Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der dem Hohen Hause vorliegende Entwurf eines Wehrpflichtgesetzes soll die Rechtsgrundlage für die Ausweitung der zunächst nur aus Freiwilligen bestehenden Bundeswehr zu einem Wehrpflichtheer bilden. Das Recht des Bundes, die allgemeine Wehrpflicht zu begründen, ist durch die Neufassung des Art. 73 Nr. 1 des Grundgesetzes vom März 1954 verfassungskräftig festgestellt. Die Grundgesetzänderungen vom März dieses Jahres gehen ebenfalls von dem Gedanken aus, daß die Bundeswehr ein Wehrpflichtheer sein wird. Das zugleich mit den Grundgesetzänderungen vom März dieses Jahres verabschiedete Soldatengesetz setzt, wie der Bericht des Ausschusses für Verteidigung zu § 1 ausdrücklich hervorhebt, voraus, daß die Bundeswehr auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht aufgebaut wird. Der vorliegende Entwurf schließt sich somit unmittelbar an das Soldatengesetz an. Er erfüllt den Willen des Gesetzgebers; denn nach § 58 Abs. 1 des Soldatengesetzes sind die Begründung der Wehrpflicht, die Heranziehung der Wehrpflichtigen zum Wehrdienst und die Beendigung des Wehrdienstes durch Gesetz zu regeln.
Die Bundesregierung hat immer die Auffassung vertreten, daß der deutsche militärische Verteidigungsbeitrag nur auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht zu leisten sei. Ich darf ihren Standpunkt anläßlich der ersten Beratung des Wehrpflichtgesetzes noch einmal begründen.
Der NATO-Vertrag sieht in seinem Art. 3 vor, daß die Mitglieder einzeln und gemeinsam durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung die eigene und gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe erhalten und entwickeln. Damit ist die Bundesregierung verpflichtet, Streitkräfte aufzustellen, die den militärischen Anstrengungen der anderen Mitgliedstaaten zur Hebung der gemeinsamen Abwehrkraft entsprechen.
Der Umfang und die Charakteristik dieser Streitkräfte werden behandelt in der Schlußakte der Londoner Neunmächtekonferenz vom 3. Oktober 1954, die ihrerseits Bezug nimmt auf den EVG-Vertrag mit seinen Zusatzprotokollen. Sie trägt die Unterschriften der Außenminister der beteiligten Staaten.
Zur Frage der Verbindlichkeit der Londoner Schlußakte stellt der Schriftliche Bericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, Bundestagsdrucksache 1200, in Teil I a „Generalbericht des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten" ausdrücklich fest:
Die Bundesregierung hält eine Ratifizierung der Londoner Schlußakte nicht für erforderlich. Der Auswärtige Ausschuß schloß sich dieser Auffassung an, die davon ausgeht, daß von allen in London zustande gekommenen Vereinbarungen und Erklärungen nur eine, die aber nicht ratifikationsbedürftig ist, nicht Gegenstand der Pariser Verträge wurde.
Dieser Bericht stellte in den Sitzungen des Deutschen Bundestages vom 24. bis 27. Februar 1955 die Grundlage der zweiten und dritten Beratung des Pariser Vertragswerkes dar. Er blieb unwidersprochen. Damit hat sich der Deutsche Bundestag zum Inhalt der Londoner Schlußakte bekannt.
Nach Anlage 5 dieser Schlußakte in Verbindung mit dem EVG-Vertrag und seinen Zusatzprotokollen besteht für die Bundesrepublik die Verpflichtung, einen Verteidigungsbeitrag zu leisten, der seinem Umfang und seiner allgemeinen Charakteristik nach dem für die EVG festgesetzten Beitrag entsprechen muß. Damit ist der Umfang der deutschen Streitkräfte auf eine Stärke von rund 500 000 Mann auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht festgesetzt. Der zu leistende Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik in Höhe von rund 500 000 Mann liegt an der unteren Grenze des Zumutbaren. Er beträgt nur 1% unserer Gesamtbevölkerung,
während die anderen Mitgliedstaaten mit Ausnahme Italiens einen höheren Anteil leisten. Ich darf Ihnen die wesentlichen Zahlen einmal bekanntgeben. Der Anteil beträgt in Frankreich 2 % der Bevölkerung, in Amerika 1,8 %, in Belgien 1,65 %, in Großbritannien 1,5 %, in den Niederlanden 1,2 %, in Italien 0,6 %, im Durchschnitt also 1,4 %. Bei den Ostblockstaaten beträgt der Durchschnitt sogar 2%.
