten. Im Gegenteil, Überraschung und Beweglichkeit gewinnen ebenso an Bedeutung wie die Zusammenfassung und Auflockerung der operierenden Verbände auf beiden Seiten.
Deshalb erscheinen mir Festungszonen und Festungsgürtel unrealistisch. An der Grenze zu errichtende Sperrgürtel allein oder eine Atommauer im Zusammenwirken mit festem, durchgehend auszubauendem Verteidigungssystem, die unser Land schützen sollen, müssen, um lebensfähig und damit verteidigungswert zu sein und zu bleiben, gerade mit hervorragend ausgebildeten und in Übung gehaltenen Männern in allen Funktionen dienstlicher Verrichtungen usw. besetzt sein, da sie ja doch


(von Manteuffel [Neuß])

eben auf Ersatz zur Auffüllung irgendwelcher Verluste für lange Zeit nicht rechnen können, gar nicht zu sprechen von den Möglichkeiten etwa der vertikalen Umfassung.
In diesen von mir nur bruchstückweise angeführten Fällen kommt man eben mit einem kleinen Stamm voll ausgebildeter und in Übung gehaltener Männer, um die sich dann eine Art Miliz ohne Wehrpflicht scharen soll, mit Sicherheit nicht aus. Fast alle Befürworter eines kleinen Berufsheeres und diejenigen, die nur einen Kern von Berufssoldaten wollen — die Angaben der Befürworter schwanken hier zwischen 50 und 70 Prozent —, zu denen dann noch eine entsprechende Zahl kürzer oder länger dienender Freiwilliger oder Dienstpflichtiger bis zur Höhe des von uns als militärisch notwendig errechneten Beitrages stoßen sollen, übersehen doch nach meiner Auffassung, daß eine derartige Verteidigungsorganisation nicht das wirkungsvolle Instrument sein kann, das wir im Lichte der fortschreitenden und sehr schnell sich entwickelnden Technik aller Art brauchen, auch gerade in unserer bedrohten Lage. Sie übersehen, daß wir heutzutage trotz zahlreicher Maschinenwaffen und starker und weiter fortschreitender Technisierung der Waffen oder, wenn Sie so wollen, des Krieges unendlich viele Waffen und Geräte haben, die Mehrmannwaffen und Mehrmanngeräte sind, zu deren Bedienung ein Austausch der Besatzungen notwendig ist.
Dabei kompliziert sich auch die Ausbildung erheblich. Der Einwand, daß man heute wegen der Technisierung des Krieges — ich darf es mal so nennen — mit wesentlich weniger Menschen die gleiche militärische Wirksamkeit erreichen könne, hält der Wirklichkeit nicht stand. Ebenso ist ein Vergleich mit dem Seecktschen Hunderttausendmannheer, das so oft als Beispiel herangezogen wird, nicht stichhaltig, weil es sich damals um die Heranbildung des Unteroffiziers- und Offiziersnachwuchses handelte. Dazu hatte man damals zehn bis zwölf Jahre Zeit; das war die Zeit, die der einzelne Mann oder jedenfalls die Masse des Hunderttausendmannheeres zu dienen hatte.
Ich warne dringend — hier werden mir alle die Herren, die davon eine Ahnung haben, recht geben — vor geringwertig ausgebildeten Soldaten. Gerade die Erfahrungen im, wie wir hoffen, letzten Kriege mit ungeschulten und nur notdürftig ausdeutige und eine noch eindringlichere Mahnung sein.
Ich stütze mich bei der Bejahung der allgemeinen Wehrpflicht nicht darauf, daß unsere Vertragspartner und auch die UdSSR die allgemeine Wehrpflicht haben und daß, wie wir hören, Luxemburg diese starke Marine mit zwölfmonatiger Dienstzeit hat. Was in diesen Ländern erforderlich oder zweckmäßig ist, braucht es bei uns nicht zu sein. Ebenso kann das Umgekehrte der Fall sein. Wir können zur Führung eines Abwehrkampfes, wenn er uns aufgezwungen wird, in unserer geographischen und militärisch vorerst noch bedrohten Lage auf die allgemeine Wehrpflicht nicht verzichten. Militärische Zweckmäßigkeit und deren Erfordernisse machen sie zur staatspolitischen Notwendigkeit.
Die Frage, ob die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft werden sollte oder nicht, ist auch außerhalb der Bundesrepublik gestellt, z. B. in England. Aber die Frage scheint auch dort noch nicht entscheidungsreif zu sein, sonst hätte man die Wehrpflicht bereits abgeschafft. Ich halte es nicht nur für falsch, sondern für staatspolitisch wenig verantwortungsbewußt, sie bei uns mit dem Hinweis auf derartige Erwägungen in anderen Ländern nicht einführen zu wollen; denn wir sollten nicht experimentieren. Würden wir uns jetzt von der Absicht abbringen lassen, so hätte das bestimmte Folgen. Die Erfahrungen lehren nämlich, daß wir ohne die allgemeine Wehrpflicht nicht auskommen. Die Erfahrungen lehren auch — ich darf das schon vorweg bemerken —, daß wir mit einer zwölfmonatigen Dienstzeit — wenn das Hohe Haus sie beschließen sollte — nicht auskommen. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht oder die Erhöhung der zwölfmonatigen Dienstzeit würde für jede Regierung, gleichgültig, wie sie sich zusammensetzt, ein innerpolitisches Wagnis sein und außenpolitisch als Bedrohung ausgelegt werden. Ich persönlich habe keinen Zweifel, daß die Sowjetunion das mit Sicherheit tun würde.
Erlauben Sie, die Frage der Miliz, die von Herrn Kollegen Erler auch behandelt worden ist — sie gehört ja auch dazu —, noch einmal anzuschneiden. Über diese Frage sind sich nicht alle Befürworter dieses Gedankens — auch einige sogenannte Wehrexperten — ganz klar. Wir kennen in bezug auf die zeitliche Ableistung der Wehrpflicht zwei Grundformen, die uns Herr Erler auch erklärt hat. Einmal kann die Ableistung der Wehrpflicht geschlossen und zum anderen in mehreren mehr oder weniger langen getrennten Ausbildungsabschnitten erfolgen. Wir sind es gewöhnt, die eine Art als Kaderwehrmacht und die andere als Miliz- oder Krümpersystem anzusprechen. Während die Kaderwehrmacht mit ihren Wehrpflichtigen auf eine möglichst große Anzahl sofort griffbereiter aktiver Einheiten Wert legt, ist eine Milizwehrmacht nach einer gewissen Anlaufzeit womöglich die militantere Verwirklichung des Wehrpflichtgedankens, da sie jeden Staatsbürger ständig auf einem gleichbleibenden Ausbildungsstand zu halten sucht und infolgedessen im Verteidigungsfalle wiederaufzufrischende Reserven nicht kennt.
Nun wird die Miliz oft mit kurzer Ausbildungsdauer identifiziert. Herr Erler hat das schon richtiggestellt. Das primäre Begriffsmerkmal einer Miliz ist aber weniger die Dauer des Wehrdienstes als das Fehlen von Kadern, also eines langdienenden Stammpersonals. Kaderwehrmacht und Miliz — Herr Erler hat es etwa ähnlich ausgedrückt; ich darf es noch einmal wiederholen — sind zwei Erscheinungsformen derselben Wehrverfassung, nämlich der allgemeinen Wehrpflicht. Miliz ohne allgemeine Wehrpflicht ist nicht denkbar. Der Unterschied der letzteren zur Kaderwehrmacht liegt nur in der Erfassungsart und dem Aufbau der Truppe. Die Alternative lautet also nicht Miliz oder allgemeine Wehrpflicht, sondern Wehrpflicht in einem stehenden Heer oder in einer Art Miliz.
Im übrigen haben die Befürworter einer reinen oder einer stärkeren Miliz neben einem kleinen Berufsheer die Schwäche ihrer Wehrkonstruktion, meine ich, selbst erkannt; denn sie glauben alle, nicht auf das Vorhandensein eines stehenden Heeres von Freiwilligen verzichten zu können. Ich halte es im übrigen nicht nur für falsch, sondern auch für gefährlich, zu behaupten, man benötige für eine Art Miliz eine sehr viel kürzere Ausbildungszeit.


(von Manteuffel [Neuß])

Dann wird weiter von den Befürwortern gesagt, die Aufgaben der Miliz seien so vielfältiger Art, daß dann der Begriff militärischer Tauglichkeit sehr viel weitergehend gefaßt werden könne und sich etwa mit dem der Arbeitstauglichkeit decken würde. Meine Damen und Herren, dann darf ich doch einmal fragen: Welchen Soldaten brauchen wir? Zuerst einmal den gut ausgebildeten, den modern bewaffneten und ausgerüsteten, den selbstsicheren, von seinem eigenen kämpferischen Wert überzeugten Einzelkämpfer. Darüber sollte es doch wohl gar keinen Zweifel geben.
Demnach ist einzusehen, daß das gesamte Land eine dieser Notwendigkeit angemessene Verteidigungsorganisation braucht. Die Frage ist doch, ob der mit zahlreichen Unterbrechungen, also auf Abstottern dienende Milizsoldat den gleichen kämpferischen Wert erreicht wie der Soldat und Kämpfer des stehenden Heeres.
Es ist auch nicht einzusehen, woher bei einem solchen System das Führer- und Unterführerkorps für diese Miliz herkommen soll. Der in jedem Fall begrenzt vorhandene hochwertige militärische Führernachwuchs, der doch aus den schwachen Jahrgängen nicht in riesiger Zahl vorhanden sein kann — wir wissen das ja —, befände sich im Falle einer Zweiteilung konzentriert im Berufsheer und wäre nicht gleichmäßig über die gesamte Wehrkraft verteilt, wie dies wünschenswert und sogar notwendig ist.
Die für die Heimatverteidigung an allen wesentlichen Produktionsstätten und Verkehrspunkten aufzustellenden beweglichen, gut bewaffneten, von auszubauenden Stützpunkten operierenden Verbände — so stellen die Betreffenden es sich doch vor — tragen zwar, da sie im Wohnbereich aufgestellt werden müssen — es gibt ja keine Mobilisierung in diesem Sinne mehr — das typische Merkmal der Miliz; aber es fragt sich eben doch, ob für diese harten Aufgaben, die der bodenständigen Verteidigung möglicherweise gestellt werden, eine Kurzausbildung genügt. Ich bin der Meinung, daß Ausrüstung, Bewaffnung und Ausbildung der Milizverbände den gleichen taktischen und operativen Grundsätzen entsprechen müssen wie die der operativen Verbände; denn sonst würden sie verlorene Haufen darstellen, die überhaupt nicht kämpfen können.
Die Vorstellung von einer bodenständigen Heimatwehr, die nur örtliche Kampfaufgaben zu lösen hat, ist eben meist der Unklarheit über den Aufgabenkreis der sogenannten zivilen Verteidigung entsprungen. Auch diese Verteidigungszellen, meine Damen und Herren — ich muß das einmal aussprechen —, müssen in militärischer Hinsicht autark und auch stark genug sein, um aus eigener Kraft Fallschirmlandungen, Sabotageakte und alles Mögliche, was man sich denken und noch ersinnen kann, selbständig abzuschlagen. Insofern ist deutlich, daß die Wehrpflicht für sie nicht überholt ist; denn jeder Ort der Heimat kann zum Kriegsschauplatz werden. Eine mangelhafte Ausbildung würde außerdem das Selbstvertrauen der Truppe zerstören; sie ist sinnlos und sie ist zwecklos. Das weiß jeder Soldat und wird mir wohl beipflichten. Die notwendige Schulung ist nur in einer gründlichen und längeren Ausbildung zu erreichen, wofür in einem Milizsystem eben kein Raum ist.
Der Vergleich mit der Schweiz wird so oft und gern angeführt, um die Miliz zu verteidigen. Der
Vergleich ist nicht treffend, da die Schweiz nach allen Nachrichten, die sehr viele Damen und Herren auch in diesem Hause haben, ihr System ja doch umbaut. Es paßt auch nicht in die Landschaft und zu ihr. Was wollen denn die Schweizer? Die Eidgenossen wollen den Durchmarsch durch ihr Land verhindern, dem die Natur den Charakter einer Bergfestung verliehen hat. In der Schweiz ist der Gedanke der Heimatverteidigung tief im Denken des gesamten Volkes verwurzelt. Das staatsbürgerliche Bewußtsein der Wehrpflicht als Bürgerpflicht ist dort eine politische Realität, mit der jeder Politiker rechnen kann. Dennoch hat sich das Fundament der stehenden Kräfte im Offizier- und Unteroffizierkorps in der Schweiz seit Kriegsende wesentlich vergrößert. Luftwaffe, Panzerverbände, Nachrichteneinheiten, Artillerie- und Festungstruppen haben ihren aktiven Rahmen wesentlich verstärkt. Nicht allein die sprichwörtliche Sparsamkeit — die Schweiz will teure Waffen und teures Gerät und Spezialausrüstung nicht in die Hände kurz ausgebildeter Milizsoldaten legen —, sondern der Wunsch nach blitzschneller Handlungs- und Einsatzfähigkeit im Verteidigungsfall zwangen die Schweiz zu einem Abweichen von der traditionellen Linie der Heimatverteidigung. Wie jetzt militärische schweizerische Fachleute betonen, und zwar gerade in der letzten Zeit, ist dieser Entwicklungsprozeß noch gar nicht abgeschlossen, sondern befindet sich im Anfangsstadium. Einige der Damen und Herren werden es wissen, in einer Schweizer Dienstanweisung steht drin: „Die Schweiz hat keine Armee, die Schweiz ist eine Armee."
Aber auch die Ausbildung der notwendigen Reserven für die operativen Verbände, für die uns bekanntlich 12 bis 14 Jahrgänge fehlen, weil sie nicht ausgebildet werden durften, ist nur durch die allgemeine Wehrpflicht zu erreichen. Das Stammpersonal für die bodenständige Verteidigung den ehemaligen Soldaten zu entnehmen — ich glaube, dieser Gedanke spielt auch beim Bundesverteidigungsministerium noch eine erhebliche Rolle —, ist nach meiner Auffassung nur ein sehr schwacher Ersatz, da die wenigen ehemaligen Soldaten, die hierfür noch in Frage kommen, erst umgeschult werden müssen.
Ein kleineres Berufsheer, das über keine ausreichenden Reserven verfügt, müßte zwangsläufig im Verteidigungsfall starke personelle Kräfte als Ausbildungskorps für dieses Ersatzheer, oder wie Sie es nennen wollen, abgeben. Das ist nicht möglich, weil nicht durchführbar, ohne die Einsatzbereitschaft der aktiven Verteidigungskräfte ganz wesentlich zu gefährden. Kein militärischer Führer kann verantworten, mit kurz ausgebildeten Milizverbänden einem qualitativ hochwertig ausgebildeten Gegner mit drei- oder mehrjähriger Dienstzeit, wie es ostwärts des Eisernen Vorhanges der Fall ist, gegenüberzutreten.
Da Mobilisierung und Vervollkommnung der einmal erlernten Ausbildung künftig im Verteidigungsfall wahrscheinlich wegfallen, da es eben keine Mobilmachung alten Stils mehr gibt, komme ich zu dem Schluß, daß die Landesverteidigung in ihrer Organisationsform die allgemeine Wehrpflicht benötigt. Die bodenständige Verteidigung braucht im Frieden zum Teil nur aus Kadern und Geräteeinheiten zu bestehen. Aber im Ernstfall muß sie in der kürzesten Zeit auf den vollen Stand gebracht werden, was nur auf Grund eines dezentralisierten Mobilmachungssystems erfolgen


(von Manteuffel [Neuß])

kann. Wenn die Landesverteidigung wirklich einen Sinn haben soll — das ist doch der Sinn aller Maßnahmen, über die wir in den nächsten Monaten beraten werden —, müssen Reserven vorhanden sein sowohl für die operativen Verbände wie für die bodenständigen Verteidigungstruppen. Deshalb ist die allgemeine Wehrpflicht eine staatspolitische Notwendigkeit, auch im gegenwärtigen Zeitpunkt.
Ich darf nun noch auf ein Argument eingehen, das auch angeführt wird. Ein kleineres Berufsheer ist doch wesentlich teurer. Abgesehen von der Frage, ob wir damit auskommen oder nicht — der Bundesverteidigungsminister hat ja begründet, daß wir mit einem Geburtsjahrgang ohnehin nicht auskommen, da die Wehrtauglichkeit infolge kriegsbedingter gesundheitlicher Störungen zu niedrig ist —, sind die Kosten für ein Berufsheer ganz wesentlich höher, auch durch die Verteuerung der Waffen, des Geräts und der Kraftfahrzeuge, die nicht in entsprechenden wirtschaftlichen Losgrößen hergestellt werden könnten. Hinzu kommen wesentlich höhere Versorgungskosten, um diesen Beruf einigermaßen attraktiv zu machen; denn wenn er nicht attraktiv ist, werden sich nicht so viel Freiwillige melden, wie militärisch benötigt werden. Schließlich ist auch die Unterbringung der ausgedienten länger dienenden Soldaten aller Grade ein finanzielles und soziales Problem.
Erlauben Sie mir noch, auf die Dauer der Wehrpflicht einzugehen, obwohl vieles in meinen vorangegangenen Ausführungen bereits daran angeklungen hat. Die Dauer der Wehrpflicht, über die wir im einzelnen in den Ausschußberatungen lange und sehr sorgfältig sprechen müssen und auch wollen — die Begriffe sind hier etwas verschwommen, wie ich nach dem, was ich draußen höre und lese, den Eindruck habe —, sollte nur nach ihrer waffentechnischen Notwendigkeit geprüft werden, gründlich und nüchtern, ohne romantisierende militärische Vorstellungen und frei von allen traditionsgebundenen, manchmal langen Zöpfen, aber auch ohne Sentiments und Ressentiments gegenüber der entstehenden Bundeswehr und ihren ehrlich bemühten Kräften. Hierbei muß der psychologischen und wirtschaftlichen Problematik Rechnung getragen werden.
Folgendes darf vielleicht als Richtlinie gelten, wenn ich dazu meinen Beitrag beisteuern darf.
Der Bedarf an Spezialisten für die von mir angeführten Mehrmannwaffen und das Mehrmanngerät kann durch das Berufsheer allein nicht gedeckt werden. Wegen des geradezu beängstigenden Tauglichkeitsgrades bleibt nur ein sehr mageres Polster als Freiwilligenreserve. Damit kommen wir für den als militärisch notwendig erkannten Beitrag eben nicht aus. Die kürzere Ausbildungszeit kostet auch wegen der notwendigen Ausbildung im gefechtsmäßigen Schießen und der für die Verbandsausbildung notwendigen Verlegung der Truppen aus den Standorten und Biwaklagern usw. auf die Übungsplätze wesentlich mehr Zeit und viel, viel mehr Geld. Eine kürzere Ausbildungszeit könnte nur durch häufigere Reservistenübungen ausgeglichen werden. Es scheint mir jedoch für den einzelnen, der dieses Opfer zu bringen hat, sehr viel beschwerlicher und berufsstörender, wenn er jährlich mehrere Wochen wieder üben soll.
Ich meine, es sollte ein vernünftiges Abwägen möglich und das richtige Maß zu finden sein zwischen den Erfordernissen der Wirtschaft einerseits und den Notwendigkeiten der Landesverteidigung andererseits. Das kann man ja, wie es auch von der Bundesregierung bisher schon vorgesehen ist, durch zeitlich begrenzte Frei- oder Zurückstellungen machen. Es sind ja auch, wie Sie wissen, vier Termine für die jährlichen Einstellungen vorgesehen, wodurch eine gewisse Auflockerung erfolgt.
Aber auch hier gilt das, was ich an anderer Stelle sagte. Würde man die beabsichtige Dienstdauer jetzt verkürzen — nehmen wir einmal an, das Hohe Haus beschlösse in einigen Wochen oder Monaten, sie auf 12 Monate festzusetzen —, die Erfahrung aber zeigen — ich bin dessen gewiß! —, daß eine längere Dienstdauer notwendig ist, so würde die gesetzliche Heraufsetzung ein innerpolitisches Wagnis für jede Regierung — ich sage: j e d e Regierung — sein und könnte außenpolitisch als Bedrohung aufgefaßt werden. Die Sowjets würden das mit Sicherheit tun.
Ich komme zum Schluß meiner Ausführungen. Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, nur noch folgendes zu sagen:
Wer Deutschland wieder zusammenführen will, das heißt, wer die Einheit und Freiheit Gesamtdeutschlands in Frieden und Sicherheit will, mußte von Anfang an grundsätzlich wissen, daß Verhandlungen zur Regelung internationaler Fragen mit dem totalitären Regime des Bolschewismus — und zwar des militanten Bolschewismus — nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn derjenige oder diejenigen, die diese Verhandlungen zu führen haben, ebenso stark, wenn nicht noch stärker sind als der militante Bolschewismus. Ich führe dazu als Beweis auch den Art. 133 der bolschewistischen Verfassung an, der da lautet:
Die Verteidigung des Vaterlandes ist heilige Pflicht eines jeden Bürgers der UdSSR. Vaterlandsverrat, Verletzung des Fahneneides, Überlaufen zum Feinde, Schädigung der militärischen Macht des Staates . . .
— es wird noch viel angeführt —
werden als schwerste Vergehen mit aller Strenge des Gesetzes geahndet.
Ich meine, auch bei uns hier, auch in der Zwiespältigkeit, in der sich unser Vaterland befindet, ist die allgemeine Wehrpflicht eine feststehende Aufgabe, die ebenso in unserer räumlichen Lage wie in der politischen Situation unseres Landes begründet ist. Wenn die Wehrpolitik überhaupt einen Sinn hat, dann den, daß die militärischen Risiken so klein wie überhaupt nur irgend möglich gehalten werden. Ich darf vielleicht — das muß erlaubt sein — in diesem Zusammenhang an die Worte Kurt Schumachers erinnern, der gesagt hat:
Wir sind bereit, wieder Waffen zu tragen, wenn die westlichen Alliierten mit uns das gleiche Risiko und die gleiche Chance der Abwehr eines sowjetischen Angriffs übernehmen . . . und bei einem eventuellen Angriff aus dem Osten sofort zur offensiven Defensive übergegangen werden kann.
Ich bin der Auffassung, daß unsere Verbündeten ihr Wort in der Vorbereitung der gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen gehalten haben. Jetzt haben wir verantwortungsbewußt zu handeln, um den wirksamsten militärischen Schutz zu schaffen, den die Bundesrepublik braucht. Die Stärke des deutschen Beitrages ist sicherlich kein willkürliches Ergebnis, sondern sie fußt auf den strate-


(von Manteuffel [Neuß])

gischen Plänen der NATO und den Prüfungen, Erwägungen usw., was wir selbst für die Verteidigung unseres Landes unter vernünftiger Abwägung der verschiedensten Faktoren beitragen können, um die für alle gleichermaßen gefährdende Verteidigungslücke in Europa zu schließen, die gerade für uns Deutsche so lebensgefährlich ist.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Aus diesem Grunde sollte die allgemeine Wehrpflicht auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt beschlossen werden. Ihre Verwirklichung dauert, wie mehrfach ausgeführt, ohnehin noch einige Zeit. Die politisch gesetzten Termine der Bundesregierung und auch die des Bundesverteidigungsministeriums erscheinen auch mir etwas optimistisch und bedürfen deshalb nochmals der Überprüfung. In diesem Sinne bleibt ja Zeit und Gelegenheit, daß die Sowjets innerhalb dieser Frist im Rahmen der laufenden Abrüstungsgespräche auf die Probe zu stellen sind, welche Gegenleistung sie für unseren Beitrag zur allgemeinen Abrüstung zu geben bereit sind.

(Sehr gut! rechts.)

Aber ich muß hinzufügen: eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, daß die innere Auseinandersetzung um die Frage des deutschen Verteidigungsbeitrages sich in der Öffentlichkeit entschärft — und das ist für eine sachliche Diskussion unbedingt notwendig —, ist, daß die Bundesregierung und das Bundesverteidigungsministerium die militärische Wirksamkeit ihrer Pläne sichtbar unter Beweis stellen. Denn die überwiegende Mehrzahl der männlichen Bevölkerung Deutschlands hat in einem, zu einem großen Teil sogar in zwei Weltkriegen ausreichende Erfahrungen gemacht und besitzt einen sehr wachen Sinn dafür, was militärisch zweckmäßig ist und was nicht. Deshalb sind alle Experimente, auch die psychologischer Art, völlig verfehlt.
Die Lösung ergibt sich nicht aus einem Klima des Mißtrauens und der Furcht, sondern wir sollten den Willen zu gemeinsamen Maßnahmen an den Anfang setzen, um den militärisch wirksamen Schutz zu erlangen, den die Bundesrepublik braucht. Wenn außerdem dann der Staat und alle wirklich demokratischen Parteien eindeutig zu ihren Soldaten stehen, wird für die junge Generation der Augenblick gekommen sein, aus innerer Überzeugung dieser staatsbürgerlichen Verpflichtung nachzukommen. Denn ich behaupte, daß die deutsche Jugend unserer Generation sicherlich nicht schlechter ist, als ihre Vorgänger es waren denn sie hat ihre Verantwortung dem Staat gegenüber beim Wiederaufbau mehrfach bewiesen. Weshalb sollte sie bei der Erfüllung dieser staatsbürgerlichen Verpflichtung versagen? Helfen wir ihr damit, daß sie diese schweren Opfer, die sie zu tragen hat, tragen kann.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: Sinnlose Opfer!)

— Herr Wehner, der Zwischenruf „Sinnlose Opfer" ist doch nicht passend. Sie sind doch selbst aus vielen Gründen, die ich schon angeführt habe, für die Landesverteidigung eingetreten.
Wegen der vorgeschrittenen Zeit glaubte ich, meine Damen und Herren, mich auf diese beiden Hauptprobleme beschränken zu sollen, ohne damit sagen zu wollen, daß nicht noch weitere wesentliche Bestimmungen der Erörterung wert wären.
Wir werden in den Ausschußberatungen dazu Stellung nehmen und stimmen der Überweisung an den Ausschuß zu.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214304000
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Dr. Reif.

Dr. Hans Reif (FDP):
Rede ID: ID0214304100
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte bitten, die Verhandlungen um eine Stunde zu unterbrechen, weil ich die Hoffnung habe, daß wir dann vielleicht eine Besetzung des Hauses vorfinden, die der ungeheuren Problematik des Gegenstandes, aber auch der Würde des Hauses entspricht.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214304200
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Rasner.

Will Rasner (CDU):
Rede ID: ID0214304300
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegen der FDP-Fraktion haben wie manche andere die Zeit während der Ausführungen des Kollegen von Manteuffel zum Mittagessen benutzt.

(Zuruf: Das war auch gut!)

Ich habe wenig Verständnis dafür, daß diese Kollegen nun dagegen sind, daß andere die Zeit während der Rede des Kollegen Mende zur Mittagspause benutzen.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Reif: Das ist ein wunderbares Argument!)

Im übrigen bin ich der Meinung,

(Abg. Dr. Reif: Es geht auch um die Würde des Hauses!)

daß wir der Ökonomie des Hauses dienen, wenn wir die Sitzung fortsetzen. Wir widersprechen dem Antrag auf Unterbrechung.

(Abg. Wehner: Die Ökonomie ist aber nicht gleich der Würde! Das haben Sie verwechselt!)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214304400
Meine Damen und Herren, es ist ein Antrag auf Unterbrechung der Sitzung um eine Stunde gestellt. Das Schicksal dieses Antrags liegt in Ihrer Hand. Ich lasse abstimmen. Wer für die Unterbrechung ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. — Gegenprobe! — Das ist die Mehrheit; dieser Antrag ist abgelehnt. Wir fahren fort.
Das Wort hat der Abgeordnete Mende.

Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0214304500
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich könnte zu der Ökonomie des Hauses auch noch meinerseits beisteuern, indem ich das Manuskript meiner Rede zu Protokoll gebe. Dann sparen wir noch mehr Zeit. Aber da ich nicht wie mein Herr Vorredner vorzulesen beabsichtige

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten in der Mitte)

und da ich daher auch kein Manuskript habe, kann ich Ihnen leider diesen Gefallen nicht tun. Ich will vielmehr versuchen, mit Ihnen in ein parlamentarisches Gespräch im Sinne einer echten Auseinandersetzung zu kommen.

(Zurufe von der CDU/CSU. — Glocke des Präsidenten.)

Zunächst zu der Frage der Zeit! Ich darf hier für die Freien Demokraten zunächst einmal begrün-


(Dr. Mende)

den, warum wir den heutigen Termin der Lesung des Wehrpflichtgesetzes nicht als glücklich empfinden. Wir haben schon mehrfach in der Vergangenheit Gelegenheit gehabt, unter einem gewissen Zeitdruck sehr wichtige Entscheidungen zu treffen. Ich erinnere Sie, daß im Frühjahr 1954 die Bermuda-Konferenz gewissermaßen als zeitliche und außenpolitische Pression über uns schwebte und wir die damaligen Verfassungsergänzungen zu diesem Termin einbringen mußten auf ausdrücklichen Wunsch des Herrn Bundeskanzlers,

(Abg. Mellies: Hört! Hört!)

weil man sich eine Reflexwirkung auf die Bermuda-Konferenz versprach. Nun, es ist bis heute noch nicht bekanntgeworden, in welcher Form diese Wirkung eingetreten sein könnte.
Ich erinnere Sie zweitens an das Freiwilligengesetz vom Sommer des vergangenen Jahres. Das Soldatengesetz ist überraschend in erster Lesung nicht beraten worden, sondern es ist hier ein in wenigen Tagen, nicht im Verteidigungsministerium, sondern im Bundeskanzleramt entstandenes Freiwilligengesetz vorgelegt worden mit allen seinen Schwächen. Ich erinnere Sie an das, was im Ausschuß für Verteidigung seinerzeit hinzugefügt werden mußte, um den Gesetzentwurf überhaupt erst zu einem Gesetz zu vervollkommnen. Auch damals hieß es: Die Genfer Konferenz zwingt dazu, eine politische Demonstration des guten Willens zu machen.
Und der Effekt? Erinnern Sie sich: Die Wehrexperten nannten ihren Fraktionen gewisse Termine. Das Freiwilligengesetz mußte möglichst vor den Parlamentsferien verabschiedet werden, damit am 1. Oktober 1955 die ersten Lehrgänge in Sonthofen stattfinden könnten. Der erste Lehrgang hat glücklicherweise am 2. Mai 1956 begonnen. Das Freiwilligengesetz hat nicht nur keine Beschleunigung der Aufstellung der deutschen Verbände gebracht, es hat vielmehr in der Art, wie es eingebracht wurde, allgemeines Mißtrauen aller politischen Parteien erweckt. Ich erinnere nur an die Sorgen, die auch die CSU und der Herr Kollege Dr. Jaeger damals hatten. So ist genau das Gegenteil dessen eingetreten, was man sachlich vom Freiwilligengesetz erwartet hatte.
Nun wird das Wehrpflichtgesetz am 3. Mai in einer geschäftsordnungsmäßigen Abstimmung auf die Tagesordnung gesetzt. Sollte das auch für die am 3. Mai beginnende Tagung des Atlantischen Rates in Paris eine politische Demonstration des guten Willens sein, oder glaubt man sachliche Gründe für das Vorziehen dieses Gesetzes zu haben, dieses Gesetzes, das im Augenblick sachlich wesentlich weniger wichtig ist als das Überleitungsgesetz für den Bundesgrenzschutz, als das Besoldungsgesetz, als das Versorgungsgesetz, als die Wehrdisziplinarordnung, als auch das Organisationsgesetz, das ja heute auch noch hier beraten wird und dessen Lesung wir keinesfalls widersprochen haben, weil wir dieses Gesetz als längst überfällig betrachten?
Meine Damen und Herren, dieses Wehrpflichtgesetz ist zweifelsohne das wichtigste Wehrgesetz des Deutschen Bundestages. Es ist vielleicht seit 1949 das wichtigste Gesetz überhaupt; denn wie kein anderes greift es in die Lebens- und Freiheitssphäre des deutschen Mannes ein. Es wäre zweckmäßig gewesen, die Lesung eines so wichtigen Gesetzeswerkes besser vorzubereiten, als das gestern geschehen ist. Wer sich gestern nicht nur draußen aufhielt, sondern viel im Raume war, konnte beobachten, daß diejenigen, die im Ausschuß für Verteidigung gewissermaßen die Sprecher ihrer Fraktion in wehrpolitischen Fragen sind, sich so, wie die Schüler einer Oberklasse sich im Zeichenunterreicht für den nächstfolgenden Geschichtsunterricht vorbereiten, während der Lesung des Wohnungsbaugesetzes auf das Wehrpflichtgesetz vorbereiteten, weil sie ja erst gestern die Möglichkeit hatten, jene Denkschrift zur Kenntnis zu nehmen, mit der man sich auch hier noch wird auseinandersetzen müssen. Wenn es also eines Beweises bedurfte, daß die Beratung eines so entscheidenden Gesetzes seitens der Bundesregierung lückenhaft vorbereitet war,

(Beifall bei der FDP und bei der SPD.) dann ist das die Technik, die wir gestern hier erleben mußten.

Die Frage, welche zeitlichen Verpflichtungen im Rahmen der NATO zu erfüllen sind, wird noch im Laufe meiner Darlegungen erörtert werden müssen. Jedermann weiß, das niemals vor der Aufstellung der Rahmenverbände diese Rahmen mit Wehrpflichtigen gefüllt werden können. Das heißt, eine Einziehung Wehrpflichtiger könnte frühestens im Herbst 1957 erfolgen. Ich weiß aus dem Munde des Herrn Bundeskanzlers selbst, gelegentlich einer Koalitionsbesprechung im vorigen Sommer, mit welch großen Bedenken er die eventuelle Einziehung Wehrpflichtiger unmittelbar vor der Bundestagswahl 1957 beurteilt hat.

(Zuruf des Abg. Mellies.)

Das ist übrigens auch mit ein Grund, weswegen seinerzeit das Freiwilligengesetz vorgezogen wurde. Es hat allerdings in dieser Besprechung auch andere Stimmen gegeben, die meinten, man könne ja möglicherweise das Wehrpflichtgesetz schon so lange vor der Bundestagswahl, nämlich im April 1957, durch Einziehung von Wehrpflichtigen realisieren, daß sich das dann auf die Bundestagswahl nicht mehr unmittelbar auswirke, sondern daß vielleicht der Sog der Realitäten sogar zu dem Gegenteil führe.
Wie dem auch sei, die bisherige Verzögerung im Aufbau unserer Bundeswehr läßt selbst für den größten Optimisten und selbst für den, der es politisch will, eine Einziehung Wehrpflichtiger vor dem Herbst 1957 nicht zu. Seien wir doch ehrlich, meine Damen und Herren: wenn nicht der Bundesgrenzschutz in nächster Zeit in die Bundeswehr übergeführt wird, werden wir in diesem Jahr nicht einmal den primitivsten Selbstschutz aufbauen, den wir j a so nötig haben, geschweige denn die Chance haben, Wehrpflichtige einzuziehen.
Die NATO-Verpflichtung legt uns nur auf, in diesem Jahr 96 000 Berufssoldaten, längerdienende Freiwillige, Spezialisten einzustellen. Ob wir diese Verpflichtung der NATO, zu der wir stehen, in diesem Jahr erfüllen können, hängt nicht von dem hier zur Beratung stehenden Gesetz ab, sondern von ganz anderen Faktoren, nicht zuletzt von dem Faktor der Überführung des Bundesgrenzschutzes. Wir verdanken vielleicht dem früheren Bundesinnenminister Dr. Lehr und dem jetzigen Bundesinnenminister Dr. Schröder mehr an Realisierung militärischer Pläne als denen, die fünf Jahre über diese Pläne theoretisiert haben, es aber bei der Realisierung leider nur durch die Hilfe des Bundesgrenzschutzes zu der ersten Aufstellung bringen können.


(Dr. Mende)

Lassen Sie mich nach diesen kritischen Bemerkungen zur Zeitfrage nunmehr zu dem allgemeinen Prinzip des Verteidigungswesens, zu der Frage: Wehrpflicht ja oder nein? Stellung nehmen. Die Freien Demokraten haben niemals das Prinzip in Frage gestellt — und sie werden es auch in Zukunft nicht tun —, daß, wer die Grundrechte einer Demokratie und die Grundfreiheiten für sich in Anspruch nimmt, auch bereit sein muß, ein gewisses Maß an Grundpflichten auf sich zu nehmen. Eine dieser Pflichten ist es, zur Sicherheit der Freiheit seines Volkes dadurch beizutragen, daß man bereit ist, das Opfer eines allgemeinen Verteidigungsdienstes — sei es eines soldatischen oder eines anderen — auf sich zu nehmen. Was hier an Gegenüberstellungen Wehrpflicht - Miliz, Berufsarmee — Miliz zum Teil zu lesen war, geht völlig an dem Problem vorbei. In diesem Punkt ist das Memorandum der Bundesregierung durchaus richtig. Berufsarmee und Wehrpflicht oder Miliz schließen sich nicht aus, sondern die Wehrpflicht ist geradezu eine Voraussetzung und Grundlage für ein Milizsystem. Es müßte also bei den Plänen heißen: Berufsarmee u n d Milizsystem und nicht Berufsarmee oder Milizsystem. Diese Alternative ist falsch.
In jedem Fall aber ist eine Verpflichtung des Bürgers vonnöten, wenn man sich nicht auf eine kleine, nicht mit Reserven ausgestattete Armee stützen will.
Die Frage, ob die allgemeine Wehrpflicht in der früheren Terminologie noch Geltung hat, sollte auch einmal etwas näher untersucht werden. Heute ist doch angesichts der Technisierung des totalen Krieges Strategie nicht nur eine Angelegenheit rein militärischer Dinge, sondern Strategie ist die Summe politischer, wirtschaftlicher, sozialer, propagandistischer und rein technisch-militärischer Maßnahmen. Wir haben es im Zweiten Weltkrieg erlebt, daß sich die Kriegführung nicht nur auf das rein militärische, auf das soldatische Gebiet beschränkt. Wir haben feststellen müssen, daß vielleicht der zivile Dienst im Bergbau wesentlich kriegswichtiger sein kann als der soldatische Dienst mit der Waffe in der Hand. Darum ist im Winter 1941 in der größten Katastrophe an der Ostfront, da jedermann an der Front, die im Zusammenbrechen war, gebraucht wurde, die gesamte Bergarbeiterschaft herausgezogen worden, weil der Bergarbeiter unter Tage damals für die Kriegführung wesentlich entscheidender war als mit der Waffe an der Ostfront.
Diesem Anliegen trägt j a auch dieses Gesetz Rechnung. Es wird mit einer ziemlichen Sicherheit den gesamten Bergbau aus der Wehrpflicht herausnehmen. Vermutlich ist auch mit einer Herausnahme der gesamten eisenschaffenden Industrie zu rechnen, vielleicht sogar — und der Herr Bundeswohnungsbauminister wird hoffentlich mit Unterstützung aller dafür kämpfen — mit der Herausnahme eines großen Teils der Spezialisten aus der Bauindustrie. In der Landwirtschaft wird man versuchen müssen, mit italienischen Fremdarbeitern Lücken zu füllen.
,Alles in allem: Die allgemeine Wehrpflicht klassischer Vorstellung gilt heute nicht mehr, wenn ganze Bereiche aus der allgemeinen Wehrpflicht ausgeklammert werden müssen, weil man das Militärische heute in einem Zusammenhang mit dem Volkswirtschaftlichen sehen muß. Darum sprechen wir Freien Demokraten nicht von der allgemeinen Wehrpflicht, sondern von der allgemeinen Verteidigungspflicht, die sowohl im soldatischen Bereich erfüllt werden kann und muß wie auch möglicherweise im wirtschaftlichen Bereich des Bergbaus und anderer Schlüsselindustrien in Anrechnung kommt. Für uns ist der Begriff der allgemeinen Verteidigungsdienstpflicht ein genereller Begriff, der weit über dem des eng begrenzten allgemeinen Wehrpflichtgedankens von früher steht.
Eine völlig neue Entwicklung ist auch durch das Anbrechen des elektronischen und nuklearen Zeitalters eingeleitet worden. Die Elektronik, Kernphysik und Biochemie haben eine neue Menschheitsgeschichte eingeleitet. Ich brauche nur auf die letzten Worte Albert Einsteins hinzuweisen, daß es wesentlich davon abhängen wird, ob die Menschheit diese neuen Erkenntnisse ihres Geistes zu ihrer Weiterentwicklung oder zu ihrer Vernichtung einsetzen wird. Es würde zu weit führen, hier auf diese neuen Erkenntnisse der Elektronik und der atomaren Entwicklung einzugehen. Nur eines, meine Damen und Herren! Das bemannte Flugzeug — Sie hören es und lesen es aus den letzten Diskussionen in der Weltöffentlichkeit — ist bereits überholt durch die unbemannte Rakete, die nicht nur auf kleine und mittlere Typen beschränkt wird, sondern vermutlich als Transkontinentalrakete bereits Träger der Wasserstoffbombe sein könnte.
Sie wissen, daß die ganze Panzerabwehr möglicherweise in den nächsten Jahren revolutioniert wird, weil es französischen Ingenieuren gelang, die Elektronik auch in den Dienst der Panzerabwehr zu stellen und durch eine Elektronenrakete etwa auf 5 km Entfernung jedes Panzerungetüm abzuschießen, also auf eine Entfernung, aus der der Panzer selber noch kaum richtig in Wirksamkeit treten kann. Daher wird man vermutlich in einigen Jahren keine 72-Tonner mehr bauen, keine 60-
Tonner, vielleicht auch keine 24-Tonner mehr, wenn sie ohnehin auf 5 km Entfernung durch eine Rakete vernichtet werden, die ihr Ziel elektronisch selbst ansteuert. Man wird vermutlich zu viel kleineren, schneller beweglichen, wesentlich weniger Stahl beanspruchenden Panzerstrukturen kommen.
Daß die Flak des zweiten Weltkriegs gar nicht mehr in Erscheinung treten kann, wissen Sie, weil man an Stelle des Flakgeschützes des zweiten Weltkriegs auch jene Abwehrrakete einführt, die ihr Ziel bis in die Stratosphäre elektronisch ansteuert und vernichtet, sei es ein noch in 25 km Höhe einfliegendes Flugzeug vom Typ B 52 oder sei es eine Rakete, die durch die Abwehrrakete vernichtet werden soll.
Wir haben schon im Jahre 1955 in diesem Hause beklagt, daß die Auseinandersetzungen über die technischen Entwicklungen bisher immer nur den Publizisten vom Schlage eines Liddell Hart, Adelbert Weinstein, Oberstleutnant Miksche, General Fuller und anderen überlassen wurden und nicht im Ausschuß für Verteidigung auch in die Problematik der Revolutionierung der Strategie eingetreten wurde. Einmal haben wir auf unser Drängen ein Gespräch geführt, an dem die Generale Speidel und Heusinger teilnahmen. Dieses Gespräch sollte die Frage beantworten, die Adelbert Weinstein in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" gestellt hat: Wie wird bei der deutschen Planung die Erkenntnis der neuesten atomaren Entwicklung berücksichtigt? Denn das ist allgemein die herrschende Auffassung in der Welt — das haben auch alle Vorredner bestätigt —: die Entwicklung der


(Dr. Mende)

nuklearen Waffen hat nicht die klassischen Waffen schlechthin überflüssig gemacht, aber sie zwingt zu einem völligen Umdenken von Strategie und Taktik und auch zu einer Umrüstung und Umgliederung der Verbände. Wir waren sehr beeindruckt, daß uns damals die Generale Speidel und Heusinger mitteilten, man wolle die Erkenntnisse der Atommanöver von Nevada abwarten, um dann erst über die zweckmäßigste Gliederung der deutschen Verbände zu entscheiden. Man werde auch keinesfalls mehr die Riesendivisionen von 18 000 Mann mit dem Riesentroß aufstellen, mit ihrer Verwundbarkeit aus der Luft und durch Atomwaffen — aus Geschützen abgeschossen —, sondern wesentlich kleinere, beweglichere Verbände, vermutlich auch nicht einmal die englische Division mit 12 000, sondern vermutlich jene kleinen schnell beweglichen gepanzerten Verbände von etwa 8000 Mann als den neuen Typ der atomar gegliederten Panzerdivision.
Seit diesem Gespräch im Sommer vorigen Jahres, an dem Vertreter der Koalitionsfraktionen teilnahmen, hat ein weiteres Gespräch nicht stattgefunden. Ich erinnere die Herren des Ausschusses für Verteidigung, daß wir seit der Zeit, als der Streit um die Konzeption des Obersten von Bonin in der Öffentlichkeit war, unabhängige Gutachter hören wollten, die uns, Herr Kollege Erler, einmal unbeeinflußt von irgendwelchen Unterstellungen und beamtenrechtlichen Abhängigkeiten die Konzeptionen in Argument und Gegenargument darlegen sollten. Auch diese Äußerungen der Gutachter sind bis zum heutigen Tage vor dem Ausschuß für Verteidigung leider nicht erfolgt. Hier muß die Unruhe, die bisher in der Publizistik sichtbar ist, allmählich auch auf uns übergreifen; jene Unruhe, daß möglicherweise allzu bequemes Festhalten an den Überlegungen des Jahres 1951/52, der EVG, uns nicht nur um den höchsten militärischen Effekt der neuen Verbände bringen würde, sondern auch zwangsläufig zu großen Fehlinvestitionen führen müßte. Wir stellen daher die These auf: unbequeme Überlegungen dieser Art sind besser als allzu bequemes Festhalten an den alten Vorstellungen der EVG von 1951/52. Die Diskussion, die sich bisher leider auf die Publizisten und Experten in der internationalen Militärpresse beschränkt, muß nunmehr auch in den verantwortlichen Fachgremien beginnen.
Ich werde Gelegenheit haben, mich noch ausführlicher mit der Denkschrift auseinanderzusetzen, als es der Kollege Erler schon getan hat. Lassen Sie mich aber schon hier einen Grundirrtum aus dem Ersten Teil richtigstellen. Es heißt auf Seite 6:
Das Gebiet der Bundesrepublik darf von den Kampftruppen nicht preisgegeben werden. Das verlangt der Schutz der Bevölkerung.
Meine Damen und Herren, ich muß da unwillkürlich an den berühmten Satz denken: „Und so schließt er messerscharf, daß nicht sein kann, was nicht sein darf."

(Beifall bei der SPD.)

„Das Gebiet der Bundesrepublik darf von den Kampftruppen nicht preisgegeben werden. Das verlangt der Schutz der Bevölkerung." — Ja, wer bestimmt denn das in der entscheidenden Stunde, ob es preisgegeben werden muß oder wird? Doch nicht das Bundesverteidigungsministerium, auch nicht die Bundesregierung, auch nicht die NATO-Strategie, sondern die Unwägbarkeit der militärischen Zusammenstöße. Wir haben doch im 2. Weltkrieg
oft Linien erlebt, die wir halten mußten. Ich spreche die, die vor Moskau im Schnee lagen, auf die berühmten Führerlinien an, die gehalten werden mußten. Die erste lag unmittelbar vor Moskau, die zweite lag etwas weiter rückwärts, die dritte lag noch weiter rückwärts. Man hat damals nicht auf von Brauchitsch gehört, rechtzeitig auf den Dnjepr zurückzugehen und ein tiefgestaffeltes Verteidigungssystem zu schaffen, sondern man hat geglaubt, nach den alten Vorstellungen Linien halten zu können. Die Vorstellung einer linearen Verteidigung ist, wenn sie von Fachleuten vertreten wird, falsch, und wenn sie von Politikern vertreten wird, eine gefährliche Irreführung des betreffenden Volkes. Denn es gibt im modernen Krieg keine lineare Verteidigung, es gibt auch keine Garantieerklärung in einem Krieg, sondern, wie der alte Moltke schon sagte: man kann in einem Krieg nur bis zur ersten Aufstellung, oder besser, bis zur ersten Begegnung alles vorausberechnen; von der Sekunde der ersten Begegnung der Kämpfenden lastet über allem die Unsicherheit und die Unwägbarkeit des Kriegsgottes. Deswegen ist es falsch, so zu tun, als wenn es möglich wäre, etwa eine Rhein-Linie, eine ElbeWerra-Linie oder irgendeine sonstige Linie zu halten. Es wird jeder Angreifer in der Lage sein, jede Linie dort zu durchbrechen, wo es ihm gelingt, einen Schwerpunkt zu bilden. Wenn es zu dem Unglück eines Krieges auf europäischem Boden kommen sollte, dann gibt es keinen Schutz in Form einer Garantieerklärung, sondern dann müssen wir bei der beweglichen Kampfführung, die insbesondere in dem in Straßen hoch entwickelten europäischen Raum stattfände, mit Bewegungen hinüber und herüber rechnen, d. h. das Kampffeld einer Auseinandersetzung würde sich von der Elbe und Werra nach Osten wie nach Westen einige hundert Kilometer erstrecken müssen. Es gibt keine Garantie etwa in dem Sinne: Das Gebiet der Bundesrepublik darf von den Kampftruppen nicht preisgegeben werden, das verlangt der Schutz der Bevölkerung.

(Zurufe von der Mitte.)

Die Frage der Sicherheiten ist so zu beantworten, daß in jedem Falle bei einem bewaffneten Zusammenstoß der gesamte Raum zwischen Memel und Maas mindestens, wenn nicht gar noch weiter bis zu den Pyrenäen, ein großes atomares Kampffeld sein würde.

(Zurufe von der SPD.)

Das zwingt möglicherweise zu moderneren Überlegungen, als sie uns bisher bekanntgeworden sind. Herr Kollege Erler sagte es schon. Wir sind einer der 16 NATO-Partner. Wir haben Verpflichtungen auf uns genommen, und wir Freien Demokraten sind gewillt, diese Verpflichtungen, die wir mit aufgenommen haben, im Unterschied zu den Sozialdemokraten, die sie seinerzeit abgelehnt haben, zu erfüllen und alles zu tun, um nicht nur einen Selbstschutz der deutschen Bevölkerung sicherzustellen, sondern um auch der Verpflichtung gegenüber unseren Partnern gerecht zu werden. Aber wir sind in einer anderen Lage als die 15 anderen NATO-Partner, und wir beanspruchen, daß man die deutsche Situation in die Strategie und Planung der NATO mit einkalkuliert. Was ist die Situation Deutschlands? Es ist doch der Schatten, der über der deutschen Nation gegenwärtig liegt: Deutschland ist aufgeteilt in zwei Deutschland. Ich will die normative Kraft des Faktischen des Professors Jellinek nicht zitieren. Aber es ist nun leider eine Realität, daß trotz aller Beteuerung und des Glaubens, daß wir hier stellvertretend für ganz Deutschland han-


(Dr. Mende)

dein, jenseits der Elbe und Werra die Möglichkeit politischen Handelns für uns gegenwärtig nicht gegeben ist, sondern andere handeln. Im Gegenteil, an Elbe und Werra stehen zwei Militärblöcke, die sich auf Nahkampfentfernung gegenüberliegen, und es werden zwei Armeen aufgestellt, die Armee der Bundesrepublik, die Bundeswehr, und drüben die sogenannte Volksarmee. Diese besondere Situation der Zweiteilung Deutschlands zwingt vielleicht auch zu besonderen Konstruktionen auf dem Gebiete des Schutzes dieses Deutschland.
Ich habe die Ehre, Ihnen ein Gutachten in seinen großen Zügen bekanntzugeben, das dieser Überlegung mehr Rechnung trägt als die bisherige Planung, ein Gutachten, das von genau so hervorragenden Experten der deutschen Militärwissenschaft verfaßt wurde wie das, das im Bundesverteidigungsministerium erarbeitet wurde. Dieses Gutachten stellt als die These der deutschen Verteidigung die Kombination von Schwert und Schild auf. Ich darf aus diesem Gutachten Ihnen wenige Abschnitte wörtlich zitieren, um Sie anzuregen, sich mit dieser Frage gerade im Sinne des Schutzes unserer Substanz mehr zu beschäftigen, als das bisher geschehen ist.
Das Gutachten beginnt mit der Einleitung, daß die Bundesrepublik heute die große Chance hat, ihre Verteidigung unbelastet von vorhandenen, vor allem durch die Atomentwicklung veralteten Einrichtungen von Grund auf neu nach modernen Gesichtspunkten aufzubauen, wobei der besonderen Lage der Bundesrepublik als Anrainer des Eisernen Vorhangs und Teil des gespaltenen Gesamtdeutschlands Rechnung getragen werden muß. In puncto Verteidigungsaufbau trifft für die Bundesrepublik tatsächlich das in anderem Zusammenhang oft zitierte Wort von der Gnade des Nullpunktes zu. Bevor daher mit dem Aufbau der Verteidigung begonnen wird, sollten alle Möglichkeiten für die Verteidigung unseres Staates sorgfältig gegeneinander abgewogen werden, um den Verteidigungsaufbau auf der besten Möglichkeit der Gesamtkonzeption zu gründen. Die Konzeption muß sowohl die Interessen der NATO als auch Erfordernisse des Substanzschutzes der Bundesrepublik berücksichtigen. Entsprechend müssen Organisation und Gliederung des Wehrkörpers vielleicht folgendermaßen geteilt werden. Die NATO-Verteidigung kann im Sinne dessen, was ich eben über die falsche lineare Konzeption sagte, nur eine bewegliche Verteidigung sein, die an den NATO-Schwerpunkten Kräfte zusammenfaßt, um hier zum Schlage auszuholen, — die Schwertverteidigung einer operativen Armee. Unabhängig davon, wo das NATO-Schwert zuschlägt, muß die Bundesrepublik ihren Körper gegen Schläge des Gegners schützen können. Das ist die Schildverteidigung der territorialen Wehr.
Beide Begriffe treten in anderer Form auch bei der Beurteilung der Kriegführungsmöglichkeiten im Atomzeitalter auf. Die Atomwirkung schließt ein Operieren ungeschützter Massenheere aus. Der Kampf im Raum ist kennzeichnend. Der Mensch muß weitgehend durch Maschinen ersetzt werden. Feuerkraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Schutz der Kämpfer vor der Atomwaffe, rasche Konzentration der Kräfte und Zuschlagen an einer Stelle, Wiederauflösung und Konzentration an anderer Stelle sind die Kennzeichen dieser Schwertverteidigung. Die Schwertverteidigung allein würde vorübergehend immer weitere Räume und damit die Bevölkerung des eigenen Landes dem Zugriff des Gegners möglicherweiser preisgeben müssen. Ich berufe mich auf das, was der General Gruenther sagte und was ich Ihnen zum Schluß noch wörtlich zitieren werde.
Hier ist als Ergänzung der Schild erforderlich, der so lange hält, bis das Schwert wieder zuschlägt. Die Verbände der Schildverteidigung können nur aus atomschutzgebundenen, ortsfesten Anlagen kämpfen und sich an die möglichen Einzugsgebiete des Gegners und an Schwerpunkte anlehnen.
Die Frage der Versorgung der Verteidigungsstreitkräfte und der Schutz der Zivilbevölkerung sind ausführlich dargelegt, und dann ist von dem Überraschungsangriff des Gegners die Rede. Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten auch diesen wichtigen Abschnitt zitieren:
Das Kennzeichen der Kriegsführung im Atomzeitalter wird der Überraschungsangriff sein. Technisierung der Streitkräfte und Atomwaffen machen lange Aufmarschbewegungen hinfällig. Die Theorie, daß am Anfang des Krieges das Atomduell steht, ist unwahrscheinlich, wenn der Gegner durch Angriffe seiner kontinentalen Armee die Atomwirkung rasch unterlaufen und gleichzeitig die Atombasen des Gegners ausschalten kann. Die eigene operative Armee wird auch bei teilmobilem Zustand durch den Überraschungsangriff zersplittert und dürfte zu Gegenoperationen nicht mehr imstande sein. Bei der Schildverteidigung aus Befestigungen ist ein Überraschungsangriff feindlicher Landstreitkräfte nicht möglich. Dann erst ist ein Atomduell als Einleitung denkbar.
Ein weiteres Kennzeichen moderner Kriegführung wird sein, daß der Kampf sich nicht nur an einer Front, sondern im Raum abspielt. Ein zukünftiger Krieg wird der Kampf zweier Weltanschauungen sein. Der Gegner hat seine Parteigänger im eigenen Land organisiert und kann sie zur Störung des ganzen Verteidigungsapparates einsetzen. Der Einsatz von Luftlande- und Fallschirmverbänden wird damit Hand in Hand gehen.
Zu den operativen Verbänden sagt dieses Gutachten:
Die operative Armee einschließlich Luftwaffe und Marine — die Schwertverteidigung — muß so gegliedert sein, daß sie rasch zusammengefaßt und rasch wieder aufgelockert werden kann. Sie muß unabhängig von Straßen und auch in atomverseuchtem Gelände kämpfen können. Jeder Verband dieser Armee muß so groß sein, daß er nicht durch eine Atombombe zum großen Teil vernichtet werden kann. Ungeschützte Kämpfer und schwerfällige Kampfinstrumente darf es nicht geben. Außer bestimmten Waffenverbänden würde sich die ganze Armee nur aus Einheitsatomkriegsverbänden von etwa 1500 Mann zusammenzusetzen haben.
Es handelt sich hier um hochgepanzerte schnellbewegliche Einheiten, die ihrerseits wieder in Kampfgruppen, etwa divisionären Charakters, zusammenzufassen wären.
Darüber hinaus gibt es nur Führungsstäbe für eine wechselnde Anzahl von Einheitsatomkriegsverbänden. Da also bei der operativen Armee
— das ist der Schlüsselsatz zu dem Thema Wehrpflicht —


(Dr. Mende)

Bedienung und Einsatz von Maschinen von großer Bedeutung ist, müssen alle Angehörigen Spezialisten mit langer Ausbildungszeit sein. Wehrpflichtige mit 18monatiger Dienstzeit lassen sich nicht verwenden; sie sind auch nicht erforderlich, da die operative Armee zahlenmäßig klein gehalten werden kann.
Also nach unseren Vorstellungen etwa 300 000 Mann als eine hochausgerüstete, hochbewegliche, gepanzerte Armee aus Berufssoldaten und längerdienenden Freiwilligen.
Die territoriale Wehr — Schildverteidigung —kämpft nur auf ortsfesten Kampfanlagen
— meistens feldbefestigungsmäßiger Art —.
Ihre Gliederung ergibt sich einmal hieraus, alsdann aus der Tatsache, daß eine große Mobilmachung und umfangreiche Mobtransporte
— im atomaren Krieg —undurchführbar erscheinen. Die Gliederung der territorialen Wehr paßt sich den Festungsanlagen und den möglichen Einzugsgebieten
— und der geologischen Struktur des Landes —
an. Ein ständig mobiler Status für die vordersten Grenzbefestigungen muß durch entsprechende Staffelung der Ausbildungszeiten erreicht werden. Die territoriale Wehr verfügt
— so sagt das Gutachten —
über alle konventionellen Waffen, eingebaut in atomgeschützte Anlagen, und über eine kleinere bewegliche gepanzerte Eingreifreserve. Die Ausbildungszeit ihrer Angehörigen kann kurz sein, da die Ausbildung sich nur auf Bedienung der Waffen, den Kampf aus der Anlage und Schießen erstreckt.
— Also drei bis sechs Monate.
Nun wird man sagen: Also eine neue Maginotlinie. Nein, meine Damen und Herren, keine neue Maginotlinie, sondern das Ergebnis der Erfahrungen, die unsere Fachleute im 2. Weltkrieg selbst machen mußten. Als wir am 5. Juli 1943 die letzte große Offensive an der Ostfront begannen — das Unternehmen Zitadelle —, stieß unter einer erheblichen Luftüberlegenheit ein Panzerkeil von Orel nach Süden und ein zweiter von Kursk nach Norden. Beide hatten sich binnen weniger Tage in einem tiefgestaffelten Feldbefestigungssystem mit so hohen Verlusten an Menschen und Material festgefahren, daß die Offensive abgebrochen werden mußte. Dadurch, daß der Gegner seinerseits durch das Schwert seiner offensiven Armee an einer anderen Stelle bei uns angriff, ist die letzte große Angriffsaktion im Mittelabschnitt der Ostfront im Juli 1943 zu der größten Rückzugsaktion geworden, zu einem Rückzug über 500 km bis zur Dnjeprlinie. Ähnlich wird es auch bei der Ardennen-Offensive gewesen sein; wir haben ja manche Teilnehmer unter uns. Obgleich die Panzerspitzen an Bastogne und anderen festen Punkten vorbeistießen, haben die Amerikaner durch das Halten dieser festen Punkte, insbesondere Bastogne, erreicht, daß auch diese letzte große Offensive der deutschen Wehrmacht im Westen scheiterte. Dieser Angriff war politisch übrigens das Unverantwortlichste, was es vielleicht in der Kriegführung gegeben hat. Man öffnete durch die Wegnahme der Panzerdivisionen drüben das Tor im Osten und schloß es im Westen. Wer sich heute beklagt, daß die Amerikaner, Engländer und Franzosen nicht in Groß-Berlin, in
Oberschlesien und in Pommern standen, daß vielmehr die Sowjets bis an die Elbe und Werra kamen, der darf dafür nicht so sehr Yalta verantwortlich machen — Yalta war übrigens nach der Ardennenoffensive —, sondern jenen politisch-strategischen Fehler der Entblößung des deutschen Schildes im Osten und der Sperrung der einzigen Möglichkeit, noch zu einer für uns freiheitlichen Lösung im Westen zu kommen, an Stelle der jetzigen, des zwangsweise in einem großen Konzentrationslager sitzenden Mitteldeutschland, von Ostdeutschland ganz zu schweigen.
Aber es würde zu weit führen, hier in Wertungen einzusteigen. Ich will nur darlegen, daß das System tiefgestaffelter Verteidigungslinien im Sinne eben eines Schildes im zweiten Weltkrieg auf beiden Seiten durchaus seine Bewährung erfahren hat und der Vergleich mit der Maginotlinie unrichtig ist.
Der Bedarf an Soldaten für die territoriale Wehr ist natürlich sehr hoch, und ich glaube, auch das Bundesverteidigungsministerium plant, soweit ich es den Äußerungen des Generals Heusinger entnehmen kann, ein Milizsystem. Wo sollten denn die ausgebildeten Reserven auch weiterverwendet werden?
Also neben dieser operativen Armee von etwa 300 000 Mann oder mehr wird es ein Milizsystem mit einer selbstverständlichen Verteidigungsdienstpflicht von drei bis sechs Monaten geben, eine Miliz, die etwa mehr als 21/2 Millionen Menschen betragen könnte, wenn wir sie als einen ortsgebundenen Schild betrachten.
Nun hat mein Herr Vorredner von der Schwierigkeit des Unterführer- und des Führerpersonals der Miliz gesprochen. Dazu spricht sich das Gutachten wie folgt aus:
Das Führer- und Unterführerpersonal müßte ebenso wie das im geringsten Umfang benötigte technische Personal der territorialen Miliz in Lehrgängen besonders geschult sein. Operative Armee und territoriale Wehr könnten sich personell so weit ergänzen, daß der Ersatz für die operative Armee aus der territorialen Wehr leicht zu gewinnen ist und umgekehrt das Unterführerpersonal, das bei der operativen Armee ausscheidet, bei der Territorialwehr noch weitere Verwendung finden kann, also etwa 200 000 Berufssoldaten.
Das Gutachten kommt dann zu folgendem interessanten Schluß, der auch völlig falsche Vorstellungen bezüglich allgemeiner Verteidigungsdienstpflicht, Berufswehrmacht und Miliz beseitigt:
Gegner des Berufsheeres operieren vor allem damit, daß das Berufsheer keine Reserve hat. Das einmal abgenutzte Schwert läßt sich personell nur schwer erneuern. Bei der hier vorgesehenen Gliederung des Wehrkörpers in Freiwilligenarmee und Territorialwehr — Miliz — wird das Problem schon dadurch gelöst, daß die Verteidigungsdienstpflicht vom 18. bis 55. Lebensjahr besteht. Lediglich die lange Dienstzeit im Frieden, die für die operative Armee notwendig ist, soll länger dienenden Freiwilligen mit guter Bezahlung vorbehalten bleiben. Schwierigkeiten gibt es nur insofern, als dieses Personal weitgehend aus Spezialisten bestehen muß. Sie lassen sich dadurch meistern, daß bei der operativen Armee ständig eine Reserve von 10 % verfügbar ist.


