Die „Welt der Arbeit" schrieb vor gar nicht langer Zeit:
Nie hätten Länder wie die Schweiz und Schweden — —
— Ich wollte es nur meinen Kollegen sagen. Sie wissen es wahrscheinlich, Herr Wehner. Aber in diesen Zusammenhang paßt es gut hinein.
— Ja, weil immer von gewissen Herren, auch Kollegen, gesagt wird: die Opfer sind zu groß. Ich darf in Ihre Erinnerung zurückrufen, Herr Wehner, was die „Welt der Arbeit" schreibt:
Nie hätten Länder wie die Schweiz und Schweden sich gegen ihre viel größeren und mächtigeren Nachbarn behaupten und den Weltkrieg von ihren Grenzen fernhalten können, wenn sie nicht Opfer gebracht hätten, die, gemessen an ihrer Volkszahl, geradezu gewaltig sind. Sie mußten verhältnismäßig viel mehr Menschen zum Waffendienst einberufen und größere Steuern für die bewaffnete Erhaltung des Friedens aufbringen als manche kriegführende Staaten.
— Die „Welt der Arbeit" schreibt das! —
Das muß einmal ausgesprochen werden angesichts der vielen verschwommenen Vorstellungen, die darüber in Deutschland im Umlauf sind.
Bis dahin die „Welt der Arbeit".
Ein anderer Gesichtspunkt, der für die allgemeine Wehrpflicht spricht, ist, daß sie die Jugend eines Volkes zum Dienst an der Gemeinschaft erzieht, neben Elternhaus, Schule, politischen Parteien, Kirche usw., und daß die militärische Dienstzeit jedem Einzelnen zum Bewußtsein bringt, daß er ein wichtiges Glied in der Gemeinschaft seines Volkes ist, zu der alle Söhne des Vaterlandes rechnen, wes Berufes und Standes sie auch sein mögen. Wenn auch dieses Argument allzuoft von kriegslüsternen Führern gebraucht worden und darum etwas anrüchig geworden ist, so ganz leichtfertig kann man es nach meiner Ansicht doch nicht von der Hand weisen; denn die allgemeine Wehrpflicht ist und bleibt eine feststehende Aufgabe, die ebenso in unserer räumlichen Lage wie in der politischen Situation begründet liegt. In einer Demokratie gehört auch der Dienst mit der Waffe zu den Bürgerpflichten.
Wer eine Verteidigung bejaht, muß fordern, daß sie an der Zonengrenze, und zwar operativ, wirksam wird. Das heißt selbstverständlich, daß die Truppen in Ausbildung, Bewaffnung, Ausrüstung,
Organisation, innerer Festigkeit usw. dem möglichen Gegner gleichwertig sein müssen, wobei man sich bekanntlich unter „Front" nicht nur die vorderste Linie der kämpfenden Truppe vorstellen darf, sondern einen mehr oder weniger tiefen Raum.
Nun sind die englischen, amerikanischen und französischen Divisionen an der europäischen Landfront — das ist allgemein bekannt und wurde heute auch von Herrn Erler schon erwähnt — zur Zeit nicht in der Lage, die in Mitteleuropa stationierten starken sowjetischen Truppen aufzuwiegen. Die deutschen Streitkräfte, auf eine berufsmäßige Spezialistenausbildung beschränkt, wie es von einigen Befürwortern auch in diesem Hause ausgesprochen wird, würden nach meiner Auffassung von der sowjetischen Dampfwalze einfach überrollt. Wir brauchen deshalb im eigenen Interesse zahlenmäßig größere, ausgebildete Reserven für die eigentliche Kampftruppe, denn nur die stete Auffüllung der durch Verluste entstandenen Lücken gewährleistet die Kampfkraft der bestehenden operativen Verbände, und diese wiederum können nur schöpfen aus einem Reservoir ausgebildeter Männer. Auch ist die Frage der Reserven wichtig, weil von deren Zahl und Art abhängt, ob das militärische Risiko kleiner oder größer ist. Wenn aber unsere Wehrpolitik einen Sinn haben soll, dann doch wohl nur den, diese militärischen Risiken so klein wie nur irgend möglich zu halten, so daß der Westen keine militärische Intervention aus dem Osten zu fürchten braucht und daß er deshalb, weil er diese nicht zu fürchten braucht, eine elastische und geschmeidigere Politik treiben kann.
