Den Eindruck hatte ich nicht; aber darüber mögen Sie anderer Meinung sein.
Was ich dann für falsch halte, ist, daß man das ganze Vertragswerk aus dem Text des Vertrages über die Westeuropäische Union heraus interpretieren will. Ich gebe Ihnen nochmals zu: Sie können es positiv nach den Begriffen des deutschen Zivilrechts, wie wir es gelernt haben, nicht beweisen, daß wir 500 000 Mann aufstellen müssen. Aber umgekehrt können Sie nun nicht deshalb, weil der Vertrag für die Westeuropäische Union den Accord spécial erwähnt und sagt: 500 000 sind die Höchstgrenze, davon ausgehen, es sei natürlich, daß wir den Wehrbeitrag wesentlich tiefer festsetzen. Meine Damen und Herren, das Vertragswerk von Paris hat doch sozusagen zwei Seelen in seiner Brust.
Einmal ist es der NATO-Vertrag, der dazu da ist, die Verteidigungsbemühungen der freien Welt durch einen deutschen Wehrbeitrag insbesondere wie durch den Beitrag der übrigen 14 Staaten zu stärken, und andererseits ist es der WEU-Vertrag, der ja außerhalb der begrüßenswerten Beistandspflicht eben nur Höchststärken und Rüstungskontrollen festsetzt, der also sozusagen restriktiver Natur ist und der, wie wir alle wissen, geschaffen wurde aus den innenpolitischen Verhältnissen eines großen Nachbarlandes heraus, die damals bestanden und an denen der EVG-Vertrag leider gescheitert ist.
Selbstverständlich stehen wir zum ganzen Vertragswerk. Selbstverständlich stehen wir zu dem Wort, das wir zu den Höchststärken gegeben haben. Wir wollen ja gar nicht mehr. Aber man kann ein Vertragswerk, das doch als Ganzes geschaffen worden ist, um die Wehrbereitschaft der westlichen Welt zu stärken, nicht nach den nebensächlichen Bestimmungen interpretieren, die hier eine gegenläufige Tendenz aufweisen,
und darum soll man die Westeuropäische Union in diesen ihren Vertragsbestimmungen so sehen, nämlich als eine Größe zweiter oder dritter Ordnung in diesem ganzen Vertragswerk, das ja zum Schutz der freien Welt und damit leider Gottes — es geht nicht anders — auch zur Aufrüstung der freien Welt geschaffen worden ist.
Schließlich bitte ich Sie, eines zu überlegen. Die formalistische Betrachtungsweise, wie sie von der Soizaldemokratie im Zusammenhang mit allen außenpolitischen Verträgen bisher immer an den Tag gelegt, seinerzeit auch in Karlsruhe vertreten wurde, würde hier zu ganz unmöglichen Schlußfolgerungen führen. Denn die Sache ist so: Die Höchstgrenze ist in den Protokollen der Westeuropäischen Union festgelegt. Die Mindestgrenze ist überhaupt nicht im Vertrag festgelegt, sondern es heißt: Der NATO-Rat muß jeweils die Empfehlungen beschließen. Der NATO-Rat kann sie nur einstimmig beschließen. Bei einer formalistischen Vertragsauslegung könnten Sie — das wurde seinerzeit auch im Auswärtigen Ausschuß besprochen — so weit kommen, zu sagen, daß wir am Ende überhaupt keine Soldaten aufstellen müßten, wenn unser Minister immer dagegen stimmen sollte — und daß das gegen den Sinn der Verträge verstoßen würde, das hat die Sozialdemokratie seinerzeit im Ausschuß und, ich glaube, auch Herr Erler heute vormittag im Plenum dargelegt.
Es würde aber bei diesen Verträgen, die ja nach der angelsächsischen Methode, daß nicht der Buchstabe gilt, sondern Treu und Glauben gelten, aufgestellt sind, auch gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn ich sagte: Wir stellen nur, sagen wir einmal, 100 000 Mann auf, wenn doch von vornherein in den allgemeinen Gesprächen, wie die seinerzeitigen Plakate der SPD bewiesen haben, immer von 500 000 Mann gesprochen worden ist.
Und aus diesem Grundsatz von Treu und Glauben heraus wollen wir als Deutsche die Verträge ansehen.
