Rede von
Dr.
Richard
Jaeger
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Ja, Kautsky! — Das allgemeine Wettrüsten war die Situation des 19. Jahrhunderts. Aber heute haben wir doch eine ganz andere Situation. Heute geht es doch darum, daß wir den Rüstungsvorsprung, der im Osten geschaffen worden ist, im Sowjetblock, aber erstaunlicherweise auch in der sogenannten Deutschen Demokratischen
Republik, einmal einholen. Das ist doch unsere Situation.
- Der Unterschied ist der, daß damals alle von einer gleichen Basis ausgegangen sind, Herr Kollege, und sich in der Rüstung gesteigert haben, während nunmehr drüben im Osten eine große Rüstung steht, der Westen aber nach dem letzten Weltkrieg abgerüstet hatte, Deutschland sogar total, und wir nunmehr, nachdem wir bedroht sind — die Bedrohung werden Sie ja nicht bestreiten —, nachholen müssen.
Nichts könnte das besser beweisen als zwei Bilder der Berliner „Morgenpost" vom gestrigen Tag; oben ist ein Bild „Waffengeklirr im Osten", wo man die neue Volksarmee in einer der alten deutschen Uniform sehr ähnlichen Uniform hochbewaffnet mit Panzern sieht; und unten friedlich eine Westberliner waffenlose Versammlung, die allerdings mit Recht das Transparent führt „Neutralität ist Selbstmord". Wenn ich aber gar in einer anderen Zeitung — es ist der „Tagespiegel" vom gleichen Tag — ein Bild sehe, das nicht nur Soldaten in Uniform zeigt, sondern auch „Funkmädchen" — früher nannte man so etwas „Blitzmädchen" — in Uniform — wir haben das grundgesetzlich verboten —, dann weiß ich doch, was die Stunde geschlagen hat und welche Bedrohung für uns besteht.
Wenn Herr Mende meint: „Nicht so und nicht jetzt", dann kann ich wenigstens zu dem letzteren sagen: Wie lange wollen Sie noch warten, wenn man im Osten schon so weit angefangen hat?
Nun das Nächste! Sie sagen, es sei sinnlos, in Deutschland aufzurüsten, während die Welt sich anschicke, abzurüsten. Sie haben es nicht wörtlich so gesagt, aber so war der Sinn. — Nun, ob die Welt sich anschickt, wissen wir nicht; wir können und wir wollen es hoffen. Aber die Ernsthaftigkeit der russischen Abrüstungsvorschläge ist noch nicht bewiesen. Ich meine, wenn sich die Sowjetunion überhaupt zu einer Abrüstungskonferenz bereit gefunden hat, dann schließlich und endlich, weil sie sieht, daß der Westen nicht weiterhin schläft, sondern sich einigt und bemüht, auch eine Macht darzustellen.
Je stärker diese Macht zu werden verspricht, um so eher wird man, wenn überhaupt, im Osten bereit sein, ernsthaft in Abrüstungsgespräche einzutreten. Wenn wir in einigen Wochen, wenn das Gesetz aus dem Ausschuß zurückkommt, die Wehrpflicht beschließen, dann ist damit die Abrüstung in London keineswegs gefährdet. Denn nach den Planungen — hoffentlich gehen sie in Erfüllung — werden wir zum 31. Dezember fast 100 000 Soldaten haben, und ein Jahr später werden es 200 000 Soldaten sein. Wenn wirklich bis zum Ablauf dieses oder des nächsten Jahres eine Abrüstungsvereinbarung herauskäme, dann müßten wir ja gar nicht abrüsten, sondern es würde bei dem Stand bleiben, den wir dann haben.
Denn das Gesetz führt zwar die allgemeine Wehrpflicht ein, zwingt uns aber nicht, 500 000 Mann aufzustellen, sondern das liegt dann immer noch in unserem Belieben, läge im übrigen auch noch im Belieben des Gesetzgebers, der dann das Gesetz ja revidieren könnte.
— Sie wissen doch genau, Herr Schröter, daß der Außenminister Dulles gesagt hat: wenn eine internationale Vereinbarung zustande kommt, wird Deutschland nicht mehr müssen. Also, wenn sie zustande käme — ich wage es kaum zu glauben, sosehr ich es hoffen möchte —, würde die Sache eine andere sein.
Wenn dann Herr Erler sagte, der Osten sei juristisch immer nachgezogen, je nachdem, was wir getan hätten — bei der Verfassung, der Souveränität und einer Reihe anderer Fragen —, aber sozial und politisch sei allerdings der Osten im Schaffen von Tatsachen vorausgegangen, dann kann ich nur fragen: was ist nun in dieser Welt wichtiger, politische und soziale Tatsachen oder der juristische Mantel, den man darum hängt? Wir leben in einem Rechtsstaat. Wir können politische und soziale Verhältnisse nur durch Recht und Gesetz schaffen, denn daran ist die Initiative des Staates gebunden. Im Osten lebt man nicht in einem Rechtsstaat. Da kann man sich tarnen und es unter der Decke machen; die Volkspolizei in ihrer Existenz beweist es ja am besten. Im übrigen darf ich hierzu nur den Kollegen D r. Mende zitieren, hoffentlich ist es noch gültig.
1m „General-Anzeiger" vom 23. März dieses Jahres wird aus einer Versammlung, in der er offenbar gesprochen hat, berichtet:
Man solle sich jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der Sowjetzone ohnehin bereits ein so hohes Maß „freiwilligen Zwanges" bei der Einstellung in die Volksarmee sichtbar sei, daß die formelle Einführung der Wehrpflicht in der Sowjetzone nur die Legalisierung eines bereits bestehenden Zustandes bedeuten würde.