(Dr. Mende)

Die vorstehende Ausführung — so schließt das Gutachten —
ergibt, daß es nur heißen kann: Berufsarmee u n d Verteidigungsdienstpflicht. Die Aufgaben der operativen Armee sind nur mit einem hochbeweglichen, gut ausgebildeten Berufsheer, die Aufgaben der Territorialwehr nur mit einer Miliz zu lösen. Beides zusammen ergibt nicht nur die ideale Verteidigung, sondern schließt auch jeden Verdacht einer eigenen Angriffsabsicht aus. Der Wirtschaftsprozeß erfährt keine wesentliche Störung. Der Wehrwille wird zudem gestärkt werden, da jeder Milizangehörige das Gefühl hat, daß er für seinen Hof, für seine Familie kämpft. In diesem Sinne spielt bei der Milizarmee ein Problem auch nicht die gleiche Rolle wie bei der Armee der allgemeinen Wehrpflicht, nämlich das Problem Bürgerkrieg.
Nach einer kurzen Behandlung des Themas „Bürgerkrieg" — denn das ist die latente Gefahr auf zweigeteiltem deutschen Boden — kommt das Gutachten zu einer Zusammenfassung und führt aus:
Schwert und Schild sollen unser Volk verteidigen. Das Schwert wird von der NATO-Koalition geführt, den Schild sollen wir selbst tragen. Das Problem erscheint als ein gigantisches Projekt, das alles bisher Überkommene umstößt. In Wirklichkeit baut dieser Plan nur auf den Kriegserfahrungen der Vergangenheit auf, wobei die durch die Fortschritte der Technik, insbesondere der atomaren Entwicklung, entstandenen unumstößlichen Gegebenheiten und die aus der Weltlage sich ergebenden möglichen Arten eines zukünftigen Konflikts in Rechnung gestellt werden. Es beruht nicht auf dem Wunschbild „weil nicht sein kann, was nicht sein darf", sondern auf den möglichst ungünstigen Fällen. Heute übergangslos
— so schließt das Gutachten —
an das Jahr 1945 anzuknüpfen und Grenadierdivisionen, wenn auch motorisiert, aufzustellen, läßt sich nicht einmal mehr mit der Möglichkeit eines nur konventionellen Krieges entschuldigen. Kein Industrieunternehmen wird heute das aufbauen, was im Jahre 1945 zerbombt und demontiert worden ist, sondern die Fortschritte der Technik verwerten. Das Kriegsinstrument muß, wo es nur geht, Menschen durch Maschinen ersetzen. Menschenblut ist unersetzlich, Maschinen kosten nur Geld.
War es denn nicht bei uns so im zweiten Weltkrieg, daß wir eine technische Unterlegenheit durch Blut wettmachen mußten? Wo es bei uns an Material fehlte, wurden Menschen in den Kampf geworfen mit jenen gewaltigsten Substanzverlusten, die wir jemals seit dem 30jährigen Krieg erlebt haben.
Der NATO-Oberbefehlshaber General Gruenther hat kürzlich, wie Sie wissen, erklärt, daß, wenn es zu einem Kampf käme, NATO natürlich nicht in der Lage wäre, die Front in Europa zu halten; das Bundesgebiet werde aufgegeben werden müssen. Natürlich könne NATO es hinterher wieder befreien. Überraschenderweise hat diese nüchterne Wahrheit aus dem Mund des NATO-Befehlshabers in der Bundesrepublik Unruhe heraufbeschworen. Aber diese Unruhe schien sich zu beruhigen, als dann ein SHAPE-Sprecher den Worten Gruenthers folgende Auslegung gab, die Herr Kollege Erler auch schon zitiert hat: daß mit der Aufstellung der zwölf deutschen Divisionen die Situation eine ganz andere sei, d. h. daß die Bundesrepublik dann verteidigt werden könne — und nun hören Sie zu —, „wenn dazu noch die Genehmigung zur Verwendung von Atom- und Wasserstoffbomben gegeben wird". Dieser Konditionalsatz ist das Entscheidende. Denn wenn diese Genehmigung gegeben wird und Deutschland zwangsläufig Atombombenversuchsfeld beider Parteien wird, dann steht die letzte uns noch verbliebene Substanz beim Endsieg nicht mehr zum Wiederaufbau Deutschlands zur Verfügung.
Deswegen sagt auch hier dieses Gutachten:
Es bedarf keines Urteils eines militärischen Fachmannes — jeder einzelne, der als Soldat im Osten gekämpft hat, kann es sich selbst ausrechnen —, um festzustellen, daß eine über 1000 km lange Grenze der Bundesrepublik mit der Zone und mit der tschechoslowakischen Republik nicht mit etwa 30 Divisionen aller Art einschließlich 12 deutscher Divisionen gegen 200 Divisionen der Sowjets starr verteidigt werden kann. Das ist bei Berücksichtigung der konventionellen Kriegführung das einfachste Rechenexempel. Also wird man dann wieder zu dem Thema kommen: bewegliche Kampfführung und am Ende möglicherweise der atomare Einsatz zum Stoppen dieser Divisionen.
Die Frage, ob dieses Konzept auch in den Rahmen der NATO paßt und ob dieses Konzept auch politisch im großen Rahmen, also im außenpolitischen Rahmen zu verwirklichen ist, darf ich mit dem Schlußsatz des Gutachtens beantworten:
Diese Äußerungen beweisen, daß das Verteidigungsproblem jeweils in einem anderen Licht erscheint, je nachdem, ob man es durch die Brille der NATO oder die der Bundesrepublik betrachtet. Ziel der NATO ist es,
— so sagt das Gutachten mit Recht —
in einem Krieg den Endsieg zu erringen. Ob dabei vorübergehend bestimmte Gebietsteile verlorengehen oder zerstört werden, ist für die Erreichung dieses Ziels von untergeordneter Bedeutung.
Ich erinnere daran, mit welcher Schonungslosigkeit die Liberator-Bomber ihre Bombenlast auch über französischen Städten, über Städten des verbündeten französischen Volkes fallen lassen mußten, weil die Strategie eine gnadenlose Angelegenheit ist und nicht nach dem Schicksal des einzelnen Mannes, ja, ich behaupte sogar, nach dem Schicksal des einzelnen Volkes, fragen kann, was auch Korea sehr nachdrücklich bewiesen hat.
Für die Bundesrepublik ist die Situation eine andere, weil sie vom Kriege in erster Linie, und zwar in ihrer Gesamtheit, betroffen wird. Gewiß geht es auch hier nicht darum, ob ein Meter Boden verlorengeht oder nicht, ob wichtiges Ackerland oder bedeutende Industrieanlagen verlorengehen. Wir können uns sowieso nicht selbst ernähren und unsere Rüstungsindustrie weiterlaufen lassen. Es dreht sich hier um die Bevölkerung und um die Erhaltung dieser Substanz. Jeder Endsieg ist für uns als Volk wertlos geworden, wenn sich die Substanz des deutschen Volkes nicht über einen dritten Weltkrieg erhalten läßt.


(Dr. Mende)

„Wie soll die Bevölkerung überleben, wenn die Kriegsfurie sich auf unserem Boden austobt und letzten Endes die Entscheidungsschlacht für den Endsieg in Südfrankreich geschlagen wird? Massengräber zu befreien, hat wenig Sinn" schreibt das Gutachten.
Die NATO-Konzeption für die Verteidigung ist auf den Endsieg abgestellt und muß so sein. Daneben sollte es aber ein Konzeption der Bundesrepublik für die Verteidigung geben, die auf die Erhaltung der Substanz des Volkes, d. h. Schutz der Bevölkerung vor den Erdstreitkräften des Gegners und den Atomwaffen beider Parteien, abgestellt ist und gleichzeitig der NATO-Führung die Aufgabe erleichtert, indem sie auch die übrigen westeuropäischen Länder vor Überraschungen schützt.
Das ist der Sinn dieses Gutachtens: Ein Schwert der operativen Kriegführung der NATO und einen Schild zur Verzögerung möglicher Operationen des Gegners, insbesondere aber zur Erhaltung der Substanz unseres Volkes durch eine territoriale Verteidigung. Für beide ist selbstverständlich — ich wiederhole es — eine allgemeine Verteidigungsdienstpflicht nötig. Aber ob die allgemeine Wehrpflicht der bisherigen Vorstellung, sei es mit 12, 18 oder 24 Monaten, noch volle Gültigkeit hat, ob es nicht längerdienende Soldaten sein müssen, weil der technische Apparat einer modernen Armee eben auch nicht in 24 Monaten ausgebildet werden kann — nun, diese Frage beantwortet das Gutachten der Bundesregierung selbst. Es heißt hier, daß in England 90 % der Marine, 66 % der Luftwaffe und 50 % des Heeres aus Berufssoldaten und längerdienenden Freiwilligen bestehen. Ich kann mich entsinnen: bei den EVG-Vereinbarungen war für den deutschen EVG-Beitrag ein Anteil von Berufssoldaten und längerdienenden Freiwilligen von 20 % maximal festgelegt, während Frankreich damals einen Anteil von 14,7 % an Berufssoldaten und längerdienenden Freiwilligen hatte. Der General Twining und der General Taylor haben unlängst erklärt, daß heute vermutlich mindestens 50 %, wenn nicht gar 70 % einer operativen Armee aus Berufssoldaten und längerdienenden Freiwilligen bestehen müssen, weil es gar nicht möglich ist, die Erkenntnisse der modernen Kriegstechnik in 12, 18 oder 24 Monaten zu vermitteln, andererseits aber die Rücksichten auf unsere Volkswirtschaft es letzten Endes ungeraten erscheinen lassen, länger auszubilden, als es volkswirtschaftlich ertragen werden kann. Die Vereinigten Staaten haben daher einen Anteil von Berufssoldaten und längerdienenden Freiwilligen von 75 % — Sie sehen also: wir werden — ob wir wollen oder nicht — durch die Zeitläufe der technischen Entwicklung gezwungen, einen hohen Anteil von Berufssoldaten und länger — vier Jahre oder acht Jahre — dienenden Freiwilligen einzustellen, um uns dem neuesten Stand der Kriegsrüstung anpassen zu können.
All diese Überlegungen sind nicht nur Überlegungen jener Experten, die das Gutachten gemacht haben. Darf ich Sie auf Liddell Hart verweisen und das, was er — am 13. 4. 1956 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" wiedergegeben — zu diesem Thema sagt. Herr Kollege Kliesing hat schon Liddell Hart zitiert, aber leider nicht diesen Teil.
Es wäre weit besser, — so sagt Liddell Hart —wenn der Hauptteil der Landstreitkräfte der kontinentalen Staaten Europas auf der Basis
einer örtlichen Miliz aufgebaut würde, die in ihrem eigenen Bereich kämpfte und sich auf örtliche, auf zahlreiche kleine unterirdische Lagerräume aufgeteilte Vorräte stützte. Sie sollte von beweglichen, aus Berufssoldaten bestehenden Streitkräften unterstützt werden, die völlig mit gepanzerten Überlandfahrzeugen ausgerüstet, modern organisiert und geschult sind, in „geordneter Auflösung" wie ein Hornissenschwarm zu operieren. Mit solcher Fähigkeit und Elastizität würde weniger gefordert, als man von den jetzigen atlantischen Divisionen verlangt. Diese Verbände wären sowohl für den Kleinkrieg als auch für den Atomkrieg, in dem eine bewegliche Kampfhandlung nur mit relativ kleinen Streitkräften möglich ist, gewappnet.
Und neben General Fuller, der dasselbe vertritt, neben F. O. Miksche, dessen Buch „Atomwaffen und Landstreitkräfte" ich Ihrem Studium empfehle, sagt Adelbert Weinstein, auch ein Militärexperte von hohem Rang, der in der ganzen Welt herumgekommen ist und die Möglichkeit hatte, alle Verteidigungssysteme zu studieren, aber auch ihre Schwächen kennenzulernen, von Formosa bis Indochina und vom Pentagon bis nach Madrid, am 23. März 1956 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung":
Auf Westdeutschland übertragen wäre vorerst vorzusehen, die Armee mit Freiwilligen so aufzufüllen, daß nur verhältnismäßig wenige noch zum aktiven Dienst eingezogen zu werden brauchten. Die Berufssoldaten können sich für vier, acht, zwölf und achtzehn Jahre verpflichten und in ihrer Dienstzeit profunde technische Kenntnisse erlangen. Damit wäre das Zurückfließen in zivile Laufbahnen genau festgelegt; zum andern fänden die Spezialisten schnell eine Aufnahme in der Wirtschaft.
Aber vor allem — und hier greift dieses System der Einberufung einer Armee in das andere zur Verteidigung Westdeutschlands notwendig über — die aktiv Gedienten hätten erheblich in der für uns notwendigen Miliz Dienst zu tun. Wir brauchen nämlich bei unserer geographischen Lage eine Miliz in Verbindung mit der aktiven Armee. Nur so läßt sich die Frage der Bildung von Reserveeinheiten lösen, die im Ernstfall die aktive Truppe ergänzen können. Zum anderen kann nur die Miliz zugleich den notwendigen regionalen Schutz gegen Erd- und Luftangriffe vornehmen, wenn bei atomaren Angriffen großräumige Verschiebungen von aktiven Einheiten nicht mehr möglich sind.
Man wird fragen: wenn in Westdeutschland sowohl eine aktive Armee, für die Einziehungen notwendig sind, und zugleich eine milizartige Organisation aufgebaut werden soll, wo liegt dann der Unterschied zur allgemeinen Wehrpflicht? Er liegt darin, daß die Erfassungsart und der Aufbau der Verteidigungstruppen völlig neuartig sind. Die zeitliche Verteilung der Verteidigungsaufgaben für den einzelnen Mann, die Betonung der Freiwilligkeit für die aktive Truppe lassen den Begriff der allgemeinen Wehrpflicht
— früherer Vorstellungen — nicht mehr zu.


(Dr. Mende)

Und so folgern wir: darum eine allgemeine Verteidigungsdienstpflicht, im Sinne des Korrelats zu den Grundrechten auch die Grundpflicht des Schutzes für das Volk, aber unter möglichst hohem Nutzwert für die Verteidigung durch das modernste System, und das scheint uns nach den Gutachten dieser Experten ein System der operativen Verteidigung durch das Schwert — der NATO — und durch eine milizartige Verteidigung — durch den Schild — zu sein. Hier dies hochbewegliche, schnell verschiebbare, gut ausgebildete Heer der Spezialisten und Berufssoldaten und dort jene in sechsmonatiger Dienstzeit ausgebildete territoriale Wehrmacht zum regionalen Schutz, zur Heimatverteidigung. Man wird im Luftschutz ohnehin nicht darum herumkommen, auch Luftschutzverpflichtungen vorzunehmen; denn mit der Freiwilligkeit wird es zwangsläufig nicht gehen, nachdem die Freiwilligkeit im „Dritten Reich" so mißbraucht worden ist.
Die Frage der attraktiven Kraft allerdings der Berufsarmee ist ein Problem der Schaffung der entsprechenden ideellen und materiellen Grundlagen. Ich glaube, daß nicht alle ideellen und materiellen Grundlagen für eine Wehrpflicht bereits gegeben sind. Lassen Sie mich das kurz beweisen. Nach dem, was dem deutschen Soldatentum leider nach 1945 zugefügt wurde, kann zwangsläufig noch nicht jene Bereitschaft zum Dienen vorhanden sein, die man sich für eine Wehrpflicht wünschen müßte. Es bedarf hier noch erheblicher sowohl ideeller wie materieller Wiedergutmachungen. Ich denke beispielsweise an die Kriegsopferversorgung. Die fünfte Novelle zum Kriegsopferversorgungsgesetz wird immer wieder hinausgeschoben. Mir schiene die Verabschiedung dieser Novelle auch psychologisch für die Verteidigungsbereitschaft unseres Volkes wesentlich wichtiger zu sein als die erste Lesung des Wehrpflichtgesetzes heute.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem GB/BHE.)

Denn natürlich sind es Millionen Menschen, Kriegsbeschädigte, Witwen und Waisen, um die es geht. Die Witwen haben Söhne, und die Kriegsbeschädigten haben Söhne.

(Sehr richtig! bei der SPD.)

Wäre es nicht politisch klug gewesen, es nicht zu diesen Demonstrationen der großen Kriegsopferverbände kommen zu lassen, sondern heute oder gestern zunächst einmal das Kriegsopferversorgungsgesetz so zu machen, daß wir uns seiner nicht mehr zu schämen brauchen,

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem GB/BHE.)

anschließend die Novelle zum Gesetz gemäß Art. 131 des Grundgesetzes, die längst fällig ist, zu verabschieden, weiter das Besoldungsgesetz

(Zuruf des Abg. Kunze [Bethel])

— von dem Besoldungsgesetz, Herr Kollege Kunze, wird es wesentlich abhängen, wer sich alles meldet —, dann das Problem des Versorgungsgesetzes zu behandeln — auch von der Frage der Versorgung wird es wesentlich abhängen, wer sich alles meldet und von welcher Qualifikation die sich Meldenden sein werden —, schließlich das Überleitungsgesetz für den Bundesgrenzschutz, auf das wir auch längst warten? Der Wille beim Bundesgrenzschutz, zur Bundeswehr überzutreten, wird immer geringer, je länger man mit der Verabschiedung des Gesetzes auf sich warten läßt.
Lassen Sie mich hier noch eine weitere psychologische Frage darlegen, die beweisen soll, daß die psychologischen Voraussetzungen für eine allgemeine Verteidigungspflicht noch nicht gegeben sind. Wir haben vor drei Jahren im gleichen Raum die EVG behandelt. Sie wissen, daß ich in der zweiten Lesung mit einigen anderen Kollegen bei grundsätzlicher Bejahung der Europäischen Verteidungsgemeinschaft nein sagte aus meiner Verpflichtung gegenüber den damals noch festgehaltenen kriegsverurteilten Soldaten. Wir — einige Kollegen, die sich damals im Dezember 1952 enthalten oder mit Nein gestimmt hatten — sind daher bei verschiedenen alliierten Dienststellen gewesen, unter anderem beispielsweise — Frau Kollegin Hütter, die nach mir zu diesem Thema sprechen wird, wird es bestätigen — beim damaligen amerikanischen Hochkommissar Donnally. Wir hatten Zusagen, daß das Problem der inhaftierten Soldaten baldigst abgeschlossen werden würde. Darauf haben wir nachher im März 1953 der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der dritten Lesung zugestimmt, nachdem im Dezember das Nein aus diesem psychologischen Grund gesagt worden war. Das war im März 1953. Wir haben heute den Mai 1956, und das Problem ist noch nicht abschließend gelöst. Ich will mich vor niemanden stellen, der kriminelle Delikte begangen hat aus niederer Gesinnung, aus niederen Instinkten, ohne die Not des Krieges; ich will mich vor jene stellen, die aus der Not des Krieges heraus in Verstrickungen gekommen sind, auf Befehl gehandelt haben. Ich habe damals ausgeführt — und ich wiederhole es —: Solange nicht das Problem des Handelns auf Befehl und der Verantwortlichkeiten für den letzten Soldaten des zweiten Weltkriegs gelöst ist, der noch in westlichen Zuchthäusern bei unseren Partnerstaaten sitzt solange kann man kaum einer Mutter zumuten, ihren 20jährigen Sohn für eine Wehrpflicht freizustellen, damit er auch auf Befehl handelt und möglicherweise in ähnliche Verstrickungen kommt. Die Frage ist noch nicht abschließend gelöst. Sicher, von 5000, die es waren, sind es nur noch 40. Aber es geht hier nicht um die Zahl, sondern es geht hier um das Prinzip, und solange Peiper noch in Landsberg ist, ist die psychologische Grundlage leider noch nicht gegeben. Unsere Partner sollen etwas dafür tun, daß sie gegeben ist. Den Botschaftsrat Plitt abzurufen, weil er einen anderen Soldaten aus Landsberg entließ, und nun nichts mehr zu tun, das ist keine Hilfe im Rahmen der Schaffung der psychologischen Voraussetzungen auch für dieses allgemeine Verteidigungsdienstpflichtgesetz. Aber meine Frau Kollegin Hütter wird dazu noch weitere Ausführungen machen, genauso wie Herr Professor Reif zu der Frage der Kriegsdienstverweigerung noch Stellung nehmen will.
Einige wenige Sätze noch zu dem hier verteilten Memorandum. Ich habe mich schon mit dem einen Satz, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, auseinandergesetzt. Lassen Sie mich noch zu dem zweiten interessanten Satz Stellung nehmen. Auf Seite 9 heißt es:
Die Behauptung, daß eine allgemeine Wehrpflicht die Spaltung des Landes vertiefe, ist unrichtig. Im Gegenteil: erst die Bereitschaft jedes einzelnen, die Bundesrepublik und damit das ganze Deutschland im Falle eines Angriffs verteidigen zu wollen, legitimiert die Bundesrepublik innerlich und glaubhaft, für


(Dr. Mende)

das ganze Deutschland zu sprechen und die Wiedervereinigung auf friedlichem Wege herbeiführen zu wollen.
Meine Damen und Herren, ich habe den Satz, obgleich ich ihn vielfach gelesen habe, nicht verstanden,

(Zuruf von der SPD: Rabulistik! — weitere Zurufe von der SPD)

sondern ich sehe eine bittere Notwendigkeit, hier zu sagen, daß eine allgemeine Wehrdienstpflicht oder allgemeine Verteidigungsdienstpflicht zwangsläufig zu einer Wehrerfassung und einer Wehrüberwachung führen muß. Ich unterstreiche das, was der Kollege Erler gesagt hat und was ich auch früher schon in verschiedenen Artikeln geschrieben habe. Das bedeutet, daß der 20jährige Sohn einer Familie aus Leipzig, der in Köln studiert, seine Eltern in Leipzig nicht mehr wird besuchen können, ohne damit rechnen zu müssen, gleich dabehalten zu werden. Umgekehrt: die freie Bewegung der jungen Menschen, die wehrpflichtig sind, die im entsprechenden Alter stehen und eingezogen werden können, wird durch die allgemeine Verteidigungsdienstpflicht zwangsläufig auch dann gestört, wenn nicht gar gestoppt, wenn drüben die Sowjetzone die Wehrpflicht nicht einführt. Hier bin ich anderer Meinung, Herr Kollege Erler. Die sowjetzonale Volksarmee mit ihren sieben Divisionen hat ein so hohes Maß des zwangsweisen Erfassens der jungen Leute, daß dort die Wehrpflicht erst gar nicht mehr verkündet zu werden braucht. Die machen das wie alle autoritären Staaten über das sogenannte Prinzip erzwungener Freiwilligkeit. Also hier ist die Feststellung der Denkschrift keineswegs mit den Realitäten vereinbar.
Das trifft auch für das zu, was auf Seite 11 bezüglich der Türkei steht, die, in ähnlich bedrohter Lage wie die Bundesrepublik, uns ein Beispiel für die Ausschöpfung unseres Potentials für die Streitkräfte sein soll. Nun, ich war 1953 mit einigen Kollegen des Hauses in der Türkei. Hut ab vor den Rüstungs- und Verteidigungsanstrengungen der Türkei, die angesichts dieser Situation etwa die Hälfte ihrer männlichen Bewohner ständig unter Waffen halten muß! Aber bei dieser Anspannung der volkswirtschaftlichen Kräfte ist es zu einer geradezu katastrophalen Entwicklung der türkischen Volkswirtschaft gekommen. Wer mit der Türkei in Handelsbeziehungen steht, weiß das ja. Als der türkische Staatspräsident Celal Bayar nach Washington flog, hat er ebensowenig das große amerikanische Darlehen bekommen wie der türkische Ministerpräsident Menderes, als er voriges Jahr bei uns in Bonn zu Besuch war.
Nein, man darf die Rüstungsanstrengungen nicht isoliert im Raume stehen lassen. Man muß sie mit den volkswirtschaftlichen Bedürfnissen der Nation synchronisieren. Sonst gibt es eine Katastrophe. Ich bin immer noch der Meinung, gerade in der geistigen Auseinandersetzung zwischen Ost und West ist es für uns hier wesentlich entscheidender, ein ausgeglichenes soziales Staatswesen und Arbeit und Brot für jedermann zu haben als vielleicht Panzerdivisionen auf Kosten des Lebensstandards der Bevölkerung. Denn das Leben ist in dem Maße verteidigungswert für jedermann, in dem es frei und lebenswert für jedermann geblieben ist. Darum ist das Beispiel der Türkei als Analogie zur Lage der Bundesrepublik nicht richtig.
Wohl aber unterstreiche ich noch einmal, was auf Seite 12 gesagt wird:
Zwischen Miliz und allgemeiner Wehrpflicht
besteht kein Gegensatz, wie dies in der Öffentlichkeit fälschlicherweise oft behauptet wird.

(Zuruf des Abg. Berendsen.)

— Ich erweitere sogar den Begriff auf die „allgemeine Verteidigungsdienstpflicht". Ich gehe weiter als Sie; aber ich sage: nicht jetzt, weil es noch Zeit hat, weil wir die neuesten Gutachten prüfen müssen, weil wir das Problem nach allen Seiten beleuchten müssen und nicht unter schematischem Festhalten an den EVG-Vorarbeiten von 1951 vorgehen dürfen, weil inzwischen viel zuviel geschehen ist.
Darf ich wie mein Kollege Erler vor mir auch etwas zum Humor beitragen. Da ja alle Redner heute über eine Stunde gesprochen haben, wird es — zumal ohne Mittagspause — ermüdend. Auf Seite 15 der Denkschrift steht etwas, was wahrlich dazu reizt, es hier zu zitieren. Da heißt es:
Der allgemeine Wehrdienst wird die Volksgesundheit verbessern.
Und dann heißt es:
Die militärische Ausbildung bildet die Körperkräfte gleichmäßig aus, ganz abgesehen von der sportlichen Betätigung. Die jungen Menschen werden ständig ärztlich überwacht und betreut, was beispielsweise für die Zahnsanierung nicht unwesentlich ist.

(Heiterkeit bei der FDP und bei der SPD.)

— „Und zu einem Produktionsrückgang von Chlorodont führen wird", das fehlt noch als Nachsatz. Meine Damen und Herren, das scheint mir eine Übertreibung zu sein. Niemand von uns will die entsprechenden Rückwirkungen positiver, leider auch manchmal negativer Art einer Härteausbildung leugnen. Wenn man aber die Volksgesundheit fördern will, dann bedarf es nicht so sehr der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht als der Beseitigung des Schichtunterrichts und des Baus von Tausenden von Schulen in der Bundesrepublik.

(Beifall bei der FDP und bei der SPD.)

Denn man tut der Volksgesundheit den schlechtesten Dienst, wenn man das sechsjährige Kind aus dem Lebensrhythmus herausreißt. Sie wissen, der Lebensrhythmus des neugeborenen Kindes ist entscheidend. Die Mediziner wissen es besser als ich als Jurist. Aber wir glauben, uns das leisten zu können, das Kind im 6. Lebensjahr mal eine Woche vormittags und eine Woche nachmittags — in den geraden vormittags, den ungeraden nachmittags — in die Schule gehen zu lassen. Beseitigen wir diesen Schichtunterricht, der ein Schaden für die Volksgesundheit ist! Bauen wir Schulen, und dann tun wir der Volksgesundheit einen besseren Dienst als mit einer so sehr interessanten Feststellung!

(Lebhafter Beifall bei der FDP und SPD. Gegenrufe von der Mitte.)

— Ich sage ja nicht: Schulen statt Kasernen, sondern ich sage: Schulen u n d Kasernen. Aber im Augenblick ist es noch der beste Weg, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen.

(Erneuter Beifall bei der FDP und SPD. — Anhaltende Gegenrufe von den Regierungsparteien.)



(Dr. Mende)

Darf ich noch zu der Frage der Volksgesundheit eine kleine Ergänzung machen. Wenn man die Frage der Volksgesundheit schon hier ins Gutachten bringt, dann sollte man auch sagen, daß die konzentrierte Mannbarkeit einer Garnison auch bevölkerungspolitisch fördernde Wirkung hat, — wie in der Vergangenheit und Gegenwart. Im übrigen habe ich beinahe das Gefühl, der nächste Slogan bei den Werbeplakaten heißt: „Geh zur Bundeswehr und du bleibst gesund!"

(Anhaltende Heiterkeit und Zurufe.)

Das hat sich nicht einmal Goebbels geleistet. Der blieb bei: „Iß mehr Fisch und du bleibst gesund!", als es wenig Fleisch gab.
Ich kann Ihnen einen noch besseren Slogan sagen — wir sind ja bald im Wahlkampf; wir wollen ihn langsam vorbereiten —: „Willst du lange leben, mußt du dich in Uniform bewegen!"

(Erneute Heiterkeit und Zurufe. — Gegenrufe von den Regierungsparteien.)

Aber da gibt es gewisse Einschränkungen. Ich glaube, wir selbst hier im Hause haben zwei verehrungswürdige Beweise, daß dieser Slogan nicht gilt: der Herr Bundeskanzler und Frau Kollegin Lüders beispielsweise, die beiden ältesten Kollegen dieses Hauses, haben niemals eine Uniform getragen, und sie haben doch ein langes Leben. Dieser Slogan wäre also falsch.
Aber lassen Sie mich zum Schluß zusammenfassen. Die Freien Demokraten sind für eine allgemeine Verteidigungsdienstpflicht, die sich nicht nur auf den soldatischen- Dienst erstreckt, sondern auch die sonstigen Dienste — beispielsweise in der gesamten Kriegswirtschaft, im Luftschutz — umfaßt, zumal da ohnehin aus diesem Raum kaum Einstellungen zum soldatischen Dienst erfolgen können. Das Prinzip der früheren allgemeinen Wehrpflicht ist schon deswegen durchlöchert, weil es keinen Bergmann geben wird, keinen Eisenmann und vielleicht auch nur wenige Bauhandwerker, die wir in die Kasernen einziehen könnten, ohne nicht erhebliche volkswirtschaftliche Rückschläge befürchten zu müssen. Deswegen entspricht der Begriff an sich schon nicht mehr der Firmenwahrheit und Firmenklarheit, wie Herr Weinstein sagt.
Wir wollen als Verpflichtung in diesem Jahr die 96 000 Mann aufstellen, die der NATO-Fragebogen uns auferlegt hat. Wir werden bis Ende des Jahres feststellen können, ob es gelungen ist, das zu tun. Frühestens im Herbst nächsten Jahres könnten dann die ersten Einziehungen erfolgen, wenn das Wehrpflichtgesetz hier beschlossen werden sollte. Die Zeit bis dahin — über eineinhalb Jahre — lassen Sie uns nützen, meine Damen und Herren! Wir stimmen dem Vorschlag zu, eine neutrale, oder besser: eine unabhängige Gutachterkommission einzusetzen und in den Beratungen im Ausschuß alles zu prüfen, um möglichst die beste Form des deutschen Verteidigungsbeitrags zu finden.
Wir sind nicht der Meinung, daß — vielleicht wie voriges Jahr beim Freiwilligengesetz — auch als Zeichen politischer Demonstration das Wehrpflichtgesetz noch vor der Parlamentspause verabschiedet werden muß. Das ist das nächste Problem, das sicher an uns herankommen wird: „Wir müssen, wir müssen . . .", weil wahrscheinlich wieder eine große außenpolitische Entscheidung bevorsteht. Vielleicht „müssen" wir als die fleißigsten
Schüler der NATO manchem Amerikaner den Wahlkampf etwas erleichtern. Nein, meine Damen und Herren, es geht hier speziell um das deutsche Problem, und darum sind wir dafür, daß diese Fragen nicht durch überschnelle, voreilige Verabschiedung im Sinne außenpolitischer Demonstrationen behandelt werden, sondern im Sinne dessen, was dem deutschen Volk und der Freiheit am meisten dient.

(Beifall bei der FDP und der SPD. — Abg. Kunze [Bethel] : Das war eine üble Wahlrede! — Weitere Gegenrufe von den Regierungsparteien.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214304600
Das Wort hat der Abgeordnete Feller.

Erwin Feller (GB/BHE):
Rede ID: ID0214304700
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mich in der letzten Stunde angesichts der schwachen Besetzung des Hauses gefragt, was die Gründe dafür seien, ob es das Bedürfnis zur Einnahme des Mittagessens oder die mehreren anderthalbstündigen Reden waren, die die Kollegen vertrieben haben, oder ob etwa die Rede des Herrn Kollegen Erler die Anhänger der Wehrpflicht aus dem Saale verscheucht hat.

(Zuruf von der Mitte: Na, na!)

— Bitte, protestieren Sie nicht; ich habe das mit einigem Schrecken konstatiert. Denn ich habe hier die Aufgabe, einiges für den Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht zu sagen, und befürchte, daß ich in dieser Hinsicht letztlich hier alleine stehen würde.
Sie wissen, daß sich die zuständigen Gremien des Gesamtdeutschen Blocks/BHE entschieden haben, für den Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht oder, wie ich persönlich auch lieber sagen möchte, einer allgemeinen Verteidigungspflicht einzutreten. Ich möchte aber, um allen Mißdeutungen vorzubeugen, ausdrücklich dazu feststellen, daß dieser Entschluß gefaßt wurde, bevor es uns bekannt war, daß der Herr Bundeskanzler sich in Stuttgart auf dem Parteitag der CDU veranlaßt gesehen hat, einige freundliche Worte an die Adresse unserer Partei zu richten. Wir haben auch nicht festzustellen vermocht — trotz einer eingehenden Gewissenserforschung —, womit wir uns dieses Lob eigentlich verdient haben. Vielleicht kennen wir uns selber zu schlecht, oder wir sind, wie das ja in der Politik überhaupt sehr schwierig ist, nicht ganz in der Lage, gut und böse scharf genug voneinander zu unterscheiden. Unser Beschluß ist jedenfalls nicht aus irgendwelchen taktischen Erwägungen, sondern aus rein sachlichen und grundsätzlichen Überlegungen zustande gekommen,

(Abg. Rasner: Um so wertvoller!)

und er hat auch rein grundsätzlichen Charakter.
Wir sind nämlich der Auffassung, daß ein grundsätzliches Bekenntnis zur allgemeinen Wehrpflicht, das ich hier auch im Auftrage meiner Freunde ablege, für die Entwicklung unserer jungen Demokratie nur dienlich sein kann. Ich halte es aber für problematisch, wenn zum Beweis dieser Auffassung geschichtliche Persönlichkeiten und ihre Ansichten bemüht werden, wie das in der hier schon viel zitierten Denkschrift der Bundesregierung geschieht. Meine Damen und Herren, nehmen Sie es nicht als ein schulmeisterliches Hobby von


(Feller)

mir, wenn ich hierzu auch noch einiges sage. Alle humoristischen Pointen aus der Denkschrift sind mir ja von den Vorrednern schon weggenommen worden. Ich muß mich also notgedrungen auf die Stellungnahme zu einigen ernsteren Fragen beschränken, die mich vor allen Dingen als Historiker etwas merkwürdig berühren.
Wenn man hier so tut, als ob das Berufsheer mit der absolutistischen Monarchie und das Wehrpflichtheer mit der Demokratie in Verbindung zu bringen seien, dann ist das ein geschichtlicher Unsinn. Man könnte genau so gut behaupten, die Guillotine gehöre zur Demokratie, weil sie in der französischen Revolution eingeführt und damals an der Durchsetzung der Demokratie beteiligt gewesen sei. Es gibt Beweise und auch Gegenbeweise in jeder anderen Hinsicht. Zum Beispiel liegen die Anfänge zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht viel weiter zurück als etwa die Durchsetzung der Demokratie. Auch bei uns — darüber geht die Denkschrift einfach hinweg — liegen die Anfänge schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Nur ein Beispiel. Der berühmte Lehrmeister Scharnhorsts, der Graf Wilhelm von SchaumburgLippe, hat schon 1748, wenn ich die Zahl richtig im Kopfe habe, in Lippe die allgemeine Dienstpflicht eingeführt. Wenn nachher die Lippischen Schützen in der Geschichte eine etwas komische Beleuchtung erfahren haben, dann ändert das an diesen Tatbeständen nichts. Es gibt andere Vorläufer der allgemeinen Wehrpflicht zur absolutistischen Zeit, etwa bei den österreichischen Grenzern oder bei den bayrischen Ausschüssern. Was hierzu in der Denkschrift gesagt wird, trifft also nicht zu, und ich meine, wenn man mit einer Denkschrift der Regierung eine so entscheidende Auseinandersetzung beeinflussen und einen Standpunkt begründen will, dann sollte man mit solchen Dingen etwas sorgfältiger vorgehen. Ich halte es einfach für eine Zumutung, daß man uns so etwas auf den Tisch legt.

(Beifall beim GB/BHE und bei der SPD.)

Ich kann dem Herrn Verteidigungsminister nur empfehlen, daß er, wenn sich das Verteidigungsministerium weiterhin mit der Abfassung und Verteilung von Traktätchen befassen will, ein paar Historiker zu Rate zieht, die vorher überprüfen, was man der Öffentlichkeit bietet. Das habe ich nicht im Interesse der Durchsetzung eines bestimmten Standpunkts, sondern im Interesse der Seriosität der parlamentarischen und der politischen Auseinandersetzung überhaupt gesagt.
Wir sind der Auffassung, daß die Frage nach der Einführung der Wehrpflicht nicht nach historischen Überlegungen, sondern ausschließlich aus unserer heute gegebenen Situation heraus beurteilt werden muß. Wir verkennen keineswegs, daß diese Situation sehr viele Züge trägt, die auch für das Berufsheer sprechen können. Es ist auch kein Argument — das möchte ich gleich ausräumen — gegen das Berufsheer, daß es sich — man hat das auch hier wieder sehr breitgetreten — wie in der Weimarer Zeit zu einem Staat im Staate entwikkeln könne. Denn die Voraussetzungen dafür waren damals — ich will jetzt hier keine historischen Betrachtungen anstellen; sie sind zum Teil schon angestellt worden, und wir kennen die Verhältnisse ja alle — in einem ganz anderen Maße gegeben als heute. Wir müßten uns ja unserer Verpflichtung zur Durchsetzung und Erhaltung der Demokratie sehr wenig bewußt sein, wenn wir
nicht alles täten, um dem Entstehen ähnlicher Voraussetzungen wie damals von vornherein zu begegnen. Einiges davon ist bereits geschehen, sei es in der Einrichtung des Personalgutachterausschusses, sei es in der Annahme der Wehrverfassung, der Änderung des Grundgesetzes. Schließlich sollte auch unser damals gestellter und nicht angenommener Antrag, die direkte parlamentarische Verantwortung des Verteidigungsministers einzuführen, diesem Ziele dienen.
Was uns zur grundsätzlichen Bejahung der allgemeinen Wehrpflicht veranlaßt hat, das sind ausschließlich Gesichtspunkte, die sich aus der Forderung nach Gleichheit von Rechten und Pflichten im demokratischen Staat ergeben. Insofern kann die Wehrpflicht eine Bedeutung im Sinne der Bildung des staatsbürgerlichen Bewußtseins haben. Das hat, wie ich ausdrücklich betonen möchte, nichts, aber auch gar nichts zu tun — ich möchte einer solchen Verwechslung vorbeugen — mit der auch von uns abgelehnten Auffassung oder Anschauung von der Wehrmacht als Schule der Nation, genauso wie ich es für abwegig halte, die Bundeswehr als eine Art Sanatorium zur Förderung der Volksgesundheit darzustellen und ähnliche Argumente zu gebrauchen, die zu billig und zu albern sind, als daß man sie ernsthaft für die Begründung der allgemeinen Wehrpflicht in die Diskussion werfen könnte. Man sollte doch hier mit etwas seriöseren Mitteln arbeiten. Lassen wir also einmal diese Mätzchen beiseite und betrachten wir einfach nüchtern die Tatsache, daß wir im Rahmen der uns gegebenen außenpolitischen Situation um die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, auf längere Sicht gesehen, voraussichtlich nicht herumkommen werden.
Es ist hier schon eine heftige Debatte über die Frage geführt worden, ob wir durch die Verträge zur allgemeinen Wehrpflicht und zur Aufstellung von Streitkräften in einer bestimmten Stärke verpflichtet sind. Ich glaube, die Argumentation, das sei der Fall, ist nach der Rede des Herrn Kollegen Erler völlig zusammengebrochen; das kann man doch wohl feststellen. Ich hoffe, daß nicht versucht werden wird, dieser zusammengebrochenen Argumentation wieder auf die Beine zu helfen, und nicht noch einige Feuerwehrmänner antreten müssen, um das, was Herr Kollege Erler hier wohl überzeugend dargelegt hat, zu widerlegen.

(Abg. Schröter [Wilmersdorf]: Da werden schon noch ein paar Minimaxe kommen!)

Denn ich hielte es auch für völlig abwegig, die allgemeine Wehrpflicht, wenn wir sie einführen wollen, vor der Öffentlichkeit damit zu begründen, daß wir vertraglich dazu verpflichtet seien. Ich glaube, das würde auf unsere souveräne, freie Entscheidung ein merkwürdiges Licht werfen. Wir sollten es deshalb unterlassen, mit solchen Argumenten zu operieren. Sagen wir es doch lieber offen und nüchtern — es ist hier ja auch schon angedeutet worden —: Im Rahmen der NATO-Planungen ist nun einmal ein solches deutsches Kontingent vorgesehen, und wenn wir dem nicht entsprechen, geraten diese Planungen in Unordnung, und dann könnten sich natürlich Mißstimmungen bei unseren Partnern ergeben. Warum sagt man das denn nicht frei heraus, sondern versucht statt dessen, sich mit völkerrechtlichen Argumentationen, die zudem nicht einmal durchschlagend sind, darum herumzudrücken? Solange diese Planungen so sind und solange das nicht geschieht


(Feller)

was der Herr Kollege Mende mit Recht betont hat, daß diese Planungen nämlich auf die besonderen deutschen Verhältnisse abgestellt werden, so lange allerdings sind natürlich diejenigen im Recht, die sagen: die Situation verlangt von uns die Aufstellung einer Bundeswehr in einer entsprechenden Stärke, also in Höhe von 500 000 Mann! Dann kann man natürlich auch damit operieren, daß man sagt: diese 500 000 Mann können nicht allein auf dem Prinzip der Freiwilligkeit zusammengebracht werden! Nach unserer Auffassung kann hier also eine grundlegende Veränderung nur erfolgen, wenn die Gesamtplanungen anders werden sollten, was ja unter Umständen in absehbarer Zeit — und das sollte man bedenken — möglich sein wird. Auf diese Möglichkeit isst hier schon hingewiesen worden. Sie könnte auch im Zusammenhang mit einem von uns allen gewünschten Erfolg der laufenden Abrüstungskonferenzen eines Tages verwirklicht werden.
Diese Überlegungen veranlassen auch uns, zu sagen, daß wir trotz unseres grundsätzlichen Bekenntnisses zur allgemeinen Wehrpflicht keinerlei Grund sehen, ihre Durchführung nun allzu eilfertig zu betreiben. Es gibt aber auch noch eine Reihe innerer Gründe, die gegen eine Überstürzung sprechen. Viele sind mir schon vorweggenommen worden. Ich möchte aber doch noch auf einige hinweisen, die bisher noch nicht berührt worden sind.
Zunächst darf ich aber unserem Befremden Ausdruck geben über das Verfahren, das hier wieder einmal angewendet worden ist, nämlich Vorlage, wenige Tage darauf Erzwingung der Beratung, überhaupt keine Begründung im Gesetz selbst und dafür wenige Stunden vor der Beratung Vorlage einer Denkschrift, die außerdem wirklich keine gute Leistung des Verteidigungsministeriums darstellt.
Zu den psychologischen Gründen, die hier noch nicht erwähnt worden sind, zunächst ein Hinweis auf den außerordentlich starken Bruch, der nach der Hypertrophie — gelinde gesagt — des militärischen Denkens vor 1945 und nach dem totalen Zusammenbruch und den Dingen, die sich nachher ereignet haben, in der Einstellung unseres Volkes, insbesondere seiner Jugend, zu allen Fragen des Wehrdienstes und des Militärs überhaupt entstanden ist; eine berechtigte Skepsis, die nicht von heute auf morgen auszuräumen sein wird. Die Freiwilligenmeldungen, von denen immer die Rede ist, können darüber kaum hinwegtäuschen. Außerdem stehen sie in einem merkwürdigen Mißverhältnis dazu, daß man heute plötzlich sagt, mit Freiwilligen lasse sich nichts machen, während man früher immer darauf hinwies, daß eine riesengroße Zahl von Freiwilligenmeldungen vorliege. Aber, meine Damen und Herren, solange noch eine große Anzahl von Freiwilligenmeldungen gebündelt im Keller des Verteidigungsministeriums unbearbeitet schlummern, so lange braucht man es mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht nicht allzu eilig zu haben.
Diese Skepsis wird nach unserer Auffassung nur dadurch zu beseitigen sein, daß der breiteren Öffentlichkeit und vor allem denjenigen, die unter die Wehrpflicht fallen werden, erst einmal ein Bild der neuen Bundeswehr sichtbar wird. Unsere Jugend vor allem muß sehen, wie die Einrichtung beschaffen ist, der sie sich unterwerfen soll. Die Erklärungen über den „Staatsbürger in Uniform" und über das „innere Gefüge" allein genügen dazu nicht, zumal es leider manchen Anlaß gibt, daran zu zweifeln, wieweit die Ernsthaftigkeit zur Realisierung dieser Dinge bei allen Beteiligten — ich meine hier selbstverständlich nicht das Parlament — wirklich noch vorhanden ist und vorhanden bleiben wird. Die unerläßliche Bereitschaft zum Wehrdienst — um das Wort „Wehrfreudigkeit" zu vermeiden — kann erst erzielt werden, wenn die aus Freiwilligen gebildeten Einheiten die entsprechenden Beweise geliefert haben, und man sollte zunächst einmal in aller Ruhe deren Aufstellung vollziehen. Nach den bisher bekanntgewordenen Planungen des Verteidigungsministeriums ist das ohnehin im Rahmen des 96 000er-
Programms dieses Jahres und, ich glaube, des 220 000er-Programms des nächsten Jahres der Fall. Das wird also die wesentliche Aufgabe der nächsten beiden Jahre sein.
Ich habe allerdings aus der heutigen Debatte fast den Eindruck gewonnen, als ob daran einiges geändert werden solle. Denn anders kann ich mir das nachdrückliche Eintreten für eine möglichst rasche Einführung der Wehrpflicht nicht erklären. Die Einrichtung der Wehrersatzämter könnte auch auf anderem Wege erfolgen; das ist also kein Gegenbeweis. Es müßte demnach doch so sein, daß die Bundesregierung ihre frühere Auffassung — Herr Kollege Mende hat schon darauf angespielt — geändert hat, die Auffassung nämlich, daß sie vor der Bundestagswahl nicht beabsichtige, irgendwelche Wehrpflichtigen einzuziehen, dafür 'allerdings um so mehr Militärkapellen in Erscheinung treten zu lassen.

(Heiterkeit und Zurufe.)

— Das Wort ist gefallen!
Man sollte sich aber auch unabhängig von Wahlen noch einige andere Fragen ernsthaft überlegen. Wir haben nicht den Eindruck — diejenigen, die im Verteidigungsausschuß mitgearbeitet haben, werden mir darin wohl beipflichten —, daß bei den Planungen, bei den Vorbereitungen und bei der Aufstellung bisher alles so verlaufen ist, wie es auch von den Verantwortlichen immer wieder als wünschenswert hingestellt warden ist. Wir haben uns im Verteidigungsausschuß auch schon mit einigen Pannen beschäftigen müssen, und es werden unvermeidlicherweise auch noch einige weitere auftreten. Wer kann sagen, ob das, was heute oder morgen in organisatorischer Hinsicht oder im Hinblick auf die innere Gestaltung geschieht, sich nicht in absehbarer Zeit als unzweckmäßig herausstellt? Wer will sagen, ob die Voraussetzungen, die in den nächsten Monaten geschaffen werden, schon ausreichen, um damit das zu erreichen, was erreicht werden soll? Wer garantiert gegen Fehlplanungen und Fehlentwicklungen, die nicht wiedergutzumachen sind, wenn diese Kader einmal mit Wehrpflichtigen aufgefüllt werden? Von der alten Reichswehr ist bekannt — das können alle Herren bestätigen, die ihr angehört haben; ich kann es nur aus der Literatur beurteilen —, daß sie ihre endgültige militärische Form erst etwa in den Jahren 1925/26 bekommen hat. So lange hat man gebraucht, um alle Führungsfunktionen richtig zu besetzen, obwohl damals eine ununterbrochene Kontinuität von der kaiserlichen Armee vorhanden war. Wieviel mehr Zeit wird das erst nach einer Unterbrechung und einem bewußten Neubeginn beanspruchen!
Es hat auch den Anschein, daß nicht einmal die Pläne über die Ausbildung der Ausbilder, dieser


(Feller)

Kettenplan, der uns im Ausschuß schon verschiedentlich entwickelt worden ist, weiter gediehen sind. Vor ein paar Tagen konnte man in der Zeitung lesen, es sei nun der erste Lehrgang für Generale und Stabsoffiziere in Sonthofen eröffnet worden. Man kann sich ausrechnen, wie lange es dauern wird, bis einmal die Hauptleute und Leutnante drankommen. Auf sie kommt es letzten Endes bei der Aufstellung eines Wehrpflichtheeres an, denn sie werden unmittelbar mit dem Wehrpflichtigen in Berührung kommen. Nicht die Ausbildung, sondern besser: die Bildung derjenigen, welche berufen sein werden, die wehrpflichtige Jugend auszubilden, muß sehr sorgfältig und mit der notwendigen Zeit vorgenommen werden. Improvisationen würden sich in jedem Falle schlecht auswirken. Es würde damit nicht nur Geld und Zeit vertan, sondern unter Umständen auch das Gegenteil von dem erreicht, was erreicht werden muß, was das Ziel des ganzen Unternehmens ist, nämlich Sicherheit, Sicherheit nach außen und Sicherheit in der inneren Entwicklung der Bundeswehr, wie wir sie alle wünschen und fordern müssen. Spätere Generationen würden uns dafür verantwortlich machen, wenn dabei wieder irgendwelche Fehlentwicklungen eintreten. Deshalb können wir es uns vor dem deutschen Volk nicht leisten, die Dinge aus irgendwelchen Überlegungen zu überstürzen. Wir meinen, wir sollten in voller Ruhe erst einmal das Fundament durch freiwillige Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit aufbauen, ehe wir an die Einziehung von Wehrpflichtigen herangehen.
Deshalb ist es uns unverständlich, daß das Wehrpflichtgesetz nun unbedingt beraten und beschlossen werden soll, ehe alle anderen Gesetze vorliegen, von denen hier schon die Rede ist und die für das einwandfreie Funktionieren der Bundeswehr notwendig sind. Zu erwähnen sind hier insbesondere die Fragen der Versorgung der neuen Soldaten bei Krankheit, Wehrdienstbeschädigung und Dienstunfähigkeit. Ebenso notwendig ist es aber auch, daran zu erinnern, daß noch eine Reihe von ungeklärten Fragen in bezug auf die ehemaligen Soldaten vorhanden sind, die einer raschen Klärung bedürfen.
Die Ausführungen des Kollegen Dr. Mende hinsichtlich einer vordringlichen Verabschiedung des Bundesversorgungsgesetzes werden von uns voll und ganz unterstrichen. Allerdings möchten wir in diesem Zusammenhang eines nicht verschweigen: bei einer früheren Bereitschaft — und nicht erst in den letzten Wochen — sowohl der CDU als auch der FDP und der DP hätten wir die höheren Renten für die Kriegsbeschädigten der vergangenen Kriege, Kriegerwitwen, Kriegswaisen und Kriegereltern schon zum letzten Weihnachtsfest haben können.

(Sehr richtig! beim GB/BHE.)

Ob die Regierungskoalition und die FDP dafür eintreten werden, daß die erhöhten Renten, wie einmal versprochen, bereits ab 1. Januar 1956 zu zahlen sind, werden wir in wenigen Tagen sehen. Unser Antrag geht jedenfalls dahin.
Der Gang der 5. Novelle zur Kriegsopferversorgung hat auch hinsichtlich der 2. Novelle zum 131er-gesagt hat — geschaffen werden, wenn die Bereitschaft zum Wehrdienst in unserer Jugend gesteigert werden soll.
Gesetz zu einigem Pessimismus Veranlassung gegeben. Hier muß auch eine der psychologischen Voraussetzungen — wie Herr Dr. Mende mit Recht
Hier wäre nun — meine Damen und Herren, ich will mich auf ganz wenige Andeutungen beschränken — einmal die Frage aufzuwerfen, die hier auch schon berührt worden ist, wie denn die Bundesverteidigung im ganzen organisiert werden soll. Ich bin durchaus der Auffassung, die Herr Kollege Erler hier vorgetragen hat, daß man einen Kreis unabhängiger fachkundiger Männer zusammenberufen und mit ihnen gemeinsam diese Dinge beraten sollte. Denn manches davon bleibt doch trotz dieser herrlichen Denkschrift immer noch in einem mystischen Halbdunkel.
Ich kann auch nicht verstehen, was gemeint ist, wenn hier von einem Stamm von 50 000 Mann für die bodenständige Verteidigung geredet, aber kein Wort darüber verloren wird, wie denn die bodenständige Verteidigung schließlich aussehen soll. Selbstverständlich ist da die Frage zu stellen, ob die Reserven für die bodenständige Verteidigung auch durch eine achtzehnmonatige Dienstzeit durchzutreiben sein werden, womit erfahrungsgemäß allerlei Leerlauf und gewisse wirtschaftliche und soziale Folgen verbunden sind, oder ob man eine kürzere, milizartige Ausbildung einführen soll.
Alle diese Probleme müssen erst einmal ausführlich erörtert werden, bevor man die uns hier voreilig gestellte Frage endgültig entscheiden kann. Die Bevölkerung will ja auch wissen, wie es um ihre Heimatverteidigung steht, ehe sie einmal ihre Jugend zu den Waffen schickt. Damit, daß in Zeitungen zu lesen ist, in London fänden irgendwelche Vorverhandlungen statt, über die meines Wissens in diesem Hause bisher noch nicht berichtet worden ist, und man hoffe auf ein baldiges Ergebnis, ist ja noch keine Klärung in dieser Hinsicht erfolgt. Also es gibt l rotz der Denkschriftenfreudigkeit der Bundesregierung noch eine Reihe von ungeklärten Fragen, die die neuen Streitkräfte angehen.
Über Einzelfragen wird, wenn es die Zeit noch erlaubt, vielleicht einer meiner Freunde sprechen. Ich möchte mich auf diese grundsätzlichen Dinge beschränken.
Auf eines möchte ich an dieser Stelle doch noch hinweisen. Wenn man schon die Historie bemüht, meine Damen und Herren, dann sollte man sie doch studieren, aus ihr Erfahrungen zu ziehen versuchen, statt sich — dazu noch fälschlicherweise — auf sie zu berufen. Es ist eine geschichtliche Tatsache, daß alle militärischen Neuanfänge und Reformen —und einen solchen Neuanfang wollen wir doch — in einem unmittelbaren Zusammenhang mit gesellschaftlichen Reformen standen. Entweder waren die letzteren zeitlich vorausgehende Ursachen, oder sie waren gleichlaufende Vorgänge. Gerade die preußischen Reformen sind dafür der beste Beweis, und ein Mann wie Scharnhorst war sich dessen sehr bewußt: Ohne politische Reform keine erfolgreiche Heeresreform.
Dieser Zusammenhang war damals bekannt. Es scheint aber notwendig, daß auch wir uns hier einiger Zusammenhänge bewußt werden. Wir können nicht davon ausgehen, daß uns die Entwicklung seit 1945 in der Neugestaltung unserer gesellschaftlichen und sozialen Ordnung sehr weit vorangebracht hätte. Es wird zwar viel von Reformen auf diesen Gebieten gesprochen, die entsprechenden Maßnahmen stehen aber noch aus.