Das sind wir um so mehr unserem Namen schuldig, als leider in einer sehr üblen Zeit im deutschen Namen Verträge weder dem Sinn noch dem Buchstaben nach eingehalten worden sind.
Außerdem kommt nun die politische Folgerung: wenn wir uns jetzt weigerten, den Wehrbeitrag in jener Höhe zu leisten, den die ganze Welt annimmt, der auch bei den Beratungen in diesem Hohen Hause seinerzeit in der Diskussion stand, dann würde die andere Seite natürlich nach Treu und Glauben sehr gut in der Lage sein, uns den Schutz zu verweigern, den sie uns bisher gegeben hat und den in Zukunft zu geben sie sich auch verpflichtet hat. Denn die Verteidigung Europas und der westlichen Welt ist ein Ganzes, und wenn einer ausfällt und seine Verpflichtungen nicht oder nachlässig erfüllt. besteht die Gefahr, ja die Wahrscheinlichkeit, daß ein anderer Ähnliches tut.
Ich darf es noch einmal sagen: Diese Überlegungen aus dem Vertragswerk sind für uns nicht entscheidend. Ich verstehe, daß sie für die Opposition entscheidend sind: denn die Sozialdemokratie hat nun einmal — sehr konsequent, wenn auch nach meiner Überzeugung nicht mit Recht — unsere Außen- und Wehrpolitik bekämpft. Sie hat aber, wie es sich für Demokraten gehört, erklärt, daß sie einmal ratifizierte Verträge einhält und erfüllt. Für die Sozialdemokratische Partei ist es wohl entscheidend, ob sie aus den Verträgen genau 500 000 Mann und damit nun, da wir nicht genügend Freiwillige haben, die allgemeine Wehrpflicht herauslesen kann oder nicht. Für uns, wie gesagt, ist dieser Gesichtspunkt nicht entscheidend, weil wir uns in erster Linie aus sachlichen, aus politischen Erwägungen gezwungen sehen — so unpopulär es sein mag —, den Weg der Verantwortung weiterzugehen, den wir seit 1949 gegangen sind.
An den Anfang dieser sachlichen Überlegungen möchte ich doch noch einmal den Satz stellen: Das Ziel der Pariser Verträge ist nicht die Aufstellung militärischer Einheiten an sich, sondern die Sicherung der freien Welt gegen die Bedrohung, die durch die Politik von Warschau und Prag nun einmal für Europa geschaffen worden ist. Hätte man im Osten rechtzeitig eine andere Politik gemacht, wäre es niemals zu diesem Vertragswerk gekommen. Es geht doch beim deutschen Wehrbeitrag darum, daß wir für den noch freien Teil unseres Vaterlandes, also die Bundesrepublik, durch den Bund mit den westlichen Völkern jenen Schutz gewinnen, der notwendig ist. damit uns die Freiheit erhalten bleibt. Angesichts der außerordent-
lieh gefährlichen strategischen Lage unseres Landes, das an den Eisernen Vorhang grenzt und das mit Ausnahme der Türkei wohl mit keinem Land verglichen werden kann, denn kein Land des Westens ist sonst so gefährdet wie wir; angesichts dieser Tatsache und der weiteren, daß es sich hier — wenn ich mich einen Moment auf das Gebiet der Strategie begeben darf — immerhin um eine Frontbreite von 800 km handelt, ergibt sich doch die logische Folgerung, daß wir mit einem kleinen Berufsheer gar nicht in der Lage sind, die Aufgabe zu erfüllen, die uns im Bunde mit den anderen obliegt.
Dazu kommt das andere: Wir sind der Überzeugung, daß die Wehrpflicht eine sittliche Verpflichtung des Staatsbürgers ist. Schon das erste Mal, als wir uns über das Problem unterhalten haben, es war am 8. Februar 1952, habe ich in diesem Hause darzulegen versucht, daß es ein Recht der Notwehr und eine Pflicht zur Notwehr gibt, für den einzelnen wie für ein ganzes Volk, und daß wir um die Notwehrpflicht der jungen Generation zum Schutz von Frauen und Kindern und des ganzen Volkes nun einmal nicht herumkommen, in der Vergangenheit sehr oft nicht herumgekommen sind und in der Gegenwart bestimmt nicht herumkommen. Die Freiheit, meine Damen und Herren, ist für alle da. Darum müssen alle gemeinsam bereit sein, diese Freiheit zu schützen.
