Herr Kollege Dr. Vogel, wenn Sie vorher zugehört hätten, wüßten Sie, daß ich ganz klar gesagt habe, daß der politische und soziale Trennungsprozeß immer drüben vorangegangen ist, daß aber die juristischen Konsequenzen von der anderen Seite nach uns gezogen worden sind,
und das ist für die Frage der Wehrpflicht etwas ganz Entscheidendes.
Da nützt es nichts, wenn Sie die Hände heben!
Meine Damen und Herren, die Hände gegenüber einem Argument hilflos heben zeigt, daß man sich der Beweiskraft dieses Arguments eben nicht entziehen kann.
Ich sprach soeben von dem Gewissenskonflikt, in dem ein großer Teil unserer jungen Generation sich befindet — ob Sie die Gefühle der jungen Menschen teilen oder nicht, sie sind eine Realität — angesichts der möglichen Aussicht eines Bruderkrieges. Und da habe ich einmal gehört, daß ein Kollege dieses Hauses gesagt hat: Na ja, wenn der Bruder zum Verbrecher wird, dann müßte man sich eben doch auch dieses verbrecherisch gewordenen Bruders erwehren. Meine Damen und Herren, es handelt sich dabei nicht um den verbrecherischen Bruder, sondern um den Bruder, der unter Umständen von anderen, von den wirklichen Übeltätern gezwungen wird, sich so zu verhalten.
Ich warne davor, diese Dinge allzu leicht zu nehmen. Wo kommt die Bundesrepublik hin, wenn wir allzu leicht über die Gewissensbedenken des einzelnen Staatsbürgers hinweggehen und glauben, nur die Staatsräson, nur die militärischen Notwendigkeiten seien es, die unser gesamtes Handeln im wesentlichen beeinflussen und gestalten dürften. Ich frage mit großer Sorge: Wohin geht unsere Bundesregierung? Wir haben heute hier noch keine Debatte über das Vierte Strafrechtsänderungsgesetz. Aber ich finde, daß der Geist dieses Gesetzes, so wie es nach der Regierungsvorlage gestaltet werden soll, nicht frühzeitig genug im Zusammenhang mit der Einführung der Wehrpflicht hier zur Aussprache gestellt werden kann.
Darin heißt es:
Wer unwahre oder gröblich entstellte Behauptungen tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, um andere vom Wehrdienst abzuhalten oder die Bundeswehr in der Erfüllung ihrer Aufgaben zu behindern, wird mit Gefängnis bestraft.
Die Vorschrift habe, wie es heißt, im früheren deutschen Strafrecht kein Vorbild. In den USA, England, Italien usw. sei sie auf Kriegs- oder Krisenzeiten beschränkt. Sie solle in erster Linie dazu dienen, den modernen Methoden des sogenannten kalten Krieges entgegenzuwirken; denn — so heißt es weiter — es müsse damit gerechnet werden, daß die verfassungsfeindlichen Elemente versuchen würden, durch Aufstellen unwahrer oder gröblich entstellter Behauptungen die Bereitschaft der Bevölkerung zum Wehrdienst zu untergraben.
Man will damit auch der gefährlichen Flüsterpropaganda entgegenwirken.
Meine Damen und Herren, warum führe ich das hier an? Weil damit gezeigt wird, auf welchen Gleisen von der freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung weg wir uns begeben würden, wenn wir in dieser Weise versuchten, die aus lauteren Motiven geborene Kritik an einer bestimmten konkreten Ausprägung der Politik mit strafrechtlichen Mitteln zu bekämpfen.
Über den notwendigen Schutz militärischer Institutionen — wenn Sie schon die Bundeswehr haben — vor klaren Fällen von Sabotage und dergleichen besteht gar keine Meinungsverschiedenheit.
Aber die Meinungsverschiedenheiten setzen dort ein, wo mit Gummiparagraphen, mit Gummiartikeln in Wirklichkeit die Meinungsäußerung getötet werden soll.