(Zuruf von der Mitte: Sie tun, als ob nichts geschehen wäre!)



(Feller)

— Ja, warum reden Sie denn dann noch dauernd davon, wenn schon alles geschehen ist? Sie sprechen ja doch auch davon, Herr Kollege, natürlich im Hinblick auf die Wahlen, die im nächsten Jahre stattfinden. Wer möchte sagen, daß der Druck der nächsten Bundestagswahl dazu ausreicht, daß diese vielen Reden in die Tat umgesetzt werden!
Wir sind bei aller Bejahung des Grundsatzes der allgemeinen Wehrpflicht der Auffassung, daß ihre Durchführung nur unter der Voraussetzung möglich und sinnvoll ist, daß vorher die beabsichtigte Reform der sozialen Verhältnisse eine befriedigende Lösung erfährt. Denn schließlich muß ein Wehrpflichtiger auch wissen, wofür er seinen Dienst leistet. Das Ethos der Freiheit wird dabei nur unzulänglich wirken, wenn es nicht angesichts des ideologischen Weltgegensatzes von der Überzeugung getragen wird, auch einer besseren sozialen Ordnung und ihrer Erhaltung zu dienen. Es wäre jedenfalls sehr gefährlich, die Jugend zu den Waffen zu zwingen und ihr gleichzeitig das Gefühl zu lassen, daß die soziale Gerechtigkeit erst erkämpft werden muß.

(Zuruf von der Mitte: Die hat nicht dieses Gefühl!)

— Das meinen Sie! Warten Sie mal ab! Sie werden da vielleicht noch einige Überraschungen erleben. Ich halte es für vollkommen falsch, sich da irgendwelche Vorstellungen zu machen, weil man sie gern so haben möchte, sondern ich halte es für viel richtiger, die Dinge sehr real und nüchtern zu beurteilen, um einen Mißerfolg zu vermeiden. Das wollen wir doch alle, Herr Kollege. Wir wollen doch nicht auf jeden Fall irgend etwas tun, nur weil wir es uns in den Kopf gesetzt haben, ganz gleich, was dabei herauskommt, sondern wir wollen es doch so tun, daß es sich wirklich zum Besten für unsere Bundeswehr und für unser Volk entwickelt.

(Abg. Schlick: Ihren Betrachtungen fehlt die Erkenntnis der Realitäten!)

— Es zeigt sich immer erst hinterher, wer die Situation realer beurteilt hat.
In diesem Zusammenhang gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Ein Fünftel unserer wehrfähigen Jugend besteht aus Heimatvertriebenen oder den Söhnen Heimatvertriebener, die aus dem Osten kommen. Wahrscheinlich ist die Wehrbereitschaft bei ihnen in stärkerem Maße vorhanden als bei den übrigen Teilen der Jugend. Ich will hier auf die Gründe nicht eingehen. Ich möchte nur ausdrücklich feststellen, daß es nicht etwa mit dem Wunsche zu tun hat, die verlorene Heimat mit Waffengewalt wiederzugewinnen. Aber diese durchaus friedfertige Wehrbereitschaft bei der heimatvertriebenen Jugend muß in einen schweren Konflikt kommen, wenn von offizieller Seite, wie dies vor wenigen Tagen geschehen ist, die Möglichkeit einer friedlichen Verwirklichung des Heimatrechts der Vertriebenen als problematisch bezeichnet wird.

(Sehr richtig! beim GB/BHE.)

Solche Auslassungen halten wir gerade auch im Hinblick auf die Einführung der Wehrpflicht für äußerst problematisch. Wir möchten doch sehr darum bitten, daß uns hier so rasch wie möglich eine Aufklärung über die Ursachen und den Sinn oder auch den Unsinn solcher Darlegungen gegeben wird.
Ich komme zum Schluß. Die Fraktion des Gesamtdeutschen Blocks/BHE wird sich der Ausschußüberweisung des uns vorliegenden Wehrpflichtgesetzes nicht widersetzen. Sie wird aber ihre endgültige Stellungnahme, insbesondere über den Zeitpunkt, zu dem die Wehrpflicht durchgeführt werden soll, von den Beratungen und dem Vorliegen der nach ihrer Auffassung notwendigen und von mir dargelegten Voraussetzungen abhängig machen.

(Beifall beim GB/BHE.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214304800
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jaeger.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214304900
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe nicht die Absicht, in ein tiefschürfendes kriegshistorisches Kolleg einzutreten und Ihnen im Verlauf eines solchen, wie es sich auf der Universität auch gehört, Bücher zum näheren Studium zu empfehlen.

(Sehr gut! in der Mitte.)

Da ich den zweiten Weltkrieg zwar vom ersten bis zum letzten Tage, aber nur als schlichter Wachtmeister der Reserve mitgemacht habe, würde mir dies im Verhältnis zum vorletzten Diskussionsredner dienstgradmäßig zweifellos gar nicht zustehen.

(Heiterkeit.)

Ich möchte mich vielmehr unmittelbar und direkt dem Problem zuwenden, um das wir hier ringen, dem Problem der Wehrpflicht.
Ich halte es auch nicht für richtig, wie es vorhin gemacht worden ist, um diesen Begriff sozusagen einen Eiertanz aufzuführen, wie es natürlich jemand tun muß, der sich im Gegensatz zu heute noch vor vier oder fünf Wochen für die allgemeine Wehrpflicht ausgesprochen hat. Der Herr Kollege Dr. Mende hat am 15. März dieses Jahres zusammen mit dem Herrn Kollegen Erler und mir in der von vielen hundert Jugendlichen gefüllten Mensa des Studentenhauses hier auf einer Kundgebung des Rings Politischer Jugend zur Frage der Wehrpflicht gesprochen. Der Herr Kollege Erler sprach dagegen, ebenso wie heute. Ich sprach dafür, wie ich es auch heute tun werde. Auch der Kollege Mende hat damals, sogar mit guten Argumenten, für die allgemeine Wehrpflicht gesprochen.

(Lebhafte Rufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)

Er hat sich inzwischen öffentlich gegen die allgemeine Wehrpflicht geäußert, und er hat heute ein Sowohl-Als-Auch gesprochen: Wehrpflicht ja, aber nur in der Form der Miliz.

(Abg. Dr. Kliesing: Er ist vom Paulus zum Saulus geworden! — Abg. Mellies: Vom Irrtum zur Wahrheit reisen!)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214305000
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214305100
Ja.

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0214305200
Ist Ihnen, Kollege Jaeger, der alte Spruch bekannt, daß mehr Freude im Himmelreich ist über einen reuigen Sünder als über Neuundneunzig Gerechte?

(Große Heiterkeit.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214305300
Wo ist das Himmelreich, und wann war die Sünde?

(Erneute Heiterkeit.)



Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214305400
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal von der Rechten?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214305500
Bitte!

Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0214305600
Darf ich Herrn Kollegen Jaeger fragen: Ist das Tempo von vier Wochen — wenn es so sein sollte, wie er eben darlegte — nicht immerhin noch ein Marathonlauf gegenüber dem Tempo des Herrn von Brentano gestern in London über die Oder-Neiße-Frage?

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214305700
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sollten uns hier nicht so sportlich unterhalten.

(Heiterkeit.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214305800
Es scheint mir eine schwache Retourkutsche zu sein, wenn man auf ein Gebiet übergeht, das nicht zum Thema gehört, und über einen Mann spricht, der nicht hier ist, also nicht in der Lage ist, jene Dementis abzugeben, die er vielleicht abgeben könnte; ich weiß es nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren! Es hat doch wenig Sinn, statt von der Wehrpflicht von der „Verteidigungspflicht" zu sprechen, weil es höflicher klingt. Ich bin auch der Meinung, daß neben die Wehrpflicht eine Bundesschutzpflicht gehört, die z. B. dazu führen muß, daß man für den Luftschutz auch gewisse Verpflichtungen einführt, weil Freiwilligkeit auf diesem Gebiete möglicherweise, wie ein Vorredner schon bemerkt hat, nicht ausreichen wird. Aber das alles führt uns doch nicht an der entscheidenden Frage vorbei, vor der wir stehen: Wollen wir die Wehrpflicht für die jungen deutschen Männer? Ob nun sechs Monate, wie der eine Redner sagte, achtzehn Monate, wie die Regierung sagt, zwölf Monate, wie der Bundesrat meint — das ist mehr oder weniger eine Fachfrage. Aber die grundsätzliche, die politische Frage ist die: Wollen wir diese Wehrpflicht überhaupt? Ja oder nein? Um dieses Ja oder Nein kommt kein Mitglied dieses Hohen Hauses herum, so unerfreulich das für alle miteinander sein mag; denn populär ist die Entscheidung nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn ich mich für die allgemeine Wehrpflicht ausspreche, so möchte ich hier persönlich und für meine politischen Freunde von der CDU/CSU eindeutig sagen, daß der entscheidende Gesichtspunkt für uns nicht die Begründung ist, die man aus den Verträgen herauslesen kann.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Es wäre schwach, wenn wir uns nur auf die Verträge stützen könnten, selbst wenn diese Stütze fester wäre, als sie vielleicht sein mag.

(Sehr gut! bei der CDU/CSU.)

Für uns sind es in erster Linie politische, sachliche Erwägungen, die aus der deutschen Lage und aus der Verpflichtung des Staatsbürgers heraus erwachsen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Gerade weil ich Jurist bin, will ich gar nicht eine Position verteidigen, die nicht zu verteidigen ist. Denn nach den formalen Begriffen des deutschen Zivilrechts können Sie zweifellos — da hat Herr Erler recht — aus dem Vertragswerk keine Verpflichtung für 500 000 Mann herauslesen.
Aber ich möchte doch einige falsche Zungenschläge, die in den letzten Wochen auf dieser Seite aufgeklungen sind, richtigstellen. Der Accord spécial, von dem man spricht, ist gar kein so mysteriöser Geheimvertrag. Gewiß, der Vertrag war in seinem Inhalt geheim, und seinen Text kennen wir bis zur Stunde nicht. Das haben die verbündeten Mächte gewünscht, aus Gründen, die zumindest damals überzeugend waren. Ich hätte nichts dagegen, wenn er nunmehr veröffentlich werden könnte. Aber der zuständige Ausschuß des Bundestages hat sich im Jahre 1952 unter dem Vorsitz des damaligen und heutigen stellvertretenden Vorsitzenden Erler ausführlich mit dem Problem befaßt, und er hat es dann auch noch einmal im 2. Bundestag getan, so daß die Probleme dieses Vertrags, den die Regierung im Wortlaut nicht vorlegen durfte, ohne wortbrüchig zu werden, dem zuständigen Ausschuß bestens bekannt waren; und hier war von 500 000 Mann gesprochen.

(Abg. Mellies: Hat auch niemand abgestritten!)

Da auch Herr Erler sagt, der Inhalt sei jetzt allen bekannt, kann man daraus folgern, daß er nun vielleicht von den verbündeten Mächten zur Veröffentlichung freigegeben werden könnte. Es liegt nicht in der Hand der Bundesregierung allein. Aber man kann andererseits nicht so tun, als wenn hier sozusagen hinter dem Rücken des Parlaments irgendwelche Beschlüsse gefaßt worden wären.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)

Das war nicht der Fall, zumal der Accord spécial ja in den Verträgen namentlich aufgeführt war.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214305900
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214306000
Bitte, Herr Kollege Erler!

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0214306100
Herr Kollege Jaeger, Ihnen ist doch in Erinnerung, daß es sich bei den Beratungen des Accord spécial im Verteidigungsausschuß des Bundestages um den Gesamtkomplex der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gehandelt hat, die gar nicht zustande gekommen ist?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214306200
Jawohl. Das war bei der Sitzung im Jahre 1952, aber auch in einer späteren Sitzung; nicht so ausführlich, aber ebenfalls wurde es in diesem Bundestag in diesem Ausschuß behandelt. Über die Rechtsfolgen des Accord spécial will ich jetzt gar nicht sprechen; ich wollte einmal den Mythos ein wenig aufhellen, der um diesen Vertrag gesponnen worden ist.

(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Arnholz: Wer hat denn den Mythos geschaffen? — Weitere Zurufe von der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214306300
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214306400
Bitte!

Wilhelm Mellies (SPD):
Rede ID: ID0214306500
Herr Kollege, wer hat denn den Mythos geschaffen? Doch nicht wir, sondern die Bundesregierung!

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214306600
Den Eindruck hatte ich nicht; aber darüber mögen Sie anderer Meinung sein.


(Dr. Jaeger)

Was ich dann für falsch halte, ist, daß man das ganze Vertragswerk aus dem Text des Vertrages über die Westeuropäische Union heraus interpretieren will. Ich gebe Ihnen nochmals zu: Sie können es positiv nach den Begriffen des deutschen Zivilrechts, wie wir es gelernt haben, nicht beweisen, daß wir 500 000 Mann aufstellen müssen. Aber umgekehrt können Sie nun nicht deshalb, weil der Vertrag für die Westeuropäische Union den Accord spécial erwähnt und sagt: 500 000 sind die Höchstgrenze, davon ausgehen, es sei natürlich, daß wir den Wehrbeitrag wesentlich tiefer festsetzen. Meine Damen und Herren, das Vertragswerk von Paris hat doch sozusagen zwei Seelen in seiner Brust.

(Abg. Mellies: Hört! Hört!)

Einmal ist es der NATO-Vertrag, der dazu da ist, die Verteidigungsbemühungen der freien Welt durch einen deutschen Wehrbeitrag insbesondere wie durch den Beitrag der übrigen 14 Staaten zu stärken, und andererseits ist es der WEU-Vertrag, der ja außerhalb der begrüßenswerten Beistandspflicht eben nur Höchststärken und Rüstungskontrollen festsetzt, der also sozusagen restriktiver Natur ist und der, wie wir alle wissen, geschaffen wurde aus den innenpolitischen Verhältnissen eines großen Nachbarlandes heraus, die damals bestanden und an denen der EVG-Vertrag leider gescheitert ist.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Selbstverständlich stehen wir zum ganzen Vertragswerk. Selbstverständlich stehen wir zu dem Wort, das wir zu den Höchststärken gegeben haben. Wir wollen ja gar nicht mehr. Aber man kann ein Vertragswerk, das doch als Ganzes geschaffen worden ist, um die Wehrbereitschaft der westlichen Welt zu stärken, nicht nach den nebensächlichen Bestimmungen interpretieren, die hier eine gegenläufige Tendenz aufweisen,

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

und darum soll man die Westeuropäische Union in diesen ihren Vertragsbestimmungen so sehen, nämlich als eine Größe zweiter oder dritter Ordnung in diesem ganzen Vertragswerk, das ja zum Schutz der freien Welt und damit leider Gottes — es geht nicht anders — auch zur Aufrüstung der freien Welt geschaffen worden ist.
Schließlich bitte ich Sie, eines zu überlegen. Die formalistische Betrachtungsweise, wie sie von der Soizaldemokratie im Zusammenhang mit allen außenpolitischen Verträgen bisher immer an den Tag gelegt, seinerzeit auch in Karlsruhe vertreten wurde, würde hier zu ganz unmöglichen Schlußfolgerungen führen. Denn die Sache ist so: Die Höchstgrenze ist in den Protokollen der Westeuropäischen Union festgelegt. Die Mindestgrenze ist überhaupt nicht im Vertrag festgelegt, sondern es heißt: Der NATO-Rat muß jeweils die Empfehlungen beschließen. Der NATO-Rat kann sie nur einstimmig beschließen. Bei einer formalistischen Vertragsauslegung könnten Sie — das wurde seinerzeit auch im Auswärtigen Ausschuß besprochen — so weit kommen, zu sagen, daß wir am Ende überhaupt keine Soldaten aufstellen müßten, wenn unser Minister immer dagegen stimmen sollte — und daß das gegen den Sinn der Verträge verstoßen würde, das hat die Sozialdemokratie seinerzeit im Ausschuß und, ich glaube, auch Herr Erler heute vormittag im Plenum dargelegt.

(Zuruf von der SPD: Na also!)

Es würde aber bei diesen Verträgen, die ja nach der angelsächsischen Methode, daß nicht der Buchstabe gilt, sondern Treu und Glauben gelten, aufgestellt sind, auch gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn ich sagte: Wir stellen nur, sagen wir einmal, 100 000 Mann auf, wenn doch von vornherein in den allgemeinen Gesprächen, wie die seinerzeitigen Plakate der SPD bewiesen haben, immer von 500 000 Mann gesprochen worden ist.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Und aus diesem Grundsatz von Treu und Glauben heraus wollen wir als Deutsche die Verträge ansehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und rechts.)

Das sind wir um so mehr unserem Namen schuldig, als leider in einer sehr üblen Zeit im deutschen Namen Verträge weder dem Sinn noch dem Buchstaben nach eingehalten worden sind.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)

Außerdem kommt nun die politische Folgerung: wenn wir uns jetzt weigerten, den Wehrbeitrag in jener Höhe zu leisten, den die ganze Welt annimmt, der auch bei den Beratungen in diesem Hohen Hause seinerzeit in der Diskussion stand, dann würde die andere Seite natürlich nach Treu und Glauben sehr gut in der Lage sein, uns den Schutz zu verweigern, den sie uns bisher gegeben hat und den in Zukunft zu geben sie sich auch verpflichtet hat. Denn die Verteidigung Europas und der westlichen Welt ist ein Ganzes, und wenn einer ausfällt und seine Verpflichtungen nicht oder nachlässig erfüllt. besteht die Gefahr, ja die Wahrscheinlichkeit, daß ein anderer Ähnliches tut.
Ich darf es noch einmal sagen: Diese Überlegungen aus dem Vertragswerk sind für uns nicht entscheidend. Ich verstehe, daß sie für die Opposition entscheidend sind: denn die Sozialdemokratie hat nun einmal — sehr konsequent, wenn auch nach meiner Überzeugung nicht mit Recht — unsere Außen- und Wehrpolitik bekämpft. Sie hat aber, wie es sich für Demokraten gehört, erklärt, daß sie einmal ratifizierte Verträge einhält und erfüllt. Für die Sozialdemokratische Partei ist es wohl entscheidend, ob sie aus den Verträgen genau 500 000 Mann und damit nun, da wir nicht genügend Freiwillige haben, die allgemeine Wehrpflicht herauslesen kann oder nicht. Für uns, wie gesagt, ist dieser Gesichtspunkt nicht entscheidend, weil wir uns in erster Linie aus sachlichen, aus politischen Erwägungen gezwungen sehen — so unpopulär es sein mag —, den Weg der Verantwortung weiterzugehen, den wir seit 1949 gegangen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU, bei der DP und DA.)

An den Anfang dieser sachlichen Überlegungen möchte ich doch noch einmal den Satz stellen: Das Ziel der Pariser Verträge ist nicht die Aufstellung militärischer Einheiten an sich, sondern die Sicherung der freien Welt gegen die Bedrohung, die durch die Politik von Warschau und Prag nun einmal für Europa geschaffen worden ist. Hätte man im Osten rechtzeitig eine andere Politik gemacht, wäre es niemals zu diesem Vertragswerk gekommen. Es geht doch beim deutschen Wehrbeitrag darum, daß wir für den noch freien Teil unseres Vaterlandes, also die Bundesrepublik, durch den Bund mit den westlichen Völkern jenen Schutz gewinnen, der notwendig ist. damit uns die Freiheit erhalten bleibt. Angesichts der außerordent-


(Dr. Jaeger)

lieh gefährlichen strategischen Lage unseres Landes, das an den Eisernen Vorhang grenzt und das mit Ausnahme der Türkei wohl mit keinem Land verglichen werden kann, denn kein Land des Westens ist sonst so gefährdet wie wir; angesichts dieser Tatsache und der weiteren, daß es sich hier — wenn ich mich einen Moment auf das Gebiet der Strategie begeben darf — immerhin um eine Frontbreite von 800 km handelt, ergibt sich doch die logische Folgerung, daß wir mit einem kleinen Berufsheer gar nicht in der Lage sind, die Aufgabe zu erfüllen, die uns im Bunde mit den anderen obliegt.
Dazu kommt das andere: Wir sind der Überzeugung, daß die Wehrpflicht eine sittliche Verpflichtung des Staatsbürgers ist. Schon das erste Mal, als wir uns über das Problem unterhalten haben, es war am 8. Februar 1952, habe ich in diesem Hause darzulegen versucht, daß es ein Recht der Notwehr und eine Pflicht zur Notwehr gibt, für den einzelnen wie für ein ganzes Volk, und daß wir um die Notwehrpflicht der jungen Generation zum Schutz von Frauen und Kindern und des ganzen Volkes nun einmal nicht herumkommen, in der Vergangenheit sehr oft nicht herumgekommen sind und in der Gegenwart bestimmt nicht herumkommen. Die Freiheit, meine Damen und Herren, ist für alle da. Darum müssen alle gemeinsam bereit sein, diese Freiheit zu schützen.
Ich hatte nicht die Absicht, diese Überlegungen über die sittliche Verpflichtung des Wehrdienstes auf eine so hohe Ebene zu heben, daß ich Papstworte zitieren würde. Nachdem aber einer meiner Herren Vorredner es dankenswerterweise getan hat, darf ich schließlich auch daran erinnern, daß nicht nur das eine beherzigenswerte Wort des gegenwärtigen Papstes gilt, sondern auch ein anderes, indem er vor etwa einem Jahr ausgesprochen hat, daß es im Falle der akuten Bedrohung zur sittlichen Pflicht des Christen gehört, das Vaterland und die Freiheit zu verteidigen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Im übrigen glaube ich, daß der Gedanke der Wehrpflicht uns kein neuer und kein fremder Gedanke ist. Seit es in Deutschland moderne Armeen gibt, erst in den einzelnen deutschen Staaten und dann im Deutschen Reich, war es immer ein Heer der allgemeinen Wehrpflicht, mit Ausnahme jener Zeit in der Weimarer Republik, da man uns gegen den Willen aller politischen Parteien, auch der Sozialdemokratie, die Einführung der Wehrpflicht verboten hat.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Es ist also unsere eigene nationale Tradition, die wir in der neuen Bundeswehr wieder aufnehmen, wenn wir eine allgemeine Wehrpflicht schaffen. Ich darf Sie nur einmal kurz bitten, 25 Jahre zurückzudenken. Wenn im Jahre 1931 Reichskanzler Brüning von einer Konferenz mit der Genehmigung der allgemeinen Wehrpflicht zurückgekommen wäre, dann wäre er als Vater des Vaterlandes in einem Jubel empfangen worden, von links bis rechts, von allen demokratischen Parteien.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Vielleicht wäre der Nationalsozialismus dann gar nicht zur Macht gekommen, weil er nicht das nationale Ressentiment hätte aufpeitschen können. Es ist tragisch, daß heute, da diese allgemeine Wehrpflicht nicht von uns gefordert wurde, da sie uns
geschenkt, vielleicht, wenn Sie so wollen, nahezu aufgedrängt worden ist, weitgehend skeptische Zurückhaltung am Platze ist. Nun, Begeisterung mag auf dem Gebiet, das mit Krieg zu tun hat, bestimmt nicht das Richtige sein. Aber die nüchterne Erkenntnis der Notwendigkeit sollte nunmehr langsam Platz greifen.
Nun erzählt man uns: Ja, die Planungen sind zu alt; 1950, 1951 war eine andere Situation; inzwischen sind die Atomwaffen weiterentwickelt worden, inzwischen ist die Wasserstoffbombe erfunden worden; folglich sind alle diese Planungen revisionsbedürftig. Das ist natürlich in einem gewissen Umfang richtig. Die Atomwaffen zwingen zum Überdenken der Situation, und zie zwingen auch großenteils militärisch zum Umdenken. Wir hoffen, daß dies auf allen Seiten geschieht. Aber diese Frage ist keine Frage, die wir Deutsche allein entscheiden können, sondern es ist eine Frage, die, da es einen westlichen Verteidigungsblock in Gestalt der NATO gibt, von dieser NATO in gemeinsamen Überlegungen entschieden werden muß. Entweder hat die allgemeine Wehrpflicht ihren Sinn verloren, dann muß sie eben auf NATO-Ebene abgeschafft werden, oder sie hat ihren Sinn behalten; dann werden wir sie auf NATO-Ebene beibehalten müssen. Aber niemand wird aus der Reihe tanzen können, am wenigsten der, der wie wir Deutsche am gefährdetsten ist.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Nun haben alle NATO-Staaten außer Island, das überhaupt keine Soldaten stellt, und dem weitentfernten Kanada die allgemeine Wehrpflicht. Und wenn sogar die Vereinigten Staaten und Großbritannien, bei denen die Tradition gegen die allgemeine Wehrpflicht ist und die darin eine unerhörte Beschränkung der staatsbürgerlichen Freiheit sehen, trotzdem die allgemeine Wehrpflicht jedenfalls bis zum heutigen Tage beibehalten haben, dann, meine Damen und Herren, können doch wir, die wir viel gefährdeter sind als England und Amerika, nicht von der allgemeinen Wehrpflicht absehen.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214306700
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214306800
Bitte!

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0214306900
Herr Kollege Jaeger, ist Ihnen bekannt, daß das „weitentfernte Kanada" geographisch genau zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten von Amerika liegt?

(Zurufe von der Mitte.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214307000
Da ich auch eine höhere Schule besucht habe, ist mir dies allerdings bekannt, und ich weiß, welche Gefährdung durch Luftangriffe dadurch für Kanada besteht. Aber die Gefahr des unmittelbaren Erdangriffs scheint mir für Kanada doch viel geringer zu sein als für Deutschland.

(Beifall in der Mitte.)

Aber nicht nur die Verpflichtung gegenüber unseren Verbündeten, die schließlich erwarten können, daß wir Deutsche dieselben Opfer von unserer jungen Mannschaft verlangen, wie sie sie selber bringen, zwingt uns, sondern vor allem auch die Lage im Osten. Denn die Verteidigung muß sich nun einmal nach dem potentiellen Gegner richten. Und wenn der potentielle Gegner seine Massenheere nicht verringert, jedenfalls keineswegs nachhaltig verringert, wenn er die allgemeine Wehrpflicht nicht abschafft, dann ist doch anzunehmen


(Dr. Jaeger)

daß er im Ernstfall damit rechnet, diese Massenheere verwenden zu können. Und wenn er sie im Ernstfall verwenden will, dann müssen wir in der Lage sein, dem etwas entgegenzusetzen. Dies scheint mir dringend notwendig.
Ebenso ist es notwendig, noch einmal zu betonen, daß Miliz nur eine andere Form der Wehrpflicht darstellt. Meine Damen und Herren, ich pflege diese Angelegenheit nicht so skeptisch zu beurteilen wie das Verteidigungsministerium. Ich glaube, daß es im Rahmen der bodenständigen Verteidigung, die zur allgemeinen Verteidigung hinzukommt, besondere Aufgaben für ein Milizsystem geben wird. Aber wir müssen uns doch darüber klar sein, daß auch Miliz auf der Pflicht beruht und daß Sie, wenn Sie nicht einen Volkssturm wollen, der nicht ausgebildet ist und den man also mit Verantwortung gar nicht einsetzen kann, eben eine sehr gründliche Ausbildung brauchen, daß Sie also entweder Soldaten der alten Wehrmacht dazu brauchen oder junge Soldaten, die wenigstens 12 Monate ausgebildet worden sind.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Dann ist von einem Vorredner auf die öffentlich nicht bekannte, sondern nur von Hand zu Hand weitergereichte Denkschrift „Schwert und Schild" verwiesen worden, von der man sagt, daß hervorragende strategische Geister sie geschaffen haben. Ich weiß nicht, Herr Kollege Dr. Mende, ob Sie dabei waren.

(Große Heiterkeit bei den Regierungsparteien.)

Jedenfalls möchte ich bemerken, daß diese hervorragenden strategischen Geister sich im demokratischen Staat daran gewöhnen sollten, daß man mit Namen für die Idee eintritt, die man vertritt, und nicht anonym eine Denkschrift verbreitet.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)

Damit möchte ich nichts gegen den Inhalt der Denkschrift gesagt haben, die zweifellos der Beachtung wert ist.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214307100
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214307200
Herr Dr. Mende?

Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0214307300
Es empfiehlt sich — nachdem sich leider der Fall Bonin ereignet hat — Vorsicht mit der Nennung von Namen, weil sie möglicherweise in Bonn der Bundesächtung anheimfallen. Ist Ihnen das bekannt, Herr Dr. Jaeger?

(Lebhafte Gegenrufe und Lachen bei den Regierungsparteien. — Unruhe.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214307400
Nein, das ist mir nicht bekannt, daß es eine „Bundesächtung" gibt. Ich treue mich, daß Sie dann wenigstens noch den Mut haben, sich hinzustellen, da Sie ja dann auch in der Gefahr stehen, der „Bundesächtung" zu verfallen.

(Hört! Hört! und Heiterkeit in der Mitte. — Abg. Mellies: Formaljuristisch gibt es die Bundesacht nicht. Aber Sie sollten wissen, wie furchtbar sich das auswirkt, und Sie sollten nicht so leichtfertig über solche Dinge hinweggehen!)

— Ich bin nicht der Meinung, Herr Kollege Mellies, daß es so etwas gibt. Sie sind offenbar der
Meinung. Ich bin nicht dieser Meinung. Wir sind offenbar verschiedener Auffassung. Das kommt manchmal vor.

(Zurufe rechts.)

— Meine Damen und Herren, ich bin j a gern bereit, auf Zwischenfragen zu antworten, aber Zwischenrufe auf beiden Seiten, das geht über meine Kraft. Ich kann nicht auf dem rechten Ohr etwas anderes hören als auf dem linken, — obwohl es ja manchmal das gleiche ist.

(Große Heiterkeit. — Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich stimme verschiedenen Vorrednern, vor allem dem Herrn Verteidigungsminister, darin zu, daß es bei einer modernen Armee mehr Berufssoldaten und mehr Freiwillige auf Zeit braucht als früher. Wir haben ja auch im Soldatengesetz diese Möglichkeit vorgesehen. Aber wo wollen Sie denn die Freiwilligen auf Zeit herbringen, wenn Sie sie nicht zuerst durch den Wehrdienst in die Bundeswehr überhaupt hineinführen? Dies vor allem heute, bei den Vorurteilen, die bei der jungen Generation gegen den Wehrdienst und gegen die Bundeswehr bestehen. Wenn die jungen Männer erst gedient haben, wenn ihre Vorurteile mindestens zu einem sehr großen Teil beseitigt sein werden, dann, glaube ich, wird sich die Zahl der Freiwilligen erheblich erhöhen.
Und schließlich darf ich noch auf einen Gesichtspunkt hinweisen, den die Herren Diskussionsredner, wenn ich mich recht erinnere, bisher noch nicht gewürdigt haben. Meine Damen und Herren, was nützt uns ein Berufsheer, das hochqualifiziert sein mag, aber im Ernstfall von Gefecht zu Gefecht an Wert verliert, weil überhaupt keine Reserven vorhanden sind? Und Reserven erst im Kriegsfall so kurzfristig auszubilden, wie es 1939 und später geschehen ist, ist doch sehr ungünstig und gegenüber den jungen Menschen gar nicht zu verantworten.

(Lebhafte Zustimmung bei den Regierungsparteien.)

Schließlich und endlich darf ich noch auf ein Argument kommen, von dem Sie glauben können und von dem Sie wissen, daß es mir besonders am Herzen liegt. Es ist das Verhältnis der Demokratie zu ihrer Armee. Gewiß, Herr Kollege Erler, wir haben in gemeinsamer Arbeit im Verteidigungsausschuß und durch den gemeinsamen Beschluß aller Parteien dieses Hohen Hauses eine Wehrverfassung geschaffen, die an parlamentarischer Kontrolle das Stärkste darstellt, was jemals in Deutschland Gesetz geworden ist. Ich glaube, daß diese Gesetzgebung im großen und ganzen gut war und daß sie sich bewähren wird.
Trotzdem und auch, weil ich Jurist bin, möchte ich bemerken: Ich vertraue, was das Verhältnis von Armee und Staat und die innere Struktur der kommenden Bundeswehr betrifft, nun einmal nicht allein und nicht einmal in erster Linie auf Paragraphen. Gewiß sind Paragraphen notwendig. Es geht nicht ohne Verfassung und Gesetz. Darum haben wir sie ja beschlossen. Aber was noch wichtiger ist und was sich im Rahmen der Paragraphen erst bewähren muß, das ist doch der Geist, der freiheitliche Geist der Truppe und das innerliche Bekenntnis zum demokratischen Staat.

(Zustimmung bei den Regierungsparteien.)

Ich will gar nicht so weit gehen — das wäre falsch —, zu behaupten, das sei in einem Berufs-


(Dr. Jaeger)

heer gar nicht möglich. Ich möchte die kommenden Berufssoldaten nicht in dieser Weise sozusagen beleidigen oder in die Ecke stellen. Nein, meine Damen und Herren! An sich ist das auch in einem Berufsheer möglich; aber es wird sich in einem Berufsheer vor allem am Anfang schwerer realisieren lassen. Denn der Unterschied ist doch nicht der, wie Herr Erler meinte, daß zu den Berufssoldaten noch ein paar hunderttausend Mann kommen, die ihnen unterstellt werden, sondern der Unterschied ist der, daß im Verlauf der Durchführung der Wehrpflicht neben die Berufsoffiziere und Berufsunteroffiziere die ebenso große oder noch größere Zahl der Reserveoffiziere und Reserveunteroffiziere als Vorgesetzte tritt und daß durch diese natürlich der Geist der Armee mit beeinflußt und mit gestaltet wird, also viel leichter im freiheitlichen und demokratischen Geist gestaltet werden kann. Denn auch der beste Berufssoldat steht genau so wie der beste Beamte, wenn er nur unter seinesgleichen ist, immer in der Gefahr, sich allmählich, ein wenig unfreiwillig vielleicht, abzusondern und abzukapseln. Es besteht die Gefahr, daß hier ein Staat im Staate entsteht, und umgekehrt besteht auch die Gefahr, die wir ja auch in der Reichswehrzeit hatten, daß auch die Öffentlichkeit an diesem Berufsheer desinteressiert ist und in ihm nur die Söldner sieht, die im Auftrage der Steuerzahler die Freiheit verteidigen. Das ist eine Auffassung, die wir nicht teilen, weil wir an der Idee des Staatsbürgers in Uniform festhalten.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Ich darf auf ein Wort des verstorbenen Kollegen Dr. Schumacher hinweisen, der gesagt hat: Der Verzicht auf die allgemeine Wehrpflicht und die Rückkehr zur Berufsarmee würde die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland empfindlich stören und ausgesprochen reaktionäre Tendenz haben.

(Hört! Hört! in der Mitte.)

Ein sehr beachtliches Wort. Herr Dr. Schumacher ist leider nicht mehr unter den Lebenden; aber der Herr Kollege Erler ist es erfreulicherweise und hoffentlich noch recht lange. Der Herr Kollege Erler hat in der Zeitschrift „Geist und Tat" im November 1955 auf Seite 328 ausgeführt: „Es wäre eine Illusion, die Wehrpflicht mit dem Mittel der Kriegsdienstverweigerung aushöhlen zu wollen; damit käme man automatisch zu einem reinen Freiwilligenheer, das wahrscheinlich innen- und außenpolitisch größeren Bedenken begegnet als eine Streitkraft, die einen wirklichen Querschnitt durch alle Schichten der Nation gibt."

(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)

Vor einem halben Jahr hatte also Herr Kollege Erler innen- und außenpolitisch — auch auf das letzte möchte ich Wert legen — stärkere Bedenken gegen das Freiwilligenheer als gegen das Berufsheer. Meine Damen und Herren, ich teile diese Bedenken auch heute noch.

(Heiterkeit in der Mitte.)

Im übrigen könnte man — —

(Abg. Erler: Gestatten Sie eine Frage?) — Bitte sehr!


Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0214307500
Ist Ihnen bewußt, Herr Kollege Dr. Jaeger, welchen entscheidenden Beitrag zur Überwindung dieser Bedenken Sie durch die gemeinsame Arbeit an der Neufassung des Grundgesetzes geleistet haben?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214307600
Herr Kollege Erler, aber doch höchstens zur Zerstreuung der innenpolitischen und nicht der außenpolitischen Bedenken!

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0214307700
Auch nicht! Zusammensetzung!

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214307800
Wenn ich mir die Reden gegen die allgemeine Wehrpflicht anhöre, die hier im Hause und vielleicht manchmal in schärferer Form draußen gehalten werden, dann möchte ich meinen, der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Schöpflin hätte am 30. Juni 1920 nicht zu den unabhängigen Sozialdemokraten, sondern zur heutigen SPD gesprochen, als er gesagt hat — —

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214307900
Herr Abgeordneter, ich glaube, er nannte sich Schöpf lin!

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214308000
Da ich damals zu jung war, um schon im Reichstag zuhören zu können, war mir das nicht bekannt. Ich kenne ihn nur geschrieben. Aber ich nehme das gern an, Herr Professor Schmid!
Der Herr Schöpflin, ein Vorgänger von uns und vor allen Dingen von Herrn Kollegen Erler, hat damals gesagt: „ ... denn mit der Verdammung, die Sie heute der allgemeinen Wehrpflicht haben zuteil werden lassen, stellen Sie sich ... in Widerspruch zu dem, was bisher grundsätzlich sozialdemokratisch gewesen ist."

(Hört! Hört! in der Mitte.)

Nachdem der Herr Kollege Erler die Päpste bemüht hat, darf ich ja wohl die Kirchenväter des Sozialismus bemühen!

(Große Heiterkeit und Beifall bei der CDU/ CSU. — Abg. Erler tritt an ein Saalmikrophon.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214308100
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214308200
Bitte schön, Herr Kollege!

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0214308300
Wenn Sie vorhin meine Rede gehört haben, Herr Kollege Jaeger, dann ist Ihnen doch sicherlich nicht entgangen, daß der in der Erinnerung dem Range nach wichtigere „Kirchenvater" Kautsky im Jahre 1928, also später, genau das Gegenteil dessen ausgeführt hat, was Sie eben von Herr Schöpflin dargelegt haben. Nehmen Sie also die spätere Äußerung!

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214308400
Wir wollen das dann aber auch beim Papst Pius XII. tun, Herr Erler!

(Erneute große Heiterkeit und Beifall in der Mitte und rechts.)

Schließlich und endlich möchte ich auch noch zu dem Problem der Abrüstung ein Wort sagen. Eben der Herr Kautsky wurde ja von Ihnen zitiert mit seinen Worten gegen das allgemeine Wettrüsten, das so gesteigert würde. Meine Damen und Herren, Herr Kautsky hatte damit recht.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214308500
Kautsky?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214308600
Ja, Kautsky! — Das allgemeine Wettrüsten war die Situation des 19. Jahrhunderts. Aber heute haben wir doch eine ganz andere Situation. Heute geht es doch darum, daß wir den Rüstungsvorsprung, der im Osten geschaffen worden ist, im Sowjetblock, aber erstaunlicherweise auch in der sogenannten Deutschen Demokratischen


(Dr. Jaeger)

Republik, einmal einholen. Das ist doch unsere Situation.

(Abg. Baur [Augsburg]: Worin liegt da der Unterschied?)

- Der Unterschied ist der, daß damals alle von einer gleichen Basis ausgegangen sind, Herr Kollege, und sich in der Rüstung gesteigert haben, während nunmehr drüben im Osten eine große Rüstung steht, der Westen aber nach dem letzten Weltkrieg abgerüstet hatte, Deutschland sogar total, und wir nunmehr, nachdem wir bedroht sind — die Bedrohung werden Sie ja nicht bestreiten —, nachholen müssen.

(Abg. Baur [Augsburg]: Eine Annahme von Ihnen! — Gegenrufe von der CDU/CSU: Oho!)

Nichts könnte das besser beweisen als zwei Bilder der Berliner „Morgenpost" vom gestrigen Tag; oben ist ein Bild „Waffengeklirr im Osten", wo man die neue Volksarmee in einer der alten deutschen Uniform sehr ähnlichen Uniform hochbewaffnet mit Panzern sieht; und unten friedlich eine Westberliner waffenlose Versammlung, die allerdings mit Recht das Transparent führt „Neutralität ist Selbstmord". Wenn ich aber gar in einer anderen Zeitung — es ist der „Tagespiegel" vom gleichen Tag — ein Bild sehe, das nicht nur Soldaten in Uniform zeigt, sondern auch „Funkmädchen" — früher nannte man so etwas „Blitzmädchen" — in Uniform — wir haben das grundgesetzlich verboten —, dann weiß ich doch, was die Stunde geschlagen hat und welche Bedrohung für uns besteht.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Wenn Herr Mende meint: „Nicht so und nicht jetzt", dann kann ich wenigstens zu dem letzteren sagen: Wie lange wollen Sie noch warten, wenn man im Osten schon so weit angefangen hat?

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Nun das Nächste! Sie sagen, es sei sinnlos, in Deutschland aufzurüsten, während die Welt sich anschicke, abzurüsten. Sie haben es nicht wörtlich so gesagt, aber so war der Sinn. — Nun, ob die Welt sich anschickt, wissen wir nicht; wir können und wir wollen es hoffen. Aber die Ernsthaftigkeit der russischen Abrüstungsvorschläge ist noch nicht bewiesen. Ich meine, wenn sich die Sowjetunion überhaupt zu einer Abrüstungskonferenz bereit gefunden hat, dann schließlich und endlich, weil sie sieht, daß der Westen nicht weiterhin schläft, sondern sich einigt und bemüht, auch eine Macht darzustellen.

(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)

Je stärker diese Macht zu werden verspricht, um so eher wird man, wenn überhaupt, im Osten bereit sein, ernsthaft in Abrüstungsgespräche einzutreten. Wenn wir in einigen Wochen, wenn das Gesetz aus dem Ausschuß zurückkommt, die Wehrpflicht beschließen, dann ist damit die Abrüstung in London keineswegs gefährdet. Denn nach den Planungen — hoffentlich gehen sie in Erfüllung — werden wir zum 31. Dezember fast 100 000 Soldaten haben, und ein Jahr später werden es 200 000 Soldaten sein. Wenn wirklich bis zum Ablauf dieses oder des nächsten Jahres eine Abrüstungsvereinbarung herauskäme, dann müßten wir ja gar nicht abrüsten, sondern es würde bei dem Stand bleiben, den wir dann haben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)

Denn das Gesetz führt zwar die allgemeine Wehrpflicht ein, zwingt uns aber nicht, 500 000 Mann aufzustellen, sondern das liegt dann immer noch in unserem Belieben, läge im übrigen auch noch im Belieben des Gesetzgebers, der dann das Gesetz ja revidieren könnte.

(Abg. Schröter [Wilmersdorf] : Ich denke, wir müssen! Das hat man uns immer erzählt!)

— Sie wissen doch genau, Herr Schröter, daß der Außenminister Dulles gesagt hat: wenn eine internationale Vereinbarung zustande kommt, wird Deutschland nicht mehr müssen. Also, wenn sie zustande käme — ich wage es kaum zu glauben, sosehr ich es hoffen möchte —, würde die Sache eine andere sein.
Wenn dann Herr Erler sagte, der Osten sei juristisch immer nachgezogen, je nachdem, was wir getan hätten — bei der Verfassung, der Souveränität und einer Reihe anderer Fragen —, aber sozial und politisch sei allerdings der Osten im Schaffen von Tatsachen vorausgegangen, dann kann ich nur fragen: was ist nun in dieser Welt wichtiger, politische und soziale Tatsachen oder der juristische Mantel, den man darum hängt? Wir leben in einem Rechtsstaat. Wir können politische und soziale Verhältnisse nur durch Recht und Gesetz schaffen, denn daran ist die Initiative des Staates gebunden. Im Osten lebt man nicht in einem Rechtsstaat. Da kann man sich tarnen und es unter der Decke machen; die Volkspolizei in ihrer Existenz beweist es ja am besten. Im übrigen darf ich hierzu nur den Kollegen D r. Mende zitieren, hoffentlich ist es noch gültig.

(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)

1m „General-Anzeiger" vom 23. März dieses Jahres wird aus einer Versammlung, in der er offenbar gesprochen hat, berichtet:
Man solle sich jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der Sowjetzone ohnehin bereits ein so hohes Maß „freiwilligen Zwanges" bei der Einstellung in die Volksarmee sichtbar sei, daß die formelle Einführung der Wehrpflicht in der Sowjetzone nur die Legalisierung eines bereits bestehenden Zustandes bedeuten würde.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214308700
Gestatten Sie eine Frage, Herr Abgeordneter?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214308800
Bitte sehr, gern.

Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0214308900
Ist dem Herrn Kollegen Jaeger entgangen, daß ich das vor einer Stunde in meiner Rede wörtlich wiederholt habe?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214309000
Immerhin ist bereits eine Stunde vergangen!

(Heiterkeit und Beifall in der Mitte.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214309100
Gestatten Sie eine zweite Frage, Herr Abgeordneter?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214309200
Bitte sehr, gerne!

Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0214309300
Glaubt Herr Kollege Jaeger, daß er mit diesem kabarettistischen Stil dem Parlamentarismus dient, den er als Vizepräsident besonders zu vertreten hat?

(Oho-Rufe in der Mitte.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214309400
Erlauben Sie mir die Gegenfrage! Wer hat mit der Kabarettistik in der Wehrpolitik angefangen? Sicherlich nicht wir von der Regierungskoalition!

(Große Heiterkeit und Beifall in der Mitte.)



(Dr. Jaeger)

Meine Damen und Herren, ich will, wenn ich noch einmal mit einem kurzen Wort auf die Stellung der Sozialdemokratie zurückkommen darf, die ja nur einmal in sechzig Jahren ihre Meinung auf diesem Gebiet ändert — bei anderen geht es schneller —, nur noch einen der vorhin zitierten sozialistischen Kirchenväter anführen. Julius Leber, der ja ein Blutzeuge der Freiheit ist, hat in der „Gesellschaft" im Jahre 1929 auf Seite 125 geschrieben:
Seit Übernahme der Macht im Jahre 1918 ist die Partei
- er meint die Sozialdemokratie —
aus den Schwierigkeiten mit dem Wehrproblem nicht herausgekommen. Zum Teil hat das seine Gründe in der verwickelten Natur des Problems selbst. Aber auch eigene Schuld und eigenes Versäumnis haben dabei ihre verhängnisvolle Rolle gespielt.... In der Opposition kümmern wir uns gewöhnlich überhaupt nicht um den ganzen Fragenkomplex, höchstens nützen wir ihn zu stimmungsmäßig sehr dankbarer Propaganda.
Ich will, weiß Gott, nicht behaupten, daß die SPD sich heute in der Opposition nicht um die ganzen Probleme kümmere.

(Abg. Wehner: Aber warum sagen Sie es denn jetzt?)

- Wegen des zweiten Teils, Herr Wehner, den Sie offenbar überhört haben. Die stimmungsmäßig sehr dankbare Propaganda macht z. B. Herr Kollege Kühn im bayerischen Rundfunk drei Tage vor den bayerischen Kommunalwahlen, um von anderem zu schweigen.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Meine Damen und Herren, wenn wir vor dieser Entscheidung stehen — —

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214309500
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214309600
Bitte! Aber ich weiß nicht, woher. — Bitte, Herr Erler!

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0214309700
Herr Kollege Dr. Jaeger, da wir alle heute mit Zitaten sehr gelehrig sind,

(Abg. Dr. Jaeger: Sie fingen an!)

hätte ich auch gerne einmal gewußt, ob Ihnen der Ausspruch eines von Ihnen sehr verehrten Mannes bekannt ist:
Die Bundesregierung erklärt ferner ihre feste Entschlossenheit, die Entmilitarisierung des Bundesgebietes aufrechtzuerhalten und mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln die Neubildung eigener Militärstreitkräfte zu verhindern.

(Hört! Hört! bei der SDP.)

Bundeskanzler Dr. Adenauer in 'q" 18. Sitzung des Bundestages im Jahre 1949! Meinen Sie also nicht auch, daß mitunter auch bei Ihnen veränderte Situationen zu veränderten Handlungen führen?

(Beifall bei der SPD und beim GB/BHE.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214309800
Tempora mutantur!

(Zurufe von der SPD: Na also! — Zurufe rechts: Aber für alle!)

— Meine Damen und Herren, es hat sich aber
meines Erachtens nicht geändert, daß die Wehrpolitik Sache einer stimmungsmäßig sehr dankbaren Propaganda ist.

(Abg. Mellies: Das ist aber eine bequeme Ausflucht!)

Meine Damen und Herren, die Entscheidung, vor der wir stehen werden, die Entscheidung für die Wehrpflicht, ist, weiß Gott, ich sagte es schon, unpopulär. Wenn wir den bequemen Weg gingen, würden wir die Entscheidung bis nach der Bundestagswahl vertagen.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Aber ich glaube, Politiker haben nicht den bequemen Weg, sondern den richtigen Weg zu gehen,

(Beifall bei den Regierungsparteien)

und ein Staatsmann hat nicht an die nächste Wahl zu denken, sondern in erster Linie an die nächste Generation, an ihr Leben und ihre Freiheit.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214309900
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214310000
Bitte sehr!

Wilhelm Mellies (SPD):
Rede ID: ID0214310100
Herr Kollege Dr. Jaeger, ist Ihnen bekannt — —

(Auch Abg. Dr. Mende hat sich an ein Saalmikrophon begeben. — Zurufe von der Mitte: Die neue Koalition! — Große Heiterkeit in der Mitte.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214310200
Meine Damen und Herren, unter diesen Umständen muß ich wohl auch den Fragestellern das Wort erteilen?

(Anhaltende Heiterkeit.)

Es fragt nunmehr der Abgeordnete Mellies.

(Zuruf des Abg. Dr. Mende.)

— Nein, zunächst hat der Abgeordnete Mellies das Wort.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214310300
Von den beiden ist er doch der Stärkere!

Wilhelm Mellies (SPD):
Rede ID: ID0214310400
Herr Kollege Jaeger, ist Ihnen in dem Zusammenhang vielleicht bekannt, daß ein sehr prominentes Mitglied der Bundesregierung nach der Rückkehr aus Moskau erklärt hat, jetzt sei die Aufgabe, an die Wahl 1957 zu denken?

(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der Mitte: Na und?)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214310500
Es ist gut, wenn auch ein Mitglied der Bundesregierung daran denkt, nachdem die Opposition das schon seit längerer Zeit tut.

(Heiterkeit in der Mitte. — Zuruf von der Mitte: Das ist etwas anderes!)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214310600
Gestatten Sie nun eine Frage von rechts, Herr Abgeordneter?

(Heiterkeit.)


Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0214310700
Herr Kollege Jaeger, erinnern Sie sich der Zusammenkunft im Sommer vorigen Jahres, in der Sie den Herrn Bundeskanzler zu überzeugen versuchten, daß das Freiwilligengesetz


(Dr. Mende)

in diesem damaligen Zeitpunkt und in dieser Form nicht glücklich sei, als Sie ihm erklärten, Sie seien 41/2 Jahre Soldat gewesen, der Herr Bundeskanzler sei kein Soldat gewesen, der Herr Bundeskanzler Ihnen darauf entgegnete, und zwar sehr erregt: „Jawohl, Herr Jaeger, das stimmt! Soldat bin ich nicht gewesen, aber von Wahlen und Wahlkämpfen verstehe ich etwas, und deshalb brauchen wir das Freiwilligengesetz jetzt!"?

(Hört! Hört! bei der SPD. — Zurufe von der Mitte.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214310800
Herr Kollege Mende, ich will das gar nicht bestreiten, so ungefähr hat es sich abgespielt.

(Abg. Dr. Mende: Ich danke Ihnen für die Bestätigung!)

Aber, Herr Kollege Mende, ich möchte doch
einmal klarlegen — es ist heute das zweite Mai,
daß so etwas fällt —: daß ich es als nicht mit den
Geboten der Fairneß und Loyalität vereinbar halte, wenn ein ausgeschiedener Koalitionspartner,
der sechs Jahre eine gemeinsame Politik machte,

(lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

wenn also ein ausgeschiedener Koalitionspartner vertrauliche Beratungen vor den Ohren jener enthüllt, für die sie bestimmt damals nicht bestimmt waren.

(Lachen bei der SPD. — Lebhafte PfuiRufe. — Unruhe. — Abg. Schmidt [Hamburg] begibt sich an ein Mikrophon. — Abg. Dr. Dresbach: Das ist bei Herrn Mende so Usus!)

Meine Damen und Herren, ich darf zum Schluß kommen. Ich sagte — —

(Anhaltende Zurufe.)

— Bitte, Herr Schmidt, ich will Ihnen nicht enteilen!

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214310900
Herr Abgeordneter, in diesem Fall erteile i c h das Wort.

(Fortgesetzte Zurufe. — Glocke des Präsidenten.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214311000
Meine Herren, stören Sie doch Herrn Schmidt nicht, wenn er eine Frage stellen will!

(Glocke des Präsidenten.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214311100
Bitte, Herr Abgeordneter, stellen Sie Ihre Frage!

Helmut Schmidt (SPD):
Rede ID: ID0214311200
Herr Dr. Jaeger, Sie haben eben die Zwischenfrage von Herrn Dr. Mende mit einer Bewertung versehen. Aber Sie haben seine Feststellung immerhin bestätigt.

(Abg. Dr. Dresbach [zu Abg. Dr. Mende] : Das ist Ihr Anstand! — Weitere fortgesetzte Zurufe.)

— Ich will eine Frage stellen!

(Anhaltende Unruhe. — Glocke des Präsidenten.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214311300
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, Ruhe zu bewahren. Der Tag ist noch lang!

(Heiterkeit.)

Bitte, fahren Sie fort, Herr Abgeordneter Schmidt.

Helmut Schmidt (SPD):
Rede ID: ID0214311400
Ich möchte die Frage an Sie richten, Herr Dr. Jaeger, ob Sie — —

(Lebhafte Zurufe von der Mitte.)

— Ich stehe genau so leger da wie Ihr Kollege Dr. Jaeger. Ich nehme es ihm nicht übel, und ich nehme an, er nimmt es mir nicht übel, meine Herren!

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214311500
Ich habe es gar nicht bemerkt, Herr Kollege Schmidt!

(Anhaltende lebhafte Zurufe. — Unruhe.)


Helmut Schmidt (SPD):
Rede ID: ID0214311600
Wenn Sie glauben, daß der Kasernenhof schon im Parlament, in diesem Hause anfangen soll, dann, meine ich, sind Sie falsch gewickelt!

(Lebhafter Beifall bei der SPD. — Anhaltende Zurufe von der Mitte. — Abg. Dr. Seffrin: D a s ist der Kasernenhofton! — Weiterer Zuruf von der Mitte: Herr Präsident, ist das eine Zwischenfrage? — Glocke des Präsidenten.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214311700
Meine Damen und Herren, Sie beschweren sich über das Benehmen eines Kollegen. Es ist auch kein gutes Benehmen, den Präsidenten durch Zurufe zu kritisieren.

(Allseitiger Beifall.)

Bitte, stellen Sie Ihre Frage, Herr Abgeordneter!

Helmut Schmidt (SPD):
Rede ID: ID0214311800
Ich möchte die Frage an Sie richten, Herr Kollege Jaeger, ob Sie Ihre Bemerkung von vorhin über die Qualitäten eines Staatsmannes, der Entscheidungen wie z. B. die über die Wehrpflicht und das Freiwilligengesetz nicht im Hinblick auf Wahlkämpfe treffen dürfe, auch dann gemacht hätten, wenn Herr Kollege Mende Sie zuvor und nicht erst nachher an jene Besprechung mit dem Herrn Bundeskanzler erinnert hätte.

Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214311900
Mir ist der Sinn der Frage nicht ganz klar. Aber ich habe diese Bemerkung — ich kann die Frage jetzt sehr einfach beantworten —, daß man bei solchen Entscheidungen nicht an die Wahl, sondern an die nächste Generation denken sollte, bereits einmal in einer Debatte des 1. Deutschen Bundestags gemacht. Ich habe sie also auch vorher gemacht!

(Abg. Mellies: Aber immerhin vorsichtig und nicht so leicht nach staatsmännischen Verantwortungen rufen! — Weitere Zurufe von der SPD. — Unruhe.)

Meine Damen und Herren, nachdem ich versucht habe, allen Zwischenfragen gerecht zu werden — die Zwischenrufe kann ich nicht alle hören, weil kein Mikrophon da ist —, darf ich zum Schluß noch auf folgendes hinweisen: Wir sind alle in diesem Hause Demokraten. Die Sache der Freiheit ist uns heilige Überzeugung. Über dem NATO-Hauptquartier stehen die Worte: „Vigilia pretium libertatis". Ich glaube, das ist ein Bekenntnis aller Demokraten.

(Abg. Arnholz: Reden Sie Deutsch im Deutschen Bundestag!)

Wachsamkeit in Waffen ist nun einmal der Preis der Freiheit, zumindest im 20. Jahrhundert!

(Langanhaltender lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)



Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214312000
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schneider (Bremerhaven).