Bei der heutigen strategischen Weltlage können die deutschen Verteidigungsanstrengungen — und das sei hier nochmals ausdrücklich festgestellt —niemals isoliert betrachtet werden. Sie dürfen vielmehr im Hinblick auf das militärische Potential des Sowjetblocks nur im Rahmen der NATO gewertet werden. Die Zielsetzung dieser Verteidigungsgemeinschaft ist rein defensiv. Alle von ihr durchgeführten militärischen Anstrengungen haben nur das Ziel, die den demokratischen Prinzipien der Mitgliedstaaten entsprechende freundschaftliche Zusammenarbeit auf politischem, kulturellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet zu
schützen und zu sichern. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die gemeinsamen Streitkräfte der NATO daher eine Stärke haben, die auf jeden möglichen Angreifer abschreckend wirkt; mit anderen Worten: das für den Angreifer entstehende Risiko muß derart groß sein, daß er keine Gewißheit sieht, seine Ziele zu erreichen.
Auch bei Berücksichtigung der Tatsache, daß gerade in den letzten Jahren die Entwicklung neuer Kampfmittel, insbesondere der Atomwaffen, ungeahnt große Fortschritte gemacht hat, erscheint die beabsichtigte Stärke der Bundeswehr nicht zu hoch. Der in der Öffentlichkeit neuerdings aufkommenden Meinung, infolge dieser Entwicklung würden Streitkräfte, die auf der allgemeinen Wehrpflicht basieren, überflüssig und seien durch kleinere Berufsheere zu ersetzen, muß widersprochen werden. Die Folgerung aus der Atomsituation darf nicht lauten: kleinere Heere, sondern: viele kleine Verbände, nicht: starke Verminderung, sondern: Auflockerung und Beweglichkeit. Die Richtigkeit dieser Auffassung wird dadurch bestätigt, daß das Vorhandensein der Atomwaffen in anderen Ländern weder in Ost noch in West zu einer nennenswerten Verringerung der Kampftruppen geführt hat.
Die Beantwortung der Frage, welche Wege zweckmäßigerweise beschritten werden müssen, um ein Friedensheer in dem notwendigen Umfang ständig zu unterhalten, ergibt sich aus folgenden Überlegungen. Die Stärke des Sowjetblocks und seine Expansionsbestrebungen schaffen die dauernde Gefahr eines Angriffs. Er könnte unerwartet und mit großer Schnelligkeit erfolgen. Um einen solchen Angriff zu einem wirklichen Risiko für den Angreifer zu machen, müssen auf seiten der NATO ständig einsatzbereite Streitkräfte in genügender Zahl vorhanden sein. Die zur Zeit noch bestehende Unterlegenheit des Westens in Europa gegen mögliche Operationen großer sowjetischer Verbände wird durch die Aufstellung des deutschen Kontingents in ein für die Verteidigung tragbares Gleichgewicht umgewandelt. Hierbei ist zu bemerken, daß über die 500 000 Mann hinaus auf die Dauer gesehen eine möglichst große Zahl voll und vielseitig ausgebildeter Reserven vorhanden sein muß, um die mobilen Verbände auch nach Ausfällen rasch mit vollwertigen Soldaten auffüllen zu können. Diese Reserven werden ebenfalls für die Verbände benötigt, die im Verteidigungsfall als Unterstützungs- und Versorgungstruppenteile sowie innerhalb der bodenständigen Verteidigung aufzustellen sind. Diese Forderungen sind durch ein Berufsheer nicht zu erfüllen.