Meine Damen und Herren, sowohl in den Ausführungen des Verteidigungsministers als auch in denen des Kollegen Kliesing ist ein Blick auf die strategische Situation in der Welt geworfen worden. Am Anfang dieser Debatte steht ja eigentlich noch unvergessen das gelassene Wort des Bundeskanzlers: Wenn die Bundesrepublik in den Atlantikpakt eintritt, dann wird sie nicht Kriegsschauplatz,
während sie sonst Kriegsschauplatz wird. Meine Damen und Herren, wenn es zu einem großen Konflikt — den es hoffentlich nie geben wird — zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, zu einem Zusammenprall der beiden Blöcke kommt, wird ganz Deutschland Kriegsschauplatz, gleichgültig, wie groß die Armee ist, die sich in diesem Lande befindet.
Die wirkliche Abschreckung eines solchen großen Angriffs, an den heute in der Welt niemand mehr glaubt, ist das Bewußtsein der beiden Seiten, daß der große Konflikt nur mit der nahezu völligen Zerstörung
der beiden Hauptbeteiligten, hüben wie drüben, enden könnte. Und da wollen wir doch jetzt hier nicht so tun, als ob wir morgen oder übermorgen mit einer Aggression durch die Sowjetunion als unmittelbar bevorstehender militärischer Bedrohung zu rechnen hätten.
Herr Kollege Kliesing hat, ich glaube, zu Recht, darauf aufmerksam gemacht, daß es immerhin noch eine andere Seite der Betrachtung dieses Problems gibt, nämlich die gegebene Notwendigkeit für den Fall, daß einmal die beiden großen Weltblöcke ihre physische Anwesenheit hier im Herzen des Kontinents — und solange sie da sind, beißen sie sich auch nicht — verändern werden. Er hat gemeint, man müsse — wohl für den Fall, daß sich bis dahin die Wiedervereinigung nicht unter dem Schutz der vier Mächte bereits friedlich und in Freiheit vollzogen habe — ein Gegengewicht haben gegen das, was in der sowjetischen Besatzungszone aufgebaut sei. Wenn Sie diesem Gedanken des Kollegen Kliesing folgen, sollten Sie sich darüber im klaren sein, daß Sie dafür nun_ weiß Gott weder eine Armee von einer halben Million Mann noch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht brauchen,
zumal da Sie selbst immer wieder darauf hinweisen, in welchem Umfang sich die Armee der sowjetischen Besatzungszone innerlich durch Abwanderung in die Bundesrepublik Deutschland schwächt und zersetzt.
Ich bin der Überzeugung, daß die paar Bemerkungen, die der Herr Verteidigungsminister hier gemacht hat und die wir für heute zum Anlaß nehmen konnten, etwas auf die strategische Lage in der Welt einzugehen, nicht ausreichend sind zur Beurteilung der Notwendigkeit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht.
Die wirkliche Aufgabe der Bundeswehr, die sich nur aus einer gründlichen weltpolitischen und strategischen Analyse ergeben könnte, ist seit Jahren im Ausschuß nicht zur Diskussion gestellt worden. Ich bin daher der Meiung, daß wir, da sich immerhin seit den Jahren 1950 bis 1952, als die Pläne ausgearbeitet wurden, etwas verändert hat, den Vorschlag aufgreifen sollten und verlangen müssen, daß eine unabhängige Sachverständigenkommission alles erreichbare Material zusammenträgt, um mit großer Sachkunde und großem Freimut und in wirklicher Unabhängigkeit von denen, die natürlicherweise nur ihre Politik durchzusetzen entschlossen sind, oder von denen, die die Politik der anderen bekämpfen, wie das bei der Opposition der Fall ist, das Problem der Sicherheit zu erörtern. Ein Mann, der etwas davon versteht — man kann sonst zu ihm stehen, wie man will —, der frühere Generalfeldmarschall von Manstein, hat dazu geschrieben, daß „die Frage ,Wehrpflicht oder Berufsheer` mit anderen Problemen verknüpft ist, deren Lösung kein Politiker oder Journalist aus dem Ärmel schütteln kann". Er schreibt weiter:
Welcher Art ist die Kampfführung im atomaren Zeitalter, durch die die Form künftiger Streitkräfte bestimmt wird? Wie muß neben den aktiven der NATO unterstehenden Streitkräften die „Heimatverteidigung" organisiert werden? Wie findet die Abgrenzung dieser beiden Aufgaben gegeneinander statt, und welchen Kräfteaufwand erfordern sie?
