Rede von
Dr.
Erich
Mende
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich könnte zu der Ökonomie des Hauses auch noch meinerseits beisteuern, indem ich das Manuskript meiner Rede zu Protokoll gebe. Dann sparen wir noch mehr Zeit. Aber da ich nicht wie mein Herr Vorredner vorzulesen beabsichtige
und da ich daher auch kein Manuskript habe, kann ich Ihnen leider diesen Gefallen nicht tun. Ich will vielmehr versuchen, mit Ihnen in ein parlamentarisches Gespräch im Sinne einer echten Auseinandersetzung zu kommen.
Zunächst zu der Frage der Zeit! Ich darf hier für die Freien Demokraten zunächst einmal begrün-
den, warum wir den heutigen Termin der Lesung des Wehrpflichtgesetzes nicht als glücklich empfinden. Wir haben schon mehrfach in der Vergangenheit Gelegenheit gehabt, unter einem gewissen Zeitdruck sehr wichtige Entscheidungen zu treffen. Ich erinnere Sie, daß im Frühjahr 1954 die Bermuda-Konferenz gewissermaßen als zeitliche und außenpolitische Pression über uns schwebte und wir die damaligen Verfassungsergänzungen zu diesem Termin einbringen mußten auf ausdrücklichen Wunsch des Herrn Bundeskanzlers,
weil man sich eine Reflexwirkung auf die Bermuda-Konferenz versprach. Nun, es ist bis heute noch nicht bekanntgeworden, in welcher Form diese Wirkung eingetreten sein könnte.
Ich erinnere Sie zweitens an das Freiwilligengesetz vom Sommer des vergangenen Jahres. Das Soldatengesetz ist überraschend in erster Lesung nicht beraten worden, sondern es ist hier ein in wenigen Tagen, nicht im Verteidigungsministerium, sondern im Bundeskanzleramt entstandenes Freiwilligengesetz vorgelegt worden mit allen seinen Schwächen. Ich erinnere Sie an das, was im Ausschuß für Verteidigung seinerzeit hinzugefügt werden mußte, um den Gesetzentwurf überhaupt erst zu einem Gesetz zu vervollkommnen. Auch damals hieß es: Die Genfer Konferenz zwingt dazu, eine politische Demonstration des guten Willens zu machen.
Und der Effekt? Erinnern Sie sich: Die Wehrexperten nannten ihren Fraktionen gewisse Termine. Das Freiwilligengesetz mußte möglichst vor den Parlamentsferien verabschiedet werden, damit am 1. Oktober 1955 die ersten Lehrgänge in Sonthofen stattfinden könnten. Der erste Lehrgang hat glücklicherweise am 2. Mai 1956 begonnen. Das Freiwilligengesetz hat nicht nur keine Beschleunigung der Aufstellung der deutschen Verbände gebracht, es hat vielmehr in der Art, wie es eingebracht wurde, allgemeines Mißtrauen aller politischen Parteien erweckt. Ich erinnere nur an die Sorgen, die auch die CSU und der Herr Kollege Dr. Jaeger damals hatten. So ist genau das Gegenteil dessen eingetreten, was man sachlich vom Freiwilligengesetz erwartet hatte.
Nun wird das Wehrpflichtgesetz am 3. Mai in einer geschäftsordnungsmäßigen Abstimmung auf die Tagesordnung gesetzt. Sollte das auch für die am 3. Mai beginnende Tagung des Atlantischen Rates in Paris eine politische Demonstration des guten Willens sein, oder glaubt man sachliche Gründe für das Vorziehen dieses Gesetzes zu haben, dieses Gesetzes, das im Augenblick sachlich wesentlich weniger wichtig ist als das Überleitungsgesetz für den Bundesgrenzschutz, als das Besoldungsgesetz, als das Versorgungsgesetz, als die Wehrdisziplinarordnung, als auch das Organisationsgesetz, das ja heute auch noch hier beraten wird und dessen Lesung wir keinesfalls widersprochen haben, weil wir dieses Gesetz als längst überfällig betrachten?
Meine Damen und Herren, dieses Wehrpflichtgesetz ist zweifelsohne das wichtigste Wehrgesetz des Deutschen Bundestages. Es ist vielleicht seit 1949 das wichtigste Gesetz überhaupt; denn wie kein anderes greift es in die Lebens- und Freiheitssphäre des deutschen Mannes ein. Es wäre zweckmäßig gewesen, die Lesung eines so wichtigen Gesetzeswerkes besser vorzubereiten, als das gestern geschehen ist. Wer sich gestern nicht nur draußen aufhielt, sondern viel im Raume war, konnte beobachten, daß diejenigen, die im Ausschuß für Verteidigung gewissermaßen die Sprecher ihrer Fraktion in wehrpolitischen Fragen sind, sich so, wie die Schüler einer Oberklasse sich im Zeichenunterreicht für den nächstfolgenden Geschichtsunterricht vorbereiten, während der Lesung des Wohnungsbaugesetzes auf das Wehrpflichtgesetz vorbereiteten, weil sie ja erst gestern die Möglichkeit hatten, jene Denkschrift zur Kenntnis zu nehmen, mit der man sich auch hier noch wird auseinandersetzen müssen. Wenn es also eines Beweises bedurfte, daß die Beratung eines so entscheidenden Gesetzes seitens der Bundesregierung lückenhaft vorbereitet war,
dann ist das die Technik, die wir gestern hier erleben mußten.
Die Frage, welche zeitlichen Verpflichtungen im Rahmen der NATO zu erfüllen sind, wird noch im Laufe meiner Darlegungen erörtert werden müssen. Jedermann weiß, das niemals vor der Aufstellung der Rahmenverbände diese Rahmen mit Wehrpflichtigen gefüllt werden können. Das heißt, eine Einziehung Wehrpflichtiger könnte frühestens im Herbst 1957 erfolgen. Ich weiß aus dem Munde des Herrn Bundeskanzlers selbst, gelegentlich einer Koalitionsbesprechung im vorigen Sommer, mit welch großen Bedenken er die eventuelle Einziehung Wehrpflichtiger unmittelbar vor der Bundestagswahl 1957 beurteilt hat.
Das ist übrigens auch mit ein Grund, weswegen seinerzeit das Freiwilligengesetz vorgezogen wurde. Es hat allerdings in dieser Besprechung auch andere Stimmen gegeben, die meinten, man könne ja möglicherweise das Wehrpflichtgesetz schon so lange vor der Bundestagswahl, nämlich im April 1957, durch Einziehung von Wehrpflichtigen realisieren, daß sich das dann auf die Bundestagswahl nicht mehr unmittelbar auswirke, sondern daß vielleicht der Sog der Realitäten sogar zu dem Gegenteil führe.
Wie dem auch sei, die bisherige Verzögerung im Aufbau unserer Bundeswehr läßt selbst für den größten Optimisten und selbst für den, der es politisch will, eine Einziehung Wehrpflichtiger vor dem Herbst 1957 nicht zu. Seien wir doch ehrlich, meine Damen und Herren: wenn nicht der Bundesgrenzschutz in nächster Zeit in die Bundeswehr übergeführt wird, werden wir in diesem Jahr nicht einmal den primitivsten Selbstschutz aufbauen, den wir j a so nötig haben, geschweige denn die Chance haben, Wehrpflichtige einzuziehen.
Die NATO-Verpflichtung legt uns nur auf, in diesem Jahr 96 000 Berufssoldaten, längerdienende Freiwillige, Spezialisten einzustellen. Ob wir diese Verpflichtung der NATO, zu der wir stehen, in diesem Jahr erfüllen können, hängt nicht von dem hier zur Beratung stehenden Gesetz ab, sondern von ganz anderen Faktoren, nicht zuletzt von dem Faktor der Überführung des Bundesgrenzschutzes. Wir verdanken vielleicht dem früheren Bundesinnenminister Dr. Lehr und dem jetzigen Bundesinnenminister Dr. Schröder mehr an Realisierung militärischer Pläne als denen, die fünf Jahre über diese Pläne theoretisiert haben, es aber bei der Realisierung leider nur durch die Hilfe des Bundesgrenzschutzes zu der ersten Aufstellung bringen können.