Ich muß dabei als Begründung für die allgemeine Wehrpflicht, für die meine politischen Freunde sich aussprechen, noch anführen, daß ein Heerwesen sich nur trägt, wenn der gesamten Bürgerschaft das Bewußtsein der Landesverteidigung als demokratische Haltung eigen ist. Dazu gehören dann auch die gründliche Erhaltung und Vervollkommnung der militärischen Kenntnisse, zumal die Technik morgen womöglich die Mittel aufhebt, die sie heute geschaffen hat. Es handelt sich also demnach nicht, wie ein Sprecher vom Bundesrat hierzu ausführte, „um eine kurz und schnell ausgebildete Quantität im Gegensatz zu einer geübten und länger dienenden Qualität," womit er ein mehr oder weniger kleines Berufsheer begründen wollte. Ich glaube vorerst jedenfalls nicht, daß die atomare und nukleare Waffenführung mit ihrer flächenzerstörenden Wirkung die Bewegung in der operativen Führung im Verteidigungsfalle auf die Dauer zum Stillstand bringen wird und damit den Krieg etwa erstarren läßt. Das muß hier einmal ausgesprochen werden, meine Damen und Herren, wenn Sie mir diesen kleinen Ausflug in die strategische Konzeption gestatten. Im Gegenteil, Überraschung und Beweglichkeit gewinnen ebenso an Bedeutung wie die Zusammenfassung und Auflockerung der operierenden Verbände auf beiden Seiten.
Deshalb erscheinen mir Festungszonen und Festungsgürtel unrealistisch. An der Grenze zu errichtende Sperrgürtel allein oder eine Atommauer im Zusammenwirken mit festem, durchgehend auszubauendem Verteidigungssystem, die unser Land schützen sollen, müssen, um lebensfähig und damit verteidigungswert zu sein und zu bleiben, gerade mit hervorragend ausgebildeten und in Übung gehaltenen Männern in allen Funktionen dienstlicher Verrichtungen usw. besetzt sein, da sie ja doch
eben auf Ersatz zur Auffüllung irgendwelcher Verluste für lange Zeit nicht rechnen können, gar nicht zu sprechen von den Möglichkeiten etwa der vertikalen Umfassung.
In diesen von mir nur bruchstückweise angeführten Fällen kommt man eben mit einem kleinen Stamm voll ausgebildeter und in Übung gehaltener Männer, um die sich dann eine Art Miliz ohne Wehrpflicht scharen soll, mit Sicherheit nicht aus. Fast alle Befürworter eines kleinen Berufsheeres und diejenigen, die nur einen Kern von Berufssoldaten wollen — die Angaben der Befürworter schwanken hier zwischen 50 und 70 Prozent —, zu denen dann noch eine entsprechende Zahl kürzer oder länger dienender Freiwilliger oder Dienstpflichtiger bis zur Höhe des von uns als militärisch notwendig errechneten Beitrages stoßen sollen, übersehen doch nach meiner Auffassung, daß eine derartige Verteidigungsorganisation nicht das wirkungsvolle Instrument sein kann, das wir im Lichte der fortschreitenden und sehr schnell sich entwickelnden Technik aller Art brauchen, auch gerade in unserer bedrohten Lage. Sie übersehen, daß wir heutzutage trotz zahlreicher Maschinenwaffen und starker und weiter fortschreitender Technisierung der Waffen oder, wenn Sie so wollen, des Krieges unendlich viele Waffen und Geräte haben, die Mehrmannwaffen und Mehrmanngeräte sind, zu deren Bedienung ein Austausch der Besatzungen notwendig ist.