Schließlich:
Wie soll nach Art und Dauer ein etwaiger Wehrdienst beschaffen sein unter Berücksichtigung der militärischen Erfordernisse sowie der finanziellen und wirtschaftlichen Folgen?
Daher empfiehlt Herr von Manstein gleichfalls die Schaffung eines solchen Organs. Wir haben das mehrfach von dieser Tribüne her gefordert, und ich möchte Ihnen sagen: wenn die Bundesregierung keine Anstalten trifft, diesem Wunsche in vertretbarer Weise zu entsprechen, werden wir eben notfalls von den Möglichkeiten Gebrauch machen müssen, die dem Verteidigungsausschuß als Untersuchungsausschuß zur Verfügung stehen, um auf diese Weise einmal eine Klärung dieser Grund-
probleme zu erreichen, bevor wir die Frage der Wehrpflicht endgültig mit Ja oder Nein beantworten.
Die Bundesregierung hat sich in ihrer Denkschrift einige Bemerkungen gestattet, die nicht ohne weiteres unwidersprochen bleiben können. Da heißt es z. B., daß die Sowjetunion nach ihren letzten Erklärungen auch vor der Anwendung von Atomwaffen nicht zurückschrecken wird. Das ist sicher richtig. Aber eines möchte ich dem Kollegen Kliesing hier zu seinem strategischen Gemälde noch mit auf den Weg geben: aus den Erklärungen gerade des Oberkommandierenden der Atlantikorganisation, General Gruenther, geht seit geraumer Zeit eindeutig hervor, daß er der Meinung ist, auch für den Fall der Bereitstellung einer deutschen Armee von einer halben Million Mann sei die numerische Unterlegenheit der Atlantikmächte in Europa gegenüber dem sowjetischen Aufgebot so groß, daß im Falle eines Angriffs auf jeden Fall sofort mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen geantwortet würde. Es ist also nicht so, daß man sagen kann: Wer die halbe Million will, der sichert uns vor dem Einsatz von Atomwaffen, und wer statt dessen eine kleinere Armee — da es nun eine geben wird — für erträglicher hält, der beschwört den Einsatz von Atomwaffen herbei.
So ist es gar nicht. Die Erklärungen Gruenthers sagen eindeutig, daß auf jeden Fall — und so ist es auch beschlossen — die Planung der Atlantikpaktorganisation zum Ausgleich der sowjetischen Zahlenüberlegenheit den sofortigen Einsatz von taktischen Atomwaffen vorsieht. Und darauf haben die Russen nun ihre Erklärung gesetzt: Wer taktische Atomwaffen einsetzt, muß eben wissen, daß es damit den allgemeinen Atomkrieg gibt.
Meine Damen und Herren, ich weiß, derart schauerliche Gedankengänge zu erörtern ist unangenehm, auf allen Seiten des Hauses. Aber wir müssen nun einmal die Realitäten ins Auge fassen. Wir können doch nicht so tun, als gäbe es dieses böse Problem nicht.
An einer anderen Stelle heißt es in der Denkschrift, daß die Basen für eine Vergeltung mit Atomwaffen nicht geräumt werden dürften und man aus diesem Grunde hier in der Bundesrepublik die Armee in der geplanten Größe haben müsse. Aber diese Basen für die Vergeltung befinden sich gar nicht in der Bundesrepublik!
Die hat man nämlich dem mutmaßlichen Gegner zu Recht nicht so nahe vor die Haustür gesetzt, daß er sie mit einem Prankenhieb auslöschen könnte. So selbstmörderisch ist die Atlantikpaktorganisation gar nicht gewesen. Deshalb ist mir dieser Satz in der Denkschrift schlechthin unverständlich.
Ich könnte noch sehr vieles zu der Denkschrift im einzelnen bemerken. Ich glaube, die bisherigen Beispiele haben schon völlig ausgereicht, den unvollkommenen Charakter dieser Schrift darzutun.
Aber eine Frage möchte ich an die Regierung richten; denn sie bedarf dringend der Klärung. Auf Seite 7 der Denkschrift heißt es:
Dabei muß mit zivilen Organisationen eng zusammengearbeitet werden. Für diese bodenständigen Streitkräfte sind rund 50 000 Mann als aktiver Stamm nötig. Dieser muß stets verwendungsfähig sein.
