Rede von
Herbert
Schneider
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Kollege Mende, was Sie sagten, ist mir bekannt. Es wird aber auch Ihnen nicht unbekannt sein, daß die Weltpolitik ihrerseits inzwischen einige gewaltige Kehrtwendungen gemacht hat, die es erfordern, daß man sich entsprechend darauf einstellt.
Meine Damen und Herren! Wir haben das Glück im Unglück, daß wir mit unserer Wehrplanung ganz von vorn anfangen können. Da wäre es bedauerlich, wenn wir dort anfingen, wo wir 1945 aufgehört haben. Ich weiß, daß meine Fraktion mich deswegen tadeln wird, weil ich das so offen ausspreche. Aber wir sind hier, um unsere Meinung zu sagen; es steht also den Betreffenden, die sich hier vielleicht für die von der Regierung vorgelegte Konzeption des breiteren aussprechen wollen, frei, das zu tun. Ich halte es für meine Pflicht, obwohl der überwiegende Teil meiner Freunde anderer Auffassung ist als ich, einen Diskussionsbeitrag zu dem zu liefern, was wir hier alle zum Besten unseres Volkes tun wollen. Ich würde es bedauern, wenn ein solcher Beitrag, gleichviel, von welcher Seite er kommt, etwa dahin gedeutet würde, man wünsche nur, seinen eigenen Kopf durchzusetzen oder sich interessant zu machen oder was immer Sie denken. Ich glaube, diese Dinge können gar nicht tief genug ausdiskutiert werden, damit wir auf der Seite den Steuerzahler nicht strapazieren, auf der andern Seite den militärischen Notwendigkeiten bestmöglich gerecht werden.
Es wird von den Gegnern des Berufsheeres, also auch vom Bundesverteidigungsministerium, in die Debatte geworfen, die Kosten seien so immens, daß man sie nicht aufzubringen vermöge. Ein wirklicher Beweis für diese Behauptung, meine Damen und Herren, ist bis heute nicht angetreten worden. Dagegen stelle ich fest, daß man, wenn man in der jetzt vorgesehenen Form die 500 000 Mann aufstellen würde, gar nicht darum herumkäme, auch die Unterbringung dieser Bundeswehr praktisch im alten Stil vorzunehmen, was wiederum bedeuten würde, daß wir auf der einen Seite erhebliche materielle Unkosten hätten, auf der andern Seite den heutigen militärischen Gegebenheiten nicht gerecht würden.
Ich darf vielleicht daran erinnern — dieses Argument ist heute vormittag mit Recht schon vorgebracht worden —, daß seit der Nichtverabschiedung der EVG-Verträge doch einige Jahre vergangen sind und daß man damals, als man drauf und dran war, die EVG zu verabschieden, noch nicht, jedenfalls nicht in diesem Umfang, mit dem Atomzeitalter oder Atomkrieg rechnen konnte. Insonderheit möchte ich den Gegnern der sogenannten Territorialarmee oder Miliz entgegenhalten, daß diese Frage bis zum heutigen Tage mit der NATO ja überhaupt noch nicht erörtert worden ist, jedenfalls nicht so erörtert worden ist, daß sich die NATO ein abschließendes Urteil über eine solche Verteidigungsplanung gemacht hätte.
Kollege Berendsen, der sicherlich nachher auch noch das Wort nehmen wird, hat im Hinblick auf die Forderungen nach einer territorialen Wehr, nach der Miliz, kürzlich vom organisierten Massenmord gesprochen. Meine Damen und Herren, das war ein sehr böses Wort, das man, selbst wenn man vom krassen Gegenteil des Nutzens überzeugt ist, nicht gebrauchen sollte. Herr Kollege Berendsen, kein Mensch denkt etwa an den Volkssturm, wenn von territorialer Wehr gesprochen wird, und Sie werden mir zugeben, daß die Stimmen in allen Fraktionen, auch in Ihrer eigenen, sich doch zu mehren beginnen, die sich fragen, ob die Art und Weise, wie die militärische Planung gemacht wird, die richtige ist.
Meine Damen und Herren, wir haben doch zweierlei zu berücksichtigen. Die Lage der Bundesrepublik innerhalb der NATO ist ganz besonders exponiert, da wir die Anrainer des Eisernen Vorhanges sind. Wir müssen einmal die Interessen der NATO berücksichtigen. Wir müssen auf der andern Seite das Interesse der Bundesrepublik selbst berücksichtigen. Wir müssen die NATO-Verteidigung berücksichtigen, die eine bewegliche Verteidigung mit operativen Kräften ist, die ich in meinem Plan „Schwert" genannt habe, und wir müssen die Bundesrepublik selbst berücksichtigen, die einen Schutz gegen etwaige Schläge operativer Kräfte von der andern Seite hat, d. h. wir müssen in ständiger Bereitschaft an vorderster Stelle jedenfalls die territoriale Wehr haben, die sogenannte Schild-Verteidigung.