Dabei kompliziert sich auch die Ausbildung erheblich. Der Einwand, daß man heute wegen der Technisierung des Krieges — ich darf es mal so nennen — mit wesentlich weniger Menschen die gleiche militärische Wirksamkeit erreichen könne, hält der Wirklichkeit nicht stand. Ebenso ist ein Vergleich mit dem Seecktschen Hunderttausendmannheer, das so oft als Beispiel herangezogen wird, nicht stichhaltig, weil es sich damals um die Heranbildung des Unteroffiziers- und Offiziersnachwuchses handelte. Dazu hatte man damals zehn bis zwölf Jahre Zeit; das war die Zeit, die der einzelne Mann oder jedenfalls die Masse des Hunderttausendmannheeres zu dienen hatte.
Ich warne dringend — hier werden mir alle die Herren, die davon eine Ahnung haben, recht geben — vor geringwertig ausgebildeten Soldaten. Gerade die Erfahrungen im, wie wir hoffen, letzten Kriege mit ungeschulten und nur notdürftig ausdeutige und eine noch eindringlichere Mahnung sein.
Ich stütze mich bei der Bejahung der allgemeinen Wehrpflicht nicht darauf, daß unsere Vertragspartner und auch die UdSSR die allgemeine Wehrpflicht haben und daß, wie wir hören, Luxemburg diese starke Marine mit zwölfmonatiger Dienstzeit hat. Was in diesen Ländern erforderlich oder zweckmäßig ist, braucht es bei uns nicht zu sein. Ebenso kann das Umgekehrte der Fall sein. Wir können zur Führung eines Abwehrkampfes, wenn er uns aufgezwungen wird, in unserer geographischen und militärisch vorerst noch bedrohten Lage auf die allgemeine Wehrpflicht nicht verzichten. Militärische Zweckmäßigkeit und deren Erfordernisse machen sie zur staatspolitischen Notwendigkeit.
Die Frage, ob die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft werden sollte oder nicht, ist auch außerhalb der Bundesrepublik gestellt, z. B. in England. Aber die Frage scheint auch dort noch nicht entscheidungsreif zu sein, sonst hätte man die Wehrpflicht bereits abgeschafft. Ich halte es nicht nur für falsch, sondern für staatspolitisch wenig verantwortungsbewußt, sie bei uns mit dem Hinweis auf derartige Erwägungen in anderen Ländern nicht einführen zu wollen; denn wir sollten nicht experimentieren. Würden wir uns jetzt von der Absicht abbringen lassen, so hätte das bestimmte Folgen. Die Erfahrungen lehren nämlich, daß wir ohne die allgemeine Wehrpflicht nicht auskommen. Die Erfahrungen lehren auch — ich darf das schon vorweg bemerken —, daß wir mit einer zwölfmonatigen Dienstzeit — wenn das Hohe Haus sie beschließen sollte — nicht auskommen. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht oder die Erhöhung der zwölfmonatigen Dienstzeit würde für jede Regierung, gleichgültig, wie sie sich zusammensetzt, ein innerpolitisches Wagnis sein und außenpolitisch als Bedrohung ausgelegt werden. Ich persönlich habe keinen Zweifel, daß die Sowjetunion das mit Sicherheit tun würde.
Erlauben Sie, die Frage der Miliz, die von Herrn Kollegen Erler auch behandelt worden ist — sie gehört ja auch dazu —, noch einmal anzuschneiden. Über diese Frage sind sich nicht alle Befürworter dieses Gedankens — auch einige sogenannte Wehrexperten — ganz klar. Wir kennen in bezug auf die zeitliche Ableistung der Wehrpflicht zwei Grundformen, die uns Herr Erler auch erklärt hat. Einmal kann die Ableistung der Wehrpflicht geschlossen und zum anderen in mehreren mehr oder weniger langen getrennten Ausbildungsabschnitten erfolgen. Wir sind es gewöhnt, die eine Art als Kaderwehrmacht und die andere als Miliz- oder Krümpersystem anzusprechen. Während die Kaderwehrmacht mit ihren Wehrpflichtigen auf eine möglichst große Anzahl sofort griffbereiter aktiver Einheiten Wert legt, ist eine Milizwehrmacht nach einer gewissen Anlaufzeit womöglich die militantere Verwirklichung des Wehrpflichtgedankens, da sie jeden Staatsbürger ständig auf einem gleichbleibenden Ausbildungsstand zu halten sucht und infolgedessen im Verteidigungsfalle wiederaufzufrischende Reserven nicht kennt.
