Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Väter des Grundgesetzes mit dem soeben vom Kollegen Merten angezogenen und dann in längerer Diskussion vor uns ausgebreiteten Grundrechtsartikel die absolute Souveränität des personalen Gewissens gegenüber dem Staat und seinen Befehlen jeder möglichen Art sicherzustellen wünschten. Ich darf deswegen, ohne dieses Plenum mit einem moraltheologischen oder moralphilosophischen Hörsaal zu verwechseln — das würde mir Ihr Befremden und Ihr Gelächter einbringen, meine Damen und Herren —, klar und deutlich ausführen, daß die christlich-demokratische und christlich-soziale Fraktion dieses Hauses dem Gesetz, unter dem sie angetreten ist und unter dem sie allein glaubwürdige und praktische Politik machen kann und will, untreu würde, wenn sie diese Souveränität des persönlichen Gewissens in der praktischen Gesetzgebung auch nur im geringsten verleugnen wollte.
Es ist nämlich so — und das hat wohl den Vätern des Grundgesetzes vorgeschwebt —, daß, wie ein sehr kluger und Ihnen weithin bekannter Theologe, der kürzlich verstorbene Domprediger von Straßburg, Pierre Lorsone aus der Gesellschaft Jesu, sehr treffend formuliert hat, die Person in ihrem Gewissen berechtigt ist, gegenüber allen Befehlen sozusagen den sittlichen Passierschein zu fordern. Das Gewissen ist die Instanz, die berechtigt ist, jedes positive Gesetz, jede positiv daraus sich ergebende Forderung unter dem absolut gültigen Maßstab der Sittennorm einer Prüfung zu unterziehen. Wenn anders, hätten wir jede moralische und bedeutungsvollerweise auch jede politische Berechtigung restlos verwirkt, uns auch nur verteidigungsmäßig gegen ein System zu wehren, das die absolute Mißachtung der personalen Würde und damit auch nur des Ansatzes und der Möglichkeit von Gewissensentscheidungen zum System erhoben hat.
Sie brauchen deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Fraktion der SPD, nicht zu befürchten, daß wir uns hier auch nur die geringste Lässigkeit erlauben würden, weil wir damit moralisch und politisch von der Bühne abzutreten gezwungen wären. Ich darf allerdings mit einem leichten Seitenblick auf den Herrn Bundesverteidigungsminister hinzufügen, daß — das soll einmal erwähnt werden — in einer Schrift, von der ich glaube annehmen zu dürfen, daß sie unter den Auspizien seines Hauses entstanden ist — ich denke an die reizvoll aufgemachte Schrift „Vom künftigen deutschen Soldaten" —, allerdings etwas frisch, fromm, fröhlich, frei Gedanken geäußert wurden, die vom Kollegen Merten soeben, ich möchte sagen, etwas forciert, aber doch mit einiger Sorge angesprochen wurden. Dort könnte man — das muß ich zugeben, Herr Kollege Merten — in einigen Passagen, die des philosophischen Tiefgangs nun wirklich entbehren, den Eindruck gewinnen, daß in dem genannten Grundgesetzartikel nur von einem Ausnahmerecht gesprochen ist. Das kann und darf und wird nicht sein, und ich fühle mich legitimiert, im Namen der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union dieses Hauses zu wiederholen: der Grundsatz der Gewissenssouveränität und der Freiheit, diesen Passierschein gegenüber allen staatlichen Gesetzen und Aktionen zu fordern, wird von uns hochgehalten.
Ich will aber auch nicht übersehen — und das scheint mir der Kollege Merten soeben etwas, ich will nicht sagen: verschleiert, sondern nicht recht deutlich angesprochen zu haben —, daß es sich hier doch um die Regelung einer echten Pflichten- und damit Gewissenskollision handelt.