Lassen Sie mich nach diesen kritischen Bemerkungen zur Zeitfrage nunmehr zu dem allgemeinen Prinzip des Verteidigungswesens, zu der Frage: Wehrpflicht ja oder nein? Stellung nehmen. Die Freien Demokraten haben niemals das Prinzip in Frage gestellt — und sie werden es auch in Zukunft nicht tun —, daß, wer die Grundrechte einer Demokratie und die Grundfreiheiten für sich in Anspruch nimmt, auch bereit sein muß, ein gewisses Maß an Grundpflichten auf sich zu nehmen. Eine dieser Pflichten ist es, zur Sicherheit der Freiheit seines Volkes dadurch beizutragen, daß man bereit ist, das Opfer eines allgemeinen Verteidigungsdienstes — sei es eines soldatischen oder eines anderen — auf sich zu nehmen. Was hier an Gegenüberstellungen Wehrpflicht - Miliz, Berufsarmee — Miliz zum Teil zu lesen war, geht völlig an dem Problem vorbei. In diesem Punkt ist das Memorandum der Bundesregierung durchaus richtig. Berufsarmee und Wehrpflicht oder Miliz schließen sich nicht aus, sondern die Wehrpflicht ist geradezu eine Voraussetzung und Grundlage für ein Milizsystem. Es müßte also bei den Plänen heißen: Berufsarmee u n d Milizsystem und nicht Berufsarmee oder Milizsystem. Diese Alternative ist falsch.
In jedem Fall aber ist eine Verpflichtung des Bürgers vonnöten, wenn man sich nicht auf eine kleine, nicht mit Reserven ausgestattete Armee stützen will.
Die Frage, ob die allgemeine Wehrpflicht in der früheren Terminologie noch Geltung hat, sollte auch einmal etwas näher untersucht werden. Heute ist doch angesichts der Technisierung des totalen Krieges Strategie nicht nur eine Angelegenheit rein militärischer Dinge, sondern Strategie ist die Summe politischer, wirtschaftlicher, sozialer, propagandistischer und rein technisch-militärischer Maßnahmen. Wir haben es im Zweiten Weltkrieg erlebt, daß sich die Kriegführung nicht nur auf das rein militärische, auf das soldatische Gebiet beschränkt. Wir haben feststellen müssen, daß vielleicht der zivile Dienst im Bergbau wesentlich kriegswichtiger sein kann als der soldatische Dienst mit der Waffe in der Hand. Darum ist im Winter 1941 in der größten Katastrophe an der Ostfront, da jedermann an der Front, die im Zusammenbrechen war, gebraucht wurde, die gesamte Bergarbeiterschaft herausgezogen worden, weil der Bergarbeiter unter Tage damals für die Kriegführung wesentlich entscheidender war als mit der Waffe an der Ostfront.
Diesem Anliegen trägt j a auch dieses Gesetz Rechnung. Es wird mit einer ziemlichen Sicherheit den gesamten Bergbau aus der Wehrpflicht herausnehmen. Vermutlich ist auch mit einer Herausnahme der gesamten eisenschaffenden Industrie zu rechnen, vielleicht sogar — und der Herr Bundeswohnungsbauminister wird hoffentlich mit Unterstützung aller dafür kämpfen — mit der Herausnahme eines großen Teils der Spezialisten aus der Bauindustrie. In der Landwirtschaft wird man versuchen müssen, mit italienischen Fremdarbeitern Lücken zu füllen.
,Alles in allem: Die allgemeine Wehrpflicht klassischer Vorstellung gilt heute nicht mehr, wenn ganze Bereiche aus der allgemeinen Wehrpflicht ausgeklammert werden müssen, weil man das Militärische heute in einem Zusammenhang mit dem Volkswirtschaftlichen sehen muß. Darum sprechen wir Freien Demokraten nicht von der allgemeinen Wehrpflicht, sondern von der allgemeinen Verteidigungspflicht, die sowohl im soldatischen Bereich erfüllt werden kann und muß wie auch möglicherweise im wirtschaftlichen Bereich des Bergbaus und anderer Schlüsselindustrien in Anrechnung kommt. Für uns ist der Begriff der allgemeinen Verteidigungsdienstpflicht ein genereller Begriff, der weit über dem des eng begrenzten allgemeinen Wehrpflichtgedankens von früher steht.
Eine völlig neue Entwicklung ist auch durch das Anbrechen des elektronischen und nuklearen Zeitalters eingeleitet worden. Die Elektronik, Kernphysik und Biochemie haben eine neue Menschheitsgeschichte eingeleitet. Ich brauche nur auf die letzten Worte Albert Einsteins hinzuweisen, daß es wesentlich davon abhängen wird, ob die Menschheit diese neuen Erkenntnisse ihres Geistes zu ihrer Weiterentwicklung oder zu ihrer Vernichtung einsetzen wird. Es würde zu weit führen, hier auf diese neuen Erkenntnisse der Elektronik und der atomaren Entwicklung einzugehen. Nur eines, meine Damen und Herren! Das bemannte Flugzeug — Sie hören es und lesen es aus den letzten Diskussionen in der Weltöffentlichkeit — ist bereits überholt durch die unbemannte Rakete, die nicht nur auf kleine und mittlere Typen beschränkt wird, sondern vermutlich als Transkontinentalrakete bereits Träger der Wasserstoffbombe sein könnte.
Sie wissen, daß die ganze Panzerabwehr möglicherweise in den nächsten Jahren revolutioniert wird, weil es französischen Ingenieuren gelang, die Elektronik auch in den Dienst der Panzerabwehr zu stellen und durch eine Elektronenrakete etwa auf 5 km Entfernung jedes Panzerungetüm abzuschießen, also auf eine Entfernung, aus der der Panzer selber noch kaum richtig in Wirksamkeit treten kann. Daher wird man vermutlich in einigen Jahren keine 72-Tonner mehr bauen, keine 60-
Tonner, vielleicht auch keine 24-Tonner mehr, wenn sie ohnehin auf 5 km Entfernung durch eine Rakete vernichtet werden, die ihr Ziel elektronisch selbst ansteuert. Man wird vermutlich zu viel kleineren, schneller beweglichen, wesentlich weniger Stahl beanspruchenden Panzerstrukturen kommen.
Daß die Flak des zweiten Weltkriegs gar nicht mehr in Erscheinung treten kann, wissen Sie, weil man an Stelle des Flakgeschützes des zweiten Weltkriegs auch jene Abwehrrakete einführt, die ihr Ziel bis in die Stratosphäre elektronisch ansteuert und vernichtet, sei es ein noch in 25 km Höhe einfliegendes Flugzeug vom Typ B 52 oder sei es eine Rakete, die durch die Abwehrrakete vernichtet werden soll.
Wir haben schon im Jahre 1955 in diesem Hause beklagt, daß die Auseinandersetzungen über die technischen Entwicklungen bisher immer nur den Publizisten vom Schlage eines Liddell Hart, Adelbert Weinstein, Oberstleutnant Miksche, General Fuller und anderen überlassen wurden und nicht im Ausschuß für Verteidigung auch in die Problematik der Revolutionierung der Strategie eingetreten wurde. Einmal haben wir auf unser Drängen ein Gespräch geführt, an dem die Generale Speidel und Heusinger teilnahmen. Dieses Gespräch sollte die Frage beantworten, die Adelbert Weinstein in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" gestellt hat: Wie wird bei der deutschen Planung die Erkenntnis der neuesten atomaren Entwicklung berücksichtigt? Denn das ist allgemein die herrschende Auffassung in der Welt — das haben auch alle Vorredner bestätigt —: die Entwicklung der
nuklearen Waffen hat nicht die klassischen Waffen schlechthin überflüssig gemacht, aber sie zwingt zu einem völligen Umdenken von Strategie und Taktik und auch zu einer Umrüstung und Umgliederung der Verbände. Wir waren sehr beeindruckt, daß uns damals die Generale Speidel und Heusinger mitteilten, man wolle die Erkenntnisse der Atommanöver von Nevada abwarten, um dann erst über die zweckmäßigste Gliederung der deutschen Verbände zu entscheiden. Man werde auch keinesfalls mehr die Riesendivisionen von 18 000 Mann mit dem Riesentroß aufstellen, mit ihrer Verwundbarkeit aus der Luft und durch Atomwaffen — aus Geschützen abgeschossen —, sondern wesentlich kleinere, beweglichere Verbände, vermutlich auch nicht einmal die englische Division mit 12 000, sondern vermutlich jene kleinen schnell beweglichen gepanzerten Verbände von etwa 8000 Mann als den neuen Typ der atomar gegliederten Panzerdivision.