Wenn Worte einen Sinn haben, dann heißt das, daß die 50 000 Mann, die man aus den aktiven Streitkräften entnimmt, als aktiver Stamm für eine bodenständige Verteidigung doch nur den Kern einer größeren Organisation darstellen. Vielleicht ist die Bundesregierung so freundlich und erklärt uns einmal, was dieser Satz bedeutet und welche Gesamtplanung sie auf diesem Gebiet eigentlich hat, weil ich nämlich der Meinung bin, daß dann manches, was wir hier vom Minister an vernichtenden Urteilen über die Miliz gehört haben, zum Schluß dadurch widerlegt wird, daß für diesen Zweck die Bundesregierung die Einführung einer Miliz beabsichtigt.
Hier ist — um kurz das innenpolitische Problem zu berühren — davon gesprochen worden, daß Wehrpflicht und Demokratie untrennbar miteinander verbunden seien. Wenn wir von freundschaftlichen Gefühlen innerhalb der im Atlantikpakt zusammengeschlossenen Staaten füreinander ausgehen wollen, dann meine ich, daß man keine so harten, verdammenden Urteile über die angelsächsischen Völker hätte fällen dürfen. Das haben sie nicht verdient, daß wir ihnen in dieser Weise den demokratischen Charakter ihrer mehrhundertjährigen Geschichte deshalb absprechen, weil sie sich zu den Gegnern der Wehrpflicht gezählt haben.
Weiterhin ist gesagt worden, ein Freiwilligenheer stelle eine größere Gefahr als ein auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht gebildetes Heer dar, zum Staat im Staate zu werden. Meine Damen und Herren, der Anteil der Berufssoldaten wächst in allen Armeen der Welt, in Großbritannien und in den USA ganz besonders, wie wir — in dem Punkt wenigstens zutreffend — der Denkschrift der Regierung entnehmen können. Auch bei uns ist ein hoher Anteil an derartigen länger dienenden Freiwilligen und Berufssoldaten beabsichtigt. Der Geist der Gesamtarmee hängt — auch wenn Sie die Wehrpflicht einführen — nicht von der Gesinnung der Wehrpflichtigen, sondern von der Gesinnung des Kerns und der Vorgesetzten ab,
denn der ist in beiden Fällen identisch. Wer sich als demokratisch gewählte Regierung — die es gegeben hat, bevor mit dem Aufbau der Streitkräfte begonnen worden ist — nicht zutraut, jedes Offiziers- und Unteroffizierskorps, gleich, bei welcher Wehrverfassung, zu einem zuverlässigen Träger dieser Demokratie zu machen, der ist für sein Amt nicht tauglich, meine Damen und Herren!
Nach den früheren mannhaften Worten des Kollegen Blank möchte ich annehmen, daß er sich das durchaus zutraut, und er hat lediglich aus propagandistischen Gründen das Argument gebraucht, daß jedes Berufsheer Gefahr laufe, ein Staat im Staate zu werden, und daß in einem Berufsheer nur schwer jener Typ des Offiziers herangebildet werden könne, der sich der demokratischen Verfassung verpflichtet wisse und die Achtung genieße, die ihm zukommt. Wenn hier verantwortliche Männer das
Steuer der Personalpolitik fest in Händen halten, muß es in jeder Form der Heeresverfassung möglich sein, einen Typ von Offizieren heranzubilden, der sich der demokratischen Verfassung verpflichtet weiß. Wer das nicht mit einer Freiwilligenarmee schafft, der schafft es mit denselben Leuten auch dann nicht, wenn Sie ihnen noch ein paar hunderttausend Wehrpflichtige zur Ausbildung überantworten.
Eine neue Lage erfordert neue Mittel. Wir können die Lage, in der sich das deutsche Volk durch die Spaltung befindet, nicht einfach mit der Lage irgendwelcher anderer Staaten und Völker, die sich im Zustande der freien Einheit befinden und von daher für ihre Sicherheit zu sorgen sich bemühen, vergleichen. Wir haben ein Interesse daran — das ist die Hauptsorge unserer Politik —, alles zu tun, damit die Wege, die zur Wiedervereinigung Deutschlands führen können, offengehalten werden, alles zu tun, damit nicht durch eigenes Verschulden neue Hindernisse auf diesem Weg getürmt werden.
