Gesamtes Protokol
Guten Morgen, meine Damen und Herren! Die Sitzung ist eröffnet.
Wir setzen die Aussprache zum Haushalt 1994 fort. Dazu rufe ich Punkt 1 und Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf:
1. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1994
— Drucksache 12/5500 —
Überweisung: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Der Finanzplan des Bundes 1993 bis 1997 — Drucksache 12/5501 —
Überweisung: Haushaltsausschuß
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachtumsprogramms
— 1. SKWPG —— Drucksache 12/5502 —
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuß Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie und Senioren Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-,
Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms
— 2. SKWPG —— Drucksache 12/5510 —
Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Frauen und Jugend
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
ZP1 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts
— Drucksache 12/5630 —
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie und Senioren
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die heutige Aussprache insgesamt zehn Stunden vorgesehen. — Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Wir kommen zunächst zu den Geschäftsbereichen des Bundeskanzleramtes und des Auswärtigen Amtes sowie der Bundesministerien der Verteidigung und für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Das Wort hat der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz, Herr Rudolf Scharping.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Beratung dieses Bundeshaushaltes, die öffentliche Debatte im Vorfeld, viele Bemerkungen dazu zeigen eines deutlich: Diese Bundesregierung mutet
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14736 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Ministerpräsident Rudolf Scharping
unserem Volk immer mehr zu; das Volk selbst traut dieser Bundesregierung immer weniger zu.
Bevor man sich mit wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Daten beschäftigt, muß man sehr deutlich sagen, daß der Schaden durch den Verlust an Vertrauen, an Glaubwürdigkeit und an Orientierung der eigentliche politische Mangel der Diskussion in Deutschland ist.
Jeder weiß, daß wirtschaftliche Grundlagen gesichert werden müssen, daß der soziale Rechtsstaat bewahrt werden muß, daß wir Natur und Umwelt schützen müssen, daß die wirtschaftliche, soziale und — was leider häufig unterschätzt wird — kulturelle Einheit der Deutschen erst noch hergestellt werden muß.
Jeder weiß auch, wie notwendig es ist, die öffentlichen Finanzen wieder in Ordnung zu bringen.
Aber der Zweifel daran, ob diese fünf Hauptaufgaben der Politik noch bewältigt werden können, ist leider in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen.
Meine Damen und Herren, manche sagen, das Jahr 1989 markiere eine Zeitenwende, den Bruch einer Epoche. Ich lasse offen, ob das wirklich so ist. Aber eines scheint mir ganz klar zu sein: Große Umbrüche erzeugen auch große Unsicherheiten, manchmal auch Angst.
In einer solchen Situation ist es notwendig, ungeschminkt die Wahrheit zu sagen, nicht aber durch Handeln einer Regierung die Angst und die Unsicherheit noch zu vergrößern.
Ich nenne Ihnen dafür ein Beispiel aus der Diskussion der letzten Tage.
Da wird seit einigen Wochen über eine Pflegeversicherung diskutiert, die nach Ankündigungen des Bundeskanzlers in diesem Haus schon längst Gesetz sein müßte. Es wird aber nicht über die betroffenen Menschen geredet; es wird über die Frage der Finanzierung geredet.
— Das mögen Sie lächerlich finden. Aber viele Menschen draußen im Land, wie der Bundeskanzler sogern zu sagen pflegt, empfinden eine Debatte, dienichts mehr über die Situation der betroffenen Menschen sagt und vermittelt, als kalte Technokratie.
Deshalb sage ich Ihnen hier für die Sozialdemokraten: Wenn es nicht zu einer deutlichen Verbesserung der Hilfe für Familien, für Menschen, die Angehörige pflegen, kommt und wenn es bei dieser erbärmlichen scheinbaren Verbesserung von lächerlichen 3 DM im Monat bleiben soll, dann werden Sie schon deshalb unsere Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf nicht finden.
Wenn Sie sich nicht endlich aus den selbstgelegten Fallstricken Ihrer Koalition befreien,
den Versichertenkreis anständig eingrenzen und dafür sorgen, daß auf dieser Grundlage die Beiträge nicht höher werden müssen, als Sie selbst planen, dann werden Sie schon aus diesem Grund keine Zustimmung der Sozialdemokraten zu diesem Gesetzentwurf finden.
Wenn ich vor einer kalten Technokratendebatte warne, dann deshalb, weil ich den Eindruck habe, daß sich manche in der Politik mit der sozialen Wirklichkeit nicht mehr vertraut machen
und keine Vorstellung mehr davon haben, was es eigentlich für betroffene Menschen bedeutet, nach einem langen Arbeitsleben, wenn sie Pflege und möglicherweise einen Platz in einem Heim benötigen, am Ende, wie das in der verschleiernden Sprache des Gesetzes heißt, auf ergänzende Sozialhilfe zur Dek-kung des täglichen Lebensbedarfs angewiesen zu sein. Wer ältere Menschen, die dieses Land erst aufgebaut haben, in eine solche Situation stürzt und sie mit einem Taschengeld von gerade einmal 130 DM im Monat abspeist, der handelt sozial schäbig und sollte diese Situation so rasch wie möglich verbessern.
Nun sind Sie auf die Idee der Karenztage gekommen nach dem traurigen Motto, daß die Arbeitnehmer mit der größten gesundheitlichen Belastung und der härtesten körperlichen Arbeit am Ende die Pflege bezahlen sollen.
Auch das werden wir nicht mitmachen, und wir sind uns mit allen in Deutschland einig darüber.
Das ist ja viel mehr als nur eine verfassungsrechtliche Frage. Das ist es auch. Aber wenn Sie nicht endlich verstehen, daß nicht nur die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften, sondern auch die Arbeitgeber Ihre Politik als eine Provokation empfinden müssen, und wenn Sie nicht verstehen, daß alle in
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14737
Ministerpräsident Rudolf Scharping
Deutschland einig sind in dieser Frage und daß nur die Regierung stur verharrt, weil sie anders einen Kompromiß in dieser Koalition nicht erreichen kann, dann allerdings sagen wir: Sie sind so weit neben der sozialen und politischen Wirklichkeit in Deutschland, daß genau das eintritt, was ich zu beschreiben versuche, nämlich Schaden an Vertrauen und Glaubwürdigkeit.
Im übrigen sind wir bereit, mit Ihnen über inhaltliche Verbesserungen zu reden: bei der häuslichen Pflege, beim Versichertenkreis und für die Menschen, die Pflege leisten, ob in Familien oder in Heimen.
Wenn Sie endlich erklären, die Idee der Karenztage aufzugeben, und wenn Sie endlich den Unsinn beseitigen, daß erst der F.D.P. die Finanzierung serviert werden muß, damit andere den Mut zur Pflegeversicherung finden dürfen, dann sind wir auch bereit, mit Ihnen über die Frage der Finanzierung zu sprechen und alle anderen Möglichkeiten sorgfältig zu prüfen.
Wenn dann Sie Herr Kollege Schäuble, fragen: „Was schlagen Sie denn vor?", sage ich Ihnen: Wir sind dazu da, Ihnen Alternativen zu genau dem Zeitpunkt zu nennen, zu dem Sie eine unsinnige Politik endlich zur Seite gelegt haben.
Ich habe Ihnen ja gesagt: Wir sind bereit, über jede einzelne Frage zu reden. Aber das setzt voraus, daß Sie selber einen Mechanismus auflösen, der Sie in einen Widerspruch zu allen Betroffenen, zu allen wichtigen gesellschaftlichen Gruppen, den Kirchen, den Gewerkschaften, den Arbeitgeberverbänden und vielen anderen gebracht hat. Wenn Sie in diesem Zustand zu Lasten älterer Menschen verharren wollen, dann müssen Sie dafür die politische Verantwortung übernehmen und dürfen nicht erwarten, daß wir Sie wie ein Blindenhund aus der selbsterzeugten Situation herausführen.
Manche sagen, diese Versicherungsleistung sei wegen der Lohnnebenkosten zu hoch. Niemand kann bestreiten, daß ein Teil unserer sozialen und wirtschaftlichen Fragen auch mit der Höhe diese Lohnnebenkosten zu tun hat. Wenn aber wirtschaftlicher Erfolg und soziale Sicherheit zusammengehören, wenn sich wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Frieden gegenseitig bedingen, dann, Herr Bundeskanzler, muß man alles unterlassen, was den sozialen Frieden stört und möglicherweise auch zerstört.
Wer als Politiker — so notwendig das ist, gerade in einer Situation grassierender, fast explodierender öffentlicher Verschuldung — immer nur in Mark und Pfennig, in Nützlichkeit und Bilanz redet, der entwertet Politik. Er entzieht ihr die Wertorientierung, die Menschen brauchen, um den Sinn von Politik nachvollziehen zu können.
Sie haben in Deutschland eine Situation erzeugt, in der wegen einer grassierenden öffentlichen Verschuldung, wegen der enormen wirtschaftlichen Probleme, wegen der 5 Millionen fehlenden Arbeitsplätze, wegen der wachsenden Zahl der Sozialhilfeempfänger, wegen der 2 Millionen fehlenden Wohnungen, wegen der wachsenden Obdachlosigkeit gerade unter Kindern Menschen in solchen Situationen Orientierung brauchen und sie nicht finden können, nur über Geld und Bilanz anstatt über den Sinn und die Zukunftschancen des Lebens in Deutschland geredet wird.
Da ich bei den Lohnnebenkosten war, will ich Sie mit einem zweiten Beispiel auf einen Widerspruch hinweisen. Eine Regierung, die in einer Zeit von Umbrüchen selbst Unsicherheit und Angst erzeugt, darf sich nicht über den Schaden an Vertrauen wundern. Herr Rexrodt, mit den Renten und ihren Grundlagen spielt man nicht, es sei denn, man will sich selber und dem Volk Schaden zufügen.
Wenn Sie die Höhe von Lohnnebenkosten beklagen, dann müssen Sie die Frage beantworten, wie Sie selbst zu der Tatsache stehen, daß in aller Kürze der Beitrag zur Rentenversicherung ca. um 2 % steigen wird.Hinsichtlich der Situation der Rentenversicherungen selbst: Deren Belastung entsteht ja nicht daraus, daß die Grundlagen ihrer Finanzierung im Zweifel seien. Ihre Belastung entsteht daraus, daß Sie eine Politik verfolgt haben, die im Jahr rund 50 Milliarden DM für die notwendige Finanzierung der deutschen Einheit den Sozialversicherungssystemen entzieht, statt die Wahrheit über Steuern hergestellt zu haben.
Nun schaue ich mir interessiert an, wie über solche Fragen auch öffentlich verhandelt wird. Da fand ich es interessant zu sehen, wie der Bundeskanzler auf die zwischen den Herren Blüm und Rexrodt erkennbar strittige und in einer Ausladung für Herrn Blüm mündende Frage nach den Renten die eigenartige Formulierung gebraucht hat, unter den jetzigen Umständen seien die Renten für die jetzigen Rentner sicher. Gleich zwei Vorbehalte!Wir haben die große Sorge, daß Sie nach den Wahlen 1994 und angesichts der von Ihnen öffentlich demonstrierten Sympathie für die Überlegungen Ihres Herrn Wirtschaftsministers auf diese Überlegungen zurückkommen werden.
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14738 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Ministerpräsident Rudolf Scharping
— Ich bin ganz sicher, daß Sie darauf zurückkommen werden.
Das mag ja für Sie politisch interessant sein, möglicherweise auch amüsant. Ich frage mich nur, wie beispielsweise die Sozialausschüsse in der Union mit der Frage umgehen wollen, daß am Ende nach den Vorstellungen von Herrn Rexrodt und den Vorstellungen der F.D.P. ein über Jahrzehnte bewährtes System der Sozialversicherung umgekrempelt werden soll,
und zwar so, daß neue Unsicherheit und neue Angst entstehen.
Meine Damen und Herren, es geht aber nicht nur darum. Es geht auch darum, die Sozialversicherungen von der Finanzierung der Leistungen zu befreien, die ihrer Natur nach versicherungsfremd sind.
Damit komme ich zu einem dritten Beispiel, nämlich der Arbeitslosenversicherung. Sie schlagen vor, Leistungen zu kürzen. Wir sagen Ihnen: Es wäre nun wirklich besser, die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen, anstatt die Arbeitslosen für den in aller Regel unverschuldeten Zustand zu bestrafen.
Ist Ihnen eigentlich klar, wie viele Menschen von diesen Kürzungen betroffen sind? Ist Ihnen klar, in welchen Regionen und Ländern Deutschlands sich das zusammenballt? Haben Sie eine Vorstellung davon, wie den Menschen im Osten Deutschlands zumute sein muß, die — teils in statistisch erfaßter Arbeitslosigkeit, teils in zeitlich begrenzten Überbrückungsmaßnahmen, deren Ende absehbar ist — jetzt eine Perspektive vor Augen bekommen, zu der sie sagen: 40 Jahre unseres Lebens — individuell verschieden mal mehr, mal weniger — haben wir den Versuch gemacht, unser Leben unter miserablen Umständen einigermaßen vernünftig zu gestalten; jetzt leben wir in einem gemeinsamen Deutschland, auf das wir große Hoffnungen gesetzt haben. Hoffnungen, die der Bundeskanzler mit fahrlässigen Formulierungen bis über die Grenze der Illusion gesteigert hatte.
Können Sie ermessen, welche Ernüchterung, welcher Zorn und manchmal welche Verzweiflung bei Menschen entsteht, wenn sie den Eindruck haben, sie seien zunächst Opfer einer Entwicklung geworden und würden jetzt dafür auch noch bestraft werden?
Ist Ihnen eigentlich klar, wie es Menschen in bedrohten Branchen gehen muß? Haben Sie eine Vorstellungdavon, daß ein solches Programm ja nicht nur bitteresoziale Ungerechtigkeiten enthält, sondern am Ende auch noch eine doppelte politische Frage aufwirft?Was Sie im Bereich der Arbeitslosenhilfe vorhaben, wird dazu führen, daß die Belastung der Gemeinden mit Sozialhilfe in dramatischem Umfang steigen wird; denn am Ende ist die Sozialhilfe höher als die Arbeitslosenhilfe, wie viele Rechenbeispiele zeigen. Sie sanieren hier nicht etwa einen Bereich der öffentlichen Kasse, Sie verschieben nur die Lasten mit dem Ergebnis, daß am Ende Gemeinden für das nicht mehr aufkommen können, wofür sie dringend aufkommen müßten, nämlich Spielplätze, Kindergärten, soziale Einrichtungen, alltägliche Lebensqualität von Bürgern. Das zerstören Sie, und das sind die Konsequenzen Ihrer Politik.
Der andere Aspekt ist der der politischen Risiken. Aus der Enttäuschung über Politik folgt oft genug und leider die Enthaltung bei Wahlen. Ich sage Ihnen auch von diesem Ort: Nehmen Sie bitte nicht in Kauf, daß mit einer solchen Politik am Ende das Risiko einer Stabilisierung des politischen Radikalismus verbunden bleibt.
Diese Politik könnte anders gemacht werden. Es wäre sinnvoll, die versicherungsfremden Leistungen aus den Sozialversicherungen herauszunehmen, beispielsweise die Bestandteile der aktiven Arbeitsmarktpolitik von der Allgemeinheit statt nur von den Beitragszahlern finanzieren zu lassen,
außerdem dafür zu sorgen, daß gerade die lohn- und beschäftigungsintensiven Betriebe vor allem im Mittelstand und im Handwerk auf diese Weise entlastet werden. Ich füge hinzu: Dann wäre sogar die Überlegung der Einführung einer Arbeitsmarktabgabe überflüssig geworden, weil dann endlich alle an der Finanzierung aktiver Arbeitsmarktpolitik beteiligt würden.
Auch hier zeichnet sich ab, daß in den wichtigen gesellschaftlichen Gruppen des deutschen Volkes große Einigkeit in dieser Frage herzustellen ist. Und es zeichnet sich leider auch ab, daß die Bundesregierung zu einer zukunftsträchtigen Politik in diesem Sinne nicht fähig ist.
Man könnte viele andere Beispiele nennen. Wieso eigentlich kürzen Sie das Wohngeld, anstatt den Wohnungsbau zu fördern? Warum tun Sie nichts dafür, daß endlich in der Förderung des Wohnungsbaus wie bei anderen sozialen Leistungen mit Blick auf die notwendige Konsolidierung und mit Blick auf die Gerechtigkeit soziale Sachverhalte gleichmäßig gefördert werden, anstatt sie nach der Höhe des Einkommens zu differenzieren? Ist es in dieser Zeit eigentlich noch vernünftig, in der Wohnungsbauförderung steuerliche Freibeträge anzusetzen, degressive Abschreibungen und anderes zu ermöglichen,
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Ministerpräsident Rudolf Scharping
was nur dazu führt, daß mit der Höhe des Einkommens auch die Höhe des finanziellen Vorteils wächst?
Man könnte den Sozialstaat modernisieren und umbauen, gerechter, effektiver und für die öffentlichen Finanzen sinnvoller gestalten.
Wir schlagen Ihnen das vor, genauso wie wir Ihnen vorschlagen, im Bereich des Kindergeldes endlich diese ungerechten Freibeträge abzuschaffen, von denen Menschen wie ich und andere mit hohem Einkommen und drei Kindern durchaus ihren sehr meßbaren Vorteil haben. Aber daneben gibt es andere, die kein eigenes Einkommen haben, mehrere Millionen in diesem Land, und viele Hunderttausend mit niedrigem Einkommen, die von Ihrer Politik eine Förderung ihrer Familien und Kinder leider nicht erfahren können. Das muß geändert werden!
Es ist im übrigen gleich, ob man aus allgemeinem Gerechtigkeitssinn, aus Überlegungen der katholischen Soziallehre oder mit Blick auf die Zukunft die besonders ungerechte Behandlung von Familien mit Kindern anprangert, die sich in Deutschland leider über Jahre hinweg verdichtet hat.Ich wiederhole, meine Damen und Herren: Wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Friede gehören zusammen. Aber statt die aus der selbsterzeugten Verschuldung entstehende Angst als Vorwand für den Abbau des Sozialstaates zu nutzen, sollten Sie mit uns gemeinsam die Gelegenheit zu einer gerechten und finanziell vernünftigeren Modernisierung des Sozialstaates ergreifen: zielgenau, effizient, mit Einkommensgrenzen; soziale Sachverhalte fördern, die nicht mehr nach der unterschiedlichen Höhe des Einkommens differenziert werden, und dort wie im Bereich der Subventionen und Steuern den Mißbrauch endlich wirksam bekämpfen. Denn den gibt es auch.
Bisher haben Sie gesagt, das alles sei wegen der deutschen Einheit erforderlich. Ich sage Ihnen: Wenn Sie die deutsche Einheit als Vorwand benutzen, um soziale Leistungen einzuschränken, dann zerstören Sie die emotionalen und die sozialen Grundlagen für die deutsche Einheit.
Und wenn man über mehr als zweieinhalb, nun fast drei Jahre der Bevölkerung gesagt hat, das gehe mit einer leisen Anstrengung in der Größenordnung der Portokasse, auf jeden Fall ohne Steuererhöhungen und anderes, dann darf man sich nicht wundern, wenn diejenigen, die jetzt sagen, wir hätten über unsere Verhältnisse gelebt, keine Zustimmung finden. Man kann darüber reden, ob wir über unsere Verhältnisse gelebt haben. Viel sicherer scheint mir zu sein, daß wir unter unseren Möglichkeiten regiert werden.
Jetzt versuchen Sie einen Paradigmenwechsel, wie man das so schön nennt. Jetzt ist es nicht mehr nur die deutsche Einheit, jetzt sind es der Standort Deutschland und die Konjunktur. Sie haben einen Bericht vorgelegt. Er liest sich zunächst einmal wie eine lange, zutreffende Bilanz von schweren Versäumnissen in der Wirtschafts-, Steuer- und Ordnungspolitik dieses Landes aus den letzten Jahren.
Man fragt sich erstaunt: Wer hat denn da elf Jahre regiert?
Wie sind denn die hohen Kosten, die Dauer der Genehmigungsverfahren und vieles andere zustande gekommen? Diese Art von Unschuldsvermutung können Sie nicht reklamieren, die da sagt: Nun laßt uns einmal bei den Wahlen so tun, als würden wir gewissermaßen völlig neu antreten. Nein, Sie treten an mit der Bilanz, die Sie erzeugt haben, und die wird bewertet werden.
Im übrigen machen Sie da einen groben gedanklichen und politischen Fehler. Nicht nur, daß unsere Wirtschaft kapitalintensiver geworden ist und weiter werden wird. In dem Umfang, in dem sie kapitalintensiver wird, muß sie auch bildungsintensiver werden, weil die Anforderungen an die Menschen in der Produktion ständig steigen werden.
Also kann eine umfassende Modernisierung der Wirtschaft nicht nur auf der Seite der Kapitalanlage stattfinden. Dennoch äußere ich mich zunächst dazu.Internationale Wettbewerbsfähigkeit ist nur noch in einem Wettlauf der produktiven Wirtschaften auf dem Feld der Produktivität möglich.
Der Kollege Waigel sagte gestern, wir befänden uns in einem internationalen Wettkampf um Kapitalanlagen.
Da mag ja was dran sein, aber es wäre wahrlich besser, er würde im Rahmen seiner Politik zu unterscheiden beginnen, was er eigentlich in Deutschland haben will: auf der Grundlage künstlich hochgedrückter Zinsen wegen einer hohen öffentlichen Verschuldung Spekulationskapital, das in Deutschland angelegt wird, oder Produktionskapital, das in Deutschland angelegt wird?
Und das letztere, meine Damen und Herren, ist rückläufig. Das aber brauchen wir.Deshalb wenden wir uns dagegen, daß mit hohen Zinsen die Investitionstätigkeit behindert wird und gleichzeitig der Außenwert der D-Mark in den letzten Wochen und Monaten um rund 10 % gesteigert wor-
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Ministerpräsident Rudolf Scharping
den ist, was die Chancen der exportierenden Wirtschaft viel massiver behindert hat als alles das, was in Deutschland in den letzten drei Jahren geschehen ist.
Was tut denn die Bundesregierung, um die europäische Konjunktur anzukurbeln? Da tauchen dann so einige Stichworte auf, die für die deutsche Debatte interessant sein mögen; aber es ist nicht zu erkennen, wie denn das gehen sollte im Zusammenhang beispielsweise mit einem schwer ramponierten Verhältnis zu Frankreich, insbesondere wegen der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung.
Das eine Stichwort lautet: Die Maschinen sollten länger laufen. Wissen Sie, was Tarifverträge heute eigentlich schon möglich machen? Ist Ihnen klar, daß bei großen deutschen Automobilherstellern, z. B. bei BMW, z. B. bei Daimler-Benz, z. B. bei Opel, mittlerweile Maschinenlaufzeiten vereinbart worden sind auf der Grundlage geltender Tarifverträge von 120 Stunden in der Woche? Wissen Sie eigentlich, daß damit Jahreslaufzeiten für investiertes Kapital erreicht werden, die um 1 500 bis 2 000 Stunden über den Jahreslaufzeiten japanischer Unternehmen liegen?
Haben Sie eigentlich eine Vorstellung davon, was real mit Hilfe von Gewerkschaften und Tarifverträgen überhaupt möglich ist? Wenn Sie eine Vorstellung davon haben: Warum provozieren Sie dann die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften mit ständig unsinniger werdenden Vorstellungen?
Lassen Sie, Herr Wirtschaftsminister, sich doch einmal darüber informieren, daß es eine Reihe von japanischen Firmen gibt, die in ihren Produktionsländern, soweit sie außerhalb Europas liegen, kräftige Verluste machen und ihre Bilanzen zur Zeit nur deshalb ausgleichen können, weil sie in Europa und in Deutschland kräftige Gewinne machen. Was haben wir denn von einem Wirtschaftsminister, der den eigenen Standort ständig international herunterredet,
weil er ganz nebenbei etwas anderes im Kopf hat, nämlich eine bestimmte Ideologie der F.D.P. im sozialen Bereich durchzusetzen? Sie wollen ja genau die Verknüpfung zwischen wirtschaftlicher und sozialer Modernisierung und Fortschritt auf einem anderen Weg erreichen, nämlich durch Abbau von sozialen Möglichkeiten.Wenn die Produktivität steigt, steigt auch der Bedarf an Arbeitsplätzen. Da ist dann die Frage zu stellen: Was leisten Sie denn eigentlich an Hilfe, z. B. für denOsten Deutschlands wie für den Osten Europas? Warum greifen Sie entsprechende Vorschläge aus der Wirtschaft nicht auf? Was geschieht mit Blick auf Ihren eigenen Haushalt?Die Bundesrepublik Deutschland hat in den letzten Jahren im Welthandel mit sogenannten High-TechProdukten einen leichten Rückgang ihres Welthandelsanteils erlebt. Im gleichen Zeitraum ist der Anteil Japans an solchen Welthandelsströmen mit HighTech-Produkten von unter 14 % auf über 19 % gestiegen. Das legt nahe, einmal einen Blick zu werfen in den Haushalt und in die Politik der Bundesregierung, soweit es um Forschung und Technologie geht.Der Anteil dieses Haushaltes am Gesamthaushalt ist in den letzten Jahren um 35 % gesunken. Er beträgt nur noch 1,9 %. Der Haushalt für die Hochschulen soll stagnieren, im Jahre 1995 sogar zurückgehen. Im Haushalt für Forschung und Technologie werden rund 40 % der Ausgaben für abgelegte Großtechnologien ausgegeben, aber nur 8 % für innovative neue Zukunftstechnologien. Fast kein innovativer Mittelständler hat auch nur den Hauch einer Chance, an solche Mittel überhaupt heranzukommen.
Wenn man sich dies einmal anschaut, dann wird man feststellen, daß die Rede von der ökologischen Modernisierung der Volkswirtschaft konkret zu verbinden ist mit der Forderung, endlich nicht die Forschungsförderung unbedingt auszuweiten, aber sie jedenfalls so umzustellen, daß Informationstechnologien, Umwelttechnologien, auch die Gen- und Biotechnik besser gefördert werden können, als das bisher in Deutschland der Fall ist.
— Daß da Widerstände und Ängste zu überwinden sind, weiß ich sehr wohl.
Ich will mal eines sagen: Mit Vernunft und Argumenten eine Angst oder eine Furcht zu überwinden scheint mir immer noch besser zu sein als in dem blinden Kinderglauben durch die Welt zu laufen, man dürfe alles machen, was man machen kann.
Wir werden in Zukunft nur bestehen, wenn wir für unsere Produkte weniger Rohstoffe und weniger Energie verbrauchen und uns die Zukunftsmärkte, von denen alle Fachleute sagen, daß nur auf ihnen in Zukunft dauerhaft Beschäftigung erreicht werden kann, erschließen.Um zu dem zweiten Beispiel noch etwas zu sagen, das mit der Produktivität und Kapitalintensität unserer Wirtschaft zu tun hat: Man könnte ja in diesem Sinne der Umschichtung der Finanzierung, was Lohnnebenkosten und versicherungsfremde Leistungen angeht, und im Sinne dieser eben geschilderten Überlegungen durchaus für eine Modernisierung unserer Volkswirtschaft sorgen, die auf lange Sicht die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands vermutlich besser si-
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Ministerpräsident Rudolf Scharping
ehern würde, als sich das die meisten in der Bundesregierung vorstellen können.Dann sagen Sie, die Genehmigungsverfahren seien zu lang,
und ich frage mich, wer denn eigentlich die Gesetze dafür gemacht hat.
— Wir hätten das Immissionsschutzrecht gemacht, wir hätten andere Gesetze gemacht?Ich will Ihnen einmal eines sagen: Wenn Sie eine minimale Erfahrung davon haben, was mit Ihren Gesetzen in den Ländern gemacht werden muß — und die traue ich mir nun allerdings zu —, dann wissen Sie auch, auf welche ungeheuren Schwierigkeiten man stößt, wenn man Verwaltungen modernisieren, wenn man bei Genehmigungsverfahren auf Projekte bezogenes Management durchsetzen will und wenn man dafür sorgen will, daß investierende Unternehmen wenigstens auf diesem Feld Ansprechpartner haben, mit denen sie gewissermaßen koordinierend reden können, anstatt daß sie gezwungen werden, 30 oder 40 Behörden unterschiedlichster Art anzulaufen, um eine Genehmigung durchzubekommen.
Im übrigen weise ich Sie dann darauf hin, daß bei dieser Dauer Von Genehmigungsverfahren manches aus dem Blick gerät. Ich versage mir einmal jede Bemerkung zum DSD, auch mit Rücksicht auf die Zeit. Wenn wir es nicht schaffen, endlich die Idee des produktintegrierten Umweltschutzes durchzusetzen, von der Idee Abschied zu nehmen, daß nur noch am Ende des Schornsteins mit komplizierten Regelwerken und Techniken kontrolliert werden müsse, ob Schadstoffgrenzwerte eingehalten werden, dann fürchte ich, daß wir in der Umweltpolitik nicht weiterkommen.
Weil wir bei der Dauer von Genehmigungsverfahren sind: Ich entnehme vielen Gesprächen mit Vertretern der Industrie, daß sie unter anderem wegen dieser Situation Standorte im Ausland, im europäischen wie außereuropäischen, suchen und daß dabei eine Rolle spielt, was in der öffentlichen Debatte leider überhaupt keine Rolle spielt. Da könnten Sie als Bundesregierung sogar unmittelbar etwas tun. Die Entwicklung in der Zahl der Patentanmeldungen weltweit ist ja nun tatsächlich besorgniserregend.
Das ist ja relativ kümmerlich, was da beispielsweise im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten oder zu Japan in den letzten Jahren entstanden ist. Das sage ich nicht als Kritik an den Unternehmen,
aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß dieser Prozeß noch verschärft wird, wenn es dabei bleibt, daß durch die Dauer von Zulassungsverfahren der Patentschutz in seiner zeitlichen und in seiner wirtschaftlichen Verwertbarkeit so ausgehöhlt wird wie das im Augenblick in Deutschland der Fall ist.
Lassen Sie mich eine kurze Bemerkung zur Staatstätigkeit selbst machen. Die öffentlichen Investitionen sinken, obwohl es erforderlich wäre, sie auf dem derzeitigen Niveau einigermaßen zu halten, schon aus konjunkturellen Gründen und aus Gründen des Arbeitsmarktes. Personal müßte wesentlich effizienter eingesetzt werden
und der Staat selber seinen umfangreichen Rege-lungs- und Bürokratiemechanismus auf das notwendige Maß reduzieren.
Meine Damen und Herren! Manche werden sagen: Wie soll denn unter diese Umständen Konsolidierung aussehen? — Sie wissen ja selbst, daß die SPD-Bundestagsfraktion Ihnen dazu ein umfangreiches Paket vorgelegt hat.
Es wäre wünschenswert, wenn Sie endlich einmal eine öffentliche und intelligente Debatte darüber beginnen könnten, ob es nicht durch Einkommensgrenzen, Umschichtungen und andere Methoden, die ich Ihnen jetzt genannt habe, mit denen es auch zu einer klugen Verbindung der Modernisierung der Volkswirtschaft, der Erhaltung sozialer Gerechtigkeit und der Konsolidierung öffentlicher Finanzen kommen kann.
Statt dessen haben Sie aus Hoffnungen Enttäuschungen, aus Zuversicht Zorn und aus vieler Freude über die deutsche Einheit — die, das füge ich ausdrücklich hinzu, der Bundeskanzler unbestritten im richtigen Moment und konsequent ergriffen hat —
häufig Verzweiflung gemacht.Ich darf noch eines hinzufügen: Das gemeinsam begonnene Bemühen, in Deutschland Verhältnisse zu verbessern — und so habe ich die Verhandlungen über den öffentlich so genannten Solidarpakt verstanden —, kündigen Sie mit der Vorlage dieses Haushalts politisch, ökonomisch und sozial auf. Das ist in hohem Maße bedauerlich und wird energischen Widerstand finden.
Ich wiederhole auch hier, daß es mit Blick auf die Situation der Menschen gerade im Osten Deutschlands und mit Blick auf die Situation der Gemeinden, denen mit dieser Politik alles wieder genommen wird, was ihnen mit dem Solidarpakt eigentlich an Möglichkeiten eröffnet werden sollte, eine besonders hohe
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14742 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Ministerpräsident Rudolf Scharping
Verantwortung der Ministerpräsidenten aus dem Osten Deutschlands ist, ob dieses Paket im Bundesrat eine Chance erhält. An dieser Verantwortung werden wir Sie messen.
Sie lenken gerne ab, ich weiß, und dafür dienen dann zwei Themen, obwohl Wirtschaft und Soziales, Fortschritt und Gerechtigkeit sowie die friedliche Entwicklung im Mittelpunkt stehen sollten. Das erste Ablenkungsmanöver geschieht in der Außenpolitik
mit der aus Ihrer Sicht möglicherweise schönen und sinnvollen, im Grunde aber politisch ebenso unfruchtbaren wie gefährlichen Verkürzung auf die Frage: Wie sieht das denn mit der Beteiligung an Maßnahmen der Vereinten Nationen und mit den Blauhelmen aus?
Ich will Ihnen eines sehr deutlich sagen: Wer sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich betrachtet, wer sich die Sorgen betrachtet, die beitrittswillige Länder haben, der müßte feststellen, daß es wichtiger wäre, eine außenpolitische Perspektive und eine Perspektive für Europa zu entwickeln, die der Europäischen Gemeinschaft Vollbeschäftigungspolitik, Vertiefung und Erweiterung gestattet. Leider machen Sie da wenig.
Es wäre sinnvoll, energischer dafür einzutreten, daß die NATO, die uns bisher in den letzten gut 40 Jahren die klassische Sicherheit gewährleistet hat,
als regionales Verteidigungsbündnis ausgedehnt wird; denn neben vielem anderen, das man argumentativ erwähnen könnte — denken Sie einmal einen kurzen Moment an den Zypern-Konflikt zurück —, wird die Frage wohl berechtigt und einleuchtend, die lautet, ob nicht die gemeinsame Mitgliedschaft von Griechenland und der Türkei mit dafür gesorgt hat, daß auf dem Höhepunkt dieses Konflikts zwischen diesen beiden Staaten ein Krieg nicht entstanden ist. Das legt nahe, die NATO auch nach Osten entsprechend auszudehnen,
um sich abzeichnende Konflikte zwischen Staaten längs der Wohnorte ethnischer Gruppen entsprechend eindämmen zu können. Das legt weiter nahe, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu einem wirksamen Instrument der Konfliktvermeidung und der Konfliktverhütung auszubauen.
Im übrigen frage ich mich, wie Sie eigentlich dem Verdruß hinsichtlich der Politik, der ja weniger gegenüber der Politik, mehr gegenüber den Parteien oder einzelnen politischen Verhaltensweisen besteht, gerade bei jüngeren Leuten entgegenwirken wollen, wenn Sie die Diskussion um die Außenpolitik auf die Frage der Blauhelme verkürzen und die Frage der Entwicklungshilfe völlig außen vor lassen.
Wenn es nicht endlich wieder wirksame Beiträge der hochindustrialisierten Staaten für globale Entwicklung, für Frieden und Umwelt gibt, dann werden wir immer mehr solcher ethnischer, religiöser und aus Hunger, Angst und Verzweiflung geborener Konflikte erleben. Und das kann man am Ende nicht mit Soldaten bekämpfen. Dem muß man mit entsprechender Entwicklungspolitik vorbeugen.
Wir werden ja an einem sehr aktuellen Beispiel sehen, welche Maßstäbe diese Bundesregierung eigentlich hat. Wenn ich mich recht erinnere, ist in die Finanzierung des Golfkrieges ein Betrag von etwa 15, 16, 17 Milliarden DM geflossen. Es wird hoch spannend und aufschlußreich zugleich sein, ob die Bundesregierung in der Lage ist, mit einem auch nur annähernd so großen Betrag das wirksam zu begleiten, was mit großem Mut die israelische Regierung und die Befreiungsorganisation der Palästinenser jetzt begonnen haben.
Da wird man sehen können, welche Maßstäbe für Außenpolitik gelten.Nein, wir knüpfen an die große Tradition der sozialdemokratischen und liberalen Außenpolitik an, verbunden mit den Namen von Willy Brandt, und Walter Scheel, fortgesetzt von Hans-Dietrich Genscher, und wir sagen — —
— Ich füge, wenn es Sie beruhigt, Herr Kollege Schäuble, den Namen von Helmut Schmidt gern hinzu. Ich wollte in einem anderen Zusammenhang auf ihn zu sprechen kommen.Wir sagen: Mit dem Beitritt Deutschlands zu den Vereinten Nationen sind Rechte und Pflichten entstanden.
Die entscheidende Frage unserer Diskussion ist, wie wir diese Rechte und Pflichten wahrnehmen wollen.
Vor diesem Hintergrund werden Sie keine Chance haben, die Sozialdemokraten weiter in eine Ecke der mangelnden internationalen Verantwortung schieben zu wollen.
Vielleicht werden wir in der Lage sein, auch in diesem Hause einen Konsens darüber herbeizuführen, daß sich die Bundesrepublik Deutschland längs der Maßstäbe, die sich in den letzten 10, 15 Jahren in den Vereinten Nationen für Friedenserhaltung und
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14743
Ministerpräsident Rudolf Scharping
Konfliktverhütung entwickelt haben, im Falle der außenpolitischen Übereinstimmung, was Maßstäbe und Überzeugung angeht, an einzelnen dieser Maßnahmen uneingeschränkt beteiligen kann, soweit es darum geht — ich nenne Ihnen einige dieser Maßnahmen —, freie Wahlen zu sichern — wie in El Salvador oder in Angola —, Waffenstillstand oder Friedensabkommen zu sichern — wie im Nahen Osten oder zwischen Indien und Pakistan —, Menschenrechte zu schützen, wie es die Vereinten Nationen in einer konsequenten und richtigen Weiterentwicklung jetzt im Nordirak unternommen haben.Meine Damen und Herren, wenn Sie mehr wollen als Friedenserhaltung und Konfliktverhütung, wenn Sie mehr wollen als Blauhelme, die sich selbst und ihren Auftrag verteidigen können, wenn Sie mehr wollen als wirtschaftliches Embargo einschließlich der Möglichkeiten, es durchzusetzen, und wenn Sie mehr wollen als eine Bereitstellung von Soldaten, die speziell für solche Aufgaben ausgebildet und ausgerüstet sind, dann müssen Sie das sagen, anstatt es schleichend herbeizuführen.
Sie sagen, Deutschland müsse ein Land wie jedes andere werden. Ich halte das für eine törichte Rede.
Wir müssen nicht werden wie jedes andere Land. Denn dann müssen Sie die Frage beantworten, wie welches dieser Länder wir denn werden sollen.
Da reden Sie über den Weltsicherheitsrat, in den Japan einrücken soll, Deutschland auch und hoffentlich auch Länder aus den anderen Regionen der Welt, die man mit der Dritten Welt bezeichnet. Wissen Sie: Ich habe von Ihnen noch nichts darüber gehört, daß die japanische Verfassung jeden Einsatz von Soldaten außerhalb der Landesverteidigung verbietet.
Das scheint Japan aber nicht daran zu hindern, einen Sitz im Weltsicherheitsrat anzustreben. Nein, wir halten an der Grundüberzeugung fest, daß Deutschland aus kluger Schlußfolgerung, eigener Erfahrung und praktizierter Politik der letzten Jahrzehnte eine zivile Macht bleiben muß
und daß sich Deutschland an keiner einzigen Stelle dazu bereiterklären sollte, aktiv selbst Krieg zu führen oder mit anderen in den Krieg zu ziehen.
Dann haben Sie ein zweites Ablenkungsmanöver. Das ist die innere Sicherheit.
Auch vor diesem Hintergrund sage ich, weil das im Vermittlungsausschuß zwischen Bundestag und Bundesrat in diesen Tagen auch noch eine Rolle spielt: In Deutschland wird von vielen Bürgern eine wachsendeAlltagskriminalität registriert, ohne daß deren organisierter Hintergrund sichtbar würde.
Er ist aber vorhanden. Die hohe und leider wachsende Zahl von organisierten Kfz-Diebstählen, von Schutzgelderpressungen, der wachsende Drogenhandel, die wachsenden Gewinne aus Prostitution und Menschenhandel und viele andere Erscheinungen haben leider einen wachsenden organisierten Hintergrund.
Eine Partei wie die Union, die seit elf Jahren regiert und nach dieser Zeit eines dauerhaften und — aus dem Gefühl der Menschen — besorgniserregenden Wachstum der Kriminalität ein völlig unzulängliches halbherziges Gesetz zur Bekämpfung der Geldwäsche vorlegt, hat jede Berechtigung verspielt, über dieses Thema noch zu räsonieren.
Mit organisierter Kriminalität werden in Deutschland 80 Milliarden, manche sagen 100 Milliarden DM im Jahr verdient. Da geht es nicht nur um die Höhe der Einzahlung oder die Fristen für die Nachprüfung bei der Staatsanwaltschaft. Da geht es insbesondere darum, ob beim Verdacht auf illegalen Erwerb eines Vermögens dieses Vermögen beschlagnahmt werden kann.
Wenn das nicht geschieht, dann verurteilen Sie Polizei und Justiz zu einer Statistenrolle. Was Sie machen, ist auf einen einfachen Nenner zu bringen: Sie schätzen das Bankgeheimnis organisierter Gauner höher als deren wirksame Bekämpfung zum Schutz der Sicherheit und der Freiheit von Bürgern.
Nun habe ich bemerkt, daß der Bundesinnenminister langsam auf die richtige Fährte kommt und sich allmählich dieser Überlegung nähert, die die Sozialdemokraten seit geraumer Zeit öffentlich äußern. Hinzugefügt werden muß, daß Einsatzmöglichkeiten und Ausbildung der Polizei verbessert werden müssen. Wir werden Ihnen im übrigen auch nicht erlauben, mit dem schon im Wort höchst problematischen Begriff des „Lauschangriffs" weiter eine billige Verkürzung eines komplizierten Themas auf diesen einen Sachverhalt zu betreiben.