Seit diesem Gespräch im Sommer vorigen Jahres, an dem Vertreter der Koalitionsfraktionen teilnahmen, hat ein weiteres Gespräch nicht stattgefunden. Ich erinnere die Herren des Ausschusses für Verteidigung, daß wir seit der Zeit, als der Streit um die Konzeption des Obersten von Bonin in der Öffentlichkeit war, unabhängige Gutachter hören wollten, die uns, Herr Kollege Erler, einmal unbeeinflußt von irgendwelchen Unterstellungen und beamtenrechtlichen Abhängigkeiten die Konzeptionen in Argument und Gegenargument darlegen sollten. Auch diese Äußerungen der Gutachter sind bis zum heutigen Tage vor dem Ausschuß für Verteidigung leider nicht erfolgt. Hier muß die Unruhe, die bisher in der Publizistik sichtbar ist, allmählich auch auf uns übergreifen; jene Unruhe, daß möglicherweise allzu bequemes Festhalten an den Überlegungen des Jahres 1951/52, der EVG, uns nicht nur um den höchsten militärischen Effekt der neuen Verbände bringen würde, sondern auch zwangsläufig zu großen Fehlinvestitionen führen müßte. Wir stellen daher die These auf: unbequeme Überlegungen dieser Art sind besser als allzu bequemes Festhalten an den alten Vorstellungen der EVG von 1951/52. Die Diskussion, die sich bisher leider auf die Publizisten und Experten in der internationalen Militärpresse beschränkt, muß nunmehr auch in den verantwortlichen Fachgremien beginnen.
Ich werde Gelegenheit haben, mich noch ausführlicher mit der Denkschrift auseinanderzusetzen, als es der Kollege Erler schon getan hat. Lassen Sie mich aber schon hier einen Grundirrtum aus dem Ersten Teil richtigstellen. Es heißt auf Seite 6:
Das Gebiet der Bundesrepublik darf von den Kampftruppen nicht preisgegeben werden. Das verlangt der Schutz der Bevölkerung.
Meine Damen und Herren, ich muß da unwillkürlich an den berühmten Satz denken: „Und so schließt er messerscharf, daß nicht sein kann, was nicht sein darf."
„Das Gebiet der Bundesrepublik darf von den Kampftruppen nicht preisgegeben werden. Das verlangt der Schutz der Bevölkerung." — Ja, wer bestimmt denn das in der entscheidenden Stunde, ob es preisgegeben werden muß oder wird? Doch nicht das Bundesverteidigungsministerium, auch nicht die Bundesregierung, auch nicht die NATO-Strategie, sondern die Unwägbarkeit der militärischen Zusammenstöße. Wir haben doch im 2. Weltkrieg
oft Linien erlebt, die wir halten mußten. Ich spreche die, die vor Moskau im Schnee lagen, auf die berühmten Führerlinien an, die gehalten werden mußten. Die erste lag unmittelbar vor Moskau, die zweite lag etwas weiter rückwärts, die dritte lag noch weiter rückwärts. Man hat damals nicht auf von Brauchitsch gehört, rechtzeitig auf den Dnjepr zurückzugehen und ein tiefgestaffeltes Verteidigungssystem zu schaffen, sondern man hat geglaubt, nach den alten Vorstellungen Linien halten zu können. Die Vorstellung einer linearen Verteidigung ist, wenn sie von Fachleuten vertreten wird, falsch, und wenn sie von Politikern vertreten wird, eine gefährliche Irreführung des betreffenden Volkes. Denn es gibt im modernen Krieg keine lineare Verteidigung, es gibt auch keine Garantieerklärung in einem Krieg, sondern, wie der alte Moltke schon sagte: man kann in einem Krieg nur bis zur ersten Aufstellung, oder besser, bis zur ersten Begegnung alles vorausberechnen; von der Sekunde der ersten Begegnung der Kämpfenden lastet über allem die Unsicherheit und die Unwägbarkeit des Kriegsgottes. Deswegen ist es falsch, so zu tun, als wenn es möglich wäre, etwa eine Rhein-Linie, eine ElbeWerra-Linie oder irgendeine sonstige Linie zu halten. Es wird jeder Angreifer in der Lage sein, jede Linie dort zu durchbrechen, wo es ihm gelingt, einen Schwerpunkt zu bilden. Wenn es zu dem Unglück eines Krieges auf europäischem Boden kommen sollte, dann gibt es keinen Schutz in Form einer Garantieerklärung, sondern dann müssen wir bei der beweglichen Kampfführung, die insbesondere in dem in Straßen hoch entwickelten europäischen Raum stattfände, mit Bewegungen hinüber und herüber rechnen, d. h. das Kampffeld einer Auseinandersetzung würde sich von der Elbe und Werra nach Osten wie nach Westen einige hundert Kilometer erstrecken müssen. Es gibt keine Garantie etwa in dem Sinne: Das Gebiet der Bundesrepublik darf von den Kampftruppen nicht preisgegeben werden, das verlangt der Schutz der Bevölkerung.
Die Frage der Sicherheiten ist so zu beantworten, daß in jedem Falle bei einem bewaffneten Zusammenstoß der gesamte Raum zwischen Memel und Maas mindestens, wenn nicht gar noch weiter bis zu den Pyrenäen, ein großes atomares Kampffeld sein würde.
Das zwingt möglicherweise zu moderneren Überlegungen, als sie uns bisher bekanntgeworden sind. Herr Kollege Erler sagte es schon. Wir sind einer der 16 NATO-Partner. Wir haben Verpflichtungen auf uns genommen, und wir Freien Demokraten sind gewillt, diese Verpflichtungen, die wir mit aufgenommen haben, im Unterschied zu den Sozialdemokraten, die sie seinerzeit abgelehnt haben, zu erfüllen und alles zu tun, um nicht nur einen Selbstschutz der deutschen Bevölkerung sicherzustellen, sondern um auch der Verpflichtung gegenüber unseren Partnern gerecht zu werden. Aber wir sind in einer anderen Lage als die 15 anderen NATO-Partner, und wir beanspruchen, daß man die deutsche Situation in die Strategie und Planung der NATO mit einkalkuliert. Was ist die Situation Deutschlands? Es ist doch der Schatten, der über der deutschen Nation gegenwärtig liegt: Deutschland ist aufgeteilt in zwei Deutschland. Ich will die normative Kraft des Faktischen des Professors Jellinek nicht zitieren. Aber es ist nun leider eine Realität, daß trotz aller Beteuerung und des Glaubens, daß wir hier stellvertretend für ganz Deutschland han-
dein, jenseits der Elbe und Werra die Möglichkeit politischen Handelns für uns gegenwärtig nicht gegeben ist, sondern andere handeln. Im Gegenteil, an Elbe und Werra stehen zwei Militärblöcke, die sich auf Nahkampfentfernung gegenüberliegen, und es werden zwei Armeen aufgestellt, die Armee der Bundesrepublik, die Bundeswehr, und drüben die sogenannte Volksarmee. Diese besondere Situation der Zweiteilung Deutschlands zwingt vielleicht auch zu besonderen Konstruktionen auf dem Gebiete des Schutzes dieses Deutschland.
Ich habe die Ehre, Ihnen ein Gutachten in seinen großen Zügen bekanntzugeben, das dieser Überlegung mehr Rechnung trägt als die bisherige Planung, ein Gutachten, das von genau so hervorragenden Experten der deutschen Militärwissenschaft verfaßt wurde wie das, das im Bundesverteidigungsministerium erarbeitet wurde. Dieses Gutachten stellt als die These der deutschen Verteidigung die Kombination von Schwert und Schild auf. Ich darf aus diesem Gutachten Ihnen wenige Abschnitte wörtlich zitieren, um Sie anzuregen, sich mit dieser Frage gerade im Sinne des Schutzes unserer Substanz mehr zu beschäftigen, als das bisher geschehen ist.
Das Gutachten beginnt mit der Einleitung, daß die Bundesrepublik heute die große Chance hat, ihre Verteidigung unbelastet von vorhandenen, vor allem durch die Atomentwicklung veralteten Einrichtungen von Grund auf neu nach modernen Gesichtspunkten aufzubauen, wobei der besonderen Lage der Bundesrepublik als Anrainer des Eisernen Vorhangs und Teil des gespaltenen Gesamtdeutschlands Rechnung getragen werden muß. In puncto Verteidigungsaufbau trifft für die Bundesrepublik tatsächlich das in anderem Zusammenhang oft zitierte Wort von der Gnade des Nullpunktes zu. Bevor daher mit dem Aufbau der Verteidigung begonnen wird, sollten alle Möglichkeiten für die Verteidigung unseres Staates sorgfältig gegeneinander abgewogen werden, um den Verteidigungsaufbau auf der besten Möglichkeit der Gesamtkonzeption zu gründen. Die Konzeption muß sowohl die Interessen der NATO als auch Erfordernisse des Substanzschutzes der Bundesrepublik berücksichtigen. Entsprechend müssen Organisation und Gliederung des Wehrkörpers vielleicht folgendermaßen geteilt werden. Die NATO-Verteidigung kann im Sinne dessen, was ich eben über die falsche lineare Konzeption sagte, nur eine bewegliche Verteidigung sein, die an den NATO-Schwerpunkten Kräfte zusammenfaßt, um hier zum Schlage auszuholen, — die Schwertverteidigung einer operativen Armee. Unabhängig davon, wo das NATO-Schwert zuschlägt, muß die Bundesrepublik ihren Körper gegen Schläge des Gegners schützen können. Das ist die Schildverteidigung der territorialen Wehr.