Nun wird die Miliz oft mit kurzer Ausbildungsdauer identifiziert. Herr Erler hat das schon richtiggestellt. Das primäre Begriffsmerkmal einer Miliz ist aber weniger die Dauer des Wehrdienstes als das Fehlen von Kadern, also eines langdienenden Stammpersonals. Kaderwehrmacht und Miliz — Herr Erler hat es etwa ähnlich ausgedrückt; ich darf es noch einmal wiederholen — sind zwei Erscheinungsformen derselben Wehrverfassung, nämlich der allgemeinen Wehrpflicht. Miliz ohne allgemeine Wehrpflicht ist nicht denkbar. Der Unterschied der letzteren zur Kaderwehrmacht liegt nur in der Erfassungsart und dem Aufbau der Truppe. Die Alternative lautet also nicht Miliz oder allgemeine Wehrpflicht, sondern Wehrpflicht in einem stehenden Heer oder in einer Art Miliz.
Im übrigen haben die Befürworter einer reinen oder einer stärkeren Miliz neben einem kleinen Berufsheer die Schwäche ihrer Wehrkonstruktion, meine ich, selbst erkannt; denn sie glauben alle, nicht auf das Vorhandensein eines stehenden Heeres von Freiwilligen verzichten zu können. Ich halte es im übrigen nicht nur für falsch, sondern auch für gefährlich, zu behaupten, man benötige für eine Art Miliz eine sehr viel kürzere Ausbildungszeit.
Dann wird weiter von den Befürwortern gesagt, die Aufgaben der Miliz seien so vielfältiger Art, daß dann der Begriff militärischer Tauglichkeit sehr viel weitergehend gefaßt werden könne und sich etwa mit dem der Arbeitstauglichkeit decken würde. Meine Damen und Herren, dann darf ich doch einmal fragen: Welchen Soldaten brauchen wir? Zuerst einmal den gut ausgebildeten, den modern bewaffneten und ausgerüsteten, den selbstsicheren, von seinem eigenen kämpferischen Wert überzeugten Einzelkämpfer. Darüber sollte es doch wohl gar keinen Zweifel geben.
Demnach ist einzusehen, daß das gesamte Land eine dieser Notwendigkeit angemessene Verteidigungsorganisation braucht. Die Frage ist doch, ob der mit zahlreichen Unterbrechungen, also auf Abstottern dienende Milizsoldat den gleichen kämpferischen Wert erreicht wie der Soldat und Kämpfer des stehenden Heeres.
Es ist auch nicht einzusehen, woher bei einem solchen System das Führer- und Unterführerkorps für diese Miliz herkommen soll. Der in jedem Fall begrenzt vorhandene hochwertige militärische Führernachwuchs, der doch aus den schwachen Jahrgängen nicht in riesiger Zahl vorhanden sein kann — wir wissen das ja —, befände sich im Falle einer Zweiteilung konzentriert im Berufsheer und wäre nicht gleichmäßig über die gesamte Wehrkraft verteilt, wie dies wünschenswert und sogar notwendig ist.
Die für die Heimatverteidigung an allen wesentlichen Produktionsstätten und Verkehrspunkten aufzustellenden beweglichen, gut bewaffneten, von auszubauenden Stützpunkten operierenden Verbände — so stellen die Betreffenden es sich doch vor — tragen zwar, da sie im Wohnbereich aufgestellt werden müssen — es gibt ja keine Mobilisierung in diesem Sinne mehr — das typische Merkmal der Miliz; aber es fragt sich eben doch, ob für diese harten Aufgaben, die der bodenständigen Verteidigung möglicherweise gestellt werden, eine Kurzausbildung genügt. Ich bin der Meinung, daß Ausrüstung, Bewaffnung und Ausbildung der Milizverbände den gleichen taktischen und operativen Grundsätzen entsprechen müssen wie die der operativen Verbände; denn sonst würden sie verlorene Haufen darstellen, die überhaupt nicht kämpfen können.