Wenn hier im Laufe der Debatte schon gesagt worden ist, daß man sich doch, nachdem das atomare Gleichgewicht hergestellt sei, mehr oder minder nur auf eine konventionelle Auseinandersetzung, vor der uns Gott natürlich auch behüten möge, einzurichten brauche, dann möchte ich nachdrücklichst den Standpunkt vertreten, daß wir uns, wenn wir schon eine Verteidigungsplanung machen, auch auf das Schlimmste einrichten sollten. um nachher nicht überrascht zu werden. Der Kollege Jaeger hat ganz recht vorhin hier gesagt, daß man sich die Freiheit etwas kosten lassen müsse, und es ist nun leider einmal ein Zeichen des 20. Jahrhunderts, daß auch die Freiheit und besonders die Freiheit so viel kostet wie nichts anderes. Ich glaube jedenfalls, daß, wenn es zu einer solchen atomaren Auseinandersetzung käme, ein Operieren etwa von Massenstreitkräften oder Massenheeren ein Unding wäre. ganz abgesehen davon, daß bei der 1000 km langen Front, die wir allein hier im Westen haben. ein Halten mit operativen Kräften allein nicht möglich sein würde, und abgesehen davon, daß eine atomare Auseinandersetzung auch einen Frontkrieg gar nicht zulassen würde, sondern daß es sich um einen Krieg im Raum handeln würde, und in diesem Raum wird er Mensch weitestgehend durch die Maschine ersetzt.
Ich glaube, daß wir uns zumindest hier treffen, daß wir also höchst technisiert und modernisiert sein müssen. daß Feuerkraft, Schnelligkeit, Wendigkeit, Beweglichkeit und Schutz des einzelnen Kämpfers ganz hervorragend sein müssen, daß auf der andern Seite die operative Wehr die Möglichkeit haben muß, an bestimmten Brennpunkten schnellstens konzentriert zu werden, um zum Schlage auszuholen, auch schnell wieder dezentralisiert zu werden, um an anderer Stelle wieder eingesetzt zu werden und dort zum Schlage auszuholen. — also die sogenannte Schwert-Verteidigung. Allerdings wäre dieses Austeilen von Schlägen nutzlos, wenn wir uns
nicht gleichzeitig darüber klar sind, daß wir eine ständige Verteidigung haben müssen. Diese Verteidigung muß verhindern, daß auch nur eine vorübergehende Preisgabe unseres Gebietes und damit unserer gesamten Bevölkerung erfolgt. Das wäre gleichbedeutend damit, daß die Substanz unseres Volkes und unseres Landes dahin wäre und daß praktisch zum Schluß, wenn überhaupt die Befreiung käme, nur noch ein Friedhof befreit werden könnte.
Es ist immer davon die Rede, daß auch das Bundesverteidigungsministerium einen zivilen Schutz vorsehe, daß insonderheit daran gedacht sei, Industrieanlagen entsprechend zu schützen. Ich persönlich bin fest der Überzeugung, daß, wenn es wirklich zu einer überraschenden atomaren Auseinandersetzung käme, die westdeutsche Industrie zum mindesten sehr schnell keine Rolle mehr spielen würde. Ich glaube dagegen, es ist notwendig, daß wir uns für einen solchen Fall rechtzeitig sichern, indem wir uns in Magazinen und atomsicheren Stellungen rechtzeitig all das bevorraten, und zwar für mindestens vier bis sechs Wochen, was die Bevölkerung zum Leben und was der Soldat zum Kämpfen braucht. Die Industrie in Westdeutschland wird sehr schnell außer Gefecht gesetzt sein, und es wird sogar sehr schwierig sein, etwa den Nachschub aus dem Westen zu erhalten. Auch da müssen wir uns auf eine gewisse, ich möchte einmal sagen, Durststrecke einstellen. Aber es wäre nicht zu verantworten, wenn wir bei der Aufstellung von Streitkräften, seien sie auch wie immer gegliedert, nicht gleichzeitig daran dächten, daß der Luftschutz und überhaupt der Schutz der Bevölkerung Hand in Hand mit der Aufstellung der Streitkräfte gehen muß.