Beide Begriffe treten in anderer Form auch bei der Beurteilung der Kriegführungsmöglichkeiten im Atomzeitalter auf. Die Atomwirkung schließt ein Operieren ungeschützter Massenheere aus. Der Kampf im Raum ist kennzeichnend. Der Mensch muß weitgehend durch Maschinen ersetzt werden. Feuerkraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Schutz der Kämpfer vor der Atomwaffe, rasche Konzentration der Kräfte und Zuschlagen an einer Stelle, Wiederauflösung und Konzentration an anderer Stelle sind die Kennzeichen dieser Schwertverteidigung. Die Schwertverteidigung allein würde vorübergehend immer weitere Räume und damit die Bevölkerung des eigenen Landes dem Zugriff des Gegners möglicherweiser preisgeben müssen. Ich berufe mich auf das, was der General Gruenther sagte und was ich Ihnen zum Schluß noch wörtlich zitieren werde.
Hier ist als Ergänzung der Schild erforderlich, der so lange hält, bis das Schwert wieder zuschlägt. Die Verbände der Schildverteidigung können nur aus atomschutzgebundenen, ortsfesten Anlagen kämpfen und sich an die möglichen Einzugsgebiete des Gegners und an Schwerpunkte anlehnen.
Die Frage der Versorgung der Verteidigungsstreitkräfte und der Schutz der Zivilbevölkerung sind ausführlich dargelegt, und dann ist von dem Überraschungsangriff des Gegners die Rede. Ich darf mit Genehmigung des Herrn Präsidenten auch diesen wichtigen Abschnitt zitieren:
Das Kennzeichen der Kriegsführung im Atomzeitalter wird der Überraschungsangriff sein. Technisierung der Streitkräfte und Atomwaffen machen lange Aufmarschbewegungen hinfällig. Die Theorie, daß am Anfang des Krieges das Atomduell steht, ist unwahrscheinlich, wenn der Gegner durch Angriffe seiner kontinentalen Armee die Atomwirkung rasch unterlaufen und gleichzeitig die Atombasen des Gegners ausschalten kann. Die eigene operative Armee wird auch bei teilmobilem Zustand durch den Überraschungsangriff zersplittert und dürfte zu Gegenoperationen nicht mehr imstande sein. Bei der Schildverteidigung aus Befestigungen ist ein Überraschungsangriff feindlicher Landstreitkräfte nicht möglich. Dann erst ist ein Atomduell als Einleitung denkbar.
Ein weiteres Kennzeichen moderner Kriegführung wird sein, daß der Kampf sich nicht nur an einer Front, sondern im Raum abspielt. Ein zukünftiger Krieg wird der Kampf zweier Weltanschauungen sein. Der Gegner hat seine Parteigänger im eigenen Land organisiert und kann sie zur Störung des ganzen Verteidigungsapparates einsetzen. Der Einsatz von Luftlande- und Fallschirmverbänden wird damit Hand in Hand gehen.
Zu den operativen Verbänden sagt dieses Gutachten:
Die operative Armee einschließlich Luftwaffe und Marine — die Schwertverteidigung — muß so gegliedert sein, daß sie rasch zusammengefaßt und rasch wieder aufgelockert werden kann. Sie muß unabhängig von Straßen und auch in atomverseuchtem Gelände kämpfen können. Jeder Verband dieser Armee muß so groß sein, daß er nicht durch eine Atombombe zum großen Teil vernichtet werden kann. Ungeschützte Kämpfer und schwerfällige Kampfinstrumente darf es nicht geben. Außer bestimmten Waffenverbänden würde sich die ganze Armee nur aus Einheitsatomkriegsverbänden von etwa 1500 Mann zusammenzusetzen haben.
Es handelt sich hier um hochgepanzerte schnellbewegliche Einheiten, die ihrerseits wieder in Kampfgruppen, etwa divisionären Charakters, zusammenzufassen wären.
Darüber hinaus gibt es nur Führungsstäbe für eine wechselnde Anzahl von Einheitsatomkriegsverbänden. Da also bei der operativen Armee
— das ist der Schlüsselsatz zu dem Thema Wehrpflicht —
Bedienung und Einsatz von Maschinen von großer Bedeutung ist, müssen alle Angehörigen Spezialisten mit langer Ausbildungszeit sein. Wehrpflichtige mit 18monatiger Dienstzeit lassen sich nicht verwenden; sie sind auch nicht erforderlich, da die operative Armee zahlenmäßig klein gehalten werden kann.
Also nach unseren Vorstellungen etwa 300 000 Mann als eine hochausgerüstete, hochbewegliche, gepanzerte Armee aus Berufssoldaten und längerdienenden Freiwilligen.
Die territoriale Wehr — Schildverteidigung —kämpft nur auf ortsfesten Kampfanlagen
— meistens feldbefestigungsmäßiger Art —.
Ihre Gliederung ergibt sich einmal hieraus, alsdann aus der Tatsache, daß eine große Mobilmachung und umfangreiche Mobtransporte
— im atomaren Krieg —undurchführbar erscheinen. Die Gliederung der territorialen Wehr paßt sich den Festungsanlagen und den möglichen Einzugsgebieten
— und der geologischen Struktur des Landes —
an. Ein ständig mobiler Status für die vordersten Grenzbefestigungen muß durch entsprechende Staffelung der Ausbildungszeiten erreicht werden. Die territoriale Wehr verfügt
— so sagt das Gutachten —
über alle konventionellen Waffen, eingebaut in atomgeschützte Anlagen, und über eine kleinere bewegliche gepanzerte Eingreifreserve. Die Ausbildungszeit ihrer Angehörigen kann kurz sein, da die Ausbildung sich nur auf Bedienung der Waffen, den Kampf aus der Anlage und Schießen erstreckt.
— Also drei bis sechs Monate.
Nun wird man sagen: Also eine neue Maginotlinie. Nein, meine Damen und Herren, keine neue Maginotlinie, sondern das Ergebnis der Erfahrungen, die unsere Fachleute im 2. Weltkrieg selbst machen mußten. Als wir am 5. Juli 1943 die letzte große Offensive an der Ostfront begannen — das Unternehmen Zitadelle —, stieß unter einer erheblichen Luftüberlegenheit ein Panzerkeil von Orel nach Süden und ein zweiter von Kursk nach Norden. Beide hatten sich binnen weniger Tage in einem tiefgestaffelten Feldbefestigungssystem mit so hohen Verlusten an Menschen und Material festgefahren, daß die Offensive abgebrochen werden mußte. Dadurch, daß der Gegner seinerseits durch das Schwert seiner offensiven Armee an einer anderen Stelle bei uns angriff, ist die letzte große Angriffsaktion im Mittelabschnitt der Ostfront im Juli 1943 zu der größten Rückzugsaktion geworden, zu einem Rückzug über 500 km bis zur Dnjeprlinie. Ähnlich wird es auch bei der Ardennen-Offensive gewesen sein; wir haben ja manche Teilnehmer unter uns. Obgleich die Panzerspitzen an Bastogne und anderen festen Punkten vorbeistießen, haben die Amerikaner durch das Halten dieser festen Punkte, insbesondere Bastogne, erreicht, daß auch diese letzte große Offensive der deutschen Wehrmacht im Westen scheiterte. Dieser Angriff war politisch übrigens das Unverantwortlichste, was es vielleicht in der Kriegführung gegeben hat. Man öffnete durch die Wegnahme der Panzerdivisionen drüben das Tor im Osten und schloß es im Westen. Wer sich heute beklagt, daß die Amerikaner, Engländer und Franzosen nicht in Groß-Berlin, in
Oberschlesien und in Pommern standen, daß vielmehr die Sowjets bis an die Elbe und Werra kamen, der darf dafür nicht so sehr Yalta verantwortlich machen — Yalta war übrigens nach der Ardennenoffensive —, sondern jenen politisch-strategischen Fehler der Entblößung des deutschen Schildes im Osten und der Sperrung der einzigen Möglichkeit, noch zu einer für uns freiheitlichen Lösung im Westen zu kommen, an Stelle der jetzigen, des zwangsweise in einem großen Konzentrationslager sitzenden Mitteldeutschland, von Ostdeutschland ganz zu schweigen.