Von der vorgesehenen Zahl von 500 000 Mann sollen rund 230 000 Soldaten sein, die auf Grund freiwilliger Verpflichtung dienen, nämlich Offiziere, Unteroffiziere und länger dienende Mannschaften. Hierfür haben sich bis zum 31. März 1956 210 000 Bewerber gemeldet, darunter rund 55 000 Ungediente. Von den Bewerbern fällt, wie das bisherige Einberufungsverfahren ergeben hat, ein Teil aus den verschiedensten Gründen aus. Es wird also nicht leicht sein, die vorgesehene Zahl von 230 000 Freiwilligen zu bekommen. Die gesamte Bundeswehr von 500 000 Mann aus Freiwilligen aufzubauen ist unmöglich. Aber selbst wenn es möglich wäre, würden aus diesem langdienenden Berufsheer keine ausreichenden und einsatzfähigen Reserven erwachsen.
In der Öffentlichkeit ist in letzter Zeit vielfach die Frage diskutiert worden, ob man nicht die gleiche Wirkung wie mit einem stehenden Wehrpflichtheer erzielen könne, wenn man etwa die Hälfte der Streitkräfte aus Verbänden von Berufssoldaten bilden, für die andere Hälfte jedoch Miliztruppenteile aufstellen würde.
Hierzu ist folgendes zu sagen. Die Miliz steht nicht im Gegensatz zur Wehrpflicht, sie stellt gegenüber dem stehenden Wehrpflichtheer nur eine andere Form der Wehrpflicht dar. Ihre besonderen Merkmale sind: kurze Grundausbildung und häufige Übungen.
Die Miliz hatte in früheren Zeiten unter besonderen Verhältnissen des Geländes und der geographischen Lage Aussicht, mit Erfolg kämpfen zu können. Bei den heutigen taktischen und technischen Anforderungen des modernen Krieges wird diese Aussicht immer geringer. Das gilt besonders, wenn der mögliche Gegner über modern ausgerüstete Panzerarmeen mit starker Luftwaffenunterstützung verfügt.
Die besonderen Nachteile der Miliz sind folgende. Sie beschränkt wegen der kurzen Ausbildung die Art der zu verwendenden Waffen und Ausrüstung und damit die Einsatzmöglichkeit ihrer Verbände. Sie erlaubt keine ausreichende Verbandsausbildung, und sie ist nicht sofort einsatzbereit, da Truppenteile nur während der kurzen Zeit der jährlichen Übung bestehen.
Für die Bundesrepublik ist daher das Milizsystem für alle diejenigen Verbände der Bundeswehr, die jederzeit einsatzbereit den Schutz der Bundesrepublik sicherzustellen haben, nicht anwendbar. Vielmehr ist die Aufstellung eines stehenden Wehrpflichtheeres eine zwingende militärische Notwendigkeit.
Aber auch von staatspolitischen Gesichtspunkten her betrachtet, gebietet sich die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Die Verteidigung und ihre Vorbereitung im Frieden ist Aufgabe des ganzen Volkes, wie es die großen Reformer Scharnhorst und Gneisenau einst in anderer Lage ebenso gefordert haben wie Carnot, Jaurès und August Bebel. Der deutsche Bürger wird immer für sein demokratisches Recht eintreten und damit auch seine demokratischen Pflichten bei allen Notständen bejahen. Auf ihnen beruht die Lebensfähigkeit der Demokratie, deren „legitimes Kind" die Wehrpflicht ist.
Die Sicherung der Freiheit kommt jedem Staatsbürger zugute. Deshalb müssen hierfür von jedem einzelnen persönliche Opfer gebracht werden. Die allgemeine Wehrpflicht verteilt diese Lasten gleichmäßig in echt demokratischer Weise. Der Bürger würde sonst allzu leicht in einem Berufsheer die Institution sehen, der allein die Sicherung seiner Freiheit obliegt. Damit ist die Gefahr einer Selbsttäuschung gegeben, die den tatsächlichen Gegebenheiten und Erfordernissen des Verteidigungsfalls nicht Rechnung trägt. Der Widerstandswille der Bevölkerung gegen jeden möglichen Angreifer würde hierdurch nicht wachgehalten werden.