Früher hat der Herr Bundeskanzler mit Recht auf den inneren Zusammenhang aufmerksam gemacht, den es zwischen dem großen Problem der Abrüstung in der Welt, dem Problem der europäischen Sicherheit und der Wiederherstellung der deutschen Einheit gibt. Wir wissen alle, daß wir die Welt davor warnen müssen, der Illusion nachzujagen, als könnte man ein wirksames Abrüstungsabkommen auf der Grundlage der deutschen Spaltung erreichen. Es wird keine Liquidierung des Kalten Krieges geben können und infolgedessen auch kein auf Abbau des Mißtrauens gegründetes Ende des Wettrüstens, solange hier im Herzen Europas das deutsche Volk gegen seinen Willen in zwei verschiedene Teile zerrissen ist und diese Teile aneinander rütteln. Es gibt keine dauerhafte Friedensordnung in Europa und vermutlich also auch kein wirksam funktionierendes Abrüstungsabkommen, ohne daß die deutsche Wiedervereinigung in Freiheit in dieses System von Vereinbarungen eingebaut wird.
Aber auf der anderen Seite wissen wir, daß ohne einen merklichen Abbau der Spannungen zwischen Ost und West, ohne eine Beendigung des Wettrüstens beide Teile nicht daran denken, ihre militärischen Positionen im Vorfeld ihrer Verteidigung irgendwie in Mitleidenschaft ziehen zu lassen. Deutschland bleibt also automatisch zerrissen, solange dieser Zustand der internationalen Spannungen und des Wettrüstens andauert. Daher besteht ein deutsches Interesse daran, daß Fortschritte bei den Abrüstungsverhandlungen erzielt werden. Wir haben keinen Grund, etwa schadenfroh zur Kenntnis zu nehmen: Man ist wieder einmal ohne Einigung auseinandergegangen.
— Nein, ich habe nur gesagt, daß wir keinen Grund haben; und ich freue mich, daß Sie dieselbe Auffassung haben, Herr Kollege Kliesing.
Ist es denn nicht gestattet, daß in diesem Hause einmal ein Mann zu einer solchen Frage seine Sorge ausdrückt und dabei für das ganze deutsche Volk spricht, auch wenn er einmal aus den Reihen der Opposition kommt?
Wir alle haben kein Interesse daran — Sie auch
nicht —, schadenfroh darauf zu blicken. Wir alle
wären froh gewesen, wenn man viele Fortschritte ermöglicht hätte, um auch in der Deutschlandfrage, die nach unserer festen Überzeugung politisch untrennbar mit dem Problem der Entspannung und der Abrüstung verbunden ist, weitere Fortschritte zu erzielen. Insofern ist es bitter zu beklagen, wenn an die Stelle von Vereinbarungen lediglich ein Kommuniqué getreten ist, daß man sich in bestimmten Punkten nähergekommen sei, aber eben doch in Wahrheit der Zustand der Spannungen und des Wettrüstens weiter andauert. Ich jedenfalls beklage dieses Karussell, das seit einigen Jahren im Gange ist, in dem die Position der einen Seite heute die der anderen von gestern ist und die der anderen von gestern die der einen von heute.
Wie ist denn das z. B. bei den konventionellen und den Atomwaffen? Da hat man auf sowjetischer Seite erst gesagt: Man muß mit dem Atom anfangen! Die Amerikaner haben - mit Recht — gesagt: Es wäre Selbstmord, wenn wir unsere Überlegenheit bei den Atomwaffen wegwerfen würden und die russische Überlegenheit bei den konventionellen Waffen übrig bliebe. Jetzt kommen die Russen mit Vorschlägen über die Beschränkung und Kontrolle der konventionellen Waffen, und sofort kommt die Kritik der Westmächte: Ja, und wo bleibt die Atomkontrolle? — Die Fronten sind also jetzt völlig verschoben. Ich will gar nicht untersuchen, auf wessen Verhalten das im einzelnen zurückzuführen ist. Das Entscheidende, worauf es ankommt, ist, daß sich angesichts dieses Karussells in den letzten Jahren keine Einigung abzeichnet. Ähnlich sieht es mit dem Hin und Her auf dem Gebiet der Bodenkontrolle aus, die die Russen zuerst nicht wollten und jetzt zugegeben haben, und auf dem Gebiet der Luftinspektion, die nun von der andern Seite als wesentliche Forderung bezeichnet worden ist.