Ich hatte nicht die Absicht, diese Überlegungen über die sittliche Verpflichtung des Wehrdienstes auf eine so hohe Ebene zu heben, daß ich Papstworte zitieren würde. Nachdem aber einer meiner Herren Vorredner es dankenswerterweise getan hat, darf ich schließlich auch daran erinnern, daß nicht nur das eine beherzigenswerte Wort des gegenwärtigen Papstes gilt, sondern auch ein anderes, indem er vor etwa einem Jahr ausgesprochen hat, daß es im Falle der akuten Bedrohung zur sittlichen Pflicht des Christen gehört, das Vaterland und die Freiheit zu verteidigen.
Im übrigen glaube ich, daß der Gedanke der Wehrpflicht uns kein neuer und kein fremder Gedanke ist. Seit es in Deutschland moderne Armeen gibt, erst in den einzelnen deutschen Staaten und dann im Deutschen Reich, war es immer ein Heer der allgemeinen Wehrpflicht, mit Ausnahme jener Zeit in der Weimarer Republik, da man uns gegen den Willen aller politischen Parteien, auch der Sozialdemokratie, die Einführung der Wehrpflicht verboten hat.
Es ist also unsere eigene nationale Tradition, die wir in der neuen Bundeswehr wieder aufnehmen, wenn wir eine allgemeine Wehrpflicht schaffen. Ich darf Sie nur einmal kurz bitten, 25 Jahre zurückzudenken. Wenn im Jahre 1931 Reichskanzler Brüning von einer Konferenz mit der Genehmigung der allgemeinen Wehrpflicht zurückgekommen wäre, dann wäre er als Vater des Vaterlandes in einem Jubel empfangen worden, von links bis rechts, von allen demokratischen Parteien.
Vielleicht wäre der Nationalsozialismus dann gar nicht zur Macht gekommen, weil er nicht das nationale Ressentiment hätte aufpeitschen können. Es ist tragisch, daß heute, da diese allgemeine Wehrpflicht nicht von uns gefordert wurde, da sie uns
geschenkt, vielleicht, wenn Sie so wollen, nahezu aufgedrängt worden ist, weitgehend skeptische Zurückhaltung am Platze ist. Nun, Begeisterung mag auf dem Gebiet, das mit Krieg zu tun hat, bestimmt nicht das Richtige sein. Aber die nüchterne Erkenntnis der Notwendigkeit sollte nunmehr langsam Platz greifen.
Nun erzählt man uns: Ja, die Planungen sind zu alt; 1950, 1951 war eine andere Situation; inzwischen sind die Atomwaffen weiterentwickelt worden, inzwischen ist die Wasserstoffbombe erfunden worden; folglich sind alle diese Planungen revisionsbedürftig. Das ist natürlich in einem gewissen Umfang richtig. Die Atomwaffen zwingen zum Überdenken der Situation, und zie zwingen auch großenteils militärisch zum Umdenken. Wir hoffen, daß dies auf allen Seiten geschieht. Aber diese Frage ist keine Frage, die wir Deutsche allein entscheiden können, sondern es ist eine Frage, die, da es einen westlichen Verteidigungsblock in Gestalt der NATO gibt, von dieser NATO in gemeinsamen Überlegungen entschieden werden muß. Entweder hat die allgemeine Wehrpflicht ihren Sinn verloren, dann muß sie eben auf NATO-Ebene abgeschafft werden, oder sie hat ihren Sinn behalten; dann werden wir sie auf NATO-Ebene beibehalten müssen. Aber niemand wird aus der Reihe tanzen können, am wenigsten der, der wie wir Deutsche am gefährdetsten ist.
Nun haben alle NATO-Staaten außer Island, das überhaupt keine Soldaten stellt, und dem weitentfernten Kanada die allgemeine Wehrpflicht. Und wenn sogar die Vereinigten Staaten und Großbritannien, bei denen die Tradition gegen die allgemeine Wehrpflicht ist und die darin eine unerhörte Beschränkung der staatsbürgerlichen Freiheit sehen, trotzdem die allgemeine Wehrpflicht jedenfalls bis zum heutigen Tage beibehalten haben, dann, meine Damen und Herren, können doch wir, die wir viel gefährdeter sind als England und Amerika, nicht von der allgemeinen Wehrpflicht absehen.