Aber es würde zu weit führen, hier in Wertungen einzusteigen. Ich will nur darlegen, daß das System tiefgestaffelter Verteidigungslinien im Sinne eben eines Schildes im zweiten Weltkrieg auf beiden Seiten durchaus seine Bewährung erfahren hat und der Vergleich mit der Maginotlinie unrichtig ist.
Der Bedarf an Soldaten für die territoriale Wehr ist natürlich sehr hoch, und ich glaube, auch das Bundesverteidigungsministerium plant, soweit ich es den Äußerungen des Generals Heusinger entnehmen kann, ein Milizsystem. Wo sollten denn die ausgebildeten Reserven auch weiterverwendet werden?
Also neben dieser operativen Armee von etwa 300 000 Mann oder mehr wird es ein Milizsystem mit einer selbstverständlichen Verteidigungsdienstpflicht von drei bis sechs Monaten geben, eine Miliz, die etwa mehr als 21/2 Millionen Menschen betragen könnte, wenn wir sie als einen ortsgebundenen Schild betrachten.
Nun hat mein Herr Vorredner von der Schwierigkeit des Unterführer- und des Führerpersonals der Miliz gesprochen. Dazu spricht sich das Gutachten wie folgt aus:
Das Führer- und Unterführerpersonal müßte ebenso wie das im geringsten Umfang benötigte technische Personal der territorialen Miliz in Lehrgängen besonders geschult sein. Operative Armee und territoriale Wehr könnten sich personell so weit ergänzen, daß der Ersatz für die operative Armee aus der territorialen Wehr leicht zu gewinnen ist und umgekehrt das Unterführerpersonal, das bei der operativen Armee ausscheidet, bei der Territorialwehr noch weitere Verwendung finden kann, also etwa 200 000 Berufssoldaten.
Das Gutachten kommt dann zu folgendem interessanten Schluß, der auch völlig falsche Vorstellungen bezüglich allgemeiner Verteidigungsdienstpflicht, Berufswehrmacht und Miliz beseitigt:
Gegner des Berufsheeres operieren vor allem damit, daß das Berufsheer keine Reserve hat. Das einmal abgenutzte Schwert läßt sich personell nur schwer erneuern. Bei der hier vorgesehenen Gliederung des Wehrkörpers in Freiwilligenarmee und Territorialwehr — Miliz — wird das Problem schon dadurch gelöst, daß die Verteidigungsdienstpflicht vom 18. bis 55. Lebensjahr besteht. Lediglich die lange Dienstzeit im Frieden, die für die operative Armee notwendig ist, soll länger dienenden Freiwilligen mit guter Bezahlung vorbehalten bleiben. Schwierigkeiten gibt es nur insofern, als dieses Personal weitgehend aus Spezialisten bestehen muß. Sie lassen sich dadurch meistern, daß bei der operativen Armee ständig eine Reserve von 10 % verfügbar ist.
Die vorstehende Ausführung — so schließt das Gutachten —
ergibt, daß es nur heißen kann: Berufsarmee u n d Verteidigungsdienstpflicht. Die Aufgaben der operativen Armee sind nur mit einem hochbeweglichen, gut ausgebildeten Berufsheer, die Aufgaben der Territorialwehr nur mit einer Miliz zu lösen. Beides zusammen ergibt nicht nur die ideale Verteidigung, sondern schließt auch jeden Verdacht einer eigenen Angriffsabsicht aus. Der Wirtschaftsprozeß erfährt keine wesentliche Störung. Der Wehrwille wird zudem gestärkt werden, da jeder Milizangehörige das Gefühl hat, daß er für seinen Hof, für seine Familie kämpft. In diesem Sinne spielt bei der Milizarmee ein Problem auch nicht die gleiche Rolle wie bei der Armee der allgemeinen Wehrpflicht, nämlich das Problem Bürgerkrieg.
Nach einer kurzen Behandlung des Themas „Bürgerkrieg" — denn das ist die latente Gefahr auf zweigeteiltem deutschen Boden — kommt das Gutachten zu einer Zusammenfassung und führt aus:
Schwert und Schild sollen unser Volk verteidigen. Das Schwert wird von der NATO-Koalition geführt, den Schild sollen wir selbst tragen. Das Problem erscheint als ein gigantisches Projekt, das alles bisher Überkommene umstößt. In Wirklichkeit baut dieser Plan nur auf den Kriegserfahrungen der Vergangenheit auf, wobei die durch die Fortschritte der Technik, insbesondere der atomaren Entwicklung, entstandenen unumstößlichen Gegebenheiten und die aus der Weltlage sich ergebenden möglichen Arten eines zukünftigen Konflikts in Rechnung gestellt werden. Es beruht nicht auf dem Wunschbild „weil nicht sein kann, was nicht sein darf", sondern auf den möglichst ungünstigen Fällen. Heute übergangslos
— so schließt das Gutachten —
an das Jahr 1945 anzuknüpfen und Grenadierdivisionen, wenn auch motorisiert, aufzustellen, läßt sich nicht einmal mehr mit der Möglichkeit eines nur konventionellen Krieges entschuldigen. Kein Industrieunternehmen wird heute das aufbauen, was im Jahre 1945 zerbombt und demontiert worden ist, sondern die Fortschritte der Technik verwerten. Das Kriegsinstrument muß, wo es nur geht, Menschen durch Maschinen ersetzen. Menschenblut ist unersetzlich, Maschinen kosten nur Geld.
War es denn nicht bei uns so im zweiten Weltkrieg, daß wir eine technische Unterlegenheit durch Blut wettmachen mußten? Wo es bei uns an Material fehlte, wurden Menschen in den Kampf geworfen mit jenen gewaltigsten Substanzverlusten, die wir jemals seit dem 30jährigen Krieg erlebt haben.
Der NATO-Oberbefehlshaber General Gruenther hat kürzlich, wie Sie wissen, erklärt, daß, wenn es zu einem Kampf käme, NATO natürlich nicht in der Lage wäre, die Front in Europa zu halten; das Bundesgebiet werde aufgegeben werden müssen. Natürlich könne NATO es hinterher wieder befreien. Überraschenderweise hat diese nüchterne Wahrheit aus dem Mund des NATO-Befehlshabers in der Bundesrepublik Unruhe heraufbeschworen. Aber diese Unruhe schien sich zu beruhigen, als dann ein SHAPE-Sprecher den Worten Gruenthers folgende Auslegung gab, die Herr Kollege Erler auch schon zitiert hat: daß mit der Aufstellung der zwölf deutschen Divisionen die Situation eine ganz andere sei, d. h. daß die Bundesrepublik dann verteidigt werden könne — und nun hören Sie zu —, „wenn dazu noch die Genehmigung zur Verwendung von Atom- und Wasserstoffbomben gegeben wird". Dieser Konditionalsatz ist das Entscheidende. Denn wenn diese Genehmigung gegeben wird und Deutschland zwangsläufig Atombombenversuchsfeld beider Parteien wird, dann steht die letzte uns noch verbliebene Substanz beim Endsieg nicht mehr zum Wiederaufbau Deutschlands zur Verfügung.
Deswegen sagt auch hier dieses Gutachten:
Es bedarf keines Urteils eines militärischen Fachmannes — jeder einzelne, der als Soldat im Osten gekämpft hat, kann es sich selbst ausrechnen —, um festzustellen, daß eine über 1000 km lange Grenze der Bundesrepublik mit der Zone und mit der tschechoslowakischen Republik nicht mit etwa 30 Divisionen aller Art einschließlich 12 deutscher Divisionen gegen 200 Divisionen der Sowjets starr verteidigt werden kann. Das ist bei Berücksichtigung der konventionellen Kriegführung das einfachste Rechenexempel. Also wird man dann wieder zu dem Thema kommen: bewegliche Kampfführung und am Ende möglicherweise der atomare Einsatz zum Stoppen dieser Divisionen.
Die Frage, ob dieses Konzept auch in den Rahmen der NATO paßt und ob dieses Konzept auch politisch im großen Rahmen, also im außenpolitischen Rahmen zu verwirklichen ist, darf ich mit dem Schlußsatz des Gutachtens beantworten:
Diese Äußerungen beweisen, daß das Verteidigungsproblem jeweils in einem anderen Licht erscheint, je nachdem, ob man es durch die Brille der NATO oder die der Bundesrepublik betrachtet. Ziel der NATO ist es,
— so sagt das Gutachten mit Recht —
in einem Krieg den Endsieg zu erringen. Ob dabei vorübergehend bestimmte Gebietsteile verlorengehen oder zerstört werden, ist für die Erreichung dieses Ziels von untergeordneter Bedeutung.