Der Lauschangriff wirft bei mir immer die Frage auf, ob der Rechtsstaat wirklich angreift oder ob er nur eingreift, um Freiheit und Sicherheit von Bürgern zu schützen. Wenn man sich dann einmal betrachtet, was real passiert, so sage ich Ihnen folgendes: Es wird streng zu beachten sein, was sich aus Art. 1 des Grundgesetzes und aus dem — unantastbaren — Kernbestand der Grundrechte ergibt. Auf dieser Grundlage wird eine Regelung zu finden sein — wir werden es Ihnen jedenfalls vorschlagen —, mit der die im internationalen Vergleich ungewöhnlich niedrigen Grenzen des Rechtsstaats beim Abhören des Telefons
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14744 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Ministerpräsident Rudolf Scharping
verbessert werden. In Deutschland sind im Jahr 1992 ungefähr 3 500 Abhörmaßnahmen durchgeführt worden, in den Vereinigten Staaten von Amerika mit Telefonüberwachung, Richtmikrophonen und anderen Möglichkeiten gerade etwas über 800 — in einem Land, das mehr als doppelt so groß ist und mit Kriminalität genauso, vielleicht noch stärker zu kämpfen hat als wir. Das deutet darauf hin, daß in diesem Bereich der rechtsstaatliche Schutz verbessert werden soll und muß.Im übrigen werden wir Ihnen dann auch vorschlagen, in den beschriebenen Grenzen des unantastbaren Kernbestands der Grundrechte bei konkretem Verdacht auf Beteiligung an schwerster Straftat entsprechende Maßnahmen zu ermöglichen, gleichzeitig zu regeln, daß dieser Eingriff in den Grundrechtsschutz des Art. 13 GG von der Pflicht begleitet wird, solche Maßnahmen offenzulegen, soweit der Betroffene zustimmt und die Maßnahme erkennbar keinen begründeten Verdacht als Grundlage hatte.Meine Damen und Herren, das wird ein Paket sein. Es wird sich herausstellen, ob die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien endlich bereit sind, wirksam etwas zu tun gegen die Geldwäsche, gegen die organisierte Krinimalität, und ob sie dann bereit ist, die notwendigen Maßnahmen in der Reihenfolge ihrer Bedeutung zu treffen.Wir sind dazu bereit, und ich sage Ihnen sehr deutlich: Das wird der politischen Auseinandersetzung in Deutschland gut tun. Es wird nämlich helfen, endlich die Dinge in den Mittelpunkt zu rücken, die in den Mittelpunkt der Diskussion gehören — nicht nur weil sie von dem Umfang der Probleme das Wichtigste sind, sondern weil sie die Mehrzahl der Menschen in unserem Land berühren, weil sie Vertrauen wiederherstellen, Glaubwürdigkeit der Politik allmählich wieder in Ordnung bringen können.Das setzt voraus, daß wir bei Aufgaben und ihrer Finanzierung eine klare Zuordnung vornehmen, daß wir die wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Kreisläufe in unserer Gesellschaft wieder in Ordnung bringen, daß wir neue wirtschaftliche Dynamik entfalten und damit eine sinnvolle Zukunft eröffnen — auch auf dem Arbeitsmarkt —, daß wir ein Bündnis der Starken und Leistungsfähigen in diesem Land herbeiführen; denn es wird gerade ein Appell an diejenigen sein, die sich Eliten in unserem Land nennen, zusammenzustehen und selbst etwas zu leisten, damit nicht die Schwächeren die Lastesel der deutschen Einheit werden müssen.
Es wird darauf ankommen, soziale Gerechtigkeit wiederherzustellen und soziale Belange nicht nur nach der Höhe der Einkommen zu differenzieren. Es wird darauf ankommen, Kultur und Wissenschaft, kritische Bürger, Intellektuelle wieder zum Dialog, zum öffentlichen Diskurs über die Zukunft unseres Landes zusammenzubekommen, anstatt die enttäuschte Abwendung zu dulden, die sich in den letzten Jahren dank Ihrer Politik breitgemacht hat. Es wird also darauf ankommen, diesem Land und den Menschen, die in ihm leben und arbeiten, eine neueHoffnung, neuen Mut zu geben, eine neue Chance zu eröffnen.Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler! Wir bauen nicht auf Ihren Niedergang. Warum auch? Wir bauen auf unsere bessere Alternative und auf eine bessere Zukunft in Deutschland.
Als nächster spricht Dr. Wolfgang Schäuble.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin am für mich etwas überraschenden Ende der Rede des Ministerpräsidenten Scharping etwas ratlos.
Ich hatte gedacht, wir würden eine Vorstellung vermittelt bekommen, wie sich die Sozialdemokraten und ihr neuer Parteivorsitzender und ihr möglicher künftiger Kanzlerkandidat
die deutsche Politik in diesem Jahr und in den kommenden Jahren vorstellen.
— Ich habe versucht, sehr aufmerksam zuzuhören, und ich hatte im wesentlichen den Eindruck, daß wir einen Zwischenbericht über den Stand der Beratungen in verschiedenen parteiinternen Kommissionen der Sozialdemokratischen Partei über einige parteiinterne Auseinandersetzungen bekommen haben.
Das hat einen gewissen Informationswert; dafür sind wir dankbar.
Aber das eigentliche Thema dieser Debatte um den Bundeshaushalt 1994 und um die Gesetze zur Konsolidierung der Staatsfinanzen und zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums ist doch wohl die Frage, wie wir mit den Herausforderungen fertig werden, die sich nach der deutschen Einheit und angesichts der dramatischen Veränderungen in Europa und weltweit stellen, und wie wir einen sicheren Weg in eine gute Zukunft finden, und dazu haben Sie keinen Beitrag geleistet, Herr Scharping.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14745
Dr. Wolfgang SchäubleDer Haushaltsentwurf und die vorgelegten Begleitgesetze und die hervorragende Rede von Bundesfinanzminister Theo Waigel gestern
haben diesen Weg aufgezeigt.
Die beste Entscheidung von Herrn Scharping war bisher — das habe ich gestern so verstanden —, Frau Matthäus-Maier nicht in seine Programmkommission aufzunehmen. Das war eine richtige Entscheidung.
Es geht um die finanzpolitische Bewältigung der deutschen Einheit oder — richtiger gesagt — der Folgen von 40 Jahren Teilung und Sozialismus.
— Ja, natürlich. 40 Jahre Sozialismus sind eine falsche Politik in Deutschland gewesen.
Und es geht im übrigen auch und zugleich — das hat nichts mit der deutschen Einheit zu tun; das hätten wir auch ohne die deutsche Einheit — um die Frage, wie wir die strukturellen Probleme unserer Wirtschaft überwinden und lösen angesichts eines viel härter gewordenen weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerbs. Das sind die entscheidenden Fragen, die sich in dieser Debatte stellen.
— Herr Kollege Klose, von Ihnen sind wir wirklich sachkundigere und vertieftere Beiträge gewohnt, und wir freuen uns auch darauf, daß Sie in der Debatte noch das Wort nehmen.
Aber bei der Lösung dieser Fragen — und das ist doch das entscheidende Problem —
ist der Spielraum deutscher Politik ungewöhnlich gering, und das zeigt sich im übrigen auch in der Kritik der Sozialdemokraten an der Politik von Regierung und Koalition.
Die Enge des Spielraums ist doch dadurch gekennzeichnet, daß wir in Deutschland — das kritisieren Sie auch — eine zu hohe Belastung der Wirtschaft und der Steuerzahler mit Steuern und Abgaben haben. Wir haben zugleich eine zu hohe Neuverschuldung vonBund, Ländern und Gemeinden. Weil wir beides zugleich haben, ist es völlig unvermeidlich, über Einsparungen den Haushalt zu konsolidieren und zugleich Spielräume für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung zu schaffen. Die Einsparungsvorschläge kritisieren Sie auch, ohne daß Sie irgendwelche Alternativen vorschlagen.
Wenn wir auf der Ausgabenseite der Haushalte die Spielräume für Konsolidierung und Förderung von Wachstum und Beschäftigung schaffen müssen — es gibt keinen anderen Weg; wir haben an allen Ihren scheinbaren Alternativen gemerkt, es sind reine Nullnummern und Luftbuchungen —,
wenn kein Weg daran vorbeiführt, dann ist es unvermeidlich, zu Einsparungen auch im Bereich sozialer Leistungen zu kommen. Das weiß jeder, der sich eine Stunde oder mehr mit den Fragen staatlicher Finanz-und Haushaltspolitik beschäftigt hat. Es ist bitter, aber unvermeidlich. Wer das demagogisch zu tabuisieren versucht, leistet keinen Beitrag zur Lösung der deutschen Probleme und zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung und zur Sicherung des sozialen Standorts in unserem Lande. Da hilft noch so schönes Reden nicht.
Ich habe mir bei Ihren Diskussionbeiträgen gestern und auch bei dem von Ihnen, Herr Ministerpräsident Scharping, heute vormittag gelegentlich gedacht: Wir haben in der Wirtschaftspolitik nach dem Stabilitätsund Wachstumsgesetz ein magisches Viereck. Aber in der sozialdemokratischen Oppositionsstrategie entdecke ich etwas anderes: Sie kritisieren zugleich die zu hohen Steuern und Abgaben, die zu hohe Neuverschuldung sowie alle Sparvorschläge. Das ist ein magisches Dreieck Ihrer Oppositionsdemagogie.
Damit leisten Sie keinen Beitrag zur Lösung unserer Probleme.
Weil die vorgeschlagenen Einsparungen eher die Untergrenze der Konsolidierung bilden, werden wir das vorgeschlagene Einsparvolumen bei den weiteren Beratungen dieses Haushalts und der Begleitgesetze durchsetzen müssen: um der Zukunft unseres Landes und seiner Bürger und um der sozialen Sicherheit in diesem Lande willen. Es führt kein Weg daran vorbei.
Man wird über Einzelheiten reden, aber wir werden das Einsparvolumen insgesamt bewältigen müssen. Davon kann man nicht ablenken.
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14746 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dr. Wolfgang SchäubleIch habe mir Ihre Alternativvorschläge angesehen. Ich weiß nicht, Frau Matthäus-Maier, ob das Konzept vom 30. Juni noch gelten soll.
Ich will Ihnen einen Punkt nennen. Gestern haben Sie z. B. von der ökologischen Steuerreform gesprochen. Herr Scharping hat es auch getan. Sie haben zwar in einem Satz die von uns vorgeschlagenen oder schon vorgenommenen Erhöhungen der Mineralölsteuer kritisiert — weil Sie alles kritisieren, was Regierung und Koalition machen —, haben aber im nächsten Satz gesagt, daß Sie bei der ökologischen Steuerreform die Mineralölsteuer natürlich erhöhen wollen. Dafür wollen Sie die Lohn- und Einkommensteuer senken. Jedoch haben Sie am 30. Juni — ich habe das Papier vorliegen — die von uns vorgeschlagenen Senkungen der Einkommen- und Lohnsteuerspitzensätze ausdrücklich abgelehnt und kritisiert.
Das ist eine merkwürdige ökologische Steuerreform.
Wenn Sie eine Wachstums- und beschäftigungsfreundliche Lohn- und Einkommensteuerpolitik betreiben wollen, führt kein Weg daran vorbei, die Lohn-und Einkommensteuerprogression nicht weiter zu verschärfen.
Sie wissen auch, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland entscheidend darunter leidet, daß wir insbesondere im Bereich der mittleren Einkommen eine immer noch zu hohe progressive Steuer- und Abgabenbelastung haben.
Herr Ministerpräsident Scharping, ich will einen Satz zu Ihrem Vorwurf sagen, die Regierung und die Koalition, CDU/CSU und F.D.P., würden mit dem vorgelegten Haushalt und den Gesetzgebungsvorschlägen die Vereinbarungen des Solidarpakts aufkündigen. Das ist eine Argumentation, die wirklich zu kurz greift. Wir haben uns im Frühjahr dieses Jahres intensiv mit einer bestimmten Frage auseinandergesetzt. Sie haben vorhin übrigens Bundeskanzler Schmidt doch nicht mehr erwähnt, obwohl Sie angekündigt hatten, daß Sie an anderer Stelle noch auf ihn zurückkämen.
Herr Schmidt hat in seinem Buch, in dem er uns allen, Ihnen und uns, viele Ratschläge und Belehrungen gibt — das müssen wir gemeinsam tragen; es ist auch in Ordnung;
die Kritik muß sich immer stärker an die Regierunghalten —, geschrieben, man möge, weil das Problemunlösbar sei, nicht den Versuch unternehmen, die Fragen der Finanzverteilung zwischen Bund und Ländern ab 1995 schon jetzt zu lösen. Das sei viel zu schwierig und doch nicht zu schaffen. Wir haben es aber miteinander geschafft, unter der Führung von Helmut Kohl und Theo Waigel. Der Preis dafür war allerdings hoch. Es ist wahr: Man darf nicht bei allen Fragen zwischen CDU/CSU und SPD oder auch F.D.P. — Sie haben es heute so arg mit der F.D.P. gehabt; das hilft auch nichts
— die Sachen hin- und herschieben. Ich finde, daß wir insgesamt im Bund-Länder-Verhältnis ein wenig kritischer werden müssen im Hinblick auf die Tatsache, daß die Lastenverteilung zwischen Bund und Ländern nicht mehr fair ausgewogen ist. Die westdeutschen Länder insgesamt haben beim Solidarpakt einen hinreichenden Beitrag zur Bewältigung der gemeinsamen Lasten der deutschen Einheit und der Überwindung von 40 Jahren Teilung und Sozialismus nicht geleistet.
Das wird übrigens nicht dadurch besser, daß man aus den Verhandlungen herausgegangen ist und zu Hause erklärt hat, man habe eigentlich damit gerechnet, daß die Belastungen für die westdeutschen Länder etwas größer geworden wären. Das hat sozusagen dem Faß die Krone aufs Gesicht gesetzt.Die Sozialdemokraten haben bei den Verhandlungen zum Solidarpakt jede Bereitschaft, Einsparungen gemeinsam zu tragen, ausdrücklich verweigert und gesagt, das sei Sache der Regierungsmehrheit. Deswegen müssen wir das jetzt in dieser Gesetzgebung machen. Damit kündigen wir überhaupt keine gemeinsame Vereinbarung zum Solidarpakt auf. Da Sie nicht bereit waren, Einsparungen gemeinsam zu tragen, müssen wir es halt mit der vom Wähler entschiedenen Mehrheit in diesem Bundestag allein durchsetzen, hoffend, daß Sie nicht eine Verweigerungsstrategie im Bundesrat endgültig durchhalten.Herr Scharping, überlegen Sie es sich noch einmal, ob Sie die ostdeutschen Länder wirklich auffordern wollen, im Bundesrat dieses Gesetzgebungswerk zu verhindern, durch das die Leistungen für die ostdeutschen Länder — Theo Waigel hat es gestern ausführlich und überzeugend dargelegt — sehr gesteigert werden. Übrigens haben nach den Solidarpaktverhandlungen die Ministerpräsidenten aller ostdeutschen Länder erklärt — das wollen wir festhalten; sie hatten einen gemeinsamen Sprecher —, daß das Ergebnis dieser Verhandlungen für die neuen Bundesländer so sei, daß die neuen Bundesländer in den kommenden Jahren keine zusätzlichen finanziellen Forderungen mehr an den Bund stellen würden.Jetzt fordern Sie sie auf, das Gesetzgebungswerk abzulehnen. Das ist wirklich unverantwortliche Obstruktionspolitik.
Sie haben den Bericht der Bundesregierung zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Bundesrepublik Deutschland kritisch angesprochen und gesagt: Der liest sich ja wie eine Kritik an der bisherigen Politik. Im
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14747
Dr. Wolfgang SchäubleGrundgedanken ist daran etwas, worüber man, finde ich jedenfalls, völlig unvoreingenommen miteinander reden sollte. In diesem Bericht wird ohne Schuldzuweisungen eine Lage beschrieben, die in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten, auch in den 80er Jahren in der Verantwortung vieler entstanden ist: in der Verantwortung von Bund und Ländern, von Politik, Wirtschaft und Tarifpartnern, von allen miteinander.Es ist ja auch wahr, daß über viele Fragen, über die wir heute unverstellter miteinander reden, vor drei oder vier Jahren überhaupt nicht zu reden gewesen ist.
Sie haben im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung — darauf komme ich noch zu sprechen — über unsere Vorschläge, bei der Lohnfortzahlung Elemente der Selbstbeteiligung einzuführen, in dem üblichen sozialdemokratischen Argumentationsmuster etwas diffamierend hinweggesprochen. In Wahrheit ist die Diskussion heute viel weiter. Die allermeisten, auch aus Ihren Reihen, einschließlich der Gewerkschaften, sagen ja, daß die Verwirklichung des Grundgedankens, in der Lohnfortzahlung wie in anderen Bereichen unserer sozialen Sicherung gewisse Elemente der Selbstbeteiligung und der Eigenverantwortung einzuführen, ganz unvermeidlich notwendig ist, weil wir ohne solche Steuerungselemente alle diese Leistungen im Übermaß in Anspruch nehmen, wir alle miteinander. Das Ergebnis dessen sind die Fehlsteuerung und die Fehlallokation von Ressourcen. Das ist im Grunde unstreitig.
Die sachlich vertiefte und ernstzunehmende Kritik betrifft im Grunde die Frage, ob man das mit der Pflegeversicherung in einen engen Zusammenhang bringen soll oder nicht. Ich bin ja ganz froh, daß die Diskussion in Deutschland heute so ist. Demjenigen, der vor zwei Jahren auf die Idee gekommen wäre, darüber zu reden, daß man bei der Lohnfortzahlung Elemente der Selbstbeteiligung einführen muß — ohne die Pflegeversicherung —, wäre ein solches Geschrei entgegengeschlagen, daß er überhaupt nicht mehr gehört worden wäre. Insofern sind wir ein Stück weitergekommen.Das zeigt doch, daß wir, wenn wir die Probleme bewältigen wollen, wie wir in Zukunft wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Sicherheit in einer Welt härter werdenden Wettbewerbs bewahren wollen, mit gegenseitigen Schuldzuweisungen nicht so furchtbar weit kommen. Wir müssen vielmehr in gemeinsamer Verantwortung — Bund, Länder, Gemeinden, Politik, Wirtschaft, Tarifpartner, alle miteinander — darüber nachdenken, wie wir verkrustete Strukturen ein Stück weit aufbrechen können. In diesem Sinne haben wir in Deutschland in 40 Jahren wachsenden Wohlstands bis zur deutschen Einheit über unsere Verhältnisse gelebt.
Es wird Zeit, daß wir ein Stück weit hier miteinander korrigieren. Der Diskussion kann niemand ausweichen.
Folgendes ist ganz richtig. Das haben Sie auch gesagt und das begrüße ich: Es ist ja nicht alles falsch, bloß weil Sie es als Vorsitzender der SPD sagen. Ich hoffe, daß auch nicht alles aus Ihrer Sicht falsch ist, bloß weil ich es als Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion sage. Ich sage, daß wir uns, wenn wir den Wirtschaftsstandort Deutschland sichern wollen, übrigens auch in einem verbesserten und vertieften Dialog zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung, stärker darum kümmern müssen, in welchen Bereichen modernster technologischer Entwicklung die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland Zukunftschancen hat und welcher konzentrierten Anstrengungen von Staat und Wirtschaft es bedarf.Entscheidungen in Korea über ein modernes, schnelles Zugsystem zeigen, daß wir diesen Dialog durchaus noch effizienter machen können. Ich werbe sehr dafür, daß wir beim Transrapid nicht wieder Entscheidungen und Entwicklungen versäumen, so daß uns hinterher gesagt wird: Wenn ihr selber es in zehn Jahren nicht auf die Schiene gebracht habt, braucht ihr euch nicht zu wundern, daß wir ein System wählen, das eben in Frankreich 20 Jahre länger läuft als das System in Deutschland.
Sie haben auch davon gesprochen — das begrüße ich, und ich will es unterstreichen —, daß man den Menschen Ängste nehmen muß, die gerade mit der für Laien wie mich ungeheuer rasanten, sich beschleunigenden Entwicklung in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik verbunden sind, und daß man solche Ängste überwinden muß. Ich teile auch dieses.Aber vielleicht könnten Sie sich selbstkritisch fragen — oder ertragen, daß ich Sie frage , ob nicht die Sozialdemokraten insbesondere in ihren rot-grünen Bündnissen einen großen Teil an Verantwortung dafür haben, daß sie genau diese Ängste in den zurückliegenden Jahren auch geschürt haben.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, wenn Sie sich bemühen und dafür einsetzen, daß dieser Teil der Sozialdemokratie stärker zurückgedrängt wird. Es wird gut sein für unser Land insgesamt, weil die Vernunft beim Angehen gegen das Schüren von Ängsten solch einen schweren Stand hat. Darum geht es doch.
Ich bin nicht ganz sicher, ob Ihre Schuldzuweisungen betreffend die Dauer des Genehmigungsverfahrens an den Bund und die Bundesregierung zutreffend sind. Ich glaube auch nicht, daß es die Länder alleine sind. Ich glaube, daß auch das etwas mit einem übertriebenen Sicherheitsdenken der Deutschen und mit übertriebenen Ansprüchen an bürokratische Perfektion und mit einer übertriebenen Rechtsstaatlichkeit zu tun hat.
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14748 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dr. Wolfgang Schäuble— Man kann den Perfektionismus, Herr Kollege Duve, zu weit treiben. Es gibt schon im alten Rom den Satz: „Summum ius, summa iniuria". Bei dem Versuch, perfektionistische Einzelfallgerechtigkeit zu erreichen, entsteht am Ende die größte Ungerechtigkeit. Das meine ich mit diesem Satz.
Bis jetzt sind wir jedenfalls bei der sozialdemokratisch geführten Mehrheit im Bundesrat bei jedem Versuch, durch Gesetzgebung Genehmigungsverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen, immer auf heftige Widerstände gestoßen.
— Ja natürlich, bei jedem Einzelfall.
Aber wenn wir Ihre Rede als ein Zeichen dafür nehmen dürfen, daß dieser Widerstand im Bundesrat in Zukunft nicht mehr vorhanden ist, dann haben wir eine Chance, daß es sich für den Standort Deutschland ab heute verbessern wird.
Übrigens, wenn Sie sagen, bei der Arbeitszeitregelung — dort gibt es ja ebenfalls Widerstand gegen eine gesetzliche Auflockerung, jedenfalls bis zum heutigen Morgen — sei nach den geltenden Tarifverträgen schon viel möglich, dann ist das wahr. Auch bei uns sind Leute, die es wissen. Es gibt dafür in Ihrem Land, bei Opel in Kaiserslautern, ein beachtliches Beispiel. Herr Ministerpräsident Scharping, das ist doch wiederum letztlich der Beweis dafür, daß Ihre Schuldzuweisung an die Bundesregierung völlig an der Sache vorbeigeht. Denn die Tatsache, daß der tarifvertraglich mögliche Spielraum von den Tarifpartnern bis heute nicht ausgenutzt wird, ist doch der beste Beweis dafür, daß wir diese Verkrustungen in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft haben. Wir müssen sie miteinander aufbrechen; es gibt keinen anderen Weg.
Gar nicht verstanden habe ich, wenn ich das sagen darf, Ihren Satz — vielleicht kann man das aufklären —: Wenn die Produktivität steigt, steigt der Bedarf an Arbeitsplätzen. Da bin ich nicht so sicher, Herr Ministerpräsident Scharping. Vielleicht sind Sie mißverstanden worden.Ich will auf ein Problem zu sprechen kommen, das mir ungeheure Sorge macht und für das wir keine hinreichenden Lösungen haben. Selbst wenn wir zu einem dauerhaften wirtschaftlichen Wachstum zurückkehren — wir wollen ja die positiven Zahlen aus dem zweiten Quartal vom gestrigen Tag nicht überschätzen, obwohl mir 0,5 % plus lieber sind als 3 % minus; auch das ist wahr —, dann werden wir das ja im industriellen Bereich nur doch eine höhere Produktivität, d. h. im Ergebnis durch eine mit weniger Arbeitskräften erzielte Produktion, erreichen. Das bedeutet, das Arbeitsplatzproblem werden wir dadurch überhaupt noch nicht gelöst haben. Deswegen hat mit Ihr Satz soviel Sorge gemacht. Mit der Steigerung der Produktivität allein sind die Arbeitsmarktprobleme noch nicht gelöst.
Deswegen brauchen wir in allen Bereichen und insbesondere im Bereich der Tarifverträge und der Tarifpartner eine Auflockerung und ein Aufbrechen der Verkrustungen, die wir ja insgesamt in unserem Lande haben, wobei ich auch hier keine Schuldzuweisungen mache, auch nicht an Arbeitgeber und Gewerkschaften. Wenn die Damen und Herren einmal aufhörten, die Schuld für die eigenen Versäumnisse nur bei der Politik zu suchen, dann wären wir schon einen Schritt weiter.
Wenn wir — daran führt überhaupt kein Weg vorbei — mehr Menschen dauerhaft wieder in Beschäftigung bringen wollen, werden wir eine stärkere Differenzierung von Löhnen und Einkommen haben müssen. Das ist der erste Schritt; daran führt kein Weg vorbei. Wir werden übrigens im Bereich der Dienstleistungen mehr Arbeitsplätze brauchen, auch und gerade im Bereich der privaten Haushalte. Deswegen, verehrte Frau Matthäus-Maier, hören Sie doch einmal auf, das Thema private Haushalte als Arbeitgeber unter dem demagogischen Stichwort des Dienstmädchenprivilegs zu behandeln. Es führt wirklich völlig an der Sache vorbei.
Wenn wir die durch unsere zu hohe Steuer- und Abgabenbelastung geförderte Entwicklung, daß private Haushalte als Arbeitgeber immer stärker ausscheiden, weiter fördern, werden wir die Beschäftigungsprobleme in einem wichtigen Bereich nicht verbessern.
Wir werden im Gegenteil eine Entwicklung zu immer mehr Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft weiter fördern. Das ist der falsche Weg.
Wir werden nicht darum herumkommen zu versuchen, unsere sozialen Sicherungssysteme in einem stärkeren Maße nicht ausschließlich durch Lohnzusatzkosten zu finanzieren. Sie haben dazu Anregungen gemacht. Nur, Herr Ministerpräsident Scharping, es ist furchtbar einfach zu sagen, das müsse steuerfinanziert werden, während man gleichzeitig sagt: Die Neuverschuldung ist zu hoch und die Steuerbelastung ebenfalls. Wir müssen ehrlich sein. Der Spielraum dafür ist im Augenblick nahe Null. Wir müssen uns zunächst durch die Förderung wirtschaftlichen Wachstums neue Spielräume erschließen, damit wir gleichzeitig Steuern senken, die Neuverschuldung abbauen und uns neue Handlungsspielräume eröffnen können. Erst in diesem Rahmen wird es schrittweise möglich sein, auch über eine teilweise andere Finanzierung unseres sozialen Sicherungssystems wirklich verantwortlich zu reden. Solange wir da nicht sind, macht es ja keinen Sinn zu sagen: Die 30 oder 40 Milliarden DM in unserem sozialen Sicherungssystem, die einigungsbedingt sind, soll man auf den Bundeshaushalt laden. Soll man die Neuverschuldung entsprechend erhöhen oder die Steuern? Beides geht nicht. Man muß doch die Wahrheit aussprechen; sonst finden wir ja keinen besseren Weg.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14749
Dr. Wolfgang SchäubleIch bin übrigens ganz davon überzeugt — vielleicht kann man auch darüber mehr gemeinsam nachdenken; es gibt ja auch aus dem Lager von Wissenschaftlern, die eher der Sozialdemokratie nahestehen, entsprechende Überlegungen , daß wir in unserem Bereich sozialer Leistungen im Verhältnis zu denjenigen, die Einkommen aus Arbeit beziehen, Verwerfungen haben, die dazu führen, daß deswegen unser System sozialer Sicherung auch leistungshemmende Wirkungen entfaltet, weil die Schnittstelle zwischen den Beziehern von Sozialhilfeeinkommen und den Beziehern von Arbeitseinkommen in vielen Fällen Probleme bereitet. Unsere Fraktion, die CDU/CSUFraktion, hat beschlossen — ich denke, daß wir das in der laufenden Gesetzgebung auch mit Ihrer Hilfe, also gemeinsam, erreichen; jedenfalls tut es die Koalition; aber die Sozialdemokraten sind eingeladen mitzumachen —, den Grundsatz durchzusetzen, daß die Bezieher von Sozialhilfeeinkommen durch eigene sozialpflichtige, gemeinnützige Arbeiten in die Lage versetzt werden, ihre Einkommen zu verbessern,
was aber natürlich auch heißt, daß man zu einer stärkeren Differenzierung kommen muß.Dagegen gibt es einen großen Widerstand der kommunalen Spitzenverbände. Sie sagen: Das müssen wir ja organisieren. Aber auch die kommunalen Spitzenverbände werden sich angewöhnen müssen, nicht nur die Bundesregierung zu kritisieren, sondern in ihrem Bereich eigene Verantwortung wahrzunehmen.
Das muß der erste Schritt sein.
Der nächste wird sein müssen, daß wir im Bereich von ABM zu einer stärkeren Auflockerung kommen. Denn auch das darf nicht sein, daß die Leute in den neuen Bundesländern vor lauter ABM nicht mehr bereit sind, Arbeitsplätze im regulären Arbeitsmarkt anzunehmen.
Aber bei der Sozialhilfe müssen wir anfangen. Das muß der erste Schritt sein. Wir werden auch miteinander darüber zu reden haben, ob wir auf Dauer nicht doch im Bereich von ABM oder vergleichbaren Maßnahmen zu sozialrechtlichen Beschäftigungsverhältnissen kommen müssen. Ich glaube, daß wir, wenn wir das Problem der Verwerfungen zwischen den Beziehern von Sozialleistungen und den Beziehern von Arbeitseinkommen an den Schnittstellen nicht besser lösen, von dieser Seite her die strukturellen Probleme unseres Arbeitsmarktes nicht gelöst bekommen.Bei all den Entwicklungen, die wir übrigens auch durch die demographische Entwicklung — Geburtenrückgang sowie steigende Lebenserwartung und damit ein dramatisch wachsender Anteil der älteren Menschen in unserer Bevölkerung haben, führt gar kein Weg an der Reform unseres Bildungswesens, an der Verkürzung von Bildungs- und Ausbildungszeiten und an der Frage vorbei, daß die Renteneintrittszeiten irgendwann steigen müssen, weil die Entwicklung, daß man bis 30 in Ausbildung und ab Ende 50 in Rente ist bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren, auf die Dauer nicht erträglich sein wird. Deswegen werden wir mit Hilfe der Länder — der Bund ist dafür nämlich ganz überwiegend nicht zuständig — zu Veränderungen kommen müssen. Deswegen übrigens müssen wir auch bessere Vorsorge für die Pflegebedürftigkeit schaffen.Herr Ministerpräsident Scharping, Sie haben gesagt, man solle nicht immer über die Finanzierung, sondern über die Menschen reden. Sie haben trotzdem auch über die Finanzierung geredet, aber nur indem Sie unsere Vorschläge angegriffen haben. Eigene haben Sie nicht gemacht. Wissen Sie: In dem Toskana-Teil Ihrer Partei
gilt das Prinzip: Geld hat man zu haben. Darüber braucht man nicht zu reden. Daran hat mich Ihre Rede ein bißchen erinnert.
Aber wenn man den pflegebedürftigen Menschen und ihren Familien helfen will, dann muß man natürlich auch über Geld reden; denn ohne Geld geht es nicht.
Deswegen führt kein Weg daran vorbei, daß wir beide Gesichtspunkte berücksichtigen.Übrigens: Der Ihnen das mit den 3 DM monatlich aufgeschrieben hat, den sollten Sie in eine andere Abteilung Ihrer Staatskanzlei versetzen.
Solch einen Blödsinn habe ich wirklich selten gehört.
2 100 DM monatlich sind vorgesehen.
Wenn die Menschen auf diese Weise — hoffentlich möglichst viele; über die Einzelheiten muß man reden; wir sind ja gerade in der Gesetzgebungsberatung — aus der Sozialhilfe herauskommen, dann ist das Taschengeldproblem, das Sie angesprochen haben, erledigt. Aber das mit den 3 DM monatlich war wirklich ein horrender Blödsinn. Ich bitte Sie: Versetzen Sie diesen Mann. Er kann nichts taugen. Es wird ja keine Frau gewesen sein.
Aber weil die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so sind und weil ohne Geld den Menschen nicht zu helfen ist, müssen wir zwei Dinge gleichzeitig verwirklichen: Wir müssen eine Pflegeversicherung einführen, und es dürfen die Lohnkosten insgesamt nicht steigen. Das eine ohne das andere ist unverantwortlich und nicht möglich.Wir haben immer gesagt: In diesem Rahmen sind wir zu jedem vernünftigen Gespräch bereit. Nur: Wenn Sie den Menschen wirklich helfen wollen, stellen Sie keine Vorbedingungen!
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14750 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dr. Wolfgang SchäubleWir müssen auch sehen: Wir haben unterschiedliche Zuständigkeiten. Der Bundesgesetzgeber kann bei der Lohnfortzahlung Selbstbeteiligung einführen. Für die Feiertage sind die Landesgesetzgeber zuständig.Herr Ministerpräsident Scharping, wir können die Pflegeversicherung nicht einführen, wenn wir das eine und das andere nicht haben. Deswegen machen Sie keine Vorbedingungen für Gespräche, sondern sagen Sie, ob Sie einen alternativen Vorschlag haben! Dann sind wir bereit, darüber zu reden. Andernfalls müssen wir den Weg, den wir in eigener Verantwortung durchsetzen können, miteinander gehen. Aber zu den Gesprächen sind wir bereit. Nur, bitte keine Vorbedingungen.
Sie haben gemeint — das will ich bei dieser Gelegenheit wenigstens ganz zurückhaltend kritisch hinterfragen —, die Familienpolitik von CDU/CSU und F.D.P., dieser Koalition und der Regierung, sei ungerecht und man solle die Kinderfreibeträge abschaffen. Herr Ministerpräsident Scharping, vielleicht lassen Sie sich einmal das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die notwendige Steuerbefreiung des Existenzminimums für Familien mit und ohne Kinder vorlegen.
Dann werden Sie feststellen, daß wir ohne die Kombination von Kindergeld, für das wir übrigens zusätzliche Einkommensgrenzen in dem vorgeschlagenen Gesetzgebungspaket einführen wollen
— Nein, Frau Matthäus-Maier, Sie haben gestern so viel unsägliches Zeug geredet, daß ich Ihnen keine Zwischenfrage erlaube.
Es hat keinen Sinn; wirklich nicht.
— Seien Sie ganz unbesorgt, ich bin weder feige noch sonst etwas.
Ich fand, daß nach der verantwortungsvollen und eindrucksvollen Einbringungsrede des Bundesfinanzministers die erste Antwort der Opposition wirklich auf einem unsäglich niederen Niveau gewesen ist.
Sie haben eine einzige Kette von demagogischen Gemeinheiten ohne jeden sachlichen Bezug aneinandergereiht.
Wenn wir über Familienlastenausgleich und Familienleistungen reden — —
— Ich sage es noch dreimal, wenn Sie dazwischenrufen,
weil ich finde, daß das Parlament Schaden nimmt, wenn in dieser Weise aneinander vorbeigeredet wird.
Im übrigen haben die allermeisten Mitglieder Ihrer Fraktion das genauso empfunden. Das ist die Wahrheit. Man hat das Ihren Gesichtern gestern nachmittag auch angesehen. Die Wahrheit muß ausgesprochen werden. Und Sie werden mich daran nicht hindern.
Wenn wir über Familienpolitik reden, Herr Ministerpräsident Scharping, dann sollten Sie gelegentlich sagen, daß in der Zeit dieser Bundesregierung, dieser Koalition die Leistungen für den Familienlastenausgleich in zehn Jahren verdoppelt worden sind. Das ist die entscheidende Zahl, und das darf man nicht unterdrücken.
Sie haben zum Thema innere Sicherheit und zum Thema Außenpolitik etwas gesagt. Ich will Ihnen darauf in der gebotenen Kürze erwidern, weil Sie geglaubt haben, Sie seien uns eine Unterrichtung über den derzeitigen Stand Ihrer internen Beratungen schuldig.Herr Ministerpräsident Scharping, ich stimme Ihnen völlig zu: Das Thema der inneren Sicherheit, das Thema der Bewahrung und der Sicherung unseres freiheitlichen Rechtsstaats ist nicht auf die Frage des Einsatzes elektronischer Mittel zur Wohnraumüberwachung zu begrenzen. Sie haben allerdings ein bißchen zuviel davon gesprochen. Offenbar glauben Sie, in dieser Frage einen Keil in die Koalition treiben zu können. Lassen Sie die Hoffnung fahren! Das wird Ihnen auch nicht gelingen.In den allermeisten Fragen der inneren Sicherheit haben wir, CDU/CSU und F.D.P., eine gemeinsame Position. Die werden wir miteinander umsetzen.In einigen Fragen hilft uns auch der Bundesrat, zu Verbesserungen zu kommen. Beim Geldwäschegesetz hätte ich mir gewünscht, daß wir ohne Vermittlungsausschuß zum selben Ergebnis kommen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14751
Dr. Wolfgang Schäuble— Ja, das machen wir miteinander. Auch das Anwaltsprivileg kommt weg.
— Frau Matthäus-Maier, Sie sind doch da schon gewesen und da schon gewesen; Sie wissen doch, wie es ist. Es ist halt machmal schwierig und manchmal einfach.
Aber damit werden Sie keinen Keil in diese Koalition hineintreiben können. Das wird Ihnen nicht gelingen.
Im übrigen sage ich Ihnen: Entscheidend scheint mir die zentrale Frage zu sein, ob dieser Staat von uns allen noch als eine Schutz- und Schicksalsgemeinschaft verstanden wird, die die Bürger nach außen und innen sichert, und ob dieser Staat das wirklich leisten kann und leisten will.Dabei geht es darum — dazu auch meine Bemerkung vorhin, Herr Kollege Duve —, daß zuviel Einzelfallgerechtigkeit zu Ungerechtigkeiten führen kann. Ich fürchte, daß wir bei dem Bestreben, Freiheit und Recht in einer immer stabilen Balance zu halten — ohne einen rechtlichen Rahmen wird die Freiheit verlorengehen; das Recht schützt den Schwachen, hat Rudi Seiters einmal sehr eindrucksvoll von dieser Stelle aus gesagt —, die Balance in unserem Lande in den letzten Jahren ein Stück weit verloren haben.Jetzt sind wir dabei — das ist eine Anfrage gerade an die Sozialdemokraten —, nicht etwa den Versuch zu machen, die Balance zurückzugewinnen, sondern uns schrittweise zurückzuziehen oder zu kapitulieren. Und das ist der falsche Weg.Das Stichwort Deeskalation, wenn die Polizei bei Demonstrationen Gewalttätigkeiten hinnimmt und nicht dagegen einschreitet, ist für mich ein gefährlicher Rückzug des Rechtsstaats.
Die Hafenstraße als rechtsfreier Raum — das mögen Sie zwar nicht mehr hören, aber sie ist immer noch nicht geräumt. Hinzunehmen, daß man an viele Plätze, insbesondere in großen Städten, zu vielen Tages- und Nachtzeiten nicht mehr hingehen kann, ist natürlich ein teilweiser Rückzug und eine Kapitulation des Rechtsstaates. So empfinden es die Bürger.Deswegen bin ich auch in Sorge, daß die Freigabe von Drogen genau der falsche Weg ist, wenn wir organisierte Kriminalität und Drogenkriminalität bekämpfen wollen.
Ich rate übrigens dazu, auch in der Sprache nicht zu verharmlosen. Wer von Alltagskriminalität und Bagatelldelikten spricht und wer — wie sozialdemokratische Innen- und Rechtspolitiker es tun — sagt, man müsse das entkriminalisieren, weil der Staat zur Strafverfolgung nicht mehr in der Lage sei, der wird nicht mehr Rechtsstaatlichkeit und mehr Freiheit schaffen, sondern der erweckt den Eindruck, daß der Staat kapituliert und sich zurückzieht. Und dies darf der Rechtsstaat nicht.
Wer Freiheit sichern will, wer friedliches Zusammenleben von Menschen in einer freiheitlichen Gesellschaft sichern will, muß verantwortliche Vorsorge treffen.In der Asylpolitik haben wir zu lange gestritten; und zwei Monate nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zeigt sich jetzt, daß das, wofür CDU/CSU über zehn Jahre geworben haben, eben doch die richtige Lösung gewesen ist.
Es wäre besser gewesen, man hätte es früher gemacht; aber selbst wenn es spät gekommen ist, ist es besser als nie.
Ihr Innenminister Schnoor aus dem Lande Nordrhein-Westfalen hat in diesen Tagen in einem Interview, in dem er gefragt worden ist, wie es denn komme, daß die Sozialdemokraten in der Sache des sogenannten Lauschangriffs jetzt dabei seien, ihre Position zu ändern, eine bemerkenswerte Antwort gegeben. Er hat gesagt, das liege daran, daß Sozialdemokraten in dieser Frage in der Verantwortung sind.Ich habe bei manchen Ihrer Positionen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik und vor allen Dingen in der Außen- und Sicherheitspolitik den Eindruck: Es liegt offenbar daran, daß Sie nicht in der Verantwortung sind. Das, was Sie hier vortragen, ist Ausdruck Ihrer institutionellen Verantwortungslosigkeit.
Sie haben ja versucht, uns auch in der Außenpolitik den derzeitigen Stand der Beratungen und des Ringens in der SPD — das wechselt von Tag zu Tag darzulegen.Selbst in bezug auf die innere Sicherheit habe ich hier eine Aussage vom Herrn Parlamentarischen Geschäftsführer Struck, der ja besonders wichtig ist — nach Auffassung aller; Sie selber halten sich für wichtig, und auch viele andere schreiben es —:
„Struck sieht noch keine Mehrheit für Lauschangriff bei den Sozialdemokraten."Also, ich bin überhaupt sehr gespannt. Das wird ja alles auf dem Parteitag behandelt. Über viele Fragen können wir ja erst nach dem Parteitag richtig reden.
In Berlin hat man Delegierte für den Parteitag nurgewählt, wenn sie vorher erklärt haben, daß sie aufdem Parteitag gegen Scharping und seine Politik
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14752 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dr. Wolfgang Schäublestimmen werden. Das ist eine merkwürdige Entwicklung der innerparteilichen Demokratie in der SPD.
