Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dieser Beratung tritt die Erörterung der Frage, welches Wehrsystem, welche Wehrverfassung dem Aufbau der Bundeswehr zugrunde gelegt werden soll, eine Frage, die die Öffentlichkeit in der letzten Zeit bereits sehr lebhaft beschäftigt hat,
in ihr entscheidendes Stadium. — Selbstverständlich „Gott sei Dank"! Ich begrüße das auch sehr, und deshalb erwähne ich es eigens hier.
Die außerordentliche soziologische, staatspolitische und wohl auch außenpolitische Bedeutung des Problems Wehrpflicht oder Berufsarmee läßt eine sehr gründliche Behandlung des Gesetzentwurfs in den zuständigen Ausschüssen erhoffen und als wünschenswert erscheinen. Dies um so mehr, als mit der grundsätzlichen Frage nach der Wehrpflicht auch andere Fragen unlösbar verbunden sind, etwa die nach der Dauer der Grundausbildung, der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und die Frage nach der Organisation des Wehrersatzwesens, um zunächst einmal nur die wichtigsten Fragen zu erwähnen.
Nun sagt man uns, der Zeitpunkt der heutigen Debatte sei vielleicht etwas unglücklich gewählt. An sich ist das nichts Neues, und es gehört eigentlich schon zu dem Zeremoniell der ersten Lesungen von Wehrgesetzen, daß der Zeitpunkt als inopportun angesprochen wird.
Ich denke jetzt auch an gewisse Argumente, die draußen in der Öffentlichkeit gebracht worden sind. Da hat man uns gefragt, ob es denn richtig sei,
gerade jetzt, während der Londoner Abrüstungsgespräche, mit diesen Dingen im Parlament zu kommen. Nun, der Stand der Londoner Verhandlungen — ich möchte ausdrücklich sagen: der bedauerliche Stand dieser Verhandlungen — unterstreicht dieses Argument wohl in keiner Weise. Kein Volk der Erde würde glücklicher sein als das deutsche, wenn es zu einer wirklichen globalen Abrüstung käme. Aber angesichts des wahrhaft entmutigenden Standes der Londoner Gespräche müssen wir uns doch ernstlich die Frage vorlegen, ob wir durch einen Verzicht auf die heutige Beratung dem Gedanken der Abrüstung überhaupt einen Dienst oder nicht einen Bärendienst erweisen würden und ob auch durch eine derartige Vorleistung von unserer Seite der Osten nicht viel mehr ermuntert würde, an seiner bisherigen Taktik zermürbender und ergebnisloser Verhandlungen festzuhalten.
— Allerdings.
Was die angebliche Erschwerung der Wiedervereinigung durch den vorliegenden Gesetzenwurf angeht, so glaube ich, meine Damen und Herren, mich in diesem Augenblick damit begnügen zu können, einmal an den Charakter und die Art des Ostberliner Mai-Aufmarsches zu Anfang dieser Woche zu erinnern.
Die Bilder müssen doch geradezu den Gedanken aufzwingen, ob es nicht höchste Zeit ist,
auch auf dem Gebiete der Verteidigung der Bundesrepublik das nachzuholen, was nötig wäre, um den anderen die Wiedervereinigung in ihrem Sinn und damit die Verewigung der gegenwärtigen Zustände in der Zone und ihre Ausbreitung auf die Bundesrepublik zu erschweren.
Ich habe gerade heute morgen einen Bericht von drüben bekommen, der in sehr interessanter Form nachweist, daß beispielsweise — —
— Ja, er ist gerade vor einer Stunde gekommen, Herr Eschmann. Ich bin so menschenfreundlich, daß ich ihn Ihnen sofort darbieten will. Da wird gesagt — —
— Ich bleibe nicht beim Manuskript; ich bleibe hier bei dem, was ich zu sagen habe. Es wird auch Sie interessieren, Herr Wehner, man sollte an solchen Tatsachen nicht achtlos vorbeigehen: daß beispielsweise die taktische und strategische Ausbildung der Volkspolizeioffiziere nur zu etwa 10 % auf die Verteidigung der Zone, dagegen zu 90 % auf partisanenartige Angriffsaktionen ausgerichtet ist. Das sind Dinge, die wir doch immerhin, sagen wir einmal, zur Kenntnis nehmen sollten. Man kann ja dazu stehen, wie man will, das ist jedem unbenommen, aber man soll sie doch wenigstens nicht lächerlich finden.