Ich erinnere mich, daß z. B. der hochverehrte Kollege Schmid neulich unter Berufung
auf einen klassischen Autor — er hat uns dreimal raten lassen, wer es ist; es war Thomas von Aquin mit seinem Werk „De regimine principum" — uns in sehr lichtvoller Weise die Unterscheidung zwischen dem äußeren und inneren Gehorsam dargelegt hat, ein Spezialfall von Gewissenssouveränität, den damals abzuhandeln Anlaß war. Wir wollen doch nicht übersehen, daß das, was in der Debatte, der Sie sich sicher genau erinnern, der Kollege Schmid ausgeführt hat, absolut gilt: Legal zustande gekommene Gesetze, legale Regierungsmaßnahmen sind im Gehorsam zu respektieren. Denn darüber, glaube ich, gibt es im ganzen Hause überhaupt keine Diskussion: staatliche Hoheit, staatliche Autorität und ihr Korrelat, nicht der Untertanengehorsam, aber der echte, von Ihnen und uns durchaus personal verstandene Gehorsam, ist zu fordern und ist zu leisten. Wenn einmal, vielleicht nicht mit den Begründungen, die wir heute morgen gehört haben — mir haben nicht alle Begründungen gefallen; das gebe ich zu —, wenn mit plausiblen Begründungen und in Anbetracht dessen, was wir die Situation nennen, die mit in Betracht zu ziehenden Zu- und Umstände, als einer der Quellen der Moralität oder, um es mit der Terminologie von Professor Carlo Schmid zu nennen, als einer der fontes moralitatis, ein Gesetz legal zustande gekommen ist, ist es zu respektieren. Das gilt auch von einem Wehrgesetz. Und wenn etwa dieses Hohe Haus in politischer und sonstiger Würdigung des gesamten Weltzustandes, des Zustandes unserer Nation, der Notwendigkeit der Verteidigung und in Klärung aller praktischen Fragen zu einem bestimmten Entschluß kommt, dann ist zum mindesten der legale Gehorsam zu leisten.
— Er ist zu leisten, Herr Kollege!
— Sie gestatten, daß ich fortfahre. Ich werde versuchen, noch etwas zu differenzieren. Der Gehorsam ist zu leisten. Nun hat es den Vätern des Grundgesetzes zweifellos vorgeschwebt, daß in der heutigen Zeit alle jene schwierigen Theorien vom gerechten und ungerechten Krieg und von all den schwierigen Voraussetzungen, die für die Gerechtigkeit eines Krieges zu erbringen sind, vor allem der Verteidigungscharakter, unerhört schwierige Probleme ergeben und auch jedem einzelnen, wenn er Wert darauf legt, einen echten Gewissensspruch zu tun und ihm zu folgen, unerhörte Schwierigkeiten auferlegen. Wir kommen aber nicht daran vorbei, gerade in Würdigung der gesamten so schwer gewordenen Zu- und Umstände auf der einen Seite die Gehorsamsposition klar zu halten, wobei ich vom Begriff Gehorsam jede falsche Deutung fernhalten möchte. Auf der anderen Seite muß es möglich sein, daß auch in dieser noch so schwierigen und vielfach undurchsichtigen Situation der Gewissensspruch zum Zuge kommt. Ich habe keinerlei Hemmungen, für meine Person zu erklären, daß die Fassung des einschlägigen § 25, die Sie angesprochen haben, Herr Kollege Merten, wahrscheinlich im Ausschuß einer Differenzierung und Ausfeilung bedürftig ist. Ich habe den Freimut, ganz offen zu erklären, wo ich die Schwierigkeiten sehe. Hier steht: Wer sich aus grundsätzlicher religiöser oder sittlicher Überzeugung allgemein zur Gewaltlosigkeit bekennt". Das könnte — vielleicht interpretiere ich zu formal — insinuieren, daß nur
das geschützt wird, was ich einen sehr exzessiven Pazifismus nennen möchte. So, glaube ich, kann der Gesetzgeber es nicht gemeint haben, und es scheint auch nicht der Meinung meiner Fraktion zu entsprechen, wenn es von Ihnen prima vista so interpretiert würde. Denn damit würden wir nur eine ganz allgemein und radikal pazifistische Haltung schützen. Oder, wenn ich es einmal etwas burschikos sagen darf, es müßte zweckmäßigerweise jeder den Nachweis einer solchen Ablehnung des Waffendienstes dadurch erbringen, daß er sich vorher bei den Quäkern, bei den Zeugen Jehovas oder sonst irgendwo einschreiben läßt. Das kann und darf nicht der Sinn dieser Bestimmung sein. In dem Sinne müssen diese Bestimmungen distinguiert werden. Denn es ist durchaus möglich, Herr Minister, daß ich mich allgemein zum Waffendienst oder den Möglichkeiten des Waffendienstes bekenne, daß ich aber aus der heutigen Zeitsituation, aus einer vielleicht einmaligen und konkreten Situation — die in keiner Weise insinuieren würde, daß ich etwas Politisches damit meine, sondern aus der sich ergäbe, daß ich etwas konkret Ethisches damit meine — zu der Überzeugung komme, der Kriegsdienst ist für das eine oder andere Gewissen nicht annehmbar und nicht vollziehbar.