Hinsichtlich der Außenpolitik müssen Sie sich mit Herrn Klose, den auch ich schätze, darüber verständigen, ob Sie denn nun in der Frage der Einsätze der Bundeswehr seine Position teilen oder nicht. In dem Gespräch mit dem Bundeskanzler — es tut mir leid; ich hoffe, nichts Vertrauliches zu verraten — haben Sie gesagt, Sie würden seine Position unterstützen. Deswegen ist dort auch gesagt worden, die Fraktionsvorsitzenden sollten darüber weiter reden, und Klose werde Ihre Position vertreten. So haben Sie es auch Herrn Klose berichtet. Jetzt aber haben Sie gesagt, Sie führten die Gespräche nicht.Herr Klose hat in einem Gespräch mit einem in Hamburg verlegten Magazin, das wir, Herr Bundeskanzler, nicht lesen sollen,
— ich bitte um Verzeihung, aber was Herr Klose sagt, muß ich lesen, auch wenn es da gedruckt wird ,
am Montag dieser Woche erschienen, gesagt, die Mehrheit der Kommission und im Präsidium sei gegen die Position von ihm und Scharping gewesen. Das steht dort ausdrücklich. Das Bemerkenswerte ist nur, daß die Mehrheit im SPD-Präsidium mit der Stimme von Herrn Scharping zustande gekommen ist, denn sie war ja 11:O. Jetzt frage ich Sie also, Herr Scharping: Sind Sie dafür, oder sind Sie dagegen? Das sollten Sie uns und Herrn Klose jetzt sagen!
Natürlich besteht deutsche Außen- und Sicherheitspolitik nicht nur in der Frage der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr, sondern es geht um etwas viel Prinzipielleres. Es geht nämlich darum, daß wir Frieden, Sicherheit und Freiheit in einer Welt, in der Krisen und militärische Konflikte überall, auch in Europa, zuhauf vorhanden sind und die Gefahr, daß sie zunehmen und weiterhin ausbrechen, eher größer als kleiner wird, und in einer Zeit, in der Verteilungskonflikte weltweit immer dramatischer werden, für uns weder zum Nulltarif noch allein sichern können.
Wir werden Frieden und Freiheit nur im Bündnis mit anderen bewahren können,
in der Europäischen Gemeinschaft wie im Atlantischen Bündnis und, wenn möglich und so gut und soviel wie möglich, auch im Rahmen der Vereinten Nationen und mit Hilfe der Vereinten Nationen.Herr Ministerpräsident Scharping, wer ist denn mehr für die Politik der europäischen Integration und setzt sich mehr für das deutsch-französische Verhältnis ein als Bundeskanzler Helmut Kohl?
Die Art, wie Frau Matthäus-Maier gestern gesagt hat, daß man da ja nicht auf die Idee kommen solle, in den schwierigen Auseinandersetzungen zwischen Bonn und Paris, wo wir eine gemeinsame Position finden wollen, weil wir einen Erfolg der GATTVerhandlungen dringend brauchen, wobei wir aber das deutsch-französische Verhältnis nicht beschädigen dürfen, Geld zu bezahlen sie hat ja derartige Vorwürfe an die Bundesregierung gerichtet —, das ist genau die Art, wie man das deutsch-französische Verhältnis auch als Opposition kaputtreden kann. Und das sollten Sie nicht tun!
Ich stimme Ihnen zu, daß wir die Reformstaaten Osteuropas, Polen, Ungarn, die Tschechische und die Slowakische Republik, möglichst rasch in die Schutzgarantie des Atlantischen Bündnisses einbeziehen sollten, und zwar aus vielen Gründen, auch weil es eine angemessene Antwort auf die großartigen Veränderungen auch in unserem Land wäre, die ja in Polen ihren Ausgang genommen haben, und weil es unserer Sicherheit dient.Nur, Herr Ministerpräsident Scharping, glauben Sie wirklich, daß wir mit unseren Verbündeten im Atlantischen Bündnis ernsthaft darüber reden können, daß wir fordern, Polen in die NATO aufzunehmen, und gleichzeitig sagen, daß alle militärischen Konsequenzen, die sich möglicherweise daraus ergeben, aber andere tragen sollten und nicht wir Deutschen?
Ich habe gestern eine bemerkenswerte Erklärung gelesen.
— Ja; man muß vieles lesen! — Nach Gesprächen einer Delegation des Verteidigungsausschusses in Washington ist erklärt worden — ich zitiere das wörtlich —:Es kann keine Zweifel geben, daß sich Deutschland weiterhin keine Exklusivität in der Frage der Beteiligung an militärischen Einsätzen der UN leisten kann, wenn es sich denn nicht einer weltweiten Isolierung aussetzen will. Deutsche Politiker wären nicht gut beraten, wollten sie sich über die Tatsache hinwegmogeln, daß in den USA die öffentliche Meinung die bisherige deutsche Scheckbuchpolitik angesichts der von den Amerikanern gebrachten Opfer an Leben und Gesundheit ihrer Söhne und Töchter als völlig unangemessen und provokativ bezeichnet. Da nicht anzunehmen ist, daß auch andere an UNMissionen beteiligte Länder darüber weniger sensibel empfinden, empfiehlt sich zumindest Nachdenklichkeit bei jenen, die sich bisher der Anerkennung dieser Tatsachen gegenüber verweigert haben. Deutsche Sonderrollen sind nicht mehr gefragt, es sei denn, man hält die arrogante Ignoranz für eine neudeutsche Tugend.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14753
Dr. Wolfgang SchäubleEs war das Mitglied Ihrer Fraktion Niggemeier, der dies erklärt hat.
Deswegen ist die Frage, ob wir Deutsche, nachdem wir Frieden und Freiheit letztlich anderen zu verdanken hatten, die uns gegen viele sozialdemokratisch angeführte Demonstrationen Frieden und Freiheit 40 Jahre lang gesichert haben, unsere Wiedervereinigung erreicht haben und souverän geworden sind, nicht jetzt den gleichen Anteil an Rechten und Pflichten übernehmen müssen. Sonst werden wir nicht bündnisfähig und berechenbar bleiben; wir werden alleinstehen
und in dieser Welt voller Gefahren Frieden und Freiheit allein nicht bewahren können. Deswegen ist es eine Grundfrage der Handlungsfähigkeit und Berechenbarkeit deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.
Wer sich verweigert und wer dies diffamiert, indem er die Bundeswehr zur „Interventionsarmee" ernennt oder indem er davon redet, wie Sie es heute morgen schrecklicherweise getan haben — mein Kugelschreiber hat fast gestreikt, als ich es mitschreiben wollte —, daß wir nicht ständig Kriege führen wollen, hat unrecht. Wer will denn das? Nein, wir haben die Bundeswehr und das Atlantische Bündnis 40 Jahre lang gehabt, um Krieg zu verhindern.
Um Krieg zu verhindern, muß man diejenigen, die vielleicht militärische Gewalt anwenden können, davon überzeugen, daß es keinen Sinn macht. Das können wir nicht allein tun. Das hat man Abschrekkung genannt. Im ehemaligen Jugoslawien hat die Abschreckung versagt. Sie sollte nicht weiter versagen, weil sonst Kriege möglich werden. Damit sie nicht wieder möglich werden und damit der Friede sicher bleibt, müssen wir unseren Beitrag leisten.Wir sind — ich habe das schon oft gesagt — zu jeder Stunde, Tag und Nacht, zu jedem vernünftigen Gespräch bereit. Ich hoffe, die Sozialdemokraten werden über diese Frage möglichst bald gesprächsfähig. Derzeit sind sie es nicht.Letztlich geht es bei diesen Fragen — dazu haben Sie wenig gesagt, Herr Ministerpräsident Scharping — darum, welches denn die Grundlagen unserer staatlichen Gemeinschaft sind und ob wir uns diesen Staat so halten, wie man sich halt als Verbraucher dieses und jenes kauft — man bezahlt ja genug dafür —, oder ob es nicht eben doch so ist, daß dieser Staat eine Schutzgemeinschaft ist, die ihre Bürger auch in Anspruch nehmen muß und für die man auch Dienst leisten muß. Ich glaube, daß das Dienen nicht etwas Altmodisches ist, sondern etwas Notwendiges, wenn wir die Zukunft bewältigen wollen, und daß dieser Staat seine Grundlagen und seine Vergewisserung darin finden muß, daß die Menschen wissen, was sie zusammenhält.Es ist die Frage der nationalen Gemeinschaft. Das ist überhaupt kein Gegensatz zur europäischen Integration. Wir werden für unsere deutsche Nation, für unser deutsches Vaterland eine sichere Zukunft nur in einem vereinten Europa finden. Aber wir werden einen stabilen, den Menschen Schutz gewährenden Staat nur bewahren, wenn wir uns der Grundlagen unserer nationalen Gemeinschaft auch wieder sicherer und gewisser werden. Deswegen müssen wir auch die innere Einheit unseres Vaterlandes vollenden.Deswegen sollten Sie diesen Haushalt zum Aufbau in den neuen Bundesländern nicht ablehnen und nicht boykottieren, sondern mitwirken.Übrigens, wenn ich das sagen darf: Ich leiste keinen Beitrag zu irgendeiner Personaldebatte, aber eines sage ich doch. Die Art, wie nahezu jeder Politiker aus den neuen Bundesländern, wenn er in eine herausgehobene Verantwortung kommen soll oder gekommen ist, im Westen kaputtgeredet wird, ist unerträglich für die deutsche Einheit.
— Stolpe ist die einzige Ausnahme; da haben Sie recht.Es geht nicht nur um die Frage, ob man sich um die neuen Länder kümmert. Das tut Bundeskanzler Helmut Kohl so sehr wie irgendeiner. Auch ich bemühe mich darum, und Sie tun es gewiß auch. Es geht auch nicht daraum, ob man dort geboren ist; sondern es geht um die Frage, ob jemand in diesem vereinten Deutschland, der 40 Jahre lang unter der sozialistischen Diktatur gelebt hat, Führungsverantwortung übernehmen kann oder nicht.Das ist eine Frage der Vollendung der inneren Einheit, so sehr wie die Frage, daß wir den Beschluß, Parlament und Teile der Regierung nach Berlin zu verlegen, eines Tages eben auch vollziehen müssen und nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben können. Auch das gehört zur inneren Einheit.
Täuschen Sie sich nicht: Natürlich sind die wirtschaftlichen Probleme und die sozialen Nöte für viele Menschen in den neuen Bundesländern größer als im Westen, obwohl in sozialer Hinsicht vieles besser geworden ist; die Renten sind ja schon ungeheuer stark gestiegen. Aber die Menschen in den neuen Bundesländern müssen viel mehr Veränderungen aushalten als wir. Die Menschen in den neuen Ländern müssen immer noch häufig hören, daß man im Grunde im Westen sagt: Nun stört uns nicht weiter. Wir zahlen eh schon zuviel. Sie müssen auch hören, daß min sagt — das ist die Frage dieser Personaldiskussion —, daß Menschen — —
— Ja, ja, nennen Sie doch einen anderen. Ich meine, Stolpe sollten Sie nicht nennen. Ich ärgere mich noch immer darüber, wie Sie über Lothar de Maizière geredet haben und gleichzeitig Herrn Stolpe verteidigen. Die Maßstäbe müssen doch gleich sein.
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14754 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dr. Wolfgang SchäubleLassen Sie uns gemeinsam sagen, daß diejenigen, die 40 Jahre unter einer sozialistischen Diktatur leben mußten, ohne eigenes Verschulden, genauso viele Führungsmöglichkeiten und -chancen im vereinten Deutschland haben wie wir, die wir das Glück hatten, im Westen zu leben. Das dient der inneren Einheit in Deutschland.
Lassen Sie uns aufhören, Ängste zu schüren und uns gegeneinander aufzuhetzen, und lassen Sie uns aufhören mit dieser Verzagtheit! Die Probleme sind groß. Aber vor der deutschen Einheit waren die Probleme viel größer. Die Teilung war eine Wunde in der Seele der Deutschen, auch wenn es manche gar nicht geglaubt haben. Die Vergangenheit unserer Diktaturen, der der Nazis wie der der Kommunisten, ist eine Wunde in der Seele der Deutschen und unseres deutschen Vaterlandes. Aber die Chance, daß diese Wunden heilen, ist heute besser als je zuvor.Deswegen ist mir nicht bange. Wenn wir ehrlich und realistisch über die Lage und die Probleme reden, dann haben wir keinen Grund zum Pessimismus;
sondern wir haben Grund zur Zuversicht und können aus dieser Offenheit und aus der Bereitschaft, die notwendigen Veränderungen miteinander zu teilen, auch den Mut zur Zukunft gewinnen.Ich lade Sie herzlich dazu ein.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Ministerpräsident Scharping.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich weiß, man zieht sich den Vorwurf zu, man könne Debatte nicht aushalten. Ich möchte nur zwei kurze Bemerkungen machen.
Erstens. Herr Kollege Schäuble, Sie haben mir die interessante Erfahrung verschafft, daß man über ein Vier-Augen-Gespräch öffentlich berichten kann und daß man dann auch noch Falsches berichtet, schlicht Falsches.
Daß das so ist, Herr Kollege Schäuble, will ich Ihnen mit einem zweiten Hinweis kurz verdeutlichen. Sie haben etwas über die Fähigkeit von Beamten gesagt und werden sich die Frage dann in Ihrem eigenen Bereich im Zusammenhang mit dem Problem Sozialhilfe und Pflegeversicherung stellen müssen. Nach dem Regierungsentwurf zum Pflegegesetz soll bei häuslicher Pflege eine Hilfe von 1 200 DM im Monat zur Verfügung stehen.
Nach dem geltenden Recht bekommt ein Mensch aus der Sozialhilfe als Hilfe zur Pflege 997 DM
und aus Leistungen der Krankenkasse nach dem V. Buch des Sozialgesetzbuchs einen Beitrag von 200 DM. Das sind 1 197 DM.
Ich empfehle Ihnen, mit Fakten — ob sie aus Gesprächen mit dem Bundeskanzler kommen oder ob sie in Gesetzen nachlesbar sind — etwas vorsichtiger umzugehen.
Herr Dr. Schäuble, möchten Sie unmittelbar erwidern? — Nicht. Dann gibt es eine Kurzintervention des Arbeitsministers.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte erstens feststellen, daß im Gesetzentwurf der Bundesregierung an Sachleistungen 2 100 DM auch für ambulante Pflege gewährt werden.
Ich möchte zweitens feststellen, daß im Gesetzentwurf der SPD 1 Milliarde DM weniger Einnahmen vorhanden sind. Wie man mit 1 Milliarde DM weniger mehr Leistungen bezahlen will, bleibt Ihr Geheimnis.
: Herr Scharping, ich würde Ihnen
Das Wort hat Dr. Hermann Solms.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie uns nach diesem kleinen Zahlenscharmützel zu den Grundsatzfragen zurückkommen, mit denen wir uns hier zu beschäftigen haben.Wir alle wissen, daß sich die Welt mit dem Zusammenbruch des sogenannten real existierenden Sozialismus gründlich geändert hat. Wir sind vor politische Herausforderungen gestellt, vor Entscheidungen, die tiefgreifender und weitreichender als alles sind, was wir seit dem Bestehen der Bundesrepublik erlebt haben. Ich will ganz persönlich sagen: Diese Herausforderungen sind schön. Wir sollen sie annehmen.
Es ist eine Gelegenheit, wie sie besser nicht sein kann,politisch zu gestalten und die deutsche Einheit zu
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14755
Dr. Hermann Otto Solmsvollziehen. Es ist kein Grund, zu lamentieren und zu jammern.
In der Analyse sind wir uns ja weitgehend einig, auch mit den Sozialdemokraten, mit der Opposition. Aber die Analyse reicht nicht aus. Was kommen muß, ist die Therapie. Und da ist von der Opposition bis jetzt wenig geboten worden.
Darf ich Sie unterbrechen, Herr Solms?
Ich darf diejenigen, die hinausgehen wollen, bitten, hinauszugehen und keine Stehkonvente im Saal zu halten.
Es wird beklagt, daß Bundeswirtschaftsminister Rexrodt eine Analyse der wirtschaftlichen Situation aufgezeigt hat, die auch viel Selbstkritisches enthält. Aber das ist ein Grund, ihm dankbar zu sein; denn nur auf der Basis einer klaren und ehrlichen Analyse läßt sich eine richtige Therapie gestalten.
Es reicht eben nicht, die Probleme nur darzustellen, sie lauthals zu beklagen, die Misere zu beschwören und das Chaos an die Wand zu malen, wie es Frau Matthäus gestern oder wie es der Herr Parteivorsitzende der SPD, Herr Scharping, wenn auch in differenzierender Form, soeben getan hat.Jetzt geht es darum, Lösungen zu entwickeln und konkrete Konzepte vorzulegen. Das ist unsere Aufgabe. Wenn wir das tun, wird auch die Zuversicht im Lande wieder einkehren, werden die Menschen in diesem Lande an diesem Aufbau mitarbeiten. Dies müssen wir auslösen; denn Wirtschaft, Volkswirtschaft ist ja auch maßgeblich Psychologie.
Meine Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die Probleme als eine Chance zur Veränderung begreifen; denn unser Staat muß verändert werden. Er muß angepaßt werden. Er muß flexibler werden. Nur dann kommen wir aus der Agonie heraus, in der er sich teilweise befindet.Wir müssen beim Angehen der Probleme Entschlossenheit und Mut beweisen; denn Mißmut — darauf hat Graf Lambsdorff im letzten Jahr schon hingewiesen — hilft vielleicht der Opposition, aber Mißmut hilft den Menschen nicht,
macht ihnen keinen Mut, selbst Hand anzulegen.
Im übrigen sind es die Menschen leid, von uns immer wieder diese Streitrituale vorgeführt zu bekommen.
Sie wollen, daß wir handeln. Die Regierungskoalition ist bereit dazu. Sie hat es bereits unter Beweis gestellt.Die Asylproblematik entspannt sich auf Grund des gefundenen Kompromisses. Die Asylbewerberzahlen sind in den vergangenen zwei Monaten von vorher über 30 000 im Monat auf unter 15 000, also um über 50 %, zurückgegangen. Wäre der Asylkompromiß nicht so lange verzögert worden, hätten wir dieses Ergebnis schon früher haben können,
und zwar sowohl mit der entsprechenden Beruhigung als auch mit den entsprechenden Einsparungen, die wir dabei auch erzielt hätten.Die Regierung hat das Föderale Konsolidierungskonzept und das Standortsicherungsgesetz auf den Weg gebracht. Vor der Sommerpause hat die Koalition ein einschneidendes Sparpaket beschlossen, das nun mit dem hier zu beratenden Haushalt umgesetzt wird.Herr Scharping, weil Sie es in Ihren Ausführungen mit den Finanzen anscheinend nicht so wichtig nehmen, muß ich auf das zurückkommen, was auch Herr Schäuble gesagt hat: Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert. Das sagt der Volksmund.
Wer im Kleinen nicht bereit ist, anzufangen zu sparen, der wird auch die Aufgaben im Großen nicht erfüllen können.
Daran müssen alle mitarbeiten.Nach der Verabschiedung des Sparpakets kam es bereits zu einer spürbaren Beruhigung auf den Devisenmärkten. Das zeigt: Die Märkte schätzen die Leistungen der Bundesregierung sehr wohl positiv ein. Nun liegt es an Ihnen, das gleiche zu tun.
Das Bundeskabinett hat auf Initiative von Minister Rexrodt ein Programm zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts und zur Schaffung von mehr Beschäftigung auf den Weg gebracht. Auf diesem Weg gilt es nun voranzugehen; denn darin sind die therapeutischen Mittel enthalten, die wir nun anwenden müssen.
Das Kernproblem unserer Gesellschaft ist die Arbeitslosigkeit. Auf die Lösung dieses Problems müssen sich die Bemühungen konzentrieren. Selbst wenn wir die Talsohle der Konjunkturentwicklung erreicht haben sollten: Die Arbeitslosigkeit wird weiter steigen. Das ist klar. Sie wird im Winter diesen und nächsten Jahres die Zahl von vier Millionen überschreiten. Daran führt jetzt kein Weg vorbei. Das müssen wir auch den Menschen ganz offen sagen.Es geht darum: Wie schaffen wir langfristig zusätzliche Arbeitsplätze, und wie können wir die tenden-
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14756 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dr. Hermann Otto Solmsziell seit Jahrzehnten steigende Sockelarbeitslosigkeit bekämpfen? Da muß unsere Strategie für mehr Beschäftigung und Wachstum ansetzen. Sie kann nur erfolgreich sein, wenn alle dafür entscheidenden Körperschaften mitwirken: die Bundesregierung, der Bundestag, der Bundesrat mit seiner SPD-Mehrheit, die Tarifvertragsparteien und schlußendlich auch die Deutsche Bundesbank.Meine Damen und Herren von der Opposition, hier sind auch Sie in der Verantwortung. Klagen Sie nicht nur an! Arbeiten Sie mit, damit das Gesamtwerk gelingen kann!
Es ist ein Konstruktionsmerkmal unseres sozialen Sicherungssystems, daß es an die Beschäftigung anknüpft. Nur durch mehr Beschäftigung können wir auch die soziale Sicherheit garantieren und dauerhaft leistungsfähig gestalten.Die Renten sind auch langfristig sicher, wenn es uns gelingt, die Beschäftigungssituation zu verbessern. Deswegen weiß ich auch gar nicht, warum Sie beklagen, daß sich Herr Rexrodt um die langfristige Sicherung der Renten kümmert. Das ist eine Aufgabe, die ein Wirtschaftsminister natürlich anpacken und auch öffentlich darstellen muß. Denn es ist ein Problem, das von allen Seiten erkannt und gesehen wird.Ich darf daran erinnern, daß Ihr Kollege und Sozialexperte Dreßler bei der Verabschiedung des Rentenreformkonzeptes 1989 wörtlich gesagt hat, daß die Reform für die nächsten zwei Jahrzehnte Korrekturen überflüssig machen soll. Das heißt, bis zum Jahre 2009 hat auch Herr Dreßler die Renten für sicher gehalten, darüber hinaus auf der Basis der jetzigen Struktur nicht.Es geht also darum: Wie können wir — übrigens gemeinsam, es gab ja immer den Rentenkonsens — für die Sicherung der Renten auch über diese Zeit hinaus, d. h. für die jetzt Beschäftigten, sorgen? Das ist die Aufgabe, und ihr stellen wir uns. Sie ist nur zu lösen, wenn wir die Beschäftigung so gestalten, daß genügend Beitragszahler zur Finanzierung der Renten und der anderen sozialen Sicherungssysteme zur Verfügung stehen.
Meine Damen und Herren wir brauchen eine Doppelstrategie für mehr Beschäftigung. Zum einen müssen wir die Standortbedingungen so gestalten, daß mehr dauerhafte Arbeitsplätze entstehen, und zwar im ersten Arbeitsmarkt. Zum anderen müssen wir neue Beschäftigungsfelder, neue Beschäftigungsformen für Menschen finden, die im ersten Arbeitsmarkt ohne solche Bemühungen keine Arbeit finden.
Es ist ja ganz einfach zu erkennen: Aus jedem Konjunkturtal sind wir in den letzten Jahrzehnten mit einer um 700 000 Personen erhöhten Sockelarbeitslosigkeit herausgekommen. Im jetzigen Konjunkturtal wird sich die Sockelarbeitslosigkeit noch einmal erhöhen, vermutlich um eine höhere Zahl, weil Deutschland größer geworden ist. Was können wir tun, um dem zu begegnen? Diese beiden Fragen sind zu beantworten.Zunächst zum ersten Problem: Die Standortbedingungen sind zu verbessern. Die deutsche Wirtschaft ist in ihrer Grundstruktur ein leistungsfähiger Riese. Aber sie liegt wie Gulliver eingeschnürt am Boden, gefesselt von tausenden von Normen, Richtlinien, Verordnungen, Auflagen, Abgaben, Steuern, Geboten und Regulierungen — lauter Fesseln, die einzeln kaum von Bedeutung wären, aber in ihrer Zusammenballung dazu führen, daß sich der Riese Gulliver nicht mehr bewegen kann, daß er gelähmt ist.
Wir müssen ihn von diesen Fesseln befreien. Unsere Volkswirtschaft braucht mehr Luft zum Atmen, braucht mehr Beweglichkeit, mehr Freiraum für unternehmerische Initiative. Wir müssen Gulliver wieder zum Laufen bringen. Das ist die Aufgabe.Was ist zu tun? Erstens: Wir müssen die Steuern und Abgaben senken. Ein durchschnittlicher Arbeitnehmer muß nach 1995 unter Einbeziehung des Solidaritätszuschlages über 45 % seines Einkommens für Steuern und Abgaben abgeben. Das senkt seine Leistungsbereitschaft, und das treibt ihn in die Schattenwirtschaft, in die Schwarzarbeit. Die Belastung der deutschen Wirtschaft mit Steuern und Abgaben ist weltweit ein trauriger Rekord. Das führt nicht dazu, daß die Investoren — international oder national — bereit sind, hier mutig zu investieren.Die Mehrwertsteuererhöhung mußte durchgeführt werden, die Mineralölsteuererhöhung folgt im nächsten Jahr, dann der Solidaritätszuschlag. Das ist nicht zu vermeiden, wenn wir die Erblast des Sozialismus tilgen wollen.Aber, meine Damen und Herren, wir müssen so schnell wie möglich neue Finanzspielräume erarbeiten, damit wir diese Belastung wieder senken können. Nur dann wird es gelingen, die Leistungsbereitschaft der Bevölkerung zu steigern, nur dann wird es gelingen, die Konjunktur zu stützen und die Wirtschaft wieder zum Investieren zu bringen.
Zweitens. Wir müssen die öffentlichen Finanzen konsolidieren. An Einsparungen führt kein Weg vorbei. Auf Grund der schwachen Konjunktur fließen die Steuereinnahmen spärlicher. Diese Steuermindereinnahmen müssen wir im Haushalt 1994 durch eine höhere Nettokreditaufnahme finanzieren, obwohl der Spielraum für eine höhere Verschuldung sehr, sehr gering, wenn nicht gar überhaupt nicht vorhanden ist.Deshalb sind, allein um die Nettokreditaufnahme auf dem Niveau von etwa 67 Milliarden DM festzuschreiben, Einsparungen von 21 Milliarden DM notwendig. Dieses Sparprogramm hat keine Alternative. Wir müssen es vollziehen. Wir sind in den Einzelheiten in der Beratung beweglich, aber diese Gesamtsumme muß am Ende dabei herauskommen. Auch dabei muß der Bundesrat, müssen die Länder mitwirken. Es liegt in ihrer eigenen Verantwortung, auch ihre Haushalte zu konsolidieren. Nur so kann der haushaltspolitische Spielraum entstehen, daß wir wieder bewegungsfähig
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14757
Dr. Hermann Otto Solmswerden und stärker investive Anreize finanzieren können.Es führt auch kein Weg daran vorbei, die Struktur der sozialen Sicherungssysteme zu überdenken und auch hier zu Einsparungen zu kommen. Es kann mir kein Mensch erklären, daß es nicht sinnvoll ist, daß jemand, der nicht arbeitet und arbeitslos ist, weniger bekommt als jemand, der arbeitet.
Es kann auch nicht sinnvoll sein, daß jemand, der von der Sozialhilfe lebt, mehr bekommt als ein Arbeitsloser, der schließlich das Arbeitslosengeld mitfinanziert hat. Nur wenn dieses Abstandsgebot funktioniert, funktioniert auch der Arbeismarkt wieder besser. Daran führt kein Weg vorbei.
Wir müssen außerdem die administrativen Hemmnisse beseitigen. Es ist völlig richtig, daß wir all diese Hemmnisse geschaffen haben, und zwar alle gut begründet und nach langen Diskussionen. In der Zeit des Wohlstands in unserer gesicherten westlichen Welt konnten wir uns das leisten. Heute können wir uns vieles nicht mehr leisten, wenn wir anpassungsfähig genug bleiben wollen.
Es ist richtig, was Herr Schäuble gesagt hat, nämlich daß viele — ich denke an die rot-grünen Koalitionen, ich denke insbesondere an mein Heimatland Hessen — nicht nur nicht bereit sind, die Fesseln abzustreifen, sondern jeden Tag neue Fesseln aufrichten. Wie sieht es denn mit den wichtigen Verkehrsverbindungen, Autobahnverbindungen West-Ost, beispielsweise von Kassel nach Eisenach, aus, wo sich die Lkw jeden Tag in kilometerlangen Staus befinden und die Menschen in ihren Dörfern belästigen? Hier muß gehandelt werden. Die Kommunalwahlen haben gezeigt, daß die Menschen den gegenwärtigen Zustand nicht mehr akzeptieren.
Wir brauchen ferner mehr Beweglichkeit in der Lohnpolitik. Wir müssen den Grundsatz durchsetzen, daß sich die Löhne an der Produktivitätsentwicklung orientieren, denn eine höhere Lohnsteigerung geht zwingend auf Kosten der Zahl der Arbeitsplätze. Wolfram Engels hat kürzlich in der „Wirtschaftswoche" geschrieben: Es ist ein tausend Jahre altes Gesetz: Wenn die Arbeitskosten steigen, sinkt die Beschäftigung. — Von diesem Gesetz kann sich keiner entfernen. Wer es beherzigt, wird dazu beitragen, daß die Beschäftigung wieder steigt. Und wir brauchen flexiblere Tarifverträge, die sich den Gegebenheiten vor Ort, im Betrieb und in der Region anpassen. Auch daran führt kein Weg vorbei.
Wir brauchen leistungsfähigere Strukturen in Schulen und Hochschulen wie auch im Bereich der Forschung und Technologie. Ein Industrieland wie Deutschland kann zukunftsträchtige hochbezahlte Arbeitsplätze nur zur Verfügung stellen, wenn es einSpitzenland ist, ein Spitzenland, was die Ausbildung betrifft, was die Leistungen in der Forschung und in der Produktion betrifft. Deswegen können wir es uns nicht leisten, die Ausbildung von Leistungseliten zu tabuisieren.
Wir können uns das genausowenig wie die Vernachlässigung der beruflichen Bildung leisten. Sie ist das eigentliche Rückgrat unserer Wirtschaft.Meine Damen und Herren, der zweite Teil der Doppelstrategie ist die Bekämpfung der Sockelarbeitslosigkeit. Ich bin Herrn Schäuble dankbar, daß er einen alten Gedanken, den ich auch in der Koalition seit sechs, acht Jahren verfochten habe, aufgegriffen hat, nämlich die Abschaffung der steuerlichen Diskriminierung des Arbeitsplatzes im privaten Haushalt. Es wird gar nicht anders gehen, als in diesem Bereich ordentliche, steuer- und versicherungspflichtige Arbeitsplätze zu eröffnen, denn nur so werden wir es schaffen, daß etwa 1 Million Beschäftigte ordentliche, geschützte Arbeitsplätze bekommen und aus der Schwarzarbeit herausgezogen werden.
Auch die Pflegeversicherung wird viele neue Arbeitsplätze schaffen. Durch die Pflegeversicherung werden wir das Finanzvolumen zur Verfügung stellen, das benötigt wird, damit gerade in der häuslichen, in der ambulanten Pflege viele Menschen Beschäftigung finden, die eine entsprechende Beschäftigung im ordentlichen Arbeitsmarkt heute nicht finden können.Auch dies ist ein Feld neuer Beschäftigungsmöglichkeiten. So muß der Dienstleistungsbereich weiter genutzt werden, und so werden wir auch zu differenzierteren Lohnhöhen, Lohnkosten kommen müssen, um die Sockelarbeitslosigkeit erfolgreich bekämpfen zu können.Meine Damen und Herren, ich will auf die Diskriminierung dieses Themas durch das Wort „Dienstmädchenprivileg" nicht mehr zurückkommen. Ich will nur sagen, Frau Matthäus-Maier, Sie haben Ihre Partei hier auf den Holzweg geführt. Sie schauen zu, wie die Sockelarbeitslosigkeit Jahr um Jahr steigt, und sind nicht bereit, Ihre Vorstellungen einmal auf die Frage hin zu überprüfen: Wo können wir denn für diese Menschen zusätzliche Beschäftigung finden?
Das ist ein humanes, ein moralisches Anliegen. Das ist im übrigen auch ein Anliegen für mehr Chancengleichheit für Frauen. Darauf will ich einmal hinweisen.
Die Frauen, die beispielsweise auch einen Berufausüben wollen, obwohl sie Kinder haben, sind darauf
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14758 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dr. Hermann Otto Solmsangewiesen, daß sich täglich jemand um die Kinder kümmert.
Wie können Sie so weit gehen, die Berufsmöglichkeiten dieser Frauen noch einzuschränken? Die Frauen, die dort Beschäftigung finden, wollen einen versicherten Arbeitsplatz haben und wollen nicht in der Schwarzarbeit verharren.
Herr Abgeordneter Dr. Solms, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier zu beantworten?
Wenn Sie nicht auf die Redezeit angerechnet wird.
Selbstverständlich wird Sie nicht angerechnet. Frau Matthäus-Maier, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Solms, Sie weisen darauf hin, daß es Mütter gibt, die deswegen nicht berufstägig sein können, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Kinder betreuen lassen können. Da haben Sie völlig recht.
Jetzt frage ich aber Sie — das ist doch der Hintergrund unserer Kritik —: Können Sie nicht verstehen, daß es wirklich sozial ungerecht und Verschleuderung von Geld ist, wenn auf der einen Seite Wohlhabende — nur die haben die 12 000 DM im Jahr für die Einstellung einer Haushaltshilfe übrig —, wenn sie zwei Kinder unter zehn Jahren haben, diese 12 000 DM von der Steuer absetzen können, während die normal verdienende Frau im Zweifel keinen Kindergartenplatz für ihr Kind findet und, wenn sie ihn findet, den Kindergartenbeitrag nicht von der Steuer absetzen kann?
Liebe Frau Matthäus-Maier, diese steuerliche Abzugsfähigkeit dient ja nicht dem persönlichen Nutzen zur freien Verfügung desjenigen, der sie in Anspruch nimmt,
sondern das Geld wird eingesetzt, um jemanden zu beschäftigen und zu versichern.
Das dient demjenigen, der dort beschäftigt ist und heute die Tätigkeit schwarz ausübt. Seien Sie doch nicht so blind zu sagen, diese Beschäftigung fände nicht statt; es findet alles in Schwarzarbeit statt. Wir wollen, daß das ordentliche Arbeitsplätze werden, so daß die Menschen, die dort beschäftigt sind, auch den sozialen Schutz bekommen, der ihnen gebührt.
Ich will auf ein weiteres Thema kommen: die innere Sicherheit. Meine Damen und Herren, alle Umfragen zeigen, daß die Menschen Angst haben vor der steigenden Kriminalität, und zwar im Osten noch stärker als im Westen. Die Alltagskriminalität, wie Einbruch und Diebstahl, hat erheblich zugenommen. Aber auch Gewaltverbrechen, Überfälle, schwere Körperverletzung, Mord und Totschlag versetzen Menschen in Angst und Schrecken. Diese Entwicklung dürfen wir nicht treiben lassen.
Meine Damen und Herren, es ist die Pflicht des Staates, des freiheitlichen Rechtsstaates, den Bürger vor Verbrechen und Gesetzesverstößen wirksam zu schützen.
Gefahren für die innere Sicherheit müssen mit den Mitteln des Rechtsstaates entschieden bekämpft werden. Hierzu ist die F.D.P. nicht nur bereit, wir fordern dazu auf.Mehr Sicherheit gibt es nicht umsonst, das muß jeder wissen. Es wäre auch unseriös zu sagen, es gebe absolute Sicherheit in einem Rechtsstaat. Die gibt es nicht einmal in einem Polizeistaat. Aber wir müssen abwägen, und wir wollen und brauchen mehr Sicherheit für die Bürger. Nur eines muß dabei feststehen: Dies muß mit rechtsstaatlichen Mitteln erreicht werden.Ich habe mich doch sehr gewundert, daß Herr Ministerpräsident Scharping — er hat den Raum verlassen, trotzdem will ich das sagen — vorschlägt, daß schon im Verdachtsfall Vermögen beschlagnahmt werden soll. Wo sind wir denn in einem Rechtsstaat, wo sind wir hingekommen, daß der Verdacht ausreicht? Wir wissen ja heute, daß jeder in der Öffentlichkeit geäußerte Verdacht vielfach in der Meinung der Öffentlichkeit schon zu einer Verurteilung führt. Nein, so geht es nicht! Wir wollen bei den Prinzipien des Rechtsstaats bleiben. Da muß schon eine richtige Verurteilung zuvor erfolgt sein.
Ich will nur auf die Schwerpunkte des Handlungsbedarfs bei der inneren Sicherheit hinweisen. Das Hauptproblem sind die Vollzugsdefizite, und das ist die Verantwortung der Bundesländer, nicht der Bundesregierung. Sie sind zuständig für die Polizei.
Statt die Diskussion immer stärker auf die Frage zu lenken, ob bestehende Gesetze ausreichen oder ob man vielleicht mit der Verwanzung von Wohnungen dieses Problem bewältigen könnte,
sollten wir uns mehr dem Thema der Massenkriminalität und der organisierten Kriminalität zuwenden. Das ist in erster Linie ein Thema der Polizei. Hier ist zu handeln. Wir brauchen 30 000 Polizeibeamte mehr,
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14759
Dr. Hermann Otto Solmswir brauchen eine bessere Sachausstattung der Polizei.
Die Polizei muß von fachfremden Aufgaben entlastet werden. Die Bürger wollen mehr Polizeipräsenz vor Ort. Der Streifen- und Bezirksdienst muß deshalb attraktiver werden. Die Polizeibeamten müssen weg vom Schreibtisch, raus auf die Straße. Sie müssen sichtbar sein. Der Bürger muß Vertrauen gewinnen. Die Ausbildung der Polizei muß verbessert werden, besonders im Osten. Auch die Besoldungsstruktur der Polizeibeamten muß verbessert werden. Insbesondere die Streifenbeamten, die ihren Kopf hinhalten, müssen besser bezahlt werden.
Wir brauchen natürlich auch eine Reorganisation des Bundeskriminalamts. Der Bundesinnenminister hat auf die Notwendigkeit hingewiesen, und wir danken ihm, daß er dieses Thema so schnell aufgegriffen hat. Wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit zwischen Ländern und Bund bei der Polizeiarbeit, und wir brauchen eine bessere Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. Europol ist das Stichwort. Wir müssen das endlich realisieren, wir reden seit Jahren davon.
Wir brauchen eine entschiedenere Bekämpfung der Drogenkriminalität und der organisierten Kriminalität, und wir brauchen ein entschlossenes Handeln gegen den Extremismus von allen Seiten.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Das ist nicht zum Nulltarif zu erreichen. Da muß man Prioritäten setzen, das muß man an anderer Stelle stärker einsparen. Aber ich glaube, es gibt keine Alternative zu diesem Programm, wenn wir den inneren Frieden wiederherstellen wollen, wenn wir das Vertrauen der Bürger in den Staat sichern wollen.Wir sind davon überzeugt, daß der innere Friede der Bundesrepublik Deutschland so gesichert werden kann. Der innere Friede muß aber einhergehen mit dem äußeren Frieden. Damit komme ich zum letzten Punkt meiner Bemerkungen: Nicht nur nach innen, auch in der Außenpolitik müssen wir die Herausforderungen einer gewandelten Welt aufnehmen. Wir müssen endlich eindeutige und unstrittige Voraussetzungen schaffen, wie Deutschland an der Friedenspolitik der Völkergemeinschaft teilnehmen kann. Die Schonfrist, meine Damen und Herren von der SPD, ist jetzt vorbei. Wir wollen uns das Herumlavieren der Opposition — das haben wir heute bei dem Vortrag von Herrn Scharping ja wieder erlebt — beim Thema „Einsätze der Bundeswehr und Wahrnehmung der UN-Mitverantwortung" nicht länger anschauen.
Ab jetzt — das ist mein Vorschlag für die Koalition —reden wir Klartext. Wem der Zustand der außenpolitischen Lähmung anzulasten ist, das müssen wir jetzt öffentlich sagen.
Die Mehrheit der Deutschen — und das ist interessant — bejaht den Somalia-Einsatz. 60 % der SPDWähler befürworten die Aufnahme Deutschlands in den UN-Sicherheitsrat. Diese Wähler haben ein Recht darauf zu erfahren, was die Weltgemeinschaft dafür von uns erwartet, nämlich uneingeschränkt die Rechte und Pflichten eines souveränen UN-Mitglieds wahrzunehmen. Das heißt aber: Bereitschaft zur Teilnahme deutscher Soldaten an friedenssichernden und friedensherstellenden Maßnahmen.Ich habe Respekt vor der Haltung von Herrn Klose. Er hat seit Jahren darauf hingewiesen, daß hier die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung hergestellt werden muß. Es ist jedoch zu bedauern und in meinen Augen geradezu bemitleidenswert, wie die neue Führung der SPD vor den Pazifismus-Nostalgikern und der Parteitags-Funktionärsschicht eingeknickt ist.
Die SPD-Führung hat sich nicht nur von den Bürgern, sie hat sich auch von ihrer eigenen Basis entfernt. Der neue Parteivorsitzende Scharping, der von der Basis der Partei gewählt ist, hat seine Parteiwähler nach meinem Eindruck im Stich gelassen, indem er sich mit dem Präsidiumsbeschluß von dieser Verpflichtung verabschiedet hat.
Anläßlich des UN-Beitritts, den eine sozialliberale Koalition unter der Führung von Brandt und Scheel vor 20 Jahren vollzogen hat, sagte der damalige Bundeskanzler und SPD-Parteivorsitzende Willy Brandt vor der Generalversammlung wörtlich — ich empfehle Ihnen, diese Rede einmal nachzulesen —:
Wer in dieser Versammlung seinen Sitz einnimmt, muß zu den moralischen Fragen des internationalen Zusammenlebens auch dann Stellung nehmen, wenn die eigenen staatlichen Interessen nicht unmittelbar betroffen sind.Weiter sagte Willy Brandt:Wir sind ... gekommen, um — auf der Grundlage unserer Überzeugungen und im Rahmen unserer Möglichkeiten — weltpolitische Mitverantwortung zu übernehmen.
Das war damals in einem noch nicht souveränen Staat. Deshalb: „im Rahmen unserer Möglichkeiten".Oder — das sage ich an die Adresse der SPD — haben sich Ihre Überzeugungen in der Zwischenzeit geändert?