Herbert Schneider (CDU):
Rede ID: ID0214312100
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe die etwas schwierige Aufgabe, nachdem den ganzen Tag über schon viele Argumente vorgebracht worden sind, noch zu dem Thema Stellung zu nehmen und sie dabei andererseits nicht zu sehr zu strapazieren. Sie dürfen es mir aber nicht verübeln, wenn ich mich nicht auf eine wenige Sätze umfassende Erklärung beschränke.
Als stellvertretender Fraktionsvorsitzender der DP-Fraktion habe ich zu erklären, daß die DP-Fraktion sich für die Verteidigungspflicht aller Staatsbürger ausgesprochen hat. Dabei betrachtet sie die allgemeine Wehrpflicht als den Kern dieser allgemeinen Verteidigungspflicht. Die Fraktion geht dabei davon aus, daß die gegenüber unseren westlichen Verbündeten eingegangenen Verpflichtungen in jedem Falle zu realisieren sind. Sie verbindet damit gleichzeitig die Vorstellung, daß der vorliegende Entwurf Gesetz wird und daß wir ein Freiwilligenheer mit Wehrpflichtigen haben werden. Ich kann es mir versagen, auf diese Dinge noch näher einzugehen, da besonders der Herr Kollege Jaeger, aber auch einige andere Redner des Tages zu diesem Thema ausführlich gesprochen haben. Ich glaube auch, daß ich, nachdem für diese Konzeption schon so starke Momente im Raum stehen, darüber nicht näher zu sprechen brauche.
Persönlich habe ich aber folgendes hinzuzufügen. Es ist keineswegs mangelnder Mut, wenn ich sage, daß ich mich mit meiner Fraktion nicht in voller Übereinstimmung befinde. Ich bejahe die allgemeine Verteidigungspflicht jedes Staatsbürgers in diesem Staate. Ich möchte bemerken, daß der Ausdruck „Verteidigungspflicht" von meinen politischen Freunden bewußt gewählt wurde, weil er noch mehr umfaßt als die Wehrpflicht, nämlich beispielsweise auch die zivilen Dienste. Ich bin aber mit meinen Freunden nicht einer Meinung, weil ich glaube, daß die wehrpolitische Konzeption nicht von der Entscheidung: „allgemeine Wehrpflicht oder nicht?" zu trennen ist. Das ist ein Umstand, der allerdings von vielen Befürwortern der allgemeinen Wehrpflicht verneint wird.
Ich glaube außerdem, daß die wehrpsychologische Situation — auch das muß man bedenken — im Augenblick leider nicht dazu angetan ist, besondere Freude an dem hier zu vertretenden Gedanken zu erwecken. Aber das ist eine Sache, über die man hinweggehen könnte, da die Politik, jedenfalls die große Politik — und das hier ist ein Stück große Politik — nicht mit Sentiments gemacht werden, sondern nur den nüchternen und realen Tatsachen folgen kann.
Ich kann mich mit dem vorliegenden Gesetz deswegen nicht identifizieren, weil ich der Meinung bin, daß damit praktisch die 1945 beendete Tradition wieder aufgenommen wird, d. h. also, daß man hiermit praktisch eine Bundeswehr oder Wehrmacht alten Stils aufbauen will. Ich bitte, das so zu verstehen, daß die heutigen Gegebenheiten eine Auseinandersetzung, eine andere Organisation der Wehrmacht erfordern. Deshalb bin ich persönlich, wie ich durch einen Plan, der sich „Schwert und Schild" nennt und den ich der Öffentlichkeit übergeben habe, gezeigt habe, für ein Berufsheer im Zusammenhang mit einer allgemeinen Dienstpflicht, für eine territoriale Wehr.
Die Auseinandersetzungen heute in diesem Hause haben gezeigt, wie bedauerlich es ist, daß wir über dieses Thema so kurz vor den Bundestagswahlen sprechen müssen; denn wir wollen uns nichts vormachen: da und dort ist die Wahl doch etwas durchgeschimmert. Ich muß jener Zeitungsschreiberin recht geben, die vor acht Tagen schrieb, daß es besser gewesen wäre, diese ganze Frage einer Royal Commission, wie man sie in England bei solchen Anlässen einzusetzen pflegt, zur sachlichen Prüfung zu übergeben. Das wäre der Sache sicherlich dienlicher gewesen.
Der Herr Kollege Erler hat hier heute vormittag in teilweise — jedenfalls äußerlich — dramatischen Ausführungen das Parlament beschworen, von dieser Vorlage abzusehen. Ich möchte diese Äußerungen aber nicht so dramatisch nehmen, Herr Kollege Erler; denn bei der bekannten Einstellung Ihrer Partei zur Außenpolitik der Bundesregierung kann man sicherlich ein Stück dieser Dramatik abschreiben. Ich bin mit Ihnen der Auffassung, daß es bedauerlich ist, daß wir heute ein allgemeines Wettrüsten in der Welt haben. Sie werden aber andererseits — so klug schätze ich Sie ein — zugeben, daß diese 500 000 Mann, die die Bundesrepublik gegebenenfalls aufstellen will, nicht etwa den entscheidenden Teil dieses Wettrüstens bedeuten. Sie werden ebenfalls zugeben, daß angesichts der Verhältnisse in der sowjetisch besetzten Zone, wo man sich bereits seit Jahren bis an die Zähne bewaffnet hat, nicht ohne weiteres auf einen Schutz in Westdeutschland verzichtet werden kann. Und ich stimme besonders darin mit Ihnen überein, Herr Kollege Erler, daß, wie Sie heute morgen feststellten, die psychologische Kriegführung, wenn ich es einmal so nennen darf, die der Westen betreibt, leider weit hinter derjenigen des Ostens zurückbleibt.
Tatsächlich hätte sich beim Überbordwerfen des Stalinkults eine günstige Gelegenheit für die westliche Politik geboten, hier einzuhaken und nun ihrerseits auch einmal zur Offensive vorzugehen. Auch ich befürchte, daß dieser Zeitpunkt verpaßt ist. Ich habe, meine Damen und Herren, schon bei den Beratungen des Soldatengesetzes hier zum Ausdruck gebracht, daß wir zwar die bessere Sache im Westen zu vertreten haben, daß wir aber leider die Mittel, mit denen wir sie vertreten, immer sehr schlecht wählen.
Herr Kollege Erler, ich glaube auch, in der Annahme nicht fehlzugehen, daß trotz aller Bedenken, die Sie heute morgen vorgebracht haben, letzten Endes auch in der Sozialdemokratischen Partei und Fraktion die Auffassung herrscht, daß das Problem der Verteidigung nicht ohne weiteres mit einer Handbewegung beiseite geschoben werden kann. Es wurde heute morgen weiter davon gesprochen, daß eine erhebliche Unruhe in der Bevölkerung sei. Meine Damen und Herren, das kann man nur bestätigen. Es wäre töricht, über diese Tatsache einfach hinwegzusehen. Ich glaube, daß diese Unruhe ihre Begründung weniger darin hat, daß die Bevölkerung, die damals mit überwiegender Mehrheit ihre Stimmen den sogenannten bürgerlichen Parteien gegeben hat, nun erkennen muß, daß die Wiederbewaffnung auf sie zukommt, als vielmehr in der Tatsache, daß wir inzwischen unsere Souveränität wiedererlangt haben und nun politisch selbstverantwortlich handeln müssen.
Meine Damen und Herren, es war gewiß nicht immer schön in den letzten zehn Jahren, auf Kommando der Alliierten zu hören und zu handeln. Es ist sicher sehr schön, immer frei zu sein, die Hand-


(Schneider [Bremerhaven])

lungsfreiheit zu haben. Auf der andern Seite ist aber auch das selbstverantwortliche Handeln sehr viel schwerer, und deswegen tun wir uns auch jetzt in dieser Frage schwer, die wir hier zu behandeln haben. Ich glaube aber, Herr Kollege Erler, daß, wenn wir den Schatz der Freiheit horten wollen, wir dann auch einen Wächter vor die Tür stellen müssen. Das wird auch von Ihnen nicht bestritten werden können.
Es muß dann auch gesagt werden, daß in psychologischer Hinsicht, d. h. in der psychologischen Vorbereitung der Öffentlichkeit auf diese hier zu behandelnden Dinge sehr viele Nachlässigkeiten passiert sind, die wir allesamt heute auszubaden haben. Ich will es mir versagen, im einzelnen all das zu wiederholen, was einer meiner Herren Vorredner hier hinsichtlich der Behandlung der ehemaligen Soldaten, der Kriegsverurteilten, der Kriegsbeschädigten, der 131er, auch der Waffen-SS usw. gesagt hat. Das alles sind Punkte, die im Volke rumoren und über die man nicht mit einer Handbewegung hinweggehen kann. Letzten Endes ist es wohl die sogenannte „Umerziehung", die uns ja in erheblichem Umfang zuteil geworden ist, die jetzt den Deutschen sich nicht daran gewöhnen läßt, daß er wieder eine Uniform anziehen soll.
Wenn allerdings mit Schlagworten oder Parolen wie etwa der, daß die Wehrpflicht das legitime Kind der Demokratie sei, versucht wird, der Öffentlichkeit klarzumachen, daß sie den Waffendienst leisten müsse, dann darf ich einmal mit allem gebotenen Respekt daran erinnern, daß derjenige, der diesen Ausspruch getan hat, auch einmal gesegt hat, daß nie wieder ein deutscher Mann eine Waffe in die Hand nehmen würde. Abgesehen hiervon reicht es auch nicht, daß man mit solchen Beteuerungen die Wehrbereitschaft im Volke zu wecken versucht.
Auch der Herr Bundesverteidigungsminister hat heute morgen in einem Appell gesagt, der Deutsche sei noch immer bereit gewesen, die Waffe zu tragen bzw. das Vaterland zu verteidigen, wenn er gerufen worden sei. Auch mit einem solchen Appell allein wird man die Wehrbereitschaft nicht fördern, weil im Hintergrunde zuviel psychologisch Nachteiliges steht, was heute noch nicht ausgeräumt ist.
Man kann auch nicht im gleichen Atemzuge sagen, daß etwa das Berufsheer ein Staat im Staate und damit eine Gefahr für die Demokratie würde. Ich habe bereits bei der Beratung des Soldatengesetzes gesagt, daß wir allesamt mehr Vertrauen zu uns selbst und zu unserer Demokratie haben sollten und daß wir dann auch keine Angst zu haben brauchten, daß uns etwa die Wehrmacht über den Kopf wächst. Hier treffe ich mich auch mit dem Kollegen Erler, der das heute morgen schon unterstrichen hat.
Vom Kriege selbst gezeichnet, glaube ich, daß nur ein Narr behaupten kann, daß wir in der Situation, in der wir uns befinden, etwa darauf verzichten können, uns zu verteidigen. Allerdings bringt die Vorstellung der sogenannten Wehrpflicht auf Grund der überkommenen Dinge, die damit zusammenhingen, immer leicht das Bild, daß damit nur Kommiß und Drill sowie all die Unbequemlichkeiten gemeint seien, die das Soldatsein mit sich bringt, das Herausgerissenwerden aus dem Beruf usw. Auch aus diesem Grunde muß einmal mit Deutlichkeit festgestellt werden, daß das Parlament auf der einen Seite versuchen muß, all diese Unbequemlichkeiten auf ein Mindestmaß herabzusetzen, daß es auf der andern Seite aber auch mit Nachdruck dem in der Öffentlichkeit weit verbreiteten Irrtum entgegentreten muß, die Einführung einer Dienstpflicht oder Wehrpflicht oder Verteidigungspflicht sei gleichbedeutend mit der Ausrufung des Krieges. Aus diesem psychologischen Grunde und um darzutun, daß das, was wir vorhaben, absolut nur aus dem Grunde geschieht, um unsere freiheitliche Ordnung und unseren freiheitlichen Lebensraum zu verteidigen, spricht sich meine Fraktion für eine Verteidigungspflicht aller Staatsbürger aus; denn keiner, kein anständiger Bürger jedenfalls, vor die Frage gestellt, ob er bereit ist, Haus und Hof und Frau und Kind gegebenenfalls zu verteidigen, kann diese Frage mit Nein beantworten.

(Sehr richtig! in der Mitte.)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist vorhin sehr viel Humoriges passiert. Auch ich möchte etwas zum Humor beitragen.

(Zuruf von der SPD: Können Sie das auch?)

Die zackige Kehrtwendung des Kollegen Mende ist natürlich nicht verborgen geblieben. Er ist ja ein guter Soldat gewesen. Er ist es offenbar noch heute, denn wer so zackige Kehrtwendungen machen kann, ist eben ein guter Soldat!

(Heiterkeit. — Abg. Dr. Menzel: Das ist ja ein schönes Kriterium!)

Herr Mende, nehmen Sie das durchaus freundschaftlich. Sie haben sich ja noch vor kurzer Zeit absolut für die allgemeine Wehrpflicht ausgesprochen — „Welt am Sonntag"! Ich will es aus Zeitgründen hier nicht vorlesen. Ich freue mich aber aufrichtig, daß sie zwar grundsätzlich den Gedanken bejahen, aber doch offenbar auch fortschrittlicheren Ideen im Rahmen dieser Verteidigungspflicht zugänglich sind.

(Abg. Dr. Mende: Ich danke Ihnen für die faire Feststellung, die sich wohltuend von der Ihres Herrn Vorredners unterscheidet! — Oh-Rufe bei der CDU/CSU.)

Jedenfalls habe ich das daraus entnommen, Herr Kollege Mende, daß sie zahlreiche Dinge von dem zitiert haben, was ich kürzlich in Verteidigungssachen zum besten gegeben habe.

(Abg. Eschmann: Wie ist es mit Ihrer eigenen Kehrtwendung?)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214312200
Meine Damen und Herren, ich mache Ihnen den Vorschlag, daß wir einander künftig keine Gewissensfragen mehr stellen. Es sind hier solche Fragen gestellt worden. Ich glaube nicht, daß das eine gute Sache ist. Wir sollten uns auf sachliche Fragen beschränken; wir würden damit den Beratungen dieses Hauses einen Dienst erweisen. — Aber sie können natürlich die Frage beantworten.

Herbert Schneider (CDU):
Rede ID: ID0214312300
Wenn Herr Kollege Eschmann mich fragt, wie es mit meinen eigenen zackigen Kehrtwendungen sei, dann kann ich dazu nur sagen, daß ich von Anfang an meine eigenen Gedanken hatte, die ich konsequent auch in meiner Fraktion vertreten habe, und daß ich bisher keine Kehrtwendung gemacht habe.

(Abg. Eschmann: Nennen wir es Strammstehen!)



Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214312400
Herr Abgeordneter, Kollege Mende möchte Sie etwas fragen.

Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0214312500
Herr Kollege Schneider, darf ich Sie etwas fragen?

(Abg. Schneider [Bremerhaven]: Bitte!)

Ist Ihnen bekannt — Sie waren ja leider nicht im 1. Bundestag —, daß der 1. Bundestag nicht nur im Dezember 1949 einstimmig jegliche Bewaffnung abgelehnt hat, sondern im Frühjahr 1950 sogar das Verbot der Herstellung von Kriegsspielzeug fast einstimmig verabschieden wollte, daß also Kehrtwendungen im Grunde genommen auch zum Wesen der Dynamik der Politik gehören können?

Herbert Schneider (CDU):
Rede ID: ID0214312600
Herr Kollege Mende, was Sie sagten, ist mir bekannt. Es wird aber auch Ihnen nicht unbekannt sein, daß die Weltpolitik ihrerseits inzwischen einige gewaltige Kehrtwendungen gemacht hat, die es erfordern, daß man sich entsprechend darauf einstellt.

(Zustimmung bei der CDU/CSU.)

Meine Damen und Herren! Wir haben das Glück im Unglück, daß wir mit unserer Wehrplanung ganz von vorn anfangen können. Da wäre es bedauerlich, wenn wir dort anfingen, wo wir 1945 aufgehört haben. Ich weiß, daß meine Fraktion mich deswegen tadeln wird, weil ich das so offen ausspreche. Aber wir sind hier, um unsere Meinung zu sagen; es steht also den Betreffenden, die sich hier vielleicht für die von der Regierung vorgelegte Konzeption des breiteren aussprechen wollen, frei, das zu tun. Ich halte es für meine Pflicht, obwohl der überwiegende Teil meiner Freunde anderer Auffassung ist als ich, einen Diskussionsbeitrag zu dem zu liefern, was wir hier alle zum Besten unseres Volkes tun wollen. Ich würde es bedauern, wenn ein solcher Beitrag, gleichviel, von welcher Seite er kommt, etwa dahin gedeutet würde, man wünsche nur, seinen eigenen Kopf durchzusetzen oder sich interessant zu machen oder was immer Sie denken. Ich glaube, diese Dinge können gar nicht tief genug ausdiskutiert werden, damit wir auf der Seite den Steuerzahler nicht strapazieren, auf der andern Seite den militärischen Notwendigkeiten bestmöglich gerecht werden.
Es wird von den Gegnern des Berufsheeres, also auch vom Bundesverteidigungsministerium, in die Debatte geworfen, die Kosten seien so immens, daß man sie nicht aufzubringen vermöge. Ein wirklicher Beweis für diese Behauptung, meine Damen und Herren, ist bis heute nicht angetreten worden. Dagegen stelle ich fest, daß man, wenn man in der jetzt vorgesehenen Form die 500 000 Mann aufstellen würde, gar nicht darum herumkäme, auch die Unterbringung dieser Bundeswehr praktisch im alten Stil vorzunehmen, was wiederum bedeuten würde, daß wir auf der einen Seite erhebliche materielle Unkosten hätten, auf der andern Seite den heutigen militärischen Gegebenheiten nicht gerecht würden.
Ich darf vielleicht daran erinnern — dieses Argument ist heute vormittag mit Recht schon vorgebracht worden —, daß seit der Nichtverabschiedung der EVG-Verträge doch einige Jahre vergangen sind und daß man damals, als man drauf und dran war, die EVG zu verabschieden, noch nicht, jedenfalls nicht in diesem Umfang, mit dem Atomzeitalter oder Atomkrieg rechnen konnte. Insonderheit möchte ich den Gegnern der sogenannten Territorialarmee oder Miliz entgegenhalten, daß diese Frage bis zum heutigen Tage mit der NATO ja überhaupt noch nicht erörtert worden ist, jedenfalls nicht so erörtert worden ist, daß sich die NATO ein abschließendes Urteil über eine solche Verteidigungsplanung gemacht hätte.
Kollege Berendsen, der sicherlich nachher auch noch das Wort nehmen wird, hat im Hinblick auf die Forderungen nach einer territorialen Wehr, nach der Miliz, kürzlich vom organisierten Massenmord gesprochen. Meine Damen und Herren, das war ein sehr böses Wort, das man, selbst wenn man vom krassen Gegenteil des Nutzens überzeugt ist, nicht gebrauchen sollte. Herr Kollege Berendsen, kein Mensch denkt etwa an den Volkssturm, wenn von territorialer Wehr gesprochen wird, und Sie werden mir zugeben, daß die Stimmen in allen Fraktionen, auch in Ihrer eigenen, sich doch zu mehren beginnen, die sich fragen, ob die Art und Weise, wie die militärische Planung gemacht wird, die richtige ist.
Meine Damen und Herren, wir haben doch zweierlei zu berücksichtigen. Die Lage der Bundesrepublik innerhalb der NATO ist ganz besonders exponiert, da wir die Anrainer des Eisernen Vorhanges sind. Wir müssen einmal die Interessen der NATO berücksichtigen. Wir müssen auf der andern Seite das Interesse der Bundesrepublik selbst berücksichtigen. Wir müssen die NATO-Verteidigung berücksichtigen, die eine bewegliche Verteidigung mit operativen Kräften ist, die ich in meinem Plan „Schwert" genannt habe, und wir müssen die Bundesrepublik selbst berücksichtigen, die einen Schutz gegen etwaige Schläge operativer Kräfte von der andern Seite hat, d. h. wir müssen in ständiger Bereitschaft an vorderster Stelle jedenfalls die territoriale Wehr haben, die sogenannte Schild-Verteidigung.
Wenn hier im Laufe der Debatte schon gesagt worden ist, daß man sich doch, nachdem das atomare Gleichgewicht hergestellt sei, mehr oder minder nur auf eine konventionelle Auseinandersetzung, vor der uns Gott natürlich auch behüten möge, einzurichten brauche, dann möchte ich nachdrücklichst den Standpunkt vertreten, daß wir uns, wenn wir schon eine Verteidigungsplanung machen, auch auf das Schlimmste einrichten sollten. um nachher nicht überrascht zu werden. Der Kollege Jaeger hat ganz recht vorhin hier gesagt, daß man sich die Freiheit etwas kosten lassen müsse, und es ist nun leider einmal ein Zeichen des 20. Jahrhunderts, daß auch die Freiheit und besonders die Freiheit so viel kostet wie nichts anderes. Ich glaube jedenfalls, daß, wenn es zu einer solchen atomaren Auseinandersetzung käme, ein Operieren etwa von Massenstreitkräften oder Massenheeren ein Unding wäre. ganz abgesehen davon, daß bei der 1000 km langen Front, die wir allein hier im Westen haben. ein Halten mit operativen Kräften allein nicht möglich sein würde, und abgesehen davon, daß eine atomare Auseinandersetzung auch einen Frontkrieg gar nicht zulassen würde, sondern daß es sich um einen Krieg im Raum handeln würde, und in diesem Raum wird er Mensch weitestgehend durch die Maschine ersetzt.
Ich glaube, daß wir uns zumindest hier treffen, daß wir also höchst technisiert und modernisiert sein müssen. daß Feuerkraft, Schnelligkeit, Wendigkeit, Beweglichkeit und Schutz des einzelnen Kämpfers ganz hervorragend sein müssen, daß auf der andern Seite die operative Wehr die Möglichkeit haben muß, an bestimmten Brennpunkten schnellstens konzentriert zu werden, um zum Schlage auszuholen, auch schnell wieder dezentralisiert zu werden, um an anderer Stelle wieder eingesetzt zu werden und dort zum Schlage auszuholen. — also die sogenannte Schwert-Verteidigung. Allerdings wäre dieses Austeilen von Schlägen nutzlos, wenn wir uns


(Schneider [Bremerhaven])

nicht gleichzeitig darüber klar sind, daß wir eine ständige Verteidigung haben müssen. Diese Verteidigung muß verhindern, daß auch nur eine vorübergehende Preisgabe unseres Gebietes und damit unserer gesamten Bevölkerung erfolgt. Das wäre gleichbedeutend damit, daß die Substanz unseres Volkes und unseres Landes dahin wäre und daß praktisch zum Schluß, wenn überhaupt die Befreiung käme, nur noch ein Friedhof befreit werden könnte.
Es ist immer davon die Rede, daß auch das Bundesverteidigungsministerium einen zivilen Schutz vorsehe, daß insonderheit daran gedacht sei, Industrieanlagen entsprechend zu schützen. Ich persönlich bin fest der Überzeugung, daß, wenn es wirklich zu einer überraschenden atomaren Auseinandersetzung käme, die westdeutsche Industrie zum mindesten sehr schnell keine Rolle mehr spielen würde. Ich glaube dagegen, es ist notwendig, daß wir uns für einen solchen Fall rechtzeitig sichern, indem wir uns in Magazinen und atomsicheren Stellungen rechtzeitig all das bevorraten, und zwar für mindestens vier bis sechs Wochen, was die Bevölkerung zum Leben und was der Soldat zum Kämpfen braucht. Die Industrie in Westdeutschland wird sehr schnell außer Gefecht gesetzt sein, und es wird sogar sehr schwierig sein, etwa den Nachschub aus dem Westen zu erhalten. Auch da müssen wir uns auf eine gewisse, ich möchte einmal sagen, Durststrecke einstellen. Aber es wäre nicht zu verantworten, wenn wir bei der Aufstellung von Streitkräften, seien sie auch wie immer gegliedert, nicht gleichzeitig daran dächten, daß der Luftschutz und überhaupt der Schutz der Bevölkerung Hand in Hand mit der Aufstellung der Streitkräfte gehen muß.

(Abg. Schröter [Wilmersdorf] : Sehr gut!)

Ich glaube, daß in dieser Hinsicht doch noch einige Versäumnisse zu beheben sind, die nicht nur damit behoben sein können, daß beispielsweise das Bundesluftschutzgesetz im Entwurf vorliegt. Es möge niemand kommen und sagen: Wenn Sie die Bevölkerung atomsicher unterbringen wollen, wenn Sie riesige Magazine, Verpflegungs- und Munitionslager anlegen wollen, dann wird das Summen verschlingen, die wir niemals aufbringen können. Gewiß können wir uns nicht mit der Schweiz vergleichen, die auch in ähnlicher Form vorgesorgt hat. Aber ich kann nur immer wieder daran erinnern: wenn es überhaupt einen Sinn haben soll, daß wir Milliarden ausgeben, um uns einen Schutz zu schaffen, dann muß er so sein, daß er absolut intakt ist, und zwar sowohl für die Soldaten einerseits wie für die zivile Bevölkerung auf der andern Seite.
Niemand wird behaupten wollen, daß im Falle eines Überraschungsangriffs mit atomaren oder thermonuklearen Waffen etwa noch große Evakuierungen der Bevölkerung möglich sein könnten; niemand wird behaupten können, daß noch große Truppenverschiebungen stattfinden können. Es würde ein Chaos sein, auf das man sich am besten dadurch einstellt, daß man eben von vornherein in der reinen Verteidigung eine Konzeption schafft, die vorsieht, daß die Bevölkerung praktisch in ihrem eigenen Gebiet sich zu verteidigen gezwungen ist, soweit sie zur Verteidigung herangezogen werden kann.
Ich glaube auch, daß der Kampf im Raum, daß überhaupt eine etwaige Auseinandersetzung mit dem Osten doch eine Auseinandersetzung der beiden Weltanschauungen wäre. Zum mindesten würde es die gegnerische Seite nicht unterlassen, durch ihre getarnten Parteigänger im eigenen Lande und durch
Luftlandetruppen zu versuchen, Unruhe, und was derlei mehr ist, hier in unsere Verteidigungskonzeption zu bringen. Auch aus diesem Grunde ist es notwendig, daß wir eine ständig bereite Abwehr haben, ich betone: Abwehr — den Schild! —, die am besten durch eine Territorialarmee sichergestellt ist. Ich glaube, daß eine Verteidigungskonzeption — verzeihen Sie das banale Wort; es fällt mir im Augenblick kein anderes ein —, die auf der einen Seite das Berufsheer und auf der andern Seite eine Miliz oder territoriale Wehr vorsieht, wirklich die ideale Verteidigung im Hinblick darauf ist, daß wir an vorderster Front bei der Verteidigung der Freiheit und bei der Verteidigung des Westens stehen. Es hätte außerdem politisch den Vorteil, daß man uns niemals, auch nicht von gegnerischer Seite, den Verdacht eines Angriffs unterschieben könnte, bzw. es bestände nicht einmal die Möglichkeit eines solchen Angriffs.
Ich glaube darüber hinaus, daß die Miliz eine geringere Störung des Wirtschaftsablaufes bedeuten würde als die allgemeine Wehrpflicht. Der Verteidigungswille in der gesamten Bevölkerung wird gestärkt, da jeder weiß, daß er für Haus und Hof und Frau und Kind dort am Orte steht, wo er hingehört, und da er weiß, daß er im Frieden schon seinen Platz zugewiesen bekommt, so daß er auf Knopfdruck auch weiß, was er zu tun hat.
Ich möchte eine Schlußbemerkung machen. Der NATO-Oberbefehlshaber General Gruenther hat gesagt, daß, wenn es überhaupt zu einem Endkampf komme, die NATO natürlich nicht stark genug sei, Europa zu halten. Das Bundesgebiet werde wahrscheinlich aufgegeben werden müssen; hinterher könne man es wahrscheinlich wieder befreien. Überraschenderweise hat diese nüchterne Wahrheit aus dem Munde des NATO-Befehlshabers in der Bundesrepublik damals einen Sturm heraufbeschworen, der sich aber schon wieder beruhigte, als der SHAPE-Sprecher den Worten Gruenthers die Auslegung gab, daß mit der Aufstellung der 12 deutschen Divisionen die Situation eine ganz andere sei, d. h. daß die Bundesrepublik dann verteidigt werden könne, wenn dazu noch die Genehmigung zur Verwendung von Atom- und Wasserstoffbomben gegeben werde.

(Abg. Feller: Hört! Hört!)

Meine Damen und Herren, es bedarf eigentlich keines Urteils militärischer Fachleute — jeder einzelne, der im Osten gekämpft hat, wird es sich selbst ausrechnen können —, festzustellen, daß eine über 1000 km lange deutsche Grenze auch mit 30 Divisionen gegen 200 Divisionen des Gegners nicht starr verteidigt werden kann. Das ist bei der Berücksichtigung der konventionellen Kriegführung sowieso ein einfaches Rechenexempel. Der SHAPE-Sprecher hat deswegen wohl auch hinzugefügt: und wenn die Genehmigung zur Anwendung der Atom- und Wasserstoffbomben gegeben wird. Das heißt, die Verteidigung der Bundesrepublik ist nach diesem Plan praktisch überhaupt nur möglich, wenn der Atomkrieg entfesselt wird.
Meine Damen und Herren, man kann im Zweifel darüber sein, ob der Einsatz von A-Waffen wirklich der Garant der Verteidigung der Bundesrepublik ist. Eines aber würde er sicher bedeuten, nämlich den Beginn einer Vernichtungsaktion ungeahnten Ausmaßes; denn bekanntlich hat auch unser Gegner Atom- und Wasserstoffbomben. Diese Ausführungen des Generals Gruenther und des SHAPE-Sprechers beweisen jedenfalls, daß das Verteidigungsproblem jeweils in einem anderen Lichte er-


(Schneider [Bremerhaven])

scheint, je nachdem, ob man es durch die Brille der NATO oder durch die Brille der Bundesrepublik betrachtet.
Das Endziel der NATO ist es, den — verzeihen Sie den Ausdruck - Endsieg zu erringen. Ob dabei vorübergehend bestimmte Gebietsteile und damit auch Bevölkerungsteile unseres Landes verlorengehen oder nicht, darüber wird hinweggegangen, darüber muß auch im Rahmen dieser großen Planung hinweggegangen werden. Für die Bundesrepublik selbst ist die Situation aber insoweit eine andere, als sie in ihrer Gesamtheit vom Kriege in erster Linie betroffen wird. Gewiß geht es auch hier allerletzten Endes nicht darum, ob ein Meter Boden preisgegeben wird oder nicht, ob wichtiges Ackerland oder ob auch einmal eine wichtige Industrieanlage verlorengeht. Wir können uns, wie ich schon sagte, sowieso nicht selbst ernähren und auch unsere Rüstungsindustrie unter solchen Umständen mit allergrößter Sicherheit nicht weiterlaufen lassen. Es dreht sich also bei der Frage Berufsarmee, d. h.operative Armee als Schwert und territoriale Wehr als Schild, andereseits darum, daß wir die Substanz unseres Landes und Volkes erhalten können. Denn jeder Endsieg, auch der Endsieg der NATO wäre für uns wertlos, wenn die Substanz nicht mehr da wäre. Wie soll aber die Bevölkerung überleben, wenn sich die Kriegsfurie auf unserem Boden austobt und letzten Endes etwa eine Entscheidungsschlacht für den Endsieg in Südfrankreich geschlagen wird?
Ich glaube, daß neben der bisherigen NATO-Konzeption auch eine eigene Verteidigungskonzeption der Bundesrepublik selbst entwickelt werden müßte. Ich bitte den Herrn Bundesverteidigungsminster, es mir nicht zu verübeln — und auch den verantwortlichen militärischen Führern nicht —, wenn ich offen ausspreche: ich habe das Gefühl, daß man hier nicht genügend neue, den jetzigen und vor allen Dingen den künftigen Verhältnissen angepaßte Ideen hat.
In diesem Sinn, meine Damen und Herren, spricht sich meine Fraktion für die Verteidigungspflicht aller Staatsbürger aus. Ich betone zum Schlusse noch einmal, daß diese allgemeine Verteidigungspflicht, jedes einzelnen bei dem heutigen Stande der Waffentechnik, der Nachrichtentechnik und der Politik, der Weltpolitik schlechthin, eine unabweisbare Notwendigkeit ist und daß es notwendig ist, dem Volke klarzumachen, daß praktisch jeder schon im Frieden weiß, auf welchen Platz er gehört.
Auf der andern Seite möchte ich für mich persönlich, nicht für meine Fraktion, keinen Zweifel darüber lassen, daß ich glaube, daß dieses Ziel mit dem vorliegenden Wehrpflichtgesetz nicht erreicht werden kann. Ich möchte nochmals sagen, daß es, wenn es vielleicht zu spät sein sollte, noch über jene „Royal Commission" zu sprechen, die das Problem unabhängig von Politik und von sonstigen Einflüssen hätte untersuchen können, tatsächlich vielleicht ratsam ist, den Verteidigungsausschuß zu beauftragen oder einen irgendwie gearteten Verteidigungsrat zu bilden, um das Problem bis ins tiefste durchzudiskutieren, um sicherzustellen, daß unserem Volke und unserer Heimat der bestmögliche Schutz zuteil werden kann.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214312700
Das Wort hat zu einer kurzen Erklärung der Abgeordnete Eickhoff.

Rudolf Eickhoff (DP):
Rede ID: ID0214312800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, daß mein Freund Schneider zu Anfang seiner Ausführungen ganz eindeutig herausgestellt hat, daß die Fraktion der Deutschen Partei sich für die Einführung der Wehrpflicht ausgesprochen hat, und daß er gleich betont hat, daß er in dieser Frage im Gegensatz zur Fraktion stehe Um hier im Hause kein falsches Bild entstehen zu lassen, haben meine Freunde von der Fraktion mich gebeten, noch einmal klar herauszustellen: Nicht nur das Direktorium der Deutschen Partei, nicht nur der Wehrausschuß der DP, sondern auch alle anderen Mitglieder der Fraktion der Deutschen Partei haben einmütig beschlossen, sich für die Einführung der Wehrpflicht auszusprechen.

(Beifall bei der DP und in der Mitte.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214312900
Das Wort hat der Abgeordnete Merten.

Hans Merten (SPD):
Rede ID: ID0214313000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Vorlage des Wehrpflichtgesetzes durch die Bundesregierung hat sich für die Bundesregierung auch die Notwendigkeit ergeben, nun die Frage der Kriegsdienstverweigerung gesetzlich zu regeln. In dem vorliegenden Entwurf dieses Gesetzes finden wir auch in den §§ 25, 26 und 27 Vorschriften über die Kriegsdienstverweigerung. Mit diesen Vorschriften soll offenbar der Anspruch des Grundgesetzes erfüllt werden, wie er sich in Art. 4 Abs. 3 findet. Offenbar soll damit das Grundrecht näher geregelt werden, daß niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden kann.
Wenn wir aber diesen § 25 — und es ist der entscheidende Paragraph — einer näheren Prüfung unterziehen, dann sehen wir, daß dieses im Grundgesetz festgelegte Grundrecht hier doch ganz entscheidend eingeschränkt wird. Das Recht der Kriegsdienstverweigerung wird hier nur noch denjenigen zugebilligt, die sich aus grundsätzlicher religiöser Überzeugung allgemein zur Gewaltlosigkeit in den Beziehungen der Staaten und Völker bekennen. Es wird vollkommen übersehen, daß es daneben noch eine große Zahl anderer, vor dem Gewissen des einzelnen zu verantwortender Gründe gibt, die nach dem Willen des Grundgesetzes ebenfalls berücksichtigt werden sollen. Bei der Formulierung des § 25 stand offenbar der Gedanke Pate, daß es sich bei der Kriegsdienstverweigerung aus Gründen des Gewissens nicht um ein Grundrecht handelt, sondern um ein Ausnahmerecht, welches vom Staat lediglich toleriert wird, aber in seinem Prinzip dem Wesen und dem Willen des Staates widerspricht.
Von dieser grundsätzlich falschen Auffassung vom Verständnis des Grundgesetzes her ist es dann nur noch ein kurzer Weg zur moralischen Degradierung und Diskriminierung derer, die sich auf dieses angebliche Ausnahmerecht berufen. Ein sehr schönes Beispiel dafür waren ja die Ausführungen des Herrn Kollegen Schneider, der gesagt hat: Es ist die Pflicht eines anständigen Menschen, zur Verteidigung von Haus und Hof und Familie zu der Waffe 7u greifen! Das heißt mit anderen Worten: Wer aus Gewissensgründen das ablehnt, ist eben kein anständiger Mensch, sondern ein unanständiger Mensch. Damit fängt die Diskriminierung an, und damit fängt das an, was vermieden werden muß, nämlich die Degradierung eines Grundrechts zu einem Ausnahmerecht. Von diesem Standpunkt her ist das Ausnahmerecht nur eine Tolerierung dessen, was eigentlich gar nicht sein sollte. Von daher ist die Formulierung des § 25 erfolgt.

(Sehr gut! bei der SPD.)



(Merten)

Ich bin dem Herrn Kollegen Dr. Kliesing sehr dankbar, daß auch er darauf hingewiesen hat, daß wir uns über diese Frage noch sehr ernsthaft im Ausschuß unterhalten müssen und daß noch eine sehr gründliche Prüfung dieser Angelegenheit erfolgen muß. Es ist meine Auffassung und auch die meiner Freunde, daß es so auf jeden Fall nicht im Gesetz stehenbleiben darf. Denn das Grundgesetz spricht ausdrücklich von der Gewissensentscheidung des einzelnen. Man kann deswegen diese Gewissensentscheidung in dem Gesetz nicht völlig außer Betracht lassen und lediglich noch das Argument gelten lassen, daß ein Bekenntnis ganz allgemein zur Gewaltlosigkeit in den Beziehungen der Staaten und Völker ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt. Dabei muß auch noch der Antragsteller den Beweis erbringen, was natürlich bei jungen Menschen mit einer kurzen Lebenserfahrung sehr schwierig sein dürfte. Bis dahin unterliegt er der Vermutung, daß er den Kriegsdienst, sagen wir, aus Drückebergerei, aus Bequemlichkeit oder aus Feigheit verweigert.
Wenn man dann noch die Begründung liest, die zu dem § 25 in diesem Gesetz gegeben wird, dann wird auch klar, warum das gerade so und nicht anders geregelt wird. Denn es heißt in der Begründung, das Grundgesetz beruhe auf dem Grundgedanken der repräsentativen Demokratie. Ich bin mir im Augenblick nicht klar darüber, woher der Verfasser dieser Begründung diese Wissenschaft bezogen hat. Ich war bisher der Auffassung, wir lebten in einer parlamentarischen Demokratie. Wenn man das liest, hat man das Gefühl - und es wird ja auch wohl richtig sein —, daß hier ein Gegensatz zur parlamentarischen Demokratie geschaffen werden soll, indem von einer „repräsentativen Demokratie" gesprochen wird.

(Abg. Schröter [Wilmersdorf] : Sie dient der Repräsentation!)

Diese staatsrechtlichen Ausführungen in der Begründung des Gesetzes und vor allen Dingen die daran geknüpften Folgerungen verdienen die Aufmerksamkeit des Hohen Hauses, denn aus ihnen spricht autoritäres Denken,

(Sehr wahr! bei der SPD)

das sich den Staat nicht anders als einen Obrigkeitsstaat vorstellen kann, gegen dessen Entscheidungen es nun einmal keinen Widerspruch geben kann, weil dann der ganze Staat in Frage gestellt würde. Vom Wesen der parlamentarischen Demokratie ist in dieser Begründung auf jeden Fall nichts zu verspüren. Deshalb sind auch die Folgerungen, die in der Begründung von den genannten Voraussetzungen aus gezogen werden, im Prinzip falsch. Man kann dazu sagen, daß hier wieder einmal die merkwürdige Vorstellung umhergeistert, als tue der Kriegsdienstverweigerer eigentlich etwas Unrechtes, etwas Gemeinschaftswidriges, und als müsse er die Treue gegenüber seinem Gewissen eigentlich durch ein Martyrium erkaufen. Dem kann man nicht scharf genug widersprechen. Nicht wer dieses Recht in Anspruch nimmt, sondern derjenige, der es antastet, begeht einen Rechtsbruch! Das muß klar herausgestellt werden.

(Beifall bei der SPD.)

Wo dieses Grundrecht beeinträchtigt, seine Einschränkung unternommen oder gar seine Aufhebung angestrebt wird, wo also eine Behinderung der Gewissensfreiheit zugunsten vermeintlich höherer Staatsinteressen versucht wird, da ist, glaube ich, höchste Gefahr im Verzuge.
Hat der Art. 4 des Grundgesetzes Ausnahmecharakter? Die Kriegsdienstverweigerung ist allerdings eine Befreiung von einer an sich bestehenden allgemeinen Bürgerpflicht. Die Verfechter des Gedankens der Ausnahmebestimmung sagen, es kann sich hier nur um eine ganz enge Ausnahme, nur um eine ausnahmsweise Befreiung handeln. Man sagt sugar — und das ist auch in einer halbamtlichen Verlautbarung zu lesen —, die Kriegsdienstverweigerung sei erlaubter Ungehorsam gegen das allgemeinverbindliche Gesetz. Abgesehen von der merkwürdigen Logik, die aus dem Prinzip des „erlaubten Ungehorsams" spricht, muß aber auch darüber hinaus einmal ganz klar gesagt werden, daß hier ein Irrweg vorliegt, daß der Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes verfälscht wird. Es heißt ja nicht: wer durch die Kriegsdienstpflicht in seinem Gewissen beschwert wird, darf diesen Kriegsdienst verweigern, sondern es wird umgekehrt dem Staat untersagt, einen solchen Dienst von seinen Bürgern gegen deren Gewissen überhaupt zwangsweise zu verlangen. Das ist doch wohl ein Unterschied. Es mag durchaus sein, daß durch das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung die praktische Durchführung der von der Regierung beabsichtigten Wehrpflicht in Frage gestellt wird. Mir scheint überhaupt aus der ganzen Argumentation so ein bißchen die Angst herauszusprechen: wenn wir die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen freigeben, dann könnte es sein, daß eine so große Anzahl von jungen Menschen von diesem Recht Gebrauch macht, daß dann praktisch eine Wehrpflicht überhaupt nicht mehr durchführbar ist. Nun sei's drum! Selbst wenn das so wäre, ist das noch lange nicht eine Erlaubnis dafür, die Bestimmungen des Grundgesetzes durch ein entsprechendes Ausführungsgesetz in ihrem Wesensgehalt auszuhöhlen und wirkungslos zu machen. Gewissensentscheidungen sind eben nicht vom Religiösen oder vom Ethischen her, sondern Gewissensentscheidungen sind auch vom Politischen und von vielen anderen Grundlagen her denkbar, und sie sind nicht nur denkbar, sondern sie sind sogar erwünscht.
Lesen Sie doch einmal den Art. 38 des Grundgesetzes, in dem es heißt, daß die Abgeordneten des Deutschen Bundestages Vertreter des ganzen Volkes sind, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind! Von diesem Gewissen ist ia sehr oft die Rede. Wenn ein Abgeordneter von einer Partei zu einer anderen überwechselt, wird jedesmal dieser Artikel des Grundgesetzes zitiert. Glauben Sie nicht, daß das Gewissen in Art. 38 des Grundgesetzes ein anderes Gewissen wäre als in Art. 4 des Grundgesetzes!

(Abg. Wehner: Ausnahmen sind die Minister, die haben keins! — Heiterkeit bei der SPD und beim GB/BHE.)

— Ich möchte das von der Tribüne des Hauses aus nicht in dieser deutlichen Form aussprechen. Ich möchte nur das Recht des Gewissens nach Art. 4 zumindest gleichgeachtet wissen dem Recht des Gewissens. wie es in Art. 38 aufgeführt wird. Sie können nicht in einem Fall Gewissensentscheidungen ganz allgemein anerkennen und im andern Fall dann wieder zu einer Einengung und Abgrenzung derartiger Entscheidungen kommen und damit dann auch noch ein Grundrecht im tiefsten verletzen.
Der Herr Minister hat selbst in der Begründung zu diesem Gesetz diese Frage angesprochen. Er hat allerdings gesagt, es gebe für das Recht der Kriegsdienstverweigerung in der deutschen Geschichte kein Vorbild. Ich muß ihn da berichtigen. Schon zur Zeit Friedrich des Großen ist in der Frage des


(Merten)

Kriegsdienstes der Mennoniten eine Regelung geschaffen, und seitdem — es ist nun schon fast 200 Jahre her — ist diese Frage im deutschen Recht immer und immer wieder behandelt worden. Man hat Auswege gesucht. Eine sehr unbefriedigende Regelung dieser Frage ist nicht zuletzt der Grund, daß beispielsweise ganze Religionsgemeinschaften aus Deutschland ausgewandert sind und in dem damaligen Land der Freiheit, in den Vereinigten Staaten von Amerika, eine Heimat gefunden haben.
Wenn Sie das Recht der Kriegsdienstverweigerung gegenstandslos machen wollen, dann müssen Sie eben den Mut haben, das Grundgesetz zu ändern. Sie können aber nicht in der Befürchtung, daß durch dieses Grundrecht nun die Wehrpflicht nicht im ganzen Ausmaß erfüllt werden kann, zu einer unzulässigen Einschränkung dieses Rechtes kommen.
Der Herr Minister hat darauf hingewiesen, daß er durch die Einbeziehung dieses Rechtes in das Wehrpflichtgesetz einem Wunsch der Evangelischen Kirche entgegengekommen sei. Das ist vollkommen richtig. Die evangelischen Kirchen haben in einer amtlichen Verlautbarung, die auch der Bundesregierung offiziell zugestellt worden ist, verlangt, daß diese Frage, wenn sie geregelt wird, nicht in einem besonderen Gesetz, sondern in diesem Gesetz geregelt wird, und zwar mit der Begründung, es sei andernfalls zu befürchten, daß ein Sondergesetz für diese Fragen zu einer weiteren Diskriminierung derjenigen, die den Kriegsdienst verweigern wollen, führen könne.
Die Stellungnahme der Kirchen und auch der einzelnen Staatsbürger zum Krieg ist heute nicht mehr so ohne jede Problematik, wie das vielleicht noch im 19. Jahrhundert der Fall war. Die Frage der Berechtigung des Krieges schlechthin ist heute für viele Menschen und insbesondere für die christlichen Kirchen ein Problem geworden, an dem man nicht mehr so einfach vorübergehen kann. Man kann diese Dinge nicht mehr mit der Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit abtun. Ich will auf die Problematik dieser Frage gar nicht näher eingehen. Die Bundesregierung hat sich aber bei dem Entwurf des Wehrpflichtgesetzes mit dieser Problematik offenbar überhaupt nicht auseinandergesetzt. Wir müssen das daher im Ausschuß nachholen. Wir müssen nur jetzt schon zur Kenntnis nehmen, daß eine bedingungslose Beteiligung des Christen am Krieg, die sich allein auf seine Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit gründen würde, heute von den christlichen Kirchen als nicht mehr länger verantwortbar angesehen wird. Desgleichen kann auch nicht bestritten werden, daß es für jeden Christen von seinem Glauben her die Möglichkeit gibt, den Kriegsdienst aus Gründen des Gewissens, d. h. für einen Christen um des Gehorsams gegen Gott willen, zu verweigern. Ich sage ausdrücklich: Für jeden Christen gibt es diese Möglichkeit der Gewissensentscheidung ohne jede Ausnahme.
Darüber liegen sehr klare Dokumente von seiten der christlichen Kirchen vor, die der Bundesregierung offiziell zugeleitet worden sind. Ich möchte hier daran erinnern, daß die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland auf ihrer Tagung vom 6. März bis 11. März 1955 in Espelkamp einen Ausschuß beim Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland eingesetzt hat, der sich mit der rechtlichen Regelung der Kriegsdienstverweigerung befassen sollte. Dieser Ausschuß hat am 3. Dezember 1955 dem Rat Bericht erstattet und einen
Ratschlag erarbeitet, dem der Rat der Evangelischen Kirche am 15. und 16. Dezember zugestimmt hat. Dieser Ratschlag zur gesetzlichen Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerer ist der Bundesregierung offiziell zur Kenntnis gebracht worden, allerdings ohne daß man in dem vorliegenden Entwurf etwas davon merkt, daß die Bundesregierung diesen Ratschlag offiziell zur Kenntnis genommen hat.
Ich möchte dabei etwas Grundsätzliches sagen. Ich habe gerade wieder in den letzten Tagen gehört, wie eine große Partei unseres Hauses sich darauf berufen hat, daß sie bei allen politischen Maßnahmen, die sie zu treffen habe, und bei den politischen Zielen, die sie zu verfolgen habe, von den christlichen Grundlagen aus ihre Politik aufzubauen gedenke. Meine Damen und Herren, das ist ein sehr schöner Satz, den man aber auch dann verwirklichen muß, wenn einmal offizielle Äußerungen christlicher Kirchen an einen herankommen, die einem im Augenblick gerade nicht so besonders gut in den politischen Kram passen.

(Abg. Arnholz: Sehr gut!)

Die offizielle Stellungnahme der Evangelischen Kirche deckt sich weitgehend mit den Auffassungen meiner politischen Freunde in der Frage der gesetzlichen Regelung der Kriegsdienstverweigerung. Mit freundlicher Erlaubnis des Herrn Präsidenten möchte ich aus dieser Stellungnahme nur einige wichtige Sätze zitieren. In dem Ratschlag der Evangelischen Kirche heißt es:
Die erschreckende Ausweitung des modernen Krieges und die geschärfte Verantwortung gegenüber Waffengewalt und Krieg legen jedem Christen die Frage in das Gewissen, ob der Krieg als ein letztes Mittel der Verteidigung und die Teilnahme am Kriege oder die Vorbereitung dafür erlaubt sein kann. Wenn der Staat die Befugnis zur Heranziehung seiner Bürger zum Wehr- und Kriegsdienst in Anspruch nimmt, so steht er vor der Frage, ob er nicht um der Würde des Menschen willen und als ein Zeichen eigener staatlicher Selbstbegrenzung darauf verzichten muß, von Menschen den Kriegsdienst zu fordern, die dadurch in ernste Gewissensnot geraten.
Und an anderer Stelle:
An den Staat ist die dringende Bitte zu richten, in seinem Bestreben, praktisch anwendbare Abgrenzungen zu schaffen, den Kreis der Gewissensbedenken, denen er Gehör schenkt, nicht eng oder gar schematisch ( z. B. in Beschränkung auf Angehörige bestimmter Gruppen und Gemeinschaften) abzustecken, damit er nicht Gewissenszwang an vielen übt, die solchen Festsetzungen nicht entsprechen. Die Evangelische Kirche muß daran erinnern, daß für den evangelischen Christen die Stimme des Gewissens in einer konkreten Lage vernehmbar wird und nicht an allgemeinen Maßstäben zu messen ist. Wenn der Staat, eingedenk dessen, daß es nicht das Amt des menschlichen Richters ist, über das Gewissen zu urteilen, objektiv feststellbare Momente für die Anerkennung der Haltung des Kriegsdienstverweigerers fordert, sollte doch das staatliche Gesetz die Möglichkeit offen lassen, auch der konkreten Gewissensentscheidung im Einzelfall eines unlösbaren Gewissenskonflikts Raum zu gewähren.


(Merten)

Und wieder an anderer Stelle:
Bei der Einrichtung und Zusammensetzung der Stellen, die über die Zulässigkeit und Ernsthaftigkeit der Ablehnung des Kriegsdienstes um des Gewissens willen entscheiden, sind die Grenzen menschlichen Urteilens und die Notwendigkeit besonderer Qualifikation der zur Entscheidung Berufenen zu bedenken . . . .
Es sind verfahrensrechtliche Möglichkeiten vorzusehen, daß der Wehrpflichtige Gewissensbedenken, die ihn zu der Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe zwingen, auch nach der Einberufung zum Wehrdienst geltend machen kann, wenn er die Ernsthaftigkeit des Gewissensanstoßes glaubhaft zu machen vermag.
Und zum Schluß heißt es:
Jede bürgerliche und staatsbürgerliche Benachteiligung des Kriegsdienstverweigerers aus Gewissensgründen ist auszuschließen. Das gilt auch für die Wiedereinstellung in die frühere Beschäftigung und das berufliche Fortkommen.
Ich habe Ihnen nur einige wenige Sätze zur Kenntnis gebracht. Aber diese wenigen Sätze im Vergleich mit dem § 25 des Gesetzes und seiner Begründung beweisen, daß man diese Ratschläge der Evangelischen Kirche, die aus einem ernsten Ringen um die Probleme entstanden sind, nicht in dem notwendigen Umfang berücksichtigt hat. Wir werden darüber noch reden müssen. Diese Angelegenheit kann man auch nicht mit der oberflächlichen Betrachtung abtun, daß zur Verweigerung des Kriegsdienstes eben Mut gehöre und auch der Wille, für die vertretene Sache zum Märtyrer zu werden und in das Gefängnis zu gehen. Meine Damen und Herren, das Grundgesetz will keine Märtyrer, sondern das Grundgesetz will Respektierung jeder echten Gewissensentscheidung.

(Beifall bei der SPD.)

Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, diesen echten Gewissensentscheidungen nun den notwendigen Respekt zu verschaffen. Aber es ist nicht seine Aufgabe, hier eine schöne Gelegenheit zu Mutproben zu geben oder Märtyrer zu schaffen. Es ist gewiß schwierig, Gewissensentscheidungen in gerichtlichen Verfahren nachzuprüfen. Dazu gehören aber zu allererst einmal vernünftige gesetzliche Bestimmungen und dann Menschen mit großer Erfahrung und Verständnis für die junge Generation und ihre Probleme. Ganz gewiß nicht aber werden die Wehrersatzbehörden in der Lage sein, derartige Entscheidungen im erforderlichen Ausmaß zu treffen, weil sie ja von vornherein voreingenommen und subjektiv beeinflußt den Kriegsdienstverweigerern gegenüberstehen. Auch hier werden wir im Ausschuß zu überlegen haben, in welcher Form wir die Möglichkeit schaffen, daß das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung nicht angetastet wird.
Wir können dabei gewiß auch von den Erfahrungen anderer Staaten profitieren. Aber wir müssen bedenken, daß die Grundlagen für die Möglichkeit, den Kriegsdienst zu verweigern, in den anderen Ländern nicht in der Verfassung verankert sind und daß der Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes den Kreis des Kriegsdienstverweigerungsrechtes wesentlich größer zieht, als dies in anderen Ländern der Fall ist. Deswegen ist es gar nicht möglich, die Dinge einfach schematisch zu übernehmen, und die Bezugnahme in der Begründung der Regierung darauf, daß man sich in Übereinstimmung mit den Regelungen anderer Länder befinde, bringt uns in dieser Frage bei unserer besonderen Situation keinen Schritt weiter.
'Der Umfang der Freistellung von der Wehrpflicht wird bei uns ohne jeden Zweifel — und das weiß auch die Regierung — wesentlich höher sein als in anderen Ländern. Aber wir können doch nicht so tun, als ob angesichts der Spaltung Deutschlands die Wehrpflicht nicht noch eine besondere Belastung der Gewissen mit sich brächte. Wir können auch nicht so tun, als ob die überhastete Art der Wehrgesetzgebung durch eine knappe Mehrheit des Parlaments nicht auch zu einer innenpolitischen Zerklüftung führe, die zu einer weiteren Gewissensnot für viele ernste Menschen in unserem Lande wird. Sie wollen die Wehrpflicht durchpeitschen, Sie wollen es, obwohl Sie wissen, daß nur ein Teil unserer Bevölkerung und ganz gewiß nur ein geringer Teil unserer Jugend für diese Pläne zu haben sind. Da ist es sehr gefährlich, weil Ihrem Willen ein Grundrecht im Wege steht, dieses Grundrecht zu entwerten und es zu einer Ausnahmebestimmung zu degradieren, die man, wenn auch in engen Grenzen, nur zu tolerieren gedenkt.
In diesem Zusammenhang ist es recht interessant, einmal die Vierte Strafrechtsnovelle anzusehen, die in diesen Tagen dem Bundesrat zugeleitet worden ist. Gerade im Zusammenhang mit den Tendenzen, die Kriegsdienstverweigerung in diesem Gesetz unzulässig einzuschränken, sind die Bestimmungen der Strafrechtsnovelle hochinteressant. Sie wissen, daß diese Novelle — schon kurz nachdem sie in der Öffentlichkeit bekanntgeworden ist — den Namen „Maulkorbgesetz" erhalten hat. In diesem Maulkorbgesetz wird in § 109 b, der kein Vorbild in der deutschen und auch in der ausländischen Rechtsgeschichte in Friedenszeiten hat, das Recht der freien Meinungsäußerung mißachtet und insbesondere den Kriegsdienstverweigerern und ihren Organisationen die weitere Tätigkeit und Werbung so gut wie unmöglich gemacht. In der Begründung der Regierung zu diesem Gesetzentwurf wird erklärt, daß nicht nur öffentliche Handlungen, sondern auch die Flüsterpropaganda erfaßt werden soll. Ich glaube, daß wir damit den Polizeistaat — ich stelle es Ihnen frei, nach welchem Muster, nach dem Hitlerschen oder dem Grotewohlschen Muster — haben. Wer als Gegner der allgemeinen Wehrpflicht Argumente vorbringt, die sich auf die Widersinnigkeit und Heillosigkeit dieser Angelegenheit beziehen, steht schon mit einem Fuß im Gefängnis. Die Aussprache mit einem Wehrpflichtigen über Gegenargumente zur Wehrpflicht unter vier Augen und mit — wie es im Gesetz heißt — „gröblich entstellten Behauptungen" führt unweigerlich, und zwar mit beiden Füßen, ins Gefängnis. Denn, wer wird feststellen, was gröblich entstellte Behauptungen sind? Die Entscheidung ist eine Frage des Ermessens, die kaum eindeutig gelöst werden kann. Wir werden über diese Strafrechtsnovelle im ganzen noch zu sprechen haben. Hier interessiert nur der Zusammenhang mit den Kriegsdienstverweigerern, die damit endgültig mundtot gemacht werden sollen.
Ich habe einen Zeitungsartikel gelesen, in dem diese Novelle wahrscheinlich sehr richtig charakterisiert worden ist. In diesem Zeitungsartikel kamen als Namen oder Bezeichnungen für diese Novelle vor: „Kurioser Entwurf", „hanebüchener Nonsens",


(Merten)

„rechtssystematisches Monstrum"; „Antizivilistengesetz" und „grausiger Spuk". Das ist aber nur eine kleine Auslese aus den Bezeichnungen, die die Novelle in der Öffentlichkeit gefunden hat.

(Abg. Dr. Seffrin: Das ist kein Urteil!)

Wir werden uns über diese Novelle noch sehr ausführlich unterhalten.

(Abg. Dr. Seffrin: Papier ist geduldig!)

— Nein, Papier von Gesetzesbüchern ist nicht geduldig. Das, was auf dem Papier von Gesetzesbüchern steht, ist eine sehr lebendige Angelegenheit. Deshalb muß man sich vorher, bevor man es bedruckt, damit genau auseinandersetzen. Ich bin der festen Überzeugung, auch Ihnen wird diese Novelle nicht gefallen, wenn Sie sie erst einmal gelesen haben.

(Abg. Dr. Seffrin: Ich meinte die Zeitung!)

- Die Zeitung ist eine sehr gute Zeitung; Sie lesen sie wahrscheinlich auch jeden Tag.
Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung ist im Grundgesetz gewährleistet. Das gleiche gilt für das Recht auf die freie Meinungsäußerung. Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung soll nun eingeengt werden. Daneben findet das „Maulkorbgesetz" noch einen außerordentlich würdigen Platz, um Kriegsdienstverweigerern auch noch die Möglichkeit zu nehmen, in der Öffentlichkeit und auch in der privaten Aussprache für ihre Sache einzutreten. Wenn ich das lese und überlege, daß hier so viele schöne Worte über die Freiheit gesprochen worden sind, die verteidigt werden müsse, dann frage ich mich: muß man, um sich auf die Verteidigung der Freiheit vorzubereiten, zunächst einmal die Freiheit im eigenen Lande beseitigen, und ist das der richtige Weg, um die Vorbereitungen für die Verteidigung der Freiheit zu schaffen?

(Beifall bei der SPD.)

Würden Sie für die Möglichkeiten der Verteidigung der Freiheit nicht viel mehr tun, wenn Sie zunächst einmal die Freiheiten, die in diesem Lande im Grundgesetz garantiert sind, in vollem Umfange aufrechterhielten und jedem energisch entgegenträten, der diese Freiheiten auch nur von weitem anzutasten versucht? Das scheint mir doch der bessere Weg zu sein, um hier vorwärtszukommen. Ich kann mich nicht erinnern, daß ein Staat daran zugrunde gegangen ist, daß er seinen Bürgern die Möglichkeit der freien Aussprache gegeben hat. Ich kann mich aber sehr gut erinnern, daß schon etliche Staaten daran zugrunde gegangen sind, daß sie durch eine übermäßige Verbotsgesetzgebung mit polizeilichen Mitteln den Bestand des Staates zu erhalten versucht haben.
Die innenpolitische Zerklüftung wird durch derartige Gesetze geradezu ins Unerträgliche gesteigert. Und, meine Damen und Herren, wenn Sie anfangen, über die Unantastbarkeit der Menschenwürde hinwegzugehen und keinen Raum mehr für Gewissensentscheidungen in diesem Staate zu lassen, dann sind Sie an einem Punkt angekommen, wo wir Sie einmal ganz ernsthaft fragen wollen und müssen, wo denn dieser Weg eigentlich enden soll.
Hier hat auch der Einwand gar keinen Platz, den man immer wieder — auch in halbamtlichen Veröffentlichungen — liest, daß sich nach diesem Prinzip der freien Gewissensentscheidung gegenüber den Ordnungen des Staates jemand auch weigern könnte, Steuern zu zahlen, weil er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren könne, daß mit den Steuern die Aufrüstung finanziert werde. Meine Damen und Herren, hier geht es nicht darum, daß jemand die Gesetze der staatlichen Ordnung erdulden muß, sondern hier geht es darum, daß der Staat jemanden dazu anhält, selbst aktiv zu werden, und zwar aktiv im Handwerk des Krieges zu werden, sich also auf das Töten von Menschen vorzubereiten. Die religiöse und ethisch begründete Überzeugung vieler Menschen verwirft nun einmal unbedingt und kompromißlos den Kampf mit der Waffe und das Töten von Menschen, und daher versagen solche Menschen an diesem Punkt dem Staat, dem sonst Gehorsam geschuldet und geleistet wird, aus dem Gewissen heraus die Gefolgschaft.
Weil das hier eine andere Sache ist als etwa die Weigerung, den Impfgesetzen nachzukommen oder Steuern zu bezahlen, haben die Väter des Grundgesetzes mit vollem Recht und in vollem Bewußtsein dessen, was da geschieht, das Recht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensnot als ein Grundrecht in das Grundgesetz geschrieben und nicht als ein Ausnahmerecht, das zu tolerieren ist.
Als vollkommen veraltet muß auch die Auffassung abgelehnt werden, daß die allgemeine Wehrpflicht in jeder Beziehung eine unproblematische Sache sei und daß das Wehrpflichtgesetz ein Gesetz sei wie jedes andere und die Verweigerung der Erfüllung der Wehrpflicht der Sonderfall eines ganz besonders mit Skrupeln belasteten Gewissens sei, das sich zudem noch auf dem Wege des Irrtums befinde. Heute ist es durchaus so, daß die Bereitschaft zur Leistung des Kriegsdienstes und der Wehrpflicht im Hinblick auf die geschilderte Problematik des Krieges schlechthin und der deutschen Situation im besonderen eine ernste Frage des Gewissens für jeden einzelnen geworden ist. Daraus ergibt sich eine ganz erhebliche Ausweitung der engen Grenzen, die der § 25 des vorliegenden Entwurfs gezogen hat.
Meine Freunde und ich müssen fordern, daß dem Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes voll Genüge getan wird. Die Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensnot stehen dem Staat in ihrer ethischen und politischen Verantwortung genau so positiv verantwortlich gegenüber wie diejenigen, die sich der Wehrpflicht unterwerfen.