Ein Berufsheer steht immer in der Gefahr, ein „Staat im Staate" zu werden. Das militärische Eigenleben, wenn es nicht durch den laufenden Zustrom von Wehrpflichtigen aufgelockert wird, kann trotz allen guten Willens der politischen und militärischen Führung und der parlamentarischen Kon-
trolle zu einer Isolierung der Soldaten führen. Der unmittelbare Kontakt zum ganzen Volk, der allein die auch militärisch notwendige Eingliederung der Armee in die staatliche Gesamtordnung bewirkt, wird nur dann im wünschenswerten und notwendigen Ausmaß vorhanden sein, wenn alle Männer verpflichtet sind, in dieser Armee zu dienen.
Für die eingehenden Beratungen des Ihnen vorliegenden Entwurfs in den Ausschüssen hat die Bundesregierung Ihnen eine ausführliche Denkschrift über die von mir behandelten Fragen als Arbeitsunterlage zur Verfügung gestellt.
In der Frage der Dauer des Grundwehrdienstes hält die Bundesregierung, wie Ihnen aus der Stellungnahme zu den Änderungsvorschlägen des Bundesrats bekannt ist, an ihrer bisherigen Auffassung fest. Ein 18monatiger Grundwehrdienst ist nicht nur notwendig, um die unerläßlichen Ausbildungsziele zu erreichen, er ist ebenso notwendig, um die Bundeswehr auf die erforderliche Stärke zu bringen und die Leistungen der Bundesrepublik in einem angemessenen Verhältnis zu den Leistungen der anderen Staaten zu halten.
Der Grundwehrdienst in den anderen NATO-Staaten dauert, wie ich Ihnen an einigen Zahlen darlegen werde, 18 Monate und sogar noch länger. Er beträgt in Belgien 18, in Dänemark 16, in Frankreich 18, in Griechenland von 24 bis 30, in Großbritannien 24, in Italien 18 und bei der Marine bis zu 24, in den Niederlanden 18, in Portugal 18 bis 24, in der Türkei 24 und in den USA 24 Monate.
Wenn wir verpflichtet sind, einen Verteidigungsbeitrag zur NATO zu leisten, der nach seiner allgemeinen Charakteristik und nach seinem Umfang auch dem entsprechen muß, was vergleichsweise andere Staaten leisten, so mutet die Bundesregierung mit ihrer Forderung auf einen 18monatigen Grundwehrdienst den deutschen Soldaten nicht mehr zu, als den Soldaten in den Staaten der NATO zugemutet wird, ja, sie bleibt sogar mit dieser Dienstzeit unter der Dienstzeit, die in England und in Amerika geleistet werden muß. In den Ostblockstaaten, in der Sowjetunion und in den Satellitenstaaten, beträgt die Dienstzeit im Heer 24 Monate, in der Luftwaffe 36 Monate und bei der Marine in der Sowjetunion sogar 48 Monate.
Ich habe Ihnen mit Absicht diese kurze Übersicht gegeben — Sie finden sie ausführlich in der vorhin erwähnten Denkschrift —, weil ich Ihnen zeigen wollte, daß im NATO-Bereich die Dienstzeit überwiegend 18 und 24 Monate beträgt und daß die Dauer der Dienstpflicht in den Ostblockstaaten im Durchschnitt noch weit über die der NATO-Staaten hinausgeht.
Ich darf nunmehr im einzelnen zu dem Ihnen vorliegenden Entwurf des Wehrpflichtgesetzes folgendes bemerken. Für die Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht ist eine Fülle von Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen, die der Entwurf unter dem Begriff Wehrersatzwesen zusammenfaßt. Für ihre Durchführung ist eine von der Sache her gebotene Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern vorgesehen. Die Erfassung wird von den Ländern durchzuführen sein, denn bei ihr handelt es sich vor allem um eine Auswertung der bei den Meldebehörden der allgemeinen inneren Verwaltung bereits vorhandenen Unterlagen. Ebenso wird die gerichtliche Kontrolle der im Wehrersatzwesen ergehenden Verwaltungsakte bei den Verwaltungsgerichten der Länder liegen.