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14760 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dr. Hermann Otto So1msSind Sie dazu nicht mehr bereit?Willy Brandt fährt an anderer Stelle dieser Rede fort:Ob ein Mensch in kriegerischer Auseinandersetzung getötet oder durch Gleichgültigkeit zum Hungertod verurteilt wird, das macht moralisch keinen Unterschied.Die Menschen in Somalia hatten den Huntertod vor Augen. Die Menschen in Bosnien gehen, wenn nicht noch ein Wunder geschieht, einem Hungerwinter entgegen.Willy Brandt sagte an anderer Stelle:Es gibt Gewalttätigkeit durch Duldung, Einschüchterung durch Indolenz, Bedrohung durch Passivität — Totschlag durch Bewegungslosigkeit. Das ist eine Grenze, an der wir nicht stehenbleiben dürfen — denn sie kann die Grenze zwischen Überleben und Untergang sein.
Was sich geändert hat — Willy Brandt durfte es noch erleben —, sind unsere Möglichkeiten. 1973 waren wir ein geteiltes Land in einem geteilten Europa, in einer geteilten Welt. Heute sind wir ein souveräner Staat. Damit wachsen uns neue Möglichkeiten, ebenso aber neue Mitverantwortung zu.Doch die Möglichkeiten, die Mitverantwortung Deutschlands, von denen Willy Brandt sprach, werden heute von der SPD, seiner eigenen Partei, verweigert. Die SPD verhindert nicht nur die internationale Handlungsfähigkeit Deutschlands. Sie blockiert auch, daß dem Parlament die notwendige Mitwirkungsmöglichkeit zuwächst.
Fast drei Viertel der Deutschen möchten, daß der Bundestag und nicht die Regierung allein über mögliche UN-Einsätze entscheidet. Was die SPD durch ihre Blockade aufs Spiel setzt, ist das Vertrauen der Menschen in die demokratischen Institutionen.
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist in Wirklichkeit die zentrale Gefahr für unsere Demokratie. Wir müssen gemeinsam — da sitzen wir in einem Boot — daran mitwirken, dieses Vertrauen wiederherzustellen.Ich höre, daß es zahlreiche Mitglieder in Ihrer Fraktion gibt, Herr Klose, die eigentlich bereit sind, diese Entscheidung zu treffen. Sie sagen es noch nicht öffentlich, vielleicht aus Angst vor der bevorstehenden Listenaufstellung.
Egal: Das ist in den politischen Parteien üblich. Das kenne ich bei uns auch.
Aber wir müssen bald die Nagelprobe machen. Wir sollten diese Frage in diesem Hause zur Abstimmung stellen.
Denn dann wird sich herausstellen, was überwiegt: Vernunft und Überzeugungstreue oder Fraktionsdisziplin. Diese Frage ist zu klären.Lassen Sie mich mit einem letzten Zitat von Willy Brandt schließen:Der Sieg der Vernunft wird es sein, wenn eines Tages alle Staaten und Regionen in einer Weltnachbarschaft nach den Prinzipien der Vereinten Nationen zusammen leben . . .Das muß unser aller Ziel sein. Ich kann Herrn Scharping nur auffordern, seine nationale Pflicht zu tun und die Blockade aufzugeben, damit wir die volle Handlungsfähigkeit für die deutsche Außenpolitik zurückgewinnen können.Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Gregor Gysi das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man versucht, eine Bilanz der Politik des Bundeskanzlers und der Bundesregierung zu ziehen, muß man wohl mit der Außenpolitik beginnen. Sie ist immer ungeschminkter durch Großmachtstreben, aggressive Marktpolitik, Abschottung und Militarisierung gekennzeichnet. Gerade das vergangene Jahr war für die Bundesregierung in der Außenpolitik ein Jahr des Durchbruchs. Mit Zustimmung der SPD gelang es, das Asylrecht faktisch abzuschaffen. Das ersparte der Regierung, auch nur Ansätze einer Lösung im immer größer und existenzbedrohlicher werdenden Nord-Süd-Konflikt zu suchen. An die Stelle von Lösungsstrategien trat ausschließlich die Abschottungspolitik.
Unter anderem deshalb meint die Bundesregierung offensichtlich, daß sie auch Empfehlungen der UNO gänzlich umgehen kann; denn nach diesen Empfehlungen müßte die Bundesrepublik 0,7 % ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe zur Verfügung stellen. Tatsächlich werden aber nur 0,36 % zur Verfügung gestellt.
Das heißt, obwohl die Forderung der UNO lautet, daß unser Land 22 Milliarden DM für diesen Zweck und damit auch zur Bekämpfung der Ursachen für Flucht in dieser Welt zur Verfügung zu stellen hat, sollen es nur 8,39 Milliarden DM sein. Das bedeutet, daß die Entwicklungsländer letztlich um etwa 13,5 Milliarden DM betrogen werden.
Herr Dr. Gysi, entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche. Ich möchte die nötige Ruhe im Saal herstellen.Meine Damen und Herren, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Privatgespräche, die sicher ganz wichtig
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14761
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergsind, nach draußen verlegen würden, damit der Redner in der nötigen Ruhe sprechen kann. Das gilt auch für den Abgeordneten Kleinert.
Das ist ein Anwalt; Anwälte sind so.Ich erinnere mich übrigens noch sehr gut an die Asyldebatte. Da haben hier Verteidigungsminister Rühe und andere Politikerinnen und Politiker der Regierungskoalition darauf hingewiesen, daß ja durch die faktische Abschaffung des Asylrechts erheblich Kosten eingespart werden würden und daß man dieses Geld sehr viel sinnvoller dafür aufwenden sollte, die Ursachen für Flucht in dieser Welt zu beseitigen.
Auch dieses Versprechen war ein Betrug; es wird nicht eingehalten, denn real werden 1994 30 Millionen DM weniger für Entwicklungshilfe eingesetzt als 1993. Das heißt, das eingesparte Geld wird nicht etwa für diesen Zweck zur Verfügung gestellt.Auf der anderen Seite steht fest, daß der NordSüd-Konflikt an Brisanz gewinnt und die Bundesregierung an einer wirklichen Lösung dieser Herausforderung nicht mitwirken will. Nun glaubt sie, zur Beherrschung dieses Konflikts auf das Militär angewiesen zu sein. Deshalb ist es aus der Sicht der Bundesregierung auch wiederum ein Durchbruch, daß es erstmalig nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist, ein größeres Kontingent deutscher Soldaten nach Afrika zu schicken.Auch in diesem Zusammenhang gab es einen breiten Konsens mit der SPD, da viele ihrer Vertreterinnen und Vertreter lediglich bemängelten, daß die verfassungsrechtliche Grundlage fehle, während sie politisch gegen den Einsatz nicht viel einzuwenden hatten.Ich erinnere daran, daß wir davor gewarnt haben: Wer ja sagt zu Blauhelmeinsätzen, macht die Tür auf, und sie wird dann nicht zu schließen sein. Bei dieser Bundesregierung war letztlich auch nichts anderes zu erwarten.Obwohl im Oktober 1990 der damalige Außenminister ausdrücklich bestritt, daß die Bundesregierung eine Großmachtrolle für Deutschland anstrebe, wird eine solche Zielstellung inzwischen kaum noch kaschiert.
Was anderes bedeutet denn die ständige Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat
als den Wunsch, ein Vetorecht zu bekommen, damit in der UNO nichts mehr an der Bundesrepublik Deutschland vorbei entschieden werden kann?Ich frage Sie: Was hat eigentlich die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland von einer Mitgliedschaft der Bundesrepublik im UN-Sicherheitsrat? Erst recht: Was haben andere Völker davon? — Ich glaube: nichts. Es gibt noch viele andere Beispiele, um das zu unterstreichen.Für uns besteht bei diesem Streben nach einer Großmachtrolle das Problem in erster Linie darin, daß eine solche Politik im eigenen Land Nationalismus und damit letztlich auch Rechtsextremismus befördert.
Die Auswirkungen bekommen wir täglich zu spüren.Inzwischen gibt es innerhalb der Koalition doch beachtliche Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des europäischen Einigungsprozesses. Dabei geht es sowohl dem Bundeskanzler als auch Herrn Stoiber um das Ziel der Vorherrschaft Deutschlands in Europa. Nur ist Herr Stoiber der Meinung, daß der Bundeskanzler auf diesem Wege zuviel Kompromisse gemacht habe
und inzwischen die Ansprüche Deutschlands wesentlich unverhohlener formuliert und durchgesetzt werden könnten.Das alles hat selbstverständlich auch Auswirkungen in der Innenpolitik. Wir haben es mit einer radikalen Wende in der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-und Sozialpolitik zu tun. Die Rezepte, die die Bundesregierung jetzt vorschlägt, ähneln in fataler Weise der diesbezüglichen Politik der Reichsregierung unter Brüning im Jahre 1930.
Die Folgen, die damals eintraten, sind hinlänglich bekannt. Es stellt sich die Frage: Wer kann die Bundesregierung bei einem solchen Vorgehen noch stoppen?
Damals wie heute lauteten die Rezepte: Radikaler Sozialabbau, Senkung der Steuern für Unternehmen und Wohlhabende, Verkauf von Staatseigentum, Rücknahme der Verantwortung des Staates in der Gesellschaft.
Dem entspricht die Sozialisierung von Kosten und die Privatisierung von Gewinnen.Dabei wird — wie damals — eine immer größere Verschuldung des Staates in Kauf genommen. Hier ist es wichtig, sich die Zahlen seit 1982, d. h. seit Regierungsantritt des Kanzlers Kohl anzusehen und nicht etwa erst seit 1989. 1982 betrug die Staatsverschuldung noch 607,8 Milliarden DM. Bis 1989 stieg sie bereits auf 924 Milliarden DM. Heute liegt sie bei 1 Billion und 439 Milliarden DM. Und die Schulden werden 1993 und 1994 weiter zunehmen.
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14762 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dr. Gregor GysiDas wird noch deutlicher, wenn man sich die Prokopfverschuldung ansieht. 1982 lag sie in der Bundesrepublik bei 9 871 DM und stieg bis 1989 auf 14 881 DM. Jetzt kommt ein merkwürdiger Vorgang. Die Prokopfverschuldung in der DDR war nämlich wesentlich niedriger. Sie lag bei 5 298 DM. Das ist eine Tatsache, die gerne verschwiegen wird.
Durch die Vereinigung trat dadurch in den alten Bundesländern sogar eine Reduzierung der Prokopfverschuldung um 2 040 DM ein, während die Ostdeutschen die Verschuldung aus dem Westen mit erbten, so daß ihre Verschuldung um 7 543 DM anstieg. In Gesamtdeutschland lag demnach 1990 die Gesamtverschuldung bei 12 841 DM, 1992 allerdings bereits bei 17 998 DM. Im übrigen gilt ganz Ähnliches für die Länder und Kommunen im Verhältnis zwischen West und Ost.Die radikalen Brüche in der Wirtschafts- und Sozialpolitik werden von der Bundesregierung immer wieder damit begründet, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland — um einen europäischen scheint es ihr nicht mehr zu gehen — gefährdet sei, weil es sich nicht lohne, in Deutschland zu investieren. Das Schreckgespenst der Kapitalflucht wird an die Wand gemalt. Dabei unterschlägt die Bundesregierung, daß von einer Kapitalflucht überhaupt keine Rede sein kann. So betrugen die ausländischen Kapitaleinlagen in der Bundesrepublik im vergangenen Jahr 160 Milliarden DM. Dies bedeutete eine Steigerung im Vergleich zu 1991 um 128 %. Dagegen stiegen deutsche Kapitalanlagen im Ausland lediglich um 21,3 % auf 114 Milliarden DM an.
Das heißt, noch immer wird wesentlich mehr ausländisches Kapital in Deutschland angelegt als deutsches Kapital im Ausland.
— Nein, aber Sie bejammern es. Das ist das Problem.
Geradezu dreist ist die Behauptung der Bundesregierung, daß in Deutschland wieder mehr gearbeitet werden müßte. Effiziente Maschinenlaufzeiten, Senkung des Krankenstandes, Verlängerung der täglichen und der Lebensarbeitszeit sind nur einige Stichworte, mit denen die Menschen für den Ernst der Lage sensibilisiert werden sollen. In Anbetracht der permanent zunehmenden Massenarbeitslosigkeit müssen sich die Arbeitslosen verhöhnt vorkommen. Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland wollen und fordern Arbeit, aber sie bekommen keine, und dann wird ihnen noch vorgehalten, daß sie zuwenig arbeiten würden. Und von nicht wenigen werden sie auch noch als Schmarotzer bezeichnet und wegen des Mißbrauchs des sozialen Systems beschimpft.
Sie drohen sogar mit repressiven Maßnahmen zur Eindämmung. Der Angriff auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist nur ein besonders unrühmliches Beispiel. Sie denken ja auch über die Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche und über andere Maßnahmen nach, die sämtlich dazu geeignet sind, die Massenarbeitslosigkeit zu erhöhen.
In Wirklichkeit kann nur eine radikale Verkürzung der Arbeitszeit helfen, die vorhandene Arbeit auf mehr Schultern als bisher zu verteilen. Hinzukommen müßten öffentliche Programme zur Schaffung von regulär bezahlten Arbeitsplätzen im Umwelt-, Dienstleistungs- und Kulturbereich. Statt dessen wird ein zweiter Arbeitsmarkt immer mehr befürwortet — übrigens leider auch von SPD-Seite —, der ja wohl mit Lohnverzicht verbunden sein soll.
Die gesamten Politikansätze der Bundesregierung sind zumindest hinsichtlich ihrer Wirksamkeit nicht auf eine Vermehrung, sondern auf eine weitere Reduzierung von Arbeitsplätzen gerichtet.
All das wird genutzt, um die Gesellschaft immer weiter zu spalten. Nicht Solidarität, sondern Mißtrauen, Argwohn und Ablehnung werden geschürt. Zunächst waren es Ausländerinnen und Ausländer — insbesondere Flüchtlinge , auf die das Augenmerk der deutschen Bevölkerung im Rahmen der sogenannten Asyldebatte gerichtet wurde, und zwar nicht nur mit dem Hinweis, daß es zu viele seien, sondern vor allem mit der Begründung, daß sie zu viel kosteten.Nachdem es gelungen war, eine diesbezügliche Stimmung in Teilen der Bevölkerung gegen Flüchtlinge zu schüren, wird dieses Muster jetzt bei denjenigen angewendet, die auf soziale Leistungen angewiesen sind. Häufig werden sie als „Sozialschmarotzer" verunglimpft. Den Angestellten und Beamten mit niedrigen Einkünften wird erklärt, daß sie nicht viel mehr verdienten als jene, die auf Sozialleistungen angewiesen seien;
Dies sei ungerecht. Aber sie werden nicht etwa darauf hingewiesen, wie hoch die Einkommen von Spitzenbeamten sind, sondern darauf, was jene bekommen, denen es noch schlechter geht als ihnen. Das ist wirklich soziale Demagogie; das spaltet und entfremdet. Ich frage Sie: Wollen Sie jetzt eine Stimmung gegen Arme in der Bundesrepublik Deutschland
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14763
Dr. Gregor Gysierzeugen? Reichen nicht die ersten Fälle, in denen Obdachlose ermordet wurden?Die Bundesregierung will nunmehr auch endgültig aus dem Sozialstaatskompromiß ausscheren und setzt den Rotstift im Haushalt deshalb überwiegend bei Sozialleistungen an. So soll das Arbeitslosengeld stufenweise insgesamt um 4 % im Jahr gekürzt werden. Unterhalts- und Kurzarbeitergeld sowie Eingliederungsgeld werden einheitlich um 3 % reduziert, ebenso die Arbeitslosenhilfe. Zusätzlich wird die Bezugsdauer auf zwei Jahre begrenzt. Das Schlechtwettergeld wird nicht nur um 3 % reduziert, sondern ab 1. Juli 1994 gänzlich gestrichen, und das, obwohl es auch noch unwirtschaftlich ist; denn jede Mark, die dabei eingespart wird, wird diesen Staat 4 DM kosten, wie Experten berechnet haben.
Reduzierungen soll es auch beim Kindergeld und beim Erziehungsgeld geben.Die Sozialhilfe soll in der Zeit vom 1. Juli 1994 bis 30. Juni 1995 nicht erhöht werden, egal wie die Lebenshaltungskosten steigen. Danach soll die Erhöhung der Regelsätze auf maximal 3 % festgelegt werden, auch wenn die Lebenshaltungskosten um 5, 6 oder mehr Prozent ansteigen. Das ist wirklich Politik gegen die Ärmsten in dieser Gesellschaft.Indirekt hat die Bundesregierung auch schon eingeräumt, daß nach den Bundestagswahlen per 1. Juli 1995 eine Nullrunde bei den Renten einsetzen wird, weil die Steigerung der Renten bekanntlich an die Nettolohnentwicklung angepaßt wird und die Bundesregierung nicht von einer Steigerung der Nettolohnentwicklung ausgeht.
Die Bundesregierung will auch den Ausstieg aus der Tarifautonomie, wie der Versuch der Einführung von Karenztagen hinsichtlich der Lohnfortzahlung am deutlichsten zeigt. Übrigens wird auch das eine Maßnahme zur Spaltung der Gesellschaft. Denn diesmal sollen Kranke die Kosten für Pflegebedürftige bezahlen.
Unter dem Motto „Ohne uns" hat die SPD angekündigt, all diese Vorhaben der Bundesregierung, wenn sie eine Mehrheit im Bundestag finden, durch ihre Mehrheit im Bundesrat zu stoppen. Eine solche Täuschung der Bevölkerung ist aber durch nichts gerechtfertigt; denn hinsichtlich der meisten geplanten Einsparungen gibt es keine Zustimmungsbefugnis des Bundesrates;
die einfache Mehrheit im Bundestag genügt. Konkret ist es so, daß bei den vorgesehenen Einsparungen, die ja insbesondere im sozialen Bereich liegen, 22,7 Milliarden DM nicht der Zustimmung des Bundesratesbedürfen. Zustimmungspflichtig ist nur ein Anteil von 0,685 Milliarden DM, also der geringste Teil.
Ob dort dann die Zustimmung durch die SPD-Länder wirklich ausbleibt, ist in Anbetracht der Erfahrungen eher fraglich.Selbstverständlich steht die Bundesregierung tatsächlich vor erheblichen Finanzschwierigkeiten. Aber bei einer anderen Politik wäre es möglich,
Kosten zu senken und Einnahmen zu erhöhen, Investitionen auf dem Arbeitsmarkt vorzunehmen und dennoch auf Sozialkürzungen zu verzichten. Wir haben dazu massenhaft Vorschläge unterbreitet. Ich will hier nur soviel wiederholen: Statt gegen angebliche Sozialschmarotzer vorzugehen, wobei schon die Kontrolle mehr kostet, als es einbringt, sollten Sie einmal den Steuerschuldnern wirklich auf dem Leib rücken. Nach Schätzungen der Deutschen Steuergewerkschaft verliert der Staat auf diese Art und Weise jährlich 130 Milliarden DM. Erinnert sei an das ungerechte Ehegattensplitting. Hierdurch verliert der Staat jährlich 40 Milliarden DM. Gestrichen werden müßte die steuerliche Berücksichtigung von Werbegeschenken, die Abzugsfähigkeit von Bewirtungsspesen als Betriebsausgaben, die Abzugsfähigkeit von Aufwendungen für sogenannte Dienstmädchen und andere Hausangestellte und die Abzugsfähigkeit der Nutzung von Pkw. Abgeschafft werden müßte der Kinderfreibetrag, soweit er gegenwärtig besonders den Gutverdienenden zugute kommt. Besteuert werden müßte Flugbenzin für Privatflieger. Die Senkung des Vermögensteuerfreibetrages ebenso wie die des Einkommensteuerspitzensatzes müßte rückgängig gemacht werden. Alle diese Maßnahmen zusammen könnten mit der Einführung des Solidaritätszuschlages und einer Arbeitsmarktabgabe bereits Mehreinnahmen von über 80 Milliarden DM nach sich ziehen.Aber immer, wenn es um solche Fragen geht, dann steht diese Regierung auf seiten der Unternehmen, nicht auf seiten der Beschäftigten. Übrigens: Das Beispiel Bischofferode zeigt besonders deutlich, daß die BASF-Interessen kalt durchgesetzt werden, auch wenn das gegen die Kali-Kumpel — nicht nur in Bischofferode — geht. Die Milliarden stehen zur Verfügung, um die BASF in Auseinandersetzung mit ausländischen Konkurrenten zu subventionieren, aber keine Millionen für die Beschäftigung der Menschen in Bischofferode und in anderen Regionen.Um zu Ostdeutschland etwas zu sagen: Natürlich gibt es dort für die Menschen inzwischen auch Vorteile.
Herr Abgeordneter Dr. Gysi, ich glaube, Ihr Konzept ist länger
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14764 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Vizepräsident Dieter-Julius Cronenbergals Ihre Redezeit. Es ist vielleicht vernünftig, wenn Sie sich ein bißchen darauf einstellen würden.
Ich will darauf hinweisen, daß es ein einmaliges Phänomen ist, daß ein ganzer Wirtschafts-, Landwirtschafts- und Industriestandort vernichtet worden ist. Über die Hälfte der Arbeitsplätze sind inzwischen vernichtet. Da helfen auch die Hinweise auf die marode Wirtschaft nicht weiter; denn Sie werden nicht leugnen können, daß die Volkswirtschaft der DDR nicht schwächer war als die, sagen wir einmal: Polens, Ungarns, der Tschechischen Republik, Portugals und anderer Länder. Nirgendwo dort gab es eine auch nur ansatzweise gleichwertige Zerstörung des Industrie- und Landwirtschaftsstandortes wie im Osten Deutschlands.
— Ja, weil die Treuhandpolitik von Anfang an auf eines gerichtet war, nämlich darauf, den Osten so zu gestalten, daß er für den Westen funktioniert. Das war das Ziel. Diese Treuhandpolitik wird sich in Kürze vollenden. Damit haben wir es mit einer der größten Umwandlungen einer Volkswirtschaft in einen Schuldenberg zu tun, die es in der Geschichte je gegeben hat.
Es bleibt ja nicht dabei. Jetzt beklagen Sie sich über den Finanztransfer. Im Osten haben wir einen beispiellosen Abbau von Sozial-, Kultur- und Bildungseinrichtungen. Jetzt geht er in den Westen über. Viele haben geschwiegen, als Hochschulen, Theater, Orchester, Jugendclubs, Kulturhäuser und anderes im Osten geschlossen worden sind. Nun erleben wir, daß in West-Berlin ein Staatstheater geschlossen wird. Ich behaupte: Das ist etwas, was sich dieses Land vor 1989 nie gewagt hätte.
Ich sage Ihnen: Der letzte Zweck von Politik sollte immer in einem Mehr an Zivilisation und Kultur bestehen. Der letzte Zweck Ihrer Politik, Herr Bundeskanzler, besteht aber in einem permanenten Abbau von Zivilisation und Kultur. Wer Kultur- und Bildungsabbau befördert, befördert auch die Bedingungen für den Rechtsextremismus. Das wissen wir.
Herr Dr. Gysi, Sie haben eben zustimmend signalisiert, daß Sie meine Bitte wohlwollend aufnehmen. Ich fände es gut, wenn Sie sie jetzt auch in die Realität umsetzen würden.
Ich bin schon am Schluß. — Ich habe die Bitte, eine wirkliche Wende in der Wohnungspolitik zu vollziehen. Die Wohnung muß endlich zum Sozialobjekt statt zum Marktobjekt werden. Es ist unerträglich, Menschen in die Obdachlosigkeit zu drängen und die Kosten so zu erhöhen, daß sie sich Wohnungen nicht mehr leisten können.
Noch nie waren ein Kurswechsel in der Politik, ein Wechsel der Bundesregierung so erforderlich wie heute. Ich befürchte allerdings, die Bundestagswahlen kommen mindestens ein Jahr zu spät.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Werner Schulz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte der letzten Tage ist durchzogen von der aufgesetzten Frage nach dem Wirtschaftsstandort Deutschland. Aber leider wird diese Frage meist nur auf den Unternehmensstandort Deutschland eingeengt. Es geht für meine Begriffe um mehr. Es geht um die Lebensbedingungen in diesem Land, um den Zustand dieser Gesellschaft drei Jahre nach der Vereinigung. Da ist festzustellen: Diese Gesellschaft steckt in einer tiefen Krise, in einer vielfältigen Krise ihres Selbstverständnisses, des Wirtschaftens, ihrer äußeren Beziehungen und inneren Verhältnisse. Am deutlichsten zeigt sich die Krise der politischen Institutionen.Der Fall der Mauer hat auch den Zustand des Westens offengelegt und seinen Ideenhaushalt kräftig erschüttert. Das wäre für sich genommen nicht schlimm, eher eine Chance, zumal sich auch viele neue Fragen stellen, gäbe es nicht die Regierung Kohl, würde zur Zeit nicht die Einfallslosigkeit regieren. Vor einem Jahrzehnt ist diese Regierung mit dem Versprechen angetreten, die geistig-moralische Wende einzuleiten. Herausgekommen sind allenfalls eine Rolle rückwärts, geistiger Rückstand, moralische Inflation und nun eine großangelegte Kehrtwende in eine andere Republik.Diese Regierung begreift Krisen nicht als Herausforderungen, die geistige Anstrengungen und neue Ideen erfordern. Sie reagiert auf Probleme defensiv, mit nostalgisch verklärtem Rückblick, im schlechtesten Sinne konservativ.Das Ergebnis dieser Politik drückt sich in der Politikverdrossenheit der Bürger aus. Noch ist es Politikverdrossenheit und keine Staatsverdrossenheit. Aber auch das kann passieren. Wir müssen aufpassen, daß der anstehende Umzug von Bonn nach Berlin nicht auf halbem Wege in Weimar steckenbleibt.Aufschlußreiche Symbolik an einem Tag: Der Palast der Republik wird abgerissen, der Kaiser Wilhelm steht wieder auf dem Deutschen Eck, und der Bundesminister für Verteidigung Rühe verkündet von seinem neuen Schreibtisch im Bendler-Bau, die Bundeswehr sei der Schrittmacher der Vereinigung. Ich frage Sie nur: Wohin marschiert denn diese Bundeswehr?Ich meine, über Blauhelme können wir ja reden; das ist allgemein Thema, nicht nur in diesem Hause. Nur, dieses veränderte Schwarz-rot-gold, Herr Schäuble, dieses Burschenschaftslied mit dem Text: „Darunter hau'n und holen wir uns bald wohl junge Narben", das werden wir nicht mitsingen.
„Unser Schicksal ist nicht die Welt, sondern dieWirtschaft", sagt Rathenau. Wie dem auch sei. Doch
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Werner Schulz
wie steht es mit der Wirtschaft? Es gibt nicht d e n Standort Deutschland, sondern zwei, die miteinander in Konkurrenz stehen.Verteidigung der Arbeitsplätze West gegen die Deindustrialisierung Ost heißt der einseitige Überlebenskampf. Aus dem vielzitierten Aufschwung Ost droht das Gemeinschaftswerk Aufstand Ost zu werden. Die vom Kanzler verkündete Stunde der Wahrheit war nur eine Schrecksekunde zwischen Täuschung und Selbsttäuschung.Seine Regierung hält sich lieber an aufgebauschte Erfolgsmeldungen, so bei der Treuhandanstalt: Mit einem Zahlenfeuerwerk und einem unendlichen Schwall von Jubelbotschaften versüßt deren Presseabteilung der Öffentlichkeit die Abwicklung der DDRVolkswirtschaft.Dennoch, das Konzept der Sanierung durch Privatisierung trägt nicht und hat nie getragen. Es war von Anfang an verfehlt, zu glauben, man könne eine Staatswirtschaft im Hauruckverfahren in die Marktwirtschaft überführen. Die Bundesregierung hat bei dieser zentralen Aufgabe der Gestaltung der Deutschen Einheit kläglich versagt.In der momentanen Wirtschaftsflaute schmelzen selbst die geringsten Arbeitsplatzzusagen und Investitionen wie Schnee in der Sonne. Die angebotsorientierte Wirtschaftsförderung für die neuen Länder bewirkt wenig, wenn sie nicht durch eine Verbesserung der Marktchancen für ostdeutsche Produkte ergänzt wird. Aber daran mangelt es im Förderwirrwarr Ost.Merkwürdigerweise ist diese vordringliche Aufgabe der deutschen Wirtschaft, der Aufbau Ost, in den Hintergrund getreten hinter eine seltsam anmutende Standortdebatte, die den Verlust von Weltmarktarbeitsanteilen und Arbeitsplätzen in der westdeutschen Vorzeigebranche Automobil und Maschinenbau zum Ausgangspunkt nimmt.Sozialopfer sollen jetzt den Standort sichern, heißt das Konzept von Wirtschaftsminister Rexrodt, mit dem er den Klassenkampf von oben wieder anfacht. Die beiden Parteien mit dem hohen C kennen nur noch das eine Gebot, das elfte, das Lohnabstandsgebot. Die soziale Kälte in diesem Gruselkabinett nähert sich dem Gefrierpunkt.Ist der Standort Deutschland wirklich in Gefahr, dann sicher nicht wegen zu hoher Sozialhilfesätze oder wegen mangelnder Mobilität der Arbeitnehmer, schon eher durch ein verwöhntes und wenig experimentierfreudiges Management. Heute kommen die Innovationsanstöße von Greenpeace, von Umweltverbänden, sogar vom Bundesverband Junger Unternehmer.Gefahr geht von einer Regierung aus, die die Zeichen der Zeit nicht erkennt, die Rolle des Staates im Transformationsprozeß nicht annimmt, dem anstehenden ökologischen Strukturwandel der Wirtschaft den Weg nicht ebnen will oder kann, von einer Regierung, die glaubt, die Spitzenstellung der Wirtschaft durch eigenes Mittelmaß sichern zu können.Wir brauchen jetzt und sofort eine ökologische Steuerreform, damit der betriebliche Rationalisierungsdruck weg von der Arbeitsplatzeinsparung hin zur Einsparung von Energie und Rohstoffen gelenkt wird. Damit lassen sich auch die beklagten Lohnnebenkosten nachhaltig senken, ohne Sozialleistungen zu kappen.Jetzt ist eine Energie-, Abfall- und Verkehrswende geboten. Das Instrumentarium liegt vor und ist ausgefeilt. Was fehlt, ist der politische Wille, es einzusetzen.Deutschland sollte endlich seine notorische Gescheitheit nutzen, um die Umwelt wieder in Ordnung zu bringen, und nicht, um Weltmeister im Autobahnbau zu werden oder den Standort der Rüstungskonzerne zu verteidigen.Nicht die rot-grünen Bündnisse, Herr Schäuble, sind die Frage, sondern Ihr Starrsinn in vielen Fragen. Sie sollten nicht nur das Buch von Helmut Schmidt, sondern vielleicht einmal das Ihres Parteifreundes Geißler lesen. Da sind interessante Fragen aufgeworfen.
Wir wissen seit langem, daß blindes Wachstum die ökologischen Schäden verschlimmert, daß der materielle Wohlstand, von dem die Lösung aller Probleme erhofft wurde, selbst zum Problem geworden ist. Wirtschaftswachstum wird die Dauerarbeitslosigkeit nicht beseitigen. Wenn Kanzler und Wirtschaftsminister nun lauthals nach der Verlängerung der Arbeitszeit rufen, kommt mir das vor wie die späte Umsetzung der alten DDR-Parole: „Immer weniger produzieren immer mehr. " In der DDR hätte man damit noch „Held der Arbeit" werden können.Die Politik schwafelt über die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. In der Praxis werden die Menschen in den Vorruhestand geschickt. Eine Verlängerung der Arbeitszeit im öffentlichen Dienst anstelle einer überfälligen Verwaltungsreform wird mancherorts nur den Büroschlaf verlängern. Wir können uns die 40-Stunden-Arbeitswoche nicht mehr leisten, meine Damen und Herren. Bezahlte Erwerbsarbeit ist Mangelware, und wenn etwas knapp wird, muß es gerecht verteilt werden. Im Osten hungern die Menschen regelrecht nach Arbeit, Arbeit hat dort noch einen tief verinnerlichten Wert. Offenbar haben sich nicht alle mit dem Zynismus der Resignation abgefunden, daß Arbeitslosigkeit nun mal zum System der Sozialen Marktwirtschaft gehört.Dabei müßten wir doch wissen, daß sich soziale Krisen der Gesellschaft immer dann zuspitzen, wenn viele ihrer Angehörigen ausgegrenzt werden. Dem muß nicht so sein, wenn wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, wie Verkürzung der Arbeitszeit, flexible Arbeitszeiten, Teilzeitarbeitsplätze, Abbau von Überstunden und Schwarzarbeit. Von Gewerkschaften und Arbeitnehmerseite liegen diskutable Vorschläge vor: Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich, steuerliche Finanzierung des zweiten Arbeitsmarkts. Allein die Regierung bleibt auf ihre falsche Weichenstellung fixiert.
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14766 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Werner Schulz
Gerade der zweite Arbeitsmarkt ist wichtig. Hiermit verbundene Probleme rechtfertigen es nicht, eine ganze Generation aufs Abstellgleis zu schieben. Es gibt genügend notwendige und nützliche Arbeit, die nicht erledigt wird, nur weil sich der Bedarf nicht in monetärer Nachfrage ausdrücken läßt.Lassen Sie uns eine große Anhörung und Aussprache hier im Bundestag zu den Möglichkeiten und Grenzen der Arbeitsgesellschaft durchführen! Ich vermute, die Bundesregierung wird mit ihrer Arbeitszeitvorgabe ein ähnliches Debakel wie bei der geplanten Karenztageregelung zur Pflegeversicherung erleben.Auch wenn der Kanzler behauptet, meine Damen und Herren, er sei weder rechts noch links einäugig — ein anatomisches Wunder! —, ist er, zumindest, was das Wiedererstarken des Rechtsextremismus anbelangt, dennoch blind. Zwar hat der neue Innenminister mit dem Antrag auf Verbot der FAP Entschlossenheit gezeigt, doch vergessen wir nicht, daß die Bundesregierung selbst die Geister rief, die sie jetzt zu bannen sucht! Der Asylkompromiß hat gezündet. Wer fortwährend den desolaten Zustand der Gesellschaft auf die Zuwanderung von Ausländern zurückführt, muß sich nicht wundern, daß sich der Terror organisiert, daß Fremde nicht zu ausländischen Mitbürgern, sondern zu Freiwild werden.Das außenpolitische Ansehen Deutschlands hängt nicht von ein paar militärischen Dauerarbeitsplätzen in Afrika ab, sondern davon, ob wir mit den Mordbrennern im eigenen Land fertigwerden.
Ich hoffe, Herr Kinkel, Ihr Vorschlag, ein Einwanderungsgesetz vorzulegen — was übrigens von unserer Gruppe längst getan wurde —, war nicht nur eine Pusteblume im Sommerloch, war keine zweite Kinkel-Initiative, der die Verbiegung ins Gegenteil blüht. Denn zum Thema RAF wollten die aufgeblähten Sicherheitsbehörden keine politische Lösung, sondern einen Fahndungserfolg, um ihre Existenzberechtigung nachzuweisen. Hier liegt das Ungeheuerliche: Versagen oder Komplott — das ist die immer noch offene Frage nach Bad Kleinen.Alle, die sich jetzt den Kopf über eine Stasi-Amnestie zerbrechen, obwohl sie davon relativ wenig verstehen, sollten wissen, daß zumindest das Kapitel der RAF hätte abgeschlossen werden können. Doch anscheinend soll diese fast überstandene Krankheit verschleppt werden, um das Gleichgewicht des LinksRechts-Bedrohungspappkameraden aufrechtzuerhalten.Immer wieder gibt die Bundesregierung Anlaß zu der Frage, was eigentlich mehr Besorgnis auslösen muß: die zunehmende Kriminalität oder die Versuche dieser Regierung, ihr entgegenzusteuern. Die alten Reaktionsmuster — schärfere Gesetze, schlagkräftige Polizei, mehr Überwachung — greifen nicht mehr. Statt den Straftätern geht es häufig den Rechten der Bürger an den Kragen. Die Wohnung scheint verletzbar, doch das Bankgeheimnis bleibt heilig. Sie sollten bei Gelegenheit einmal einige Stasi-Opfer über denErkenntniswert von Lauschangriffen befragen. Sie werden staunen!Was wir brauchen, ist eine präventive Politik: Abbau struktureller Gewalt, moderne Polizeikonzepte, bessere Ausbildung und Bezahlung, auch Ausländer in der Polizei, Bildung und Jugendaustausch. Doch dafür ist im Haushalt wenig Geld da.Ich sage Ihnen: Hinter diesem Spar- und Konsolidierungsprogramm lauert Nationalismus, nicht aus vollem Herzen, sondern eher aus leeren Kassen. Der Rechtsstaat, Herr Schäuble, zieht sich dort zurück, wo sich die Reichen mit Bodyguards eindecken. Das Thema innere Sicherheit eignet sich nicht als Wahlkampfthema. Das wäre ein gefährliches Vorhaben, ein „KKW", ein „Kanzler-Kanther-Wunsch". Sie sollten die Energie dieser kernigen Fusion lieber auf die soziale Sicherheit richten, auf die innere Verunsicherung unserer Bürger, wie es mit Arbeit, Wohnung und Umwelt weitergehen soll.Eine Regierung, die keinen ernsthaften Willen zeigt, Ausgegrenzte in die Gesellschaft zu integrieren, und hemmungslos bei den Armsten zufaßt, erzeugt selbst den Sprengstoff der Gewalt, über den sie sich dann heuchlerisch empört. Es ist schon üble Polemik, wenn da vom „Vollkaskostaat" gesprochen wird. Die Bürger erwarten von einem Staat, den sie voll finanzieren, zu Recht Versicherung und Schutz.Mit der aufgeblasenen Mißbrauchskampagne werden die sozialen Sicherungssysteme madig gemacht, obwohl sie seit der Vereinigung von dieser Regierung zweckentfremdet werden und einen Großteil der Vereinigungskosten getragen haben. Ich nenne das Mißbrauch, der zur Unglaubwürdigkeit führt. Denn was ist von einem Kanzler zu halten, der 1992 erklärt, kein Rentner, kein Kranker, kein Arbeitsloser brauche Leistungskürzungen zu befürchten, und sich jetzt genau diesen Personenkreis vornimmt? Den Gürtel enger schnallen heißt bei diesem Kanzler allemal, am Riemen anderer zu reißen.Es gibt etliche offene Fragen, an die sich diese Regierung überhaupt nicht herantraut. Der Generationsvertrag ist fragwürdig geworden. Wir erreichen die Jugend nicht mehr. Die Teilungs- und Vereinigungsgeneration ist nicht in der Lage, ihre Ideale weiterzugeben. Das gilt für Ost wie West. „Die Zukunft gehört der Jugend" sagt sich so leicht, doch wer gibt sie ihr wirklich?Es gibt jede Menge offene Fragen und Gestaltungsmöglichkeiten wie nie zuvor, doch unsere Gesellschaft befindet sich in einem rasenden Stillstand. Die politische Führung scheint gelähmt oder in alten Ritualen befangen zu sein.Ein Paradebeispiel ist der tägliche Eiertanz um das Neuauftreten von Bundespräsidentschaftskandidaten auf die illustre Perlenkette. Allein darin, wie diese Diskussion geführt wird, zeigt sich der Geist der alten Bundesrepublik. Ginge es nach den Teilnehmern der Zuschauerdemokratie, dann hieße der nächste Bundespräsident: „Jetzt reicht's". Mit anderen Worten: Der künftige Bundespräsident sollte vom Volk gewählt und nicht in Parteihinterzimmern gekürt werden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14767
Werner Schulz
Runderneuerung und Umdenken heißen die neuen Schlüsselbegriffe der Regierung. Runderneuerung, weil das Profil abgefahren ist, was bleibt, ist ein alter Schlappen. Auch beim Umdenken sind keine umwerfenden Lösungen zu erwarten; denn jeder, der diesen Kanzler kennt, weiß, was das zu bedeuten hat. Hier ist das Problem, und so wird künftig drumrumgedacht.
Das Wort hat nunmehr der Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer den Kanzler kennt, hat jetzt die Chance, ihn nochmals kennenzulernen. Sie werden verstehen, daß ich nichts zu dem sage, was Sie hier gerade ausgeführt haben, außer dem einen: Sie haben im wiedervereinten Deutschland immer noch nicht Fuß gefaßt. Sie reden von einem Land, das gar nicht existiert.
Meine Damen und Herren, Sinn der Generaldebatte ist ja, daß über alle Positionen und Stationen der deutschen Politik gesprochen wird. Es geht um den Bundeshaushalt 1994, aber es geht in der konkreten politischen Situation, in der unser Volk, wir alle gemeinsam leben, auch um alle anderen anstehenden Fragen. Insofern finde ich es ganz richtig, daß wir traditionsgemäß beim Etat des Bundeskanzlers mit unterschiedlichen Wertungen gemeinsam versuchen, eine Art Standortbestimmung der deutschen Politik vorzunehmen.Ich glaube, das ist um so notwendiger, als die dramatischen Veränderungen in der Welt, in Europa und natürlich auch in Deutschland, in Ost und in West, vieles neu auf den Prüfstand stellen. Eine der Zukunftsfragen der Deutschen wird sein, ob wir in der konkreten Situation, in der wir uns jetzt befinden, fähig sind, die Antworten auf die konkreten Fragen der Gegenwart zu finden und darüber zu sprechen, welchen Weg wir gemeinsam in die Zukunft gehen wollen.Das, was wir hier tun, findet gegenwärtig praktisch in allen großen Industrieländern dieser Erde statt. Wenn Sie die inneramerikanische Diskussion im Parlament und auch im Verhältnis zur Regierung in diesen Wochen beobachten, haben Sie ein Beispiel dafür. Wenn Sie die Regierungserklärung des neuen japanischen Ministerpräsidenten nachlesen, finden Sie ein weiteres Beispiel. Wenn Sie die parlamentarische Diskussion in Frankreich, in Spanien, in den Niederlanden oder — ich war gerade am letzten Wochenende dort — in Schweden beobachten, finden Sie genau die gleiche Situation. Die Fragen sind zum Teil in Nuancen unterschiedlich, die geschichtliche Situation der einzelnen Länder ist unterschiedlich, aber fast überall stellt sich mehr oder minder deutlich die Frage: Können wir einfach so weitermachen wie bisher? Oder ist nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, im Blick auf eine unabsehbare Entwicklung, die viel gefährlicher werden kann als vieles andere bisher, jetzt nicht der Zeitpunkt gekommen, wo man zu fragen hat, was wir gemeinsam tun können?Sehen Sie, Herr Ministerpräsident Scharping, das habe ich in unser Standortpapier selbst mit hineingeschrieben: Dies ist nicht der Augenblick der Schuldzuweisung. Wenn Sie nun, was natürlich sehr einfach — man kann auch sagen: billig — ist, fragen: was habt ihr elf Jahre lang getan?, dann ist darauf zu antworten: Wir alle haben in diesen elf Jahren und den Jahren zuvor mehr oder minder gemeinsam getan, was heute Bundesrepublik Deutschland ausmacht.Hierher gehört als zweite Feststellung, daß die eigentlichen Probleme Deutschlands — ungeachtet der großen Herausforderung im Sozialen, Ökonomischen und Menschlichen im Blick auf die deutsche Einheit — Probleme sind, die in den 40 Jahren der alten Bundesrepublik herangewachsen sind. Auch ohne die deutsche Einheit stünden wir in wesentlichen Teilen vor diesen Problemen, so wie unsere Nachbarn in Ost und West.