(Beifall links. — Abg. Dr. Seffrin: Bloß: es nützt ihm nichts!)

Es darf sich daher keinerlei Bevorzugung des einen vor dem andern ergeben, sondern ihre Anliegen müssen mit der gleichen Sorgfalt, mit der gleichen Bewertung gesetzlichen Schutz und gesetzliche Regelung finden. Und diese Gleichberechtigung lassen der vorliegende Entwurf und seine Begründung vermissen.
Über allen Erwägungen aber, die wir in diesem Zusammenhang anzustellen haben, hat die Sorge zu stehen, daß der freiheitliche Charakter unserer parlamentarischen Demokratie auf keinen Fall gefährdet werden darf. Aus diesem Grunde werden wir uns schon in den Anfängen jeder Einschränkung eines Grundrechts durch die Gesetzgebung gemeinsam im ganzen Hause zu widersetzen haben; denn die Grundrechte sind als Ganzes die freiheitliche Ordnung unseres Lebens, und wer auch nur eins von ihnen herausbricht oder einengt, gefährdet damit die ganze Freiheit, die immer ein unteilbares Ganzes zu bilden hat.


(Merten)

Meine Freunde und ich werden daher, wenn Sie gegen unsern Willen dieses Gesetz den Ausschüssen überweisen, unsere Pflicht in den Ausschüssen darin sehen, in Verantwortung für die freiheitliche demokratische Grundordnung in unserem Staatsleben in diesem Punkte mit allen Mitteln jede Einengung und jede Verfälschung des Grundrechts der Kriegsdienstverweigerung abzulehnen.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214313100
Das Wort hat der Bundesminister für Verteidigung.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214313200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich heute morgen in meiner Rede des längeren mit der Frage der Kriegsdienstverweigerung beschäftigt. Ich habe darauf hingewiesen, daß dieses Problem ein ernstes ist und daß es auch mit dem Ernst behandelt werden muß, der ihm zukommt.
Ich bin dem Herrn Kollegen Merten sehr dankbar für seinen Hinweis auf den Ratschlag des Rats der Evangelischen Kirche. Auf Wunsch der Evangelischen Kirche erfolgt j a die Behandlung dieser Frage gerade im vorliegenden Gesetzentwurf. Sie dürfen sicher sein, daß die Bundesregierung mit allem Ernst und mit allem Verantwortungsbewußtsein bei der Ausschußberatung dienlich sein wird, hier zu Gesetzesformulierungen zu kommen, die dem Geist und dem Wortlaut des Grundgesetzes entsprechen.
Aber was ich an dieser Stelle mit aller Deutlichkeit zurückweisen möchte, ist folgendes. Als der Herr Kollege Merten den Art. 38 unseres Grundgesetzes zitierte, daß die Abgeordneten nur ihrem Gewissen unterworfen seien, machte der Herr Kollege Wehner den Zwischenruf: „Das gilt nicht für Minister, die haben keins!" Ich möchte diese unerhörte Beleidigung zugleich für meine Kabinettskollegen zurückweisen.

(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214313300
Herr Abgeordneter Wehner, haben Sie diesen Zwischenruf gemacht?

(Zurufe in der Mitte und rechts: Natürlich! Das ist allgemein gehört worden!)


Herbert Wehner (SPD):
Rede ID: ID0214313400
Er bezog sich auf gewisse Minister, für die offenbar dieses nicht gilt; nicht auf alle Minister.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214313500
Sie haben also nicht die Minister der Bundesregierung gemeint?

(Zuruf aus der Mitte: Wen denn sonst?)


Herbert Wehner (SPD):
Rede ID: ID0214313600
Ich habe zwei und vier Minister gemeint, Herr Präsident.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214313700
Auch wenn Sie damit an konkrete Fälle gedacht haben sollten, so war doch Ihr Zwischenruf unparlamentarisch. Ich rufe Sie zur Ordnung.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hütter.

Margarete Hütter (FDP):
Rede ID: ID0214313800
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Es ist keine sehr dankbare Aufgabe, heute hier noch einmal im Rahmen der Wehrdebatte mit einem Anliegen zu kommen, das ein Teil der deutschen Öffentlichkeit bereits vergessen hat, der andere, wahrscheinlach kleinere Teil aber um so heftiger verficht, nämlich mit dem der Freilassung der im westlichen Gewahrsam festgehaltenen Kriegsverurteilten. Aber meine Fraktion, die Fraktion der Freien Demokraten, hat mich in Fortsetzung ihrer von eh und je zu dieser Frage eingenommenen Haltung beauftragt, es vorzutragen. Damit will ich nicht sagen, daß es nicht auch mir ein Bedürfnis sei, meinen am 10. Juli 1952 vor dem Bundestag begonnenen Appell an die Westmächte bis zum guten Ende weiterzuführen.
Der Appell ist das einzige Mittel, dessen sich dieses Parlament bedienen kann, um Einfluß auf die Bereinigung der Kriegsverurteiltenfrage zu nehmen. Ein solcher Appell einer gewählten Volksvertretung findet, des bin ich gewiß, bei den westlichen Gewahrsamsmächten mit jahrhundertealter demokratischer Tradition auch Gehör. Darum sollten wir uns geschlossen hinter diesen Appell stellen.
Die Frage, um die es hier geht, ist die einer Bereinigung des Kriegsverurteiltenproblems, die vom gesamten deutschen Volk stets in Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der deutschen Streitkräfte gesehen worden ist. Ich weiß, daß einige der Gewahrsamsmächte diesen Zusammenhang nicht erkennen, vielleicht weil sie ihn nicht erkennen wollen, vielleicht aber auch, weil er nicht unbedingt logisch ist. Aber im Gefühl des deutschen Volkes besteht er nun einmal. Man empfindet es als einen Widerspruch, daß ehemalige deutsche Soldaten gerade von den Mächten verurteilt und festgehalten werden, die heute unsere Verbündeten sind. Aus diesem Grunde haben wir die Pflicht, uns für die Freilassung der Kriegsverurteilten einzusetzen, insbesondere dann, wenn wir uns für die allgemeine Wehrpflicht aussprechen. Denn falls wir die allgemeine Wehrpflicht einführen, müssen wir uns darüber klar sein, daß wir damit auch diejenigen heranzuziehen haben werden, die sich durch das Verhalten der Gewahrsamsmächte noch immer vor den Kopf gestoßen fühlen.
Übrigens wurde unter dem 19. April in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zu diesem Problem ein Bericht veröffentlicht, in dem es bezüglich der derzeitigen Lage in Landsberg heißt — ich darf, die Genehmigung des Herrn Präsidenten voraussetzend, zitieren —:
Wer kann heute noch Verständnis dafür haben, daß die Bundesrepublik alljährlich 1,2 Millionen Mark aufbringt, damit auf unserem Boden 33 Gefangene von einem riesigen ausländischen Strafvollzugsapparat bewacht werden? 229 Personen, darunter drei amerikanische Offiziere, 23 amerikanische Unteroffiziere und Mannschaften sowie 160 Polen befassen sich in Landsberg mit dieser anstrengenden Tätigkeit. Wer begreift, warum die mit uns befreundeten Staaten sich nicht ein Beispiel an der Sowjetunion nehmen?
Wir wissen außerdem, daß die Sowjetunion ihr Versprechen, die deutschen Kriegsgefangenen zu entlassen, erfüllt hat und daß alle Anzeichen darauf hindeuten, daß sie die Entlassung aller deutschen Gefangenen vorbereitet.
Und die deutsche Bundesrepublik? Es muß anerkannt werden, daß sie sich in vorbildlicher Weise bemüht, ein gutes Beispiel zu geben bei der Behandlung von Ausländern, die sich in ihrem Ge-


(Frau Hütter)

wahrsam befinden. Nach neuesten, zuverlässigen Meldungen hat sie sich bereit erklärt, alles zu tun, die Ausreise selbst solcher ehemaliger Sowjetbürger zu ermöglichen, die in der Bundesrepublik straffällig geworden sind und sich in Haft befinden, sofern sie es wünschen. Und bei diesen Gruppen handelt es sich nicht um Kriegsverurteilte, sondern um Kriminelle aus der Nachkriegszeit. Ich glaube, in aller Bescheidenheit sagen zu dürfen: diese Handlungsweise zeigt, daß man derartige Probleme auch großzügig lösen kann, wenn es dem Interesse der guten Beziehungen unter den Völkern dient.
Wie ließe sich nun eine Bereinigung des Problems vornehmen? Neben der Möglichkeit, auf dem Wege über die Gnadenausschüsse die Befreiung herbeizuführen, wäre es heute vielleicht empfehlenswert, ein Sonderabkommen mit den Gewahrsamsmächten zu treffen, das der Bundesregierung die Verantwortung für den Strafvollzug und das Begnadigungsrecht überträgt. Die Gründe, die früher gegen eine solche Regelung standen, scheinen mir heute nicht mehr entscheidend zu sein. Auf diese Weise würde die Bereinigung des Problems denjenigen Gewahrsamsmächten erleichtert werden, die aus internen Gründen die Freilassung nicht verantworten können.
Auf die rechtliche Situation noch einmal einzugehen, kann ich mir ersparen, da darüber im 1. Bundestag häufig genug gesprochen worden ist. Aber ich kann nicht schließen, ohne daran zu erinnern, daß anläßlich der dritten Lesung des Deutschland-Vertrages am 19. März 1953 von einem Vertreter der amerikanischen Verbindungsstelle in Bonn das Versprechen abgegeben wurde, daß die Lösung des Kriegsverurteiltenproblems in längstens zwei bis drei Jahren erfolgt sein wird. Diese offizielle Nachricht, die sogar der Presse übergeben wurde, erleichterte damals dem Bundestag die Zustimmung zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, um so mehr, als damit auch der Zusammenhang zwischen der Schaffung neuer deutscher Streitkräfte und der Kriegsverurteiltenfrage von einer der Gewahrsamsmächte anerkannt wurde. — Die damals gestellte Frist ist abgelaufen, ohne daß das Versprechen ganz erfüllt worden ist. Meine im Auftrag der Fraktion der Freien Demokraten an die Gewahrsamsmächte gerichtete Bitte verfolgt den Zweck, an ein Versprechen zu erinnern, damit wir an ihrem Wort nicht zweifeln müssen.
Ich möchte wiederholen, was ich anläßlich der Verabschiedung des Deutschland-Vertrags gesagt habe, nämlich daß es für eine fruchtbare und die Kraft Europas gewährleistende Politik völlig unverzichtbar ist, daß ein gegebenes Versprechen eingehalten wird.

(Beifall rechts und in der Mitte.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214313900
Das Wort hat der Abgeordnete Nellen.

Peter Nellen (SPD):
Rede ID: ID0214314000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Väter des Grundgesetzes mit dem soeben vom Kollegen Merten angezogenen und dann in längerer Diskussion vor uns ausgebreiteten Grundrechtsartikel die absolute Souveränität des personalen Gewissens gegenüber dem Staat und seinen Befehlen jeder möglichen Art sicherzustellen wünschten. Ich darf deswegen, ohne dieses Plenum mit einem moraltheologischen oder moralphilosophischen Hörsaal zu verwechseln — das würde mir Ihr Befremden und Ihr Gelächter einbringen, meine Damen und Herren —, klar und deutlich ausführen, daß die christlich-demokratische und christlich-soziale Fraktion dieses Hauses dem Gesetz, unter dem sie angetreten ist und unter dem sie allein glaubwürdige und praktische Politik machen kann und will, untreu würde, wenn sie diese Souveränität des persönlichen Gewissens in der praktischen Gesetzgebung auch nur im geringsten verleugnen wollte.
Es ist nämlich so — und das hat wohl den Vätern des Grundgesetzes vorgeschwebt —, daß, wie ein sehr kluger und Ihnen weithin bekannter Theologe, der kürzlich verstorbene Domprediger von Straßburg, Pierre Lorsone aus der Gesellschaft Jesu, sehr treffend formuliert hat, die Person in ihrem Gewissen berechtigt ist, gegenüber allen Befehlen sozusagen den sittlichen Passierschein zu fordern. Das Gewissen ist die Instanz, die berechtigt ist, jedes positive Gesetz, jede positiv daraus sich ergebende Forderung unter dem absolut gültigen Maßstab der Sittennorm einer Prüfung zu unterziehen. Wenn anders, hätten wir jede moralische und bedeutungsvollerweise auch jede politische Berechtigung restlos verwirkt, uns auch nur verteidigungsmäßig gegen ein System zu wehren, das die absolute Mißachtung der personalen Würde und damit auch nur des Ansatzes und der Möglichkeit von Gewissensentscheidungen zum System erhoben hat.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD.)

Sie brauchen deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Fraktion der SPD, nicht zu befürchten, daß wir uns hier auch nur die geringste Lässigkeit erlauben würden, weil wir damit moralisch und politisch von der Bühne abzutreten gezwungen wären. Ich darf allerdings mit einem leichten Seitenblick auf den Herrn Bundesverteidigungsminister hinzufügen, daß — das soll einmal erwähnt werden — in einer Schrift, von der ich glaube annehmen zu dürfen, daß sie unter den Auspizien seines Hauses entstanden ist — ich denke an die reizvoll aufgemachte Schrift „Vom künftigen deutschen Soldaten" —, allerdings etwas frisch, fromm, fröhlich, frei Gedanken geäußert wurden, die vom Kollegen Merten soeben, ich möchte sagen, etwas forciert, aber doch mit einiger Sorge angesprochen wurden. Dort könnte man — das muß ich zugeben, Herr Kollege Merten — in einigen Passagen, die des philosophischen Tiefgangs nun wirklich entbehren, den Eindruck gewinnen, daß in dem genannten Grundgesetzartikel nur von einem Ausnahmerecht gesprochen ist. Das kann und darf und wird nicht sein, und ich fühle mich legitimiert, im Namen der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union dieses Hauses zu wiederholen: der Grundsatz der Gewissenssouveränität und der Freiheit, diesen Passierschein gegenüber allen staatlichen Gesetzen und Aktionen zu fordern, wird von uns hochgehalten.
Ich will aber auch nicht übersehen — und das scheint mir der Kollege Merten soeben etwas, ich will nicht sagen: verschleiert, sondern nicht recht deutlich angesprochen zu haben —, daß es sich hier doch um die Regelung einer echten Pflichten- und damit Gewissenskollision handelt.

(Abg. Kiesinger: Sehr gut!)

Ich erinnere mich, daß z. B. der hochverehrte Kollege Schmid (Frankfurt) neulich unter Berufung


(Nellen)

auf einen klassischen Autor — er hat uns dreimal raten lassen, wer es ist; es war Thomas von Aquin mit seinem Werk „De regimine principum" — uns in sehr lichtvoller Weise die Unterscheidung zwischen dem äußeren und inneren Gehorsam dargelegt hat, ein Spezialfall von Gewissenssouveränität, den damals abzuhandeln Anlaß war. Wir wollen doch nicht übersehen, daß das, was in der Debatte, der Sie sich sicher genau erinnern, der Kollege Schmid (Frankfurt) ausgeführt hat, absolut gilt: Legal zustande gekommene Gesetze, legale Regierungsmaßnahmen sind im Gehorsam zu respektieren. Denn darüber, glaube ich, gibt es im ganzen Hause überhaupt keine Diskussion: staatliche Hoheit, staatliche Autorität und ihr Korrelat, nicht der Untertanengehorsam, aber der echte, von Ihnen und uns durchaus personal verstandene Gehorsam, ist zu fordern und ist zu leisten. Wenn einmal, vielleicht nicht mit den Begründungen, die wir heute morgen gehört haben — mir haben nicht alle Begründungen gefallen; das gebe ich zu —, wenn mit plausiblen Begründungen und in Anbetracht dessen, was wir die Situation nennen, die mit in Betracht zu ziehenden Zu- und Umstände, als einer der Quellen der Moralität oder, um es mit der Terminologie von Professor Carlo Schmid zu nennen, als einer der fontes moralitatis, ein Gesetz legal zustande gekommen ist, ist es zu respektieren. Das gilt auch von einem Wehrgesetz. Und wenn etwa dieses Hohe Haus in politischer und sonstiger Würdigung des gesamten Weltzustandes, des Zustandes unserer Nation, der Notwendigkeit der Verteidigung und in Klärung aller praktischen Fragen zu einem bestimmten Entschluß kommt, dann ist zum mindesten der legale Gehorsam zu leisten.

(Oho-Rufe bei der SPD.)

— Er ist zu leisten, Herr Kollege!

(Abg. Merten: Grundgesetz! — Abg. Arnholz: Artikel 1!)

— Sie gestatten, daß ich fortfahre. Ich werde versuchen, noch etwas zu differenzieren. Der Gehorsam ist zu leisten. Nun hat es den Vätern des Grundgesetzes zweifellos vorgeschwebt, daß in der heutigen Zeit alle jene schwierigen Theorien vom gerechten und ungerechten Krieg und von all den schwierigen Voraussetzungen, die für die Gerechtigkeit eines Krieges zu erbringen sind, vor allem der Verteidigungscharakter, unerhört schwierige Probleme ergeben und auch jedem einzelnen, wenn er Wert darauf legt, einen echten Gewissensspruch zu tun und ihm zu folgen, unerhörte Schwierigkeiten auferlegen. Wir kommen aber nicht daran vorbei, gerade in Würdigung der gesamten so schwer gewordenen Zu- und Umstände auf der einen Seite die Gehorsamsposition klar zu halten, wobei ich vom Begriff Gehorsam jede falsche Deutung fernhalten möchte. Auf der anderen Seite muß es möglich sein, daß auch in dieser noch so schwierigen und vielfach undurchsichtigen Situation der Gewissensspruch zum Zuge kommt. Ich habe keinerlei Hemmungen, für meine Person zu erklären, daß die Fassung des einschlägigen § 25, die Sie angesprochen haben, Herr Kollege Merten, wahrscheinlich im Ausschuß einer Differenzierung und Ausfeilung bedürftig ist. Ich habe den Freimut, ganz offen zu erklären, wo ich die Schwierigkeiten sehe. Hier steht: Wer sich aus grundsätzlicher religiöser oder sittlicher Überzeugung allgemein zur Gewaltlosigkeit bekennt". Das könnte — vielleicht interpretiere ich zu formal — insinuieren, daß nur
das geschützt wird, was ich einen sehr exzessiven Pazifismus nennen möchte. So, glaube ich, kann der Gesetzgeber es nicht gemeint haben, und es scheint auch nicht der Meinung meiner Fraktion zu entsprechen, wenn es von Ihnen prima vista so interpretiert würde. Denn damit würden wir nur eine ganz allgemein und radikal pazifistische Haltung schützen. Oder, wenn ich es einmal etwas burschikos sagen darf, es müßte zweckmäßigerweise jeder den Nachweis einer solchen Ablehnung des Waffendienstes dadurch erbringen, daß er sich vorher bei den Quäkern, bei den Zeugen Jehovas oder sonst irgendwo einschreiben läßt. Das kann und darf nicht der Sinn dieser Bestimmung sein. In dem Sinne müssen diese Bestimmungen distinguiert werden. Denn es ist durchaus möglich, Herr Minister, daß ich mich allgemein zum Waffendienst oder den Möglichkeiten des Waffendienstes bekenne, daß ich aber aus der heutigen Zeitsituation, aus einer vielleicht einmaligen und konkreten Situation — die in keiner Weise insinuieren würde, daß ich etwas Politisches damit meine, sondern aus der sich ergäbe, daß ich etwas konkret Ethisches damit meine — zu der Überzeugung komme, der Kriegsdienst ist für das eine oder andere Gewissen nicht annehmbar und nicht vollziehbar.
Ich glaube, damit ist das Wichtigste gesagt. Ich darf aber noch auf ein vielleicht naheliegendes psychologisches Mißverständnis eingehen. Es scheint vielen Mitgliedern dieses Hauses, quer durch alle Fraktionen, das beste zu sein, wenn man ganz klar den militärischen und politischen Kern jener Forderungen und jener Maßnahmen herausarbeitet, die in diesem Gesetz niedergelegt sind, wenn man also ideologisch nicht mehr, als zu beweisen ist, beweist. Das gilt z. B. für die ideologische Begründung der allgemeinen Wehrpflicht. Man kann in diesem Zusammenhang auch historisch durchaus der Meinung sein, daß etwa die Formel von dem „legitimen Kind der Demokratie" etwas zu wenig weit in die Geschichte zurückgeht. Ich sehe da manch einen in der Gesellschaft sehr schätzenswerter Jakobiner, die sonst gern auf sehr viel weitergehende demokratische Traditionen zurückgreifen. Es ist möglich, daß auf Grund einer in der Diskussion unterlaufenen Verkürzung mancher Argumente für diese Frage — das verstehe ich durchaus — eine schwierige Situation entstanden ist.
Lassen Sie mich zum Schluß, ohne daß ich Ihre Geduld allzu lange auf die Folter spannen will, noch etwas sagen, was in diesem Hause wiederholt angesprochen worden ist. Ich erinnere mich z. B. an Ausführungen, die vor längerer Zeit der geschätzte Kollege Arndt gemacht hat. Wie ernst wir diese Frage zu nehmen wünschen, Herr Kollege Merten, möchte ich Ihnen auch daran demonstrieren, daß ich sage, daß wir auch das, was man moralphilosophisch etwa die Lehre vom „error invincibilis" — dem Theologen sofort verständlich —, die Lehre vom „irrenden Gewissen" nennt, dem durch keinerlei Zuspruch beizukommen ist, ernst nehmen und daß wir auch diesem irrenden Gewissen, wenn es sich vor einem entsprechenden Gremium als Gewissen und nicht als Ausflucht für außerhalb der Gewissenssphäre liegende Absichten erweist, als dem souveränen Gewissen Anerkennung zollen. Wir werden bemüht sein, in den Ausschußberatungen eine Präzisierung, eine Differenzierung der hier zur Debatte stehenden Paragraphen vorzunehmen.


(Nellen)

Ich darf schließen mit einem klassisch gewordenen Wort. Dieses Wort ist für uns besonders aktuell. Es darf ausgesprochen werden; denn wir schmeicheln uns nicht nur, sondern wir können verzeichnen, daß wir Christen der beiden großen Konfessionen in besonders großer Zahl in unseren Reihen haben. Es gibt zwischen dem evangelischen und dem katholischen Bekenntnis in diesen Fragen keinen grundsätzlichen Unterschied. Ich darf in Parenthese einen Artikel zurückweisen, der vor Jahren in einer bekannten Wochenzeitung stand und in dem ein etwas verwegener Leitartikler behauptete, ein Katholik oder ein orthodoxer Protestant könne überhaupt qua Katholik una Protestant kein Kriegsdienstverweigerer sein. Das ist natürlich weit übers Ziel hinausgeschossen. Ich darf Sie an den Ausspruch eines Mannes erinnern, der beiden Kirchen, wenn ich so sagen darf, angehört, einen der größten Männer des 19. Jahrhunderts, an den Kardinal Newman, von dem Sie wahrscheinlich wissen, daß man ihn einmal auf einem Bankett aufforderte, einen Trinkspruch auf den Papst auszubringen. Dieser außerordentlich distinguierte Abendländer, Europäer und Christ, Anglikaner und dann Katholik sagte: „Nun, wenn es angemessen sein sollte, auf Seine Heiligkeit einen Trinkspruch auszubringen, dann zuerst auf das Gewissen." Sie dürfen gewiß sein, daß wir uns eines solchen Mannes jederzeit gerne erinnern und daß wir seine Auffassung in den konkreten Beratungen zu praktizieren wünschen.

(Beifall bei allen Parteien.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214314100
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Reif.

Dr. Hans Reif (FDP):
Rede ID: ID0214314200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Worte des Herrn Bundesverteidigungsministers zu dieser Frage haben uns etwas beruhigt, und diese Beruhigung ist noch verstärkt worden durch die Ausführungen, die der Kollege Nellen soeben hier vor dem Hohen Hause gemacht hat. Wir haben es nicht verdient, daß man diese Frage der Gewissensentscheidung in bezug auf den Kriegsdienst — genauer gesprochen, in bezug auf die Möglichkeit zu töten — leicht nimmt.
Wir waren stolz auf die neue und bis dahin wohl in der Erfahrung nicht vorkommende Rechtsnatur der Grundrechte im Bonner Grundgesetz. Wir sollten, glaube ich, auf diese echte Errungenschaft der Rechts- und Verfassungsgeschichte so stolz sein, daß wir daran nicht rütteln lassen und durch keine Bequemlichkeit der Anwendungspraxis des Rechtslebens — in diesem Fall also auch nicht durch ein Gesetz, das dieses Haus verabschiedet — den Eindruck erwecken, daß wir Grundrechte einschränken wollen oder dies gar in Wirklichkeit tun. Der Respekt vor dem Rechtscharakter der Grundrechte als subjektiver öffentlicher Rechte sollte in diesem Hause vor und über jedem Gesetzgebungsakt stehen.
Ich möchte wiederholen, daß ich nach den soeben gehörten Erklärungen gerne den beruhigenden Eindruck mitnehme, daß es sich offenbar bei dem Text der Regierungsvorlage um eine Art Arbeit ins Konzept handelt,

(Sehr gut! bei der SPD)

von der der Herr Bundesverteidigungsminister selbst überzeugt ist, daß erst durch die Arbeit im Ausschuß der Rechtscharakter hergestellt werden
kann, der sich eigentlich nach unserem Grundgesetz von selbst verstehen sollte.

(Zustimmung bei der FDP und SPD.) Wir nehmen das also sehr gerne zur Kenntnis.

Ich möchte entgegen meiner ursprünglichen Absicht auf das eigentliche moralische Problem der Kriegsdienstverweigerung gar nicht näher eingehen; nur eins erlauben Sie mir auszusprechen. Wenn man sich auf die individuelle Gewissensentscheidung beruft, hat man auch das Recht, Gewissen, ich möchte einmal sagen, nach dem Grad der Gewissenhaftigkeit des Gewissens zu unterscheiden. Ich möchte mich durchaus zu dem Satz bekennen, daß das Gewissen über dem Gesetz steht, — aber nur das äußerst gewissenhafte Gewissen. Der Herr Kollege Nellen hat von dem irrenden Gewissen gesprochen. So weit wollte ich gar nicht gehen. Ich bin der Meinung, daß das Gewissen, jedenfalls das Gewissen, das von politischer Gewissenhaftigkeit durchdrungen ist, den Staat mit einschließt, d. h. auch die Notwendigkeiten und Bedingungen seiner Existenz. Wir wollen uns um diese Sache nicht herumdrücken. Nun bitte ich das Hohe Haus, mir zu erlauben, aus diesem einen Ausschnitt der Vorlage eine Konsequenz zu ziehen. Wir teilen die hier vorgetragene Auffassung, daß auch im demokratischen Staat, nein, daß erst recht im demokratischen Staat eine Gehorsamspflicht des Bürgers gegenüber den auf demokratischem Wege zustande gekommenen Gesetzen besteht. Die Demokratie würde ihren Sinn und ihre Würde verlieren, wenn das anders wäre. Wir sind der Meinung, daß der Gehorsam des demokratischen Bürgers gegenüber dem Gesetz moralisch sehr viel höher steht als das Sichfügen des Untertanen in ein Gesetz, an dessen Herstellung er in keiner Weise beteiligt war und das er gar nicht mit zu verantworten hat. Das sind eigentlich Dinge, die wir der Diskussion als selbstverständlich vorausstellen.
Wir erwarten jenen Gehorsam, wir erwarten, daß der Bürger der Bundesrepublik, wenn dieses Gesetz, wie auch immer, zur Verabschiedung gelangt ist, dem Gesetz gegenüber jenen Gehorsam erweist, den der demokratische Bürger zu erweisen hat. Sollten wir dann nicht einen Augenblick überlegen, ob wir bei der bisherigen Behandlung dieses Gesetzes, nämlich bei der Art der Einbringung und auch bei der Art der Begründung, es nicht vielleicht dem demokratischen Bürger sehr schwer gemacht haben, überzeugt zu sein, daß es sich um ein demokratisches Gesetz handelt? Zeigen denn nicht die Beiträge in dieser Diskussion — jedenfalls dem unverbildeten Bürger zeigen sie das doch ganz gewiß; nehmen Sie doch den Sonderfall der Erklärung der Deutschen Partei und der Ausführungen, die der Herr Kollege Schneider hier gemacht hat —, daß gewissenhafte Frauen und Männer in diesem Hause — ich könnte sogar Namen aus der CDU nennen, von Persönlichkeiten, mit denen ich mich in den letzten Tagen unterhalten habe — mit ihrer Gewissensentscheidung und mit der sachlichen Prüfung der Frage, ob die allgemeine Wehrpflicht wirklich das Richtige ist, noch gar nicht fertig sind?

(Sehr richtig! bei der SPD.)

Sollten wir nicht, gerade weil wir den Gehorsam des demokratischen Bürgers für das demokratische Gesetz fordern, ihm zeigen, daß auch wirklich ein demokratisches Gesetz geschaffen wird in dem Sinne — nun nehme ich das Wort von der repräsentativen Demokratie auf —, daß die Persönlich-


(Dr. Reif)

ketten, die den Bürger in diesem Hause repräsentieren — und darum geht es j a —, wirklich mit allem Ernst, unter Kenntnis aller politischen, strategischen und sonstigen Gesichtspunkte zu einem Entschluß sich durchgerungen haben, der dann allerdings endgültig sein soll? Ich habe so etwas das Gefühl — ich bitte, mir das nicht übelzunehmen —, daß wir im Grunde genommen am Anfang der Diskussion stehen, so daß wir zwar eine Vorlage einem Ausschuß überweisen können, aber eigentlich bei diesem Überweisungsbeschluß nicht gleichzeitig schon dem Prinzip zustimmen können. Über dessen Bejahung oder Verneinung kann wahrscheinlich erst bei sehr gewissenhafter und sehr sachverständiger Auseinandersetzung im Ausschuß entschieden werden.

(Beifall bei der SPD.)

Das ist mein Anliegen.
Ich darf noch eines hinzufügen. Die Frage der Wehrverfassung ist eine Frage, die für die sogenannte Verfassungswirklichkeit, d. h. für die Frage, wie sich bei einer formalen demokratischen Verfassung die Dinge im Volk auf die Dauer abspielen, von geradezu ungeheurer Bedeutung ist. Ich glaube auch, daß dieses Problem unter dem Gesichtspunkt Berufsheer, allgemeine Dienstpflicht oder Miliz von uns noch nicht genügend behandelt worden ist. Man darf es sich nicht so leicht machen, wie ich es gelegentlich gehört habe, daß man sagt: Wir hatten in Weimar keine allgemeine Wehrpflicht, und daran ist der Weimarer Staat zugrunde gegangen. Wer Weimar bewußt miterlebt hat und wer sich Mühe gegeben hat, das Schicksal dieses ersten großen demokratischen Versuchs unseres Vaterlandes zu verstehen, der kommt vielmehr zu der Überzeugung, daß, wenn schon die Wehrmacht 'im Weimarer Staat einen Fremdkörper gebildet hat, sie ihn deshalb gebildet hat, weil die Spitze der Wehrmacht in Wirklichkeit niemandem verantwortlich war. Das ist der Grund — auch das möchte ich in dieser Stunde dem Hause sagen —, der mich veranlaßt hätte, wenn ich als Berliner Abgeordneter hätte mitstimmen dürfen, gegen die letzte Entscheidung des Bundestages in der Frage der Wehrgesetze zu stimmen, weil man sich des Rechtes begeben hat, diejenige Kontrolle der Wehrmacht wirklich durchzuführen, die nach allen Erfahrungen des Verfassungslebens im Inland und im Ausland nur möglich ist, wenn der Verteidigungsminister dem Parlament direkt verantwortlich ist.

(Beifall bei der FDP und der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214314300
Das Wort hat der Abgeordnete Berendsen.

Fritz Berendsen (CDU):
Rede ID: ID0214314400
Herr Präsident! Meine Damen und Heren! Ich glaube, von den Koalitionsparteien bin ich der letzte Redner. Ich habe die Aufgabe, Sie zu bitten, die Schlußfolgerungen aus der heutigen Debatte zu ziehen. Was wir gehört haben, war teilweise sehr lehrreich und wird uns Anlaß zum Nachdenken geben. Teilweise, muß ich ehrlich gestehen, habe ich es nicht ganz verstanden, vor allem das, was, ich möchte sagen, von unserem Jungstrategen vorgebracht worden ist. Das ging so weit in das Fachliche hinein, daß man wohl noch ein Sonderstudium ansetzen muß, ehe man der Sache auf den Grund gehen kann.
Im übrigen bin ich ermächtigt, weil der Name des Feldmarschalls von Manstein mit diesen Dingen in Verbindung gebracht und auch in der Presse erwähnt wurde, zu erklären — ich habe ihn angerufen und gefragt —, daß er mit den Dingen nicht das geringste zu tun hat, daß er keine Denkschrift irgend jemandem, also auch nicht etwa diesen Herren übergeben hat. Es müssen also noch höhere Geister sein, die dahinterstehen.
Wie es auch sei, wir sind jetzt am Ende der Debatte und kommen wahrscheinlich zur Abstimmung darüber, an welche Ausschüsse diese Vorlage überwiesen werden soll. Im Namen der Koalitionsparteien darf ich Ihnen vorschlagen, die Vorlage an den Verteidigungsausschuß — federführend — und an den Rechtsausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Ich hoffe, daß in der Abstimmung auch unsere Freunde von der Sozialdemokratie — es handelt sich um die erste Lesung einer grundsätzlichen Sache, die auch Ihnen sicherlich eine ganze Reihe von Möglichkeiten geben wird, an der weiteren Diskussion teilzunehmen — ihre Zustimmung nicht versagen werden.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214314500
Das Wort hat der Abgeordnete Erler.

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0214314600
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch nur ein paar ganz kurze Bemerkungen, und zwar zunächst zum Kollegen Berendsen. Ich habe heute vormittag schon dargelegt, aus welchen Gründen die sozialdemokratische Fraktion der Ausschußüberweisung dieser Vorlage nicht zustimmt.
Zum zweiten! Wenn Sie das Zitieren des Herrn von Manstein hier erwähnt haben — er ist auch noch in anderem Zusammenhang aufgetaucht —: ich jedenfalls habe nicht irgendeinen Geisterbrief oder so etwas zitiert, sondern eine leibhaftige Zuschrift des Herrn von Manstein an die „Zeit". Ich nehme an, es ist derselbe. Es steht darunter: Erich von Manstein, Generalfeldmarschall. Die Überschrift lautet: „Eingebung tut's nicht". In diesem Aufsatz hat Herr von Manstein tatsächlich die Einsetzung eines unabhängigen Sachverständigengremiums zur Prüfung der strategischen Konzeption befürwortet. Davon beißt nun einmal keine Maus einen Faden ab. Ich weiß nicht, worüber Sie sonst telefoniert haben; das war es jedenfalls nicht,

(Abg. Berendsen: Darf ich das klarstellen?) — Bitte schön!


Fritz Berendsen (CDU):
Rede ID: ID0214314700
Es handelt sich um die Schild-und-Schwert-Theorie, die hier erwähnt worden ist und die in der Presse mit seinem Namen angegeben worden ist. In der „Tat" ist es, glaube ich, zunächst gewesen. Das hat er zurückgewiesen.

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0214314800
Das war also gegen die Jungstrategen gerichtet und bezog sich nicht auf meine Ausführungen.

(Heiterkeit.)

Dann möchte ich unserem Kollegen Jaeger noch einiges sagen. Sicher würden viele Punkte seiner Rede auch unsere Zustimmung finden können, wenn diese Rede unter den Bedingungen eines Landes gehalten worden wäre, das in nationaler Geschlossenheit und Freiheit vereint ist und sich um nichts anderes zu sorgen braucht als darum, wie für dieses ganze geeinte Land die Freiheit zu schützen ist. In dieser Lage befinden wir uns aber nicht, sondern wir müssen uns hier bei allem, was


(Erler)

wir tun, auch die Konsequenzen überlegen, die sich aus unseren eigenen Taten möglicherweise für die weitere Abschnürung der getrennten Teile unseres Vaterlandes ergeben. Ich bedaure, daß dieser Teil meiner Ausführungen in der Hauptrede der Koalition, die ja unbestreitbar der Kollege Dr. Jaeger gehalten hat, kaum ein Echo gefunden hat.
Aber ich will mich hier gar nicht mit dem Herrn Kollegen Dr. Jaeger auseinandersetzen. Ich bedaure vielmehr, daß die Bundesregierung, die in der Debatte eben immerhin noch ein Zeichen ihrer physischen und geistigen Anwesenheit gegeben hat, auf die Fragen, die wir ihr in diesem Zusammenhang gestellt haben, dem Hohen Hause keinerlei Antworten zu geben für nötig fand.

(Sehr gut! bei der SPD.)

Wir haben klar gefragt: Was gedenkt denn nun die Bundesregierung zu tun, damit bei der Einführung der. Wehrpflicht die zu befürchtenden Folgen für den Personenverkehr über die Zonengrenze hinweg jedenfalls von uns aus nicht eintreten? Da wäre hier ein gutes Wort der Bundesregierung über die Richtung, die sie z. B. bei der Wehrüberwachung einzuschlagen gedenkt, am Platze gewesen.
Die Bundesregierung hat sich auch sonst in nahezu Moltkesche Schweigsamkeit gehüllt. Sie hat z. B. zu dem Vorschlage nicht Stellung genommen, daß einmal unabhängige Persönlichkeiten, die nicht durch lange Arbeit im Ministerium in gewissem Sinne betriebsblind geworden sind, jetzt wenigstens bei den Ausschußberatungen dem Parlament beratend zur Verfügung stehen bei der Prüfung der Frage, ob es unbedingt erforderlich ist, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen, oder nicht.
Die Bundesregierung hat auch die weitere Frage nicht beantwortet — das wollte ich nur noch einmal feststellen —, was sie denn eigentlich für Absichten über die Einführung der Wehrpflicht und die Aufstellung der Armee von einer halben Million Mann hinaus hat. In ihrer Denkschrift ist die Rede von einem Kader von 50 000 Mann für bodenständige Heimatverteidigung. Es gibt doch aber bei einem lebenden Wesen keine Knochen ohne Fleisch. Wenn Sie also Kader haben, gibt es doch um diese Kader auch etwas herum, zu dem der Kader eben nur das eigentliche Gerippe darstellt. Darüber ist kein Wort gefallen. Meine Damen und Herren, ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Regierung heute zwar flammende Reden gegen die Miliz gehalten hat, daß sie uns aber in Ergänzung der allgemeinen Wehrpflicht sehr wohl noch mit einer Milizorganisation nicht unerheblichen Ausmaßes beglücken wird. Warum dann nicht die Karten ganz auf den Tisch, damit man weiß, wie die Planung der Regierung überhaupt aussieht? Hier sollte das Parlament keine stückweise Arbeit leisten und sich nicht mit Andeutungen abspeisen lassen, sondern es sollte erfahren, was beabsichtigt ist!
Und dann das schamhafte Schweigen darüber, wann denn eigentlich die Denkschrift der Bundesregierung im Verteidigungskabinett beraten und im Bundeskabinett beschlossen worden ist!

(Zuruf von der SPD: Überhaupt nicht!)

Auch darüber haben wir keinen Satz gehört, und das interessiert doch das Parlament immerhin, damit es weiß, welches Gewicht dieser Denkschrift zukommt und wie die Verantwortlichkeiten verteilt sind.
Ich wollte ganz bewußt am Schluß dieser Debatte nur noch einmal klarstellen, daß sie ausgeht wie manche andere, daß im Hause ernste Fragen gestellt werden und die Regierung es nicht für erforderlich hält, diese Fragen zu beantworten.

(Abg. Mellies: Der Verteidigungsminister als der große Schweiger!)

Eine letzte Bemerkung! Die angebliche völkerrechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik, eine Armee von einer halben Million Mann auf der Grundlage der Wehrpflicht aufzustellen, ist hier nun wohl endgültig auf der Strecke geblieben.

(Abg. Schröter [Wilmersdorf] : Aber die Bundesregierung gibt's nicht zu!)

Übriggeblieben ist die Erklärung, daß es sich um den seit langem bekannten Willen der Mehrheit dieses Hauses handelt, die nach wie vor zu diesem ihrem Willen steht, der auch den anderen Vertragspartnern bekannt ist. Das ist etwas völlig anderes als die verbriefte und besiegelte völkerrechtlich bindende Verpflichtung der Bundesrepublik aus dem Vertrag.

(Sehr gut! bei der SPD.)

Ich muß dem Kollegen Dr. Jaeger das Kompliment machen, daß er diesen Rückzug in hinhaltender Verteidigung sehr geschickt geführt hat. Aber zum Schluß ist es ihm doch nicht erspart geblieben, sich aus der unhaltbar gewordenen Stellung der Bundesregierung abzusetzen, und wir haben es alle mit Befriedigung zur Kenntnis genommen.

(Beifall bei der SPD und beim GB/BHE.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214314900
Das Wort hat der Bundesminister für Verteidigung.

(Zuruf von der SPD: Jetzt kommt die Antwort!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214315000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat von dem, was ich heute morgen gesagt habe, nichts zurückzunehmen.

(Zurufe von der SPD und rechts.)

Die Bundesregierung hält nach wie vor an ihrer Auffassung fest, daß sie eine völkerrechtliche Verpflichtung eingegangen ist in dem Umfang, wie wir es Ihnen dargelegt haben.

(Zuruf von der SPD: Bitte beweisen!)

Aber die Bundesregierung nimmt auch keine Anstände — was ich übrigens heute morgen in meiner Rede schon getan habe —, zu erklären — und sie weiß sich dabei in Übereinstimmung mit der Mehrheit dieses Hauses —, daß sie es im Interesse des deutschen Volkes und seiner Sicherheit für erforderlich hält, Streitkräfte in dem vorgesehenen Umfang aufzustellen. Denn die Bundesregierung ist verpflichtet, für die Sicherheit des deutschen Volkes zu sorgen.

(Beifall in der Mitte.)

Nun, was das Zweite betrifft! Sie möchten von mir wissen, wann und wo die Denkschrift entstanden ist, wann sie die Billigung des Verteidigungskabinetts und wann sie die Billigung des Kabinetts gefunden hat.

(Zurufe von der SPD.)

— Ach, meine Herren, Sie werden sehen, so interessant ist das gar nicht, wie Sie glauben. Diese


(Bundesverteidigungsminister Blank)

Schrift hat in der letzten Kabinettssitzung die Billigung des Kabinetts gefunden und ist am gleichen Tage Ihnen, den Damen und Herren Abgeordneten, und natürlich damit — worüber Sie sich, Herr Kollege Erler, beschwert haben — zur gleichen Stunde auch der deutschen Öffentlichkeit, nämlich der deutschen Presse zugänglich gemacht worden.

(Abg. Schröter [Wilmersdorf]: Stimmt ja doch gar nicht! Wir haben sie doch viel später bekommen!)

— Das stimmt ganz genau! Zur gleichen Stunde, als sie in Ihren Fächern lag

(Abg. Schröter [Wilmersdorf]: Nein!) — jawohl —


(erneute Zurufe von der SPD: Nein!)

- jawohl —, wurde sie auch der deutschen Presse zugänglich gemacht.

(Abg. Schröter [Wilmersdorf] : Nein, das ist nicht wahr! — Abg. Dr. Arndt: Das ist die Unwahrheit! — Weitere Zurufe von der SPD. — Unruhe.)

— Mit Ihrem lauten Schreien werden Sie Tatbestände nicht aus der Welt schaffen!

(Abg. Schröter [Wilmersdorf] : Mit dem englischen Parlament dürften Sie sich das nicht erlauben!)

— Wenn Sie mich mit Ihren massiven Zwischenrufen dazu zwingen, werde ich mich bemühen,

(Abg. Schröter [Wilmersdorf] : Sie provozieren doch!)

mich in diesem Hause verständlich zu machen.
Nun noch ein Drittes! Sie wollen etwas wissen über die Planungen der Bundesregierung bezüglich des weiteren Auf- und Ausbaues der deutschen Streitkräfte. Die Bundesregierung gibt fortlaufena im Verteidigungsausschuß die Auskünfte, die von ihr gewünscht werden. Ja, sie bietet sich geradezu an, solche Auskünfte zu geben. So habe ich Gelegenheit gehabt, dem Verteidigungsausschuß über den Abschluß des 6000er-Programms zu berichten. Meine Bitte, auch über die weiteren Pläne berichten zu dürfen, haben Sie, meine Damen und Herren, gebilligt, ohne — das ist aber nicht als Vorwurf gemeint, denn der Verteidigungsausschuß ist überlastet — daß ich bisher Gelegenheit hatte, das vor dem Verteidigungsausschuß darzulegen. Ich werde mich freuen, wenn ich dazu baldigst Gelegenheit haben werde.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214315100
Das Wort zu einer Erklärung hat der. Abgeordnete Bucher.

Dr. Ewald Bucher (FDP):
Rede ID: ID0214315200
Ich habe namens meiner Fraktion zu erklären, daß keiner unserer Redner in der heutigen Debatte den Namen von Manstein gebraucht hat und daß dieser Name insbesondere auch nicht für das Gutachten in Anspruch genommen wurde, aus dem Herr Dr. Mende zitiert hat. Das ergibt sich aus dem unkorrigierten Protokoll.

(Abg. Berendsen: Das hat auch niemand behauptet!)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214315300
Das Wort hat der Abgeordnete Erler.

Fritz Erler (SPD):
Rede ID: ID0214315400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erstens. Zu der Zeit, als das Kabinett tagte, um diese Denkschrift zu beschließen, ist sie bereits gedruckt der Presse übergeben worden. Das werden Sie feststellen, wenn Sie den Zeitplan verfolgen.
Zweitens. Die Abgeordneten haben die Denkschrift erst während der Sitzung des nächsten Tages

(Sehr richtig! bei der SPD)

und nicht einmal nach der Morgenverteilung in ihren Fächern vorgefunden.

(Abg. Schröter [Wilmersdorf] : Jawohl, das ist die Wahrheit!)

Drittens. Ich freue mich, daß wir uns über die strategische Konzeption unterhalten werden. Aber wir haben hier den Vorschlag gemacht, daß wir uns gerade mit unabhängigen Persönlichkeiten darüber unterhalten wollen. Wir werden das dann eben tun, ohne die Meinung der Bundesregierung dazu zur Kenntnis nehmen zu können. Das Parlament wird, wie schon so oft, dann eben aus eigenem Recht handeln.

(Zuruf des Abg. Pelster.)

— Ja, das werden wir sogar tun, Herr Kollege Pelster, das können Sie nicht einmal verhindern, denn notfalls haben wir das Recht des Untersuchungsausschusses zur Verfügung.
Schließlich als letzter Punkt: Es tut mir aufrichtig leid, daß die Bundesregierung trotz ihrer letzten Intervention keine Gelegenheit genommen hat, die eine große uns bedrängende Frage hier in diesem Hause von sich aus wenigstens mit einem Wort der Klärung zu begleiten: Was wird mit dem Verkehr der Menschen über die Zonengrenze?

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214315500
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Verteidigung.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214315600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie sehr der Bundesregierung daran gelegen ist, die Damen und Herren des Verteidigungsausschusses, die sich mit der Problematik der deutschen, europäischen und atlantischen Verteidigung zu befassen haben, über die Gesamtprobleme in Kenntnis zu setzen, mögen Sie daraus ersehen, daß wir den derzeitigen Oberbefehlshaber der Atlantikpaktorganisation, den General Gruenther, gebeten haben, vor den Damen und Herren nicht nur über die Verteidigungskonzeption zu sprechen, sondern ihnen auch zur Beantwortung von Fragen zur Verfügung zu stehen. Ich hoffe, Sie sind inzwischen bereits im Besitz meiner Einladung. Diese Besprechung findet am 9. Mai statt. Im übrigen ist es Sache der Mitglieder des Parlaments, wen immer sie als Sachverständigen hören wollen.
Herr Kollege Erler, ich kann Sie auch in dem anderen Punkt beruhigen. Selbstverständlich hat die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht auch die Wehrüberwachung zur Folge. Die Bundesregierung ist nicht der Auffassung, daß die Tatsache der Wehrüberwachung ein Hindernis für die Verständigung der Deutschen in Ost und West sein könnte.

(Zuruf von der SPD: Eine Phrase! — Abg. Metzger: Sie machen es sich leicht, Herr Minister! — Abg. Schröter [Wilmersdorf]: Sehr leicht macht es sich der Herr!)



Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214315700
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Wir kommen zur Abstimmung. Es ist der Antrag gestellt, die Vorlage zu überweisen an den Ausschuß für Verteidigung als den federführenden Ausschuß und an den Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht als mitberatenden Ausschuß. Wer für die Überweisung an die genannten Ausschüsse ist, der möge die Hand erheben. — Gegenprobe! — Erstes war die Mehrheit; es ist so beschlossen.
Damit ist dieser Punkt der Tagesordnung erledigt. Wir kommen zu Punkt 2 der heutigen Tagesordnung:
Erste Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Organisation der militärischen Landesverteidigung (Drucksache 2341).
Das Wort zur Begründung hat der Bundesminister für Verteidigung.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214315800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Organisation der Landesverteidigung, insbesondere die Spitzengliederung der Bundeswehr, und die endgültige Organisation des Bundesministeriums für Verteidigung sind nach dem Soldatengesetz vom 19. März 1956 besonderer gesetzlicher Regelung vorbehalten worden. Es ist der Sinn dieser Regelung, die Wehrverfassung — damit sind die wesentlichen Bestimmungen über die Stellung der bewaffneten Macht und des einzelnen Soldaten im Staate gemeint — organisch in die Staatsverfassung einzugliedern. Die Bundeswehr soll staatsrechtlich und soziologisch in das Verfassungsleben der Bundesrepublik eingegliedert werden. Das militärische Instrument soll entsprechend den Erfahrungen in anderen Staaten mit freiheitlicher Grundordnung der politischen Leitung des Staates untergeordnet sein. Ebenso wie die Staatsverwaltung von politischen Ministern geleitet und die Regierungen wiederum von dem vom Volk gewählten Parlament kontrolliert werden, hat auch die bewaffnete Macht der politischen Gewalt zu unterstehen. Auch die Bundeswehr ist nur ein Teil der Exekutive, und zwar ein Teil besonderer Art, da sie infolge der ihr innewohnenden Kraft und auf Grund der Kommandogewalt leicht einen Zug zur Eigengesetzlichkeit entwickeln könnte. Die politische Verantwortlichkeit muß daher im Sinne eindeutig politischer Leitung festgelegt sein.
Der Grundgedanke des Organisationsgesetzes kann angesichts des Sinnes der letzten Grundgesetzänderung mit den Worten gekennzeichnet werden: politische Leitung und parlamentarische Kontrolle.
Demgemäß entwickelt der vorliegende Gesetzentwurf die Grundzüge einer Organisation der Landesverteidigung. Der Entwurf verfolgt zwei Ziele, erstens den organisatorischen Rahmen zu schaffen, der den Aufbau eines wirksamen Verteidigungsinstruments unter Beschränkung der personellen und materiellen Kräfte auf das wirklich Notwendige ermöglicht, zweitens sicherzustellen, daß sich die neuen Streitkräfte sinnvoll in das demokratische Verfassungssystem der Bundesrepublik einfügen.
Dem Minister soll nicht nur eine passive Kontrolle über die Bundeswehr zustehen. Er hat vielmehr mit Hilfe seines Ministeriums die Bundeswehr aktiv zu führen. Hierzu hat er Soldaten, Beamte und Angestellte als Mitarbeiter, die gleichrangig zusammenarbeiten. Es gibt keine Überbewertung des einen gegenüber dem andern.
Der Entwurf berücksichtigt, daß inzwischen durch das Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 19. März 1956 schon Fundamente für die neue Wehrorganisation gelegt worden sind, die ich als bekannt voraussetzen darf. Durch die Neuregelung der Frage des Oberbefehls sind überholte Vorstellungen fallengelassen worden. Der frühere Begriff des Inhabers des Oberbefehls mag gerechtfertigt gewesen sein, als sich in der Person eines Monarchen die höchste zivile und militärische Gewalt vereinigten. Inzwischen sind die Funktionen, die der Begriff Oberbefehl zum Inhalt hatte, aufgeteilt in Repräsentations- und Ehrenrechte eines Oberbefehlshabers, in die politischen Funktionen eines Oberbefehlshabers, in Funktionen eines internationalen Oberbefehlshabers wie z. B. im westlichen Verteidigungssystem der NATO und in verbleibende nationale militärische Kommando- und Befehlsrechte. Wenn dem Verteidigungsminister demgemäß die Kommando- und Befehlsgewalt über die von ihm zu leitende Bundeswehr übertragen wurde, ist es konsequent, den obersten Befehlsapparat der Bundeswehr in das Arbeitsorgan des Ministers, nämlich das Bundesministerium für Verteidigung, einzubauen, wie es der Entwurf des Organisationsgesetzes vorsieht.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der Länge der Debatte zum Wehrpflichtgesetz darf ich davon absehen, Ihnen nunmehr auch noch die einzelnen Bestimmungen des vorliegenden Organisationsgesetzes zu erläutern. Ich möchte annehmen, Ihr Einverständnis zu finden, wenn ich hierzu auf die amtliche Begründung verweise. Zudem wird sich in den zuständigen Ausschössen Gelegenheit bieten, die einzelnen Fragen ausführlich zu erörtern. Ich schmeichle mir sogar, daß ich hier wieder einmal die Zustimmung des Herrn Kollegen Erler finde; denn bei diesem Gesetz handelt es sich wiederum um eines, das ich, bevor ich es konzipiert habe, sehr ausführlich und lange mit Vertretern aller Parteien in meinem Ministerium besprochen habe.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214315900
Der Entwurf eines Gesetzes über die Organisation der militärischen Landesverteidigung ist eingebracht und begründet. Ich eröffne die allgemeine Aussprache in der ersten Beratung.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Reichstein.

Dr. Willy Reichstein (GB/BHE):
Rede ID: ID0214316000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An diesem an Zitaten so reichen Nachmittag darf ich meine Ausführungen vielleicht auch mit einem Zitat beginnen, das Sie gern hören werden: „Da Kürze nun des Witzes Seele ist, faß' ich mich kurz".
Ich möchte auf zwei Dinge in diesem Gesetz zu sprechen kommen, zunächst auf das Bemühen, dem der Herr Verteidigungsminister bei der Begründung einen gewissen Raum gegeben hat, nämlich mit Hilfe dieses Gesetzes eine sinnvolle Einfügung unserer bewaffneten Macht in das Verfassungssystem der parlamentarischen Demokratie herzustellen. Damit wird also das Problem des Gleichgewichts zwischen dem Militärischen und dem Zivilen angesprochen. Es ist das Problem der parla-


(Dr. Reichstein)

mentarisch-politischen Kontrolle, das Problem der bewaffneten Macht in der Demokratie überhaupt. Wir — das ganze Haus — haben uns in den bisherigen Wehrgesetzen und auch in der Grundgesetzänderung bemüht, diesen Gedanken den uns richtig scheinenden Ausdruck zu geben.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit noch einmal bedauern, daß das Haus mit Mehrheit unseren Antrag abgelehnt hat, wegen der besonderen Verantwortungsfülle, die der Verteidigungsminister hat, ihn auch einer besonderen parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen. Bei aller Begründung der Ablehnung aus rechtlichen und insbesondere verfassungsrechtlichen Erwägungen sehen wir doch nach wie vor die Gefahr, daß einmal eine nicht mehr ausreichende Vertrauensbasis vielleicht deshalb zu spät festgestellt werden könnte, weil die Mehrheit des Hauses das nicht gleich in die Form eines Mißtrauens gegen den Regierungschef selber kleiden möchte.
Wir müssen uns — das gilt für das Verteidigungsministerium und auch für uns im allgemeinen — darüber im klaren sein, daß unser Anliegen nicht allein durch die Organisation gelöst werden kann. Es wird vielmehr von der Politik, die der verantwortliche Minister treibt, abhängen, ob das, was wir wollen, auch eintritt, nämlich daß der Militärdienst immer und zu allen Zeiten den Charakter eines öffentlichen Dienstes zum Schutze des Staates behält, ohne jemals die freiheitliche Grundordnung unseres Staates, das Recht und den Frieden zu gefährden. Wir müssen darauf achten, daß aus dem Besitz einer vielleicht noch ungeahnten Macht keine pathologischen Rauschzustände mehr eintreten, auf der andern Seite aber ebenso wenig ein pathetisches Hingebungsbedürfnis!

(Abg. Dr. Keller: Sehr gut!)

Wer nach den letzten Kriegen noch den Mut zu einer idealistischen Verklärung des Krieges aufbringt, gehört ins Narrenhaus, auch wenn er Redakteur von vielleicht subventionierten Zeitschriften sein sollte.

(Sehr gut! beim GB/BHE.)

Wir dürfen in dem Zusammenhang auch noch einmal auf ein Zitat des Historikers Ritter verweisen, der sehr deutlich sagt, daß alle äußere Organisation der staatlichen Führungsstellen wenig bedeute im Vergleich mit dem Geist, der die leitenden Männer erfüllt.
Es ist bei der Organisation des Ministeriums, bei der Organisation der bewaffneten Macht in der Demokratie, doch sehr zu beachten, daß zum erstenmal in unserem neuen Staatswesen eine Massenorganisation, eine zum Teil über die Pflicht herbeigeführte Zwangsorganisation entsteht mit sonst nirgends vorhandenen Einwirkungsmöglichkeiten. Man wird dabei berücksichtigen müssen, daß sich die Jugend von manchen Denkformen und Lebensformen, die gewisse Leute, offenbar auch im Verteidigungsministerium, auch unter dem Begriff der Tradition fassen wollen, längst verabschiedet hat!

(Sehr gut! beim GB/BHE.)