Die anderen Aufgaben des Wehrersatzwesens — das sind vor allem die Musterung, die Verteilung der Wehrpflichtigen auf die verschiedenen Truppenteile, die Einberufung, die Lenkung des Einsatzes der Reservisten und die Wehrüberwachung — sollen einer bundeseigenen, dem Verteidigungsminister unterstehenden Wehrersatzverwaltung zugewiesen werden. Diese Wehrersatzverwaltung wird jedoch besonders bei der Musterung gehalten sein, eng mit den Organen der allgemeinen inneren Verwaltung zusammenzuarbeiten. Die Hauptaufgaben des Wehrersatzwesens sind vor allem deswegen auf eine besondere Wehrersatzverwaltung zu übertragen, weil das Wehrersatzwesen untrennbar mit der Verteidigungsaufgabe des Bundes verbunden ist und daher auch nur der Bund die Verantwortung für eine ordnungsgemäße Durchführung übernehmen und tragen kann. Nur wenn Truppe und Ersatzorganisation durch eine gemeinsame Spitze verbunden sind, läßt sich das für eine ordnungsgemäße personelle Ergänzung der Bundeswehr erforderliche Zusammenwirken beider sicherstellen, und nur so können die besonders für die Mobilmachungsvorbereitungen und den Verteidigungsfall unerläßlichen zentralen Weisungen erteilt und in kürzester Frist durchgesetzt werden.
Trotz ihrer Unterstellung unter den Verteidigungsminister soll aber die Wehrersatzverwaltung nicht bloßes Rekrutierungsorgan der Bundeswehr sein. Sie hat nicht allein ein bestimmtes Kontingent zu erbringen, sondern sie wird Mittler zwischen militärischem und zivilem Bereich sein. Das kommt schon darin zum Ausdruck, daß sie im Gegensatz zu früher eine zivile Verwaltung sein und daß sie ferner organisatorisch neben den Verbänden der Bundeswehr stehen wird. Hierdurch wird zugleich dem von der Bundesregierung schon immer vertretenen Grundgedanken Rechnung getragen, daß der eigentliche militärische Bereich erst am Kasernentor beginnt.
Um eine Handhabe für den Kräfteausgleich zwischen dem Bedarf der Bundeswehr und dem Bedarf des zivilen Bereichs zu schaffen, übernimmt der Gesetzentwurf die aus der Vergangenheit bekannte Unabkömmlich-Stellung. Durch diese Unabkömmlich-Stellung werden Wehrpflichtige von der Einberufung ausgenommen, wenn ihr Verbleiben am Arbeitsplatz wichtiger ist, als daß sie ihrer Wehrpflicht genügen. Sie wird im Gegensatz zu früher bereits im Frieden praktische Bedeutung gewinnen und sich ausnahmsweise auch auf den Grundwehrdienst erstrecken können.
Neben der Unabkömmlich-Stellung wird durch eine vernünftige Handhabung der Einberufungen zum Grundwehrdienst und besonders auch zu den Wehrübungen dafür zu sorgen sein, daß unnötige Belastungen des zivilen Bereichs vermieden werden.