Es mag ja sein, daß Sie — ich will es aber nicht glauben — vielleicht aus Gründen der vielen Wahlen im nächsten Jahr sagen: Diese Probleme zu lösen ist jetzt nicht primär unsere Sache. Aber, Herr Ministerpräsident, ich stand einmal in einer ähnlichen Situation wie Sie hier im Deutschen Bundestag vor einem interessierten, skeptischen Publikum in der eigenen Partei und bei den politischen Gegnern. Ich habe in diesen Jahrzehnten gelernt: Wenn man die Probleme vertagt, weil man in der Opposition ist und glaubt, man brauche nicht an deren Lösung teilzunehmen, dann ist das die schlechteste Oppositionsstrategie, die man einschlagen kann.
Deshalb will ich Sie, auch die Kolleginnen und Kollegen — —
— Jetzt lassen Sie mich doch wenigstens den Satz aussprechen! Wir werden uns sicherlich über den Standort Deutschland nicht verständigen können, wenn wir uns anschreien, das bringt uns in der Sache nicht weiter.Es geht jetzt doch darum, uns in Blick auf das eigene Land, aber auch im Blick aus diejenigen, die von draußen unser Land betrachten, die Frage zu stellen, was zu tun ist. Meine Damen und Herren, ich sage an jedermanns Adresse, auch an die meine: Es ist doch einfach wahr, auch wenn Sie sich über den Satz aufregen, den damals schon Ludwig Erhard gesprochen hat: Wir sind dabei, über unsere Verhältnisse zu leben.Wenn wir gemeinsam an dieser Entwicklung beteiligt waren, genügt es nicht, wenn die Unternehmer sagen, die Gewerkschaften waren es, und die Gewerkschaften sagen, es waren die Unternehmer; denn unter den Tarifverträgen stehen ja immer zwei Unterschriften. Ich kann mich als Bundeskanzler so wenig herausreden wie die Ministerpräsidenten der Länder; denn sie alle waren an den Tarifabschlüssen im öffentlichen Dienst beteiligt; auch das ist wahr.
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14768 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Bundeskanzler Dr. Helmut KohlIch denke, wenn wir über die ganze Liste der anstehenden Probleme reden, sollte es eigentlich möglich sein — wir haben noch genug Felder der Auseinandersetzung für das nächste Jahr —, die Zeit zu nutzen und jetzt das Richtige zu tun und dabei auch — ich bin sehr dankbar, wenn das fair geschieht — in einer offenen Diskussion zu sagen, wo die Schwachstellen sind.Herr Ministerpräsident, ich hätte es sehr begrüßt, wenn Sie ein paar Worte mehr zum Thema Außenpolitik gesagt hätten. Denn so wichtig dies alles ist, von der Pflegeversicherung angefangen bis hin zu all den innenpolitischen Themen, die heute hier angesprochen werden: Das Schicksal Deutschlands, das Schicksal unseres Volkes, wird in der Außen- und Sicherheitspolitik entschieden, auch wenn Sie es so nicht glauben. Das ist eine alte Diskussion in Ihrer eigenen Partei. Lesen Sie einmal nach, was dazu früher gedacht und gesagt wurde, etwa in Ihrem Parteivorstand zur Zeit der Weimarer Republik.Weil vorhin mein geschätzter Vorgänger angesprochen wurde, sage ich: Ich würde gern einmal ein Zitat von ihm hören, aus dem hervorgeht, was er über die volle Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an Maßnahmen der Vereinten Nationen denkt. Es ist hier ausgiebig Willy Brandt zitiert worden, zu Recht. Er kann hier nicht mehr sprechen. Aber sein unmittelbarer Nachfolger im Amt des Bundeskanzlers könnte jetzt in der deutschen Öffentlichkeit einmal seinen Rat geben. Wenn er Ihnen, Herr Ministerpräsident, den Rat gäbe, im Sinne seines Vorgängers Willy Brandt zu handeln, könnte ich Sie nur bitten: Folgen Sie diesem klugen Rat, wenn er kommt!
Deutsche Außenpolitik im Jahre 1993 ist spürbar schwieriger geworden. Wir erleben, daß eine Art Schonfrist für uns abläuft. Die Gutwilligen außerhalb der deutschen Grenzen sagen: Die Deutschen haben jetzt einen Haufen Probleme mit der deutschen Einheit. Sie müssen sich an diese neue Lage gewöhnen. Sie brauchen noch Zeit. — Aber es gibt nicht wenige, die sehr viel härter sagen: Ihr als Deutsche verdankt die deutsche Einheit überhaupt nur der Zustimmung aller eurer Nachbarn, mehr oder minder der Unterstützung d urch die ganze Welt. Jetzt erwarten wir von euch, daß ihr euch eurer Verantwortung in dieser Welt stellt und euch nicht feige wegdrückt. — Das ist der Klartext, der hier geredet wird.
Das zeigt sich schon in wenigen Monaten, wenn Mitte Januar der nächste NATO-Gipfel stattfindet und wir auf diesem NATO-Gipfel verständlicher- und richtigerweise darüber zu reden haben: Was bedeutet die NATO in den Jahren 1994 und folgende? Die erste Antwort ist leicht: Es bedeutet, wir brauchen die Nordatlantische Gemeinschaft als die andere große Säule — neben der Europäischen Union — deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, auch in einer gewandelten Welt mit ihren neuen Notwendigkeiten.Es wird aber auch um die Frage gehen, wie wir die Zusammenarbeit mit den Staaten Mittel-, Ost- undSüdeuropas weiter ausbauen können. Ich nenne in diesem Zusammenhang insbesondere Ungarn, Polen — ein Land, gegenüber dem wir eine besondere Verantwortung im Sinne unserer Geschichte haben — und die Tschechische Republik. Wir müssen auch in allen diesen Fragen präsent sein. Wir sind ja nicht nur ein gesuchter Ratgeber bei unseren unmittelbaren Nachbarn, sondern unsere Hilfe und Unterstützung sind auch anderswo in der Welt gefragt.Ich sage es noch einmal: Die internationale Gemeinschaft erwartet vom wiedervereinigten Deutschland ein uneingeschränktes Mitwirken an Maßnahmen zur Erhaltung und Wiederherstellung des Friedens, wie es die Charta der Vereinten Nationen vorsieht.Wenn ich dieser Tage in einem Artikel von Ihnen, Herr Ministerpräsident, lese, die Bundesregierung wolle die Bundeswehr zu einer „kriegführenden Interventionsarmee" machen, und wenn ich Ihre Formulierungen von heute früh hinzunehme, dann frage ich mich schlicht und einfach: Was soll das? Ich will es gar nicht scharf formulieren. Ich halte es für ausgeschlossen, daß Sie selbst glauben, was Sie da geschrieben haben;
denn wenn Sie es glauben würden, Herr Ministerpräsident, müßte ich wirklich sagen, daß das eine totale Fehlbesetzung wäre, — wenn Sie mir diese Anmerkung erlauben.
Wenn Sie es aber nicht glauben, sondern meinen, dies aus innerparteilichen taktischen Gründen so sagen zu müssen, dann sage ich Ihnen auf Grund meiner eigenen Erfahrungen, daß es auch in einer großen Volkspartei wie der Ihren sicherlich richtiger ist, für eine Position zu kämpfen, als kampflos vor einer vermeintlichen Tagesmehrheit in die Ecke zurückzuweichen;
denn die Erfahrung zeigt, daß die Geschichte jeden von uns in einer wichtigen Führungsfunktion der Demokratie eines Tages einholt.Da ich wirklich Verständnis für tagespolitische Winkelzüge habe — ich sage es einmal etwas zu hart formuliert — —
— Natürlich. Jetzt könnt ihr ja alle miteinander schmunzeln, weil jeder daran beteiligt ist;
das ist ja wahr. Ich weiß, daß Ihre Keuschheit in diesem Feld unbestritten ist.
Aber es glaubt Ihnen doch niemand; deswegen hat es gar keinen Sinn, das hier auszubreiten.Eine solche Position der Deutschen Sozialdemokratie hat erstens vor der Würde und der Geschichte Ihrer eigenen Partei keinen Bestand. Sie hat zweitens keinen Bestand vor den Herausforderungen unserer Tage. Und drittens: Wenn Sie wirklich einmal zu
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14769
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohlirgendeinem Zeitpunkt hier auf der Regierungsbank Platz nehmen wollen, Herr Ministerpräsident Scharping — Sie haben allerdings so gesprochen, als ob das gar nicht mehr im Bereich des Nächstliegenden wäre —, dann können Sie so etwas doch schon einen Tag danach nicht mehr vertreten. Also schwören Sie solchem Gerede ab!
Sie wissen doch, meine Damen und Herren von der SPD, so gut wie jeder hier im Saal, das weder die Bundesregierung noch gar ich selbst in der Frage einer Neuorganisation und -strukturierung der Vereinten Nationen und damit auch des Weltsicherheitsrates besonders aktiv waren.Ich habe in vielen Gesprächen, z. B. kürzlich in Tokio mit dem Präsidenten der Blockfreien, Präsident Suharto, eher für einen zurückhaltenden Kurs geworben — aus einem ganz einfachen Grund, den ich hier offen aussprechen will. Ich spüre ja, wie viele sich in Europa und außerhalb Europas damit schwertun, daß die Bundesrepublik Deutschland jetzt 80 Millionen Einwohner hat, daß ihre Wirtschaftskraft besonders groß ist und daß Privilegien anderer relativiert würden, wenn jetzt die Deutschen auch noch einen Sitz im Weltsicherheitsrat bekämen. Ich denke, freundlicher kann ich es in der Öffentlichkeit eigentlich nicht umschreiben.Aber ob wir wollen oder nicht — das sage ich Ihnen voraus —, wenn der Bundesaußenminister in ein paar Tagen auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen sein wird, dann ist das eine gute Gelegenheit, unzählige Gespräche zu führen. Dabei wird man auch auf die Frage angesprochen, so wie sie eben hier von Herrn Solms zitiert wurde: Was bleibt von dem übrig, was Willy Brandt bei der Aufnahme der Bundesrepublik in die Vereinten Nationen gesagt hat? Stehen wir dazu? — Bei dieser Vollversammlung kann er dann noch einmal sagen: Wir reden noch darüber. Er kann auch sagen: Wir bilden ein neues Komitee, wir führen Fraktionsgespräche. Aber die Zeit geht doch über uns hinweg.Dieses Thema hat auch etwas mit der Würde unseres Landes zu tun.
Es hat mit unserem Ansehen insofern zu tun, als es um unsere Seriosität und Verläßlichkeit geht. Von Konrad Adenauer haben ich und andere gelernt, daß es eine der schwersten, aber auch eine der wichtigsten Aufgaben nach dem Krieg war, die Welt davon zu überzeugen, daß die Deutschen absolut zuverlässige Partner sind.
Es ist, auch gestern schon, gesagt worden, die deutsch-französischen Beziehungen würden jetzt „stiefmütterlich" behandelt. Meine Damen und Herren, Sie können mir ja vieles nachsagen, aber das können Sie doch nun wirklich nicht sagen. Das ist doch absurd. Wenn Sie in die Sozialistische Internationale gehen — soweit Sie dies überhaupt noch tun —, werden Sie dort unschwer erfahren, daß dies mit Ausnahme von ein paar extremen Stimmen inFrankreich kein Mensch behauptet. Die deutschfranzösische Partnerschaft ist doch keine Sache allein der jetzigen Regierung, des jetzigen Regierungschefs, des jetzigen Außenministers. Sie ist eines der glücklichsten Ergebnisse deutscher Nachkriegspolitik,
an dem alle meine Vorgänger mitgearbeitet haben. Es ist doch ziemlich beckmesserisch, jetzt ausmessen zu wollen, wer ein Stück mehr und wer ein Stück weniger getan hat. Das kommt doch auf die jeweilige historische Konstellation an. Da war Konrad Adenauer genauso dabei wie Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt und Helmut Schmidt. Aber es wäre ungerecht, dies allein auf die Kanzler zu beziehen. Dazu gehören alle Außenminister. Dazu gehören Kollegen aus dem Deutschen Bundestag. Die deutschfranzösische Freundschaft ruft automatisch die Erinnerung an einen so großartigen Mann wie Carlo Schmid wach. Ich nenne ihn stellvertretend für viele andere.Wie kommen wir eigentlich dazu, uns jetzt gegenseitig hier im Haus vorzuhalten, wir seien mehr oder weniger dafür? Das ist eine Existenzgrundlage des werdenden Europa; nicht, weil wir eine Achse Bonn-Paris haben, wie manche wieder argwöhnen, sondern weil Deutsche und Franzosen in der Lage sind, einen besonderen Beitrag gemeinsam zu leisten, und weil wir die Erfahrung gemacht haben, daß es bei der Einigung Europas nicht vorangeht, wenn Deutsche und Franzosen nicht gemeinsam vorangehen.
Wir werden dann zwar gescholten, daß wir uns „Hegemonie" anmaßten, aber, meine Damen und Herren, wenn wir nichts unternehmen, werden wir gescholten, daß wir unserem historischen Auftrag nicht nachkämen. Mir ist es lieber, wir werden dafür gescholten, daß wir zuviel tun, als dafür, daß wir zuwenig täten.
Meine Damen und Herren, aber auch das gehört doch dazu: Es muß doch möglich sein, daß Deutsche und Franzosen bei aller Freundschaft einmal unterschiedliche Meinungen haben. Die hat doch jede Gemeinschaft. Ihre Partei ist doch im Moment beinahe symbolisch für diese Lebenserfahrung.
Aber ich sage das ohne Häme; meine Partei ist ja auch nicht frei davon. Sie brauchen ja nur die Gazetten aufzuschlagen — vor allem jene Gazetten, die einige hier gierig in sich hineinschlingen.
Wir haben jetzt Probleme bei einer konkreten Frage, nämlich im Zusammenhang mit dem GATT. Das, was wir hier machen, ist doch, wie ich denke, vernünftig. Wir wissen, es gibt keine dauerhafte Erholung der Weltwirtschaft und damit auch der deutschen Wirtschaft ohne freien Handel. Dazu brauchen wir einen GATT-Abschluß. Wir haben Probleme mit dem, was bisher erreicht wurde. Dies gilt auch für uns mit Blick auf die Landwirtschaft. Jetzt sagen
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14770 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohlunsere französischen Kollegen, daß ihre Probleme in diesem Bereich noch größer seien, daß da noch einmal verhandelt werden müsse.Jetzt erwartet man doch zu Recht gerade von mir, daß ich hier nicht auf die Franzosen eindresche, sondern versuche, zu einem Kompromiß zu kommen— übrigens, die Amerikaner verstehen das durchaus —, und daß wir hier miteinander reden. Das ändert nichts — ich habe nie etwas anderes gesagt — an der zwingenden Notwendigkeit, beim GATT zu einem Abschluß zu kommen, und zwar nicht nur wegen der Industrienationen, sondern vor allem — das wird kaum noch gesagt — wegen der Dritten Welt; denn die Menschen dort wären die Hauptleidtragenden eines Scheiterns der Uruguay-Runde.
Weil das deutsch-französische Verhältnis so gefestigt ist und weil — das darf ich hier doch einmal sagen — die Beziehungen Deutschlands, nicht zuletzt des deutschen Außenministers und des Bundeskanzlers, zu unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft so gut sind, haben wir hier weit über die Bedeutung des Landes hinaus eine besondere Verantwortung.Ende Oktober, nach dem Abschluß der Ratifikation des Vertrages von Maastricht stehen wir vor neuen wichtigen Entscheidungen. Es geht mit die Erweiterung. Wir sind uns hier im Bundestag darüber einig, daß wir die Erweiterung der EG um Österreich, Schweden, Finnland und Norwegen begrüßen würden. Aber ich will auch, daß wir jetzt darüber reden— sei es im Oktober oder im Dezember, beim nächsten oder beim übernächsten Gipfel —, daß darüber hinaus ein Erweiterungskonzept für die Zukunft entwickelt wird.Aus deutscher Sicht muß klar sein, daß Länder wie die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn oder Polen der Gemeinschaft beitreten können, wenn die ökonomischen Voraussetzungen dafür gegeben sind und wenn sie es wollen. Denn wir können nicht hinnehmen, daß etwa die polnische Westgrenze die Ostgrenze der Europäischen Union wird. Das wäre eine katastrophale Entwicklung.
Meine Damen und Herren, ich denke, dabei sind wir uns einig, und wir sollten auch in diesem Haus gelegentlich über das reden, worüber wir einig sind.Unsere Nachbarn haben aus vielen Gründen ein unmittelbares Interesse an einer solchen Zusammenarbeit. Ich denke beispielsweise an die Probleme, die sich aus der ja unübersehbaren Völkerwanderung in Europa ergeben haben. Ich habe eben wieder gehört, wie das neue Asylrecht verteufelt wurde. Ich kann über so viel Weltferne nur den Kopf schütteln. Ein derartiges Problem erzeugt, wenn es nicht gelöst wird, politischen Radikalismus. Das ist doch die Lebenserfahrung. Alles andere ist doch ganz einfach falsch.
Wir wollen in Europa eine europäische Lösung der Asylfragen. Die brauchen wir in Europa, Herr Ministerpräsident. Ich sage das unentwegt. Aber es geht nur ganz langsam voran. Man hat auch noch nicht überall in Europa begriffen, daß der internationalen Mafia, von' der Sie zu Recht gesprochen haben — ich habe das von diesem Pult aus oft genug gesagt —, nicht allein auf lokaler und regionaler Ebene begegnet werden kann, sondern mit einer Art Task Force europäischer Dimension entgegengetreten werden muß, mit der sich wirksam das Notwendige tun läßt.Nachdem der Vertrag von Maastricht allen Zweifeln zum Trotz verabschiedet ist — wobei ich weiterhin hoffe, daß wir im September/Oktober in dieser Sache eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts haben werden —, glaube ich, daß jetzt wieder ein starker Schub in die europäische Idee kommen wird.Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Wir alle brauchen die politische, ökonomische und monetäre Einigung Europas. Aber wir, die Deutschen, brauchen sie mehr als alle anderen, weil nur auf diese Art und Weise sichergestellt wird, daß das, was an Ängsten— tatsächlichen, vermeintlichen und erfundenen Ängsten — vorhanden ist, sich nicht wieder in einer Weise zusammenballt, daß wir am Ende in die Isolierung geraten.Die bitteren Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien, von denen wir täglich erfahren, zeigen uns doch, daß bestimmte Konflikte nicht mehr in der nationalen Dimension zu lösen sind. Diejenigen, die sagen, am Beispiel Jugoslawien sehe man ja, daß Europa nicht handlungsfähig sei, machen einen Vorwurf an die falsche Adresse. Hätten wir vor zehn Jahren den Maastricht-Vertrag gehabt und bereits vollzogen, dann hätten wir heute eine ganz andere Chance zum gemeinsamen Handeln.
Gerade weil das auch hier in der Debatte anklang— Wolfgang Schäuble hat das schon, wie ich finde, sehr gut formuliert —: Das Europa, das wir jetzt bauen, ist nicht ein Europa, das in Gegensatz zur nationalen Identität der Deutschen oder irgendeiner anderen Nation gerät. Deutschland ist und bleibt unser Vaterland, und wir sind zugleich Europäer, weil wir wissen, daß dieses Vaterland keine Zukunft hat, wenn es nicht die Einbindung in das europäische Ganze erfährt. Deswegen hat es überhaupt nichts mit Rechtsruck oder Chauvinismus oder Nationalismus zu tun, wenn wir uns gerade jetzt, in dem Augenblick, in dem die Deutschen und die Europäer aus einer dreihundertjährigen Geschichte endlich die richtige Konsequenz ziehen, gleichzeitig zu „Einigkeit und Recht und Freiheit" bekennen. Beides gehört zusammen. Wer es leugnet, lebt an der Wirklichkeit des deutschen, des französischen, des dänischen Volkes und aller anderer Völker in Europa vorbei.
Zu den Sorgen, die wir haben, gehört die Sorge um den Bestand der freiheitlichen Demokratie, um den Vollzug von Recht und Verfassung und wegen der steigenden Kriminalität. Auch hier kann ich nicht erkennen, daß es einen großen Sinn macht, sich fortdauernd Schuld zuzuweisen, denn die Verfassungslage — was der Bund tun kann, was die Länder tun können — ist völlig eindeutig: Aber auch Polizei
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14771
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohlund Justiz sind in erster Linie Sache der Länder. Auch das muß man in diesem Zusammenhang sehen.Ich glaube, es ist nach den schlimmen Erfahrungen seit Herbst vergangenen Jahres — den Brand- und Mordanschlägen — wichtig, daß wir noch einmal betonen, daß das Gewaltmonopol des Staates in gar keiner Weise von irgend jemandem angetastet werden darf.
Wenn man das aber sagt, gehört auch die Feststellung dazu, daß dieser Staat, dieser Verfassungsstaat, dieser freiheitliche Rechtsstaat, keine Entstehung von Nischen dulden kann, in denen geltendes Recht straflos mißachtet und gebrochen wird. Auch auf diesem Feld ist Umkehr notwendig.
Das ist nicht nur eine Frage der Gesetze und ihres Vollzugs, das ist auch eine Frage des allgemeinen Rechtsbewußtseins und damit von uns allen. Das ist eine Frage der Erziehung in den Schulen, das ist eine Frage nach der Ausrichtung der Pädagogik, nach der Schärfung des Wertebewußtseins und all dem, was in diesem Zusammenhang zu nennen ist. Wir haben jahrelang eine eigenartige Diskussion gehabt — vielleicht klingt sie ab, weil man vernünftiger wird —, in der man die Begriffe „Recht und Ordnung" im Gegensatz zu Freiheit und liberaler Demokratie gebraucht hat. Wer dies so macht, hat die Lehren der Geschichte überhaupt nicht begriffen, denn Freiheit gibt es im Innern ebenso wie in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht zum Nulltarif.Der Bundesinnenminister, Manfred Kanther, hat in der letzten Woche den Verfassungsschutzbericht 1992 vorgestellt. Der Bericht hat zu Recht großes Aufsehen erregt. Die Zunahme rechtsextremistisch motivierter Anschläge und Gewalttaten, das dreiste Auftreten von Neonazis in der Öffentlichkeit und die neue Dimension rechtsradikaler Organisationsformen können, wenn wir jetzt nicht mit größter Entschlossenheit handeln, zu einer ernsthaften Bedrohung der inneren Sicherheit werden. Diese extremistisch motivierte Gewalt ist genauso ein gezielter Anschlag auf unsere Ordnung wie linksextremistischer Terror. Unsere Verfassungsordnung, unser Staat und seine Grundordnung müssen von uns allen nicht nur verbal, sondern auch tatsächlich verteidigt werden. Wir dürfen in gar keiner Weise zulassen, daß dieses Gemeinwesen von einer fanatisierten Minderheit in Mißkredit gebracht wird.Die Bundesregierung hat entschieden, einen Verbotsantrag gegen eine neonazistische Partei beim Bundesverfassungsgericht zu stellen. Natürlich wird der Kampf gegen den Extremismus, von welcher Seite auch immer, nicht nur durch Verbote vorangebracht, sondern auch dadurch, daß wir die verfassungsfeindliche Gesinnung dieser Kreise öffentlich brandmarken.
Wir müssen den Rechtsradikalismus durch eine wirksamere Gewaltprävention bekämpfen. Wir müssendeutlich zeigen: Das sind keine Kavaliersdelikte, dasist ein Anschlag auf die Republik. Das muß deutlich werden.
Es gibt natürlich viele Gründe für die Erosion des Rechtsbewußtseins. Einer davon ist der Zweifel daran, ob der Staat in Sachen innerer Sicherheit noch voll handlungswillig und handlungsfähig sei.Wenn wir über den Standort Deutschland reden, ist das eben nicht nur eine Frage der ökonomischen und sozialen Bedingungen. Es geht auch um die Frage, wie wir zu unserem Staat stehen. Ist das unser gemeinsamer Staat? Oder sehen wir aus der Distanz einer Ferienrepublik denen zu, die ihre Pflicht tun — nicht zuletzt in den politischen Parteien?Meine Damen und Herren, wir haben beim Standort-Thema zu bedenken, daß sich die demographischen Daten dramatisch verändert haben. Hier sind Schuldzuweisungen nun wirklich fehl am Platz. Wir haben die Folgen zu bedenken, die sich daraus für die Entwicklung unserer Wirtschaft ergeben.Es ist schon gesagt worden: Wir haben in den 80er Jahren 3 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, aber gleichwohl fehlen in ganz Deutschland noch 5 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze für die nächsten Jahre. Meine Damen und Herren, dies alles ist nicht primär eine Frage der deutschen Einheit. An diesem Beispiel kann man es gut belegen. Wenn heute in der deutschen Automobilindustrie im Blick auf Freistellungen plötzlich ganz andere Zahlen genannt werden, so hat das nichts mit der deutschen Einheit zu tun. Im Gegenteil: In den letzten drei Jahren hat gerade die deutsche Automobilindustrie ungewöhnlich gute Geschäfte in den neuen Ländern gemacht.
Vielmehr hat das etwas damit zu tun, daß auch die deutsche Wirtschaft dabei ist, eine Standortbestimmung vorzunehmen, ihre Produktionsweisen zu verändern, nach beispielhaften Produktionsweisen anderswo zu suchen.Ich kann nicht verstehen, wie man kritisieren kann, wenn wir in diesem Zusammenhang feststellen: Wir haben die kürzeste Wochen- und Lebensarbeitszeit und liegen international in der Spitzengruppe bei Urlaubs- und Feiertagen, Herr Ministerpräsident, daß weiß ich auch: Die Regelung der Maschinenlaufzeiten in Tarifverträgen ist längst möglich. Aber jetzt frage ich Sie — Sie waren ja dabei und haben es gefeiert —: Wenn bei Opel in Kaiserslautern, um eine Maschinenfabrik statt nach Budapest nach Kaiserslautern zu bringen, plötzlich — bei geltendem Tarifrecht — in der Samstagsarbeit ganz neue Formen gefunden werden, dann hätten Sie ja beispielsweise Arbeitgeber und Arbeitnehmer dort fragen können — nicht mich, ich habe hier keine Kompetenz —, warum sie das erst jetzt machen und nicht schon vor drei Jahren gemacht haben.
Eigentlich ist es ja so — ich sage das verhalten , und das muß man doch ehrlich zugeben: Vernunftsentscheidungen dieser Art, die übrigens keinen dramatischen Einbruch in soziale Befindlichkeiten, son-
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14772 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohldern ein Stück Normalität bringen, können Sie erst dann durchsetzen, wenn die Leute erkennen: Es ist eine Lage entstanden, in der wir so handeln müssen. Solange die Menschen glauben, es könne immer so weitergehen wie bisher, werden sie nicht bereit sein, solche Entscheidungen hinzunehmen.Deswegen lassen Sie uns doch jetzt nicht lamentieren, sondern handeln! Und das heißt, konkrete Problemfelder anzugehen.Wir haben über komplizierte Verwaltungsverfahren gesprochen. Das ist ein wichtiger Teil in der Vorlage der Bundesregierung, die wir — wie ich denke, im Herbst — in einer ausführlichen Debatte erörtern müssen. Aber das ist doch wiederum unser gemeinsames wenig geglücktes — Werk. Es kann doch gar keine Frage sein, daß die Genehmigungszeiten und der Genehmigungsvollzug etwas mit Landespolitik zu tun haben. Verehrter Herr Ministerpräsident Scharping, ich habe in einer bestimmten Zeit meines Lebens einmal etwas mit diesem Thema zu tun gehabt, und ich habe davon eine ungefähre Vorstellung. Ich behaupte hier ganz einfach: Das, was ich vorletzte Woche in Leipzig erlebt habe, ist gegenwärtig in keiner westdeutschen Großstadt möglich. Dort haben die Leute in zwei Jahren das gesamte Bauvorhaben — 1,3 Milliarden DM — der neuen Leipziger Messe baureif gemacht.
Dabei sagt man dauernd, im Osten seien die Verwaltungen viel schlechter. Der Leipziger Oberbürgermeister, erprobt in Hannover, einer anderen Messestadt, soll Ihnen einmal vortragen, wie das dort gemacht wurde. Dann nennen Sie mir doch einmal irgendeinen Oberbürgermeister in Westdeutschland, der das gleiche von sich sagen kann.Ich behaupte weiterhin: Die Leipziger werden in zwei Jahren auch fertig gebaut haben. Das ist doch ein weiteres Beispiel dafür, daß die deutsche Einheit vor allem eine Chance ist, voneinander zu lernen. Wir sind in all diesen Jahren viel zu sehr verkrustet.
Sie können mir vieles in die Schuhe schieben, aber für die demographische Entwicklung in Deutschland bin ich nur bedingt mitverantwortlich. Ich sage das vorsorglich, weil ich mir vorstellen kann, daß in Ihrer Küche jetzt viel zusammengebraut wird. Aber im Jahr 2030 wird halt voraussichtlich jeder Dritte über 60 Jahre alt sein. Warum prügeln Sie jetzt auf den Kollegen Rexrodt ein? Er hat doch nicht die Renten in Frage gestellt. Weder er noch irgendein anderer — ich schon gar nicht, und Norbert Blüm erst recht nicht — will den Rentenkonsens in Frage stellen. Sie können aber doch nicht leugnen, daß die demographischen Daten eine dramatische Entwicklung genommen haben. An dieser Einsicht führt doch gar kein Weg vorbei, meine Damen und Herren.Es ist doch einfach wahr, daß im Jahr 2000 die durchschnittliche Lebenserwartung beider Geschlechter bei 80 Jahren liegt. Es ist doch wahr, daß in diesem Jahr das Durchschnittsalter bei der Verrentung bei 59 Jahren liegt. Und es ist auch wahr, daß vor allem im akademischen Bereich die Leute oft erst mit 30 Jahren in den Beruf kommen. Das ist doch keine Milchmädchenrechnung, das ist eine Tatsache. Wer hier nicht den Zusammenhang mit der Lebensarbeitszeit sieht, dem ist nicht zu helfen. Deswegen geht es jetzt nicht darum, die Rentner zu berunruhigen. Das ist gar nicht unser Thema. Die Rente ist in Ordnung und sicher. Das Thema ist, daß wir dem heute 30jährigen eine Antwort geben müssen, wenn er uns die berechtigte Frage nach seiner Zukunft stellt.
Meine Damen und Herren, natürlich weiß auch ich, daß niemand voraussehen kann, wie in 30 Jahren für den jetzt 30jährigen die Welt im Detail aussehen wird, im vereinten Europa, mit Veränderungen des Arbeitsmarktes. Aber es ist doch nicht unberechtigt, daß ein junger Mensch von uns erwartet, daß wir wenigstens über Modelle nachdenken und darüber reden. So ist es doch im Bundestag beim Rentenkonsens geschehen.Sie kennen die Meldung von letzter Woche, daß die Zahl der Studenten ziemlich rasch von 1,8 auf 1,9 Millionen ansteigt. Dem stehen 1,6 Millionen Lehrlinge gegenüber. Gut, die Zahlen sind nicht vergleichbar, weil die Ausbildungszeiten unterschiedlich lang sind. Aber es ist wiederum wahr, daß wir an diesem Prozeß alle beteiligt waren: z. B. der öffentliche Dienst mit seinen Eingangsvoraussetzungen oder die gesamte Wirtschaft einschließlich derer, die in Hauptversammlungen jetzt über die Politik herziehen und selbst nichts gemacht haben. Wir alle waren daran beteiligt, daß eine „ Verakademisierung " des Berufslebens stattgefunden hat, daß man den Leuten eingeredet hat, nur ein akademisches Studium sei auf der Prestigeskala der Gesellschaft etwas wert. Diese Feststellung heißt auf keinen Fall, daß wir etwa sozial Schwächeren Bildungschancen nehmen wollten. Jedoch machen diese Zahlen jedermann deutlich, daß wir in eine Sackgasse geraten sind. Daraus müssen wir uns befreien. Meine Einladung ist, das gemeinsam zu tun.Jetzt haben wir vor allem ganz konkret den Aufbau in den neuen Ländern voranzutreiben. Wir wissen, daß das sehr viel mehr Geld kostet und schwieriger geworden ist, als die meisten -- auch ich — dies ursprünglich angenommen haben. Herr Ministerpräsident, ich höre mir gerne an, wenn Sie sagen, daß ich mich da getäuscht hätte. Wenn ich jetzt jeden Tag von allen möglichen Leuten höre, wer in den Gesprächen mit den damaligen SED-Machthabern die Prognose stellte, daß die deutsche Einheit niemals kommen werde, daß nur einer aus Ludwigshafen — daher stamme ich; in Oggersheim wohne ich nur — noch herumlaufe gemeinsam mit ein paar anderen, der die altmodische Ansicht von der Einheit der Nation vertrete, dann trage ich Ihre Kritik mit großer Ruhe. Meine Freunde und ich haben an die deutsche Einheit geglaubt; sie ist da. Wenn das unser „Hauptirrtum" gewesen sein sollte, sehe ich der Zukunft ganz gelassen entgegen, meine Damen und Herren.
Wir haben noch viele Sorgen, aber ebenso haben wir viel Positives zu verzeichnen. Das gilt auch für die
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Bundeskanzler Dr. Helmut KohlStandortdiskussion. Es ist zu Recht gesagt worden, wir sollten den Standort nicht zerreden. Wir sollten sagen, wo wir gut sind, und zugeben, wo wir schwächer geworden sind.In den neuen Ländern ist schon viel in Gang gekommen. Hier war die Rede von Wohnungen. Im Jahr 1992 sind knapp 26 000 neue Wohnungen genehmigt worden. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres sind bereits 22 000 Baugenehmigungen erteilt worden. Wer durch die neuen Länder fährt, sieht die Bautätigkeit allerorten.Die Probleme sind vor allem dadurch entstanden, daß die kommunistische Planwirtschaft völlig wettbewerbsunfähige Strukturen hinterlassen hat, daß die Ostmärkte zusammengebrochen sind
— ich spreche jetzt von den neuen Ländern; ich spreche auch noch von dem anderen Teil unseres Landes, warten Sie ab — und daß es vor allem im Bereich der industriellen Strukturen ungeheuer schwierig ist, die notwendige Zeit zu „kaufen".Für mich ist besonders erfreulich — ich will mich von dieser Stelle aus bei allen bedanken, die mitgeholfen haben —, daß der Appell, möglichst viele zusätzliche Lehrstellen in den neuen Ländern bereitzustellen, im Handwerk und in der Wirtschaft allgemein breit unterstützt wurde. Das reicht aber noch nicht aus. Deswegen muß der Staat in diesem Jahr einspringen. Ich denke, das ist unstreitig. Wir müssen dafür Sorge tragen — ich will es so formulieren, damit ich später nicht falsch zitiert werde —, daß diejenigen unter den jungen Leuten, die es können und wollen, eine Lehrstelle finden. Wir können nicht garantieren, daß jeder eine Lehrstelle in seinem Traumberuf findet. Das gab es in der alten Bundesrepublik zu keiner Zeit. Vor allem ist es wichtig und notwendig, daß junge Leute in ihren besten Jahren nicht auf der Straße herumhängen, sondern eine Chance erhalten.
Wir werden, meine Damen und Herren — daran kann es gar keinen Zweifel geben; dieser Haushalt ist voller Beispiele dafür —, seitens des Gesamtstaates, des Bundes, das Menschenmögliche tun, um auch für das nächste Jahr die notwendigen Unterstützungen zu geben. Sie können sich unterhalten, mit wem in der Welt sie auch immer wollen: Das wird ganz allgemein bewundert und respektiert. Daß es dabei Schwach- stellen gibt, beispielsweise bei der Frage der industriellen Kerne, wissen wir; wir arbeiten daran. Gerade die jüngste — 18. Besprechung — am vergangenen Montag mit Gewerkschaftern und Unternehmern über die Probleme in den neuen Ländern hat mir gezeigt, daß wir auf einem guten Weg sind.Ich glaube aber, bei einer Frage haben wir noch keineswegs die Entwicklung, die ich mir wünsche: bei der Überwindung der geistig-seelischen Folgen von über 40 Jahren Teilung. Vier Jahrzehnte der Trennung unter so unterschiedlichen Lebensbedingungen haben tiefere Spuren hinterlassen, als auch ich geglaubt hatte. Ich stehe hier aber nicht allein. Viele andere haben diese Erfahrung auch gemacht. FürMillionen bedeutet diese Zeitspanne einen wesentlichen Teil — oft die besten Jahre — des eigenen Lebens. Wer bei Gründung der DDR — wie ich damals im Westen — Abitur machte, ist jetzt 63 Jahre alt. Er hat die deutsche Einheit erst mit 60 Jahren erlebt. Das sind die entscheidenden Jahre seines Lebens.Wenn einer 50 Jahre alt und arbeitslos ist, befindet er sich in einer noch sehr viel schwierigeren menschlichen Situation, weil die Rente noch zu weit weg ist und die Übergangszeit noch keineswegs überschaubar.Viele der Wunden, die geschlagen wurden, vernarben nur langsam. Behutsamkeit und Geduld sind dabei Tugenden, die wir heute mehr denn je benötigen.Meine Damen und Herren, wir müssen die Kraft aufbringen, Prioritäten zu setzen. Ich sage bewußt in die alte Bundesrepublik hinein: Ich beobachte nicht ohne Unbehagen, daß in nicht wenigen Bereichen der alten Bundesländer jetzt Ausgaben getätigt werden, die 30 Jahre unterblieben waren. Man hatte sich zwei Jahrzehnte lang zwischen Städten um eine Brücke gestritten; jetzt wird sie plötzlich baureif. Wenn man dann sagt, jetzt könne dieses Vorhaben noch einmal fünf oder acht Jahre warten, ist das doch keine Zumutung. Vielmehr geht es um neue Prioritäten, weil z. B. die Autobahn Lübeck-Rostock wichtiger ist als vieles von dem, was hier im Westen auf diesem Feld angeblich dringend nachgeholt werden muß.
Natürlich haben wir auch in der alten Bundesrepublik alles zu tun, um die Infrastruktur zu verbessern, damit wir aus dem Tal der strukturellen Rezession herauskommen.Wenn wir im Bundesrat, Herr Ministerpräsident, bei konkreten Gesetzesvorhaben — nehmen wir einmal das Gentechnikgesetz — zu einer Einigung kommen und darüber hinaus etwas gemeinsam tun, um die verbreitete Technikfeindlichkeit zu bekämpfen, dann ist das etwas Positives. Man kann nicht über den Rückgang bei den Patenten reden, wenn gleichzeitig diejenigen, die forschen, über die Schulter als Leute angesehen werden, die einen Anschlag auf die Wohlfahrt des Landes vorhaben. Das geschieht ja vielerorts.
Deswegen ist auch in Sachen Forschung ein Umdenken angesagt. Herr Ministerpräsident, es geht nicht nur um eine Frage des Geldes, sondern auch um eine Frage des Umdenkens. In den großen, staatlich alimentierten Forschungseinrichtungen und Organisationen sollte man sagen: Das, was bisher in Heidelberg und in München an Ausbau geplant war, kommt nach Leipzig oder Dresden.
Man sollte nicht unveränderte Ansprüche stellen, sondern sich zusammentun und die Ausgaben strekken. Wenn die Forschungskapazitäten in einem Tochterunternehmen in den neuen Ländern erhöht werden sollen, kann man den Mitarbeitern durchaus zumuten,
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14774 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohldaß sie statt in Ludwigshafen in einem Forschungslabor in den neuen Ländern arbeiten.Das sind Signale, die unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in den neuen Ländern brauchen. Das sind zugleich Signale für die alte Bundesrepublik. Es kann doch gar keinen Zweifel geben, meine Damen und Herren: Das, was wir jetzt in den neuen Bundesländern investieren — Theo Waigel hat das gestern zu Recht gesagt —, ist eine phantastische Abschlagszahlung für die industrielle und damit auch für die soziale Zukunft unseres Landes.
François Mitterrand hat im letzten Jahr in einer Diskussion in Paris gesagt — ich habe es hier schon einmal zitiert —: Es ist wahr, die Deutschen haben jetzt Probleme, aber sie werden ihre Probleme lösen und danach stärker sein als zuvor. — Ich mag das Wort „stärker" in diesem Zusammenhang nicht, weil es mißverstanden werden kann. François Mitterand hat es anders gemeint; deswegen muß ich es interpretieren. — Er hat natürlich völlig recht. Mit Ausnahme derer, die hier glauben, durch Miesmachen politische Geschäfte machen zu können, wissen alle in der Welt, daß das, was Mitterrand gesagt hat, richtig ist.
Voraussetzung ist — ich sage es noch einmal — die Fähigkeit zum Umdenken.Lassen Sie uns doch einmal den Versuch machen — trotz Wahlkämpfen und allem, was dazu gehört —, durch unser gemeinsames Tun das Gerede zu widerlegen, die Parteien seien nicht handlungsfähig. Wir haben beim Asylkompromiß ja bewiesen, daß es auch anders geht.Angefangen von der Demographie bis zu den täglichen Berichten über Verkaufs- oder Nichtverkaufserfolge der Industrienation Deutschland im Export liegen die Tatsachen doch auf der Hand. Hier können wir gemeinsam Handlungsfähigkeit beweisen. Dann können wir vor die Wähler treten und bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam erklären, daß wir— die demokratisch Verantwortlichen in Deutschland — erkannt haben, daß wir Dinge verändern müssen und daß wir dies auch tun. Die Chance war nicht immer da. Ich weiß auch nicht, wie lange sie da sein wird. Jetzt, wo das Bewußtsein in der Bevölkerung da ist, es müsse etwas geschehen, sollten wir den Wettstreit miteinander beginnen, wer das besser kann, mit mehr Mut und mehr Ideen und mehr Einsicht. Das ist eben nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch eine Frage der Ideen und des geistigen Einsatzes.