Aber der Grund, weshalb ich eigentlich diese Frage hier anschneide, ist der innere Zusammenhang zwischen der Aufstellung einer deutschen Armee von einer halben Million Mann und einer weiteren Erschwerung der internationalen Abrüstungsdiskussion. Die Vereinigten Staaten hatten ursprünglich vorgeschlagen, man sollte eine Obergrenze für die Truppenstärke der Länder festlegen. Die Sowjetunion hat diesen Vorschlag ursprünglich nicht akzeptiert. Dann ist die Sowjetunion auf den Vorschlag eingegangen. Nun ergab sich, da von beiden Seiten bis zu diesem Zeitpunkt annähernd gleiche Zahlen in die Debatte geworfen worden waren, daß diese Festlegung der international eventuell geplanten Grenzen die Armee von einer halben Million Mann der Bundesrepublik Deutschland als unproportioniert groß erscheinen ließ. Plötzlich ist auch diese sich abzeichnende Einigung wieder in die Brüche gegangen. Ich darf Ihnen vorlesen, was heute von dem dpa-Korrespondenten aus London zu diesem Thema gemeldet wird:
Als Höchststärken für die Streitkräfte wurden von beiden Seiten Ziffern genannt, die zwar nicht miteinander übereinstimmen, aber nach der Meinung von Sachverständigen Raum für Verhandlungen bieten. Für die USA und die Sowjetunion sollten nach dem amerikanischen Vorschlag je 2,5 Millionen Mann, nach dem sowjetischen Vorschlag je 1,5 Millionen, für Großbritannien und Frankreich je 750- bzw. 650 000 und für andere Mächte je 500 000 bzw. 200 000 festgelegt werden.
Nun kommt der entscheidende Satz:
Die russischen Zahlen waren im vorigen Jahr aus einem anglo-französischen Plan übernommen worden. Deshalb wird den Westmächten jetzt von der Sowjetunion vorgehalten, daß sie ihre eigenen Pläne in demselben Augenblick ablehnen, in dem die Sowjetunion sie sich zu eigen macht.
Das heißt, daß man den Kommunisten in dieser Abrüstungsdiskussion noch einen Propagandapunkt hingespielt hat. Warum eigentlich? Der Zusammenhang ist leider so klar, daß wir uns ein bißchen an die eigene Brust schlagen müssen. In Washington wurde in einer Pressekonferenz der amerikanische Außenminister gefragt: „Wenn es zu einer so beabsichtigten Festlegung der Höchststärken der Armeen käme, hätte das irgendwelche Einwirkungen auf das Ausmaß des deutschen Verteidigungsbeitrags?" Darauf hat der amerikanische Außenminister Dulles gesagt: „Wenn es zu einer solchen Einigung kommt, dann ja." Damit wurde klar, daß in einem solchen Fall die Halbmillionen-armee eben zu groß wäre. Alsdann hat das Interesse an der Aufstellung der Halbmillionenarmee das Interesse daran, sich auf der Grundlage einer Maximalgrenze für die Weltmächte von 1,5 Millionen Mann zu einigen, überwunden. Damit wir eine halbe Million aufstellen dürfen, fordern die Vereinigten Staaten jetzt 21/2 Millionen für sich und die Sowjetunion.
Meine Damen und Herren, deutlicher kann man, glaube ich, nicht zeigen, wie das starre Festhalten an einer unter völlig anderen Umständen geborenen Zahl die Lösung jener Frage erschwert, mit der zusammen auch Fortschritte in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands erreicht werden können. Wir sind schlecht beraten, wenn wir sagen: Wir bestehen wie Shylock auf unserem Pfund Fleisch, wir haben die Erlaubnis, eine halbe Million Mann aufzustellen, und nun muß das auch bis zum letzten Grenadier ausgeschöpft werden. Ich finde, auch das Argument sticht eigentlich nicht, daß man, um zu einer Abrüstung zu kommen, erst einmal aufrüsten müsse. Man kann sich unter Umständen auch gleich auf der vorgesehenen mittleren Linie treffen.
Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen diesen Zusammenhang deswegen klargemacht, weil wir begreifen müssen, daß Rüstungsbeschränkung und -kontrolle, ganz gleich, was wir tun, aus objektiven Gründen im internationalen Gespräch bleiben werden. Die tödliche Gefahr der Wasserstoffwaffen ist es, die beide Teile immer wieder an den Tisch zwingt, an dem über diese Frage geredet wird. Wir müssen dafür sorgen, daß dann die deutsche Frage so mit Vorschlägen in die Weltdiskussion um Rüstungsbegrenzung und -kontrolle hineingepaßt wird, daß wir das Zustandekommen einer Regelung auf beiden Gebieten erleichtern und nicht erschweren.
Ich möchte mich noch kurz zu einigen Einzelfragen äußern. Zum Problem der Kriegsdienstverweigerung wird mein Kollege Merten noch Ausführungen machen. Wir finden, daß die Regelung, die das Gesetz vorsieht, dem Geist und Buchstaben des Art. 4 des Grundgesetzes nicht gerecht wird.
Gestatten Sie mir eine Bemerkung hierzu. Sie berufen sich darauf, Politik aus christlicher Verantwortung zu treiben. Wer das tut, der sollte sich nicht dazu hergeben, bei der Erörterung der Kriegsdienstverweigerung den Grundsatz aufzustellen, man könne Politik und Gewissen trennen Das geht gar nicht.
Noch einige Probleme minderer Bedeutung. Ich habe es für eine sehr verunglückte Sache gehalten, daß der Herr Verteidigungsminister sich bemüßigt gefühlt hat, in seiner Verteidigung der Wehrpflicht ein paar Argumente mit ins Feld zu führen, die man eigentlich nur mit der linken Hand behandeln kann. Da heißt es, daß mancher Jugendliche eine Freundschaft fürs Leben finden wird. Gibt es keine anderen Möglichkeiten, Jugendlichen zu Freundschaften zu verhelfen?
Oder es heißt, daß die allgemeine Wehrpflicht die Volksgesundheit verbessern wird.
Ich finde, mit dem Bau von Turnhallen wäre
auch ein ganz schätzenswerter Beitrag geleistet.
Es gibt in Ihren Reihen eine ganze Reihe von Gründen für die Wehrpflicht, die nicht die unseren sind. Aber auf diese Gründe sollten Sie, meine Damen und Herren, in Ihrem eigenen Interesse besser verzichten.
— Doch, es liegt auch an den Turnhallen. Allein in Baden-Württemberg fehlen noch über 1000, wie Ihnen wahrscheinlich aus unseren Wahlprogrammen bekannt sein dürfte.
— Ich hoffe, daß die neue Landesregierung in Baden-Württemberg sich unverzüglich an die Erfüllung ihrer Zusage macht, in den nächsten vier Jahren tausend Turnhallen zu bauen.
Die Denkschrift, die ich damit jetzt auf die Seite legen möchte
— nein, nicht zunächst, ganz und gar! —, wird in dieser Form nicht die Grundlage der Beratungen des Ausschusses über die Frage sein können, ob Wehrpflicht oder nicht. Dazu erwarte ich, daß die Denkschrift erst einmal zu einer wirklichen Denkschrift mit der Darlegung aller wesentlichen Gründe des Für und Wider ausgeweitet wird und sich nicht auf eine mitunter etwas volkstümlich gehaltene reine Apologetik beschränkt.
Ich will hier mildernde Umstände geben
und, als Überschrift ein Wort des Kollegen Horn von gestern aufgreifend, der Denkschrift den Titel verleihen: Eine rein agitatorische Denkschrift der Bundesregierung.