Ich glaube, daß in dieser Hinsicht doch noch einige Versäumnisse zu beheben sind, die nicht nur damit behoben sein können, daß beispielsweise das Bundesluftschutzgesetz im Entwurf vorliegt. Es möge niemand kommen und sagen: Wenn Sie die Bevölkerung atomsicher unterbringen wollen, wenn Sie riesige Magazine, Verpflegungs- und Munitionslager anlegen wollen, dann wird das Summen verschlingen, die wir niemals aufbringen können. Gewiß können wir uns nicht mit der Schweiz vergleichen, die auch in ähnlicher Form vorgesorgt hat. Aber ich kann nur immer wieder daran erinnern: wenn es überhaupt einen Sinn haben soll, daß wir Milliarden ausgeben, um uns einen Schutz zu schaffen, dann muß er so sein, daß er absolut intakt ist, und zwar sowohl für die Soldaten einerseits wie für die zivile Bevölkerung auf der andern Seite.
Niemand wird behaupten wollen, daß im Falle eines Überraschungsangriffs mit atomaren oder thermonuklearen Waffen etwa noch große Evakuierungen der Bevölkerung möglich sein könnten; niemand wird behaupten können, daß noch große Truppenverschiebungen stattfinden können. Es würde ein Chaos sein, auf das man sich am besten dadurch einstellt, daß man eben von vornherein in der reinen Verteidigung eine Konzeption schafft, die vorsieht, daß die Bevölkerung praktisch in ihrem eigenen Gebiet sich zu verteidigen gezwungen ist, soweit sie zur Verteidigung herangezogen werden kann.
Ich glaube auch, daß der Kampf im Raum, daß überhaupt eine etwaige Auseinandersetzung mit dem Osten doch eine Auseinandersetzung der beiden Weltanschauungen wäre. Zum mindesten würde es die gegnerische Seite nicht unterlassen, durch ihre getarnten Parteigänger im eigenen Lande und durch
Luftlandetruppen zu versuchen, Unruhe, und was derlei mehr ist, hier in unsere Verteidigungskonzeption zu bringen. Auch aus diesem Grunde ist es notwendig, daß wir eine ständig bereite Abwehr haben, ich betone: Abwehr — den Schild! —, die am besten durch eine Territorialarmee sichergestellt ist. Ich glaube, daß eine Verteidigungskonzeption — verzeihen Sie das banale Wort; es fällt mir im Augenblick kein anderes ein —, die auf der einen Seite das Berufsheer und auf der andern Seite eine Miliz oder territoriale Wehr vorsieht, wirklich die ideale Verteidigung im Hinblick darauf ist, daß wir an vorderster Front bei der Verteidigung der Freiheit und bei der Verteidigung des Westens stehen. Es hätte außerdem politisch den Vorteil, daß man uns niemals, auch nicht von gegnerischer Seite, den Verdacht eines Angriffs unterschieben könnte, bzw. es bestände nicht einmal die Möglichkeit eines solchen Angriffs.
Ich glaube darüber hinaus, daß die Miliz eine geringere Störung des Wirtschaftsablaufes bedeuten würde als die allgemeine Wehrpflicht. Der Verteidigungswille in der gesamten Bevölkerung wird gestärkt, da jeder weiß, daß er für Haus und Hof und Frau und Kind dort am Orte steht, wo er hingehört, und da er weiß, daß er im Frieden schon seinen Platz zugewiesen bekommt, so daß er auf Knopfdruck auch weiß, was er zu tun hat.
Ich möchte eine Schlußbemerkung machen. Der NATO-Oberbefehlshaber General Gruenther hat gesagt, daß, wenn es überhaupt zu einem Endkampf komme, die NATO natürlich nicht stark genug sei, Europa zu halten. Das Bundesgebiet werde wahrscheinlich aufgegeben werden müssen; hinterher könne man es wahrscheinlich wieder befreien. Überraschenderweise hat diese nüchterne Wahrheit aus dem Munde des NATO-Befehlshabers in der Bundesrepublik damals einen Sturm heraufbeschworen, der sich aber schon wieder beruhigte, als der SHAPE-Sprecher den Worten Gruenthers die Auslegung gab, daß mit der Aufstellung der 12 deutschen Divisionen die Situation eine ganz andere sei, d. h. daß die Bundesrepublik dann verteidigt werden könne, wenn dazu noch die Genehmigung zur Verwendung von Atom- und Wasserstoffbomben gegeben werde.