— Ich bin gerade dabei, das aufzunehmen. Ich bin ja nicht hierher gekommen, um Ihren neuen Parteivorsitzenden frontal anzugehen. Das ist doch nicht unser Geschäft. Wir sind hier in einer Generaldebatte.
— Ja, aber ich bin ja noch kein Sozialdemokrat. Ich will das nicht vorwegnehmen, meine Damen und Herren.
Ich will hier — bitte verstehen Sie das doch — nur zu einem ruhigen Gespräch über unterschiedliche Meinungen einladen.Sie haben in Ihrer Schlußpassage, Herr Ministerpräsident — Wolfgang Schäuble hat davon schon gesprochen —, neben den materiellen Herausforderungen des Tages auch die immateriellen Fragen angesprochen. Ich glaube schon, daß das, was uns aufgegeben ist und was in der freiheitlichen Ordnung unserer Bundesrepublik seit dem Parlamentarischen Rat und der Verabschiedung unserer Verfassung zu einem guten Teil geglückt ist, fortgeführt werden muß: eine freiheitliche Gesellschaft menschlich zu gestalten.Dazu gehört, daß wir die notwendigen Mittel erarbeiten, um denen zu helfen, die unsere Hilfe brauchen, denn sonst macht das Wort „Soziale Marktwirtschaft" keinen Sinn. Dazu gehört vor allem, daß wir Abschied nehmen von der Illusion, die Dinge könnten so bleiben, wie sie sind. Sie sind in vielem gut geraten, in manchem stehen wir mitten in einem dramatischen Wandel: vor der Notwendigkeit des Mutes zum Risiko, des Aufbruchs auch zu Neuem.
— Sie können das ja noch mit dem Satz versehen, daß Sie auch eine neue Regierung wollen. Das ist das mindeste, was man von Ihnen erwarten kann. Aber das kann ich doch nicht auch noch für Sie sagen.
Die Arbeitsteilung können wir doch jetzt schon verabreden. Sie sagen: Wir wollen eine neue Regierung. Wir sagen, wir wollen die Regierung und die Koalition behalten. Dann hätten wir da wenigstens schon einmal Klarheit.Dann könnten wir zum zweiten unter dieser großen Überschrift, die eine ungewöhnliche intellektuelle Höchstleistung erfordert, vielleicht festhalten: Es gibt dennoch eine Reihe von Dingen, die wir gemeinsam machen sollten. — Dazu will ich Sie einladen.
Dazu will auch die Bundesregierung — alle meine Kolleginnen und Kollegen im Kabinett und ich — ihren Beitrag leisten.Es ist sicher reizvoll — das weiß ich aus Erfahrung — und bringt in der eigenen Partei Gewinn, wenn man möglichst dramatisch auftritt.
Ich glaube aber nicht, daß dies die Zeit dafür ist. Am Ende werden die nicht nur recht behalten, sondern auch Zustimmung erfahren, die jetzt mit Mut, mit Gelassenheit, aber auch mit der Einsicht in eigene Fehler versuchen, das Richtige zu tun. Ich will mich
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14775
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohlausdrücklich zu diesem Weg hier bekennen und Sie dazu einladen.
Ich erteile dem Abgeordneten Hans-Ulrich Klose das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man dem Bundeskanzler heute und in den letzten Wochen zugehört hat,
als er über das Fernsehen aus dem Urlaub zu uns sprach,
dann bleibt nur die Feststellung: Ihm geht es offenbar gut,
aber unser Land befindet sich in einer Krise.
Nichts gegen Ihr Wohlbefinden, Herr Bundeskanzler; ganz im Gegenteil.
Uns aber wäre wohler, wenn wir aus dieser Debatte den sicheren Eindruck mitnehmen dürften, daß Sie die Krise so, wie sie ist, zur Kenntnis nehmen und zu deren Überwindung mit mehr als nur Worten beitragen würden.
Meine Damen und Herren, Helmut Schmidt, der Vorgänger im Amt, ungeliebt oder geschätzt wegen seiner vielen Ratschläge — —
Ich habe übrigens, Herr Bundeskanzler, den Eindruck: Ob die Ratschläge geschätzt werden oder nicht so sehr, das hängt weniger von der Person als von dem Inhalt der Ratschläge ab; denn ich habe Sie — so erinnere ich mich — über Ratschläge von Helmut Schmidt schon anders reden hören als heute gegenüber Ministerpräsident Scharping.
Ich finde, das sollten Sie zugeben. Vielleicht wäre es gut, wenn Sie den größeren Teil der Ratschläge, die er Ihnen in seinem letzten Buch erteilt, akzeptieren würden. Dann denken wir auch über die Ratschläge von Helmut Schmidt, die er uns erteilt, um so lieber nach.
Im übrigen entdecke ich an mir selber, daß ich die Ratschläge von Helmut Schmidt, geschätzt oder nicht geschätzt, heute eher lieber höre. Aber ich erinnere mich — man soll ja vor seiner Geschichte nicht weglaufen —, es gab auch schon mal andere Zeiten.
— Ich mußte das einfügen, weil Helmut Schmidt heute schon so oft zitiert worden ist.
— Doch, doch er ist auch von Scharping genannt worden.
Helmut Schmidt spricht von der wahrscheinlich größten Krise seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. So drastisch würde es Herr Bundeskanzler Dr. Kohl nie formulieren.
Im Gegenteil: Er versucht ja noch immer, die Dinge etwas schönerzureden, als sie sind, und zumindest abzulenken, wenn es um persönliche Verantwortung geht, um politisch über die Runden zu kommen. Wenn es einer anders sieht, wie z. B. der Kollege Schulz, dem ich ebenfalls nicht inhaltlich in jedem Punkt zustimmen möchte — das nun doch nicht —, dann wird dieser Kollege, bildlich gesprochen, exiliert. Ich finde, daß das nicht die richtige Vorgehensweise ist. Natürlich haben Sie, Herr Bundeskanzler, jedes Recht auf eine eigene Meinung, und Sie können sie so stark und kraftvoll vertreten, wie es Ihnen möglich ist. Aber Sie befinden sich nicht im Besitz der absoluten Wahrheit, und ex cathedra sprechen Sie noch nicht.
Lassen Sie mich eine Bemerkung zu dem Stichwort Patriotismus machen, Herr Bundeskanzler. Ich nehme Ihnen Ihren Patriotismus ab.
— Darf ich das sagen? Das war eine besonders kluge Zwischenbemerkung.Ich nehme Ihnen diesen Patriotismus ab und glaube auch, wir werden uns daran gewöhnen müssen, daß dieses Europa, wie de Gaulle es seinerzeit gesagt hat, am Ende ein Europa der Vaterländer sein wird. Aber einen Alleinformulierungsanspruch für das, was Patriotismus ist, haben Sie natürlich nicht, Herr Bundeskanzler. Denn ich glaube inzwischen, auch ich bin ein Patriot. Ich gebe zu: Als ich das festgestellt habe, war ich zuerst eher ein bißchen erschrocken
oder jedenfalls erstaunt — das ist übrigens gar nicht zum Lachen —, und noch heute mischt sich in diesen meinen Patriotismus, wenn ich an Deutschland denke oder über Deutschland nachdenke, zu der Liebe auch so etwas wie Ängstlichkeit. Gleichwohl bin ich ein Patriot.
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14776 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Hans-Ulrich KloseHerr Bundeskanzler, die Probleme, vor denen unser Land steht, sind groß und zahlreich. Nicht alle sind der Bundesregierung anzulasten; das ist richtig. Das sage ich hier, das sage ich sogar in Wahlveranstaltungen. Aber richtig ist eben auch, daß diese Regierung die Probleme durch politische und handwerkliche Fehler verschärft und durch Nichtstun vermehrt hat.
Im übrigen bitte ich Sie, meine Damen und Herren — auch jene von den Medien —, immer fein auf die Sprache des Herrn Bundeskanzlers zu achten. Er kennt ja die Probleme, und er weiß auch um die Verantwortung. Immer wenn es brenzlig wird und wenn er über seine Verantwortung reden müßte, dann redet er klugerweise von Gemeinsamkeit:
„Nun laßt es uns doch einmal gemeinsam machen." Das ist natürlich die richtige Aufgabenverteilung. So hätte er es gerne: Wenn die Kastanien im Feuer sind und er alleine Probleme bekommt, dann besinnt er sich darauf, daß es ja noch andere gibt — nicht nur die Opposition, nein, da gibt es sogar auch Gewerkschaften, und die sollen dann mittun.Diese Aufgabenverteilung haben wir, um ehrlich zu sein, nicht so gern, und deshalb wollte ich auf diesen Punkt einmal aufmerksam machen. Es ist sehr interessant, eine solche Kanzlerrede — auch Reden von Ihnen, Herr Kollege Schäuble — unter diesem Gesichtspunkt sorgfältig nachzulesen.Wenn es eine Krise der Republik gibt — und die läßt sich eben nicht leugnen, Herr Bundeskanzler —, dann ist es Ihre Krise. Sie tragen die Verantwortung und müssen einstehen für diese Verantwortung.
Sie sind verantwortlich für die ökonomische Krise. Wenn Sie sagen — wörtlich formuliert —: „Wir haben in den 80er Jahren 3 Millionen Arbeitsplätze geschaffen" , dann, Herr Bundeskanzler, tragen Sie — Sie persönlich — die Verantwortung für die Arbeitslosigkeit im Westen und vor allem im Osten der Republik.
Wer die Erfolge für sich einheimst, der muß auch die Mißerfolge auf seine Schultern laden.
Das sind heute ca. 5 Millionen Menschen, die in Deutschland ohne oder ohne reguläre Arbeit sind; Ende des Jahres werden es wahrscheinlich 6 Millionen sein.Sie, Herr Bundeskanzler, sind verantwortlich für die exorbitant hohe Verschuldung der öffentlichen Haushalte, auf die — das habe ich im Verlauf dieser Debatte gelernt — der Herr Bundesfinanzminister auch noch stolz ist. In Ihrer Regierungszeit, Herr Bundeskanzler, hat sich die Verschuldung von 682 Milliarden DM im Jahr 1982 auf 1,8 Billionen DM verdreifacht. 1997 werden wir bei ca. 2,5 Billionen DM landen.In Ihrer Regierungszeit, Herr Bundeskanzler, unter Ihrer Verantwortung hat sich die Zahl der Sozialhilfeempfänger mehr als verdreifacht.
Es fehlen heute — Sie tragen die Verantwortung — ca. 2 Millionen Wohnungen. Die Kriminalität ist während Ihrer Kanzlerzeit drastisch gestiegen und steigt weiter.
Sie sind verantwortlich, Herr Bundeskanzler.
Die Fakten sind klar, und es ist deutlich, daß sich diese Entwicklung zum Negativen in Ihrer Amtszeit vollzogen hat. Es sind Ihre Schulden, Ihre Arbeitslosen. Sie haben in den 80er Jahren den sozialen Wohnungsbau eingestellt, und Sie haben die Verarmungsprozesse in der Bevölkerung nicht nur nicht verhindert, Sie haben sie durch Ihre Politik gefördert.
Herr Bundeskanzler, Sie sind 1982 — ich erinnere mich an die damaligen Debatten noch gut, obwohl ich dem Bundestag damals noch nicht angehörte — angetreten mit der Forderung nach der geistig-moralischen Wende. Zehn Jahre später beklagen Sie die Erosion des Rechtsbewußtseins und den Verlust an festen Wertmaßstäben und Orientierung. Der Verlust ist unübersehbar.
Richtig ist sicher auch, daß Sie dafür nicht allein verantwortlich sind. Sie haben es sich aber zu Beginn Ihrer Amtsführung zur Aufgabe gemacht, den schon damals von Ihnen beklagten Werteverlust zu korrigieren. Wie sieht denn nun zehn Jahre später Ihre Erfolgsbilanz aus? Ich zitiere aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von uns:Notwendige Veränderungen müssen ansetzen im Elternhaus, in der Schule, bei der Verantwortung der Medien, der Kirche, den Gewerkschaften. Die Bundesregierung kann zu den notwendigen Korrekturen nur aufrufen und begleitend wirken. Eingeleitet und vollzogen werden muß diese Entwicklung durch die Gesellschaft insgesamt.War es das wirklich, Herr Bundeskanzler, was Sie mit geistig-moralischer Wende gemeint haben: große Worte und sonst gar nichts?
Im übrigen: Wenn Sie die Rolle der Medien beklagen — da ist unbestreitbar mancherlei zu beklagen —
— in dieser Antwort der Bundesregierung, die ich eben zitiert habe; ich bitte um Entschuldigung; auch das, was ich zitiere, ist in der Debatte eingeführt; deshalb zitiere ich es ja —, dann frage ich: Wer hat
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Hans-Ulrich Klosedenn durch die ungehemmte Privatisierung der Medien zu deren Kommerzialisierung beigetragen?
Sie waren das doch, nicht wir! Und heute gibt es aus Ihren Reihen schon wieder Äußerungen, daß man auch dem öffentlichen Rundfunk, so wie er jetzt noch ist, ans Leder gehen müsse, indem man die Gebühren abschaffe. Sie sind das doch, nicht wir!Sie waren es auch, der mit der Formel von der Leistung, die sich wieder — wieder! — lohnen müsse, die Umverteilung von unten nach oben eingeleitet und die Desintegration in der Gesellschaft vorangetrieben hat.
Die deutsche Gesellschaft des Jahres 1993 ist — leider — eine vielfach in sich gespaltene Gesellschaft, eine Gesellschaft, die mehr und mehr in Unfrieden lebt. Den oberen zwei Dritteln geht es gut und besser, dem unteren Drittel der Gesellschaft geht es relativ und absolut immer schlechter.Um es zu wiederholen: Die Zahl der Sozialhilfeempfänger hat sich, Herr Bundeskanzler, in Ihrer Regierungszeit mehr als verdreifacht.
Und was besonders erschreckend ist: Ein überproportional hoher Anteil von Kindern und Jugendlichen lebt in Haushalten, die auf Sozialhilfe angewiesen sind.Herr Bundeskanzler, Kriminalität hat immer auch gesellschaftliche Ursachen.
In dieser Entwicklung, in der Politik der Entsolidarisierung, sehe ich eine der Ursachen für das, was wir in unserem Lande registrieren. Deshalb muß ich Sie auffordern, wenn Sie und andere von Kriminalitätsbekämpfung sprechen, nicht immer nur in den Kategorien repressiver Reaktion, sondern auch in den Kategorien der Ursachenbekämpfung zu denken. Da ist mancherlei zu tun.
Daß wir im übrigen — auch wenn es darum geht, gesetzgeberisch tätig zu werden — mit uns reden lassen, hat Ministerpräsident Scharping für die SPD klargemacht. Ich unterstreiche das ausdrücklich. Aber in dem anderen Bereich sind zunächst Sie einmal gefordert; denn Sie haben regiert und regieren, und Sie haben die von mir beklagte Entwicklung zum Negativen zu verantworten. Ich weiß, daß Sie das nicht gern hören. Sie sind ja nicht unbedingt ein Meister im Zuhören.
— Wenn Sie das persönlich nehmen, ziehe ich es zurück — denn ich will keine persönliche Auseinandersetzung haben —
und formuliere es anders. Ich habe eher den Eindruck, Herr Bundeskanzler, daß Sie, wenn es um unangenehme Tatsachen geht, eine gewisse Neigung haben, wegzuhören und in der Reaktion eher zu verunklaren, als zur Klärung der Situation beizutragen. War das freundlich genug?
— Okay, wenn Sie sagen, dies sei eine menschliche Eigenschaft seit Adam und Eva, bestätigen Sie mindestens, daß ich mit meiner Analyse so falsch nicht liege.Herr Bundeskanzler, zurück zu meinem Faden, den ich ungern verliere. Wenn Sie oder Herr Bundesfinanzminister Waigel heute von einer hohen Verschuldung sprechen — ich war beim Stichwort „verunklaren" —, dann reden Sie mit besonderer Lust von Erblasten; die finanziellen Lasten der DDR finanzieren Sie aus dem „Erblastentilgungsfonds". Mit dieser Sprachschöpfung — das ist ja völlig klar — will uns die Regierung weismachen, sie trage für diese hohe Verschuldung in Wahrheit keinerlei Verantwortung, habe alles nur geerbt.Ist das wirklich so, Herr Bundeskanzler? Sind Sie nicht verantwortlich für den seinerzeit vereinbarten Umtauschkurs bei der Einführung der Wirtschafts-und Währungsunion?
Sie sind verantwortlich, und wir alle sind als Folge dieses Kurses gezwungen, 30 Milliarden DM jährlich allein zur Bedienung der daraus entstandenen Schulden aufzuwenden.
Mit diesen 30 Milliarden DM könnte für die Menschen im östlichen Teil Deutschlands wahrlich mehr getan werden als mit dem Strohfeuer eines einmaligen Umtauschgeschenkes, das im übrigen ökonomisch, wie Sie wissen, nur dem Westen gedient hat, nicht aber dem Osten.
Nein, das war keine Erblast, sondern eine bewußte Entscheidung, über die man ja streiten kann, Herr Kollege Schäuble; das ist nicht mein Punkt. Aber ich widerspreche, wenn einfach immer so getan wird, als sei das über Sie und über die Regierung gekommen. So ist es nicht. Das ist die Folge einer politischen Entscheidung, die man so oder so beurteilen kann.
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14778 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Hans-Ulrich KloseDiese Entscheidung jedenfalls ist teuer. Ob sie ökonomisch gehollen oder eher geschadet hat, darüber kann man sehr wohl streiten. Nicht streiten kann man aber — das sage ich Ihnen — über Ihre historische Fehlentscheidung, die deutsche Einheit, diesen Glücksfall, ausschließlich auf Pump zu finanzieren. Darüber kann man jedenfalls nicht streiten!
Herr Kollege Klose, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, sicherlich.
Herr Kollege Klose, mit der Definition des Umtausches war die Definition der Löhne verbunden.
Ich nennen Ihnen ein Beispiel. Eine Textilarbeiterin — —
Verzeihung, Frau Kollegin, Sie müssen eine Frage stellen.
— ja — 700 DDRMark Lohn, umgetauscht 700 DM. Ich frage Sie: Was hätten Sie mit 350 DM Lohn, die bei 2 : 1 herausgekommen wären, dann gemacht? Hätten Sie die Textilarbeiterin bei diesem Lohn „verhaftet"?
Erstens ist mir das klar, ich danke gleichwohl für die Nachhilfe. Zweitens sage ich Ihnen: Solche Ziffern sind doch nicht gottgegeben, sondern veränderbar. Natürlich können Sie auch die Löhne verändern. Deshalb ist das Argument wenig überzeugend. Aber Tatsache ist — das können Sie doch gar nicht bestreiten —, daß wir über diesen Umtauschkurs eine Altschuldenlast aufgehäuft haben, die uns heute große Probleme bereitet — das ist doch unbestreitbar —, und daß der Zinsaufwand, den wir dafür aufbringen müssen, sehr viel besser investiv angelegt wäre, weil das den Menschen wirklich eine Zukunftsperspektive geben würde.
Der Kollege Schäuble möchte Ihnen ebenfalls eine Zwischenfrage stellen.
Bitte sehr.
Herr Kollege Klose, würden Sie mir zustimmen, daß jedenfalls die Konsequenz aus den Fragen, die Sie zum Umtauschkurs stellen, für die Menschen in den neuen Bundesländern viel größere Einschnitte in soziale Leistungen bedeutet hätte als alles, was in dem Sparpaket der Bundesregierung vorgeschlagen wird?
Nein, das kann ich Ihnen leider nicht zugeben. Ich verweise auf meine Antwort zuvor. Sie gehen immer von fixen Zahlen aus. Wo steht denn, daß sie fix sind? Sie verändern sie ja laufend, auch hier.
Darauf kam es mir ja an: Es muß hier im Parlament und auch draußen widersprochen werden, wenn immer so getan wird, als wäre das alles einfach über uns gekommen und als gäbe es in Wahrheit diese Regierung nicht, wenn es darum geht, unangenehme Tatsachen zu vertreten. Nein, Herr Bundeskanzler, nicht nur die angenehmen Tatsachen sind Ihre, auch die anderen haben Sie geschaffen. Sie müssen dazu stehen, und es hat keinen Sinn, darum herumzureden.Zu Ihrer Fehlentscheidung — ich wiederhole es —, die deutsche Einheit dauerhaft auf Pump zu finanzieren, müssen Sie eben auch stehen.
Denn damit haben Sie nicht nur die Schuldenspirale des Bundes um etliche Windungen nach oben getrieben, damit haben Sie nicht nur die Solidaritätsbereitschaft der Menschen zertrümmert, Sie haben zugleich den Menschen im Westen, den Ländern und Kommunen das falsche Signal gegeben. Denn wer sieht sich denn zur Sparsamkeit und Opferbereitschaft aufgefordert, wenn ihm gesagt wird, das sei am Ende alles aus der Portokasse zu finanzieren? So zertrümmert man Solidarität, so schafft man sie nicht!Die Verschuldung ist beängstigend, Herr Bundeskanzler, auch wenn der Finanzminister das anders darstellen muß, wofür ich ja Verständnis habe. Nicht, daß ich die Stabilität der D-Mark kurz- oder mittelfristig bedroht sähe, aber die Handlungsfähigkeit des Staates ist bedroht. Wenn der Bund schon 1994, wenn ich alles zusammen nehme, rund 73 oder 74 Milliarden DM — das ist jede fünfte Mark seiner Steuereinnahmen — für Zinsaufwendungen ausgeben muß, dann ist das doch ein Alarmsignal. 1995 werden es schon dicht an 100 Milliarden DM sein. Das sind dann schon über 25 % der Steuereinnahmen des Bundes nur für Zinszahlungen. Von Januar bis März, könnte man sagen, ein Viertel des Jahres, zahlen dann die Bundesbürger ihre Steuern an den Bund, nur damit dieser seinen Zinsverpflichtungen nachkommen kann. Da bleibt dann für die vielen anderen wichtigen Aufgaben nichts mehr übrig.Ich gebe gern zu, daß es einen Königsweg aus dieser von Ihnen zu verantwortenden Verschuldung nicht gibt. Aber uns war klar — und wir haben das anders als Sie schon vor der letzten Bundestagswahl gesagt; das kann man ja nachlesen —,
daß es ohne Einnahmeverbesserungen, d. h. ohne Opfer für die Menschen, nicht gehen wird. Das haben wir gesagt.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14779
Hans-Ulrich KloseDa lagen wir sehr viel näher bei der Wahrheit als Sie, Herr Bundeskanzler.Es wäre natürlich richtig gewesen — das wissen Sie auch, und das geben Sie in Wahrheit auch zu —, den eingeführten Solidaritätszuschlag, der einen Hauch von wirklicher Solidarität beinhaltete, durchzuhalten. Es gibt überhaupt nur einen einzigen Grund, warum Sie ihn nicht durchgehalten haben: weil Sie vorher bei einer — ich sage das etwas vornehmer - nicht ganz wahrheitsgemäßen Politik ertappt worden sind
und sich nicht ein weiteres Mal bei einer solchen ertappen lassen wollten. Vernünftig war das nicht. Vernünftig wäre es gewesen, den Solidaritätszuschlag durchzuhalten. Dann wären wir nicht in der Situation, in der wir uns heute befinden.
Schade, daß Sie dazu keine Zwischenfrage stellen.
Im übrigen füge ich hinzu: Natürlich muß auch gespart werden. Das ist doch völlig klar. Aber — um Frau Matthäus-Maier zu zitieren —, Sparen einfach so bringt nichts. Sparen mit Sinn und Verstand, darum geht es.Nun muß ich Ihnen etwas sagen, Herr Kollege Schäuble: Es mag ja sein, daß Sie unsere Vorschläge für Einsparungen und Subventionskürzungen nicht mögen, daß Sie sie für nicht ausreichend oder für falsch halten. Aber es ist einfach nicht akzeptabel, wenn Sie sich hier in der Debatte hinstellen und sagen, wir hätten keine Vorschläge gemacht.
Das jedenfalls können Sie nicht machen. Das ist so haarscharf an der Wahrheit vorbei wie Ihre Behauptung, wir seien während der Solidarpaktverhandlungen zu Einsparungen nicht bereit gewesen.
— Nun passen Sie mal auf. Ich greife das ja auf; ich habe hier das Ergebnisprotokoll der Solidarpaktverhandlungen. Da gibt es eine Anlage, auf der als Überschrift steht: „Unstrittige Einsparungen". Allein schon, weil das so ist, können Sie nicht behaupten, wir seien nicht bereit gewesen einzusparen.
— Nein, ich bin noch nicht fertig mit Ihnen. Jetzt müssen Sie schon zuhören.Zweitens gibt es die Anlage „Finanzausgleich Föderales Konsolidierungsprogramm 1995". Darin stehen noch einmal Ausgabenkürzungen, die streitig waren in der großen Runde und auch in der kleineren, die von Ministerpräsident Eichel geleitet wurde. Es gab die Vereinbarung, die Länder, der Bund und die Bundestagsfraktionen sollten sich hinsetzen und versuchen, diese Punkte streitlos zu stellen, was, glaube ich, in zwei Fällen nicht gelungen ist. Hinsichtlich eines Punktes jedenfalls bin ich hinterher bei Ihnen gewesen und habe Ihnen gesagt, daß ich das nicht so gut fände. Aber die anderen sind dann auch vereinbart worden.Infolgedessen können Sie sich hier nicht hinstellen und sagen, wir hätten uns immer nur verweigert, nichts getan, hätten Einsparungsvorschläge nicht gemacht und seien beim Solidarpakt zu Einsparungen nicht bereit gewesen. So jedenfalls, wie Sie es sagen, ist es nicht die Wahrheit. Ich finde, das sollten Sie zugeben.
Da ich gerade bei Ihnen bin und damit ich es nachher nicht vergesse — man vergißt ja leider häufig etwas — —
Herr Kollege Klose, Herr Schäuble würde gern eine Zwischenfrage stellen oder eine Zwischenbemerkung machen.
Aber immer.
— Auch Zwischenbemerkung, sonst ist es ja keine Debatte.
Das ist wahr.
Herr Kollege Klose, würden Sie mir denn bestätigen, daß wir in den Solidarpaktverhandlungen verabredet hatten, daß sich eine Arbeitsgruppe des Bundesfinanzministers mit weiteren Vertretern der Länder unter Beteiligung der Fraktionen über weitere Kürzungsvorschläge einigen sollte, daß sie auch Abschlußvollmacht hätte, so daß also eine weitere Ratifizierung nicht mehr notwendig war, und daß im übrigen ein bestimmtes Volumen definiert war, das, wenn es nicht erreicht würde, von den Ländern durch einen halben Prozentpunkt Mehrwertsteuer zugunsten des Bundes erbracht werden müßte? Wenn Sie mir dies bestätigen, ist dann auch zutreffend, daß Sie anschließend gesagt haben, daß die Sozialdemokraten diese Einsparvorschläge, die einvernehmlich vereinbart waren, nicht mittragen könnten, weil eben die Strategie der SPD im Bundestag als Opposition und die Strategie der SPD-Mehrheit im Bundesrat unterschiedlich sei, und daß wir deswegen unmittelbar nach dem Solidarpakt in der Lage waren, Ihnen sagen zu müssen, da Sie diese Einsparvorschläge nicht mittragen könnten — das haben Sie auch ausdrücklich so erklärt —, müßten wir als Koalition mit unserer Mehrheit eigene weitere Einsparvorschläge machen? Darauf habe ich mich heute morgen bezogen.
Das erste bestätige ich Ihnen schon, einschließlich des Betrages von 4,4 Milliarden DM. Das ist völlig richtig. Aber die Vereinbarung lautete eben, daß eine Vereinbarung zustande kommen muß. Sie konnte nur zustande kommen, wenn Bundesregierung und Länder, bei denen
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14780 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Hans-Ulrich Klosebekanntlich Sozialdemokraten die Mehrheit haben, zustimmen.
Daß die Bundestagsfraktion bei dem einen oder anderen Punkt schon in den Solidarpaktverhandlungen ihre Vorbehalte angebracht hat — wer wären wir denn, wenn wir das nicht dürften! Ich bin in der Tat hinterher bei Ihnen gewesen und habe Ihnen gesagt: Die Kürzung des Unterhaltsgeldes bei Umschulung halte ich für absolut kontraproduktiv,
weil jegliche Motivation flötengeht, wenn man bei Umschulung die gleichen Einkommen hat wie bei Arbeitslosigkeit. Das alles ist richtig.Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß Sie hier vorhin formuliert haben, wir hätten keine Sparvorschläge vorgelegt und nichts mitgetragen. Das wollte ich einfach korrigieren, weil ich nicht akzeptieren kann, daß immer so getan wird. Das mußte ich bei dieser Gelegenheit auch einmal sagen.
Sie sind ja nicht zimperlich, Herr Kollege Schäuble, und deshalb stecken Sie das ruhig ein.
Nun möchte ich gleich noch einen anderen Punkt bringen, damit ich das, wie gesagt, nicht vergesse. Sie haben Frau Matthäus-Maier attackiert. Sie haben gesagt: Wir erhöhen jetzt die Mineralölsteuer, so wie Sie es gefordert haben. Es ist eine ökologische Steuerreform. Die SPD hat doch gesagt: Das muß zurückgegeben werden. Jetzt haben wir es zurückgegeben, und nun kritisiert sie das immer noch. So war es doch, oder?
— Sie haben da wiederum ganz listig argumentiert.
Denn die Wahrheit ist: Sie haben es durch Kürzung der Spitzensteuersätze an die da oben zurückgegeben,
während wir gerne entsprechend dem Verfassungsgerichtsurteil das Existenzminimum steuerfrei und abgabenfrei stellen wollten, es also an die da unten weitergeben wollten. Dies, Herr Kollege Schäuble, unterscheidet uns eben: Sie für die da oben und wir für die, die unten sind. Diese Unterschiede muß es ja noch geben. Wer wäre denn die Sozialdemokratische Partei, wenn wir nicht eintreten würden für die, die von den wirtschaftlich und politisch Mächtigeren an dieWand geklatscht werden. Das wird immer unsere Funktion sein. Darauf sind wir sogar stolz.
Egal, ob Sie unsere Vorschläge für richtig oder für falsch halten: Sie sind ja die Regierung; Sie stellen die Mehrheit, und Sie müssen eine Politik machen, die dieses Land voranbringt. Ich sage Ihnen: Mit dem im August beschlossenen Sparpaket bringen Sie nichts voran. Sie verstoßen gegen elementare Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit, befördern damit den Prozeß der Entsolidarisierung und treiben damit unser Land immer tiefer in den sozialen Unfrieden.
Sie handeln zudem ökonomisch unvernünftig, weil Sie mit den Kürzungen bei Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern unmittelbar nachfragewirksame Kaufkraft mindern. Hinzu kommt — Ministerpräsident Scharping und Frau Matthäus-Maier haben Ihnen dies schon unter die Nase gerieben —, daß Sie mit diesem Sparpaket mogeln. Sie sparen beim Bund, laden zumindest einen Teil der Kosten bei den Gemeinden ab und sagen: Seht zu, wie ihr damit fertig werdet. Das ist Ihre Sparpolitik.
Herr Bundeskanzler, es wird Sie nicht überraschen, wenn ich sage, daß wir das nicht mitmachen und daß wir versuchen werden, das zu verhindern. Hier im Bundestag können wir das bedauerlicherweise nicht. Aber die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat sollten Sie im Kopf behalten. Wenn Herr Gysi, der, Höflichkeit hin, Höflichkeit her, nicht mehr im Saal ist,
sagt, daß es dabei gelegentlich Überraschungen gibt: Das mag schon so sein. Aber wenn es um Grundfragen der sozialen Gerechtigkeit geht, dann stehen wir Sozialdemokraten zusammen, und da hört der Spaß auf. Bei solchen Fragen können Sie uns nicht auseinanderdividieren; versuchen Sie es erst gar nicht, und hören Sie auf, die Gesellschaft weiter spalten zu wollen.
Herr Bundeskanzler, was soll im übrigen das dauernde Gerede, daß wir Deutschen über unsere Verhältnisse lebten?
Wer sind denn „wir Deutschen"? Wen meinen Sie denn, wenn Sie von „ den Deutschen" reden? Wer lebt denn hier über seine Verhältnisse?
Leben die Arbeitnehmer über ihre Verhältnisse oder die Arbeitslosen oder die Sozialhilfeempfänger?Von den Arbeitnehmern in der Industrie erreicht heute kaum noch einer den normalen Ruhestand, weil er vorher mit gesundheitlichen Schäden aus dem Produktionsprozeß ausscheidet. Arbeiten die Leute zu wenig? Oder sind es die Rentner, die über ihre Verhältnisse leben? Nein, Herr Bundeskanzler, diese
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Hans-Ulrich KloseMenschen haben ihr ganzes Leben für ihre Rente gearbeitet; sie haben sich diese Rente verdient. Die Renten sind trotz der ungünstigen demographischen Entwicklung, über die Sie gesprochen haben und über die ich, wie Sie wissen, viel nachdenke, sicher. Sie wären es auch über das Jahr 2010 — soweit reicht der Zeithorizont des letzten Rentenkompromisses — hinaus, wenn Sie bzw. der Bundesfinanzminister aufhören würden, die Rentenkassen für versicherungsfremde Aufgaben zu plündern.
Wir wären besser dran, wenn der Bundeswirtschaftsminister, statt von Dingen zu reden, für die er nicht zuständig ist und von denen er ganz offenkundig auch nichts versteht, seine originären Aufgaben anpacken und dafür arbeiten würde, daß mehr Menschen, die es wollen, Arbeitsplätze finden.
Dafür wird er nämlich bezahlt und nicht dafür, in der Bevölkerung vorhandene Ängste, zumal bei den Rentnern, durch unverständiges Reden auch noch zu schüren.Zu tun gäbe es genug, denn in der Tat: Die Wirtschaft steckt in einer Krise, die nicht mehr nur eine Konjunkturkrise ist. Die deutsche Wirtschaft gerät zunehmend mehr zwischen die Mühlsteine der Billigproduzenten und der Hochtechnologiekonkurrenz. Ist das aber den Gewerkschaften oder den Arbeitnehmern anzulasten? Müssen sich nicht die deutschen Unternehmer fragen lassen, was sie getan haben bzw. in den vergangenen zehn Jahren nicht getan haben?Die Gewinne waren hoch. Welcher Anteil davon ist in die Zukunft, in neue Produkte und Produktionsverfahren, investiert worden?Es ist doch richtig, daß das Volumen der Innovationen in den letzten zehn Jahren laufend zurückgegangen ist, und es ist doch auch richtig, daß der Budgetanteil des Bundesministeriums für Forschung und Technologie zielstrebig von 2,8 Prozent — wenig genug — auf unter 2 % zurückgefahren wurde. Der Bedeutungsverlust dieses Ministeriums, das für eine Hochtechnologiewirtschaft mindestens so wichtig ist wie das Wirtschaftsministerium, ist unübersehbar.Hier, Herr Bundeskanzler, müßten Sie ansetzen, Innovationsprozesse fördern, im Dialog mit der Wirtschaft. Ich stimme diesem Punkt Ihrer Ausführungen, Herr Kollege Schäuble, ausdrücklich zu.Ich stimme zu, weil ich glaube, daß dies in Wahrheit unsere einzige Chance ist, denn das wissen wir doch alle: Die Bundesrepublik Deutschland war immer ein Hochkostenland und wird es auch bleiben. Die Kostenkonkurrenz mit den Billigproduzenten, die jetzt in unserer unmittelbaren Nachbarschaft operieren — wir haben ja, bildlich gesprochen, Korea vor der Haustür —, können wir nicht gewinnen.Gewinnen können und werden wir, wenn wir besser werden, wenn wir produzieren, was anderswo nicht oder nicht so gut produziert wird wie hier. Das ist unsere einzige Chance, ich wiederhole es, und die gilt es durch eine intelligente, marktkonforme Industriepolitik, im Dialog entwickelt und vorangetrieben, zu nutzen.Ich weiß ja und Sie wissen es auch: Für Liberale, die seit 20 Jahren das Wirtschaftsressort besetzen, ist allein schon der Gedanke an Industriepolitik eine Sünde wider den heiligen Geist der Marktwirtschaft. Haben Sie denn übersehen, daß wir uns längst in einer Systemkonkurrenz unterschiedlich organisierter Marktwirtschaften befinden?Wir können doch nicht übersehen, was andere tun, und zwar mit Erfolg und zu unseren Lasten. Selbst die Amerikaner denken derzeit über diese Systemkonkurrenz nach. Nur unsere Wirtschaftsminister halten aus ideologischen Gründen an der Legende vom freien Markt fest, den es so, wie die Legende es will, gar nicht gibt.
An diesem Punkt, Herr Bundeskanzler, sollten Sie ansetzen: mehr strategisches Denken — das ist es. Es geht doch nicht darum, wie vielfach befürchtet wird, daß die Politik der Wirtschaft vorschreiben will, was sie zu tun hat. Es geht darum, gemeinsam mit der Wirtschaft Strategien für die Zukunft zu entwickeln und die knappen Ressourcen zu bündeln. Es geht darum, die Rahmenbedingungen zu verändern, was mich noch einmal zu dem Problem der Verschuldung bringt.Nicht nur, daß das Geld für neue Aufgaben fehlt — die deutsche Sparquote reicht ja nicht mehr aus, um den Kapitalbedarf von Staat, Wirtschaft und Privaten abzudecken. Wir sind seit drei Jahren ein kapitalimportierendes Land geworden; ein Abzug dieses Auslandskapitals wäre heute eine Katastrophe.
Deshalb und nicht nur wegen der hausgemachten Inflation müssen der DM-Wechselkurs und die Zinsen auf einem höheren Niveau als bei unseren Hauptkonkurrenten bleiben. Aber die Konsequenzen liegen auf der Hand.Erstens. Es macht eben vielfach für Unternehmen keinen Sinn, Geld in risikoreiche und erst langfristig rentable Sachinvestitionen zu stecken, wenn sich auf dem Rentenmarkt höhere, risikolose Gewinne erzielen lassen. Der heute beklagte Innovationsattentismus der deutschen Wirtschaft hat eben auch etwas mit Waigels Budgetpolitik zu tun; daran führt kein Weg vorbei.
Zweitens. Die faktische Aufwertung der D-Mark um zwischen 10 und 15 % erschwert unsere Wettbewerbsposition auf den internationalen Märkten.Drittens. Die Länder der Europäischen Gemeinschaft sind gezwungen, ihre Zinsen hochzuhalten, um ihre Währungen gegen die D-Mark zu stützen und allzu hohe Kapitalabflüsse zu vermeiden.Wirtschaftspolitisch wirkt das alles, wie Sie nicht bestreiten können, kontraproduktiv, und außenpolitisch schadet es uns; denn die Wahrheit ist doch, daß
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Hans-Ulrich Klosedie Turbulenzen im Europäischen Währungssystem auch eine Folge von Waigels Haushaltspolitik sind.
Natürlich ärgern sich Franzosen und andere über die Zinspolitik der Bundesbank, die ja nichts anderes tun kann, und darüber, daß sie die deutsche Einheit zu Lasten ihrer eigenen wirtschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten mitfinanzieren müssen.Herr Bundeskanzler, ich will beileibe nicht die aktuellen Differenzen in Europa und insbesondere im deutsch-französischen Verhältnis dramatisieren— das sei fern von mir —, aber ich denke doch, daß die Probleme größer sind, als Sie wahrhaben wollen. Die anderen sehen es jedenfalls so; leider auch die interessierte amerikanische Öffentlichkeit. Hier ist vorhin ein Artikel aus Amerika zitiert worden. Ich könnte Ihnen viele vorlesen, die mich besorgt gemacht haben.Meine Damen und Herren, wir Deutschen — ich sage ganz bewußt: wir Deutschen — sollten das zur Kenntnis nehmen und Irritationen über unseren künftigen politischen Kurs bereinigen.
Dabei, meine Damen und Herren, spielt ganz sicher die Frage der deutschen Rolle in der UNO eine Rolle.
Sie warten ja darauf, daß ich dazu etwas sage.
— Aber ich mache das. Ich mache das trotzdem.
— Ich brauche Ihnen nicht leid zu tun, Herr Kollege Schäuble. Mir geht es sehr gut.
— Wenn ich einmal in Nöten bin, dann werde ich mich bei Ihnen melden. Bei Ihrer bekannten Solidarität werde ich dann sicher Hilfe bei Ihnen finden.
— Gut, in Ordnung.
Zur Rolle in der UNO: Meine Damen und Herren, über diese Frage wird nicht nur im Verhältnis zwischen Koalition und Opposition gestritten, sondern auch intern streiten wir uns darüber. Wie könnte ich das leugnen, da es ja ohnehin öffentlich ist? Warum sollte ich es auch leugnen? Innerparteilicher Streit zur Sache ist nicht immer angenehm, aber richtig verstanden kein Zeichen von Schwäche, sondern eher ein Zeichen von demokratischer Stärke.
Im übrigen sollten Sie, meine Damen und Herren 1 von der Koalition, bei diesem Streit nicht übersehen, daß wir Sozialdemokraten in wichtigen Punkten übereinstimmen. Zwei will ich Ihnen nennen.
Erstens. Es wird mit Zustimmung der Sozialdemokraten kein militärisches Interventionsrecht aus eigenem Recht geben; damit das klar ist: aus eigenem Recht.Zweitens. Unsere Zurückhaltung bei der politischen Entscheidung über konkrete UNO-Einsätze ist eher gewachsen, weil wir zum einen mit einer gewissen Sorge sehen, daß sich die UNO übernimmt,
und zum anderen, daß konkrete Aktionen leider sehr schnell außer Kontrolle geraten könnten.Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang ein Wort zu Somalia. Sie wissen, daß ich den Somalia-Einsatz ursprünglich begrüßt habe und gesagt habe: Ja, genau das ist es, was auch wir wollen. Aber ich sehe mit großer Sorge, daß die Vereinten Nationen zunehmend mehr in einen Busch-, Stammes- und Clankrieg hineingeraten, daß sie, statt humanitäre Hilfe zu leisten, gezwungen sind, sich ihrer Haut zu wehren und Rache zu üben und daß damit die Funktion der Vereinten Nationen als Friedenstifterin nachhaltig beeinträchtigt werden könnte. Ich bin nicht sicher, ob ich heute noch zustimmen würde. Ich würde mir das jedenfalls noch einmal sehr, sehr, sehr gründlich überlegen.Wir streiten innerhalb der SPD über die Frage, ob wir prinzipiell verpflichtet sind, uns an UNO-Aktionen zu beteiligen.