Ein Zweites: daß unsere Staatsform nicht etwa schon durch unser Wahlrecht oder durch Gesetze ausreichend geschützt ist — ich darf in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß man in der vergangenen Zeit nicht ganz unberechtigt manchmal von „Adolf Légalité" gesprochen hat, sondern daß unser neues Staatswesen seinen echten Schutz durch das innere Verhältnis erhält, das die Bürger an dieses ihr Staatswesen bindet. Es soll darauf geachtet werden, daß die Bundeswehr nicht eine Gemeinschaft wird, in der der Soldat als fertige Ware die Meinungen bezieht, von denen er lebt.
Der Entwurf dieses Gesetzes und auch der mit ihm zusammenhängende Organisationsplan werden gründlicher Beratungen im Ausschuß bedürfen. Denn es müssen — das ist nicht immer leicht — Dinge verschiedener Wertigkeit durch dieses Gesetz und diesen Plan in das gebührende Verhältnis zueinander gebracht werden.
In der Begründung wird darauf hingewiesen, daß die Abteilungen gleichgeordnet sein sollen und daß dadurch auch erkennbar sein soll, daß alle Aufgaben gleich gewertet werden sollen. Nun, meine Damen und Herren, in einem eigenen Paragraphen, dem § 11, ist ein gebührender Raum der Militärseelsorge gewidmet. Wir werden das begrüßen, wenn es der Ausdruck dafür sein soll, daß das, was so oft mit dem Begriff „Menschlichkeit" — vielleicht ohne daß man sich Gedanken darüber macht — gesagt werden soll, und das Recht der freien Persönlichkeit auch und gerade bei der bewaffneten Macht beachtet werden soll. Aber es erhebt sich dann sofort die Frage: Wie steht es denn — nach berechtigter Berücksichtigung des seelischen Wohls — mit dem leiblichen Wohl? Meine Damen und Herren, ich darf Sie — und auch Sie, Herr Verteidigungsminister — in allem Ernst darauf aufmerksam machen, daß im Gesetz von diesen Dingen, nämlich vom Gesundheitswesen, mit keinem Wort die Rede ist und daß in dem Plan dieser Teil der Fürsorge für die Soldaten als eine Unterabteilung aufgeführt wird und damit nach außen und für jedermann erkennbar eine geringere Bedeutung erhält als etwa Recht, Liegenschaften oder Technik! Es müssen daraufhin berechtigte Zweifel auftreten, ob im Ministerium diesem Gebiet die gebotene
Beachtung geschenkt wird. Es entsteht damit in der Öffentlichkeit der Eindruck — woran niemand, am wenigsten das Ministerium selbst, interessiert sein kann! —, daß die Organisation des Kampfes und des Zerstörens und alles das, was damit zusammenhängt — wenn es auch zum Zwecke der Verteidigung geschieht —, höher gewertet werden als die Bemühungen, das Leben zu erhalten.

(Sehr gut! beim GB/BHE.)

Die deutsche Bevölkerung, der nun wieder die allgemeine Wehrpflicht zugemutet wird, muß erwarten können — ich glaube, sie wird es auch sehr deutlich fordern! —, daß zu ihrem direkten Schutz und insbesondere zu dem der Soldaten die größten Anstrengungen gerade gut genug sind. Ich meine, erkennbare Zeichen, daß die Ehrfurcht vor dem Leben auch zu den Grundsätzen unseres Staates gehört, sind hier am Platze.

(Zustimmung beim GB/BHE und bei der CDU/CSU.)

Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, daß in manchen Kreisen — erlauben Sie mir diese allgemeine Umschreibung — das Gesundheitswesen in der Bundeswehr unter dem Zerrbild des Sanitätsgefreiten Neumann gesehen wird, den man nur im Ernstfall dicht genug neben sich wünscht!
Schon diese Gesichtspunkte allein begründen nach meiner Auffassung die Forderungen nach einer der Aufgabe entsprechenden Stellung in der Organisation, d. h. eine eigene Abteilung für den Gesundheitsdienst bei der Bundeswehr. Dieses


(Dr. Reichstein)

Haus wird sich — so hoffe ich — dieser Ansicht anschließen und damit erkennbar für die deutsche Öffentlichkeit bekunden, daß es eine gesundheitliche Hilfe für die Soldaten wünscht, die vor dem eigenen Gewissen und vor dem ganzen Volk auch verantwortet werden kann. Nur bei ganz oberflächlicher Betrachtung, die aber offenbar in gewissen verantwortlichen Kreisen noch Raum hat, kann man unterstellen, es handle sich bei diesem Gedanken um die Sonderwünsche eines Standes. Es geht bei dieser Frage nicht etwa um den Stand der Ärzte, von denen übrigens im letzten Krieg die Hälfte Soldat war und etwa ein Fünftel gefallen ist, sondern ausschließlich um die Sicherstellung der bestmöglichen gesundheitlichen Versorgung der Soldaten.
Über diese allgemeinen Überlegungen hinaus wird die gleiche Forderung zu erheben sein bei der gebotenen Beachtung der Erfahrungen in der Vergangenheit und der Berücksichtigung dessen, was noch unbekannte technische Entwicklungen auf diesem Gebiete uns an Vorbereitungen aufzwingen, von denen wir zwar hoffen wollen, sie im Ernst nie erleben zu müssen, auf die wir uns aber vorbereiten müssen. Wir werden Gelegenheit haben, im Ausschuß diese sehr wichtige Frage in seiner ganzen Breite zu behandeln, und, Herr Verteidigungsminister, ich darf an dieser Stelle sagen: wir werden es, wenn es notwendig ist, mit einer Leidenschaft und einer Härte tun, die nur gute Dinge verdienen. Vielleicht aber verschließt sich der Herr Verteidigungsminister am allerwenigsten diesen Argumenten und gibt schon jetzt nach der Rückkehr in sein „Pentabonn" die Anweisung zur Einleitung erfolgreicher Absetzbewegungen in diesem Punkte.
Ich knüpfte die Bemerkungen über die auch in dem Organisationsgesetz zu regelnde Fürsorge für das leibliche Wohl an die zu begrüßenden Bestimmungen zur Wahrung des seelischen Wohles der Soldaten an. Lassen Sie mich dazu ein Schlußwort sagen. Ich weiß nicht, ob beabsichtigt ist, für das Bundesverteidigungsministerium Abendsprüche oder ein Abendgebet einzuführen. Ich möchte aber dann zu bedenken geben, ob nicht, wie auch vielleicht für uns im Parlament, der Ausspruch des englischen Dichters Meredith sehr geeignet wäre: „Gib uns, o Herr, mehr Klugheit, daß wir nicht die schöne Welt verderben statt gewinnen!"

(Beifall beim GB/BHE.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214316100
Das Wort hat der Abgeordnete Mende.

Dr. Erich Mende (CDU):
Rede ID: ID0214316200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion der Freien Demokraten begrüßt die Vorlage des Organisationsgesetzes, das im Juli vorigen Jahres bei dem Beschluß über das Freiwilligengesetz gefordert worden ist und das leider erst jetzt, im Mai, hier in erster Lesung behandelt wird. Ich darf einige Ergänzungen zu dem machen, was Herr Kollege Reichstein bezüglich der Sanitätsinspektion hier dargelegt hat.
Wir glauben, daß es dem möglichen atomaren Krieg mit seinen unerhörten Verwüstungen durch die radioaktiven Gammastrahlen nicht entspricht, wenn man das Sanitätswesen lediglich als Unterabteilung einer Hauptabteilung organisiert. Uns scheint, daß die Erhaltung der Substanz und auch die Erhaltung des Kämpfers ein so hohes Ziel jeder modernen Kriegführung ist, daß man daher das Sanitätswesen wesentlich stärker, etwa im Rahmen eines Sanitätsinspekteurs, in die Organisation einbauen und dem Verteidigungsminister sowie seinem Staatssekretär unmittelbar unterstellen sollte; denn der Verteidigungsminister ist auch für das gesamte Sanitätswesen der Bundeswehr verantwortlich. Eine solche Entwicklung scheint sich jetzt auch anzubahnen, nicht zuletzt unter dem Einfluß der ärztlichen Standesorganisationen. Ich glaube, daß wir den ersten Sanitätsoffizier bereits in wenigen Tagen sehen werden, nachdem die Entscheidung über einen oberen Sanitätsoffizier bereits gefallen sein soll.
Die zweite Frage ist, ob nicht die Technik und Forschung etwas stärker im Organisationswesen der Bundeswehr herausgestellt werden müßten. Wir wissen aus den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges, wie sich Altstrategen und Jungstrategen leider. zuwenig darum gekümmert haben, die Kriegsentscheidungen auch technisch vorzubereiten, wie das England 1940 so meisterhaft bei der Schlacht um England bewiesen hat, die durch die Radartechnik und durch junge Piloten gewonnen wurde und nicht durch irgendwelche großen strategischen Planer. Also sollten auch wir im Organisationswesen der neuen Bundeswehr ein technisches Forschungsamt einrichten, ebenfalls mit einem hochqualifizierten Ingenieur, beispielsweise einem Typ unseres großen Radarspezialisten, des Staatssekretärs Professor Brandt aus Düsseldorf. Einen solchen Typ findet man vielleicht bei der Abwicklung der Zentraltechnik des Nordwestdeutschen Rundfunks, jene Spezialisten der Radartechnik, die wir dann für diese wichtige Aufgabe einsetzen könnten.
Der Fraktion der Freien Demokraten liegt sehr daran, auch einiges zu den Bestimmungen über die militärische Seelsorge zu sagen, wie sie in § 11 niedergelegt sind. Wir wissen uns in Übereinstimmung mit großen Teilen beider Kirchen, wenn wir nicht den wohluniformierten beamteten Militärgeistlichen einer staatlichen Militärseelsorge wünschen, sondern dem Militärseelsorger kirchlicher Art in dem Ornat des Priesters den Vorzug geben. Wir glauben, daß die Frage sehr eingehend, auch aus den Erfahrungen der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg, geprüft werden sollte, ob nicht der kirchliche Militärseelsorger im Ornat des Priesters den geistlichen und kirchlichen Aufgaben mehr gerecht werden würde als der uniformierte beamtete Militärgeistliche. Im übrigen gilt das, was ich sage, ohnehin nur für eine friedliche Entwicklung. Im Kampf wird selbstverständlich der Priester nicht in seinem Ornat auftreten können.
Einige Worte auch noch zu dieser späten Stunde zu der Frage der Wehrverwaltung. Es hat hier ausgezeichnete Militärbeamte gegeben, die wir uns als Vorbild nehmen können und die einen hohen Ruf der deutschen Militärverwaltung begründet haben. Es hat auch Nebenerscheinungen negativer Art gegeben, die man aber zu verallgemeinern sich hüten sollte. Daß dies vor einem Jahr hier geschehen ist, bedauere ich sehr. Wenn jetzt von dem einen Extrem der uniformierten Militärverwaltung übergegangen wird auf das andere Extrem der nur zivilen Verwaltung, so glauben wir, daß auch hier der goldene Mittelweg besser wäre. Wir schlagen ein Mischsystem sowohl ziviler wie militärischer Verwaltung vor. Die Aufgaben sollten geteilt werden in erstens zivile Verwaltungsauf-


(Dr. Mende)

gaben, die standortgebunden sind, und zweitens in Truppenverwaltungsaufgaben, die im Verband der Truppe an keinen Ort gebunden sind. Zu der ersten, zur zivilen Verwaltung sollten gehören das Unterkunftswesen, das Kassen- und Rechnungswesen, das Besoldungswesen für Beamte und Soldaten, das Personalwesen für Beamte, Angestellte und Arbeiter, während der Truppenverwaltung Aufgaben wie die Verpflegung der Truppe, die Bekleidung der Truppe, die Bewirtschaftung der Haushaltmittel, die der Truppe zur Selbstbewirtschaftung zugewiesen werden, und andere unmittelbar bei der Truppe zu erledigende Aufgaben zufallen sollten.
Zur Erfüllung der zivilen Verwaltungsaufgaben sollten Beamte, Angestellte und Arbeiter herangezogen werden, die ihre Planstellen bei bodenständigen Verwaltungen haben, etwa bei den Standortverwaltungen, Wehrbereichsverwaltungen, während für die militärischen Verwaltungsaufgaben bei der Truppe etwa für eine Übergangszeit bewährte frühere Truppen-Sonderdienst-Offiziere der alten Wehrmacht übernommen werden könnten und man für die zukünftige Entwicklung die Laufbahn des Quartiermeister-Offiziers schaffen könnte, eines Offiziers, der die allgemeine Ausbildung bis zum Leutnant genießt wie jeder andere Offizier auch, der dann aber eine Ausbildung speziell für Verwaltungstätigkeit erhält, so daß die Minderwertigkeitskomplexe, die leider mancher Zahlmeister gegenüber dem Truppenoffizier hatte, entfallen, da beide den gleichen Ausbildungsgang haben, der Quartiermeister-Offizier zusätzlich sogar noch eine Sonderausbildung aufzuweisen hat.
Wir glauben, daß diese Kombination einer zivilen mit einer Militärverwaltung, wie wir sie soeben vorschlugen und wie wir sie im einzelnen im Ausschuß für Verteidigung noch darlegen wollen, eine glücklichere Lösung als Kompromiß darstellt als die gegenwärtige rein zivile, die bei der Truppe zwangsläufig zu Schwierigkeiten führen muß.
Wir stimmen der Überweisung dieses Gesetzes an den Ausschuß zu und bitten den Ausschuß, dieses Gesetz vorrangig als das wichtigere Gesetz zu behandeln, damit baldigst über die Spitzengliederung und die Gesamtorganisation unserer Bundeswehr Klarheit besteht.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214316300
Das Wort hat der Herr Minister für die Verteidigung.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214316400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen meiner beiden geschätzten Herren Vorredner veranlassen mich, ein paar kurze Bemerkungen nur zum § 11 zu machen.
Ich glaube, Sie haben den Text hier mißverstanden. Es ist in keiner Weise davon die Rede, daß die Aufgaben der Militärseelsorge durch eine Hauptabteilung im Ministerium wahrgenommen werden sollen. Ich kenne Ihr Anliegen bezüglich der Wertigkeit des Sanitätswesens. Hier steht ganz klar, daß ein dem Verteidigungsminister nachgeordnetes Kirchenamt für die Streitkräfte und ein katholisches Bischofsamt errichtet werden und daß sich das im übrigen nach Verträgen regelt, die mit den Kirchen abgeschlossen werden. Hier sollen die Dinge also so geregelt werden, daß es nicht etwa im Ministerium eine ministerielle Hauptabteilung Seelsorge gibt, sondern daß es zwei Kirchenämter, eines für das evangelische und eines für das katholische Bekenntnis, gibt, die gewissermaßen als Bundesoberbehörde dem Ministerium nachgeordnet sind. Ich glaube deshalb, Sie durften diesen Vergleich nicht ziehen.
Ihnen, Herr Kollege Mende, möchte ich zu Ihrem Anliegen, daß der Geistliche in Zukunft nicht mehr Uniform, sondern das Gewand tragen soll, das er üblicherweise bei der Ausübung seines Seelsorgeramtes in seiner Kirche trägt, doch sagen, daß ich diese Dinge schon jahrelang in dem Ausschuß vorgetragen habe. Ich darf Sie darauf hinweisen —darüber habe ich auch im Ausschuß berichtet —,

(Sehr richtig! in der Mitte)

daß wir mit den beiden Kirchen darüber absolut einig sind, daß der Seelsorger in Zukunft nicht mehr als Uniformierter in Erscheinung tritt, sondern in dem Kleid, das eben der Seelsorgerstellung in der Kirche angemessen ist.

(Hört! Hört! in der Mitte.)

Der Bundesverteidigungsminister — er ist im allgemeinen nicht überheblich — nimmt für sich in Anspruch, diesen Gedanken als erster gehabt und in Verhandlungen mit den Kirchen durchgesetzt zu haben.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214316500
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt (Hamburg).

Helmut Schmidt (SPD):
Rede ID: ID0214316600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist kein Zufall, daß neben die Behandlung der Wehrpflichtvorlage, die ja die Politik der Pariser Verträge ausführen soll, gleichzeitig diese Organisationsgesetzvorlage tritt, welche die aus der Aufstellung von Streitkräften resultierende Macht und ihre Ausübung regulieren und kanalisieren, sie durchsichtig und kontrollierbar machen und sie schließlich dem Willen des Verfassungsgebers entsprechend auch de facto in die Hände der verantwortlichen politischen Leitung legen soll.
Mir liegt daran, hervorzuheben: Wir empfinden einen gewissen Stolz darüber, daß wir in den vorhergehenden Gesetzen zusammen mit verantwortungsfreudigen Abgeordneten anderer Fraktionen entgegen dem Willen des Herrn Bundeskanzlers durchgesetzt haben, daß diese Dinge auf dem Wege des Gesetzes und nicht mit Hilfe der sogenannten Organisationsgewalt der Bundesregierung geregelt werden. Der Herr Bundeskanzler ist ja wie auf manchen Feldern der Politik so insbesondere auch auf dem militärpolitischen Feld von einer hervorstechenden Konservativität. Er hat in diesem Falle Bedenken wegen der Einschränkung der Organisationsgewalt gehabt, die normalerweise der Bundesregierung zukommt. Und er hatte ja recht: genau das haben jedenfalls wir Sozialdemokraten uns bei der Forderung nach diesem Gesetz vorgestellt und u. a. bewußt eine Einschränkung der Organisationsgewalt der Bundesregierung auf dem militärpolitischen Felde gewollt. Wir wollten eben nicht, daß die Bundesrepublik in die Zeit von vor 1914 zurückfallen sollte, wo die Fragen der militärischen Spitzengliederung der autoritären Entscheidung des Obersten Kriegsherrn allein überlassen waren.
Wenn ich mit einem gewissen kollegialen Dank an manche Abgeordnete anderer Fraktionen hervorgehoben habe, daß es keineswegs das alleinige Werk der Sozialdemokraten gewesen ist, daß im


(Schmidt [Hamburg])

Freiwilligengesetz und im Soldatengesetz jener § 2 c — ich weiß im Augenblick nicht, wie er später endgültig benannt wurde — aufgenommen wurde, der dieses Organisationsgesetz fordert, so möchte ich doch gleichwohl auch hervorheben, daß nun einige übereifrige wehrpropagandistisch tätige Journalisten über das Ziel hinausgeschossen haben, wenn sie daraus eine sogenannte große Wehrkoalition haben herauslesen wollen. Das ist ja wohl jedenfalls nach dem Ablauf des heutigen Tages auch nicht mehr drin. Vernebelung in der Öffentlichkeit kann man also damit nicht treiben.
Warum aber ist nun tatsächlich bei der von Ihnen, meine Damen und Herren von der Rechten, nun einmal beschlossenen Aufrüstung eine gesetzliche Regelung der militärischen Spitzenorganisation notwendig? Der Blick in die Weimarer Vergangenheit weist hier durchaus auf unerfreuliche Erfahrungen hin. Die gesetzliche Schaffung eines Chefs der Heeresleitung und eines Chefs der Marineleitung innerhalb des damaligen Reichswehrministeriums in der Weimarer Republik hat gezeigt, daß die Inhaber solcher Positionen bei geeigneter Personenkonstellation in der Lage sind, den politisch verantwortlichen Minister vollständig zu isolieren und ihm die eigentliche Handlungsvollmacht aus der Hand zu winden. Bei dem Versagen von Parlament und Regierung gegenüber dem Träger der bewaffneten Macht in der Weimarer Republik waren zwar im Laufe dieser Periode viele Faktoren wirksam, nicht zuletzt der Minderwertigkeitskomplex mancher Politiker gegenüber der bewaffneten Macht, und den haben wir heute nicht, meine Damen und Herren,

(Sehr gut! bei der SPD)

und Sie (zu den Regierungsparteien) hoffentlich auch nicht.
Aus diesem Minderwertigkeitskomplex heraus fing die Fehlentwicklung damals schon an. Der Reichstag, die Legislative, hatte eben von Anfang an keinen Organisationswillen in bezug auf die Reichswehr. Hier war eine der entscheidenden Lükken, in die Herr von Seeckt und später vor allem Schleicher bei der Schaffung des Staates im Staate hineingestoßen sind. Immerhin hatte der § 8 des Reichswehrgesetzes von 1921 einen zwar unzureichenden, aber doch zu verzeichnenden Versuch gemacht, die alte militärisch-autorative Ordnung von vor 1914 zu ersetzen, — aber eben einen unzureichenden Versuch!
Die Bundesregierung mutete uns im Zusammenhang mit der Debatte vor neun Monaten über das Freiwilligengesetz zu, überhaupt keinerlei Versuch zu machen und diese ganze Materie ausschließlich der sogenannten Organisationsgewalt der Bundesregierung — d. h. praktisch den Richtlinien der Politik, die der Bundeskanzler bestimmt — zu überlassen.
Man kann aber in der preußisch-deutschen Verfassungs- und Militärgeschichte noch weiter zurückgehen, um interessante Punkte in bezug auf das Organisationsproblem der militärischen Spitze aufzuspüren. Es wäre vielleicht interessant, z. B. in das Jahr 1808 und 1809 zurückzugehen, wo Scharnhorst — und wenigstens auf diese Weise gerät eben auch der Herr Minister Blank in eine gerade Linie mit Herrn Scharnhorst -

(Heiterkeit)

versucht hat, alle militärischen Zuständigkeiten in
seiner Hand, in seiner politisch verantwortlichen
Hand zu vereinigen und gleichzeitig das Gegenzeichnungsrecht für sich als den politisch verantwortlichen Kriegsminister gegenüber dem Souverän zu erkämpfen. Sehr bald hat damals in Preußen die Reaktion gesiegt. Es wurde alles wieder aufgesplittert bis zu dem Status etwa gegen Ende des 19. Jahrhunderts oder zu Anfang des Weltkrieges unter Wilhelm II., wo vier unabhängige militärische Säulen nebeneinander standen: ein Generalstab, ein Militärkabinett, dann auch ein Kriegsminister und schließlich die kommandierenden Generale der einzelnen Armeekorps, die dem Kriegsminister nicht unterstanden. Alle diese vier Säulen liefen erst in der obersten Spitze, beim Kaiser selbst, in einer Hand zusammen. Dieselben vier Säulen gab es dann noch einmal für die Kaiserliche Marine. Eben in diesen zahlreichen militärischen Einflußmöglichkeiten auf die Staatsspitze, die mit jener Organisationsform, noch dazu ohne parlamentarische Verantwortlichkeit, gegeben waren, dokumentierte sich der vom Offiziersstand dominierte Militärstaat.
Wie wir sahen, hat die Weimarer Republik den völlig unzureichenden und nicht geglückten Versuch gemacht, nicht nur aufzuräumen mit dieser Struktur, sondern eine bessere, wirklich demokratische Struktur an ihre Stelle zu setzen. Andere Demokratien haben diesen Versuch glücklicher und erfolgreicher gemacht. Beispielsweise haben Frankreich, die Schweiz und England und — sehr sorgfältig und immer wiederholt — vor allen Dingen auch die Vereinigten Staaten diese Fragen der militärischen Spitzenorganisation durch Gesetz geregelt und nicht etwa dem Belieben der jeweiligen Regierung überlassen. Eine Demokratie darf auf eine solche gesetzgeberische Regelung gar nicht verzichten, wenn sie nicht Gefahr laufen will, im Verteidigungsministerium die Schlüsselgewalt zu verlieren.
Wenn also der vorliegende Gesetzentwurf dem Prinzip nach gefordert werden mußte, so ist er doch in seiner aktuellen Ausgestaltung an einigen entscheidenden Punkten zu kritisieren und zu bemängeln. Wir haben z. B. schon die Überschrift des Gesetzentwurfs zu bemängeln. Dort ist nur die Rede von der „militärischen Landesverteidigung". In dem früheren Stadium des Gesetzentwurfs hatte es „Landesverteidigung" schlechthin geheißen. Hier liegt ein sehr bemerkenswerter Unterschied. Die Hinzufügung des Wortes „militärisch", die eine Einschränkung darstellt — der Begriff der Vorbereitung der Landesverteidigung erstreckt sich auf viel mehr Erscheinungen des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens als nur auf den eigentlichen militärischen Sektor —, legt den Verdacht nahe, daß die übrigen Dinge der Vorbereitung der Verteidigung außerhalb des Verteidigungsministeriums geplant werden sollen, z. B. etwa in einer Art Nebengeneralstab im Annex des Bundeskanzleramtes. Wir möchten in den Ausschußberatungen gerade diesen Punkt sehr deutlich geklärt wissen. Wir sind der Meinung, daß die Verteidigungsvorbereitung im umfassenden Sinne und die Planungen dafür im Verteidigungsministerium, das parlamentarisch verantwortlich ist, gemacht werden sollten und nicht irgendwo im Dunkel oder im Halbdunkel.
Wir möchten auch gern Aufklärung über die Institution des Verteidigungsrates haben, der im Gesetz nicht behandelt ist. Es mag grundgesetzliche Einwände dagegen geben, ihn im Gesetz zu behan-


(Schmidt [Hamburg])

dein. Zumindest wäre es notwendig gewesen, in der schriftlichen und in der mündlichen Begründung des Gesetzentwurfs die Stellung dieses Organs der Regierung in seiner Aufgabenstellung und in seiner Tätigkeit einmal zu umreißen, das eigens zur Koordination der Verteidigungsvorbereitung geschaffen worden ist. Ich jedenfalls habe seinerzeit, als der Verteidigungsrat geschaffen wurde, den Eindruck gehabt, daß man damit ein ernsthaftes Instrument zu schaffen beabsichtigte. Wir haben in der Zwischenzeit gehört, daß er seit Januar nicht zusammengetreten sein soll. Vielleicht ist das bereits der Anfang vom Ende; das lasse ich dahingestellt. Aber es wäre gut, wenn darüber klarer Wein eingeschenkt würde.
Zum anderen ist zu kritisieren — darauf hat der Kollege Reichstein schon hingewiesen —, daß das Gesetz zwar sehr sorgfältig die vier militärischen Abteilungen des Bundesverteidigungsministeriums in ihrer Aufgabenstellung und Zuständigkeit definiert, sich aber über die übrigen Aufgaben dieses Ministeriums und über die dafür notwendigen Abteilungen vollständig ausschweigt. Können diese nun, Herr Minister Blank, nach Belieben umgebaut, zusammengelegt oder abgebaut werden, oder aber hielt man sie für so unwichtig, daß man sie gar nicht erst erwähnen mußte? Ich gebe zu, daß eine gewisse Flexibilität Ihres Ministeriums auch in diesem Gesetz aufrechterhalten werden muß, um die Erfahrungen, die man im Laufe von Monaten und Jahren macht, berücksichtigen zu können, ohne daß man gleich das Gesetz ändern muß. Aber es fällt z. B. auf, daß nicht nur die Frage des Sanitätswesens — darauf haben schon zwei Kollegen hingewiesen — nicht in dem Gesetz geregelt ist, daß z. B. auch die unter den heutigen Zeitläuften in der gegenwärtigen wirtschaftlichen und konjunkturellen Situation unserer Bundesrepublik außerordentlich bedeutsame Rolle der Technik und Rüstung in Ihrem Gesetzentwurf gar nicht behandelt wird. Jeder, der sich mit diesen Dingen beschäftigt, weiß doch, daß einer der wundesten Punkte in Ihrem Hause die einstweilen noch nicht vollendete Organisation auf diesem Gebiete ist, daß die meisten Pannen, die in Ihrem Hause vorkommen, doch deswegen passieren, weil diese Abteilungen Ihres Hauses noch nicht arbeitsfähig sind, teilweise sogar in der Idee noch nicht richtig konzipiert sind. Das Fehlen von Aussagen und Vorschriften gerade auf diesem Gebiet der Technik und Rüstung halten wir für einen der Hauptmängel des Gesetzes in seiner gegenwärtigen Form.
Ein dritter Punkt: Alle Damen und Herren des Hauses sind sich darüber einig, von welcher innenpolitischen und militärpolitischen Bedeutung die zukünftige Personalpolitik des Bundesverteidigungsministers sein wird, die Personalpolitik nicht nur in bezug auf die Auswahl von Fähnrichen und Leutnanten, sondern eben auch - worüber wir in diesem Hause mehrfach gesprochen haben — in bezug auf die Beförderung, Versetzung und überhaupt die Verwendung von Obersten und Generalen. In den Vorbesprechungen, auf die der Herr Minister Blank in seiner Zwischenbemerkung abhob, als er davon sprach, daß er sich bei der Konzipierung des Gesetzes auch sorgfältig mit Parlamentariern unterhalten habe, hat es, Herr Minister Blank, sehr massive Hinweise — gerade von Kollegen Ihrer Fraktion — auf die Bedeutung des richtigen Einbaues der Personalpolitik, d. h. der Personalabteilung in Ihrem Ministerium gegeben.
Ich erinnere Sie daran, daß Ihr Parteifreund Herr Heye gesagt hat, die Personalabteilung dürfe überhaupt nur unmittelbar unter dem Minister stehen, sie sei sein entscheidendes Machtinstrument. Ich lasse dahingestellt, ob das richtig oder falsch ist. Ich zitiere das nur, um in Erinnerung zu rufen, daß hier noch ein ganz wichtiger Punkt offen ist bei der Konzipierung der Struktur Ihres Ministeriums und der zukünftigen Oberkommandos der Wehrmachtteile, wenn ich so sagen darf. Den kann man doch in dem Gesetz nicht einfach übergehen oder sich darüber ausschweigen.
Ein anderer Punkt: Was ist mit der Haushaltsabteilung? Ich erinnere Sie daran, daß auf Grund der amerikanischen Gesetze zur Spitzengliederung der Streitkräfte nicht nur Haushaltsabteilungen geschaffen werden, sondern auch Kontrollabteilungen, die die Durchführung z. B. von Rüstungsaufträgen überwachen und kontrollieren. Ihr Gesetzentwurf schweigt sich über diesen Punkt aus.
Und was ist z. B. mit der gesetzlichen Verankerung der Stellung der „Inneren Führung" in Ihrem Hause? Wir wissen doch alle, daß seit Jahren ein Kampf und in den letzten Monaten ein zugespitzter Kampf besteht zwischen einer Gruppe, die sich — wenn Sie so wollen — um den Namen Baudissin kristallisiert, und einer anderen Gruppe, wobei die Zuständigkeiten in Ihrem Hause völlig ungeklärt sind und man immer Angst haben muß, daß womöglich morgen oder in der nächsten Woche von dieser ganzen „Inneren Führung" nichts bleibt als das Schlagwort. Weswegen nicht im Gesetz fundamentiert und zementiert?
Über das Sanitätswesen brauche ich nicht zu sprechen; das haben zwei Kollegen schon getan.
Aber ich möchte noch folgende Frage aufwerfen. Der § 52 e des Soldatengesetzes alias 2 c des Freiwilligengesetzes sagt doch: „Die Organisation der Verteidigung bleibt gesetzlicher Regelung vorbehalten." In einem Nebensatz heißt es: „insbesondere die Spitzengliederung der Bundeswehr und die Organisation des Verteidigungsministeriums." Die Organisation des Verteidigungsministeriums ist in diesem Gesetzentwurf nur zum Teil behandelt. Die Spitzengliederung der Bundeswehr ist nur insoweit behandelt, als man sagt: Die Bundeswehr besteht aus Heer, Marine und Luftwaffe. Das wußten wir schon vorher, das brauchte man im Gesetz nicht zu sagen. Im übrigen ist über die Organisation der Bundeswehr in diesem Gesetz nichts gesagt,

(Abg. Dr. Kliesing: O doch!)

mit einer Ausnahme — ich komme auf die Ausnahme, auf die Sie hinweisen wollen, Herr Dr. Kliesing —, mit der Ausnahme der Frage der militärischen Territorialorganisation und der regionalen Wehrverwaltung.

(Abg. Dr. Kliesing: Und der Inspektion!)

— Die Inspektionsrechte sind doch keine Frage der Gliederung, sondern eine Frage der Kompetenz.
Ich möchte gerade zu der militärischen Territorialorganisation und zur regionalen zivilen Wehrverwaltung etwas sagen. Es wird in Deutschland sechs Plätze geben — Kiel, Hannover, Düsseldorf, München usw. —, die sowohl einen Wehrbereichskommandeur als auch — zweitens — einen Chef der Wehrverwaltung als auch — drittens — einen regionalen Chef der Wehrersatzverwaltung,


(Schmidt [Hamburg])

womöglich — viertens — einen Bevollmächtigten des Bundesverteidigungsministers bei dem jeweiligen Lande und schließlich die eigentlichen Truppenbefehlshaber selbst haben werden. Man darf hier die Frage stellen: Ist das nicht ein bißchen viel Aufwand für die Breiten- und Unterorganisation Ihres Hauses, Herr Minister? Ich habe neulich einen Witz gehört, den ich außer Verantwortung hier weitergebe: es sei hier nämlich in der Wehrverwaltung das Prinzip der südafrikanischen Apartheid zum Zuge gekommen, allerdings mit dem Unterschied, daß es hier die Schwarzen seien, die unter sich bleiben wollten, und deshalb die Trennung in verschiedene Säulen.
Ich möchte auch noch die Frage aufwerfen, Herr Minister: Warum ist in diesem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung dem Bundestag vorlegt, eine Sache weggefallen, die in ihm in früheren Referentenstadien enthalten gewesen sein soll, nämlich daß die höheren Kommandostäbe der Bundeswehr völkerrechtliche Sachverständige beigeordnet bekommen sollten? Uns ist gesagt worden, das sei im Verteidigungsrat gestrichen worden. Ich weiß es nicht. Ich möchte nur gerne, daß es hier begründet wird, wenn das so gewesen sein sollte.
Es bleiben also in dem Gesetzentwurf noch manche Lücken zu füllen, und der Ausschuß wird sehr viel Arbeit damit haben. Ich würde für meine Person dem Kollegen Mende zustimmen, daß dieser Gesetzentwurf bei der Ausschußberatung vorangestellt werden sollte.
Gegenüber diesen kritischen Bemerkungen möchten wir jedoch auch einige positive Gesichtspunkte zur Vorlage herausheben. Wir begrüßen die Formulierung im Gesetzentwurf „ein oder mehrere Staatssekretäre". Das gibt mir Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß der Abgeordnete Professor Schmid (Frankfurt) im Parlamentarischen Rat einmal eine lange Debatte über die Frage der parlamentarischen Staatssekretäre herbeigeführt hat. Der Parlamentarische Rat war sich damals einig, daß der heute gültige Text des Grundgesetzes jeder Regierung die Möglichkeit gibt, sich des Instruments eines parlamentarischen Staatssekretärs zu bedienen. Die Regierung hat bisher diese Möglichkeiten nicht genutzt; es scheint so, als ob sie sich mit der etwas unscharfen Formulierung in diesem Gesetzentwurf „ein oder mehrere Staatssekretäre" eine solche Möglichkeit für die Zukunft ausdrücklich offenhalten wollte. Wir begrüßen das.

(Abg. Dr. Kliesing: Da müssen wir widersprechen!)

— Herr Dr. Kliesing, ich habe schon lange den Eindruck, daß Herr Minister Blank und sein Staatssekretär völlig überfordert sind. Ich finde es einigermaßen abstrus, daß der Herr Bundespostminister, der doch wirklich nicht im Mittelpunkt überstürzter und überhasteter Arbeit steht, über zwei Staatssekretäre verfügt, während es beim Verteidigungsminister — seit ganz kurzer Zeit — nur einen gibt. Es ist deshalb wohl ganz gut, daß die Regierung in ihren Gesetzentwurf hineingeschrieben hat: „mehrere Staatssekretäre". Besonders gut wäre es, wenn der eigentliche politische Vertreter des Ministers ein parlamentarischer Staatssekretär wäre. Damit soll keinerlei Kombination über etwaige Koalitionsarithmetik Tür und Tor geöffnet sein.
Wir begrüßen auch, daß der Gesetzentwurf ausdrücklich keinen militärischen Oberbefehlshaber oder — er hätte ja auch einen anderen Namen haben können — keinerlei militärische Funktion vorsieht, die dem etwa entspräche, sondern daß die militärische Seite dieses Hauses in die bekannten vier militärischen Abteilungen — die vierte und wichtigste von ihnen ist die Streitkräfteabteilung — gegliedert wird und daß die Funktion des obersten Soldaten praktisch in die vier Chefs dieser vier Abteilungen aufgespalten ist, die sich eben nach amerikanischem Vorbild im Rat der Vereinigten Stabschefs — bei uns heißt es etwas großspurig „Militärischer Führungsrat" —. zusammenfinden und dort wahrscheinlich die allwöchentlichen Koordinierungsarbeiten genau so zu leisten haben werden wie die Beratung des Ministers und der Regierung in wesentlichen strategischen oder sonstigen militärischen Fragen. Wir halten es für gut, daß man der Versuchung widerstanden hat, einen militärischen Spitzenmann innerhalb des Ministeriums zu schaffen, eben gerade wegen der Erfahrung mit Seeckt und wegen der Erfahrung mit der Reichswehr, und stimmen dieser Lösung im Prinzip aus vollem Herzen zu, wenngleich man die Frage aufwerfen kann, ob es wirklich zweckmäßig ist, nun statt vier fünf Personen zu nehmen. Aber ich verstehe, daß in gewissen Situationen Regelungen ad personam durchaus zweckmäßig und legitim sein können.
Übrigens wird es dazu wahrscheinlich noch Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit geben. Ein großer Teil der früheren wie der heutigen Offiziere und Soldaten möchte gern in Anlehnung an alte Traditionen und Vorstellungen so eine Art Oberbefehlshaber haben. Sie brauchen eben einen Ersatz für den früheren obersten Kriegsherrn in Uniform. Es mag in bezug auf diese Tendenzen, die durchaus virulent sind und die man bei allen Gesprächen ständig spürt, gerechtfertigt sein, dazu die Stimme eines früheren amerikanischen Heeresministers zu zitieren, wenn Sie erlauben, Herr Präsident. Mr. Gordon Gray sagt:
Wenn ein Minister seine Befehlsgewalt seinem Chief of Staff überträgt und sich dann darauf verläßt, daß dieser Chief of Staff ihm verantwortlich sei, hat ein solcher Minister durch eine derartige Handlungsweise seiner Aufsichtspflicht nicht genügt.
Das ist genau die Situation der Weimarer Konstruktion und genau das Urteil, dem wir uns, glaube ich, heute anschließen würden.
Die Schaffung eines militärischen Oberbefehlshabers innerhalb des Ministeriums, sei es selbst in der formalen Stellung eines Stabschefs der Bundeswehr mit bloß vom Minister abgeleiteten Weisungsbefugnissen an die übrigen militärischen Abteilungen, könnte bedenklich nahe an das herankommen, was man im Ausland die „passive Auffassung" von der zivilen Leitung der Wehrmacht nennt. Statt dessen gibt es, etwa in Amerika, die Doktrin; die dort auch durch ein Gesetz des Kongresses verwirklicht ist, von der „aktiven Auffassung" der zivilen Lenkung und Leitung der militärischen Macht. Wenn Sie erlauben, Herr Präsident, darf ich dazu noch einmal ein amerikanisches Zitat vortragen. Es stammt aus dem Kreis derjenigen Leute, die heute vor drei Jahren im sogenannten Rockefeller-Ausschuß das amerikanische Pentagon durch Gesetz umorganisiert und in Übereinstimmung gebracht haben mit den Grundzügen des demokratischen Staatsaufbaues. Gerade zu der Frage, ob man einem Soldaten die konzentrierte Macht und die Möglichkeit in die Hand geben soll, allgemeine Ent-


(Schmidt [Hamburg])

scheidungen von sich aus zu treffen, haben diese Leute nun nicht nur aus demokratischen Aspekten heraus, sondern auch unter verwaltungs- und militärfachlichen Aspekten sehr interessante Ergebnisse erzielt. Es heißt da z. B. — ich darf zitieren —:
Die moderne Kriegführung macht ein Abwägen von Faktoren und eine Anzahl von Fertigkeiten erforderlich, die nicht allein oder normalerweise nicht allein zum Erfahrungs- und Kenntnisschatz eines Berufssoldaten gehören. Höchste Entscheidungen bedürfen auch der Erfahrung und des Wissens der Wissenschaftler, des Ingenieurs, des Produktionsfachmannes, des Verkehrsexperten, des Psychologen, des Finanzfachmannes, sogar des Juristen.
Ich darf mit Vergnügen bemerken, daß hier die Verkehrsexperten vor den Juristen genannt werden!

(Heiterkeit.) Es geht dann weiter:

Die Erkenntnisse der Spezialisten müssen den Männern mit der allgemeinen Erfahrung zuströmen, ohne durch militärische Filter behindert zu werden.
Das ist der entscheidende Punkt, daß ein Mann, ein einzelner Soldat im Ministerium ein Filter wäre nach oben; alles, was die Regierungsebene, die politische Ebene über die militärische Lage, über militärische Probleme zu erfahren wünscht, müßte durch das Filter dieses Mannes und seines Büros. Darin liegt die fachliche Gefahr.
Übrigens fährt dieses Zitat fort — und das ist so schön, daß ich es Ihnen nicht vorenthalten möchte —:
Die beliebteste Rechtfertigung für Spezialisten ist der „persönliche Schatz militärischer Erfahrung" und „die Stetigkeit im Amt". Aber Männer mit einem persönlichen Schatz militärischer Erfahrung pflegen im allgemeinen Spezialisten zu sein. Wenn es auch Ausnahmen gibt, so entwickeln sich Spezialisten in der Regel nicht zu Generalisten. Dieses Urteil bezieht sich keineswegs nur auf Militärs. Rechnungsprüfer und Juristen sind auch Spezialisten, die in der Regel schwache Spitzenexekutivbeamte ergeben.
Das war sicherlich nicht mit irgendeinem Seitenblick auf die gegenwärtige Situation im Bundesfinanzministerium hier zitiert, aber durchaus mit einem Seitenblick auf die gegenwärtige Organisation und Personalstellenbesetzung im Hause des Herrn Bundesverteidigungsministers.
Herr Minister, Sie werden in Ihrem Hause so, wie die Dinge jetzt von Ihnen geplant sind, zehn, elf oder zwölf Abteilungen nebeneinander haben. Die militärische Erfahrung Ihrer militärischen Berater wird Ihnen sagen, daß kein Kommandeur gleichzeitig zwölf Kompanien befehligen kann, sondern daß er dazwischengeschaltete Bataillonsstäbe braucht. So werden auch Sie in Ihrem Ministerium zusammen mit Ihrem bis jetzt einzigen Staatssekretär nicht gleichzeitig zwölf Generale und Ministerialdirektoren leiten können. Sie müssen Ihr Ministerium wahrscheinlich in der einen oder anderen Form in Säulen aufgliedern. Es bietet sich vielleicht an, Ihre Absicht, mehrere Staatssekretärposten zu schaffen, so auszubauen, daß ein Staatssekretär, der parlamentarische Staatssekretär, Ihr politischer Vertreter ist und gleichzeitig die Personalabteilung leitet, daß ein
anderer — das könnte auch ein Unterstaatssekretär sein — als Leiter der Bundeswehrverwaltung installiert wird und schließlich ein dritter als Chef von Technik und Rüstung eingesetzt wird, deren Bedeutung hier schon gestreift wurde.
Ich bin damit am Schluß dieser Bemerkungen. Wir sind uns sicherlich alle darüber klar, daß Organisation nicht alles ist und nicht alles machen kann. Die Ausübung der Organisationsgewalt durch das Parlament kann auch nicht die ultima ratio bei der parlamentarischen Kontrolle dieses Wehraufbaues sein. Sie ist eines von mehreren Mitteln am Anfang. Auf die Dauer wird es nicht nur auf die Gesetze ankommen, sondern mehr noch auf die Menschen, die diese Gesetze ausführen, und auf die Menschen, die die Ausführung überwachen.
Ich darf für meine Freunde bemerken, daß wir der Ausschußüberweisung zustimmen, und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214316700
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Verteidigung.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214316800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schmidt, ich möchte Ihre letzten Ausführungen so auffassen, daß Sie bei der Beratung dieses Gesetzentwurfes den Bundesverteidigungsminister in seinem Wunsch unterstützen werden, die Zahl der Hauptabteilungen nicht ins Unangemessene wachsen zu lassen. Ich danke Ihnen für Ihren Hinweis.

Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214316900
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Reichstein.

(Zuruf.)

— Sie ziehen Ihre Wortmeldung zurück. Dann hat das Wort der Abgeordnete Berendsen.

Fritz Berendsen (CDU):
Rede ID: ID0214317000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens der Koalitionsparteien habe ich zu dem vorliegenden Entwurf folgendes zu erklären. Wir begrüßen die Vorlage dieses Gesetzentwurfes. Wir haben bei der Verabschiedung des Freiwilligengesetzes und des Soldatengesetzes gefordert, daß uns möglichst bald etwas über die Absichten der Bundesregierung in bezug auf die Organisation der Spitzengliederung vorgelegt werde.
Mit diesem Gesetz soll der vertraglich festgelegte Wehrbeitrag der Bundesrepublik in eine Organisationsform gebracht werden. Die aus den Verträgen erwachsenden menschlichen, wirtschaftlichen und finanziellen Belastungen sollen in einen Rahmen gestellt werden, der einen den militärischen Notwendigkeiten entsprechenden und gleichzeitig rationalen Aufbau der Bundeswehr zuläßt. Vor allem soll damit die Verankerung unserer neuen Bundeswehr im demokratischen Staatsgefüge sichergestellt werden.
Die bisherigen Regelungen, die wir in der Geschichte vorfinden und die der Kollege Schmidt eben erwähnt hat, ermutigen nicht, dieses Aufgabengebiet anzupacken. Bisher ist es wohl kaum jemals gelungen, eine Organisationsform zu finden, die frei war von der Berücksichtigung menschlicher Wünsche. Hoffen wir, daß es uns diesmal gelingt, tatsächlich eine Organisationsform zu finden, die etwa das wiedergibt, was, wie Sie richtig sagten, Scharnhorst seinerzeit vorgeschwebt hat, d. h. den


(Berendsen)

Verteidigungsminister, der für alles verantwortlich ist, was im Ministerium geschieht, und der uns verantwortlich ist und damit der parlamentarischen Kontrolle unterliegt.
Ich glaube, daß die Spitzengliederung der Bundeswehr und ihr organisatorischer Einbau in das Verteidigungsministerium der Kern ist, um den sich die anderen organisatorischen Fragen zu bewegen haben. Das, was uns hier zunächst in dem einen Paragraphen — in dem steht, daß die Bundeswehr aus den drei Abteilungen Heer, Marine, Luftwaffe und der Abteilung Streitkräfte bestehen soll — vorgelegt worden ist, wird im Laufe der Zeit doch wohl ergänzt werden, weil man Klarheit haben muß, wer denn nun über diese vier Abteilungen als derjenige gesetzt wird, der die militärische Kommandogewalt, in modernem Deutsch und besser gesagt: das militärische Inspektionsrecht, tatsächlich in der Hand hat.
Ich glaube, daß wir hier noch Übergangslösungen vor uns haben und noch nicht herausfinden können, was wirklich das Wichtige und Notwendige ist, wie ich überhaupt der Überzeugung bin, daß dieses ganze Gesetz so gehalten werden soll, daß man — hierhin und dahin ergänzend — noch alles mögliche machen kann. So verstehe ich es auch, daß uns der Herr Bundesverteidigungsminister nicht die einzelnen Abteilungen seines Hauses genannt, sondern nur mit der Andeutung der Möglichkeit der Einsetzung mehrerer Staatssekretäre zu erkennen gegeben hat, daß wahrscheinlich eine Unterteilung in wenige große Abteilungen kommen wird. Ich bin Ihrer Ansicht, daß es sich hier voraussichtlich darum handeln wird, die wesentlichsten Abteilungen: Verwaltung — also das, was man früher die eigentlichen kriegsministeriellen Aufgaben nannte —, die Abteilung Personal, die Abteilung Technik und die Abteilung Militärwesen im Auge zu haben.
Die Abteilung Technik wird ohne Zweifel noch eine erheblich größere Rolle spielen müssen, als sie sie nach dem Gesetzentwurf zu spielen scheint. Ich bin nach all den Gesprächen, die wir mit dem Minister selber und seinem Staatssekretär geführt haben, sicher, daß überall erkannt ist, wie sehr es in der modernen Organisation einer Wehrmacht darauf ankommt, den Techniker gleichberechtigt neben den Soldaten und neben die anderen Träger der Organisation zu setzen. Ich glaube also, daß auch hier noch das eine oder andere zu ergänzen sein wird.
Der Minister sieht zur Überwachung des großen Apparates und zu seiner Unterrichtung einen militärischen Führungsrat vor. Dieser Gedanke hat in den ausländischen Führungsräten, wie wir sie in England und Amerika kennen, seine Vorgänger. Ich persönlich möchte der Ansicht sein, daß die militärfachliche Beratung des Ministers und der Bundesregierung und des Bundeskanzlers nur durch eine Person, nur durch einen Mann, in diesem Falle also den Leiter dieses Führungsrates, erfolgen kann. Ein Rat ist aber nur dann wirksam, wenn der Ratgeber auch die Möglichkeit hat, das, was er rät, in die Tat umzusetzen, zum mindesten darüber zu wachen, daß das geschieht. Hier wird also noch ein Ansatz zu weiterer Arbeit für uns liegen.
Im übrigen darf ich mich auf alles das beziehen, was der Kollege Schmidt gesagt hat. Die Zeit ist so weit vorgeschritten, daß ich es mir schenken möchte, alles zu wiederholen, was vorgetragen worden ist. Die positiven Seiten, die erwähnt wurden, finden unseren vollen Beifall. Der Ansatz in dem, was vor uns liegt, ist so, daß wir dem Hohen Hause die Überweisung dieses Gesetzentwurfes an die entsprechenden Ausschüsse empfehlen können; die weitere Behandlung sollten wir der Diskussion in den Ausschüssen überlassen. Dabei mache ich den Vorschlag, daß wir den Ausschuß für Verteidigung als federführend, den Ausschuß für innere Verwaltung und den Rechtsausschuß als mitberatend betrachten.
Lassen Sie mich zum Schluß sagen, daß wir alle der Überzeugung sind: Man kann organisieren, soviel man will; wenn der Mensch, der hinter der Organisation steht und mit der Organisationsform gemeint ist, nicht unser Mann ist und nicht das tut, was wir wollen, werden wir das Ziel nie erreichen. Ich glaube, wir haben im Augenblick allen Grund, zu sagen, daß wir sowohl in der Organisationsform als auch in der Auswahl derjenigen, die einmal diese Organisationsform ausfüllen sollen, jedenfalls bisher eine nicht unglückliche Hand gehabt haben.

(Beifall in der Mitte.)


Dr. Carlo Schmid (SPD):
Rede ID: ID0214317100
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor, wir kommen zur Abstimmung.
Sie haben den Antrag gehört: die Vorlage soll überwiesen werden an den Ausschuß für Verteidigung als den federführenden Ausschuß und an die Ausschüsse für Rechtswesen und Verfassungsrecht sowie für Angelegenheiten der inneren Verwaltung als mitberatende Ausschüsse. Wer diesem Antrag zustimmen will, der möge die Hand erheben. — Das ist die Mehrheit; es ist so beschlossen.
Ich rufe auf Punkt 3 der Tagesordnung:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten (Rentenversicherungsgesetz) (Drucksache 2314, Umdrucke 596, 597, 598).
Das Wort zur Begründung hat der Abgeordnete Professor Schellenberg.

Dr. Ernst Schellenberg (SPD):
Rede ID: ID0214317200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sozialreform steht offenbar in diesem Hause unter keinem glücklichen Stern. Sie wird jetzt, da der erste Schritt getan werden soll, zeitlich von den Wehrfragen erdrückt.
Die Erklärungen, die Herr Kollege Horn gestern im Auftrage seiner Fraktion bei der Geschäftsordnungsdebatte abgegeben hat, machen es erforderlich, der Begründung des SPD-Gesetzentwurfs einige Erinnerungstatbestände voranzuschicken.
Als vor über vier Jahren am 21. Februar 1952 mit dem Antrag der SPD auf Einsetzung einer Sozialen Studienkommission in diesem Hause die Debatte über die Sozialreform begann, erklärte bekanntlich der Herr Bundesarbeitsminister: Wir haben unsere Arbeit im Ministerium so eingestellt, daß wir in der zweiten Hälfte dieses Jahres, 1952, die Gesetzesvorlage über die Neuordnung der Sozialversicherung vorlegen wollen.

(Hört! Hört! bei der SPD.)

Wenn heute trotz dieser und späterer Ankündigungen immer noch keine Gesetzesvorlage der Re-


(Dr. Schellenberg)

gierung über die Neuordnung der Sozialversicherung vorliegt, sondern als erster Gesetzentwurf zur Sozialreform der vorliegende Entwurf der Sozialdemokraten zur Beratung steht, dann sollte doch dieser Tatbestand allein für sich sprechen. An den Fakten gibt es wenig zu deuteln. Die Regierung und ihre Parteien haben viel zuviel über die Sozialreform gesprochen und viel zuviel in dieser Hinsicht versprochen, aber darüber das Wichtigste verabsäumt, nämlich eine zielstrebige und systematische Arbeit an der Gesetzgebung.
Seit Jahren hören wir fast täglich, daß der Beirat für die Sozialreform, der interministerielle Ausschuß für die Sozialreform, das Generalsekretariat für die Sozialreform, das Sozialkabinett, der Herr Bundesarbeitsminister, der Herr Bundeskanzler diese oder jene Vorstellungen und Pläne bezüglich der Sozialreform hätten, die unmittelbar vor der Verwirklichung ständen. Dadurch haben Sie bei der Bevölkerung und auch in Ihren eigenen Reihen immer wieder Erwartungen geweckt, die nun enttäuscht werden. Es ist Ihre Sache, wie Sie damit intern fertig werden. Aber um eins dürfen wir doch bitten: Versuchen Sie nicht, wie dies gestern geschehen ist, Ihr Versagen zum Anlaß zu nehmen, uns Sozialdemokraten, die wir weniger von diesen Dingen geredet, aber um so mehr daran gearbeitet haben, nun in irgendeiner Weise zu diskreditieren.

(Sehr richtig! bei der SPD.)

Sie haben im Bereich der Sozialpolitik eine Schlappe erlitten. Seien Sie in dieser Situation nicht auch noch ein schlechter Verlierer!

(Lachen bei der CDU/CSU.)

Ihre Anwürfe gehen in zwei Richtungen. Sie behaupten, wir hätten bei unserem Gesetzentwurf Ihre Konzeption zum Vorbild genommen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Natürlich!)

Zweitens erklären Sie, wir handelten aus Agitationsbedürfnis.
Wenn Sie erklären, wir hätten Ihre Konzeption als Vorbild gehabt, dann muß dazu ein klares Wort gesagt werden. Der Hauptgrund Ihres Versagens im Bereich der Sozialpolitik ist doch wohl, daß Sie über keine klare Konzeption verfügen. Ich möchte das an einem einzigen Beispiel verdeutlichen. Das zentrale Problem bei der Neuordnung der Rentenversicherung ist offensichtlich das der Anpassung der Renten an die wirtschaftliche Entwicklung. Aber hierüber sind die Auffassungen der Bundesregierung außerordentlich unklar und unsicher. Am 21. Januar dieses Jahres hat das Bulletin Beschlüsse des Sozialkabinetts über diese Neuordnung veröffentlicht, in denen es wörtlich heißt:
Das Kernstück der Neuordnung bildet der Übergang von der statischen zur dynamischen Leistungsrente.
Noch nicht einen Monat später gab die Bundesregierung über die Sitzung des Sozialkabinetts am 17. Februar 1956 bekannt:
Da der Ausdruck „dynamische Rente" sprachlich falsch ist, soll an seine Stelle der Ausdruck „Produktivitätsrente" treten.
Die von der Regierung als Kernstück der Neuordnung bezeichnete dynamische Rente hatte also noch keinen Monat Bestand.
Der jetzt vorgelegte sogenannte Grundentwurf behandelt in den Paragraphen — man höre! -
1261 a bis d nicht etwa die in Aussicht gestellte Produktivitätsrente, sondern eine dritte Vorstellung; und möglicherweise werden wir, wenn die endgültige Regierungsvorlage kommt, durch eine vierte Konzeption überrascht werden.
Weil die Bundesregierung in bezug auf diese Frage — es ist nur ein Beispiel — der Anpassung der Renten an die wirtschaftliche Entwicklung keine klare Konzeption entwickelt hat, stößt ungeachtet aller Hilfsmittel und der Sachverständigen, die ihr zur Verfügung stehen, die Erstellung eines Gesetzentwurfs auf immer neue Schwierigkeiten.
Wer im übrigen die Auffassung vertritt, die SPD habe sich bei der Ausarbeitung ihres Gesetzentwurfs die Vorstellung des Bundesarbeitsministeriums zum Vorbild genommen, der hat den sogenannten Grundentwurf des Arbeitsministeriums und den Gesetzentwurf der SPD nicht gelesen. Der sogenannte Grundentwurf beinhaltet — das ist ein wichtiger Grund unserer Beanstandung — lediglich eine Neufassung der §§ 1226 bis 1304 der Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1911. Es wird also noch nicht einmal in der äußeren Form der Versuch gemacht, zu etwas Neuem zu kommen. Man weiß nichts anderes zu tun, als an einem Gesetz, das 45 Jahre alt ist, weiter herumzuflicken.
Die SPD dagegen unternimmt es, das gesamte Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten in einem Gesetz neu und übersichtlich zu ordnen. In diesem Zusammenhang darf ich eine Bitte gegenüber den Damen und Herren der Regierungskoalition äußern. Bitte, lesen Sie in einer ruhigen Stunde einmal den Gesetzentwurf der SPD durch. Vielleicht trägt das zur schnelleren Gewinnung Ihrer eigenen Konzeption bei, und vielleicht ist auch der Herr Bundesarbeitsminister so freundlich, seinen Mitarbeitern ein gründliches Studium des SPD-Entwurfs zu empfehlen. Dies könnte — so hoffen wir — die Arbeiten an dem Regierungsentwurf beschleunigen und eventuell sogar befruchten.

(Sehr gut! bei der SPD.)

Im übrigen hat die sozialdemokratische Fraktion, um einen Vergleich zu ermöglichen, der Presse eine Aufstellung übergeben, in der etwa 30 Punkte aus dem sogenannten Grundentwurf und dem Entwurf der SPD einander gegenübergestellt sind. Wir glauben, daß das bereits genügt, sich davon zu überzeugen, wie weit wir noch auseinander sind.
Nun muß ich leider auch ein Wort zu dem Vorwurf sagen, der gestern hier gemacht wurde, wir hätten aus Agitationsbedürfnis gehandelt. Das war eine sehr böse Unterstellung.

(Abg. Ruf: Hat Sie wohl sehr getroffen? — Zurufe von der SPD.)

Dies muß ich mit aller Deutlichkeit sagen. Sollten Sie wirklich in bezug auf den vorliegenden Gesetzentwurf, der doch immerhin — Sie mögen seinen sozialpolitischen Inhalt beurteilen, wie Sie wollen — eine detaillierte Arbeit im Interesse der sozialen Neuordnung darstellt, keine sachlichen Argumente haben, so daß Sie zu einer Diffamierung greifen mußten?

(Zustimmung bei der SPD.)

Wenn jetzt die Beratung der Gesetzentwürfe —
auch das möchte ich ganz deutlich sagen — in die


(Dr. Schellenberg)

Nähe des Wahlkampfes gerückt wird, so hat dies nicht die SPD, sondern die Regierung mit ihren Versäumnissen zu vertreten.

(Beifall bei der SPD.)

Der Vorfall von gestern zwingt mich auch, eine Denkschrift, die der Herr Bundesfinanzminister, zwar nicht für die Öffentlichkeit, aber für das Kabinett, verfaßt hat und die in der Öffentlichkeit bekanntgeworden ist, ins Gedächtnis zurückzurufen. Darin sind die taktischen Erwägungen innerhalb der Regierung über die Sozialreform sehr anschaulich angesprochen worden, und zwar ist es kein Jahr her. Damals hat der Bundesfinanzminister erklärt:
Da noch keine Übereinstimmung über die bei der Sozialreform in Anwendung zu bringenden Grundsätze besteht, halte ich es für verfrüht, schon jetzt die Ausarbeitung von Reformgesetzen vorzunehmen, zumal auch diese wegen der vorgeschrittenen Zeit vor Beginn des Wahlkampfes nicht mehr verabschiedet werden können.

(Hört! Hört! bei der SPD.)