Ich erinnere daran, mit welcher Schonungslosigkeit die Liberator-Bomber ihre Bombenlast auch über französischen Städten, über Städten des verbündeten französischen Volkes fallen lassen mußten, weil die Strategie eine gnadenlose Angelegenheit ist und nicht nach dem Schicksal des einzelnen Mannes, ja, ich behaupte sogar, nach dem Schicksal des einzelnen Volkes, fragen kann, was auch Korea sehr nachdrücklich bewiesen hat.
Für die Bundesrepublik ist die Situation eine andere, weil sie vom Kriege in erster Linie, und zwar in ihrer Gesamtheit, betroffen wird. Gewiß geht es auch hier nicht darum, ob ein Meter Boden verlorengeht oder nicht, ob wichtiges Ackerland oder bedeutende Industrieanlagen verlorengehen. Wir können uns sowieso nicht selbst ernähren und unsere Rüstungsindustrie weiterlaufen lassen. Es dreht sich hier um die Bevölkerung und um die Erhaltung dieser Substanz. Jeder Endsieg ist für uns als Volk wertlos geworden, wenn sich die Substanz des deutschen Volkes nicht über einen dritten Weltkrieg erhalten läßt.
„Wie soll die Bevölkerung überleben, wenn die Kriegsfurie sich auf unserem Boden austobt und letzten Endes die Entscheidungsschlacht für den Endsieg in Südfrankreich geschlagen wird? Massengräber zu befreien, hat wenig Sinn" schreibt das Gutachten.
Die NATO-Konzeption für die Verteidigung ist auf den Endsieg abgestellt und muß so sein. Daneben sollte es aber ein Konzeption der Bundesrepublik für die Verteidigung geben, die auf die Erhaltung der Substanz des Volkes, d. h. Schutz der Bevölkerung vor den Erdstreitkräften des Gegners und den Atomwaffen beider Parteien, abgestellt ist und gleichzeitig der NATO-Führung die Aufgabe erleichtert, indem sie auch die übrigen westeuropäischen Länder vor Überraschungen schützt.
Das ist der Sinn dieses Gutachtens: Ein Schwert der operativen Kriegführung der NATO und einen Schild zur Verzögerung möglicher Operationen des Gegners, insbesondere aber zur Erhaltung der Substanz unseres Volkes durch eine territoriale Verteidigung. Für beide ist selbstverständlich — ich wiederhole es — eine allgemeine Verteidigungsdienstpflicht nötig. Aber ob die allgemeine Wehrpflicht der bisherigen Vorstellung, sei es mit 12, 18 oder 24 Monaten, noch volle Gültigkeit hat, ob es nicht längerdienende Soldaten sein müssen, weil der technische Apparat einer modernen Armee eben auch nicht in 24 Monaten ausgebildet werden kann — nun, diese Frage beantwortet das Gutachten der Bundesregierung selbst. Es heißt hier, daß in England 90 % der Marine, 66 % der Luftwaffe und 50 % des Heeres aus Berufssoldaten und längerdienenden Freiwilligen bestehen. Ich kann mich entsinnen: bei den EVG-Vereinbarungen war für den deutschen EVG-Beitrag ein Anteil von Berufssoldaten und längerdienenden Freiwilligen von 20 % maximal festgelegt, während Frankreich damals einen Anteil von 14,7 % an Berufssoldaten und längerdienenden Freiwilligen hatte. Der General Twining und der General Taylor haben unlängst erklärt, daß heute vermutlich mindestens 50 %, wenn nicht gar 70 % einer operativen Armee aus Berufssoldaten und längerdienenden Freiwilligen bestehen müssen, weil es gar nicht möglich ist, die Erkenntnisse der modernen Kriegstechnik in 12, 18 oder 24 Monaten zu vermitteln, andererseits aber die Rücksichten auf unsere Volkswirtschaft es letzten Endes ungeraten erscheinen lassen, länger auszubilden, als es volkswirtschaftlich ertragen werden kann. Die Vereinigten Staaten haben daher einen Anteil von Berufssoldaten und längerdienenden Freiwilligen von 75 % — Sie sehen also: wir werden — ob wir wollen oder nicht — durch die Zeitläufe der technischen Entwicklung gezwungen, einen hohen Anteil von Berufssoldaten und länger — vier Jahre oder acht Jahre — dienenden Freiwilligen einzustellen, um uns dem neuesten Stand der Kriegsrüstung anpassen zu können.
All diese Überlegungen sind nicht nur Überlegungen jener Experten, die das Gutachten gemacht haben. Darf ich Sie auf Liddell Hart verweisen und das, was er — am 13. 4. 1956 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" wiedergegeben — zu diesem Thema sagt. Herr Kollege Kliesing hat schon Liddell Hart zitiert, aber leider nicht diesen Teil.
Es wäre weit besser, — so sagt Liddell Hart —wenn der Hauptteil der Landstreitkräfte der kontinentalen Staaten Europas auf der Basis
einer örtlichen Miliz aufgebaut würde, die in ihrem eigenen Bereich kämpfte und sich auf örtliche, auf zahlreiche kleine unterirdische Lagerräume aufgeteilte Vorräte stützte. Sie sollte von beweglichen, aus Berufssoldaten bestehenden Streitkräften unterstützt werden, die völlig mit gepanzerten Überlandfahrzeugen ausgerüstet, modern organisiert und geschult sind, in „geordneter Auflösung" wie ein Hornissenschwarm zu operieren. Mit solcher Fähigkeit und Elastizität würde weniger gefordert, als man von den jetzigen atlantischen Divisionen verlangt. Diese Verbände wären sowohl für den Kleinkrieg als auch für den Atomkrieg, in dem eine bewegliche Kampfhandlung nur mit relativ kleinen Streitkräften möglich ist, gewappnet.
Und neben General Fuller, der dasselbe vertritt, neben F. O. Miksche, dessen Buch „Atomwaffen und Landstreitkräfte" ich Ihrem Studium empfehle, sagt Adelbert Weinstein, auch ein Militärexperte von hohem Rang, der in der ganzen Welt herumgekommen ist und die Möglichkeit hatte, alle Verteidigungssysteme zu studieren, aber auch ihre Schwächen kennenzulernen, von Formosa bis Indochina und vom Pentagon bis nach Madrid, am 23. März 1956 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung":
Auf Westdeutschland übertragen wäre vorerst vorzusehen, die Armee mit Freiwilligen so aufzufüllen, daß nur verhältnismäßig wenige noch zum aktiven Dienst eingezogen zu werden brauchten. Die Berufssoldaten können sich für vier, acht, zwölf und achtzehn Jahre verpflichten und in ihrer Dienstzeit profunde technische Kenntnisse erlangen. Damit wäre das Zurückfließen in zivile Laufbahnen genau festgelegt; zum andern fänden die Spezialisten schnell eine Aufnahme in der Wirtschaft.
Aber vor allem — und hier greift dieses System der Einberufung einer Armee in das andere zur Verteidigung Westdeutschlands notwendig über — die aktiv Gedienten hätten erheblich in der für uns notwendigen Miliz Dienst zu tun. Wir brauchen nämlich bei unserer geographischen Lage eine Miliz in Verbindung mit der aktiven Armee. Nur so läßt sich die Frage der Bildung von Reserveeinheiten lösen, die im Ernstfall die aktive Truppe ergänzen können. Zum anderen kann nur die Miliz zugleich den notwendigen regionalen Schutz gegen Erd- und Luftangriffe vornehmen, wenn bei atomaren Angriffen großräumige Verschiebungen von aktiven Einheiten nicht mehr möglich sind.
Man wird fragen: wenn in Westdeutschland sowohl eine aktive Armee, für die Einziehungen notwendig sind, und zugleich eine milizartige Organisation aufgebaut werden soll, wo liegt dann der Unterschied zur allgemeinen Wehrpflicht? Er liegt darin, daß die Erfassungsart und der Aufbau der Verteidigungstruppen völlig neuartig sind. Die zeitliche Verteilung der Verteidigungsaufgaben für den einzelnen Mann, die Betonung der Freiwilligkeit für die aktive Truppe lassen den Begriff der allgemeinen Wehrpflicht
— früherer Vorstellungen — nicht mehr zu.