Dabei ist noch eines fraglich. Vielleicht äußert sich einmal der Herr Bundeskanzler dazu. Ich habe den Eindruck, daß es sich nicht einmal um eine Denkschrift der Bundesregierung handelt. Sie müßte dann jedenfalls in einem sehr späten Stadium noch so beschlossen worden sein. Vielleicht kann uns der Herr Bundeskanzler einmal sagen, wann diese Denkschrift in dieser Form vom Verteidigungskabinett gebilligt, dem Kabinett zugeleitet und von diesem beschlossen worden ist,
damit wir einmal prüfen können, wie weit wirklich das Gewicht der Bundesregierung hinter dieser Denkschrift steht oder wie weit sich die Bundesregierung nicht vielleicht doch entschließt, für die Beratungen des Ausschusses ein etwas besser abgerundetes und zuverlässigeres Dokument zur Verfügung zu stellen.
Das Wehrpflichtgesetz entspringt dem Denken, die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus vorwiegend als ein rein militärisches Problem anzusehen. Auch der Kollege Kliesing hat sich hier bemüht, es so darzutun, daß die Verteidigung von Freiheit und Menschenwürde untrennbar mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht verbunden sei, also im wesentlichen ein militärisches Problem sei.
In der gleichen Zeit, in der der Westen wie gebannt auf die Zahl der Divisionen hüben und drüben gestarrt hat, hat die Sowjetunion politischen Erfolg auf Erfolg eingeheimst, obwohl das eigentlich gar nicht notwendig gewesen wäre. Welche Chance hätten die Entthronung Stalins und die damit im Gefolge eintretende Erschütterung des sowjetischen Systems in der Sowjetunion und in den Satellitenstaaten einer wirklich konstruktiven Politik der Westmächte geboten! Statt dessen ist der Sowjeteinfluß gestärkt worden im Nahen, Mittleren und Fernen Osten, auch in Nordafrika. Wir haben die Auseinandersetzung also meist am falschen Ort, zur falschen Zeit und mit den falschen Mitteln geführt. Wettrüsten allein ist kein Ersatz für Politik. Wie heißt es dazu in der Osterbotschaft des Papstes?
Festes Vertrauen ist unerläßliche Voraussetzung für den Triumph des Friedens. Deshalb sind sicherlich nicht die seine Verteidiger, die sich beugen lassen vorn Wind des Pessimismus, der, absichtlich verbreitet, seinen Ausdruck findet in dem entmutigenden Wort: Es nutzt ja doch nichts ...
Jeder Tag bedeutet einen traurigen Schritt voran auf dem unheilvollen Weg in ein Rennen, um allein, um zuerst, um besser zum Ziel zu kommen. Und die Menschheit verliert beinahe die Hoffnung, daß es möglich sein werde, diesen menschen- und selbstmörderischen Wahnsinn
— der Papst spricht vom Atomwettrüsten — aufzuhalten.
Damit wandte er sich an alle Seiten, das ist selbstverständlich. Solche Worte darf man nie nur einer Seite sagen, denn dann bleiben sie sinnlos.
Es wird jetzt gelegentlich so getan, als ob eine neue Initiative zur Ausweitung oder Inkraftsetzung des Art. 2 des Atlantikpaktes dem Westen hier ein neues Feld der Betätigung geben würde. Damit verändern Sie doch den Charakter der Blockbildung und der Militärallianzen nicht! Wenn wir die Initiative zurückgewinnen wollen, wir aus der besonderen Lage des deutschen Volkes heraus, dann nicht durch Beharren auf jedem Buchstaben alter militärischer Pläne, sondern durch ernsthafte politische Vorschläge, welche die Wiedervereinigung Deutschlands mit einem System der Rüstungsbegrenzung und -kontrolle verbinden. Dann sollen wir aber nicht nur fordern, daß es die andern tun, sondern dann sollen wir durch eigene Gedanken, von der Bundesregierung unseren Partnern vorgetragen, vorschlagen, wie man diese Verbindung herstellen kann. Für unser Volk, ob mit oder ohne Wehrpflicht, gibt es keine wirkliche Sicherheit, bevor es nicht in Frieden und Freiheit wiedervereinigt ist.
Bis dahin handelt es sich nur um Notlösungen, und dann sollte der Inhalt dieser Lösung auch dem Charakter der Notlösung entsprechen.
Ich fasse zusammen: Wir sind völkerrechtlich nicht zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gezwungen. Meine politischen Freunde halten unter den heutigen Bedingungen die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für schädlich. Deshalb werden wir der Überweisung der Vorlage an die Ausschüsse des Bundestags nicht zustimmen.