Der Finanzminister hat sich dann für ein soziales Grundgesetz ausgesprochen, das nur die eigentlichen Leitideen normiert, aber kein unmittelbar anwendbares Recht schafft, und hat abschließend erklärt:
Die Bekundung von Regierung und Parlament, nach den in einem derartigen sozialen Grundgesetz niedergelegten Grundsätzen das Reformwerk in den nachfolgenden Jahren durchzuführen, dürfte ihre politische Wirkung auch im Wahlkampf nicht verfehlen.

(Lebhafte Rufe bei der SPD: Hört! Hört! Abg. Schröter [Wilmersdorf] : Läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig!)

Diese Erklärung spricht wohl für sich.
Im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf der SPD und dem Grundentwurf des Bundesarbeitsministeriums ist noch eine Bemerkung erforderlich. Der Grundentwurf ist zwar der Presse und den Organisationen, aber bis zur Stunde noch nicht den Mitgliedern des Sozialpolitischen Ausschusses zur Kenntnis gebracht worden.

(Hört! Hört! bei der SPD. — Abg. Mellies: Das ist so üblich!)

Das ist ein eigentümliches Verfahren. In diesem Zusammenhang darf ich darauf hinweisen, daß der Vorsitzende des Sozialpolitischen Ausschusses, Herr Kollege Richter, sich schon seit langem bemüht hat, den Herrn Bundeskanzler für einen Bericht, für eine Teilnahme an den Arbeiten des Sozialpolitischen Ausschusses zu gewinnen. Der Herr Bundeskanzler hat — das Schreiben wurde allen Mitgliedern des Sozialpolitischen Ausschusses übermittelt — am 23. September 1955 an den Vorsitzenden des Ausschusses, Herrn Kollegen Richter, wie folgt geschrieben:
Ihre Einladung zu einer der nächsten Sitzungen des Sozialpolitischen Ausschusses habe ich dankend erhalten. Ich möchte Ihnen aber vorschlagen, den Bericht der Bundesregierung über die Grundkonzeption der Sozialreform noch zurückzustellen .. .
Lassen Sie mich Ihnen bei dieser Gelegenheit versichern, daß ich es für sehr wertvoll und
notwendig halte, wenn die Bundesregierung schon bei den Vorarbeiten zur Sozialreform in ständigem Kontakt mit dem Parlament steht. Das Kabinett hat auf Grund meiner Vorlage vom 11. Juli beschlossen, daß die Beratungen über die Grundsätze der Sozialreform im engsten Einvernehmen mit den parlamentarischen Körperschaften und den Fraktionen des Bundestages erfolgen sollen. Es ist in Aussicht genommen, zu gegebener Zeit auch Abgeordnete zu den Sitzungen des Ministerausschusses hinzuzuziehen.

(Abg. Mellies: Wie üblich!)

Dieses Schreiben des Herrn Bundeskanzlers läßt nur zwei Schlüsse zu. Entweder ist die Bundesregierung immer noch nicht zu der Grundkonzeption der Sozialreform gekommen, von der der Herr Bundeskanzler in Abs. 1 spricht, oder das Parlament wurde im Gegensatz zu den ausdrücklichen Zusicherungen des Herrn Bundeskanzlers wieder einmal übergangen.

(Vizepräsident Dr. Jaeger übernimmt den Vorsitz.)

Nun zum Inhalt des Gesetzentwurfs im einzelnen. Ich lege in dieser Hinsicht nur einige Grundgedanken dar; denn die SPD-Fraktion hat ihrem Gesetzentwurf eine sehr eingehende Begründung beigegeben. Dieser Gesetzentwurf ist nur ein erster Schritt. Er unternimmt es, die vordringlichsten sozialen Fragen in einem Teilbereich der Rentenversicherung einer Lösung entgegenzuführen. Die Neuordnung, die wir durch diesen Gesetzentwurf anstreben, geht davon aus, daß es untragbar ist, wenn gegenwärtig den Arbeitern und Angestellten, die wegen Alters und Berufsunfähigkeit aus dem Arbeitsleben ausscheiden, eine Rente von durchschnittlich nicht mehr als 30 bis 40 % des früheren Lohns und Gehalts gewährt wird. Das führt zwangsläufig zu einem bedenklichen Absinken der Lebenshaltung des Arbeiters und Angestellten im Alter. Dieser schwerwiegende Mißstand soll durch unseren Gesetzentwurf beseitigt werden. Jeder Arbeiter und Angestellte soll nach Beendigung eines normalen Arbeitslebens einen unbedingten Rechtsanspruch auf eine Rente haben, die es ihm ermöglicht, bei Alter und bei Berufsunfähigkeit seinen Lebensstandard, den er sich in den Jahren der Arbeit geschaffen hat, uneingeschränkt aufrechtzuerhalten. Das gleiche soll auch im Falle des Todes für seine Angehörigen gelten.
Der Gesetzentwurf bezieht sich lediglich auf die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten. Die soziale Sicherung des Bergmanns erfordert besondere Formen. Sie müssen den Bedürfnissen dieses Berufs angepaßt werden, und sie werden einer besonderen gesetzlichen Regelung vorbehalten bleiben. Die SPD-Fraktion hat in ihrem Gesetzentwurf mitgeteilt, daß sie dazu im Laufe der Beratungen noch ihre Anträge stellen wird.
Nach Auffassung der SPD bietet auch die soziale Sicherung der Selbständigen besondere soziale Probleme, die im Interesse einerseits der Arbeiter und Angestellten und andererseits der Selbständigen eine klare finanzielle Trennung der Rentenversicherung für Beschäftigte und der von Selbständigen erfordern. Die Mißstände, die wir bei der Handwerkerversorgung nun schon seit Jahren kennen, müssen endlich beseitigt werden, und es muß eine soziale Sicherung für Selbständige in einer


(Dr. Schellenberg)

Form geschaffen werden, die den besonderen Bedürfnissen dieser Berufsgruppen entspricht.

(Abg. Richter: Sehr richtig!)

Der vorliegende Gesetzentwurf berücksichtigt den Tatbestand, daß es sich um eine gesetzliche Neuordnung der Rentenversicherung handelt. Der Entwurf beruht also auf dem Versicherungsprinzip, dem Gedanken, daß eine innere Beziehung zwischen der zu gewährenden Leistung und den früher gezahlten Beiträgen gewährleistet sein muß. Der Gesetzentwurf trägt aber — und das ist für uns sozialpolitisch entscheidend — dem Umstand Rechnung, daß das reine Versicherungsprinzip zu erheblichen sozialen Mißständen und Mängeln geführt hat und daß es deshalb im Interesse einer ausreichenden Existenzsicherung durch den Sozialgedanken ergänzt werden muß.
Nach dem Gesetzentwurf sollen als Renten Altersruhegeld, Berufsunfähigkeitsrenten und Hinterbliebenenrenten gewährt werden.
Erstens: Das Altersruhegeld soll nach Vollendung des 65. Lebensjahres gewährt werden. Die SPD lehnt alle Bestrebungen, die Weiterarbeit über das 65. Lebensjahr hinaus direkt oder indirekt zu fördern, nachdrücklich ab. Dies wünscht beispielsweise der Beirat für die Sozialreform, der in seinen Beschlüssen erklärt hat:
Eine Weiterarbeit nach Vollendung des 65. Lebensjahres sollte gefördert werden. Dies kann z. B. dadurch erreicht werden, daß für die Zeit der Weiterarbeit ohne Rentenbezug später höhere Steigerungsbeträge gewährt werden. Nach Vollendung des 70. Lebensjahres.
— so erklärt der Beirat —
sollen Rentenbezug und Beschäftigung in jedem Falle uneingeschränkt nebeneinander möglich sein.
Derartige Gedankengänge stehen nach Auffassung der SPD im Widerspruch zu der Tatsache, daß schon heute fast 70 v. H. der neu bewilligten Renten an Menschen unter 65 Jahren gewährt werden. Wir sind deshalb der Meinung, daß es teilweise sogar notwendig ist, die Altersgrenze von 65 Jahren herabzusetzen.
Der Gesetzentwurf schlägt vor, Frauen zwischen dem 60. und 65. Lebensjahre Altersruhegeld zu gewähren, sofern sie nicht mehr erwerbstätig sind. Dies ist nicht nur deshalb gerechtfertigt, weil Frauen zu über 80 v. H. vor Erreichung der bisherigen Altersgrenze arbeitsunfähig wurden, sondern dies entspricht sogar versicherungstechnischen Grundsätzen; denn in dem Beitrag, den der Mann zahlt, ist im allgemeinen die Rente für die Hinterbliebenen eingeschlossen, während für versicherte Frauen Witwerrente nur sehr selten fällig wird.
Männer, die in ihrem Berufe einer besonderen gesundheitlichen Gefährdung ausgesetzt sind, sollen Altersruhegeld ebenfalls schon vom 60. Lebensjahr an erhalten, wenn keine Berufstätigkeit mehr ausgeübt wird.
In Zukunft soll auch Arbeitern, die über 60 Jahre alt und länger als ein Jahr arbeitslos sind, in gleicher Weise wie Angestellten Altersruhegeld gezahlt werden.
Wenn, wie es das Ziel des Gesetzentwurfes ist, das Altersruhegeld die Aufrechterhaltung des in den Jahren der Arbeit gewonnenen Lebensstandards ermöglichen soll, dann muß nach einem normalen Arbeitsleben ein Altersruhegeld von 75 v. H. des früheren Bruttolohnes oder -gehaltes gewährt werden. Altersruhegeld in dieser Höhe ist für einen Teil der arbeitenden Menschen, für die Beamten, heute schon eine unumstrittene Leistung der Alterssicherung. Sie muß auch für Arbeiter und Angestellte Wirklichkeit werden.
Bei der Berechnung der Rente müssen ferner alle Zeiten der Arbeitslosigkeit, der Krankheit, des Kriegs- und Militärdienstes, der nationalsozialistischen oder kommunistischen Verfolgung, aber auch Jahre der Schul- und Berufsausbildung vom 15. Lebensjahr an — sogenannte Ersatzzeiten — voll berücksichtigt werden.
Die Rentenformel der SPD, die ich hier im, einzelnen nicht erläutern möchte — ich verweise auf die Begründung —, ist versicherungstechnisch so gestaltet, daß Arbeiter und Angestellte nach normalem Arbeitsleben dieses Ruhegeld in Höhe von 75 v. H. erreichen. Um jedes Mißverhältnis zwischen Lohn und Rente zu vermeiden, legt der Gesetzentwurf fest, daß das Ruhegeld 75 v. H. des höchsten Arbeitsentgeltes, den der Arbeiter und Angestellte in fünf aufeinanderfolgenden Jahren — günstigsten Arbeitsjahren — erreicht haben, niemals übersteigen darf.
Aus sozialpolitischen Gründen ist es aber unbedingt notwendig, eine Aufstockung für die Rentenleistungen jener Arbeitenden vorzunehmen, die in früheren Jahren als Landarbeiter, als Heimarbeiter, als Hausgehilfen äußerst niedrige Entlohnungen hatten. Deshalb legt der sozialdemokratische Entwurf einen Mindestverdienst von monatlich 200 DM der Rentenberechnung zugrunde, wodurch sichergestellt ist, daß jeder alte Mensch — auch wenn er während seines Arbeitslebens in den niedrigsten Lohngruppen war — nach Erreichung des 60. bzw. 65. Lebensjahres normalerweise ein Altersruhegeld von 162 bzw. 180 DM erreicht und damit nicht auf eine zusätzliche Fürsorgeunterstützung angewiesen ist.
Zweitens regelt der Gesetzentwurf die soziale Sicherung der vorzeitig Berufsunfähigen. Auch die Menschen, die vor Erreichung der Altersgrenze berufsunfähig werden, müssen eine ausreichende soziale Sicherung erhalten. Der Gesetzentwurf übernimmt den besseren Begriff der Berufsunfähigkeit, der sich in der Angestelltenversicherung bewährt hat. Dabei vertreten wir in unserem Gesetzentwurf die Auffassung, daß die soziale Lage jener Menschen, deren Arbeitsfähigkeit so stark beeinträchtigt ist, daß sie praktisch überhaupt keine Berufstätigkeit mehr ausüben können, besondere aufgestockte Rentenleistungen erforderlich macht.
Für die Berechnung der Berufsunfähigkeitsrenten sollen grundsätzlich die Vorschriften dies Altersruhegeldes gelten. Jedoch soll derjenige, der vorzeitig aus dem Arbeitsleben gerissen wird, bei allgemeiner Berufsunfähigkeit mindestens eine Rente von 50 v. H. seines bisherigen Arbeitsverdienstes und derjenige, der voll berufsunfähig ist, mindestens von 662/3 v. H. seines durchschnittlichen Arbeitsentgeltes erhalten.
Drittens: Der soziale Schutz für Hinterbliebene. Anspruch auf Witwenrente soll nach dem Tode des Ehemannes jede Witwe haben. Wir beseitigen damit die einschränkenden Vorschriften, die noch für einen


(Dr. Schellenberg)

Teil der Arbeiterwitwen bestehen. Die Witwenrente soll grundsätzlich wie die von Beamten 60 v. H. der Rente des Versicherten betragen und bei frühzeitigem Tod des Ernährers für Witwen mit einem Kind oder mehreren Kindern oder für berufsunfähige Witwen aufgestockt werden. Hat die Frau zu ihren Lebzeiten überwiegend den Unterhalt der Familie gesichert, so soll auch Witwerrente gezahlt werden können.
Die SPD hält es auch für erforderlich, den Problemen, die sich aus der sogenannten Onkelehe ergeben, durch wirtschaftliche Maßnahmen zu begegnen. Deshalb wird bei Wiederverheiratung vor dem 45. Lebensjahr eine Abfindung in Höhe der sechsfachen Jahresrente und bei Wiederverheiratung nach dem 45. Lebensjahr eine Abfindung in Höhe des Vierfachen der Jahresrente gewährt. Falls die neue Ehe aufgelöst wird, sollen die Renten wieder aufleben, aber erst nach Ablauf des Abfindungszeitraumes, damit sich keine wirtschaftlichen Vorteile aus der Auflösung der Ehe ergeben.
Die Waisenrenten sollen grundsätzlich denen von Kindern von Beamten gleichgestellt werden. Deshalb soll nach dem Gesetzentwurf, falls die Kinder in Schul- und Berufsausbildung stehen, die Altersgrenze generell bis zum 25. Lebensjahr erweitert werden können.
Der SPD-Gesetzentwurf sieht ferner die Einführung von Elternrenten vor. Wegen der Auswirkung beider Kriege leben häufig insbesondere berufstätige Frauen mit ihren Eltern zusammen, die sie überwiegend aus ihrem Arbeitseinkommen unterhalten. Es ist deshalb erforderlich, den Eltern Anspruch auf Elternrente zu gewähren, sofern der Sohn oder die Tochter keine Witwe oder keinen Witwer hinterläßt. Die Elternrente soll in gleicher Höhe wie die Witwenrente gewährt werden.
Der SPD-Entwurf sieht ferner weitere Sozialzuschläge zu den Renten vor, und zwar Kinderzuschläge generell bei Berufsausbildung auch bis zum 25. Lebensjahr, ferner Pflegegeld für diejenigen, die ständig fremder Wartung und Pflege bedürfen, in Höhe von 100 DM monatlich.
Die zentrale Frage der Neuregelung ist die Anpassung der Renten an die Lohn- und Gehaltsentwicklung. Das ist ein Kernstück der gesetzlichen Neuregelung durch den SPD-Entwurf. Der während des Arbeitslebens bezogene Arbeitsverdienst soll nach unserm Entwurf automatisch dem Lohn- und Gehaltsstand zur Zeit der Rentenberechnung angepaßt werden. Zu diesem Zweck wird im Gesetzentwurf festgelegt, daß die früheren Arbeitsverdienste für die verschiedenen Zeiträume mit sogenannten Umrechnungsfaktoren zu vervielfältigen sind. Sie betragen, um ein Beispiel zu nennen, für die Zeit vor 1900 das 5,4fache, für die Zeit von 1900 bis 1910 das 4,3fache, für die Jahre von 1948 bis 1950 das Zweifache und so fort. Durch diese Anpassung der früheren Arbeitsverdienste ergibt sich für jeden einzelnen Arbeiter und Angestellten bei der Rentenfeststellung ein Arbeitsverdienst, der dem gegenwärtigen Lohn- und Gehaltsstand entspricht. Dabei wird auch für die Arbeiter die Unterversicherung früherer Jahre berücksichtigt.
Der SPD-Gesetzentwurf schreibt diese automatische Anpassung aber nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft vor, damit
wir endlich von weiteren Zulagen- und Sondergesetzen befreit werden und der Rentner auch in Zukunft automatisch an der Lohn- und Gehaltsentwicklung teilnimmt.

(Sehr gut! bei der SPD.)

Dieser Grundsatz, der politisch stark umstritten ist, soll den Arbeitern und den Angestellten die gleichen sozialen Rechte gewährleisten, die heute durch § 86 des Bundesbeamtengesetzes den Beamten schon zustehen. Denn auch sie nehmen automatisch an der Gehaltsentwicklung der aktiv im Arbeitsleben stehenden Beamten teil. Wir Sozialdemokraten sind der Ansicht, daß dieser Grundsatz, der sich für einen Teil der arbeitenden Menschen sehr bewährt hat, nun für alle Arbeiter und Angestellten als erster Schritt der Sozialreform verwirklicht werden muß.

(Sehr gut! bei der SPD.)

Aus staatspolitischer Verantwortung geht der SPD-Gesetzentwurf auch an den Problemen, die sich bei einem etwaigen Absinken der Arbeitsentgelte ergeben können, nicht vorbei. Wir sprechen diese Frage in der Begründung zu dem Gesetzentwurf offen an und nehmen dazu Stellung.
Versicherungs- und verwaltungstechnisch ist die Anpassung der laufenden Renten so gestaltet, daß sie normalerweise durch die Bundespost ohne Schwierigkeiten durchgeführt werden kann.
In bezug auf die Anpassung der Renten unterscheiden wir uns grundlegend von dem sogenannten Grundentwurf der Bundesregierung. Wenn ich auch aus Zeitmangel nicht auf sonstige Einzelheiten dieses sogenannten Grundentwurfs eingehen kann — das werden wir tun, wenn die Regierungsvorlage uns vorliegt; sie wird noch manchen Wandlungen unterworfen werden, bis sie dem Hause vorliegt —, so ist es doch notwendig, in dieser Hinsicht einige wichtige Gesichtspunkte hervorzuheben.
In dem jetzt vorliegenden Grundentwurf ist die Frage, in welcher Weise die Arbeitsverdienste der Vergangenheit bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden sollen, nur teilweise geregelt. Es ist zwar in ihm ein kompliziertes Verfahren zur Feststellung der allgemeinen Grundlagen für die Bemessung der Renten enthalten, aber die entscheidende Frage, welche Werte aus den früheren Arbeitsverdiensten konkret der Feststellung der Renten zugrunde zu legen sind, soll nach dem Gesetzentwurf dem Bundesminister für Arbeit überlassen bleiben. Die Anpassung der Arbeitsverdienste, das Zentralproblem der Neuordnung, wie die Regierung selbst gesagt hat, wird also damit praktisch auf den Verwaltungsweg abgeschoben, da noch nicht einmal eine Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates vorgesehen ist.
Noch weniger befriedigend ist im Grundentwurf die Frage der Anpassung der laufenden Renten an die weitere Entwicklung der Löhne und Gehälter behandelt. Diese Frage wird einem zu bildenden sogenannten Sozialrat überlassen. Von dessen 21 Mitgliedern sind nur sieben Vertreter der Versicherten. Die übrigen 14 setzen sich zur Hälfte aus Vertretern der Arbeitgeber und des sogenannten öffentlichen Interesses — Bundesfinanzminister, Wirtschaftsminister usw. — zusammen. Obwohl der Bundesfinanzminister, dier Wirtschaftsminister und der Arbeitsminister Mitglieder dieses Gremiums „Sozialrat" sind, sollen sie gegen


(Dr. Schellenberg)

diese Beschlüsse ein Vetorecht haben. Ein erneuter Beschluß über die Anpassung der Renten bedarf nach dem Entwurf einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Sozialrats, so daß, um ein praktisches Beispiel zu nehmen, zusammen mit den Vertretern der Arbeitgeber bereits eine Stimme der Regierung, z. B. des Bundesfinanzministers, genügen würde, um die Anpassung der Renten zu blockieren. Das ist nach unserer Auffassung keine Anpassung der Renten an die wirtschaftliche Entwicklung. Die gegenwärtige Praxis, wonach der Gesetzgeber die Anpassung an die Lohn- und Kaufkraftentwicklung durch besondere Gesetze vornimmt, wäre noch sinnvoller als die Übertragung dieser sozialpolitisch, wirtschaftspolitisch und finanzpolitisch entscheidenden Frage an ein anonymes Gremium, das zudem noch einem Veto-Recht unterliegt.
Die SPD ist sich durchaus der volkswirtschaftlichen Verantwortung, die mit der Anpassung der Renten an die weitere Lohn- und Gehaltsentwicklung verbunden ist, bewußt. Der Gesetzentwurf schafft deshalb eine klare Trennung zwischen den Aufgaben der sozialen Sicherung einer Pflichtversicherung und der dem Ermessen des einzelnen überlassenen freiwilligen Versicherung.
Im bisherigen Sozialrecht hat auch die Frage des Zusammentreffens mehrerer Renten in einer Person durch Ruhens- und Kürzungsvorschriften sozialpolitisch zu vielen Beanstandungen geführt. Nach dem Gesetzentwurf werden grundsätzlich Renten aus mehreren Versicherungen an die gleiche Person nebeneinander gewährt, da diese Ansprüche durch verschiedene Beitragsleistungen erworben sind. Grundsätzlich werden auch Renten der Kriegsopferversorgung neben den Renten der Sozialversicherung gewährt.
Sozialpolitisch sind auch die Vorschriften über Beginn und Wegfall der Renten von erheblicher Bedeutung. Nach dem Gesetzentwurf sollen die Renten nicht wie bisher mit Ablauf des Kalendermonats, sondern mit Beginn des Monats, von dem an die Voraussetzungen für die Rente erfüllt sind, gewährt werden, weil keine Unterbrechung zwischen dem Ende der Lohn- und Gehaltszahlung und dem Beginn der Rente eintreten soll. Im übrigen sollen die Renten bei verspäteter Antragstellung für drei Monate rückwirkend gezahlt werden.
Der Gesetzentwurf schafft nicht nur eine Verbesserung, sondern auch eine wesentliche Vereinfachung des Rentenrechts. Die Vorschriften über die sogenannte Anwartschaft, die den Versicherten verpflichteten, alljährlich eine bestimmte Anzahl von Beiträgen zu entrichten, wurden beseitigt. Der Umstand, daß bei Nichterfüllung der Anwartschaft nach dem geltenden Recht die bis dahin geleisteten Beiträge grundsätzlich verlorengingen, hat zu außerordentlichen sozialen Härten, Ungerechtigkeiten und zu einer wesentlichen Komplizierung geführt.
Der Gesetzentwurf bringt auch wesentliche Verbesserungen in bezug auf die Wartezeiten, insbesondere für jüngere Menschen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.
Der Gesetzentwurf will aber weiter dem unerfreulichen Zustand begegnen, daß die durchschnittliche Bearbeitungszeit der Rentenanträge immer noch mehr als sechs Monate beträgt. Deshalb wird vorgeschrieben, daß der Versicherungsträger spätestens zwei Monate nach Vorlage der notwendigen Unterlagen die Rente anzuweisen hat. Bei verspäteter Anweisung sind dem Rentner Verzugszinsen in Höhe von 4 % zu zahlen.

(Zuruf rechts: Das ist zuwenig!)

Wir glauben, daß durch solche Vorschriften die Versicherungsträger selbst die geeigneten Maßnahmen zur beschleunigten Rentenbearbeitung treffen werden. Im übrigen haben die Versicherungsträger für die Zeit, in der die Rente nicht gewährt wird, einen Zinsgewinn, während derjenige, der auf die Rente wartet, unter Umständen Schulden machen muß.
Neben der Verbesserung der Rentenleistungen kommt auch den Leistungen der Gesundheits- und Berufsförderung eine besondere Bedeutung zu. Die SPD sieht in der wesentlichen Verbesserung dieser Leistungen eine wichtige Grundlage der Sozialreform. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, daß die grundlegende Ausgestaltung der Leistungen für die Gesundheits- und Berufsförderung für den Gesamtbereich der sozialen Leistungen durch eine besondere gesetzliche Regelung vorgenommen wird. Wir schlagen bis zur Verabschiedung einer solchen generellen gesetzlichen Regelung Übergangsvorschriften vor.
Sie beziehen sich z. B. auf eine Verbesserung der gesundheitlichen Leistungen. Nach unserer Auffassung müssen beispielsweise für die Leistung des Heilverfahrens die gesundheitlichen Notwendigkeiten bestimmend sein. Deshalb schreibt der Gesetzentwurf vor, daß ein Rechtsanspruch auf Heilverfahren für Versicherte, für Rentner und für Angehörige besteht. Eine gesundheitliche Leistung ist aber dann nicht erreicht, wenn nicht gleichzeitig die wirtschaftliche Existenz der Familie gewährleistet ist. Aus diesem Grunde ist neben dem Heilverfahren dem Arbeiter und Angestellten ein nach dem Familienstand gestaffeltes Tagegeld bis zu 80 v. H. des Entgelts zu gewähren. Darüber hinaus haben die Versicherungsträger Einrichtungen für gesundheitliche Vorbeugung zu schaffen und Einzelmaßnahmen zur Verbesserung der gesundheitlichen Verhältnisse zu treffen.
Neben den gesundheitlichen Leistungen schreibt der Gesetzentwurf eine sogenannte Berufsförderung vor. Die Leistungen werden gewährt, soweit nicht andere Stellen, beispielsweise die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, dafür zuständig sind.
Gesundheitspolitisch ist bedeutungsvoll, daß der Gesetzentwurf bei Gewährung der Leistungen der Gesundheits- und Berufsförderung die beratende Hinzuziehung der behandelnden Ärzte vorschreibt. Außerdem sieht der Gesetzentwurf die Bildung von Arbeitsgemeinschaften der an der Gesundheits- und Berufsförderung beteiligten Stellen vor.
Der Gesetzentwurf nimmt grundsätzlich keine organisatorischen Änderungen vor, denn sozialpolitisch sind nicht Organisationsfragen, sondern Leistungsfragen entscheidend. Somit bleiben die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, die Landesversicherungsanstalten und die sogenannten Sonderanstalten unberührt. Dennoch werden aber die Vorschriften über die Zuständigkeit vereinfacht. Für die Rentengewährung ist grundsätzlich die Versicherungsanstalt zuständig, bei der die überwiegende Beitragszeit zurückgelegt wurde.


(Dr. Schellenberg)

Der Gesetzentwurf legt — das scheint uns ebenfalls sozialpolitisch notwendig zu sein — den Versicherungsträgern eine besondere Beratungspflicht auf. Auch wenn der Gesetzentwurf eine weitgehende Vereinfachung des bisherigen Rentenrechtes schafft, so bedürfen doch die Versicherten und die Rentner einer sachgemäßen Beratung über ihre Rechte und Pflichten. Sie dürfen nicht das Bewußtsein haben, einem Apparat ausgeliefert zu sein. Der Gesetzentwurf bringt eine Reihe wichtiger Beispiele für diese Beratungspflicht. Er verpflichtet ferner die Versicherungsträger, jährlich einen Tätigkeitsbericht zu veröffentlichen, der auch den Versicherten und den Rentnern auf Verlangen zur Verfügung zu stellen ist. Sie sollen an ihrer Versicherung besonders interessiert werden. Der Bundesminister für Arbeit wird außerdem verpflichtet, dem Bundestag jährlich einen schriftlichen Bericht über die Entwicklung der Rentenversicherung vorzulegen.
Nun zu den Finanzierungsfragen, über die wir uns viele Gedanken gemacht haben. Die Finanzierungsvorschläge der SPD beruhen auf dem Grundsatz, daß einerseits eine unbedingte Sicherung der späteren Rentenzahlungen gewährleistet sein muß, daß es aber andererseits weder sozialpolitisch noch volkswirtschaftlich vertretbar ist, über den bereits erreichten Vermögensstand von 8 Milliarden DM hinaus weitere Mittel anzusammeln. Wir haben in diesem Hause schon heftige Diskussionen darüber gehabt, daß das den Herrn Bundesfinanzminister zu unerfreulichen Konsequenzen verleiten kann.
Der SPD-Gesetzentwurf erfordert einen Mehraufwand für das erste Jahr von 4077 Millionen DM. Für diese Leistungsverbesserungen sollen insbesondere die laufenden Überschüsse herangezogen werden.

(Abg. Ruf: Was geschieht, wenn sie aufgebraucht sind?)

Außerdem soll die Arbeitslosenversicherung 1 v. H. ihres Beitrages an die Rentenversicherung übertragen, da jetzt Zeiten der Arbeitslosigkeit rentensteigernd berücksichtigt werden. Der Bund soll sich nach dem SPD-Gesetzentwurf wie bisher mit 40 v. H. an den Rentenausgaben beteiligen als Ersatz für die Milliardenwerte, die durch Krieg- und Währungsumstellung verlorengegangen sind. Durch diesen Bundeszuschuß sollen gleichzeitig die bisherigen Erstattungen des Bundes für Grundbeträge, Rentenzulagen, Mehraufwendungen für Kriegsbeschädigte, Heimatvertriebene nach dem Fremdrentengesetz, Verfolgte des Nationalsozialismus usw. abgegolten werden. Indem keine Einzelabrechnung über viele Haushaltspositionen mehr geführt zu werden braucht, wird eine klare Finanzgestaltung ermöglicht.
Dem SPD-Entwurf ist eine versicherungsmathematische Berechnung beigefügt, aus der sich ergibt, daß die beantragten Leistungen ohne Beitragserhöhungen für die nächsten zehn Jahre sichergestellt sind.

(Abg. Ruf: Und nach zehn Jahren?)

— Wir kommen darauf zu sprechen, Herr Kollege Ruf; auch darüber machen wir uns selbstverständlich Gedanken. — Der Gesetzentwurf schreibt vor, daß der Bundesminister für Arbeit in Zeitabständen von vier Jahren Vorausberechnungen über die Entwicklung der Einnahmen und der Ausgaben für
einen Zeitraum von jeweils weiteren zehn Jahren aufzustellen hat, die dem Bundestag vorzulegen sind. Damit ist immer für die nächsten zehn Jahre unbedingte Gewähr für die Aufrechterhaltung der Leistungen gegeben.
Der Gesetzentwurf sieht ferner zur Sicherung der Leistungsaufgaben unter den einzelnen Versicherungsträgern ein Gemeinlastverfahren vor, das sich in Zukunft auf alle Leistungen, auch auf die gesundheitlichen Leistungen, die Pflichtleistungen werden, erstrecken soll.
Der Gesetzentwurf regelt ferner die Bundesgarantie, die sich aus Art. 120 des Grundgesetzes ergibt. Es wird aber in der Begründung nachgewiesen, daß nach den Vorausberechnungen mit der Inanspruchnahme der Bundesgarantie nicht zu rechnen ist.
Schließlich legt der Gesetzentwurf finanzwirtschaftlich fest, daß die Ausgaben für die einzelnen Leistungsarten, beispielsweise für Altersruhegeld, Berufsunfähigkeitsrente, getrennt nachzuweisen sind, damit die notwendigen Unterlagen für spätere Entscheidungen des Gesetzgebers gewonnen werden. Im übrigen darf ich in dieser Hinsicht auf die Begründung zu dem finanziellen Teil des SPD-Gesetzentwurfes verweisen.
Ich spreche in diesem Zusammenhang die Erwartung aus, daß auch die Bundesregierung nun bald die Karten in bezug auf den finanziellen Teil ihres Grundentwurfes offen auf den Tisch legt, damit wir über die wichtige Frage der Finanzierung volle Klarheit bekommen. Was bisher dem Grundentwurf in Gestalt dieser einen Aufstellung beigefügt ist, ist völlig unzureichend. Dem werden auch Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, wie ich hoffe, zustimmen.
Der Gesetzentwurf schafft eine wesentliche Vereinfachung des Rentenrechts. Nach dem Gesetzentwurf, der 131 Paragraphen umfaßt, können etwa 1000 Paragraphen in 16 verschiedenen Gesetzen aufgehoben werden. Es ist sozialpolitisch dringend notwendig, daß die Neuordnung auch verwaltungstechnisch schnell durchführbar ist. Deshalb haben wir dem Gesetzentwurf acht verschiedene Umrechnungstabellen beigegeben, die eine maschinelle Umrechnung der überwiegenden Mehrzahl aller Renten ermöglichen würden. Es ist aber nach unserer Auffassung sozialpolitisch im Gegensatz zum Renten-Mehrbetrags-Gesetz unbedingt erforderlich, daß jedem Rentner die Möglichkeit gegeben wird, seine Rente genau nach den Vorschriften des Gesetzes neu berechnen zu lassen. Er kann dies beantragen, hat die notwendigen Unterlagen beizubringen — das ist selbstverständlich —, und dann erhält er rückwirkend die nach seinen Unterlagen berechnete Rente, vorläufig die Rente nach Tabellen.
Da die Rentenreform seit Jahren versprochen wurde, müssen nach Auffassung der SPD alle Anstrengungen unternommen werden, das Gesetz über die Neuordnung der Rentenversicherung zum frühestmöglichen Termin in Kraft zu setzen. Deshalb sieht der Gesetzentwurf für das Inkrafttreten den 1. Juli 1956 vor.

(Abg. Ruf: Wie wollen Sie das schaffen?!)

— Allenfalls ließe sich vertreten, das Gesetz am 1. Oktober 1956 in Kraft treten zu lassen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, als ich gestern in der Geschäftsordnungs-


(Dr. Schellenberg)

debatte davon sprach, daß die Rentner nicht mehr einem Winter voll Sorgen entgegensehen dürfen, entstand in ihrem Kreise Unruhe. Ich halte das angesichts der Mitteilungen Ihrer eigenen Presse für unverständlich. Denn wie sich beispielsweise aus der Berliner CDU-Zeitung „Der Tag" — und andere CDU-Zeitungen haben es wiederholt — ergibt, hat der Bundesfinanzminister — ich zitiere wörtlich — mit Zustimmung der wirtschafts- und sozialpolitischen Sachverständigen der CDU/CSU-Fraktion erklärt und die Zustimmung erhalten, daß eine Rentenreform erst am 1. April 1957

(Hört! Hört! bei der SPD)

— also nach dem Winter — in Kraft treten solle. Es ist kein Dementi erfolgt, meine Damen und Herren.

(Abg. Ruf: Man kann ja nicht alles dementieren!)

Und deshalb müssen wir darauf dringen, daß unser Gesetzentwurf bald zur Beratung und zur Verabschiedung kommt. Wir sehen den anderen Vorschlägen der Regierung, die baldigst kommen mögen, entgegen. Weitere Verzögerungen lassen sich aber im Interesse der sozialen Sicherung unserer Alten und Arbeitsunfähigen nicht länger vertreten.
Die letzten Worte dieser Begründung sollen den Menschen im andern Teil Deutschlands gelten. Sie müssen drüben durch Taten davon überzeugt werden,

(Sehr richtig! bei der SPD)

daß das Leben hier nicht nur durch Prinzipien wirtschaftlicher Freiheit, sondern auch durch Grundsätze sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit bestimmt wird.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Ruf: Kommen deswegen so viele von drüben herüber?)

Nach Auffassung der Sozialdemokraten — und, Herr Kollege Ruf, darin unterscheiden wir uns von Ihnen — kann dies nicht dadurch erreicht werden, daß wir den §§ 1200 ff. der Reichsversicherungsordnung vom Jahre 1911 eine neue Fassung geben, sondern wir müssen uns wirklich ernsthaft um eine neue sozialpolitische Konzeption bemühen.

(Sehr gut! bei der SPD.)

Der Gesetzentwurf, den wir vorlegen, spricht auch unmittelbar die Menschen drüben in der Zone an. Wir legen beispielsweise fest, daß alle Arbeitszeiten, die dort zurückgelegt werden, bei der Rentenberechnung Berücksichtigung finden, oder schreiben vor, daß. die Ungerechtigkeiten gegenüber den sogenannten Grenzgängern nun endlich beseitigt werden und sie mit den gleichen Pflichten, die sie schon jahrelang haben, endlich auch die gleichen Rechte wie alle anderen Arbeiter und Angestellten erhalten.

(Beifall bei der SPD.)

Damit komme ich zum Schluß. Das Entscheidende ist für uns Sozialdemokraten, daß dieser erste Schritt zur Sozialreform zum Vorbild für das ganze Deutschland werden kann. In diesem Sinne lassen Sie uns trotz aller Meinungsverschiedenheiten zusammenarbeiten, damit wir ein Gesetz schaffen, das die soziale Existenz der Arbeitenden und der Menschen, die nicht mehr arbeiten können, in ausreichender Weise sichert.

(Lebhafter Beifall bei der SPD.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214317300
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit.

Anton Storch (CDU):
Rede ID: ID0214317400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In Verbindung mit der soeben begründeten Gesetzesvorlage der SPD habe ich Ihnen im Auftrag der Bundesregierung folgendes zu erklären.
Die Bundesregierung sieht eine umfassende Reform der sozialen Sicherung nach wie vor als ein wesentliches Ziel ihrer Gesamtpolitik an. Sie hat schon durch ihre bisherige Tätigkeit gemeinsam mit dem Bundestag die sozialen Leistungen in der Bundesrepublik erheblich ausbauen können. Soweit dies in Zahlen ausgedrückt werden kann, werden heute für die soziale Sicherung der Bevölkerung im Bundesgebiet und in Westberlin 23,3 Milliarden Mark ausgegeben.

(Abg. Dr. Menzel: Einschließlich der Beiträge der Arbeitnehmer!)

Dies ist eine von Wirtschaft und Staat getragene,
in sozialer Verantwortung übernommene Aufgabe.
Darüber hinaus erscheint ein wesentliches Ziel der Sozialreform, die wirksame soziale Sicherung für weite Bevölkerungskreise, jetzt erreichbar, weil die Wirtschafts- und die Finanzpolitik der Bundesregierung und die Gesetzgebung dieses Hohen Hauses eine tragfähige Grundlage geschaffen haben. Die von allen Seiten geforderte Vollbeschäftigung ist seit geraumer Zeit weitgehend erreicht.

(Abg. Winkelheide: Sehr richtig!)

Nun wird auch eine Beteiligung derjenigen an der Steigerung des allgemeinen Wohlstandes angestrebt und erreicht werden können, die infolge Alters, Invalidität, als Witwen oder Waisen nicht im Produktionsprozeß stehen.

(Abg. Horn: Sehr gut!)

Wie allseits bekannt ist, hat die Bundesregierung zur besonderen Beratung der Sozialreform ein Sozialkabinett eingesetzt, das in einer Reihe von Sitzungen zu Ende vorigen Jahres und zu Anfang dieses Jahres die Grundsätze für die Reform der sozialen Rentenversicherung aufgestellt hat. Die Beratung dieses weitaus wichtigsten Gebietes der Reform war am 18. Februar dieses Jahres abgeschlossen. Das Bundesministerium für Arbeit hat kurz darauf den Grundentwurf für die Neuregelung der Alters- und Invaliditätssicherung fertiggestellt und ihn bereits auf der Konferenz der Länderarbeitsminister am 2. März bekanntgegeben. Er ist sodann in einer Weise, wie sie im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren üblich ist, allen Beteiligten zur Stellungnahme bis zum 5. Mai dieses Jahres übersandt worden. Am 16. Mai wird der Entwurf im Bundeskabinett verabschiedet. Wenn zwischen dem Beschluß der Grundsätze im Sozialkabinett und der Vorlage eines Gesetzentwurfs eine längere Zeit liegt, so beruht das darauf, daß eine Regierungsvorlage einen anderen Weg der Gesetzgebung zu nehmen hat als ein Initiativgesetzentwurf einer Partei. Die Bundesregierung hat bei ihrer Gesetzesvorlage dafür zu sorgen, daß das Gesetz praktisch angewandt werden kann und die Leistungen auf die Dauer gesichert sind. Vor allem aber ist nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung die Beratung des Gesetzentwurfs mit den Versicherungsträgern, ihren Verbänden, mit den Sozialpartnern und den Ländern erforderlich. Mit der Verabschiedung des Entwurfs durch das Kabinett am 16. Mai ist sichergestellt, daß dieser Entwurf das Parlament noch vor den Sommerferien erreicht.


(Bundesminister Storch)

Mit der Befragung vieler Beteiligter möchte die Bundesregierung auch erreichen, daß die neue soziale Sicherung auf breiter Grundlage eingeführt wird und so ihr Bestand von Dauer ist. In arbeitsreichen Beratungen im Beirat für die Neuordnung der sozialen Leistungen und im Sozialkabinett und in einer die breite Öffentlichkeit bewegenden Diskussion hat sich bereits eine solche umfassende Meinungsbildung darüber ergeben, was bei der Sozialreform vordringlich geregelt werden sollte und in welcher Weise die Alters- und Invaliditätssicherung aufgebaut sein soll. Ich erwähne von diesen Grundsätzen die Gedanken,
daß die Rente eine Leistungsrente sein soll, die sich nach dem Arbeitsverdienst des gesamten Arbeitslebens bemißt;
daß weiter die Rente nicht mehr nur ein Zuschuß zum Lebensunterhalt sein, sondern daß sie den Lebensunterhalt vollständig decken soll;
daß schließlich auch die Rentner an der Entwicklung des allgemeinen Wohlstandes teilhaben sollen.
Die besonderen Maßnahmen für die vorzeitig invaliden Personen zur Wiederherstellung ihrer Leistungsfähigkeit und eine ausreichende Rentengewährung für sie, die Verbesserung der Leistungen für Witwen und Waisen gehören ebenfalls zu den wesentlichen Teilen der Regierungsvorlage.
In all dem zeigt sich, daß wir vor einer Umwandlung unseres Sicherungssystems stehen. Es muß an die Änderung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur in den letzten 70 Jahren angepaßt und mit den Entwicklungstendenzen unserer Wirtschaft in Einklang gebracht werden.
Die allgemeine Anerkennung dieser Zielrichtung kann in ihrer Wirkung für eine befriedigende soziale Ordnung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Bundesregierung hat diese grundsätzliche Neugestaltung mit aller Sorgfalt behandelt und vorangetrieben. Sie wird in Zusammenarbeit mit dem Bundesrat und dem Bundestag alles tun, damit das Gesetz über die Neuregelung der Alters- und Invaliditätssicherung am 1. Januar 1957 in Kraft treten kann.

(Abg. Dr. Dittrich [zur SPD gewandt] : Na also!)

Die Bundesregierung betont bei dieser Gelegenheit, daß dieses Gesetz zwar die vordringlichste Aufgabe, aber nicht der Abschluß der Reform ist. Sie erwartet, daß die Modernisierung gerade der Alters- und Invaliditätssicherung eine heilsame Wirkung auf unsere Gesellschaftsverfassung ausüben wird. Die Reform der Alters- und Invaliditätssicherung wird also eine Gesellschaftsreform sein.
Die Vorschläge für eine soziale Sicherung gewisser Gruppen der Selbständigen werden von der Bundesregierung ernsthaft geprüft und gefördert werden. Die Bundesregierung hofft hierbei auf die positive Mitarbeit aller Fraktionen dieses Hauses. Die Zusammenarbeit dürfte dadurch erleichtert sein, daß im Beirat für die Neuordnung der sozialen Leistungen beim Bundesministerium für Arbeit sachverständige Mitglieder aller Parteien neben Wissenschaftlern und Praktikern zu einer weitgehend gemeinsamen Auffassung gekommen sind.

(Beifall in der Mitte und rechts.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214317500
Das Wort hat der Abgeordnet Horn.

Peter Horn (CDU):
Rede ID: ID0214317600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die Ehre, im Anschluß an diese Darlegungen des Herrn Bundesarbeitsministers folgende kurze Erklärung abzugeben.
Namens und im Auftrage der Fraktionen der Regierungsparteien habe ich der Bundesregierung, insbesondere dem Herrn Bundesarbeitsminister, für die eben abgegebene Erklärung ausdrücklich zu danken.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)

Wir billigen ihren Inhalt. Im Hinblick auf die Schwere der zu lösenden Aufgaben

(Abg. Neumann: Des Wahlkampfes!)

und ihrer großen nicht nur sozialen, sondern auch gesellschaftspolitischen und volkswirtschaftlichen Bedeutung für die Zukunft waren und sind wir der Meinung, daß die zu treffende Neuordnung einer sehr gründlichen und sachgemäßen Vorarbeit bedarf.

(Zustimmung in der Mitte. — Zurufe von der SPD.)

Deshalb möchten wir unser Einverständnis mit den diesbezüglichen Hinweisen in der Regierungserklärung besonders hervorheben.
Die Regierungsparteien erwarten, daß die von der Bundesregierung hier soeben gegebene Zusage eingehalten und die Regierungsvorlage noch im Laufe dieses Monats Mai in die Gesetzgebungsarbeit gegeben wird. Sie erwarten ferner, daß anschließend in der weiteren Behandlung dieser Vorlage jede Verzögerung vermieden wird, damit der Sozialpolitische Ausschuß in die Lage versetzt wird, die Beratung der ihm dann vorliegenden beiden Gesetzentwürfe baldmöglichst in Angriff zu nehmen.

(Abg. Richter: Das habe ich gewußt!)

Die Fraktionen der Regierungskoalition erklären
auch ihrerseits, daß die zur Debatte stehende Neuordnung zum 1. Januar 1957 wirksam werden soll.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214317700
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schellenberg.

Dr. Ernst Schellenberg (SPD):
Rede ID: ID0214317800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Sozialdemokraten nehmen mit Interesse davon Kenntnis, daß die Regierungskoalition, anstatt bei dieser Gelegenheit die Versäumnisse der Bundesregierung in bezug auf die Sozialreform wenigstens andeutungsweise zu rügen, hier nur Vorschußlorbeeren für weitere Versprechungen erteilt.

(Zustimmung bei der SPD.)

Eine kurze Bemerkung zu der Erklärung des Herrn Bundesarbeitsministers. Wir haben mit Interesse davon Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung sich am 16. Mai mit der Vorlage beschäftigen wird. Gestern - gestern! — wurde gesagt: am 9. Mai. Innerhalb eines Tages hat sich also schon wieder eine Verzögerung' um eine Woche ergeben.

(Lachen bei der CDU/CSU.)

Wir hoffen, daß sich dieses Tempo der Verzögerung nicht fortsetzt.

(Zuruf des Abg. Pelster.)

— Herr Pelster, ich empfehle Ihnen: lesen Sie einmal die Begründung des SPD-Gesetzentwurfs, dann


(Dr. Schellenberg)

werden Ihre Zwischenrufe in Zukunft sachverständiger sein.

(Zuruf des Abg. Pelster.)

Noch eine andere Bemerkung ist notwendig. Die Zahlen, die der Herr Bundesarbeitsminister hier mitgeteilt hat, erwecken einen falschen Eindruck über die Größenordnung.

(Zurufe von der SPD: Sehr richtig! — Die Zahlen sind falsch!)

Darin sind enthalten Leistungen der Fürsorge, der Länder

(Abg. Ruf: Öffentliche soziale Leistungen der Bundesrepublik!)

und vor allen Dingen die Beiträge der versicherten Arbeiter und Angestellten, die, volkswirtschaftlich gesehen, erspartes Geld darstellen.

(Zustimmung bei der SPD.)

Die Beiträge zur Rentenversicherung sind seit 1949 von 5,6 % auf 11% gestiegen, .also praktisch verdoppelt worden. Nun rechnet sich hier die Bundesregierung die erhöhten Beiträge der Arbeiter und Angestellten als eine zusätzliche Leistung an. Im übrigen, um die Größenordnung ganz deutlich zu kennzeichnen: der Anteil des Bundes an den Sozialausgaben betrug nach dem Bulletin im Jahre 1950 37,6 von 100 Mark Ausgaben des Bundes, und im Jahre 1955 ist er auf 26% zurückgegangen.

(Hört! Hört! bei der SPD.)

Das sind die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Tatsachen.

(Beifall bei der SPD.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214317900
Das Wort hat Frau Abgeordnete Finselberger.

Erni Finselberger (GB/BHE):
Rede ID: ID0214318000
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ich befinde mich in einer sehr eigenartigen Situation, weil ich nicht weiß, ob ich der Bundesregierung kondolieren soll, weil sie es bis heute nicht fertiggebracht hat, einen Gesetzentwurf zur Regelung und Neuordnung der Rentenversicherung einzureichen, oder ob ich der SPD-Fraktion gratulieren soll.

(Abg. Dr. Menzel: Beides!)

Aber ich möchte sagen, die Verpflichtung den Rentnern gegenüber veranlaßt meine politischen Freunde und mich, der SPD-Fraktion zu gratulieren, daß sie es fertiggebracht hat, hier ein Gesetz vorzulegen.

(Beifall beim GB/BHE und bei der SPD.)

Ich sage das auch deswegen, weil wir nicht in der Lage waren und auch jetzt, da uns ein Gesetzentwurf der SPD-Fraktion vorliegt, noch nicht in der Lage sind, überhaupt eine vergleichende Betrachtung vorzunehmen. Trotz der an die Bundesregierung so häufig gerichteten Bitten und Ermahnungen haben wir von dem Herrn Bundesarbeitsminister und auch aus den Reihen der stärksten Regierungsfraktion, meine Herren und Damen von der CDU/CSU, nur Vertröstungen gehört.

(Zuruf von der SPD: Ist ja auch kein Wehrgesetz!)

Es ist doch sicherlich eine sehr ungewöhnliche Erscheinung, wenn die Bundesregierung einen Vorentwurf vorlegt, den sie Grundentwurf nennt und der nichts anderes darstellt als ein Fragment. Warum kam die Bundesregierung in diese peinliche Lage? Sie kam deshalb in diese peinliche Lage, weil die SPD-Fraktion es fertiggebracht hat, nunmehr diesen Gesetzentwurf vorzulegen. Es mußte doch auf die Öffentlichkeit sehr peinlich wirken, daß es auf diese Weise besonders deutlich wurde, daß die Bundesregierung noch keinen Entwurf vorgelegt hat. Auch die Erklärung des Herrn Bundesarbeitsministers kann uns nicht darüber beruhigen, daß Jahre darüber hinweggegangen sind und daß die Kreise unserer Invaliden und Rentner, unserer alten Menschen von der Bundesregierung geradezu stiefmütterlich behandelt worden sind.

(Beifall beim GB/BHE und bei der SPD. — Zuruf von der Mitte: Billiger geht's nicht!)

Wenn ich auf die Ausführungen des Herrn Professor Schellenberg, die er zur Begründung des SPD-Entwurfs gemacht hat, nicht näher eingehe, dann deshalb, weil meine politischen Freunde und ich uns mit ihm sowohl in der Zielsetzung als auch hinsichtlich des eingeschlagenen Weges weitestgehend in Übereinstimmung befinden. Meine politischen Freunde, insbesondere diejenigen, die sich vornehmlich mit diesem Gebiet zu beschäftigen haben, sind sich noch nicht ganz klar darüber, ob sie sich für eine Mindestrente entscheiden sollen oder nicht. Diese Frage steht noch offen. Auch die Frage der automatischen Anpassung werden wir in einer der nächsten Wochen zu Ende diskutieren.
Andererseits möchte ich mit Bezug auf dieses Fragment des sogenannten Grundentwurfs sagen, daß wir glauben, uns nicht für die darin vorgesehene Regelung entschließen zu können, wenn nicht hinsichtlich der Zusammensetzung der Sozialräte eine Änderung vorgenommen wird. Außerdem muß in sehr kurzen Zeiträumen eine Überprüfung stattfinden, und es darf nicht so kommen, wie es immer wieder in Kreisen der CDU/CSU gesagt wurde und wie man es auch aus dem Bundesarbeitsministerium immer wieder hört, daß nur etwa alle drei, vier oder gar fünf Jahre eine Überprüfung im Hinblick auf die Anpassung der Renten an das Lohn- und Preisniveau vorgenommen wird. Dann kommen die Renten wieder ins Hinken. Ich bin der Meinung, Herr Bundesarbeitsminister, Sie sollten in den Sitzungen, in denen abschließend über Ihren Entwurf beraten wird, darauf hinwirken, daß die Regelung unter keinen Umständen in der jetzigen Form bestehenbleibt.
Nun möchte ich etwas sagen, was uns wohl alle angeht. Für uns alle, auch für die Rentner, ist es erfreulich, daß durch die Arbeit der SPD-Fraktion das Arbeitstempo im Sozialkabinett vielleicht doch etwas beschleunigt worden ist. Wir sollten ruhig einmal so tolerant sein und auch die Arbeit einer anderen Fraktion anerkennen. Und, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, vielleicht sind Sie im Innern Ihres Herzens deshalb auch ganz froh. Ich habe Verständnis dafür, daß Sie es hier nicht ganz so aussprechen können wie ich, die ich das hier ganz unabhängig und freimütig tun darf.

(Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)

Wir haben gern zur Kenntnis genommen, daß dieser Gesetzentwurf nunmehr wirklich dem Bundestag vorgelegt werden soll. Dies erkennen wir dankbar an, wenngleich sich der Termin, wie Herr Professor Schellenberg sagte, vom 9. wieder auf den 16. Mai verschoben hat. Immerhin können wir nun im Sozialpolitischen Ausschuß schnell mit dieser Arbeit beginnen.
Ich möchte aber schon jetzt sagen, daß sich meine Fraktion nicht damit einverstanden erklären kann, diese Rentenanpassung und Rentenerhöhung, über-


(Frau Finselberger)

haupt die Neuordnung der Renten erst mit dem 1. Januar 1957 in Kraft treten zu lassen. Ich glaube, dieses Anliegen sollte uns so wichtig sein, daß wir es beschleunigt behandeln, damit diese Angelegenheit unserer Rentner, unserer Alten und Invaliden nicht zu einem Faktor im Wahlkampf wird, sondern möglichst herausgehalten wird. Das sind wir unseren Rentnern, unseren alten Menschen schuldig.

(Beifall beim GB/BHE und bei der SPD.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214318100
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hammer.

Dr. Richard Hammer (FDP):
Rede ID: ID0214318200
Meine Damen und Herren! Die Tagesordnung des Donnerstag ist hier sehr langsam abgespult worden. Wenn das anders gegangen wäre, wären wir dazu aufgefordert gewesen, zu dieser Gesetzesvorlage der Sozialdemokraten binnen 24 Stunden Stellung zu nehmen; denn sie war erst 24 Stunden vorher verteilt worden.

(Zurufe von der SPD.)

— Meine Damen und Herren, ich habe durchaus Verständnis für Ihren Wettbewerb; aber bitte, haben Sie Verständnis für unsere Argumentation. Ohne eingehende Beratung einer Fraktion ist hier eine gründliche Stellungnahme nicht zu erwarten, und eine andere ist nicht zu verantworten.
Dieses merkwürdige Tempo hat noch einen Nachteil. Man empfindet diesen Zeitdruck als ein wenig unhöflich. Er könnte die Freude an einem Gesetzentwurf mindern, der zwar von einem politischen Gegner vorgetragen wird, aber deutlich die Handschrift eines großen Könners zeigt.

(Abg. Welke: Wollen Sie denn gar nichts tun, Herr Kollege Dr. Hammer?)

— Doch, aber nicht in dem Tempo, das Sie mir vorschreiben.

(Sehr gut! bei der FDP.)

Wir sehen uns also außerstande, heute entscheidende Kapitel aus Ihrem Gesetzentwurf zu behandeln, so entscheidende Kapitel wie etwa die Frage der sehr umstrittenen und problematischen dynamischen Rente, die sehr fragwürdige Übertragung von gesundheitspolitischen Aufgaben von den Trägern der Krankenversicherung auf die Träger der Rentenversicherung. Wir sehen uns heute nur in der Lage, grundsätzlich zu erklären, was wir im allgemeinen von dieser Reform der Rentenversicherung erwarten.
Die Freien Demokraten erwarten, daß die Rente, die in Zukunft, sagen wir einmal, die Normalrente sein wird, also die Rente, die der größte Teil unserer deutschen Mitbürger, die nun einmal Arbeitnehmer sind, am Ende ihres Lebens beziehen werden, so groß ist, daß unseren Rentnern nie mehr der Gang zum Fürsorgeamt zugemutet werden wird, wo sie in irgendeiner Form eine Armenunterstützung empfangen.

(Abg. Welke: Dann sind wir uns ja schnell einig!)

Wir sind außerdem der Ansicht, daß auch die Renten für Witwen und Waisen so hoch sein sollen, daß die Mütter von Waisenkindern in die Lage versetzt sein werden, ihre Kinder selber zu erziehen. Man kann zwar den Verlust eines Ernährers nicht durch Geld ersetzen; man kann aber durch eine ausreichend hohe Rente dafür sorgen, daß die Mutter zur Erziehung ihrer Kinder abkömmlich ist. Um welches Thema der Erziehung es sich hier handelt, mögen Sie sich selbst heraussuchen, ob um Taschentücher
oder um das Abendgebet. Familienpolitik, gute Familienpolitik ist auch davon abhängig, daß eine ausgezeichnete Rentenpolitik gemacht wird. Das ist jedenfalls der Standpunkt der Freien Demokraten.
Meine Damen und Herren, wenn die Gesetze nun bearbeitet werden — wir werden mit zwei Vorlagen zu rechnen haben —, dann werden wir wie immer die gesetzgeberische Leistung als das Kunstwerk würdigen, ohne auf die politische Herkunft des Entwurfs zu sehen. Wir haben allerdings einen Wunsch: daß für die Beratungen im Ausschuß, die bald beginnen sollten, endlich auch die Vorarbeiten im Arbeitsministerium, auf die wir schon lange gedrängt haben, fertig sein möchten und daß auch das Stück des Herrn Arbeitsministers, das bis jetzt noch die Bezeichnung „Grundentwurf" trägt, bis dahin wirklich bühnenreif sei. Wir versprechen Ihnen, im Ausschuß das Unsere zu tun, um bei der gleichzeitigen Behandlung dieser Gesetzentwürfe zu einer Regelung zu kommen, die wir vor dem deutschen Volk verantworten können.

(Beifall bei der FDP und in der Mitte.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214318300
Meine Damen und Herren, es liegen keine Wortmeldungen mehr vor. Ich schließe die Aussprache und schlage Ihnen vor, den Gesetzentwurf an den Ausschuß für Sozialpolitik zu überweisen. — Widerspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen.
Ich komme zu Punkt 4 der heutigen Tagesordnung:
Dritte Beratung des Entwurfs eines Zweiten Wohnungsbaugesetzes (Wohnungsbau- und Familienheimgesetz) (Drucksachen 2353, 2270, 722, 601, 5; Umdrucke 596, 597, 598).
Ich eröffne die allgemeine Aussprache. Wird das Wort gewünscht? — Herr Abgeordneter Lücke!

Paul Lücke (CDU):
Rede ID: ID0214318400
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Sie mir zunächst ein Dankeswort unserer Antragsannahmestelle dafür zu sagen, daß sie die gestrigen Beschlüsse trotz der Kürze der Zeit heute bereits um 9 Uhr dem Hause vorgelegt hat.

(Beifall.)