Und so folgern wir: darum eine allgemeine Verteidigungsdienstpflicht, im Sinne des Korrelats zu den Grundrechten auch die Grundpflicht des Schutzes für das Volk, aber unter möglichst hohem Nutzwert für die Verteidigung durch das modernste System, und das scheint uns nach den Gutachten dieser Experten ein System der operativen Verteidigung durch das Schwert — der NATO — und durch eine milizartige Verteidigung — durch den Schild — zu sein. Hier dies hochbewegliche, schnell verschiebbare, gut ausgebildete Heer der Spezialisten und Berufssoldaten und dort jene in sechsmonatiger Dienstzeit ausgebildete territoriale Wehrmacht zum regionalen Schutz, zur Heimatverteidigung. Man wird im Luftschutz ohnehin nicht darum herumkommen, auch Luftschutzverpflichtungen vorzunehmen; denn mit der Freiwilligkeit wird es zwangsläufig nicht gehen, nachdem die Freiwilligkeit im „Dritten Reich" so mißbraucht worden ist.
Die Frage der attraktiven Kraft allerdings der Berufsarmee ist ein Problem der Schaffung der entsprechenden ideellen und materiellen Grundlagen. Ich glaube, daß nicht alle ideellen und materiellen Grundlagen für eine Wehrpflicht bereits gegeben sind. Lassen Sie mich das kurz beweisen. Nach dem, was dem deutschen Soldatentum leider nach 1945 zugefügt wurde, kann zwangsläufig noch nicht jene Bereitschaft zum Dienen vorhanden sein, die man sich für eine Wehrpflicht wünschen müßte. Es bedarf hier noch erheblicher sowohl ideeller wie materieller Wiedergutmachungen. Ich denke beispielsweise an die Kriegsopferversorgung. Die fünfte Novelle zum Kriegsopferversorgungsgesetz wird immer wieder hinausgeschoben. Mir schiene die Verabschiedung dieser Novelle auch psychologisch für die Verteidigungsbereitschaft unseres Volkes wesentlich wichtiger zu sein als die erste Lesung des Wehrpflichtgesetzes heute.
Denn natürlich sind es Millionen Menschen, Kriegsbeschädigte, Witwen und Waisen, um die es geht. Die Witwen haben Söhne, und die Kriegsbeschädigten haben Söhne.
Wäre es nicht politisch klug gewesen, es nicht zu diesen Demonstrationen der großen Kriegsopferverbände kommen zu lassen, sondern heute oder gestern zunächst einmal das Kriegsopferversorgungsgesetz so zu machen, daß wir uns seiner nicht mehr zu schämen brauchen,
anschließend die Novelle zum Gesetz gemäß Art. 131 des Grundgesetzes, die längst fällig ist, zu verabschieden, weiter das Besoldungsgesetz
— von dem Besoldungsgesetz, Herr Kollege Kunze, wird es wesentlich abhängen, wer sich alles meldet —, dann das Problem des Versorgungsgesetzes zu behandeln — auch von der Frage der Versorgung wird es wesentlich abhängen, wer sich alles meldet und von welcher Qualifikation die sich Meldenden sein werden —, schließlich das Überleitungsgesetz für den Bundesgrenzschutz, auf das wir auch längst warten? Der Wille beim Bundesgrenzschutz, zur Bundeswehr überzutreten, wird immer geringer, je länger man mit der Verabschiedung des Gesetzes auf sich warten läßt.
Lassen Sie mich hier noch eine weitere psychologische Frage darlegen, die beweisen soll, daß die psychologischen Voraussetzungen für eine allgemeine Verteidigungspflicht noch nicht gegeben sind. Wir haben vor drei Jahren im gleichen Raum die EVG behandelt. Sie wissen, daß ich in der zweiten Lesung mit einigen anderen Kollegen bei grundsätzlicher Bejahung der Europäischen Verteidungsgemeinschaft nein sagte aus meiner Verpflichtung gegenüber den damals noch festgehaltenen kriegsverurteilten Soldaten. Wir — einige Kollegen, die sich damals im Dezember 1952 enthalten oder mit Nein gestimmt hatten — sind daher bei verschiedenen alliierten Dienststellen gewesen, unter anderem beispielsweise — Frau Kollegin Hütter, die nach mir zu diesem Thema sprechen wird, wird es bestätigen — beim damaligen amerikanischen Hochkommissar Donnally. Wir hatten Zusagen, daß das Problem der inhaftierten Soldaten baldigst abgeschlossen werden würde. Darauf haben wir nachher im März 1953 der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der dritten Lesung zugestimmt, nachdem im Dezember das Nein aus diesem psychologischen Grund gesagt worden war. Das war im März 1953. Wir haben heute den Mai 1956, und das Problem ist noch nicht abschließend gelöst. Ich will mich vor niemanden stellen, der kriminelle Delikte begangen hat aus niederer Gesinnung, aus niederen Instinkten, ohne die Not des Krieges; ich will mich vor jene stellen, die aus der Not des Krieges heraus in Verstrickungen gekommen sind, auf Befehl gehandelt haben. Ich habe damals ausgeführt — und ich wiederhole es —: Solange nicht das Problem des Handelns auf Befehl und der Verantwortlichkeiten für den letzten Soldaten des zweiten Weltkriegs gelöst ist, der noch in westlichen Zuchthäusern bei unseren Partnerstaaten sitzt solange kann man kaum einer Mutter zumuten, ihren 20jährigen Sohn für eine Wehrpflicht freizustellen, damit er auch auf Befehl handelt und möglicherweise in ähnliche Verstrickungen kommt. Die Frage ist noch nicht abschließend gelöst. Sicher, von 5000, die es waren, sind es nur noch 40. Aber es geht hier nicht um die Zahl, sondern es geht hier um das Prinzip, und solange Peiper noch in Landsberg ist, ist die psychologische Grundlage leider noch nicht gegeben. Unsere Partner sollen etwas dafür tun, daß sie gegeben ist. Den Botschaftsrat Plitt abzurufen, weil er einen anderen Soldaten aus Landsberg entließ, und nun nichts mehr zu tun, das ist keine Hilfe im Rahmen der Schaffung der psychologischen Voraussetzungen auch für dieses allgemeine Verteidigungsdienstpflichtgesetz. Aber meine Frau Kollegin Hütter wird dazu noch weitere Ausführungen machen, genauso wie Herr Professor Reif zu der Frage der Kriegsdienstverweigerung noch Stellung nehmen will.
Einige wenige Sätze noch zu dem hier verteilten Memorandum. Ich habe mich schon mit dem einen Satz, daß nicht sein kann, was nicht sein darf, auseinandergesetzt. Lassen Sie mich noch zu dem zweiten interessanten Satz Stellung nehmen. Auf Seite 9 heißt es:
Die Behauptung, daß eine allgemeine Wehrpflicht die Spaltung des Landes vertiefe, ist unrichtig. Im Gegenteil: erst die Bereitschaft jedes einzelnen, die Bundesrepublik und damit das ganze Deutschland im Falle eines Angriffs verteidigen zu wollen, legitimiert die Bundesrepublik innerlich und glaubhaft, für
das ganze Deutschland zu sprechen und die Wiedervereinigung auf friedlichem Wege herbeiführen zu wollen.
Meine Damen und Herren, ich habe den Satz, obgleich ich ihn vielfach gelesen habe, nicht verstanden,
sondern ich sehe eine bittere Notwendigkeit, hier zu sagen, daß eine allgemeine Wehrdienstpflicht oder allgemeine Verteidigungsdienstpflicht zwangsläufig zu einer Wehrerfassung und einer Wehrüberwachung führen muß. Ich unterstreiche das, was der Kollege Erler gesagt hat und was ich auch früher schon in verschiedenen Artikeln geschrieben habe. Das bedeutet, daß der 20jährige Sohn einer Familie aus Leipzig, der in Köln studiert, seine Eltern in Leipzig nicht mehr wird besuchen können, ohne damit rechnen zu müssen, gleich dabehalten zu werden. Umgekehrt: die freie Bewegung der jungen Menschen, die wehrpflichtig sind, die im entsprechenden Alter stehen und eingezogen werden können, wird durch die allgemeine Verteidigungsdienstpflicht zwangsläufig auch dann gestört, wenn nicht gar gestoppt, wenn drüben die Sowjetzone die Wehrpflicht nicht einführt. Hier bin ich anderer Meinung, Herr Kollege Erler. Die sowjetzonale Volksarmee mit ihren sieben Divisionen hat ein so hohes Maß des zwangsweisen Erfassens der jungen Leute, daß dort die Wehrpflicht erst gar nicht mehr verkündet zu werden braucht. Die machen das wie alle autoritären Staaten über das sogenannte Prinzip erzwungener Freiwilligkeit. Also hier ist die Feststellung der Denkschrift keineswegs mit den Realitäten vereinbar.