Erhebliches Gewicht legt der Entwurf auf diejenigen Vorschriften, die sich mit der Frage befassen, in welcher Weise bei der Entscheidung über die Einberufung, besonders zum Grundwehrdienst, die persönlichen Belange des Einzelnen zu berücksichtigen sind. Hier soll elastisch verfahren und nicht immer starr an einem bestimmten Einberufungsalter festgehalten werden. Ein gewisser Spielraum ist schon dadurch gegeben, daß es in Zukunft nicht nur einen, sondern vier Einberufungstermine im
Jahre geben wird, sowie auch dadurch, daß der Wehrpflichtige vorzeitig dienen kann. Darüber hinaus sind Zurückstellungen aus persönlichen Gründen vorgesehen, wenn die Einberufung für den Wehrpflichtigen eine besondere Härte bedeuten würde. Solche Härten können in sozialen Gründen liegen. Hier soll vermieden werden, daß durch die Einberufung sozial nicht tragbare Verhältnisse eintreten. Von beträchtlicher Bedeutung sind die Zurückstellungsvorschriften für solche Wehrpflichtige, die noch in der Berufsausbildung stehen. Es liegt nicht nur im Interesse dieser Wehrpflichtigen selbst, sondern es besteht auch ein erhebliches öffentliches Anliegen, in diesen Fällen die Ausbildung nicht zur Unzeit zu unterbrechen, sondern den Wehrdienst zeitlich möglichst sinnvoll mit dem Ausbildungsgang abzustimmen.
Meine Damen und Herren, es wird mir besonders daran liegen, für eine sinnvolle Handhabung der diesbezüglichen Vorschriften durch die damit befaßten Musterungs- und Einberufungsorgane zu sorgen.
Eine wichtige Aufgabe des Gesetzentwurfs ist es u. a., im Hinblick darauf, daß es in den letzten elf Jahren keine Wehrpflicht gegeben hat, mit Übergangsbestimmungen sinnvoll an die Vergangenheit anzuknüpfen. Hierher rührt die Bestimmung, daß Wehrpflichtige, die bereits früher Soldat waren, in der Bundeswehr nur noch zu Wehrübungen, nicht aber zum Grundwehrdienst herangezogen werden sollen. Hierher gehört ferner die Bestimmung, daß Angehörige der sogenannten weißen Jahrgänge, also alle diejenigen, die zwar früher nicht mehr Soldat waren, aber inzwischen über das gewöhnliche Einberufungsalter hinausgewachsen sind, nicht mehr zum vollen achtzehnmonatigen, sondern nur noch zu einem verkürzten halbjährigen Grundwehrdienst einberufen werden können. Nach einer weiteren Übergangsvorschrift wird allen Wehrpflichtigen, die früher schon Soldat waren, für den Fall der Einberufung zur Bundeswehr der in der früheren Wehrmacht erhaltene Dienstgrad zugesichert. Auch eine weitere Vorschrift des Gesetzes ist bedeutsam, wonach in Anlehnung an den Außenseiterparagraphen des Bundesbeamtengesetzes Wehrpflichtigen, die sich außerhalb der früheren Wehrmacht oder der Bundeswehr die erforderliche militärische Eignung für einen höheren Dienstgrad erworben haben, dieser Dienstgrad übertragen werden kann. In diesem Zusammenhang darf auf einen kürzlich im Verteidigungsausschuß schon erörterten Gedanken hingewiesen werden, der zwar im Gesetzentwurf noch keinen Niederschlag gefunden hat, der aber doch entwicklungsfähig sein dürfte. Das ist der Gedanke des zeitweiligen Dienstgrades als eines an eine bestimmte Verwendung geknüpften Ranges. Die Möglichkeiten, die sich dabei für den sinnvollen Einsatz wertvoller Fachkräfte auftun, verdienen es, ernsthaft durchdacht zu werden.
Der Gesetzentwurf beschreitet in vielen Punkten neue Wege. Hierher gehört in erster Linie das Bekenntnis des Entwurfs zur Rechtsstaatlichkeit. Der Entwurf sieht für die einzelnen Wehrpflichtigen einen weit umfassenderen Rechtsschutz gegen die Verwaltungsakte der Wehrersatzverwaltung vor als die entsprechenden Gesetze aller anderen Staaten. Schon die erste Verwaltungsentscheidung, in der über die Verfügbarkeit des Wehrpflichtigen entschieden wird, wird nicht bei der Wehrersatzbehörde allein liegen, sondern bei einem Ausschuß, der in seiner ausdrücklich ausgesprochenen Unabhängigkeit von Einzelweisungen fast eine gerichtsähnliche Stellung hat. Gegen die Entscheidung dieses Ausschusses wird dem Wehrpflichtigen der Widerspruch an einen weiteren Ausschuß zustehen. Dessen Entscheidung wiederum wird er mit der Klage — und zwar der Klage an das allgemeine Verwaltungsgericht — angreifen dürfen. Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts endlich wird die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zugelassen werden können. Die Vielzahl der dem Wehrpflichtigen eröffneten Rechtsmittel birgt zwar, vor allem für den Anfang, die Gefahr eines Mißbrauchs, der die planmäßige Ergänzung der Bundeswehr gefährden könnte. Das aber wird um der Rechtsstaatlichkeit willen, die auch im militärischen Bereich keine Einbuße erfahren soll, in Kauf genommen werden müssen.