Dieser Streit erscheint vielen müßig oder realitätsfern, und manche — auch in der Bevölkerung — fragen uns: Habt Ihr denn eigentlich nichts Wichtigeres zu tun? Die Antwort lautet: Ja sicher, wir haben vieles zu tun, das auch aus meiner Sicht wichtiger ist. Aber ich füge hinzu: Die Frage der Bündnis- und Partnerfähigkeit Deutschlands ist keine Kleinigkeit, sondern von zentraler Bedeutung.
Ich habe da, wie Sie wissen, eine Meinung. Ich mußdiese nicht noch einmal darlegen, zumal das nicht zuzitierende Wochenblatt hier schon zitiert worden ist.
— Für so hörig halte ich Sie ja nicht, Herr Kollege Schäuble.
— Ich weiß ja nicht, wie das bei Ihnen ist.
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Hans-Ulrich KloseIch füge noch drei Anmerkungen hinzu. Erstens. Es mag ja sein, daß unsere außenpolitischen Möglichkeiten nach der Einheit faktisch, tatsächlich eher geringer geworden sind.
Aber unsere Partner sehen es anders und erwarten mehr von uns. Insofern ist, ob wir es wollen oder nicht, unsere Verantwortung gestiegen.
Zweitens. Wir sollten diese gewachsene Verantwortung nicht einseitig militärisch, sondern umfassend definieren. Es schmerzt mich schon, daß wir fast nur noch über militärische Fragen reden und nicht mehr z. B. über Entwicklungspolitik.
Meine erste Rede in diesem Haus als Fraktionsvorsitzender habe ich insbesondere diesem Thema Entwicklungspolitik und dem Thema Umweltpolitik gewidmet und sehe heute doch — ich wiederhole es — mit Schmerzen, daß Rio ganz offensichtlich doch nichts anderes war als eine Show-Veranstaltung.Drittens. Wir Deutschen — ich sage wieder bewußt: wir Deutschen — sollten keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß wir an unserer westeuropäischen und atlantischen Grundorientierung festhalten — westeuropäisch und atlantisch —,
was Erweiterungen nach Osten nicht ausschließt.
Deutschland eignet sich — auch da werden wir hoffentlich übereinstimmen — denkbar schlecht als Grenzland in einem weiterhin faktisch geteilten Europa,
weswegen wir ein fundamentales Interesse daran haben müssen, daß unsere osteuropäischen Nachbarn, vor allem Polen und die Tschechische Republik — ich nenne nur diese beiden —
möglichst bald Zugang zu den bestehenden Systemen der Zusammenarbeit erhalten, in die auch wir uns eingebracht haben.
Weil ich das so sehe, würde ich es, Herr Bundesaußenminister, sehr begrüßen, wenn Sie dem Parlament baldmöglichst ausführlich erläutern würden, wie Sie sich die künftige europäische Architektur — nicht nur die Sicherheitsarchitektur — vorstellen. Bisher erleben wir nur, daß die Bundesregierung möglichst allen, die darum bitten, Unterstützung bei dem Bemühen um künftige EG-Mitgliedschaft zusagt, und der Bundesverteidigungsminister denkt laut über neue NATOPartner nach.
Ich tadele ihn deswegen nicht. Aber etwas genauer wüßten wir es schon gern, zumal diese Frage eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die eingangs erwähnte Streitfrage hat.Ich habe gelesen, Herr Außenminister, daß Sie im Urlaub über diese Fragen intensiv nachgedacht haben. Ich denke, Sie sollten das Ergebnis Ihres Nachdenkens nicht nur den F.D.P.-Gremien vortragen, sondern im Namen der Bundesregierung auch dem Parlament.Ich würde gern noch zwei Bemerkungen anfügen. Ich finde, wir sollten, wenn wir in diesen Tagen debattieren und auch über Außenpolitik sprechen, unseren Respekt für das, was sich im Nahen Osten zu entwickeln beginnt, deutlich zum Ausdruck bringen.
Was dort geschieht, gibt uns Hoffnung, und ich habe hohe Achtung vor denen, die handeln. Denn sie tun das nicht nur mit politischem, sondern ganz persönlichem existentiellen Risiko. Wenn es gelänge, dieses Pulverfaß zu entschärfen, die Welt wäre reicher.Der zweite aktuelle Hinweis. Ich beobachte, Herr Bundesaußenminister, mit einer gewissen Sorge die Entwicklung im Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, nicht zuletzt, weil die Gefahr, daß sich dies ausdehnen könnte, ziemlich hoch ist. Ich bitte darum, daß jede Anstrengung im Rahmen von Konfliktverhütung, -vorbeugung, Hilfe beim Anbahnen von Dialogen unternommen wird, damit wir nicht wieder in eine Situation hineingeraten, wo in großem Maßstab geschossen wird und nur noch über Militärisches geredet werden kann. Ich halte diese Geschichte für nicht minder gefährlich als das, was wir im ehemaligen Jugoslawien erleben.Zum Schluß, meine Damen und Herren, noch zwei Bemerkungen, die mir wichtig sind. Die erste bezieht sich auf die Situation in den neuen Ländern. Ich kann zu der Diskussion über Bischofferode inhaltlich wenig beitragen, weil ich den Vertrag nicht kenne. Der Treuhandausschuß kennt ihn auch nicht, und das, meine Damen und Herren von der Regierung, ist nicht in Ordnung.
Bischofferode ist aber inzwischen mehr als ein Treuhandfall. Bischofferode zeigt, wie die Stimmungslage in den Ländern wirklich ist. Da fehlt nicht mehr viel, bis das Land brennt. Ich nutze deshalb diese Gelegenheit, um Sie, Herr Bundeskanzler, an die Solidarpaktverhandlungen und ihre Zusage zu erinnern, industrielle Kerne — die letzten, die noch verblieben sind — zu erhalten. Wir haben diese Zusage in den Solidar-
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14784 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Hans-Ulrich Klosepaktverhandlungen finanziell abgesichert. Ich sehe aber nicht, daß wirklich etwas geschieht.
Nehmen Sie z. B. die im Verlauf dieser Debatte schon erwähnte Deutsche Waggonbau Aktiengesellschaft mit ihren vier Betrieben. Es sind — wer sich das angesehen hat, weiß es — durchaus leistungsfähige Betriebe, in denen große — erfolgreiche — Anstrengungen unternommen worden sind, um die Produktivität auf Weltmarktniveau zu bringen.
Dieses Unternehmen kann aber nicht von heute auf morgen die über die Jahre gewachsene Abhängigkeit vom GUS-Markt aufheben; dazu bedarf es der Hilfe. Herr Bundesfinanzminister — er ist nicht mehr da — —
— Ist klar —. Weil er darüber gesprochen hat: Ich rede nicht leichtfertig Subventionen das Wort, aber ich erinnere daran, daß wir bei notwendigen Strukturanpassungen im Westen in der Bundesrepublik in der Vergangenheit die Regulierung nie allein dem Markt überlassen haben. Wir haben auch bei Kohle, bei Stahl oder bei Werften immer interveniert, um zu erhalten, was zu erhalten ist, um neue Produktionslinien entwickeln zu helfen und um Zeit zu gewinnen. Ja, wir haben Zeit gekauft, und wir müssen auch jetzt Zeit kaufen.
Denn wenn z. B. die Werke der Waggonbau in den Bereichen Görlitz und Niesky — Sie kennen das — geschlossen werden, dann gibt es in dieser ganzen Region überhaupt keine industriellen Arbeitsplätze mehr. Dann ist da nichts mehr. Das darf nicht geschehen. Deshalb bin ich dafür, daß diesen Unternehmen und anderen, die als sanierungsfähig eingestuft worden sind, geholfen wird.
Dazu gehört nun einmal eine begrenzte Bestandsgarantie, weil es sonst nicht funktioniert. — Herr Bohl, ich bin jetzt wirklich in einer schwierigen Situation. Ich würde auch Ihre Frage gern zulassen, aber ich rede schon viel zu lange. Manche werden schon nervös.
— Wird nicht angerechnet? — Gut, okay. Wie könnte ich anders.
Dann Herr Kollege Bohl.
Herr Kollege Klose, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir uns in der Angelegenheit Bischofferode in Übereinstimmung mit der Industriegewerkschaft Bergbau und Energie und auch mit der Industriegewerkschaft Chemie befinden und ich gerade gestern im Plenum dieses
Hohen Hauses Gelegenheit hatte, mit unserem Kollegen Rappe noch einmal darüber zu sprechen, der das ausdrücklich bestätigte, und sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir bei der Deutschen Waggonbau insgesamt für 2,2 Milliarden DM Hermes-Bürgschaften und damit so viel wie für kein anderes Werk in den neuen Ländern gegeben haben; und daß wir 160 Millionen DM Hermes-Kredit gerade vor einer Woche für ein Geschäft mit Kasachstan gewährt haben und daß die Deutsche Bundesbahn für Eisenbahnwaggons jetzt Aufträge in Millionenhöhe erteilt hat? Glauben Sie, daß vor diesem Hintergrund die pauschale Form, wir ließen nur den Markt die Dinge in den neuen Bundesländern regeln, wirklich aufrechterhalten werden kann?
Herr Minister, seien Sie jetzt nicht überrascht, ich nehme das nicht zur Kenntnis, weil ich es schon längst zur Kenntnis genommen habe.
Es bedurfte dieser Zwischenfrage nicht. — Bitte, was?
— Nein, ich mache das immer selber. — An und für sich wollte ich bei dem Beispiel Deutscher Waggonbau gerade anheben — auf meine Weise, die eben nicht immer die Ihre ist, Sie sind da wahrscheinlich sehr viel direkter —, und wollte Sie eigentlich am Ende loben. Das haben Sie nun kaputtgemacht, Herr Minister.
Ja, Sie können es mir glauben, Herr Bundeskanzler, ich wollte sagen — ich könnte es Ihnen vorlesen, das lasse ich jetzt natürlich —: An diesem Beispiel, an der Tatsache, daß Sie das Noch-Bundesunternehmen Bundesbahn eben doch veranlaßt haben, konkret zu helfen, durch Bestellung — die Sache mit den Bürgschaften kenne ich natürlich auch —, sieht man doch, daß man in der Tat etwas tun kann. Verstehen Sie?
Ich wollte Sie nur veranlassen, bei der Frage der Rettung von ostdeutschen Unternehmen mindestens das gleiche Maß an Phantasie aufzuwenden, das wir heute und in den vergangenen Jahren aufgewendet haben, wenn in Westdeutschland Unternehmen in Schwierigkeiten geraten sind,
weil ich nämlich in der Tat den Eindruck habe, Herr Kollege Schäuble, daß das Maß an Phantasie, das da aufgewendet wird, sich gelegentlich ein bißchen unterscheiden könnte.Weil ich das nicht für richtig halte, wollte ich, aus diesem Lob ableitend, den Herrn Bundeskanzler zum Schluß auffordern, die Hilfe für Betriebe in Ostdeutschland nicht allein seinen Fachministern zu
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14785
Hans-Ulrich Kloseüberlassen — schon gar nicht dem Bundeswirtschaftsminister —, sondern zur Chefsache zu machen, weil ich da bei ihm mehr Vertrauen habe als bei anderen.
Das war doch mehr Lob, als Sie eigentlich vertragen können — oder?
— In Ordnung.Jetzt die zweite Bemerkung. Ich hoffe, Sie stimmen mir auch dann zu, sie betrifft nämlich auch den Kanzler.
Herr Bundeskanzler, wir haben den Eindruck, daß Sie Ihr Bundeskanzleramt nicht ganz unter Kontrolle haben.
— Hören Sie lieber gut zu! — Was da in den letzten Wochen und Monaten aus Ihrem Hause über zirka 2 000 ehemalige Stasi-Agenten an Katastrophenmeldungen verbreitet wurde, spottet in Wahrheit jeder Beschreibung.
Da redet Ihr Koordinator für die Geheimdienste mit Journalisten und verbreitet Horrorszenarien, die den tatsächlichen Verhältnissen in gar keiner Weise entsprechen. Die Republik gerate angeblich ins Wanken, so war es zu lesen. Wir haben Sie mehrfach öffentlich aufgefordert, dieses Gerede Ihres Ministers zu unterbinden, eines Ministers, der ganz offensichtlich so fasziniert vom Geheimdienstmilieu ist, daß er alle Maßstäbe vernünftiger Betrachtung aus den Augen verloren hat.Wir wissen, meine Damen und Herren, daß zu den dunklen Kapiteln deutscher Geschichte auch gehört, wie das Ministerium für Staatssicherheit versucht hat, Politik und Wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland auszuspähen. Wer sich dabei — hüben und drüben — strafrechtlich relevant verhalten hat, wird nach unseren Gesetzen zu bestrafen sein. Diese Strafe herbeizuführen ist Aufgabe der zuständigen Behörden — des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der Staatsanwaltschaften.Ich bezweifle nicht, daß diese Behörden ihre Amtspflichten erfüllen und auch das rechtliche Interesse der Betroffenen zu wahren wissen. Deshalb ist es ein um so größerer Skandal — ich benutze solche Worte selten — wenn alle Indizien darauf hinweisen, daß Indiskretionen mit der Nennung von einzelnen Namen aus dem Bundeskanzleramt gezielt gestreut wurden. Unser ehemaliger Kollege Karl Wienand hat dies leidvoll erfahren müssen. Ich wünsche niemandem, in dieser Weise in der Öffentlichkeit als Täter behandelt zu werden. Es freut mich deshalb um so mehr, daß gegen Karl Wienand kein Anfangsverdacht mehr besteht und deshalb nicht einmal ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde.
Das gleiche gilt für unseren Kollegen Lüder, dem ebenfalls fälschlich unterstellt wurde, Agent gewesen zu sein. Auch hier bin ich froh, daß auf dem Kollegen Lüder kein Schatten bleibt.
Herr Bundeskanzler, wir müssen sorgfältig mit unserer Vergangenheit umgehen, und dazu gehört, daß Sie endlich Aufklärung darüber geben, woher diese ominösen Akten kommen. Wir verlangen von Ihnen verbindliche Erklärungen darüber, ob diese Akten von der CIA, vom KGB oder vom ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit stammen. Sollte es sich um Stasi-Akten handeln, sind sie unverzüglich nach dem Gesetz der Gauck-Behörde zu überstellen.
Ihr Amt jedenfalls, Herr Bundeskanzler, und vor allen Dingen Ihr Geheimdienstkoordinator haben die Finger von diesen Akten zu lassen. Wir erwarten deshalb, daß in der morgigen Sondersitzung der Parlamentarischen Kontrollkommission der Chef des Bundeskanzleramtes persönlich erscheint und unsere Fragen beantwortet. Wenn nicht, werden wir weitergehende Maßnahmen erwägen.
Meine Damen und Herren, damit wäre ich eigentlich zu Ende. Die Zeit ist ja immer zu kurz für solche Debatten, bei denen es eigentlich um mehr gehen muß als um Details und persönliche Sottisen. Ich sagte, ich wäre zu Ende, gäbe es da nicht noch zwei Punkte aus der Rede des Kollegen Schäuble, die ich jedenfalls streifen muß.Herr Kollege Schäuble, es ist nicht in Ordnung, daß Sie im Parlament aus Vier-Augen-Gesprächen zitieren; ob zutreffend oder nicht, das lasse ich jetzt einmal völlig offen. Auf diese Art und Weise mindern Sie unsere notwendige Möglichkeit, miteinander unter vier Augen offen zu sprechen, was gut für das Land ist. Das sollte man nicht kaputtmachen.
Sie haben sich im Eifer der Debatte auch zu ein paar Bemerkungen über meine Kollegin Ingrid Matthäus-Maier hinreißen lassen, zu denen ich Ihnen als zugereister Hamburger, — zugereiste Hamburger müssen immer besonders hanseatisch sein, um zu beweisen, daß sie dazugehören — sage: Sie sollten das überdenken und möglicherweise zum Anlaß nehmen, mit der Kollegin Matthäus-Maier darüber zu reden. Es bringt relativ wenig, wenn wir uns hier feindselig zur Person des jeweiligen politischen Gegners äußern.
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14786 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Hans-Ulrich Klose— Das war nicht in Ordnung, Herr Kollege Schäuble. Ich finde, Sie sollten das korrigieren.
Solche Debatten finden doch auch statt, um der Öffentlichkeit zu demonstrieren, daß wir um die Lösung wichtiger Sachfragen miteinander ringen, daß wir uns in der Sache streiten und nicht zur Person und daß uns im Streit um die Sache zugleich die gemeinsame Sorge um die Zukunft unseres Landes treibt.Politikverdrossenheit, gewiß auch geschürt und häufig mit einem beinahe antiparlamentarischen Eifer beschworen, hat auch etwas mit der Art und Ernsthaftigkeit des politischen Streits zu tun, bei dem immer auch spürbar bleiben muß:
Wir streiten nicht um Macht an sich und nicht in erster Linie um parteitaktische Vorteile und nicht zur Person, sondern wir streiten und ringen jeder auf seine Weise um die Kompetenz, den Menschen zu dienen.
Denn das, meine Damen und Herren, ist letztlich Sinn aller Politik.Vielen Dank.
Herr Kollege Klose, Sie haben in Ihrer letzten Passage sozusagen ein Stück der Arbeit des amtierenden Präsidenten übernommen. Mir wurde das Protokoll mit einem Zwischenruf des Kollegen Lennartz an die Adresse des Kollegen Schäuble vorgelegt. Da der Kollege Schäuble in dieser Rede auch sehr akzentuiert gesprochen hat, hatte ich entschieden, auf diesen Zwischenruf nicht zurückzukommen.
Nun stellt sich natürlich die Frage, ob man jetzt einseitig jemanden vorführt, um das sozusagen für die eigene Seite zu nutzen. Ich bin der Meinung: Wenn es uns gelingt, hier — auch sprachlich — vernünftig miteinander umzugehen, ist es möglich, gelegentlich eine etwas härtere Vokabel zu benutzen, sofern sie den Betreffenden nicht persönlich verletzt.
Zu einer Zwischenbemerkung hat der Kollege Johannes Gerster um das Wort gebeten.
Herr Kollege Klose, Sie haben in Ihren Ausführungen gegen den Staatsminister im Bundeskanzleramt Schmidbauer Angriffe gestartet.
Sie haben durch die Nennung von Namen — was die SPD wiederholt gemacht hat — wiederum den Eindruck erweckt, als würden hier gewisse Vorgänge parteipolitisch instrumentalisiert.
— Langsam, langsam! — Sie haben den Eindruck erweckt, als gebe es in der Parlamentarischen Kontrollkommission ungeklärte Vorgänge, weshalb der Chef des Bundeskanzleramtes für morgen zitiert werden müßte. Ich möchte dazu drei Feststellungen treffen.
Erstens. In der letzten Sitzung der Parlamentarischen Kontrollkommission wurde übereinstimmend von allen Fraktionen festgestellt, daß der Vorwurf der parteipolitischen Instrumentalisierung dieser Vorgänge nicht aufrechterhalten werden kann. Das ist auch im Protokoll nachlesbar.
Zweitens. In der Parlamentarischen Kontrollkommission ist Übereinstimmung über das weitere Handhaben dieser Akten bezüglich der Übergabe an die Gauck-Gehörde erzielt worden. Hier gibt es keinerlei Differenzen zwischen den Fraktionen.
Drittens. In der Parlamentarischen Kontrollkommission ist auch über das weitere Prozedere volle Übereinstimmung gefunden worden. Es gab keinerlei Vorwürfe in Richtung Bundesregierung oder Bundeskanzleramt, etwa was die bisherige Darlegung der Vorgänge in dieser Kommission angeht.
Ich bedaure, daß Sie mich zwingen, hier in der Öffentlichkeit klarzumachen, was in der Parlamentarischen Kontrollkommission tatsächlich beraten wurde. Ich stelle fest, daß es weder für Ihr Begehren, daß der Chef des Bundeskanzleramtes morgen kommen muß, noch für den Eindruck, den Sie erweckt haben, als sei bisher keine volle Klarheit, soweit es nach dem Sachstand möglich ist, erzielt worden, nach den einvernehmlichen Beratungen und Beschlußfassungen, in der Parlamentarischen Kontrollkommission eine Berechtigung gibt. Für Ihren Beitrag gibt es nach den Beratungen dieser Kommission keine Grundlage. Ich lege Wert darauf, das hier festzustellen, weil Sie den Eindruck erwecken, als sei hier irgend etwas offen.
Schönen Dank.
Ich erteile dem Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Kinkel, das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Klose, ich hatte heute von Ihnen als dem außenpolitisch Ausersehenen für die Scharping-Mannschaft eine ausführliche Stellungnahme zur Außenpolitik erwartet, weil Herr Scharping selber dazu nicht übermäßig viel gesagt hat — das darf ich ihm noch, bevor er geht, mitgeben. Sie sind zum Schluß noch auf einige ordnungspolitische Themen gekommen, auf die ich eingehen will.Im übrigen haben Sie im ersten Teil Ihres Beitrags in einem Horrorgemälde dem Bundeskanzler und der Bundesregierung eine Politik der Entsolidarisierung und der Spaltung der Gesellschaft vorgeworfen. Das ist natürlich das gute Recht der Opposition. Nur muß ich Ihnen entgegenhalten: Traurigerweise blieb alles in der Analyse stecken; es gab keinerlei Therapievorschläge. Mit Analyse allein kommen wir nicht weiter.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14787
Bundesminister Dr. Klaus KinkelWir brauchen in einer schwierigen Situation Therapie.
— Ohne Analyse gibt es allerdings keine Diagnose und keine Therapie. Das ist schon richtig. Aber die Analyse können wir auch selber machen. Wir bemühen uns um die Diagnose und die Therapie.Was die Wiedervereinigung anlangt, so bin ich in der glücklichen Lage, einer derjenigen zu sein, die ein klein wenig an dem mitwirken durften, was an praktischer Arbeit geleistet werden mußte, um diese Wiedervereinigung zustande zu bringen. Aus dieser Erfahrung heraus möchte ich Ihnen gern sagen, daß sich die damals getroffenen Entscheidungen, gegen die Sie sich als SPD vielfach gewandt haben, bei denen Sie uns manchmal sozusagen den Weg sehr schwergemacht haben,
nachträglich als in der Sache und im Zeitplan richtig herausgestellt haben. Die Wiedervereinigung — das ist zu schnell vergessen worden — ist ein unendlicher Glücksfall, der in jedem Fall, wie es der Bundeskanzler gesagt hat, besser ist als all das, was sich vor und während des Prozesses als Alternative abgezeichnet hat.
Ja, wir haben unsere Sorgen mit dieser Wiedervereinigung. Als ehemaliger Justizminister weiß ich das am allerbesten, da ich an vielen dieser Sorgen wahrhaftig schwer mitgetragen habe. Ich weiß auch am allerbesten, wie schwierig es ist, jetzt mit den Problemen fertig zu werden.Ich muß aber noch einmal sagen: Kritik ist natürlich ein berechtigtes Anliegen der Opposition; konstruktive Mithilfe wäre besser. Zu dieser möchte ich Sie eigentlich auffordern, auch in der Außenpolitik, die mein Hauptthema sein soll.Ihr Vorwurf, die Waigelsche Haushaltspolitik sei mitverantwortlich für die EWS-Problematik und die EWS-Schwierigkeiten, die wir hatten, ist — seien Sie nicht böse, Herr Klose — absurd. Ich glaube, von dieser Materie ein bißchen zu verstehen. An den Entscheidungen habe ich mitgewirkt. Am Entstehen dieser Entscheidungen war ich analytisch mit beteiligt.Die Probleme, die wir im Europäischen Währungssystem haben, sind keine Probleme des Systems, sondern Probleme, die aus nationalem Stolz, nationalen Vorstellungen und der daraus resultierenden Nichtbereitschaft herrühren, Währungen so zu behandeln, wie es zwingend notwendig gewesen wäre. Das ist der Hauptgrund.
— Das hat nichts mit nationaler Politik der Deutschen zu tun
— nein —, sondern es hat mit dem Floaten der Währungen untereinander zu tun. Reden Sie unsere D-Mark nicht herunter; erstens hat sie es nicht verdient, und zweitens sollten wir stolz darauf sein, daß sie hart und gut ist.
Wir hätten die zuletzt aufgetretene Situation im europäischen Währungsgefüge ohne die Entscheidungen, die durch Herrn Waigel in dieser schwierigen Nacht getroffen worden sind, nicht durchgestanden. Das muß man einmal deutlich und klar sagen. Wir sollten im übrigen über dieses Thema nicht so sehr viel reden, weil es für uns alle äußerst gefährlich ist, die Situation, die da entstanden ist, zu zerreden.Ich möchte nun gern zur Außenpolitik kommen, weil auch sie zur Haushaltsthematik gehört. Ich möchte auf ein paar Dinge eingehen, die Sie, Herr Klose, angesprochen haben und die auch Herr Scharping angesprochen hat. Leider ist Herr Scharping nicht mehr da; ich hätte ihm ganz gern ein paar Dinge gesagt.
Ich hätte gern gehabt, daß er sich das anhört, was ich ihm zu sagen habe. Ich habe seine Rede heute morgen auch angehört.
In einer veränderten Welt, meine Damen und Herren, muß deutsche Außenpolitik bewährten Kurs halten, aber auch ruhig notwendige Anpassungen vornehmen. Die Umbrüche, die wir in Europa hatten, haben zu einer für unser Land glücklichen Lage geführt: Wir sind wiedervereinigt und erstmals in der jüngeren Geschichte nur noch von Freunden umgeben — ein Schatz, den zu bewahren es wirklich gilt.Deshalb bleiben unsere Ziele richtig — Sie haben danach gefragt, wie wir die Ziele unserer Außenpolitik definieren —: die europäische Integration einschließlich unserer besonderen Verbundenheit mit Frankreich; die transatlantischen Beziehungen; die schrittweise Heranführung unserer Nachbarn in Mittel- und Osteuropa an die euroatlantischen Strukturen — eine der wesentlichsten neuen und ganz zentralen Aufgaben deutscher Außenpolitik —; die weitere Vertiefung unserer Beziehungen zu Rußland, zur Ukraine und zu den anderen GUS-Republiken ebenso wie unsere engagierte Mitarbeit in den Vereinten Nationen und unser Einsatz für die Menschenrechte und, Herr Klose, für die Anliegen der Dritten Welt.Rio war nicht nur eine Schauveranstaltung. Ich könnte mit Zahlen durchaus belegen, wie wir jedenfalls mit unseren entwicklungspolitischen Leistungen versuchen, real und auch, was unser Bruttosozialpro-
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14788 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Bundesminister Dr. Klaus Kinkeldukt anbelangt, an das heranzukommen, was dort festgelegt worden ist.
Daß dies in einer schwierigen Haushaltssituation insgesamt — bedingt durch die Umbrüche und unsere Wiedervereinigung — nicht so ganz einfach ist, wissen Sie sehr genau.Herr Klose, wenn ich etwas mehr Zeit hätte — der F.D.P. stehen nach Stunden der Debatte für mich jetzt 20 bis 25 Minuten zur Verfügung —, wäre ich gerne bereit, diese europäische Sicherheitsarchitektur hier darzustellen. Ich werde das am Freitag tun. Ich werde es danach auch dem Bundestag gegenüber machen.Die Prinzipien, von denen ich sprach, sind die Prinzipien einer Interessenpolitik, die wir machen müssen und auch — so füge ich hinzu — machen dürfen. Sie sind aber auch Prinzipien und Ausdruck einer wertorientierten und an den vielfältigen Verflechtungen unseres Landes orientierten Politik der Verantwortung.
Das ist für meine Begriffe einer der wichtigsten Grundsätze. Es geht nicht mehr allein. Unsere Verflechtungen in der Außen-, Außenwirtschafts- und Außenhandelspolitik sind enorm. Auf diese Politik ist Verlaß. Auf diese Politik hat sich bisher das Ansehen Deutschlands in der Welt gegründet. Diese Politik wird von uns behutsam, nüchtern und mit Augenmaß an die neuen Herausforderungen in einer veränderten Welt, an die Zukunftsaufgaben angepaßt.Lassen Sie mich ganz kurz auf den Problembereich Naher Osten eingehen. Ja, Sie haben recht. Ich glaube, daß das eine ungeheuer erfreuliche Entwicklung ist. Nach meinen kurz zurückliegenden Besuchen in den Ländern der Region hatte ich nicht so schnell mit diesem ersten Ansatz einer hocherfreulichen Entwicklung gerechnet. Wir werden in unserer Außenpolitik alles tun, um diesen Ansatz zu unterstützen.
Wir haben es bereits wirtschaftlich und politisch über Europa getan. Wir haben es in multilateralem Rahmen auf wirtschaftlichem Gebiet getan. Ich habe zu diesem Thema ausführlichste Gespräche sowohl mit dem Ministerpräsidenten von Israel wie vor allem auch mit dem Außenminister gehabt. Ich werde heute genau zu diesem Thema nach dieser Debatte einen erneuten Kontakt haben.Sie haben Armenien und Aserbaidschan angesprochen. Der armenische Außenminister war vor kurzem hier. Ich sehe mit großer Sorge — genauso wie Sie, Herr Klose —, was sich dort entwickelt. Wir haben in stiller Diplomatie die Möglichkeiten, die wir in diesem Zusammenhang haben, auszunutzen versucht, um auf alle Konfliktparteien einzuwirken, daß es nicht zu einer erneuten Spirale der Gewalt und des Unglücks kommt.Meine Damen und Herren, ich möchte bei der Gelegenheit einmal einen Bereich unserer außenpolitischen Entwicklungen etwas herausstreichen, der leider Gottes sehr oft zu kurz kommt, der mir aber wichtig genug erscheint, um ein paar Bemerkungen dazu zu machen: Deutschland als Kulturnation.Wir sind stolz darauf, daß wir eine große Wirtschafts- und Industrienation sind. Wir sollten aber auch stolz darauf sein und bleiben und darauf achten, daß es gerechtfertigt ist, daß wir eine große Kulturnation sind.
Deutschlands Ruf in der Welt beruht nicht zuletzt auf unserer Kultur. Das Volk der Dichter und Denker sind wir einmal genannt worden. Heute haben wir endlich auch im Bereich der Kultur die große Chance für einen neuen Anfang. Weimar liegt wieder in Deutschland.
All das, was sich an Widerstand gegen die SED in der ehemaligen DDR entwickelt hat, können wir jetzt fruchtbar machen. Meine Damen und Herren, Kultur lebt in erster Linie von Sprache. Die Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa haben uns mit einem Absinken, ja mit einer Beseitigung der Barriere eine unwahrscheinliche Chance gegeben, unsere Sprache und über unsere Sprache deutsche Kultur in diese Länder hineinzutransportieren. Ich appelliere dringend an Sie — es handelt sich hier um Haushaltsverhandlungen —, alles zu tun, damit wir nicht durch einseitige Streichungen in diesem Bereich diese gewaltige Chance verpassen.
Wir brauchen dafür die Goethe-Institute, wir brauchen die Stiftungen, und wir sollten alle Möglichkeiten, die es gibt, ausschöpfen, um dieses offene Tor, das uns geschenkt worden ist, soweit es nur irgendwie geht, zu nutzen.
Meine Damen und Herren, diese Haushaltsdebatte kann natürlich nicht ablaufen, ohne daß ich auch etwas zur Situation im früheren Jugoslawien sage. Sie ist nach wie vor schrecklich und furchtbar. Es ist sicherlich so, daß sich europäische Politik in diesem Zusammenhang nicht übermäßig mit Ruhm beklekkert hat.Auf der anderen Seite ist es so, daß wir nicht allein in die Verantwortung gezogen werden können, sondern daß es der Völkergemeinschaft leider nicht gelungen ist, mit diesem schrecklichen Töten, mit diesem schrecklichen Vergewaltigen, mit diesem Marodieren und mit den Menschenrechtsverletzungen fertig zu werden.Die Gespräche in Genf, die im Augenblick laufen, sind jedenfalls — so zeichnet es sich im Augenblick ab — die einzige Alternative, die wir haben. Obwohl wir über Vieles außerordentlich unglücklich sind, was von den Kovorsitzenden, denen unsere prinzipielle Unterstützung sicher ist, vorgelegt werden mußte, was in eine Richtung führt, die wir nicht unterstützen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14789
Bundesminister Dr. Klaus Kinkelkönnen, der gegenüber wir skeptisch sind, muß ich nochmals sagen: Es ist die einzige Chance, die wir im Augenblick haben.Eines muß allerdings klar sein: Wir dürfen keinen Druck auf die drei Konfliktparteien ausüben; sie müssen alle von sich aus bereit sein, einen Plan zum Waffenstillstand und zu der weiteren Entwicklung mitzutragen, und wir dürfen vor allem nicht die schwächste Seite, die Moslems, in eine Verhandlungslösung hineindrücken, die keine lebensfähigen Gebiete und keine lebensfähige Situation und Struktur schafft.
Wir müssen unsere Bemühungen um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union deshalb verstärken. Gerade der Krieg im früheren Jugoslawien zeigt zu deutlich, wie dringend wir wirksamere Mechanismen zur Wahrung von Sicherheit und Stabilität in ganz Europa brauchen. Im Interesse der Menschen, die dort leben und wahrhaftig genug gelitten haben, müssen die Waffen schweigen, und der Hunger muß gestillt werden.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf einen Punkt eingehen, der von der deutschen Außenpolitik in Zukunft, glaube ich, stärker als bisher gesehen werden muß: Das sind die Asien-Region und unsere Asien-Politik. Es liegt in deutschem Interesse, daß wir uns dort politisch, vor allem aber auch wirtschaftlich stärker als bisher engagieren.
Der Bundeskanzler hat durch seine Reise in verschiedene Länder dort zum Ausdruck gebracht, welche Bedeutung wir der Region beimessen.
Ich bin in 16 Monaten auf drei Asien-Reisen in vielen Ländern dieser Region gewesen, um auch nach draußen zu dokumentieren, daß hier für uns eine neue Priorität geschaffen worden ist. Dort wächst ein wichtiger Teil der multipolaren Welt von morgen heran. Unsere Wirtschaft muß stärker als bisher, glaube ich, von sich aus diese Chancen wahrnehmen.Wir haben in den ASEAN-Ländern Zuwachsraten, nach denen wir uns hier in der Bundesrepublik nur die Finger lecken können, genauso ist es in Europa. Ich glaube, daß auch deutsche Wirtschaftspolitik da bisher nicht gesehen hat, wo die Glocken hängen.Wir haben im Augenblick festzustellen, daß im Gegensatz zur Vergangenheit, wo Sicherheitsfragen sehr, sehr stark im Mittelpunkt der Außenpolitik standen und vor allem auch das transatlantische Verhältnis, das für uns von so außerordentlicher Bedeutung ist, bestimmt haben, Wirtschafts-, Außenwirtschafts- und Außenhandelsfragen ganz, ganz stark in den Vordergrund der Außenpolitik rücken.Wir müssen uns in der Bundesrepublik bei den Fragenkreisen der GATT-Uruguay-Runde, aber auch bei allen anderen wirtschaftlichen und Außenhandelsfragen in ganz besonderer Weise gegen Protektionismus und für den freien Welthandel einsetzen,
weil wir weit, weit mehr als alle anderen von einer freien Weltwirtschaft abhängig sind.Die Zahlen der Weltbank belegen das. Ich will Ihnen ein paar Zahlen nennen, die besorgniserregend sind. Ende der 80er Jahre lag der deutsche Anteil am Welthandel bei über 11 %. Die USA hatten den gleichen Anteil; das deutsche Bruttoinlandsprodukt beträgt aber nur 28 % des amerikanischen. Japan, die andere große Weltwirtschaftsmacht, hatte einen Anteil am Weltexport, der 2 % niedriger als der deutsche lag. Sein Bruttoinlandsprodukt war aber 50 % höher als das deutsche.Drückt man die Exportabhängigkeit der Mitgliedstaaten der G 7 im Wert des Exports pro Kopf der Bevölkerung aus, dann liegt Deutschland heute mit 6 500 US-Dollar weit an der Spitze, die USA liegen mit 1 480 Dollar am Ende. Japan ist vorletzter mit 2 315 Dollar. Frankreichs Abhängigkeit liegt mit 3 700 Dollar etwa in der Mitte.Wenn jemand sagt, wir seien eben Exportweltmeister, dann wird damit die entscheidende Abhängigkeit des deutschen Wohlstands von auch in Zukunft offenen Märkten überdeckt. Denn unsere Konkurrenzfähigkeit, die uns zu solchen Weltmarktanteilen geführt hat, kann sich nur auf offenen Märkten auswirken. Fazit: Wir haben ein ungeheures Interesse daran, daß die GATT-Uruguay-Runde, wie nun allgemein angepeilt, am 15. Dezember zu Ende kommt
— ich tue etwas dafür, wir tun etwas dafür — und das Blair-House-Abkommen, das jetzt im deutsch-französischen und im französisch-europäischen Verhältnis eine sehr große Rolle spielt, nicht aufgeschnürt wird.
Wir müssen die französischen Probleme sehen. Wir müssen mit ihnen fertig werden, weil es uns, wie der Bundeskanzler zu Recht gesagt hat, gar nichts nützt, wenn das deutsch-französische Verhältnis leidet. Wir brauchen beides und tun deshalb im Vorfeld des Jumbo-Rates vom 20. September alles, um zu einem Kompromiß zu kommen.Ich will zum Abschluß zu einer Frage kommen, Herr Klose, die uns schon seit geraumer Zeit gemeinsam sehr beschäftigt, nämlich zu der Frage der Outof-area-Einsätze der Bundeswehr. Ich hatte, nachdem Herr Scharping Parteivorsitzender der SPD geworden ist, den Eindruck, daß sich die Dinge in eine Richtung bewegen, wie sie aus unserer Sicht wünschenswert ist. Ich muß Ihnen sagen, daß ich zunehmend verwirrt bin.
Wir haben eine Zickzackpolitik der SPD nach draußen, die jedenfalls ich gedanklich im Augenblick nichtnachvollziehen kann. Ich bemühe mich sehr, weil ich
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14790 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Bundesminister Dr. Klaus Kinkelnach wie vor an einem Kompromiß dringend interessiert bin. Ich frage Sie einmal — der Bundeskanzler hat das angedeutet —, wie der deutsche Außenminister die zwei nächsten wichtigen Veranstaltungen, die mit diesem Thema zu tun haben, überstehen soll: Die UNO-Woche und den NATO-Gipfel.Sie waren diejenigen, die als erste gefordert haben, wir sollten in den Sicherheitsrat hineingehen. Ich habe mich angeschlossen und habe gesagt: Dann brauchen wir aber, um voll handlungsfähig zu sein, die Grundgesetzänderung.
Jetzt haben wir fast weltweit — ich kann das auf Grund meiner Gespräche so sagen — eine Unterstützung für unseren Sicherheitsratssitz. Ich reise Ende dieses Monats zur UNO-Vollversammlung. Die Kollegen werden mich fragen: Wie sieht es bei euch aus? — Der Zickzackkurs und die absolute Blockadehaltung der SPD sind leider in die Welt hinausgedrungen und bestimmen das Bild in dieser Frage, das für uns in deutschem Interesse außerordentlich wichtig und wesentlich ist.
Wie soll ich zusammen mit dem Bundeskanzler und Herrn Rühe zum NATO-Gipfel gehen, wo auch nach Ihrer Meinung eine Umstrukturierung in vierfacher Beziehung stattfinden muß: Raus aus der reinen Verteidigungskomponente, rein in die Komponente der Verhinderung bewaffneter Auseinandersetzungen, der Friedenserhaltung und der Friedensgestaltung und rein in die neue Komponente der NATO: die wichtige Aufgabe, die Umbruchländer Mittel- und Osteuropas in ihrem Sicherheitsbedürfnis an unser System heranzuführen, mit der Folge, sie unter Umständen früher, teilweise jedenfalls — Herr Klose, Sie haben danach gefragt —, in die NATO eingliedern zu können, vielleicht zu müssen, als der Weg in die Europäische Gemeinschaft gefunden werden kann? Darüber müssen wir uns unterhalten; das ist eine ganz schwierige Situation.Aber ich frage Sie: Wie soll ich vor allem unserem wichtigsten NATO-Partner, den Vereinigten Staaten, erklären — ich habe letzte Woche versucht, es dem Senator Lugar klarzumachen —, daß wir nicht in der Lage sind, als zweitwichtigster Partner in der NATO an dieser aus ihrer Sicht zwingend notwendigen Umstrukturierung teilzunehmen? Ich kann nur sagen: Das wird sehr, sehr schwierig werden.Deshalb appelliere ich wirklich ruhig an Sie, doch noch zu einer einheitlichen Meinung zu finden und den Standpunkt, den Sie bisher haben, zu überwinden.Ich will Ihnen auch sagen, warum: Mir liegt als deutschem Außenminister sehr daran, daß wir zu einem Konsens in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zurückkehren können.Wir hatten in der Nachkriegszeit des öfteren Situationen, wo es, um die Dinge voranzutreiben, notwendig war, aus diesem Konsens jedenfalls zeitweise herauszugehen: Nachrüstung, Notstandsverfassung, damals überhaupt die Schaffung der Bundeswehr.Aber man hat dann doch relativ schnell zum Konsens zurückgefunden.Wir können als jetzt größtes Land in Europa mit 80 Millionen Einwohnern, als wirtschaftsstärkstes Land, das vorsichtig in neue Verantwortungen hineinwachsen muß — das weiß ich sehr wohl —, uns nicht dadurch aus der Verantwortung stehlen, daß wir weiter nur halb mitmachen und auf der Zuschauertribüne sitzen. Das wird nicht gehen.Deshalb helfen Sie aus diesen Gründen, aber auch aus dem Grund, den ich genannt habe, nämlich daß mir sehr viel an einem erneuten Wiederfinden des Konsens in der Außenpolitik liegen muß, mit, daß das möglich ist!Ich sage das ruhig und gelassen und hoffe, daß sich in Ihrer Partei doch noch die Linie der Unterstützung durchsetzt und die Blockade beendet wird.Vielen Dank.