Das trifft auch für das zu, was auf Seite 11 bezüglich der Türkei steht, die, in ähnlich bedrohter Lage wie die Bundesrepublik, uns ein Beispiel für die Ausschöpfung unseres Potentials für die Streitkräfte sein soll. Nun, ich war 1953 mit einigen Kollegen des Hauses in der Türkei. Hut ab vor den Rüstungs- und Verteidigungsanstrengungen der Türkei, die angesichts dieser Situation etwa die Hälfte ihrer männlichen Bewohner ständig unter Waffen halten muß! Aber bei dieser Anspannung der volkswirtschaftlichen Kräfte ist es zu einer geradezu katastrophalen Entwicklung der türkischen Volkswirtschaft gekommen. Wer mit der Türkei in Handelsbeziehungen steht, weiß das ja. Als der türkische Staatspräsident Celal Bayar nach Washington flog, hat er ebensowenig das große amerikanische Darlehen bekommen wie der türkische Ministerpräsident Menderes, als er voriges Jahr bei uns in Bonn zu Besuch war.
Nein, man darf die Rüstungsanstrengungen nicht isoliert im Raume stehen lassen. Man muß sie mit den volkswirtschaftlichen Bedürfnissen der Nation synchronisieren. Sonst gibt es eine Katastrophe. Ich bin immer noch der Meinung, gerade in der geistigen Auseinandersetzung zwischen Ost und West ist es für uns hier wesentlich entscheidender, ein ausgeglichenes soziales Staatswesen und Arbeit und Brot für jedermann zu haben als vielleicht Panzerdivisionen auf Kosten des Lebensstandards der Bevölkerung. Denn das Leben ist in dem Maße verteidigungswert für jedermann, in dem es frei und lebenswert für jedermann geblieben ist. Darum ist das Beispiel der Türkei als Analogie zur Lage der Bundesrepublik nicht richtig.
Wohl aber unterstreiche ich noch einmal, was auf Seite 12 gesagt wird:
Zwischen Miliz und allgemeiner Wehrpflicht
besteht kein Gegensatz, wie dies in der Öffentlichkeit fälschlicherweise oft behauptet wird.
— Ich erweitere sogar den Begriff auf die „allgemeine Verteidigungsdienstpflicht". Ich gehe weiter als Sie; aber ich sage: nicht jetzt, weil es noch Zeit hat, weil wir die neuesten Gutachten prüfen müssen, weil wir das Problem nach allen Seiten beleuchten müssen und nicht unter schematischem Festhalten an den EVG-Vorarbeiten von 1951 vorgehen dürfen, weil inzwischen viel zuviel geschehen ist.
Darf ich wie mein Kollege Erler vor mir auch etwas zum Humor beitragen. Da ja alle Redner heute über eine Stunde gesprochen haben, wird es — zumal ohne Mittagspause — ermüdend. Auf Seite 15 der Denkschrift steht etwas, was wahrlich dazu reizt, es hier zu zitieren. Da heißt es:
Der allgemeine Wehrdienst wird die Volksgesundheit verbessern.
Und dann heißt es:
Die militärische Ausbildung bildet die Körperkräfte gleichmäßig aus, ganz abgesehen von der sportlichen Betätigung. Die jungen Menschen werden ständig ärztlich überwacht und betreut, was beispielsweise für die Zahnsanierung nicht unwesentlich ist.
— „Und zu einem Produktionsrückgang von Chlorodont führen wird", das fehlt noch als Nachsatz. Meine Damen und Herren, das scheint mir eine Übertreibung zu sein. Niemand von uns will die entsprechenden Rückwirkungen positiver, leider auch manchmal negativer Art einer Härteausbildung leugnen. Wenn man aber die Volksgesundheit fördern will, dann bedarf es nicht so sehr der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht als der Beseitigung des Schichtunterrichts und des Baus von Tausenden von Schulen in der Bundesrepublik.
Denn man tut der Volksgesundheit den schlechtesten Dienst, wenn man das sechsjährige Kind aus dem Lebensrhythmus herausreißt. Sie wissen, der Lebensrhythmus des neugeborenen Kindes ist entscheidend. Die Mediziner wissen es besser als ich als Jurist. Aber wir glauben, uns das leisten zu können, das Kind im 6. Lebensjahr mal eine Woche vormittags und eine Woche nachmittags — in den geraden vormittags, den ungeraden nachmittags — in die Schule gehen zu lassen. Beseitigen wir diesen Schichtunterricht, der ein Schaden für die Volksgesundheit ist! Bauen wir Schulen, und dann tun wir der Volksgesundheit einen besseren Dienst als mit einer so sehr interessanten Feststellung!
— Ich sage ja nicht: Schulen statt Kasernen, sondern ich sage: Schulen u n d Kasernen. Aber im Augenblick ist es noch der beste Weg, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen.
Darf ich noch zu der Frage der Volksgesundheit eine kleine Ergänzung machen. Wenn man die Frage der Volksgesundheit schon hier ins Gutachten bringt, dann sollte man auch sagen, daß die konzentrierte Mannbarkeit einer Garnison auch bevölkerungspolitisch fördernde Wirkung hat, — wie in der Vergangenheit und Gegenwart. Im übrigen habe ich beinahe das Gefühl, der nächste Slogan bei den Werbeplakaten heißt: „Geh zur Bundeswehr und du bleibst gesund!"
Das hat sich nicht einmal Goebbels geleistet. Der blieb bei: „Iß mehr Fisch und du bleibst gesund!", als es wenig Fleisch gab.
Ich kann Ihnen einen noch besseren Slogan sagen — wir sind ja bald im Wahlkampf; wir wollen ihn langsam vorbereiten —: „Willst du lange leben, mußt du dich in Uniform bewegen!"
Aber da gibt es gewisse Einschränkungen. Ich glaube, wir selbst hier im Hause haben zwei verehrungswürdige Beweise, daß dieser Slogan nicht gilt: der Herr Bundeskanzler und Frau Kollegin Lüders beispielsweise, die beiden ältesten Kollegen dieses Hauses, haben niemals eine Uniform getragen, und sie haben doch ein langes Leben. Dieser Slogan wäre also falsch.
Aber lassen Sie mich zum Schluß zusammenfassen. Die Freien Demokraten sind für eine allgemeine Verteidigungsdienstpflicht, die sich nicht nur auf den soldatischen- Dienst erstreckt, sondern auch die sonstigen Dienste — beispielsweise in der gesamten Kriegswirtschaft, im Luftschutz — umfaßt, zumal da ohnehin aus diesem Raum kaum Einstellungen zum soldatischen Dienst erfolgen können. Das Prinzip der früheren allgemeinen Wehrpflicht ist schon deswegen durchlöchert, weil es keinen Bergmann geben wird, keinen Eisenmann und vielleicht auch nur wenige Bauhandwerker, die wir in die Kasernen einziehen könnten, ohne nicht erhebliche volkswirtschaftliche Rückschläge befürchten zu müssen. Deswegen entspricht der Begriff an sich schon nicht mehr der Firmenwahrheit und Firmenklarheit, wie Herr Weinstein sagt.
Wir wollen als Verpflichtung in diesem Jahr die 96 000 Mann aufstellen, die der NATO-Fragebogen uns auferlegt hat. Wir werden bis Ende des Jahres feststellen können, ob es gelungen ist, das zu tun. Frühestens im Herbst nächsten Jahres könnten dann die ersten Einziehungen erfolgen, wenn das Wehrpflichtgesetz hier beschlossen werden sollte. Die Zeit bis dahin — über eineinhalb Jahre — lassen Sie uns nützen, meine Damen und Herren! Wir stimmen dem Vorschlag zu, eine neutrale, oder besser: eine unabhängige Gutachterkommission einzusetzen und in den Beratungen im Ausschuß alles zu prüfen, um möglichst die beste Form des deutschen Verteidigungsbeitrags zu finden.
Wir sind nicht der Meinung, daß — vielleicht wie voriges Jahr beim Freiwilligengesetz — auch als Zeichen politischer Demonstration das Wehrpflichtgesetz noch vor der Parlamentspause verabschiedet werden muß. Das ist das nächste Problem, das sicher an uns herankommen wird: „Wir müssen, wir müssen . . .", weil wahrscheinlich wieder eine große außenpolitische Entscheidung bevorsteht. Vielleicht „müssen" wir als die fleißigsten
Schüler der NATO manchem Amerikaner den Wahlkampf etwas erleichtern. Nein, meine Damen und Herren, es geht hier speziell um das deutsche Problem, und darum sind wir dafür, daß diese Fragen nicht durch überschnelle, voreilige Verabschiedung im Sinne außenpolitischer Demonstrationen behandelt werden, sondern im Sinne dessen, was dem deutschen Volk und der Freiheit am meisten dient.