In seinem Abschnitt III beschäftigt sich der Gesetzentwurf mit dem Recht der Kriegsdienstverweigerung. Er begibt sich damit auf rechtliches Neuland. Deutsche Gesetzesvorbilder, auf die zurückgegriffen werden könnte, gibt es nicht. Die Fragen der Kriegsdienstverweigerung sind in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit mit großer Leidenschaft erörtert worden. Dabei hat sich die Not, die vielen Menschen in Deutschland gerade diese Frage bereitet, mit großer Deutlichkeit gezeigt, und ich bin mir bewußt, daß ihre Behandlung eines außerordentlichen Ernstes bedarf.
Die Verfassung, deren Wortlaut „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden" Ihnen allen bekannt ist, gibt dem Bundesgesetzgeber auf, das Nähere durch Gesetz zu regeln. Diese Auflage der Verfassung wird im Rahmen des Wehrpflichtgesetzes gelöst werden müssen, denn das Recht der Kriegsdienstverweigerung gehört systematisch in den Bereich der vom Wehrpflichtgesetz zu behandelnden Fragen. Das Recht der Kriegsdienstverweigerung gewinnt erst in dem Augenblick praktische Bedeutung, in dem die allgemeine Wehrpflicht wirksam wird. Indem der Gesetzentwurf dieses Recht behandelt, befindet er sich u. a. in Übereinstimmung mit dem ausdrücklichen Wunsch der evangelischen Kirche, die dieserhalb an die Bundesregierung herangetreten war.
Die Vorschriften des Entwurfs über das Recht der Kriegsdienstverweigerung sind entstanden im Wissen um die Würde der Gewissensentscheidung und um die Schwere des Gewissenskonfliktes, den die Forderung, Wehrdienst zu leisten, für den einzelnen — auch für viele von denen, die den Wehrdienst bejahen — bedeutet. Bei ihrer Vorbereitung mußte aber auch die Verantwortung des Staates deutlich werden, der nicht durch eine unvertretbare Ausweitung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung seinen verfassungsmäßigen Bestand und seine Verteidigung in Gefahr bringen darf
und der darum bemüht sein muß, die staatsbürgerlichen Lasten gleichmäßig zu verteilen.
Der Entwurf bestimmt in legitimer Auslegung dessen, was Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes nach Sinn und Wortlaut bedeutet, den Inhalt des Rechts der Kriegsdienstverweigerung und bezeichnet seine Grenzen. Danach wird, wer aus tiefer Gewissensnot heraus den tödlichen Waffengebrauch, das Töten im Kriege um jeden Preis für verwerflich hält,
keinen Wehrdienst leisten müssen, und zwar auch
nicht im Frieden. Er wird an Stelle des Wehrdienstes einen Ersatzdienst leisten, dessen verfassungsrechtliche Zulässigkeit durch die Grundgesetzänderungen vom März dieses Jahres ausdrücklich
bestätigt ist. Andererseits wird unter dem Gesichtspunkt des Rechts der Kriegsdienstverweigerung
vom Wehrdienst nicht befreit werden können, wer
seine Weigerung, den von ihm geforderten Wehrdienst zu leisten, aus anderen Gründen als aus
einem grundsätzlichen Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit herleitet. Aus der jeweiligen Situation erwachsene politische oder persönliche Gründe rechtfertigen nach Auffassung der Bundesregierung den
Schutz des Art. 4 Abs. 3 des Grundgesetzes nicht.