— Sie haben sich aber doch den Anschein gegeben.
Ehe ich mich nun mit dem Grundproblem der Wehrpflicht befasse, gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, zwei Vorbemerkungen zur meines Erachtens notwendigen Klarstellung. Erstens: In der öffentlichen Diskussion dieses Problems ist seit längerem u. a. die Meinung vertreten worden, es gebe zur Frage Wehrpflicht oder Berufsheer noch eine weitere Alternative, nämlich die Milizverfassung. Ich muß diese Auffassung ganz entschieden zurückweisen, da sie geeignet ist, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen.
Keine Regierung in einem demokratischen Lande wäre in der Lage, auch nur einen Mann zum Milizdienst einzuberufen, wenn ihr die Voraussetzungen dazu — nämlich in der Form eines Wehrpflichtgesetzes — fehlten.
Die Milizverfassung steht in keinem Gegensatz zur Wehrpflicht, sondern sie ist eine Form dieser Wehrpflicht. Am klarsten und entschiedensten hat das meines Wissens Karl Kautsky mit den Worten ausgesprochen, — —
— Ja, wir interessieren uns auch für die Äußerungen aus Ihrem Lager. Oder ist es etwa Ihr Monopol, Kautsky zu zitieren?
— Habe ich schon getan! Wenn Sie so viel von ihm
gelesen haben wie ich, können Sie zufrieden sein.
Also Karl Kautsky sagt folgendes:
Milizsystem bedeutet nicht Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht, sondern sie wird durch es erst voll in Kraft gesetzt.
Die Frage „Stehendes Heer oder Miliz" ist also keine grundsätzliche Entscheidung, sondern eine Frage der wirtschaftlichen, sozialen, aber vor allem verteidigungspolitischen Zweckmäßigkeit. Nun, über die verteidigungspolitische, die militärische Zweckmäßigkeit hat der Herr Minister bereits einiges gesagt. Sollte Sie das nicht überzeugt haben, so ist, glaube ich, mein Freund Berendsen gern bereit und in der Lage, Ihnen dazu noch einige zusätzliche fachliche Argumente zu liefern. Ich hoffe ja, daß Sie nicht nur für politische, sondern auch für fachliche Argumente ansprechbar sind.
Eine zweite Bemerkung! Die Frage nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ist eng gekoppelt mit der Frage nach der personellen Höchststärke der Bundeswehr. Der Herr Minister hat die Auffassung der Bundesregierung auch in dieser Frage bereits dargelegt. Ich verzichte darauf, seine Argumente, die ich übrigens voll anerkenne, zu wiederholen; ich möchte ihnen nur eines hinzufügen.
Meine Damen und Herren, es ist die objektive historische Wahrheit, daß im Gesamtverlauf der Beratungen der Pariser Verträge in diesem Hohen Hause von keiner Seite irgendwann ernstlich bestritten wurde, daß die Verpflichtungen aus dem EVG-Vertrag auf die Pariser Verträge zu übertragen seien.
Im Gegenteil, die Zahl 500 000 und die zu ihrer
Aufbringung erforderliche Einführung der allge-
meinen Wehrpflicht bildeten die ganz selbstverständliche Diskussionsgrundlage, und das zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamten Protokolle der Verhandlungen. Um diese Behauptungen zu beweisen, gestatten Sie mir, Herr Präsident, einiges aus den damaligen Verhandlungen kurz zu zitieren. Zum Beispiel in der ersten Lesung, und zwar in der 62. Sitzung dieses Hohen Hauses vom 16. Dezember 1954, befaßte sich mein Freund Rasner mit der finanziellen Seite des Verteidigungsbeitrags, und er wurde von dem Kollegen Ritzel mit der Frage unterbrochen: „Sind Sie in der Lage, die Behauptung zu entkräften, daß die Erstausstattung der 500 000-Mann-Armee der Bundesrepublik mindestens ca. 60 Milliarden DM kosten wird? Ja oder nein?" — Ich will hier nicht auf die Finanzfrage eingehen, sondern ich habe das zitiert, um Ihnen zu beweisen, daß auch der Kollege Ritzel bei seiner Frage doch von der ganz selbstverständlichen Annahme ausging,
daß es sich hier um 500 000 Mann handelte.
— Einen Augenblick! Wenn Sie das als kindisch empfinden, dann hören Sie doch bitte weiter zu, was ich als nächstes zitiere.