Die Vorstellung von einer bodenständigen Heimatwehr, die nur örtliche Kampfaufgaben zu lösen hat, ist eben meist der Unklarheit über den Aufgabenkreis der sogenannten zivilen Verteidigung entsprungen. Auch diese Verteidigungszellen, meine Damen und Herren — ich muß das einmal aussprechen —, müssen in militärischer Hinsicht autark und auch stark genug sein, um aus eigener Kraft Fallschirmlandungen, Sabotageakte und alles Mögliche, was man sich denken und noch ersinnen kann, selbständig abzuschlagen. Insofern ist deutlich, daß die Wehrpflicht für sie nicht überholt ist; denn jeder Ort der Heimat kann zum Kriegsschauplatz werden. Eine mangelhafte Ausbildung würde außerdem das Selbstvertrauen der Truppe zerstören; sie ist sinnlos und sie ist zwecklos. Das weiß jeder Soldat und wird mir wohl beipflichten. Die notwendige Schulung ist nur in einer gründlichen und längeren Ausbildung zu erreichen, wofür in einem Milizsystem eben kein Raum ist.
Der Vergleich mit der Schweiz wird so oft und gern angeführt, um die Miliz zu verteidigen. Der
Vergleich ist nicht treffend, da die Schweiz nach allen Nachrichten, die sehr viele Damen und Herren auch in diesem Hause haben, ihr System ja doch umbaut. Es paßt auch nicht in die Landschaft und zu ihr. Was wollen denn die Schweizer? Die Eidgenossen wollen den Durchmarsch durch ihr Land verhindern, dem die Natur den Charakter einer Bergfestung verliehen hat. In der Schweiz ist der Gedanke der Heimatverteidigung tief im Denken des gesamten Volkes verwurzelt. Das staatsbürgerliche Bewußtsein der Wehrpflicht als Bürgerpflicht ist dort eine politische Realität, mit der jeder Politiker rechnen kann. Dennoch hat sich das Fundament der stehenden Kräfte im Offizier- und Unteroffizierkorps in der Schweiz seit Kriegsende wesentlich vergrößert. Luftwaffe, Panzerverbände, Nachrichteneinheiten, Artillerie- und Festungstruppen haben ihren aktiven Rahmen wesentlich verstärkt. Nicht allein die sprichwörtliche Sparsamkeit — die Schweiz will teure Waffen und teures Gerät und Spezialausrüstung nicht in die Hände kurz ausgebildeter Milizsoldaten legen —, sondern der Wunsch nach blitzschneller Handlungs- und Einsatzfähigkeit im Verteidigungsfall zwangen die Schweiz zu einem Abweichen von der traditionellen Linie der Heimatverteidigung. Wie jetzt militärische schweizerische Fachleute betonen, und zwar gerade in der letzten Zeit, ist dieser Entwicklungsprozeß noch gar nicht abgeschlossen, sondern befindet sich im Anfangsstadium. Einige der Damen und Herren werden es wissen, in einer Schweizer Dienstanweisung steht drin: „Die Schweiz hat keine Armee, die Schweiz ist eine Armee."
Aber auch die Ausbildung der notwendigen Reserven für die operativen Verbände, für die uns bekanntlich 12 bis 14 Jahrgänge fehlen, weil sie nicht ausgebildet werden durften, ist nur durch die allgemeine Wehrpflicht zu erreichen. Das Stammpersonal für die bodenständige Verteidigung den ehemaligen Soldaten zu entnehmen — ich glaube, dieser Gedanke spielt auch beim Bundesverteidigungsministerium noch eine erhebliche Rolle —, ist nach meiner Auffassung nur ein sehr schwacher Ersatz, da die wenigen ehemaligen Soldaten, die hierfür noch in Frage kommen, erst umgeschult werden müssen.