— Das ist immer die Auffassung der Bundesregierung gewesen.
Der Entwurf will verhindern, daß das Recht der Kriegsdienstverweigerung zu einer mit seinem Wesen nicht zu vereinbarenden Handhabe innerpolitischer Gegnerschaft oder gar staatsfeindlicher Unterminierung der staatlichen Ordnung wird, und daher will dieser Entwurf kein Ausbrechen aus der demokratischen Verantwortungsbindung des einzelnen zulassen. Der Entwurf dient damit zugleich dem anderen Ziel, das echte Anliegen der Kriegsdienstverweigerer aus tiefster, auf das Töten im Kriege bezogener Gewissensnot nicht durch den Einlaß unkontrollierbarer Gelegenheits- und politischer Motive verfälschen zu lassen.
Zum Schluß noch ein Wort zu der Frage, die in der letzten Zeit verschiedentlich aufgeworfen worden ist: Weshalb wird der Entwurf zum Wehrpflichtgesetz von der Bundesregierung schon jetzt dem Hohen Hause vorgelegt? Erlauben Sie, meine Damen und Herren, mir dazu folgenden Hinweis.
Eine baldige Verabschiedung des vorliegenden Entwurfs ist schon aus technischen Gründen notwendig. Vergegenwärtigen Sie sich bitte, daß vor der Einberufung der ersten Wehrpflichtigen die Wehrersatzorganisation aufgebaut und arbeitsfähig sein muß. Die rechtlichen, haushaltsrechtlichen, persönlichen und sachlichen Voraussetzungen für den Aufbau der Dienststellen dieser Organisation können erst nach der Verabschiedung des Wehrpflichtgesetzes geschaffen werden. Das nimmt Zeit in Anspruch. Erst danach können die ersten Wehrpflichtigen einberufen werden, und bei der Durchführung der beabsichtigten quartalweisen Einziehung der Wehrpflichtigen kann die vorgesehene Gesamtstärke des Heeres erst etwa in anderthalb Jahren nach der Einziehung der ersten Wehrpflichtigen erreicht werden. Deshalb ist eine baldige Verabschiedung des Gesetzentwurfes ein dringendes Anliegen der Bundesregierung. Andernfalls würde die gesamte Aufstellung entsprechend später, vielleicht zu spät beendet sein.
— Daß Ihre Sicherheit ernstlich in Gefahr geriete und Sie eines Tages bös erwachen würden!
— Ich weiß, daß Sie das sogar lächerlich finden. Wir aber wissen um den Ernst unserer Verantwortung in dieser Frage.
Ich bin mir bewußt, daß der Gesetzentwurf schwerwiegende Probleme enthält, die eine sorgfältige und gewissenhafte Erörterung im Gesetzgebungsverfahren notwendig machen. Ich hoffe aber zuversichtlich, daß es gelingen wird, durch gemeinsames Bemühen zu gemeinsamen Auffassungen zu kommen.
Dieses Gesetz ist in der Reihe der Wehrgesetze, die Ihnen vorgelegen und die Sie behandelt haben, meine Damen und Herren, eines der bedeutendsten. Es ist das Gesetz, das die Verteidigungsverpflichtungen auf das ganze Volk verteilt. Es ist das Gesetz, das Sie seit langem erwartet haben.
Es ist das Gesetz, das die Frage behandelt, die bisher in Deutschland nicht strittig gewesen ist, seit wir über den deutschen Verteidigungsbeitrag sprechen. Es ist das Gesetz, meine Damen und Herren, das gewissermaßen den Schlußstein einfügt
und damit dem deutschen Volke, der deutschen Öffentlichkeit, unseren Bündnispartnern und der ganzen Welt zeigt, daß wir gewillt sind, unsere Freiheit und die rechtsstaatliche Ordnung Deutschlands zusammen mit den freien Völkern des Westens zu bewahren und zu sichern.