Ich glaube, damit ist das Wichtigste gesagt. Ich darf aber noch auf ein vielleicht naheliegendes psychologisches Mißverständnis eingehen. Es scheint vielen Mitgliedern dieses Hauses, quer durch alle Fraktionen, das beste zu sein, wenn man ganz klar den militärischen und politischen Kern jener Forderungen und jener Maßnahmen herausarbeitet, die in diesem Gesetz niedergelegt sind, wenn man also ideologisch nicht mehr, als zu beweisen ist, beweist. Das gilt z. B. für die ideologische Begründung der allgemeinen Wehrpflicht. Man kann in diesem Zusammenhang auch historisch durchaus der Meinung sein, daß etwa die Formel von dem „legitimen Kind der Demokratie" etwas zu wenig weit in die Geschichte zurückgeht. Ich sehe da manch einen in der Gesellschaft sehr schätzenswerter Jakobiner, die sonst gern auf sehr viel weitergehende demokratische Traditionen zurückgreifen. Es ist möglich, daß auf Grund einer in der Diskussion unterlaufenen Verkürzung mancher Argumente für diese Frage — das verstehe ich durchaus — eine schwierige Situation entstanden ist.
Lassen Sie mich zum Schluß, ohne daß ich Ihre Geduld allzu lange auf die Folter spannen will, noch etwas sagen, was in diesem Hause wiederholt angesprochen worden ist. Ich erinnere mich z. B. an Ausführungen, die vor längerer Zeit der geschätzte Kollege Arndt gemacht hat. Wie ernst wir diese Frage zu nehmen wünschen, Herr Kollege Merten, möchte ich Ihnen auch daran demonstrieren, daß ich sage, daß wir auch das, was man moralphilosophisch etwa die Lehre vom „error invincibilis" — dem Theologen sofort verständlich —, die Lehre vom „irrenden Gewissen" nennt, dem durch keinerlei Zuspruch beizukommen ist, ernst nehmen und daß wir auch diesem irrenden Gewissen, wenn es sich vor einem entsprechenden Gremium als Gewissen und nicht als Ausflucht für außerhalb der Gewissenssphäre liegende Absichten erweist, als dem souveränen Gewissen Anerkennung zollen. Wir werden bemüht sein, in den Ausschußberatungen eine Präzisierung, eine Differenzierung der hier zur Debatte stehenden Paragraphen vorzunehmen.
Ich darf schließen mit einem klassisch gewordenen Wort. Dieses Wort ist für uns besonders aktuell. Es darf ausgesprochen werden; denn wir schmeicheln uns nicht nur, sondern wir können verzeichnen, daß wir Christen der beiden großen Konfessionen in besonders großer Zahl in unseren Reihen haben. Es gibt zwischen dem evangelischen und dem katholischen Bekenntnis in diesen Fragen keinen grundsätzlichen Unterschied. Ich darf in Parenthese einen Artikel zurückweisen, der vor Jahren in einer bekannten Wochenzeitung stand und in dem ein etwas verwegener Leitartikler behauptete, ein Katholik oder ein orthodoxer Protestant könne überhaupt qua Katholik una Protestant kein Kriegsdienstverweigerer sein. Das ist natürlich weit übers Ziel hinausgeschossen. Ich darf Sie an den Ausspruch eines Mannes erinnern, der beiden Kirchen, wenn ich so sagen darf, angehört, einen der größten Männer des 19. Jahrhunderts, an den Kardinal Newman, von dem Sie wahrscheinlich wissen, daß man ihn einmal auf einem Bankett aufforderte, einen Trinkspruch auf den Papst auszubringen. Dieser außerordentlich distinguierte Abendländer, Europäer und Christ, Anglikaner und dann Katholik sagte: „Nun, wenn es angemessen sein sollte, auf Seine Heiligkeit einen Trinkspruch auszubringen, dann zuerst auf das Gewissen." Sie dürfen gewiß sein, daß wir uns eines solchen Mannes jederzeit gerne erinnern und daß wir seine Auffassung in den konkreten Beratungen zu praktizieren wünschen.