Ein kleineres Berufsheer, das über keine ausreichenden Reserven verfügt, müßte zwangsläufig im Verteidigungsfall starke personelle Kräfte als Ausbildungskorps für dieses Ersatzheer, oder wie Sie es nennen wollen, abgeben. Das ist nicht möglich, weil nicht durchführbar, ohne die Einsatzbereitschaft der aktiven Verteidigungskräfte ganz wesentlich zu gefährden. Kein militärischer Führer kann verantworten, mit kurz ausgebildeten Milizverbänden einem qualitativ hochwertig ausgebildeten Gegner mit drei- oder mehrjähriger Dienstzeit, wie es ostwärts des Eisernen Vorhanges der Fall ist, gegenüberzutreten.
Da Mobilisierung und Vervollkommnung der einmal erlernten Ausbildung künftig im Verteidigungsfall wahrscheinlich wegfallen, da es eben keine Mobilmachung alten Stils mehr gibt, komme ich zu dem Schluß, daß die Landesverteidigung in ihrer Organisationsform die allgemeine Wehrpflicht benötigt. Die bodenständige Verteidigung braucht im Frieden zum Teil nur aus Kadern und Geräteeinheiten zu bestehen. Aber im Ernstfall muß sie in der kürzesten Zeit auf den vollen Stand gebracht werden, was nur auf Grund eines dezentralisierten Mobilmachungssystems erfolgen
kann. Wenn die Landesverteidigung wirklich einen Sinn haben soll — das ist doch der Sinn aller Maßnahmen, über die wir in den nächsten Monaten beraten werden —, müssen Reserven vorhanden sein sowohl für die operativen Verbände wie für die bodenständigen Verteidigungstruppen. Deshalb ist die allgemeine Wehrpflicht eine staatspolitische Notwendigkeit, auch im gegenwärtigen Zeitpunkt.
Ich darf nun noch auf ein Argument eingehen, das auch angeführt wird. Ein kleineres Berufsheer ist doch wesentlich teurer. Abgesehen von der Frage, ob wir damit auskommen oder nicht — der Bundesverteidigungsminister hat ja begründet, daß wir mit einem Geburtsjahrgang ohnehin nicht auskommen, da die Wehrtauglichkeit infolge kriegsbedingter gesundheitlicher Störungen zu niedrig ist —, sind die Kosten für ein Berufsheer ganz wesentlich höher, auch durch die Verteuerung der Waffen, des Geräts und der Kraftfahrzeuge, die nicht in entsprechenden wirtschaftlichen Losgrößen hergestellt werden könnten. Hinzu kommen wesentlich höhere Versorgungskosten, um diesen Beruf einigermaßen attraktiv zu machen; denn wenn er nicht attraktiv ist, werden sich nicht so viel Freiwillige melden, wie militärisch benötigt werden. Schließlich ist auch die Unterbringung der ausgedienten länger dienenden Soldaten aller Grade ein finanzielles und soziales Problem.
Erlauben Sie mir noch, auf die Dauer der Wehrpflicht einzugehen, obwohl vieles in meinen vorangegangenen Ausführungen bereits daran angeklungen hat. Die Dauer der Wehrpflicht, über die wir im einzelnen in den Ausschußberatungen lange und sehr sorgfältig sprechen müssen und auch wollen — die Begriffe sind hier etwas verschwommen, wie ich nach dem, was ich draußen höre und lese, den Eindruck habe —, sollte nur nach ihrer waffentechnischen Notwendigkeit geprüft werden, gründlich und nüchtern, ohne romantisierende militärische Vorstellungen und frei von allen traditionsgebundenen, manchmal langen Zöpfen, aber auch ohne Sentiments und Ressentiments gegenüber der entstehenden Bundeswehr und ihren ehrlich bemühten Kräften. Hierbei muß der psychologischen und wirtschaftlichen Problematik Rechnung getragen werden.
Folgendes darf vielleicht als Richtlinie gelten, wenn ich dazu meinen Beitrag beisteuern darf.