Meine Damen und Herren, es bedarf eigentlich keines Urteils militärischer Fachleute — jeder einzelne, der im Osten gekämpft hat, wird es sich selbst ausrechnen können —, festzustellen, daß eine über 1000 km lange deutsche Grenze auch mit 30 Divisionen gegen 200 Divisionen des Gegners nicht starr verteidigt werden kann. Das ist bei der Berücksichtigung der konventionellen Kriegführung sowieso ein einfaches Rechenexempel. Der SHAPE-Sprecher hat deswegen wohl auch hinzugefügt: und wenn die Genehmigung zur Anwendung der Atom- und Wasserstoffbomben gegeben wird. Das heißt, die Verteidigung der Bundesrepublik ist nach diesem Plan praktisch überhaupt nur möglich, wenn der Atomkrieg entfesselt wird.
Meine Damen und Herren, man kann im Zweifel darüber sein, ob der Einsatz von A-Waffen wirklich der Garant der Verteidigung der Bundesrepublik ist. Eines aber würde er sicher bedeuten, nämlich den Beginn einer Vernichtungsaktion ungeahnten Ausmaßes; denn bekanntlich hat auch unser Gegner Atom- und Wasserstoffbomben. Diese Ausführungen des Generals Gruenther und des SHAPE-Sprechers beweisen jedenfalls, daß das Verteidigungsproblem jeweils in einem anderen Lichte er-
scheint, je nachdem, ob man es durch die Brille der NATO oder durch die Brille der Bundesrepublik betrachtet.
Das Endziel der NATO ist es, den — verzeihen Sie den Ausdruck - Endsieg zu erringen. Ob dabei vorübergehend bestimmte Gebietsteile und damit auch Bevölkerungsteile unseres Landes verlorengehen oder nicht, darüber wird hinweggegangen, darüber muß auch im Rahmen dieser großen Planung hinweggegangen werden. Für die Bundesrepublik selbst ist die Situation aber insoweit eine andere, als sie in ihrer Gesamtheit vom Kriege in erster Linie betroffen wird. Gewiß geht es auch hier allerletzten Endes nicht darum, ob ein Meter Boden preisgegeben wird oder nicht, ob wichtiges Ackerland oder ob auch einmal eine wichtige Industrieanlage verlorengeht. Wir können uns, wie ich schon sagte, sowieso nicht selbst ernähren und auch unsere Rüstungsindustrie unter solchen Umständen mit allergrößter Sicherheit nicht weiterlaufen lassen. Es dreht sich also bei der Frage Berufsarmee, d. h.operative Armee als Schwert und territoriale Wehr als Schild, andereseits darum, daß wir die Substanz unseres Landes und Volkes erhalten können. Denn jeder Endsieg, auch der Endsieg der NATO wäre für uns wertlos, wenn die Substanz nicht mehr da wäre. Wie soll aber die Bevölkerung überleben, wenn sich die Kriegsfurie auf unserem Boden austobt und letzten Endes etwa eine Entscheidungsschlacht für den Endsieg in Südfrankreich geschlagen wird?
Ich glaube, daß neben der bisherigen NATO-Konzeption auch eine eigene Verteidigungskonzeption der Bundesrepublik selbst entwickelt werden müßte. Ich bitte den Herrn Bundesverteidigungsminster, es mir nicht zu verübeln — und auch den verantwortlichen militärischen Führern nicht —, wenn ich offen ausspreche: ich habe das Gefühl, daß man hier nicht genügend neue, den jetzigen und vor allen Dingen den künftigen Verhältnissen angepaßte Ideen hat.
In diesem Sinn, meine Damen und Herren, spricht sich meine Fraktion für die Verteidigungspflicht aller Staatsbürger aus. Ich betone zum Schlusse noch einmal, daß diese allgemeine Verteidigungspflicht, jedes einzelnen bei dem heutigen Stande der Waffentechnik, der Nachrichtentechnik und der Politik, der Weltpolitik schlechthin, eine unabweisbare Notwendigkeit ist und daß es notwendig ist, dem Volke klarzumachen, daß praktisch jeder schon im Frieden weiß, auf welchen Platz er gehört.
Auf der andern Seite möchte ich für mich persönlich, nicht für meine Fraktion, keinen Zweifel darüber lassen, daß ich glaube, daß dieses Ziel mit dem vorliegenden Wehrpflichtgesetz nicht erreicht werden kann. Ich möchte nochmals sagen, daß es, wenn es vielleicht zu spät sein sollte, noch über jene „Royal Commission" zu sprechen, die das Problem unabhängig von Politik und von sonstigen Einflüssen hätte untersuchen können, tatsächlich vielleicht ratsam ist, den Verteidigungsausschuß zu beauftragen oder einen irgendwie gearteten Verteidigungsrat zu bilden, um das Problem bis ins tiefste durchzudiskutieren, um sicherzustellen, daß unserem Volke und unserer Heimat der bestmögliche Schutz zuteil werden kann.