Die gestrige zweite Beratung des vorliegenden Gesetzentwurfs hat erneut deutlich gemacht, daß der Wohnungsbau in der Bundesrepublik nach wie vor Sozialaufgabe Nr. 1 bleibt. Die an sich schwierige Rechtsmaterie und die Fülle der gestern behandelten Einzelanträge könnten jedoch dazu beitragen, die Grundanlage des in diesem Gesetz festgelegten neuen Weges, den wir im Wohnungsbau beschreiten wollen, zu verwischen. Mir liegt daran, in einigen wenigen Sätzen die Ziele, die die zweite Halbzeit des sozialen Wohnungsbaues bestimmen sollen, erneut herauszustellen.
Der Leitgedanke, der über allen Beratungen dieses Gesetzes stand, kann in dem Wort zusammengefaßt werden: Bauen, wie es die Familie braucht. So tragen alle Bestimmungen des vorliegenden Gesetzentwurfs diesem Gedanken Rechnung: mehr Familienheime, damit mehr Einzeleigentum in den Händen der arbeitenden Volksschichten, vor allem auch der einkommenschwachen Bevölkerungskreise; größere Wohnungen, bessere Qualität und Ausstattung, bei Mietwohnungen — soweit sie als Familienwohnungen bestimmt sind — ein zweites Kinderzimmer. Dem Wohnungsbau für einkommenschwache Bevölkerungskreise, insbesondere für kinderreiche Familien, Schwerkriegsversehrte und Krieger-


(Lücke)

witwen mit Kindern, wird in diesem Gesetz der unbedingte Vorrang gesichert. Zusätzliche Sozialmaßnahmen wie z. B. die Zahlung von Miet- und Lastenbeihilfen stellen sicher, daß die Mieten und Belastungen für diese Kreise auch auf die Dauer tragbar gemacht werden. Wenn seit Erlaß des Ersten Bundeswohnungsbaugesetzes im Bundesgebiet über 3 Millionen Wohnungen gebaut werden konnten, für die allein mehr als 16 Milliarden DM öffentliche Gelder aufgewendet wurden, ist das eine Leistung, auf die unser gesamtes Volk stolz sein kann.

(Beifall in der Mitte.)

Das neue Gesetz in der Vielzahl seiner Bestimmungen sieht vor, daß dieser Weg fortgesetzt wird und daß bis zum Jahre 1962 1,8 Millionen Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus geschaffen werden sollen. Der Anteil der steuerbegünstigten und der frei finanzierten Wohnungen bewegt sich in der gleichen Höhe.
Wenn das Wohnungsbau- und Familienheimgesetz neben der Beseitigung der Wohnungsnot, die unser vornehmstes Anliegen bleiben muß, zugleich — ich unterstreiche: zugleich — sicherstellen soll, daß breitesten Volksschichten die Möglichkeit geboten wird, zu einem Einzeleigentum in der Form von Familienheimen, Kleinsiedlungen zu kommen, um sie so mit dem Grund und Boden zu verwurzeln, erfüllt dieses Gesetz eine staatspolitische Aufgabe erster Ordnung. Damit diese Aufgabe wirksam erfüllt werden kann, werden Sparwille und die Tatkraft unserer Familien besonders aufgerufen. Wo es nicht möglich ist, Familienheime zu erstellen, soll die Mietwohnung in stärkerem Maße durch das Wohnungseigentum abgelöst werden. So will dieses Gesetz die einmalige und nicht wiederkehrende Chance nutzen, über den sozialen Wohnungsbau unseren Familien zu einem Einzeleigentum zu verhelfen.
Ich bin überzeugt, daß kaum ein Gesetz von unserer Bevölkerung, vor allem unseren kinderreichen Familien, so sehr erwartet wird wie dieses Gesetz. Gewiß war der Weg von der Drucksache 5, dem Familienheimgesetz der CDU/CSU-Fraktion, bis zur Drucksache 2353, mit der uns die Zusammenstellung der gestrigen Beschlüsse vorliegt, schwer und dornenvoll. In drei Ausschußlesungen wurde um die beste Form gerungen. Die Vorlage der Bundesregierung, die Vorlagen der Kollegen der SPD-Fraktion und eine Fülle von Änderungsanträgen schufen die Vorlage, die nunmehr mit 125 Paragraphen in einem neuen, dem Zweiten Wohnungsbaugesetz vor uns liegt.
Man soll die Vorlage nicht mit dem unbegründeten Vorwurf in Mißkredit zu bringen versuchen, sie sei zu kompliziert und unübersichtlich. Richtig ist, daß die Materie, die es hier zu regeln galt, von Natur aus schwierig ist. Daß wir zugleich in diesem Gesetz sieben andere Gesetze novelliert haben, ist geschehen, um alle Bestimmungen in einem umfassenden Gesetz zu vereinigen und dem Staatsbürger, der das Gesetz in die Hand nimmt, die Möglichkeit zu geben, zu erfahren, welche Möglichkeiten ihm auf dem Gebiet des Wohnungsbaues geboten wergen. Soweit die Kritik durch den Umfang des Gesetzes hervorgerufen wird, möchte ich etwas wehmütig auf die Vorlage meiner Freunde zurückblicken, die, wie ich ausführte, nur 24 Paragraphen umfaßt. — In der Ausschußarbeit haben sich alle Fraktionen, die Bundesregierung und nicht zuletzt der Bundesrat in einem edlen Wettstreit bemüht, alles gut und sorgfältig zu regeln. So entstand dann eine eindrucksvolle neue Vorlage.
Wir mußten manche Kompromisse machen. Das ließ sich leider nicht vermeiden. Trotzdem bin ich der Meinung, daß wir ein gutes Gesetz geschaffen haben, das einer guten Sache dient. Dieses Gesetz wird sich bewähren. Schon bei der zweiten Beratung gestern hat die übergroße Mehrheit des Hauses dem Gesetzentwurf zugestimmt, und bei einer Reihe von Bestimmungen sind Beschlüsse einstimmig gefaßt worden. Das bestätigt den gemeinsamen Willen, zu einer Lösung zu kommen, der alle Parteien die Zustimmung geben können. Ich möchte deshalb auch von dieser Stelle aus das tun, was ich in der Öffentlichkeit häufig getan habe: darum bitten, daß wir diese wichtige Frage wie im 1. Bundestag einmütig regeln. Ich richte den Appell vor allem an die Kollegen der SPD-Fraktion, sich der Zustimmung zu dem Gesetz nicht zu versagen.
Ein letztes Wort! Im Lande draußen wartet man auf das Gesetz. Kommen wir deshalb zur Tat! Sichern wir durch dieses Gesetz, daß ab 1. Oktober nach diesem Gesetz gebaut werden kann! Wenn heute in sehr langen Ausführungen in diesem Hohen Hause über die äußere Sicherheit unseres Volkes gesprochen wurde, so stellt dieses Gesetz. ein Kernstück der Sozialreform dar, das die innere Sicherheit unseres Volkes zum Ziele hat.
An den Bundesrat darf ich auch im Namen des Ausschusses von dieser Stelle aus die dringende Bitte richten, dem Gesetz ohne Anrufung des Vermittlungsausschusses zuzustimmen. Nachdem alle Änderungswünsche des Bundesrats, die irgendwie vertreten werden konnten, gestern in einem Sammelantrag der Koalitionsfraktionen angenommen worden sind, darf erwartet werden, daß dieses Gesetz numehr ohne Anrufung des Vermittlungsausschusses angenommen wird. Meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion stimmt dem Gesetz zu.

(Beifall in der Mitte.)


Dr. Richard Jaeger (CSU):
Rede ID: ID0214318500
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Wohnungsbau.

Dr. Victor-Emanuel Preusker (CDU):
Rede ID: ID0214318600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da wir jetzt zur dritten Lesung dieses Gesetzentwurfes schreiten können, der wegen der Zusammenfügung aus drei verschiedenen Gesetzentwürfen eine lange Entwicklungszeit gehabt hat, möchte auch ich an dieser Stelle allen, die im ganzen Lande draußen, bei den fachlichen Verbänden, in den Ländern, im Bundesrat und selbstverständlich hier im Bundestag daran mitgearbeitet haben, meinen besonderen Dank aussprechen. Ich weiß aus der gestrigen Abstimmung, daß diese Gesetzesvorlage eine solche Fülle von Spezialvorschriften enthält, daß es eine ungewöhnliche Anstrengung für alle Damen und Herren dieses Hauses gewesen ist, all den Abstimmungen zu vielfach komplizierten juristischen und wohnungsbaupolitischen Fragen immer in vollem Umfange zu folgen.
In Gesprächen ist häufig der Vorwurf erhoben worden, dieses Gesetz sei ein perfektionistisches Gesetz. Ich darf dem gegenüberstellen, daß gestern namentlich von den Sprechern der Opposition hervorgehoben wurde, es enthalte viele Lücken. Auf der einen Seite ist es also ein perfektionistisches Gesetz, und auf der anderen Seite enthält es noch viele Lücken. Die Wirklichkeit ist demnach wohl nicht ganz so, wie es in diesen beiden Extremen zum Ausdruck gelangt.
In diesem Gesetz sind eine Reihe von Dingen geregelt worden, bei denen man streiten kann, ob sie


(Bundesminister Dr. Preusker)

durchaus in das Gesetz hätten hineingenommen werden oder ob sie weiter in besonderen Rechtsverordnungen, in einer Fülle von Richtlinien und Anordnungen ihren Platz hätten behalten oder neu finden sollen. Das Hohe Haus hat seit längerer Zeit die Tendenz verfolgt, möglichst nicht zu viele Ermächtigungen zu geben und Rechtsverordnungen durch die Regierung und den Bundesrat schaffen zu lassen, sondern, soweit es irgend geht, die wichtigen Materien im Gesetz selbst zu regeln.
Noch ein zweiter Umstand hat sicher ebenfalls zu dem Wunsch geführt, eine möglichst vollständige Konzeption vorzulegen. Vielfach war das Gefühl vorhanden, das Erste Wohnungsbaugesetz sei nicht in allen Teilen unseres Bundesgebietes von den unteren Verwaltungsstellen so durchgeführt worden, wie es hier im Bundestag einmal einstimmig beschlossen worden war. Ich darf deshalb im Interesse der Wiederherstellung eines uneingeschränkten Vertrauensverhältnisses zwischen allen Exekutivorganen in der gesamten Bundesrepublik ganz besonders den Wunsch zum Ausdruck bringen, daß dieses Gesetz nachher tatsächlich in voller Loyalität durchgeführt wird.
Gestatten Sie mir vor der deutschen Öffentlichkeit noch einige kurze Hinweise auf die doch sehr wesentlichen Verbesserungen, die dieses Gesetz für den Wohnungsbau bringt. Es sind dies einmal die erheblichen finanziellen Mehraufwendungen von 240 Millionen DM für das nächste Jahr, die wesentlichen Verbesserungen zugunsten der einzelnen Bauwilligen, die, wenn sie ein Eigenheim erstreben, zunächst einmal bis zu 10 % mehr an Darlehen bekommen und, wenn sie Minderbemittelte sind, von vornherein eine erheblich höhere Kapitalleistung in Form eines höheren Darlehens, erhöhter Zinssubventionen oder Annuitätenbeihilfen erhalten können. Es sind weiter die Einräumung von Familienzusatzdarlehen vom dritten Kind an von 1500 DM und die Einräumung von Tilgungsprämien hier vorgesehen. Eine Fülle weiterer Vergünstigungen sind gegenüber dem bisherigen Stand ausgeweitet oder aber zumindest beibehalten worden.
Das entscheidende Kriterium ist, daß wir mit diesem Gesetz darangegangen sind, zwei Aufgaben in einem zu lösen, nämlich einmal die Wohnungsversorgung für die einkommensschwachen Schichten der Bevölkerung sicherzustellen einschließlich des Vorbehaltens von nicht weniger als rund 1,8 Millionen Wohnungen und mit Hilfe von Maßnahmen, die diese Wohnungen möglichst schnell wieder freimachen können, und zum zweiten dafür zu sorgen, daß möglichst viele in unserem Vaterland aus eigener Initiative und mit der Belohnung der öffentlichen Förderung zu einem eigenen Heim, zu einem ausreichenden Familienheim gelangen können. Das dazu Notwendige habe ich gestern schon gesagt.
Ich möchte mich kurz fassen, nachdem wir zur dritten Lesung dieses Gesetzentwurfes erst am Ende eines sehr arbeitsreichen Tages gekommen sind. Aber soviel darf ich vielleicht doch noch sagen: Am Ende dieses Jahres werden in der Bundesrepublik 12,5 Millionen Wohnungen zur Verfügung stehen, davon rund 3,6 Millionen Wohnungen, die seit 1948 erstellt worden sind. Nach dem Ziel des Gesetzes werden bis zum Jahre 1962 weitere 1,8 Millionen Sozialwohnungen gebaut werden. Darüber hinaus werden, wie wir hoffen, in demselben Verhältnis wie bisher noch einmal etwa 1,8 Millionen steuerbegünstigte oder freifinanzierte Wohnungen entstehen. Wir können also damit rechnen, daß zu dem in diesem Gesetz festgelegten Termin mindestens 16 Millionen Wohnungen, vielleicht sogar noch etwas mehr, in der Bundesrepublik vorhanden sein werden, darunter wahrscheinlich mindestens 23/4 bis 3 Millionen vorbehaltene Wohnungen, Neubauwohnungen für die sozial schwachen Kreise. Die Bundesregierung ist deshalb davon überzeugt, daß dieses Gesetz tatsächlich den entscheidenden Schritt zum Ende der Wohnungsnot bedeutet, insbesondere für alle diejenigen, die sich nicht aus eigener Kraft zu helfen vermögen, und daß es den entscheidenden Start bedeutet für diejenigen, die sich aus eigener Kraft zusätzlich etwas schaffen wollen.
Nun sind mir soeben noch zwei Anträge auf den Tisch gelegt worden. Der erste ist der Antrag auf Umdruck 597, der zu § 110 gestellt worden ist. Ich kann von ihm nur sagen, daß er hinsichtlich der Überschrift eine ohnehin notwendige Berichtigung bedeutet. Nach seinem Inhalt will er nichts weiter, als ein offenbares Versäumnis jetzt noch in letzter Minute gutzumachen. Ich weiß von einer Vereinbarung, die hier getroffen worden ist, keine Anträge zur dritten Lesung mehr zu stellen, glaube aber, daß dieser Antrag gar kein materieller Antrag ist, sondern nur etwas verlangt, was ohnehin notwendig gewesen wäre.
Etwas anderes ist es mit dem Antrag auf Umdruck 596. Dieser Antrag ist nach meiner Ansicht doch von erheblicher Bedeutung. Wiewohl man mit ihm dem Wohnungsbau eine zusätzliche finanzielle Möglichkeit verschaffen will über das hinaus, was bisher bereits in diesem Gesetz an Mehrbeträgen verankert werden konnte, so habe ich doch allein schon wegen der Form und des Inhalts dieses Antrags erhebliche Bedenken anzumelden, ganz abgesehen davon, daß die Bundesregierung nun beim besten Willen keine Möglichkeit sieht, über den bisherigen Rahmen des zusätzlich für den sozialen Wohnungsbau Bewilligten hinauszugehen.
Ich darf Ihnen einmal sagen, was hier die besonderen sachlichen Bedenken auslöst. Von den 700 Millionen DM, die in den Jahren 1958, 1959 und 1960 ohne Degression verbleiben sollen, sollen nachher 30 % — das sind 210 Millionen DM — als Zins- und Annuitätenzuschüsse auf die Dauer von 20 Jahren für die Eigenheimförderung verwendet werden. Das bedeutet, daß entgegen dem sonstigen Inhalt des hier zu beschließenden Gesetzes praktisch in den letzten Jahren über die Gesamtheit aller Mittel verfügt werden würde. Ich weiß nicht, ob die Antragsteller selber das so beabsichtigt haben.
Ich bedauere, zum Schluß noch auf eine Sache eingehen zu müssen. Ich kann hier selber keine Anträge steilen. Ich bitte aber das Haus, einer Änderung des § 32 Buchstabe b zuzustimmen. Während ich noch überlegte, ob man dem vorgetragenen Anliegen nicht besser entsprechen könne, ist durch die in der zweiten Lesung gestern erfolgte Umformulierung etwas entstanden, was in der verwaltungsmäßigen Handhabung bei den Ländern zu einer Unmöglichkeit- führen muß. Durch die Einfügung der Worte: „insbesondere solche" ist der Wortlaut: „Haushaltungen und Personen" nicht mehr möglich; denn sonst müßte von Amts wegen eine vollkommen neue Statistik aufgestellt und eine Befragung aller einzelnen Haushaltungen und Personen vorgenommen werden. Das ist draußen in den Ländern in dieser Form Jahr für Jahr niemandem möglich. Wenn diese Ausweitung erfolgt, kann sich dies, wie Herr Stierle gestern schon ausgeführt hat, nur auf die Gesamtheit der Wohnungsamtsfälle, d. h. aller Wohnungssuchenden konzentrieren, die ja leicht


(Bundesminister Dr. Preusker)

zu erfassen sind. Es müßte also statt „Haushaltungen und Personen" heißen „Wohnungsuchende".
Zum zweiten ist die Formulierung bezüglich der „noch nicht ausreichend Versorgten" auch noch nicht genügend spezifiziert. Wie ich Herrn Kollegen Stierle verstanden habe, hat er nicht beabsichtigt, darüber einen Streit zu entfesseln. Wir haben hier nicht die Möglichkeit einer Rechtsverordnung vorgesehen, in der wir noch bestimmen könnten, ob 87, 90 oder 83 qm ausreichend oder nicht ausreichend sind. Nach seinen Ausführungen bezüglich der jungen Ehepaare, der Familien, die mit fünf Personen und mehr in einem Raum zusammengequetscht sind, geht es ihm doch in allererster Linie um die Menschen, die unzumutbar untergebracht sind. Deshalb möchte ich die an die Worte „insbesondere solche" anschließende Formulierung in vollem Umfange so stehen lassen, wie sie gestern hier beschlossen worden ist. Ich möchte aber vorschlagen und bitten, daß, damit das Gesetz den Bundesrat leichter passiert, eine Fraktion den Antrag aufnimmt, die Bestimmung unter dem Buchstaben b folgendermaßen zu fassen:
über die Anzahl der nachweislich noch unzumutbar untergebrachten Wohnungsuchenden, insbesondere solche . . .

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214318700
Ich habe den Antrag schon vorliegen.

Dr. Victor-Emanuel Preusker (CDU):
Rede ID: ID0214318800
Ich habe dem Präsidenten den Vorschlag überreicht, der dem Anliegen praktisch in vollem Umfange gerecht wird. Was ich vorgeschlagen habe, ist nichts anderes als eine loyale Formulierungshilfe, die gewährleisten soll, daß das Gesetz ohne Schwierigkeiten den Bundesrat passiert, ohne daß der Vermittlungsausschuß angerufen wird.
Ich bitte das Hohe Haus um Entschuldigung, daß ich das noch vortragen mußte, um diese letzten Dienste an dem uns allen am Herzen liegenden Gesetzentwurf zu leisten. Ich hoffe, daß das Gesetz damit endgültig den Weg freibekommt, damit vom nächsten Baujahr an mit dem Dienst, den wir als Bundesregierung weiter leisten wollen, alle Hoffnungen und Erwartungen, die unser Volk hegt, erfüllt werden können.

(Beifall bei den Regierungsparteien.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214318900
Das Wort in der allgemeinen Aussprache hat der Abgeordnete Jacobi.

Werner Jacobi (SPD):
Rede ID: ID0214319000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den Ausführungen des Herrn Bundeswohnungsbauministers und den Hinweisen darauf, daß es gestern eine Reihe von Abstimmungen gegeben hat, deren Konsequenzen möglicherweise doch noch nicht so zu übersehen sind, wie es notwendig wäre, bliebe eigentlich nur ein vernünftiger Weg: eine Vereinbarung dahin zu treffen, den Gesetzentwurf an die Ausschüsse zurückzuüberweisen, um sich in einer kurzen Beratung dort die Zeit zu nehmen, in Ruhe abzuwägen, wo es noch an den nötigen Verzahnungen fehlt.

(Beifall bei der SPD.)

Es sind deren nämlich noch eine ganze Menge herzustellen. Ich will hierzu Einzelheiten jetzt nicht mehr ausführen. Ich bin der Meinung, wenn wir eine Fraktionsvereinbarung dahin träfen, das Gesetz noch einmal zu einer kurzen Beratung an die
Ausschüsse zu geben und dann so schnell wie möglich die dritte Lesung folgen zu lassen, träte nicht nur kein Schaden ein, vielmehr würde uns allen ein guter Dienst erwiesen.

(Zuruf von der Mitte: Ein Bärendienst!)

Es ist eine Zumutung für dieses Haus, in diesem Augenblick zu dieser Stunde nach zwei mit Beratungsstoff so angefüllten Tagen und nach einer Erklärung, wie sie der Herr Bundeswohnungsbauminister soeben abgab, diesen Gesetzentwurf mit Zuversicht zu verabschieden; das ist einfach nicht möglich, meine Damen und Herren.

(Zuruf von der Mitte: Warum denn nicht?)

Wir haben nicht die Mehrheit in diesem Hause, wir haben nur die Möglichkeit, Anträge zu stellen. Ich finde, ein solcher Antrag wäre vernünftig, zumal kein Zeitverlust damit verbunden ist, der irgendwie bedenklich erscheint.

(Widerspruch in der Mitte.)

— Ja, Frau Kollegin Brauksiepe, wenn Sie so erstaunt schauen, muß ich Ihnen sagen, Sie haben die Entscheidung zu treffen, ob Sie sich mit einem Gesetz abfinden wollen, bei dem die Gefahr besteht, daß es voller Fehler ist, oder ob Sie vielleicht in vierzehn Tagen ein Gesetz verabschieden wollen, mit dem nach einer entsprechenden Ausschußberatung doch noch das eine oder andere ausgebügelt wird.
Ich möchte jedenfalls den Antrag stellen: Das Haus möge beschließen, das Gesetz an die zuständigen Ausschüsse zurückzuüberweisen.

(Beifall links.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214319100
Das Wort hat der Abgeordnete Lücke.

Paul Lücke (CDU):
Rede ID: ID0214319200
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich widerspreche dem Antrag des Kollegen Jacobi, das Gesetz an die Ausschüsse zurückzuverweisen. Wir haben in langen Beratungen das Gesetz gründlich durchberaten. Zwar hat der Minister noch etwas festgestellt, was nach seiner Auffassung in Ordnung gebracht werden muß. Ich habe gerade einen Antrag da, der auch Ihnen schriftlich vorliegt. Die Annahme des Änderungsantrags hat dazu geführt, daß eine Umstellung erfolgen muß. Über diesen Antrag kann abgestimmt werden. Weitere Anträge kommen nicht; das beruht auf einer Vereinbarung. Es ist deshalb kein Grund vorhanden, das Gesetz an die Ausschüsse zurückzuverweisen.

(Beifall in der Mitte. — Abg. Jacobi: Drei Anträge haben wir schon!)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214319300
Ich frage das Haus, ob ich zuerst über den Überweisungsantrag abstimmen lassen soll; denn damit wird ja entschieden, ob wir die dritte Lesung fortsetzen oder nicht. — Das Haus ist damit einverstanden. Daß der Antrag nach § 82 der Geschäftsordnung gestellt werden kann, unterliegt keinem Zweifel.
Ich komme also zur Abstimmung. Wer dem Rückverweisungsantrag des Abgeordneten Jacobi zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen! — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das zweite war die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Wir fahren also in der dritten Beratung fort.
Ich erteile das Wort in der generellen Aussprache dem Abgeordneten Will.


Dr. Rudolf Will (FDP):
Rede ID: ID0214319400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Verabschiedung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes gibt auch der Fraktion der Freien Demokratischen Partei Veranlassung, ihrer Zufriedenheit und ihrer Genugtuung darüber Ausdruck zu verleihen, daß in monatelanger, sehr sorgfältiger Ausschußarbeit ein Gesetz zustande gekommen ist, von dem man sagen darf, daß es gut ist. Das Gesetz ist schon deshalb nicht schlecht, weil auch der Herr Kollege Jacobi sein Bestes getan hat, um daraus zu machen, was daraus gemacht werden konnte.

(Abg. Jacobi: Das bezweifle ich!)

Die Freie Demokratische Partei begrüßt es auch deshalb, weil der verantwortliche Bundesminister für Wohnungsbau seit Wildermuths Zeiten, von Anfang an von ihr gestellt worden ist.

(Zuruf von der SPD: Das war einmal!) — Richtig, jetzt ist er tot.

Es ist eine Großtat auf sozialem Gebiet, die, ich darf doch wohl sagen, das ganze deutsche Volk und der Deutsche Bundestag stellvertretend vollbracht haben. In wenigen Jahren sind, wie wir soeben gehört haben, nicht weniger als 3,6 Millionen Wohnungen gebaut worden. Unterkünfte für mindestens 10 Millionen Menschen, von denen viele ausgebombt, vertrieben und flüchtig, vorher niemals in ähnlichen Wohnungen leben konnten. Wenn es uns weiterhin gelingen sollte — das ist das Ziel des Gesetzes —, in wenigen Jahren diese trennende Wohnungsnot, dieses Erbübel, das uns der Weltkrieg hinterlassen hat, zu beseitigen, dann wäre damit Außerordentliches geschehen. Diese Leistung ist in das Bewußtsein der Bevölkerung noch gar nicht genug eingedrungen.
Einige wenige Angaben sind vielleicht doch erforderlich. Wenn Sie sich vergegenwärtigen, daß von dem gesamten Investionsaufwand im deutschen Volk etwa die Hälfte, nämlich 18 Milliarden DM im Jahr, durch die Bauwirtschaft geht, daß davon etwa die Hälfte, 8 bis 9 Milliarden DM, im Wohnungsbau ausgegeben wird und daß hiervon wiederum ein Drittel, nämlich etwa 3 Milliarden DM, als öffentliche Mittel jedes Jahr in dieses Vorhaben gesteckt wird, dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, worum es sich bei diesem außerordentlichen Gesetz handelt. Hier werden Summen bewegt, die genauso hoch sind wie z. B. die für den jährlichen Rüstungsaufwand, der ebenfalls mit 9 Milliarden DM veranschlagt wird. Diese Zahlen sollte man sich vergegenwärtigen, um zu erkennen, welch eine soziale Großtat hier hinter uns liegt.

(Abg. Lücke: Sehr gut!)

Auch ich möchte diese Gelegenheit — ich glaube, Sie werden mir das gestatten — benutzen, um einige Worte der Anerkennung zu sagen für die immense Arbeit, die in den abgelaufenen Monaten im wesentlichen von den Mitgliedern der beiden Ausschüsse, des 32. und des 33. Ausschusses, geleistet worden ist. Ich halte es auch für in der Ordnung und bitte Sie, mir als stellvertretendem Vorsitzenden im 32. Ausschuß zu gestatten, unserem Kollegen Herrn L ü c k e eine besondere Anerkennung auszusprechen; er hat sie reichlich verdient!

(Beifall in der Mitte und rechts.)

Er hat nicht nur seine profunde Sachkenntnis zur Verfügung gestellt, sondern ist in Wort und Schrift auch unermüdlich für die von ihm verfochtene Idee des Familienheims tätig gewesen und hat es verstanden, mit großer Hartnäckigkeit sehr viele Klippen zu umschiffen, die uns in den Beratungen mit den Sachverständigen ,und auch sonst manches Kopfzerbrechen verursacht haben.
Einige wenige Bemerkungen zum Inhalt des Gesetzes selber. Ich kann mich ganz kurz fassen, da der Herr Bundeswohnungsbauminister bereits das Wesentlichste ausgeführt hat. Ich möchte jedoch noch auf zwei Dinge hinweisen, die in der Öffentlichkeit mehr anerkannt werden sollten, als es bisher geschehen ist. Ich habe bereits davon gesprochen, welche außerordentlichen Summen in Bewegung gesetzt werden müssen, um die Wohnungsnot in einer nahen Zukunft völlig zu beseitigen. Wir müssen immerhin damit rechnen, daß noch etwa 35 Milliarden DM auszugeben sind, bis wir dieses Ziel erreicht haben werden. Diese Beträge, die durch den Staat, d. h. durch Bund, Länder und Gemeinden aufgebracht werden, werden nicht ausgegeben, um Eigentum für die öffentliche Hand als Selbstbauer auf diesen Grundstücken zu schaffen, sondern als Darlehen an fremde Bauherren. Das ist von erheblicher Bedeutung, und es kommt nun darauf an, in welche Kanäle diese Milliarden geleitet werden. In der Vergangenheit ist leider ein sehr wesentlicher Teil in den Besitz großer Wohnungsgesellschaften gekommen. Dadurch haben sich großstädtische Latifundienbesitze ansammeln können. Das liegt nicht im Sinne unserer Anschauung; denn uns kommt es ja darauf an, eine breitere Streuung dieser öffentlichen Gelder im Sinne einer Mehrung des Kleinkapitals, des Kleineigentums herbeizuführen.
Abgesehen von dieser Idee der breiteren Streuung der öffentlichen Mittel auf einen größeren Teil der minderbemittelten Bevölkerung ist das bevölkerungspolitische Ziel von Bedeutung, das darin liegt, einen großen Teil der Nation mit Grund und Boden zu verankern. Das ist die Idee des Familienheims, die in diesem Gesetz besonders gefördert worden ist. Ich glaube, wir alle, auf allen Seiten dieses Hauses, sind darüber einig, daß hier ein Ziel angestrebt wird, das wirklich des Schweißes der Edlen wert ist.
Vielleicht sind - ich muß das hier noch einmal sagen, ich habe es gestern schon angedeutet — bei den Großstädten gewisse Befürchtungen vorhanden, es könnten die Hunderttausende von Wohnungsamtsfällen, von Wohnungsuchenden, die bisher nicht untergekommen sind, dabei etwas zu kurz kommen. Immerhin erteilt das Gesetz den obersten Baubehörden die Auflage, dafür zu sorgen, daß auch diese Kreise der Wohnungsuchenden, insbesondere diejenigen mit geringem Einkommen, in absehbarer Zeit zu ausreichenden, gesunden und modernen, lichtdurchfluteten Wohnungen kommen.
Ein bedauerlicher, aber natürlich nicht vermeidbarer Mangel liegt in seinem statischen Charakter, d. h. darin, daß die Vergebung der Mittel nach einem Stichtag erfolgt, nämlich nach dem Bewilligungstag, an dem die Mittel ausgegeben werden, ohne Rücksicht darauf, wie die Entwicklung sich vielleicht in der Zukunft gestaltet. Es wird also jemand, der in jungen Jahren erst ein geringeres Einkommen, aber immerhin doch schon viele Kinder hat, infolgedessen zu einer Reihe von Wohltaten kommen; er wird z. B. ein entsprechend großes Eigenheim bewilligt erhalten, er wird eine Restfinanzierung 'bekommen, er wird Familien-


(Dr. Will)

Zusatzdarlehen, Bausparprämien und Lastenbeihilfen erhalten, während sich vielleicht in wenigen Jahren seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse wesentlich geändert haben werden. Das aber läßt sich natürlich nicht vermeiden. Wir haben im Ausschuß darüber gesprochen. Es ist nun einmal nicht zu ändern, daß für die Zahlung der öffentlichen Mittel ein bestimmter Stichtag maßgebend sein muß.
Ich will mich auf weitere Einzelheiten des Gesetzes in dieser Stunde nicht mehr einlassen; ich möchte nur der besonderen Befriedigung der Fraktion meiner Partei Ausdruck verleihen einmal darüber, daß es gelungen ist, wesentliche Verbesserungen im sozialen Wohnungsbau durchzuführen, und zum anderen darüber, daß an zahlreichen Stellen des Gesetzes dafür gesorgt ist, daß gerade die Schichten der Wohnungsuchenden mit geringem Einkommen, also die, die am längsten haben warten müssen und es am nötigsten haben, nun auch bald zum Zuge kommen werden.
In diesem Sinne ist die Fraktion der Freien Demokratischen Partei mit dem Verlauf der Gesetzesarbeit, die hier geleistet worden ist, durchaus zufrieden. Sie hofft, daß in naher Zukunft die Wohnungsnot auf diesem Wege beseitigt werden kann, und wird aus diesem Grunde dem Gesetz ihre Zustimmung geben.

(Beifall bei der FDP, in der Mitte und rechts.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214319500
Das Wort hat Frau Abgeordnete Heise.

Margarete Heise (SPD):
Rede ID: ID0214319600
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ich möchte keine Grundsatzerklärung abgeben - das wird mein Kollege Jacobi nachher tun —; ich möchte nur zu dem sprechen, was der Herr Minister vorhin zu diesem Änderungsantrag Umdruck 598 gesagt hat.
Ich bin nicht der Meinung, Herr Minister, daß Ihre Formulierung, die Sie uns hier gegeben haben, richtig ist oder dieselben Folgen haben wird wie das, was wir gestern hier ins Gesetz hineingebracht haben. Unsere Formulierung hieß gestern: Es ist zu berichten „über die Anzahl der noch nicht ausreichend mit Wohnraum versorgten Haushaltungen und Personen, insbesondere solche, die in Lagern, Baracken, Bunkern, Nissenhütten . . . untergebracht sind". Meine Herren und Damen, wir treten jetzt bei der dritten Lesung nicht gern noch in Einzelberatungen ein.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214319700
Darf ich einen Moment unterbrechen. Ich bin noch nicht in die Einzelberatung des Gesetzes eingetreten; ich bin noch in der allgemeinen Aussprache.

(Abg. Metzger: Der Herr Minister hat es doch gemacht! — Weitere Zurufe.)

— Der Minister hat aber keinen Antrag gestellt. Ich werde den Antrag nachher in der Einzelberatung aufrufen, so wie es § 85 der Geschäftsordnung vorschreibt.

(Abg. Hauffe: Frau Kollegin Heise erwidert dem Herrn Minister!)

— Bitte. Aber ausnahmsweise!

(Abg. Frau Finselberger: Ritterlich!)


Margarete Heise (SPD):
Rede ID: ID0214319800
Ich danke sehr, Herr Präsident! Der Antrag, der uns jetzt noch nicht vorliegt, aber gleich vorliegen wird, lautet: Es ist zu berichten „über die Anzahl der nachweislich noch unzumutbar untergebrachten Wohnungsuchenden, insbesondere solcher". Was ist das nun für eine Veränderung? Herr Minister, Sie haben in Ihrem letzten Jahresbericht von den 3 Millionen Haushaltungen gesprochen, die noch eine Wohnung suchen, und Sie haben darin festgestellt, daß eine Million 1-Personen-Haushalte noch nicht mit Wohnungen versorgt sind. Sind diese eine Million 1-Personen-Haushalte nun sämtlich unzumutbar untergebracht? Es sind doch zumeist Frauen, die in Untermiete wohnen, und Menschen, die irgendwo untergebracht sind. Aber ob sie unzumutbar untergebracht sind, ist jetzt eine Ermessensfrage geworden. Es ist Ermessensfrage des Wohnungsamtes, ob es sie als Wohnungsuchende meldet oder nicht, und das Wohnungsamt möchte ich sehen, das die Menschen meldet, die zwar einen Antrag gestellt haben, aber irgendwo ein möbliertes Zimmer bewohnen. Wenn eine Fraktion den Antrag, der gleich gestellt werden wird — ich zweifle nicht daran — aufnimmt, dann will sie das inhibieren, was wir gestern in das Gesetz—und soviel ich sehen konnte, sogar einstimmig — eingefügt haben. Ich bitte Sie also, diesen neuen Antrag abzulehnen; denn er tut den 1-Personen-Haushalten, von denen wir eine Million haben, Unrecht.

(Beifall bei der SPD.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214319900
Ich erteile das Wort in der allgemeinen Aussprache dem Abgeordneten Körner.

Georg Körner (GB/BHE):
Rede ID: ID0214320000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte für die Fraktion der Demokratischen Arbeitsgemeinschaft nur kurz folgendes sagen. Die dritte Lesung des Wohnungsbaugesetzes steht zur Debatte, und das Thema ist in Breite und Tiefe genügend erörtert worden. Ich bin davon überzeugt, daß alle Beteiligten sich bei den monatelangen Beratungen die größte Mühe gegeben haben. Alle, die eine Wohnung suchen, hegen die große Erwartung, daß dieses Gesetz den Wohnungsbau weiter vorantreiben wird und die Verharschungen oder Verkrustungen, die da und dort aufgetreten sind, beseitigen wird. Wir haben ja nicht nur die Situation der Mieter zu sehen, sondern ich denke auch an die vielen Hausbesitzer, von denen man nicht sagen kann, daß sie kapitalkräftige Leute sind. Aus den Statistiken geht hervor, daß wir in Westdeutschland 750 000 in wirtschaftlich abhängiger Position stehende Hausbesitzer haben. Beiden Teilen soll das Gesetz genügen. Das Gesetz ist nicht für irgendein Kapital oder irgendeinen Kapitalbesitz gedacht, sondern die Tendenz geht dahin, die Mittel noch verstärkt in den Wohnungsbau und vor allen Dingen in den Familienheimbau zu lenken. Ich bin auch überzeugt, daß nicht allein an den Familienheimbau, sondern auch an den Mietwohnungsbau gedacht ist. Beides ist letztlich gleichwertig. Den Gemeinden und Länderregierungen fällt die große Aufgabe zu, je nach der örtlichen Situation in elastischer Anwendung aus diesem Gesetz das Beste herauszuholen, um draußen die große Not irgendwie zu meistern. Ich brauche nur — und da möchte ich mich an die Frau Kollegin Heise wenden — an Berlin zu erinnern. Wir wissen, wie groß gerade hier die Wohnungsnot noch ist. Bei der Opposition taucht immer wieder die Befürchtung auf, daß die Minderbemittelten nicht zu Wohnungen kommen würden, und es wird gesagt, man müsse irgendwelche Gefahrenpunkte auf der sozialen Seite ausschalten. Ich glaube, es ist doch eine Garantie dafür ge-


(Körner)

geben. Diese liegt allein im Willen dieses Hauses, nicht etwa einen Wohnungsbau einseitig zu forcieren, sondern gerade diesen Leuten den breitesten Anteil an den neu zu bauenden Wohnungen zu geben.

(Beifall in der Mitte.)

Wir wollen uns darauf konzentrieren, mehr Mittel und mehr Eigentum zu schaffen, um denen, die bisher keine Wohnung oder noch keine ausreichende Wohnung hatten, eine solche zu geben. Das Gesetz setzt natürlich auch einen gewissen Mut voraus.

(Abg. Jacobi: Ein wahres Wort! — Weitere Zurufe von der SPD.)

— Ja, aber um diese Situation zu meistern, muß man auch einmal einige Hürden überspringen können. Das muß man sich doch selbst eingestehen. Ich bin überzeugt, daß der Befürchtung der Opposition, hier könnte das soziale Anliegen zu kurz kommen, auch durch den Abschnitt über die Miet- und Lastenbeihilfen Genüge getan worden ist.
Ich sehe noch eine Aufgabe für die Zukunft, nämlich die Landbeschaffung und die Planungen für den Familienheimbau örtlich in den Gemeinden. Vor uns liegt die Aufgabe, ein Bundesbaugesetz zu schaffen; es handelt sich um einen zusammenhängenden großen Plan.
Ich bin auch darüber sehr erfreut, daß durch die geplante Anlage des Gesetzes gerade der Sparwille angereizt wird. Ich denke nur an die Wohnungsbausparprämien. Dazu nur zwei Zahlen. Wir hatten 1952 227 000 Wohnungsbausparverträge und haben jetzt 1955 535 000 Wohnungsbausparverträge, wobei 1955 44 000 000 DM an Wohnungsbausparprämien ausgeschüttet worden sind. Man sieht, daß wir bei dem entsprechenden Willen zur Zusammenarbeit aller — und die Not geht durch das ganze deutsche Volk — doch sehr greifbare und auch stolze Erfolge haben können. Die Zahlen sind vorhin alle genannt worden. Wenn man mit dem nötigen Mut — ich muß das wiederholen — herangeht, wenn man alle Kräfte auf dieses Ziel einsetzt, dann habe ich keine Angst, daß es nicht gelingen sollte, in den Jahren, die das Gesetz vorsieht, die größte Not auf diesem Gebiet zu lindern und breiten Massen des Volkes zu gesunden, vernünftigen und anständigen Wohnungen zu verhelfen. Die Fraktion der Demokratischen Arbeitsgemeinschaft begrüßt deshalb dieses Zweite Wohnungsbaugesetz und wird dafür stimmen.

(Beifall in der Mitte und rechts.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214320100
Das Wort hat der Abgeordnete Jacobi.

Werner Jacobi (SPD):
Rede ID: ID0214320200
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sieht sich nicht in der Lage, hier Lobsprüche auszuteilen. Sie ist der Meinung, daß dieses Gesetz durch die langen Beratungen keineswegs kürzer und auch nicht besser geworden ist. Sie ist auch der Meinung, daß dieses Gesetz keine Auswege zeigt, der schlimmsten Wohnungsnot, nämlich der Wohnungsnot der wirtschaftlich leistungsschwachen Schichten entscheidend zu begegnen.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion stellt fest, daß auch die hier wiederholt erwähnte Erhöhung der allgemeinen Förderungsmittel des Bundes in keiner Weise ausreicht, den leistungsschwachen Bevölkerungsschichten eine größere Sicherheit zu geben, so daß sie alsbald ebenfalls in angemessener Weise mit Wohnungen versorgt werden. Wir haben zu erklären, daß der — jetzt schon rückläufige — soziale Wohnungsbau durch dieses Gesetz keine zusätzliche Förderung erfährt, sondern daß die Gefahr besteht, daß er weiterhin absinkt. Das ergibt sich nicht nur aus der im Augenblick doch wirklich nicht erfreulichen Lage auf dem Kapitalmarkt, das ergibt sich nicht nur wegen der, wie wir fürchten müssen, weiterhin steigenden Baukosten, das ergibt sich nicht nur infolge der weiterhin beachtlichen und wahrscheinlich nicht zu überwindenden Baulandnot, sondern auch aus den Maßnahmen, die durch dieses Gesetz notwendig werden und die eine Ausweitung der bisherigen Belastungen bedingen.
Obwohl dem so ist, obwohl höhere öffentliche Mittel erforderlich sind, haben Sie entsprechende Anträge der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion abgelehnt. Sie haben dies getan im Schlepptau des Bundesfinanzministers und im Widerspruch zur Finanzlage des Bundes. Damit tragen Sie, damit trägt die Mehrheit dieses Hauses die Verantwortung dafür, wenn auch in den nächsten Jahren der besonders großen Wohnungsnot der sozial Schwachen nicht in ausreichendem Maße begegnet werden kann.

(Abg. Arnholz: Sehr wahr!)

Sie, die Mehrheit dieses Hauses, haben sich nicht einmal dazu verstehen können, wenigstens einen Teil der Bundesmittel in klarer und verbindlicher Form für den Wohnungsbau zu binden, der den Wohnungsuchenden mit geringem Einkommen vorbehalten werden müßte. Dabei haben unsere diesbezüglichen, wie auch alle anderen der Ablehnung anheimgefallenen Anträge in keiner Weise die auch von uns begrüßte Tendenz des Gesetzes beeinträchtigt, die öffentlichen Förderungsmittel vor allem auch dem Bau von Eigenheimen und Kleinsiedlungen zuzuführen. Die Sozialdemokratische Partei ist sich der positiven gesellschafts- und staatspolitischen Bedeutung des kleinen Wohnungseigentums bewußt. Ihren von der Mehrheit dieses Hauses abgelehnten Anträgen lag nicht zuletzt die Absicht zugrunde, der Bildung derartigen Kleineigentums durch die verstärkte Bereitstellung öffentlicher Förderungsmittel besonders zugunsten der wirtschaftlich leistungsschwachen Bevölkerungskreise zu dienen.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion bedauert, ihrer Überzeugung Ausdruck geben zu müssen, daß das Gesetz in seiner vorliegenden Form im wesentlichen der verbesserten Wohnversorgung der gehobenen Einkommensschichten zum Nachteil des dringlichsten sozialen Wohnungsbaus dienen wird.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Lücke: Das ist nicht wahr! Das sagen Sie wider besseres Wissen!)

— Die Wahrheit dieser Aussage wird die Praxis des Wohnungsbaus in den nächsten Jahren erweisen.

(Abg. Lücke: Sie sagen das wider besseres Wissen!)

Darüber hinaus hält die SPD das Gesetz auch als Ergebnis einer fast zweijährigen Ausschußarbeit für außerordentlich enttäuschend. Es ist ebenso lang wie unverständlich, in vielen seiner Bestimmungen widerspruchsvoll oder unklar und ein Instrument weiterer Verwaltungsaufblähung.

(Abg. Lücke: Das sagen Sie bei jedem Gesetz, das wir verabschieden!)

— Ja, Ihre Gesetze sind auch zumeist so schlecht, daß wir es sagen können.

(Beifall bei der SPD. — Zuruf rechts: Da haben Sie mitgearbeitet!)



(Jacobi)

So wie das Gesetz der Erhöhung der Baukosten keine Rechnung trägt, geht es auch an der Tatsache vorbei, daß sich die Bedingungen für die Erschließung und Beschaffung von Bauland immer weiter verschlechtert haben. Das Gesetz bürdet in dieser Hinsicht den Gemeinden neue Verpflichtungen auf, denen sie weder sachlich noch rechtlich gewachsen sind, ohne daß es gangbare Wege zur Überwindung der ihnen hieraus entstehenden zusätzlichen Schwierigkeiten aufzeigt.

(Zuruf von der SPD: Sehr wahr! — Abg. Lücke: Die Vorfinanzierung der Eigenleistung ist doch eingebaut!)

— Verzeihen Sie, die Vorfinanzierung der Eigenleistung hat mit der Baulanderschließung, der Baulandbeschaffung und den hier von mir berührten Schwierigkeiten nichts zu tun.

(Abg. Lücke: Herr Kollege Jacobi, die Vorfinanzierung der Aufschließungskosten ist erstmalig in diesem Gesetz vorrangig!)

— Die Vorfinanzierung der Aufschließungskosten in diesem Gesetz ist für diese Maßnahme ein Pappenstiel, worauf wir Sie gestern schon hingewiesen haben, und reicht in keiner Weise aus. Sie dient im übrigen ja nur einseitig bestimmten Maßnahmen und nicht der Versorgung der wirtschaftlich leistungsschwachen Schichten mit Wohnungen ohne Ansehung der Rechts- und Wohnform. Sie haben ja weitergehende Anträge abgelehnt. Das hilft den Gemeinden nichts; das überläßt sie ihren Schwierigkeiten.
Was die sozialdemokratische Fraktion aber mit besonderer Sorge erfüllt, ist die Abschaffung des bisherigen sozialen Regulativs der fest bestimmten Richtsatzmieten auch für die einkommenschwachen Bevölkerungskreise. Gegenüber den mit der Einführung der Kostenmiete im gesamten Bereich des sozialen Wohnungsbaus verbundenen Gefahren einer erheblichen Steigerung der vom einzelnen zu tragenden Mieten und Lasten erscheinen die im Gesetz vorgesehenen Schutzmaßnahmen für die wirtschaftlich leistungsschwachen Bevölkerungsschichten völlig unzulänglich. Dies gilt auch hinsichtlich des Systems der Miet- und Lastenbeihilfen.
Nachdem die Mehrheit dieses Hauses diese und andere Einwände sowohl im Ausschuß als auch in der Plenarberatung unbeachtet gelassen und alle entscheidenden Verbesserungsvorschläge der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion niedergestimmt hat, bedaure ich, erklären zu müssen, daß wir das Gesetz nicht als einen konstruktiven Beitrag zur Behebung der Wohnungsnot und zur konsequenten Weiterführung eines wirklich sozialen Wohnungsbaus betrachten können.

(Zuruf von der Mitte: Abwarten!)

Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sieht sich daher gezwungen, das Gesetz abzulehnen.

(Beifall bei der SPD.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214320300
Weitere Wortmeldungen zur allgemeinen Aussprache liegen nicht vor. Ich schließe die allgemeine Aussprache.
Ich trete in die Einzelberatung der dritten Lesung ein und rufe § 18 auf. Dazu liegt in Umdruck 596 *) ein Änderungsantrag vor. Zur Begründung erteile ich das Wort dem Abgeordneten Graaff.

Carlo Graaff (FDP):
Rede ID: ID0214320400
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ihnen vorliegende Änderungs-
*) Siehe Anlage 2. antrag ist aus der Sorge entstanden, daß das neue Wohnungsbaugesetz zwar ideale Ziele setzt, sie aber im finanziellen Bereich nicht genügend fundiert. Nicht die Schaffung dieses Gesetzes, sondern seine Durchführung wird erweisen, wie gut oder schlecht es geworden ist.
Berücksichtigt man die Tatsachen, die auch der Herr Wohnungsbauminister noch vor kurzem in einem Bericht an den Ausschuß zum Ausdruck gebracht hat und dort mit Sorge angesprochen hat, daß nämlich erstens die Entwicklung der Baukosten ungewiß ist, zweitens die bisherigen Sonderbauprogramme — Umsiedlung, Sowjetzonenflüchtlinge, Bergarbeiterwohnungsbau — finanziell noch nicht gesichert sind, drittens die Entwicklung des Kapitalmarktes erhebliche Sorgen bereitet, viertens die Aufwendungen für Luftschutzmaßnahmen im Wohnungsbau finanziell nicht gesichert sind, fünftens die Lastenausgleichsmittel in Zukunft rückläufig werden und sechstens auch die Wohnbauförderungsmittel gemäß unserem neuen Gesetz abnehmen werden, dann sieht man, wie wenig dieses Gesetz finanziell abgesichert ist.

(Abg. Schröter [Wilmersdorf]: Hört! Hört!)

Deshalb unser Antrag, über die Zins- und Tilgungssubventionen eine ausreichende Kapitalsumme zu mobilisieren, um unser politisches Anliegen durchzusetzen.
Hier sei auch der Hinweis gestattet, daß viele Bundesländer uns auf diesem Weg mit gutem Beispiel vorangegangen sind. Es besteht kein zwingender Grund, daß der Bund sich diesem guten Willen nicht anschließt.
Schließlich möchte ich die Frage aufwerfen, ob eine etatmäßige Ausgabe von rund 200 Millionen DM im Jahr nicht sehr gut angelegt ist, wenn damit Hunderttausenden von Menschen Eigentum geschaffen wird, um so, um den Herrn Kollegen Lücke zu zitieren, „einen echten Teil der Sozialreform zu verwirklichen", die uns bei Anwendung aller anderen Maßnahmen viel mehr Geld kosten würde.

(Beifall bei der FDP.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214320500
Ich trete in die Aussprache ein. Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesfinanzminister.

Fritz Schäffer (CSU):
Rede ID: ID0214320600
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege, Sie haben dieselbe Pflicht wie ich. Sie haben genau so wie ich die Pflicht, für die finanzielle Ordnung, für die Ordnung im Haushalt einzutreten. Ich glaube deswegen mit Ihnen übereinzustimmen, wenn ich davor warne, daß eine Arbeit, die in monatelangen Ausschußberatungen sorgsam auch nach der Seite der finanziellen Möglichkeiten hin überprüft worden ist, in der letzten Stunde durch einen Antrag, der völlig überraschend kommt, der in seinen Auswirkungen gar nicht überlegt sein konnte, plötzlich ihrer Grundlage beraubt wird. Es wäre ein typisches Beispiel für die Notwendigkeit der Bestimmung unserer Geschäftsordnung, die Deckungsvorlagen grundsätzlich vorsieht. Es geht nicht an, daß in der letzten Lesung und in deren letzter Stunde überraschend neue Tatsachen geschaffen werden, die die Frage aufwerfen lassen, ob eine verantwortliche Regierung in der Lage ist, einem Gesetzentwurf zuzustimmen, der die kommenden Haushalte unvorhergesehen und plötzlich — in den nächsten drei Jahren, wird hier gesagt — um 420 Millionen DM belastet.

(Beifall bei der CDU/CSU.)



(Bundesfinanzminister Schäffer)

Der Bundeswohnungsbauminister hat seine sachlichen Bedenken gegen den Antrag bereits vorgebracht. Ich muß den Herrn Wohnungsbauminister nach der Seite der haushaltsrechtlichen Verantwortung unterstüzen, und ich bitte, den Antrag Umdruck 596 abzulehnen.

(Beifall bei der CDU/CSU.)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214320700
Das Wort hat der Abgeordnete Stierle.

Georg Stierle (SPD):
Rede ID: ID0214320800
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag stammt nicht von der SPD. Ich gestehe aber ganz offen, ich bin gern bereit, mitzuhelfen, wenn man dem Herrn Finanzminister ein paar Millionen abgraben kann.

(Heiterkeit. — Zurufe von der CDU/CSU.)

Daraus mache ich gar kein Hehl. Wir haben gestern den Antrag gestellt, die 700 Millionen DM sollen nicht gekürzt werden, weil wir der Auffassung sind, es sind an sich überhaupt zu wenig. Wir haben gesagt: es müßte eine Milliarde sein! Ich komme immer wieder auf den alten Punkt zurück: je besser es uns geht, um so schneller müssen wir mit der Not fertig werden. Jetzt wehren wir uns mit Recht dagegen, daß diese 70 Millionen dem sozialen Wohnungsbau verlorengehen sollen. Ich bin deshalb auch durchaus bereit, diesem Antrag zuzustimmen. Aber wir halten ihn so, wie er hier vorliegt, für zu einseitig. Hier heißt es doch lediglich, daß diese Gelder zusätzlich zur Förderung des Baues von Familienheimen bereitgestellt werden. Das genügt uns nicht. Wir haben uns ja in allen Beratungen immer wieder Mühe gegeben, den Wohnungsbau für die Kreise mit geringem Einkommen voranzutreiben. Deswegen schlagen wir Ihnen vor, diesen Antrag Umdruck 596 unter Buchstabe b hinter den Worten „Förderung des Baues von Familienheimen" zu ergänzen durch die Worte „besonders für Bevölkerungskreise mit geringem Einkommen". Dann können Sie auf diese Art und Weise beweisen, daß Sie wirklich alles tun wollen, damit für diese Kreise schnell Wohnungen gebaut werden.

(Beifall bei der SPD. — Abg. Pelster: Anderthalbtausend Mark Monatsgehalt, oder wo fängt es an?)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214320900
Wird das Wort weiter gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Einzelberatung der dritten Lesung zu § 18.
Ich habe vorliegen den Antrag Umdruck 596 *), der Ihnen allen bekannt ist und in dem hinter dem Wort „Familienheimen" eingefügt werden soll „besonders für Bevölkerungskreise mit geringem Einkommen". Ich lasse über diese Erweiterung der Fassung gleichzeitig mit abstimmen. Wer also dem Antrag Umdruck 596 auf Änderung des § 18 mit der Ergänzung zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das zweite war die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.

(Lachen und große Unruhe bei der SPD.)

Ich rufe nunmehr auf in der Einzelberatung § 32 mit dem Änderungsantrag Umdruck 598 **). Das Wort zur Begründung hat der Abgeordnete Körner.

Georg Körner (GB/BHE):
Rede ID: ID0214321000
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich darf den Antrag Umdruck 598, zu dem
*) Siehe Anlage 2. **) Siehe Anlage 4. vorhin auch schon der Herr Wohnungsbauminister gesprochen hatte, wie folgt begründen.
In der gestrigen zweiten Beratung hat auf Antrag der SPD der § 32 Abs. 1 Buchstabe b folgende Fassung erhalten:
über die Anzahl der noch nicht ausreichend mit Wohnraum versorgten Haushaltungen und Personen, insbesondere solche, die in Lagern, Baracken, Bunkern, Nissenhütten oder ähnlichen nicht dauernd für Wohnzwecke geeigneten Unterkünften untergebracht sind.
In dieser Formulierung sind die Worte „Haushaltungen und Personen" zu ungenau. Die Formulierung war zunächst möglich, da in der Ausschußfassung die Unterkünfte, in denen die Haushaltungen und Personen behelfsmäßig untergebracht sind, im einzelnen umrissen waren. Da nach der neu beschlossenen Fassung jedoch alle noch nicht ausreichend mit Wohnraum versorgten Personen gemeldet werden sollen, kann man, wenn nicht unübersehbare Erhebungen von Amts wegen erfolgen sollen, die Erhebung nur auf diejenigen beziehen, die als Wohnungsuchende bei den Wohnungsbehörden gemeldet sind. Es ist daher richtiger, die Worte „Haushaltungen und Personen" durch das Wort „Wohnungsuchenden" zu ersetzen.
Die beschlossene Fassung, daß die Erhebungen sich auf die Anzahl der noch nicht ausreichend mit Wohnraum versorgten Personen beziehen sollen, ist nicht genügend spezifiziert. In Betracht kommen können in diesem Rahmen nicht diejenigen als Wohnungsuchende Eingetragenen, die bereits in zumutbarer Weise untergebracht sind und nur eine neue Wohnung suchen. Es ist daher folgende Fassung zu wählen — damit verlese ich die Formulierung in Umdruck 598, die Ihnen vorliegt —:
über die Anzahl der nachweislich noch unzumutbar untergebrachten Wohnungsuchenden, insbesondere solcher, die in Lagern, Baracken, Bunkern, Nissenhütten oder ähnlichen nicht dauernd für Wohnzwecke geeigneten Unterkünften untergebracht sind.
Dabei wird die Einfügung des Wortes „nachweislich" vorgeschlagen, um veraltete Statistiken auszuschließen und Unterlagen nach dem neuesten Stand zu erhalten.
Wir bitten, dem Änderungsantrag Umdruck 598 zuzustimmen.

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID0214321100
Dazu hatte vorhin in der Aussprache, die ich jetzt noch einmal eröffne, Frau Abgeordnete Heise schon gesprochen. Sie hatte gebeten, diesen Antrag abzulehnen. Wird das Wort dazu weiter gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Beratung.
Ich komme zur Abstimmung. Wer dem Änderungsantrag zu § 32 Abs. 1 auf Umdruck 598 *) zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das erste war die Mehreit; der Antrag ist angenommen.
Meine Damen und Herren, bevor wir mit der Lesung des Gesetzes fortschreiten, muß ich mich entschuldigen, daß mir eben bei § 18 ein Versehen unterlaufen ist. Ich hatte in den ursprünglich vorliegenden Antrag Umdruck 596 die Ergänzung mit hineingenommen und über den so erweiterten Antrag abstimmen lassen. Er ist abgelehnt. Nunmehr muß ich aber über den ursprünglichen Antrag ohne
*) Siehe Anlage 4.


(Vizepräsident Dr. Schneider)

die Ergänzung durch den sozialdemokratischen Antrag noch abstimmen lassen. Wer also dem Änderungsantrag Umdruck 596 in der ursprünglichen Fassung, wie er Ihnen gedruckt vorliegt, ohne die von der sozialdemokratischen Fraktion beantragte Ergänzung zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Ich rufe nunmehr in der Einzelberatung § 110 auf, dazu den Änderungsantrag Umdruck 597*). Wer begründet? - Ohne Begründung.
Ich eröffne die Aussprache. Wird das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall.
Dann komme ich zur Abstimmung. Wer dem Änderungsantrag auf Umdruck 597 in der dritten Lesung zuzustimmen wünscht, gebe das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei zahlreichen Enthaltungen angenommen.
Damit sind wir in der dritten Lesung mit der Einzelberatung zu Ende. Wer dem Gesetz in der Form, die es nunmehr erhalten hat, im ganzen zuzustimmen wünscht, möge sich bitte vom Platz erheben.
*) Siehe Anlage 3.
- Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das Gesetz ist mit Mehrheit verabschiedet.

(Beifall in der Mitte.)

Meine Damen und Herren, einen Moment noch! Wir müssen noch über die Ziffern 2 und 3 des Ausschußbeschlusses abstimmen. Die Ziffer 2 geht dahin, die zu diesem Gesetzentwurf eingegangenen Petitionen durch die Beschlußfassung für erledigt zu erklären. Wer dafür ist, den bitte ich, das Handzeichen zu geben. - Das ist die Mehrheit.
Die Ziffer 3 geht dahin, den von den Abgeordneten Dr. Dr. h. c. Müller (Bonn), Bauknecht usw. eingegangenen Antrag Drucksache 1629 als durch die Beschlußfassung zu Nr. 1 erledigt abzulehnen. Wer dafür stimmt, möge das Handzeichen geben. - Gegenprobe! - Mit Mehrheit angenommen.
Ich schlage vor, die Beratung nunmehr abzubrechen. Ich berufe die nächste, die 144. Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 8. Mai, 16 Uhr, ein.
Ich schließe die Sitzung.