Der Bedarf an Spezialisten für die von mir angeführten Mehrmannwaffen und das Mehrmanngerät kann durch das Berufsheer allein nicht gedeckt werden. Wegen des geradezu beängstigenden Tauglichkeitsgrades bleibt nur ein sehr mageres Polster als Freiwilligenreserve. Damit kommen wir für den als militärisch notwendig erkannten Beitrag eben nicht aus. Die kürzere Ausbildungszeit kostet auch wegen der notwendigen Ausbildung im gefechtsmäßigen Schießen und der für die Verbandsausbildung notwendigen Verlegung der Truppen aus den Standorten und Biwaklagern usw. auf die Übungsplätze wesentlich mehr Zeit und viel, viel mehr Geld. Eine kürzere Ausbildungszeit könnte nur durch häufigere Reservistenübungen ausgeglichen werden. Es scheint mir jedoch für den einzelnen, der dieses Opfer zu bringen hat, sehr viel beschwerlicher und berufsstörender, wenn er jährlich mehrere Wochen wieder üben soll.
Ich meine, es sollte ein vernünftiges Abwägen möglich und das richtige Maß zu finden sein zwischen den Erfordernissen der Wirtschaft einerseits und den Notwendigkeiten der Landesverteidigung andererseits. Das kann man ja, wie es auch von der Bundesregierung bisher schon vorgesehen ist, durch zeitlich begrenzte Frei- oder Zurückstellungen machen. Es sind ja auch, wie Sie wissen, vier Termine für die jährlichen Einstellungen vorgesehen, wodurch eine gewisse Auflockerung erfolgt.
Aber auch hier gilt das, was ich an anderer Stelle sagte. Würde man die beabsichtige Dienstdauer jetzt verkürzen — nehmen wir einmal an, das Hohe Haus beschlösse in einigen Wochen oder Monaten, sie auf 12 Monate festzusetzen —, die Erfahrung aber zeigen — ich bin dessen gewiß! —, daß eine längere Dienstdauer notwendig ist, so würde die gesetzliche Heraufsetzung ein innerpolitisches Wagnis für jede Regierung — ich sage: j e d e Regierung — sein und könnte außenpolitisch als Bedrohung aufgefaßt werden. Die Sowjets würden das mit Sicherheit tun.
Ich komme zum Schluß meiner Ausführungen. Erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, nur noch folgendes zu sagen:
Wer Deutschland wieder zusammenführen will, das heißt, wer die Einheit und Freiheit Gesamtdeutschlands in Frieden und Sicherheit will, mußte von Anfang an grundsätzlich wissen, daß Verhandlungen zur Regelung internationaler Fragen mit dem totalitären Regime des Bolschewismus — und zwar des militanten Bolschewismus — nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn derjenige oder diejenigen, die diese Verhandlungen zu führen haben, ebenso stark, wenn nicht noch stärker sind als der militante Bolschewismus. Ich führe dazu als Beweis auch den Art. 133 der bolschewistischen Verfassung an, der da lautet:
Die Verteidigung des Vaterlandes ist heilige Pflicht eines jeden Bürgers der UdSSR. Vaterlandsverrat, Verletzung des Fahneneides, Überlaufen zum Feinde, Schädigung der militärischen Macht des Staates . . .
— es wird noch viel angeführt —
werden als schwerste Vergehen mit aller Strenge des Gesetzes geahndet.
Ich meine, auch bei uns hier, auch in der Zwiespältigkeit, in der sich unser Vaterland befindet, ist die allgemeine Wehrpflicht eine feststehende Aufgabe, die ebenso in unserer räumlichen Lage wie in der politischen Situation unseres Landes begründet ist. Wenn die Wehrpolitik überhaupt einen Sinn hat, dann den, daß die militärischen Risiken so klein wie überhaupt nur irgend möglich gehalten werden. Ich darf vielleicht — das muß erlaubt sein — in diesem Zusammenhang an die Worte Kurt Schumachers erinnern, der gesagt hat:
Wir sind bereit, wieder Waffen zu tragen, wenn die westlichen Alliierten mit uns das gleiche Risiko und die gleiche Chance der Abwehr eines sowjetischen Angriffs übernehmen . . . und bei einem eventuellen Angriff aus dem Osten sofort zur offensiven Defensive übergegangen werden kann.
Ich bin der Auffassung, daß unsere Verbündeten ihr Wort in der Vorbereitung der gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen gehalten haben. Jetzt haben wir verantwortungsbewußt zu handeln, um den wirksamsten militärischen Schutz zu schaffen, den die Bundesrepublik braucht. Die Stärke des deutschen Beitrages ist sicherlich kein willkürliches Ergebnis, sondern sie fußt auf den strate-
gischen Plänen der NATO und den Prüfungen, Erwägungen usw., was wir selbst für die Verteidigung unseres Landes unter vernünftiger Abwägung der verschiedensten Faktoren beitragen können, um die für alle gleichermaßen gefährdende Verteidigungslücke in Europa zu schließen, die gerade für uns Deutsche so lebensgefährlich ist.
Aus diesem Grunde sollte die allgemeine Wehrpflicht auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt beschlossen werden. Ihre Verwirklichung dauert, wie mehrfach ausgeführt, ohnehin noch einige Zeit. Die politisch gesetzten Termine der Bundesregierung und auch die des Bundesverteidigungsministeriums erscheinen auch mir etwas optimistisch und bedürfen deshalb nochmals der Überprüfung. In diesem Sinne bleibt ja Zeit und Gelegenheit, daß die Sowjets innerhalb dieser Frist im Rahmen der laufenden Abrüstungsgespräche auf die Probe zu stellen sind, welche Gegenleistung sie für unseren Beitrag zur allgemeinen Abrüstung zu geben bereit sind.
Aber ich muß hinzufügen: eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, daß die innere Auseinandersetzung um die Frage des deutschen Verteidigungsbeitrages sich in der Öffentlichkeit entschärft — und das ist für eine sachliche Diskussion unbedingt notwendig —, ist, daß die Bundesregierung und das Bundesverteidigungsministerium die militärische Wirksamkeit ihrer Pläne sichtbar unter Beweis stellen. Denn die überwiegende Mehrzahl der männlichen Bevölkerung Deutschlands hat in einem, zu einem großen Teil sogar in zwei Weltkriegen ausreichende Erfahrungen gemacht und besitzt einen sehr wachen Sinn dafür, was militärisch zweckmäßig ist und was nicht. Deshalb sind alle Experimente, auch die psychologischer Art, völlig verfehlt.
Die Lösung ergibt sich nicht aus einem Klima des Mißtrauens und der Furcht, sondern wir sollten den Willen zu gemeinsamen Maßnahmen an den Anfang setzen, um den militärisch wirksamen Schutz zu erlangen, den die Bundesrepublik braucht. Wenn außerdem dann der Staat und alle wirklich demokratischen Parteien eindeutig zu ihren Soldaten stehen, wird für die junge Generation der Augenblick gekommen sein, aus innerer Überzeugung dieser staatsbürgerlichen Verpflichtung nachzukommen. Denn ich behaupte, daß die deutsche Jugend unserer Generation sicherlich nicht schlechter ist, als ihre Vorgänger es waren denn sie hat ihre Verantwortung dem Staat gegenüber beim Wiederaufbau mehrfach bewiesen. Weshalb sollte sie bei der Erfüllung dieser staatsbürgerlichen Verpflichtung versagen? Helfen wir ihr damit, daß sie diese schweren Opfer, die sie zu tragen hat, tragen kann.
— Herr Wehner, der Zwischenruf „Sinnlose Opfer" ist doch nicht passend. Sie sind doch selbst aus vielen Gründen, die ich schon angeführt habe, für die Landesverteidigung eingetreten.
Wegen der vorgeschrittenen Zeit glaubte ich, meine Damen und Herren, mich auf diese beiden Hauptprobleme beschränken zu sollen, ohne damit sagen zu wollen, daß nicht noch weitere wesentliche Bestimmungen der Erörterung wert wären.
Wir werden in den Ausschußberatungen dazu Stellung nehmen und stimmen der Überweisung an den Ausschuß zu.