Ich erteile dem Kollegen Michael Glos das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrte Damen und Herren! Ich gratuliere dem Bundeskanzler sehr herzlich erstens zu seiner Rede heute morgen, zweitens zum möglichen Herausforderer Scharping. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie hätten an sich einen besseren Herausforderer verdient.
Es ist nach der heutigen Rede und nach dem heutigen Auftritt von Herrn Scharping noch ein Stück sicherer geworden, daß der Bundeskanzler nach der nächsten Wahl wieder Helmut Kohl heißt.
Ich gratuliere aber auch sehr herzlich der SPD zu engagierten und kritischen Mitgliedern. Es hat sich ein Drittel der Mitglieder an der Befragung, wer wohl der Parteivorsitzende werden soll, beteiligt, und 60 % waren gegen Herrn Scharping. Seit heute kann ich sie verstehen.
Denn Herr Scharping hat sehr wenig zur Sache gesagt. Wir würden uns einen Parteivorsitzenden der Sozialdemokraten in einer schwierigen Zeit wünschen, der zu den Problemen dieser Zeit Stellung nimmt und nicht eine Rede hält, wie er sie heute hier gehalten hat.
Lange Zeit hat sich die SPD beim Asylmißbrauch Illusionen hingegeben und sich verantwortungslos den notwendigen gesetzlichen Änderungen widersetzt, ähnlich wie Sie es jetzt wieder machen. Sie haben damit ernste Gefahren für den inneren Frieden in Deutschland heraufbeschworen. Satz für Satz, Wort für Wort mußten CDU und CSU der SPD abhandeln und abringen. Es ist wertolle Zeit ungenützt verstrichen, und dabei sind auch Milliarden verplempert worden; denn wir hätten das Tor schon länger dichter machen können.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14791
Michael GlosWenn wir heute über fehlendes Geld reden, müssen wir auch über die Milliarden reden, die unnötigerweise verplempert worden sind.
Dazu gehören die Ausgaben für die sogenannten Asylanten, für die Asylbewerber, die zu uns kommen, obwohl von vornherein klar ist, daß sie nicht politisch verfolgt sind. Daß dies so lange gedauert hat, ist Ihre Schuld.
Deswegen haben Sie nicht das Recht, über die Ausgaben des Finanzministers so zu reden, wie Sie es heute getan haben.
14 000 Asylbewerber pro Monat sind bei weitem noch zuviel. Eine solche Belastung kann Deutschland auf die Dauer nicht tragen.Nun sind vor allen Dingen die SPD-regierten Länder gefordert, rascher abzuschieben. Ich habe am Sonntag — es war, glaube ich, in der „Welt am Sonntag" — lesen müssen, daß jeder zweite Asylbewerber abtaucht, wenn es ans Abschieben geht, weil alles noch zu lange dauert und die Landesverwaltungen nicht schnell genug zupacken.Nicht zuletzt deswegen, sind alle Forderungen nach Einwanderungsquoten zum jetzigen Zeitpunkt falsch und gefährlich. Sie lösen keine Probleme, sondern verschlimmern die Probleme bei uns im Land.
— Ich komme sehr gerne darauf, Herr Kollege Professor Soell.Ein Einwanderungsgesetz kann die Zuwanderung nicht begrenzen, sondern könnte sie nur ausweiten. Sie haben recht: Wir haben jetzt schon eine jährliche Zuwanderung von ca. 600 000 Menschen; allein durch den Nachzug von Familienangehörigen kommen 250 000 Ausländer. Der Zuzug von Aussiedlern Sie haben es angesprochen — aus Ost- und Mitteleuropa umfaßt jährlich ca. 220 000 Personen. Hinzu kommen — geschätzt — 350 000 Bürgerkriegsflüchtlinge, vor allen Dingen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die wir hier aufnehmen.Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren — damit komme ich zu dem, was Herr Bundesminister Kinkel gesagt hat —, sind wir in unserem ureigensten Interesse gefordert, hier auf Lösungen zu drängen und mitzuhelfen, daß in der Welt keine Konflikte entstehen und solche Konflikte anders als mit kriegerischen Mitteln gelöst werden. Deswegen muß sich die Bundesrepublik Deutschland für den Frieden in der Welt und insbesondere in Europa voll engagieren können.
Auch bei der inneren Sicherheit erweist sich die SPD trotz der larmoyanten Klagen, die Herr Kollege Klose heute vorgebracht hat, bisher als den dramatischen Herausforderungen für Staat und Gemeinwesen nicht gewachsen.Wir müssen einmal vergleichen, wie es in bezug auf die Kriminalität in Städten wie München und Frankfurt aussieht, denn es gibt da ganz unterschiedlich geführte Landesregierungen.
In München kann man nachts noch mit der U-Bahn fahren. In Frankfurt fährt nachts keine Frau mehr allein mit der U-Bahn.
— Ich weiß, daß es in München noch viel zu verbessern gibt und daß mit einem CSU-Oberbürgermeister alles noch viel besser wäre. Aber die entscheidenden Weichenstellungen trifft die Landesregierung, und die Polizei ist ja dem Land unterstellt. Die bayerische Polizei ist erwiesenermaßen besser als die Polizeien anderer Länder, und zwar nicht deswegen, weil die einzelnen Beamten besser sind, sondern weil sie wissen, daß sie politisch gedeckt werden.
Herr Kollege Glos, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolbow?
Ausnahmsweise, weil der Kollege Kolbow Bezirksvorsitzender in Unterfranken ist.
Auch in dieser Eigenschaft, Herr Kollege Glos, erwische ich Sie öfters bei Widersprüchen. Deshalb erlauben Sie mir die Frage, wieso Sie hier München herausheben und Frankfurt in bezug auf die Sicherheit in der Stadt verteufeln, obwohl der Herr Oberbürgermeisterkandidat Gauweiler, der ja Ihrer Partei angehört, gerade München als die unsicherste Stadt der Welt bezeichnet.
Es gibt zwei Gründe. Der eine ist, daß ich Gelegenheit haben wollte, hier etwas zu Gauweiler zu sagen. Ich habe ja gewußt, daß solche Zwischenfragen automatisch kommen. Deswegen sage ich Ihnen:Erstens. Was Ihre Partei an Vorwürfen gegen Gauweiler erhebt, ist ein Saustall. Man versucht unmittelbar vor einer Wahl, wo es nicht mehr möglich ist, die Dinge aufzuklären, einen Mann ins Zwielicht zu rücken. Das ist schäbig. Das muß auch im Deutschen Bundestag einmal ausdrücklich gesagt werden.Zweitens sind Städte wie München und Frankfurt durchaus in ihren Strukturen zu vergleichen. Die Sicherheitslage ist in Frankfurt noch viel schlimmer, noch viel saumäßiger als in München. Die bayerische Polizei darf und muß gegen Drogenhändler und Drogendealer einschreiten.
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14792 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Michael GlosOb das auch in Frankfurt geschieht, ist sehr fraglich. Soviel ich weiß, haben Sie einmal in Frankfurt in der Verwaltung gearbeitet. Sie könnten eigentlich sachkundiger fragen, als Sie es getan haben.Ich möchte jetzt aber zurück zum Thema meiner Rede. Ich habe das deswegen erwähnt, weil Herr Klose hier gesagt hat, dies alles komme von der Entsolidarisierung unserer Gesellschaft; sie allein sei daran schuld, daß die Kriminalität steige. Ich glaube, da müssen wir tiefer nach den Ursachen suchen, und wir müssen darüber intensiver reden, als es in einer solchen Haushaltsdebatte möglich ist. Wir müssen auch darüber reden, wer dazu beigetragen hat, daß in unserem Land alle überkommenen Werte — all das, was wir noch als Kinder gelernt haben — in Frage gestellt worden sind, auch die Stellung der Familie in der Erziehung.Ich erinnere mich an meine allererste Rede hier im Deutschen Bundestag. Damals war ich Berichterstatter des Ausschusses für Jugend und Familie. Da hat die SPD-geführte Bundesregierung — Frau Huber hieß damals die Familienministerin — einen Jugend-und Familienbericht vorgelegt. Darin war, wenn ich mich richtig erinnere, die Kindererziehung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe beschrieben, die der Gesellschaft und nicht der Familie anheimfallen solle. Was inzwischen auch auf diesem Gebiet der Wertevermittlung geschehen ist, trägt zum Teil zu dieser Kriminalität bei, die wir heute zu Recht beklagen.
Auch all diejenigen, die von „Alltagskriminalität" sprechen, die Straffreiheit für Kleinstkriminalität fordern — und die kommen nicht aus unseren, sondern aus Ihren Reihen — oder gar die partielle Freigabe des Drogenkonsums usw. fordern, tragen dazu bei, daß die Kriminalität bei uns steigt, indem man sie verharmlost, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Um Drogenbanden und Schwerstkriminalität wirksam bekämpfen zu können, darf die Wohnung von Verbrechern nicht heilig sein. Auch hier muß ein Abhören möglich sein. Ich freue mich, daß es so aussieht, als ob sich die SPD bewege. Der Präsidiumsbeschluß klingt vielversprechend. Man darf gespannt sein, ob man diesen Beschluß dann anschließend im Vorstand und auf dem Parteitag durchsetzen kann.
— Eine Mitgliederbefragung wäre das Allerbeste. Ich glaube, da ginge es dann ein ganzes Stück eindeutiger aus als in den Zirkeln der SPD.Unsere Strafverfolgungsbehörden brauchen eine handhabbare Regelung, kein gequältes „Jein" am Ende, das nur dem innerparteilichen Frieden in der SPD dient. Meistens gehen die Dinge ja so aus, daß sie nur zur Befriedung der SPD und nicht zum Wohle der Gesellschaft angelegt sind.
Der neue Bundesgeschäftsführer, der ja einmal bayerischer Landesgruppenvorsitzender war, obwohl es das bei der SPD gar nicht gibt,
hat selten recht. Er hat in letzter Zeit lediglich einmal recht gehabt.
Ich lese immer sehr sorgfältig, was er sagt. Er hat sich entschieden gegen den Begriff „Großer Lauschangriff" gewandt und gesagt, ein Rechtsstaat greife nicht an.
Das kann man unterstreichen, und da dürfen Sie ruhig einmal für einen SPD-Mann Beifall klatschen.
Noch bedauernswerter ist der innerparteiliche Zustand der SPD, was die international gewachsene Verantwortung unseres Landes in der Weltgemeinschaft anbelangt.
Außen- und Sicherheitspolitik bestimmen das Schicksal einer Nation. Das dürfen wir nicht vergessen. Auch wenn wir zur Zeit wirtschaftliche und finanzielle Probleme haben, muß uns unsere Sicherheit auf die Dauer das Wertvollste sein. Über 80 Millionen Deutsche müssen in der Lage sein, mit Würde und Selbstvertrauen, ohne vor Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht Angst haben zu müssen, ihren Beitrag zum Weltfrieden zu leisten.Bundestagsdelegationen reisen zu den möglichsten und unmöglichsten Gelegenheiten. Auch ich war schon öfters dabei; früher hatte ich mehr Zeit. Da hat man sich immer vertragen, wenn man im Ausland war und es um Angelegenheiten ging, die unser Land betrafen. Daß man sich ausgerechnet dann, als man die deutschen Soldaten in Belet Uen besuchen wollte, die in einer Umbruchzeit einen wichtigen Dienst für unser Land tun, nicht darauf verständigen konnte, eine gemeinsame Delegation des Verteidigungsausschusses zu bilden, das war schäbig, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Die ganze Welt hat in uns Vertrauen gesetzt und die deutsche Einheit begrüßt.
— Sie kommen nicht mehr dran. Sie dürfen gelegentlich in Unterfranken mit mir reden.
Damit ist auch unsere Verantwortung gewachsen. Wollen wir jetzt einen gefährlichen Sonderweg
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14793
Michael Glosgehen, indem wir unsere Solidarität und unsere Verantwortung verweigern? Ich bin der festen Überzeugung — dies drängt sich aus der Geschichte auf —: Die SPD hat offensichtlich aus der Geschichte nichts gelernt. Sie ist bereit, eine deutsche Sonderrolle, die verhängnisvoll sein kann, in Kauf zu nehmen.Wir wollen gemeinsam mit unseren Verbündeten in einem Boot oder — besser — in einem Flugzeug sitzen bleiben und nicht aussteigen müssen, z. B. aus den AWACS-Systemen, wenn wir gefordert sind; denn wir wollen nicht, daß sich das Bündnis auflöst, das uns so lange geschützt hat.
Ich weiß, Herr Klose, daß Sie sich bemüht haben und immer noch bemühen, hier einmal zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. Vielleicht gelingt es noch. Die Rolle, die die SPD dabei spielt, ist, wie ich meine, verhängnisvoll. Wir haben hier kein imperatives Mandat, sondern wir haben gewählte Bundestagsabgeordnete, die in ihrer Verantwortung über diese Dinge entscheiden sollten. Nicht Parteitage sollen nach meiner Ansicht bestimmen, wie künftig der Kurs unseres Landes ist.
Der Eindruck ist abenteuerlich, wenn man die Stimmen innerhalb Ihrer Partei — ich zitiere hier nur prominente Stimmen — wahrnimmt. Man streitet sich, wie man es sonst nur über den Stand der Kesselflicker gesagt hat. Frau Wieczorek-Zeul lobt ihren Kollegen Struck als „Lautsprecher für die CDU", weil dieser völlig zu Recht festgestellt hat — ich zitiere:Die SPD beschließt die heile Welt. Irgendwann steht sie wieder mit dem Rücken an der Wand wie in der Asylfrage.Es ist höchst gefährlich, meine ich, mit dem Gedanken zu spielen, daß die SPD mitregieren oder gar regieren sollte. Sie sind nicht einmal Ihrer Oppositionsrolle gewachsen.
Deswegen hat, wie ich meine, auch der SPD-Fraktionsvorsitzende in NRW — immerhin euer stärkster Verband, mit den meisten Mitgliedern —, Friedhelm Farthmann, mit Recht gesagt:Bei den großen politischen Streitfragen der letzten zwei Jahre lag die SPD leider immer genau daneben.
Recht hat der Mann.
Wenn man die Auseinandersetzungen in der SPD verfolgt, dann fragt man sich: Wie soll das Ganze ausgehen? Möglicherweise müssen Sie Blauhelmtruppen bei der Sozialistischen Internationale anfordern, damit der Streit in Ihrer Partei geschlichtet wird, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Schauen Sie andere sozialistische oder Arbeiterparteien in der Welt an, wie sie sich zu diesen Fragen bekennen! Fragen Sie die und holen Sie die zum Schlichten!Die Zerrissenheit der SPD in allen wichtigen Fragen unseres Landes ist offenkundig, z. B. in der Energiepolitik. Hier möchte man gleichzeitig den Kohlendioxidausstoß nennenswert verringern und immer noch wettbewerbsfähig Strom erzeugen. Wie das ohne Kernenergie gehen soll, hat allerdings bis dato noch keiner erklärt.Wenn wir über den Wirtschaftsstandort Deutschland reden, müssen wir auch über den Preis der Energie reden. Dessen sollten Sie sich dringend besinnen und sich zusammensetzen. Sie handeln doch immer nach dem Motto: Strom kommt aus der Steckdose, Lohn kommt aus der Lohntüte, und Frieden kommt aus der innerparteilichen Diskussion der SPD.
So einfach ist die Welt nun einmal nicht.Ich möchte jetzt sehr gern auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik kommen, allerdings in einer anderen Art und Weise, als es Frau Matthäus-Maier hier getan hat. Ich bin der Meinung, daß all das, was Herr Dr. Schäuble gesagt hat, zutreffend war. Ich habe eine Bitte an die Frau Kollegin — Sie werden sie ihr sicher ausrichten —: Sie möge sich doch einmal das Videoband anhören und ansehen und versuchen, mit Abstand auf sich wirken zu lassen, was sie alles, in welcher Form und in welcher Art, im Bundestag oder bei Interviews, etwa morgens im Deutschlandfunk, von sich gegeben hat.
Das ist wirklich ganz schlimm. Es ist ganz schwer zu ertragen. Auch sie greift dabei Menschen an.
Ich werde meine Rede nachlesen, ich werde sie mir sogar anschauen, weil ich immer gerne selbstkritisch bin und versuche, dazuzulernen. Das ist nicht so wie bei Ihnen, daß wir der Meinung sind, wir könnten alles immer besser. Ich bin vor allen Dingen auch gerne bereit, von anderen zu lernen,
insbesondere aus der eigenen Partei. Es gibt ungeheuer viele gute Vorbilder.Ich möchte gern einmal in der Wirtschaftspolitik so gut werden, daß man sagt, ich bin irgendwo — zumindest gedanklich — in den Fußstapfen von Ludwig Erhard. Das ist mir immer lieber, als in den Fußstapfen von Jürgen Möllemann zu sein. Das ist bei der Öffentlichkeitsarbeit vielleicht besser.Aber Sie sollten vor allen Dingen bei Helmut Schmidt nachlesen, was er über die Verschuldung gesagt hat, als er sich am Ende seiner Kanzlerzeit noch einmal mahnend an seine Partei gewandt hat. Er hat gesagt: Man muß noch tiefer in das soziale Netz
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14794 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Michael Gloseinschneiden, wenn man die wirtschaftlichen Grundlagen wieder sichern will.
Was richtig ist, kann man nicht oft genug sagen. Es hat ja keinen Sinn gehabt, daß man es euch so oft gesagt hat. Ihr habt euch bisher nicht daran gehalten. Wir werden es so lange sagen, bis Sie sich daran halten.
Vielleicht mögen Sie Schmidt nicht so sehr. Er war als Kanzler nicht so sehr geliebt von seiner Fraktion und noch weniger geliebt von seiner Partei;
ich erinnere mich noch an die erste Bank hier im alten Plenarsaal, auf der man zwar nebeneinander gesessen, aber sich gegenseitig den Rücken zugewandt und sich nicht angesehen hat.
Ich kann aber auch Matthöfer zitieren. Ich werde es Ihnen gerne einmal zuleiten, damit Sie ausführlich lesen können, was er am 7. Mai 1982 in der „Zeit" zum Abschied aus seinem Amt geschrieben hat. Es sind die Gedanken eines scheidenden Finanzministers über die Sozialausgaben usw.
Ich zitiere nur einen Satz:Die überproportionale Dynamik der Sozialausgaben, die in hohem Maße durch gesetzliche Verpflichtungen abgesichert sind, ist fast vollständig der finanzpolitischen Steuerung entzogen, so daß von ihr ein Druck auf Einschränkungen bei anderen, insbesondere auch bei den investiven oder sonst wachstumfördernden Ausgaben ausgeht.Er empfiehlt hier vor allen Dingen einzusparen. Er schreibt dort, daß das Sozialsystem dazu verleitet, daß immer mehr Menschen nicht ihre eigenen Kräfte entfalten, sondern sich in dieses System flüchten, und er schreibt über die Krankenquote usw., als ob er uns damals schon fast die Karenztage empfehlen wollte. All das bleibt richtig. Es gibt offensichtlich auch Sozialdemokraten, die das erkennen.Wer sagt, wir würden sozial so stark abbauen, der redet wider die Wahrheit. Nicht durch Einsparungen im sozialen Bereich gerät der soziale Friede in Deutschland in Gefahr, sondern der soziale Friede in Deutschland gerät dann in Gefahr, wenn wir zuschauen, wie sich die finanz- und wirtschaftspolitischen Grundlagen selbst auflösen, wenn wir sie nicht stabilisieren und wenn wir das Netz nicht wieder festigen — auch wenn es nicht mehr ganz so dicht ist —, daß es insgesamt nicht gefährdet ist.Die Ausgaben für das Sozialsystem in Deutschland galoppieren. 1992 wurden für soziale Zwecke bundesweit mehr als 1 000 Milliarden DM ausgegeben. Dies war ein Drittel des Bruttosozialprodukts.Der SPD-Vorwurf einer sozialen Demontage ist deshalb gleichermaßen verfehlt und unehrlich. Hier in Bonn stellt sich die SPD als Wahrerin der Interessen der kleinen Leute dar. Im Saarland, wo die SPD leider absolut regiert, gibt es keinen Mitaktionär von der F.D.P., anders als in Rheinland-Pfalz. Deswegen fand ich es nicht gut, daß Herr Scharping nicht auf den Parteivorsitzenden einer Partei gewartet hat, die Aktien in seiner eigenen Firma hat.
Im Saarland jedenfalls, wo der Herr Lafontaine allein schalten und walten kann, weigert er sich, dort eine Nullrunde bei den Ministergehältern und den Gehältern für sich selber einzuführen. Das zeigt, wie Sozialdemokraten, wenn sie schalten und walten können, die kleinen Leute behandeln.
— Sie haben recht, Herr Kollege. Der Wein in der Toskana wird immer teurer. Das wird nur dadurch ein bißchen abgemildert, daß jetzt die Lira gegenüber der Mark erheblich gefallen ist.Eine schlechte Alternative zu den vorgeschlagenen Einsparungen im sozialen Bereich wäre es, Steuern und Abgaben noch weiter zu erhöhen und damit der Wirtschaft noch mehr Geld zu entziehen, um es über die Umverteilungsmaschinerie des Staates in unproduktive Verwendung zu lenken.
Daß dies der falsche Weg ist, können Ihnen alle Experten sagen.Nun ein Wort zur Verschuldung, weil Sie wieder versucht haben, Theo Waigel die Schuld für die hohen Defizite anzulasten.
Was man hier tut, ist sehr wenig ehrlich.
Ich möchte hier nur noch einmal ganz kurz die Zahlen darstellen.Die Gesamtverschuldung aller öffentlichen Haushalte von rund 1 500 Milliarden DM betrifft zu 670 Milliarden DM den Bundeshaushalt und damit den Verantwortungsbereich von Theo Waigel. Über 300 Milliarden DM hat die Union, Herr Stoltenberg damals, von der damaligen SPD/F.D.P.-Koalition geerbt. So muß ich schon sagen. Es hilft alles nichts, Herr Solms. Ich wollte es eigentlich jetzt weglassen. Aber ich habe ehrlich, wie ich bin, gedacht: Es muß dazugesagt werden.
— Wir haben dies jedenfalls geerbt. Ich muß aber dazusagen: Die Finanzminister waren damals immer von der SPD.
Trotz vermeintlich unsolider Finanzpolitik beim Bund hängen die SPD-regierten Bundesländer Saar-
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Michael Glosland und Bremen seit Jahren nur zu gern am Finanztropf des Bundes.
Hier lautet das Motto: Auf Waigel schimpfen, aber vom Bundesfinanzminister leben und hemmungslos auf Kosten der Steuerzahler kassieren, wie wir ja am Beispiel der Landesregierung des Saarlandes vorhin gehört haben.Der Gipfel der finanzpolitischen Unglaubwürdigkeit ist es, wenn die SPD, vertreten durch Frau Matthäus-Maier, mit nicht mehr zu überbietender Penetranz — ich weiß nicht, ob ich jetzt zu viel gesagt habe — den Bundesfinanzminister zu mehr Sparsamkeit auffordert, während gleichzeitig die Sozialpolitiker aus dem Bund und den Ländern, allen voran Rudolf Dreßler, den mit den vorgeschlagenen Einsparungen verbundenen Kaufkraftentzug beanstanden. Befürchtungen, daß sich durch entschlossene Haushaltskonsolidierung die Nachfrageschwäche in der Wirtschaft verstärken wird, halte ich für falsch. Vertrauen, das dadurch entsteht, ist für die Wirtschaft allemal besser.Sie haben auch heute wieder in vielen Arien die Kürzungen beklagt. Man hat beklagt, es gebe zuwenig Geld für die Forschung, man beklagt, es gebe zuwenig Geld für die Entwicklungshilfe, man beklagt überall, es gebe zuwenig Geld, und gleichzeitig sagt man: Der Finanzminister spart zuwenig. Dies ist ein widersprüchliches Verhalten.
Sie müssen hier einmal ein ehrliches Gesamtkonzept vorlegen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Die Bundesregierung hat eine Reihe von Maßnahmen im Bundeshaushalt 1994 ergriffen, um nicht nur zu konsolidieren, sondern auch die Wirtschaft anzukurbeln. Das halte ich für sehr wichtig. Ich erinnere an die Aufstockung der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" und für die Städtebauförderung sowie die Verlängerung des Schuldzinsenabzugs beim eigengenutzten Wohnungsbau.Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Standortsicherungsgesetz, das noch kurz vor der Sommerpause den Vermittlungsausschuß passiert hat und mit dem die Sätze bei der Körperschaftsteuer und der Einkommensteuer verringert worden sind. Dies war dringend erforderlich, um die internationale Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft zu verbessern.Ich unterscheide bei Kapital, das zu uns strömt und das wir brauchen, nicht zwischen Investitionskapital und solchem Kapital, das möglicherweise — das ist legitim — aus spekulativen Gründen ins deutsche Bankensystem und in die D-Mark geht. Wichtig ist, daß uns internationales Kapital zur Verfügung gestellt wird, daß wir wieder Vertrauen an den internationalen Devisenmärkten genießen und daß vor allen Dingen die Wirtschaft stark wird und unsere D-Mark stark bleibt, und daß vor allen Dingen im Interesse von zig Millionen kleinen Sparern, die den Ertrag ihrer Lebensleistung in der D-Mark angelegt haben und erwarten, daß sie später vom Ertrag ihrer Arbeit leben können.Deswegen ist die Sicherung unserer Währung, unserer D-Mark, eines der Hauptziele dieser Bundesregierung.
Wenn ich die abenteuerlichen Forderungen von Herrn Scharping Revue passieren lasse, der heute morgen an dieser Stelle gesagt hat, es komme ja überhaupt nicht darauf an, wie die Pflegeversicherung finanziert wird, die Hauptsache sei, daß sie kommt, dann kann ich nur sagen: Wir machen uns Gedanken über eine solide Gegenfinanzierung. Es ist sozialistisch, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn man sich nie Gedanken macht, woher das Geld kommt, das man ausgibt. Wenn wir das so machen, dann wird die D-Mark bald den gleichen Wechselkurs wie der Rubel jetzt haben.
Das bringt sehr wenig. Deswegen werden wir zu verhindern wissen, daß andere an die Notenpresse kommen, um so zu handeln, wie Sie dies gern hätten.Da ich beim Thema Wirtschaft bin, möchte ich doch auch noch sagen, daß hier in der Vergangenheit vielleicht nicht allein der Staat und nicht allein der Bund und auch nicht allein die Länder sowie auch nicht allein die Opposition nicht sorgfältig genug waren. Durch einen jahrelangen Boom hat man es versäumt, die Konkurrenzfähigkeit immer wieder richtig zu justieren und dabei zu beachten, daß nicht nur wir vorhanden sind, sondern auch unsere Wettbewerber besser geworden sind. Vor allem auch die Tarifpartner müssen in Zukunft ihre Hausaufgaben wieder besser machen.Rainer Nahrendorf hat im „Handelsblatt" kürzlich zu Recht darauf hingewiesen, daß Wirtschaft, Unternehmen, Gewerkschaften und Arbeitgeber bei der Diskussion über die Ursachen der deutschen Struktur-und Kostenkrise im Glashaus sitzen.Die lang andauernde Aufschwungphase der 80er Jahre hat die Aufmerksamkeit auch der Unternehmen für sich abzeichnende Strukturveränderungen geschwächt. Wir brauchen einen Aufbruch zu neuen Märkten, eine stärkere Kundenorientierung, mehr Produktivität und vor allem einen erfolgsorientierten Mitarbeitereinsatz, wie uns andere Länder dies vormachen.Legale Arbeit muß in Deutschland wieder bezahlbar werden. Ohne eine Lohnpolitik, die sich sowohl im Westen als auch im Osten unseres Landes stärker am ökonomisch Machbaren orientiert, werden wir von der hohen Arbeitslosigkeit nicht herunterkommen.
Diejenigen, die 1992 den Streik im öffentlichen Dienst vom Zaun gebrochen haben, müßten eigentlich nicht mehr schlafen können, wenn sie daran denken, was sie damals angerichtet haben. Sie haben
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14796 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Michael Glosuns die Suppe eingebrockt. Sie haben dafür gesorgt, daß die Lohnabschlüsse viel zu hoch waren. Sie haben nicht nur die öffentlichen Kassen ruiniert, sondern sie haben vor allem falsche Vorgaben für die anderen Tarifbereiche gemacht. Die folgenschweren Auswirkungen müssen wir heute miteinander ausbaden.
Es war die SPD, die die Streikenden damals noch ermutigt hat. Auch das ist so gewesen, und auch das muß in einer solchen Generalabrechnung gesagt werden.Unsere wirtschaftlichen Probleme werden sich dauerhaft nur lösen lassen, wenn wir wieder flexibler werden, sowohl bei der Arbeitszeit als auch in den Tarifabschlüssen.Es ist besonders wichtig, daß wir in Zukunft wieder stärker das Gebot des nötigen Abstands zwischen Lohnersatzleistungen und Lohn einhalten. Ich halte nichts davon, daß man bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen das gleiche Geld verdienen kann wie mit legaler, privatwirtschaftlich organisierter Arbeit. Da fehlt der Anreiz. Ich weiß von vielen Unternehmungen, auch in den neuen Bundesländern, die keine Arbeitskräfte bekommen, weil man lieber in der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bleibt. Wenn hier die Tarifpartner nicht handeln, dann sind die Bundesregierung und der Bundesgesetzgeber gefordert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wo steht z. B. geschrieben, daß in der Bauwirtschaft im Sommer nicht 45, 50 oder was weiß ich wieviel Stunden pro Woche gearbeitet werden kann? Andere Länder machen uns vor, wie man solche Probleme löst.Es bringt auch nichts, wenn wir die vorhandene Arbeit nur auf mehr Schultern verteilen, wie uns dies die SPD immer wieder empfiehlt und wie dies Herr Lafontaine zuletzt getan hat, der ja jetzt der Experte von Herrn Scharping für diese Fragen ist. Wir müssen dafür sorgen, daß es wieder mehr Arbeit bei uns im Land gibt, indem die Arbeit insgesamt und auch die Arbeit in der Dienstleistung für alle bezahlbar wird.Wir stehen zugegebenermaßen vor einem Berg von Problemen. Aber wer anders, frage ich Sie, als diese Koalition könnte diese Probleme erfolgreich lösen?
Das Ausland traut uns bis jetzt noch. Die Stärke unserer D-Mark beweist dies.Ich darf zum Abschluß zitieren, was der Präsident der Fuji-Bank, Herr Hashimoto — nachzulesen im „Handelsblatt" vom 14. Juni 1993 —, gesagt hat:Was machen einige Prozente mehr oder weniger öffentliche Defizite bei einem so einmaligen Vorgang wie der friedlichen Vereinigung des Vaterlandes aus? Daß ein solches Jahrhundertereignis nicht wirtschaftlich, finanziell und psychologisch programmgemäß ablaufen kann, wen wundert das. Wir sehen Deutschland, wie es in einigen Jahren mit der zusätzlichen Wirtschaftskraft im Osten dasteht.Helfen wir insgesamt mit, daß alle, die Vertrauen in unser Land setzen, nicht enttäuscht werden!Danke schön.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Dr. Hans Modrow das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie sagt doch der Volksmund? Not macht erfinderisch. Betrachtet man den angebotenen Haushaltsplan 1994, dann schaut die Not aus allen Ecken. In Not ist die Bundesregierung geraten, weil sie gar nicht so viele Ausreden finden kann, wie notwendig wären, um das Desaster dieses Planes zu begründen. Woran es allerdings weniger mangelt, sind neue Wortschöpfungen. Die Wohlstandsansprüche seien gar zu hoch, heißt es. Kein Wort aber davon, daß nunmehr der Sozialstaat radikal demontiert werden soll. Da ist die Rede vom Sparhaushalt, von Entschlackung, aber ohne zu sagen, auf wessen Kosten die entstandene Lage entspannt werden soll.Die etwas zeitverschobene wirtschaftliche Rezession löst allgemein tiefe Erschütterungen in der Bundesrepublik aus, die in Ostdeutschland besonders nachwirken.Wenn heute die Konjunktur wieder entdeckt wird, dann ist dies weniger als ein Schneckentempo und vielleicht bald wieder ein Krebsgang, aber nicht die Wirtschaftslokomotive, auf die die Regierung, die sich aufgefüllte Kassen wünscht, hofft.Aber der Herr Bundeskanzler hat recht, wenn er sagt, auch ohne die deutsche Einheit wäre die Bundesrepublik heute vor Fragen gestellt, die sich eben auf den Nenner „Abbau des Sozialstaates" bringen lassen.Kollege Werner Schulz lebt sehr wohl in dieser Bundesrepublik Deutschland, die wirklich existiert, und hat sie lediglich realistisch dargestellt. Aber der Herr Bundeskanzler betrachtet sie eben aus Wünschen und vielleicht auch aus Versprechungen, die nicht erfüllt worden sind. Und wer Weimar erst jetzt wieder in Deutschland sieht, muß es wohl erobert haben. Denn wo soll es sonst hergekommen sein? Damit erklärt sich vielleicht auch, warum man die Nationale Volksarmee der DDR nunmehr als „in fremden Streitkräften gedient" betrachtet.In nur drei Jahren wurde die ostdeutsche Industrie zerstört. Sie reduzierte sich um mehr als zwei Drittel und produziert heute weniger als das größte westdeutsche Industrieunternehmen, Daimler-Benz. In der „IG Metall" wurde das treffend mit den Worten umschrieben: „Ruinen schaffen ohne Waffen."Nicht das Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands hat demzufolge Priorität, sondern die Zementierung und Ausdehnung der Macht in Bonn. Das Rezept der Bundesregierung kann man vielleicht in dem Satz zusammenfassen: Das Volk soll den Gürtel enger schnallen. Im Inland trifft es die ohnehin sozial Schwachen und Benachteiligten, deren Zahl aber mit einer solchen Politik noch steigen kann, und
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14797
Dr. Hans Modrownach außen entfernen sich Großmachtdenken und militärisches Imponiergehabe immer mehr von dem Gebot solidarischer Unterstützung, als ob damit die globalen Probleme gelöst werden könnten.Der Gesamthaushalt wie die Einzeletats für Auswärtiges, Verteidigung und Wirtschaftliche Zusammenarbeit machen eines überdeutlich: Die Bundesregierung versucht diesem gewaltigen Problemberg mit den falschen Strategien beizukommen, als ob man ein Feuer löschen kann, wenn die Feuerwehr in Urlaub ist. Höhere Ausgaben vor allem bei den kleineren und mittleren Einkommen, Abbau von Mitbestimmungsrechten und Gestaltungsmöglichkeiten, weitere Verdrängung von Frauen aus der Erwerbstätigkeit, massiver Arbeitsplatzabbau durch Produktionszerschlagung bzw. neue Produktionstechnik, die nur die Profitrate erhöht. Sie machen den Profit noch mehr zur uneingeschränkten moralischen Norm der Gesellschaft, können aber deren Probleme nicht lösen. Es klingt wie ein Hohn, wenn gesagt wird, die Stimmung sei schlechter als die Lage.„Neue internationale Verantwortung" ist drei Jahre nach dem Anschluß der DDR vor allem das Synonym für die Bereitschaft zu weltweiten Kampfeinsätzen der Bundeswehr, obwohl das Grundgesetz sie untersagt. Rund 59 % der Ostdeutschen und 38 % der Westdeutschen sind gegen Blauhelmmissionen; gegen Kampfeinsätze sind rund 57 % der westdeutschen und sogar 73 % der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger. Längst geht es nicht mehr um UNO-Anbindung und humanitäre Ideen. Die großen Parteien dealen doch nur um die Modalitäten: einfache oder Zweidrittelmehrheit, darauf reduziert sich inzwischen die einst groß angekündigte verfassungsrechtliche Diskussion.Die Bundesregierung will alle Möglichkeiten militärischer Einsätze eröffnen. Dabei lenkt sie ihr Augenmerk zunehmend auf die Entwicklung der WEU als einer westeuropäischen Streitmacht. Alle dahin gehenden Investitionsleistungen sind im Verteidigungshaushalt vorgesehen. Wir sind für ihre Streichung.Die SPD bietet in dieser Frage ein etwas unklares Bild. Immerhin geht es letztlich um die Frage Krieg oder Frieden. Wer dem militarisierten Kurs der Bundesregierung nicht entschieden entgegentritt, verliert an Glaubwürdigkeit. Es ist heute schon soviel appelliert worden, ich möchte es in Richtung meiner Kolleginnen und Kollegen von der SPD auch tun: Kehren Sie zurück zu einem klaren Nein gegenüber jeglichen militärischen Aktionen der Bundeswehr außerhalb der Landesgrenzen! Ob UNO-Auftrag oder nicht, es darf nicht sein, daß eines Tages militärische Interventionen unter deutscher Beteiligung stattfinden.Die UN-Operation in Somalia, an der sich die Bundesrepublik mit Soldaten beteiligt, wird inzwischen über die USA und andere hinaus wohl weltweit als Desaster eingesehen. Ist denn eine humanitäre Hilfe glaubwürdig, wenn der deutsche Militäreinsatz noch in diesem Jahr 184,4 Millionen DM verschlingt, während für Entwicklungshilfemaßnahmen in Somalia 35 Millionen DM ausgegeben werden? Wir verlangen sofortige Beendigung des Bundeswehreinsatzes in Somalia und Umwidmung aller dafür vorgesehenen Mittel für wirkliche Entwicklungshilfe.In seiner Regierungserklärung am 30. Januar 1991 versprach der Herr Bundeskanzler — ich zitiere —: „Wir werden als vereinigtes Deutschland unsere Entwicklungshilfe auch in Zukunft steigern." Er hat auf der Rio-Konferenz für die Bundesrepublik die 0,7 % des Bruttosozialprodukts bekräftigt, die für Entwicklungshilfe aufgewendet werden sollen. Der jetzige Haushaltsentwurf dokumentiert den Wortbruch. Ganze 0,36 % sollen es 1994 sein. Die Differenz zum UNO-Beschluß könnte, wie uns scheint, ohne Beeinträchtigung der Sicherheit des Landes aus dem Verteidigungshaushalt gewonnen werden. Bekämpfung von Hunger und Elend in der Dritten Welt und die Entschärfung des Nord-Süd-Konflikts bleiben ebenso ein Thema für Wahl- und Sonntagsreden wie die Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit im eigenen Haus und in Westeuropa.Ein gesamteuropäisches Konzept, das von den großen Potenzen des vereinigten Deutschland ausgeht und z. B. die Strukturen zwischen der ehemaligen DDR und osteuropäischen Unternehmen wiederherstellt und weiterentwickelt, ist für die Regierung kein Thema mehr. Dabei wird völlig verkannt, daß nach den Umbrüchen im Osten auf Gesamteuropa zukommenden Problemen nicht mit den auf Westeuropa zugeschnittenen Instrumentarien von Maastricht beizukommen ist. Diplomatischer Aktionismus dagegen in alle Himmelsrichtungen, ins Baltikum, nach Moskau und Kiew, nach Jugoslawien mit vorschneller Anerkennung Sloweniens, Kroatiens und Bosniens mit jetzt gravierenden Folgen.Jede Forderung nach Ablösung überkommener NATO-Konzepte, nach Kürzung des Verteidigungsetats bzw. nach Stopp der Entwicklung bzw. der Produktion neuer Waffensysteme wird abgeschmettert. Das NATO-Langzeitprogramm für die 90er Jahre gilt ebenso wie die Programme für den alten oder neuen Jäger 90, wie man ihn auch immer nennt. Auch wenn Herr Waigel im Rundumschlag auf das Thema „Jäger 90" reagiert, die Forschung geht weiter, und die Kosten dafür sind jetzt um 50 % gestiegen. Die neuen Bundeswehrrichtlinien verkünden jetzt die Durchsetzung deutscher Wertvorstellungen und Interessen. Da ist es dann aber auch keine Überraschung, wenn auf den instinktlosen Vorschlag des deutschen Verteidigungsministers, in Polen gemeinsame Manöver durchzuführen, von polnischer Seite prompt eine Absage erfolgt.NATO am Bug und NATO mit Rußland! Der erste Schritt muß falsche Zeichen setzen, und der zweite macht sichtbar: Die NATO ist historisch überholt, und der Feind ist verlorengegangen. Der KSZE-Prozeß stagniert, aber gerade er würde dringend neue Impulse brauchen. Bis auf den heutigen Tag gibt es keine originäre deutsche Abrüstungsinitiative, keine beispielgebende deutsche Konversionspolitik und nicht einmal ein Rüstungsexportverbot außerhalb der NATO, obwohl gerade damit wesentliche Voraussetzungen zur Kriegsführung bestimmter Staaten beseitigt würden.So muß man feststellen: Die Bundesregierung hat es geschafft, daß es über die heutigen außenpolitischen und militärischen Positionen dieser Republik zunehmend Sorgen gibt — national wie international. Die
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14798 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dr. Hans ModrowBundesregierung hat es geschafft, daß sich wieder Angst in Deutschland und vor Deutschland zu verbreiten beginnt.Es muß verhindert werden, daß die Gräben in unserer Republik und zu dieser Republik tiefer werden, das menschliche Klima frostiger wird. Es müssen innen- wie außenpolitisch andere Schwerpunkte gesetzt werden. Der Zwei-plus-vier-Vertrag, der die Bundesregierung darauf verpflichtet, daß von deutschem Boden kein Krieg ausgehen darf, muß eingehalten werden. Internationale Einsätze der Bundeswehr dürfen nicht zugelassen, Rüstungsexporte müssen sofort und vollständig verboten werden.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Hans-Gerd Strube das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Verteidigungshaushalt ist weiter auf Talfahrt. Nach einer Absenkung um 2,3 Milliarden DM in diesem Jahr sollen es 1994 nochmals 1,25 Milliarden DM weniger sein. Vorhanden wären dann noch 48,6 Milliarden DM, die allerdings von den Haushaltspolitikern noch kritisch hinterfragt werden.Damit nicht genug; die Finanzplanung der Bundesregierung sieht für 1995 eine weitere Absenkung auf 47,5 Milliarden DM vor. Dabei soll es dann bleiben. Das wird auch höchste Zeit, denn eine geordnete Umstrukturierung der Bundeswehr und ihre Ausrichtung auf ein verändertes Aufgabenspektrum sowie ein ausgewogener und zeitgerechter Aufbau der Bundeswehr in Ostdeutschland bedürfen einer finanziellen Mindestausstattung — und dies auch an richtiger Stelle.
Ich meine damit das Verhältnis der Betriebsausgaben zu den investiven Ausgaben für Forschung und Entwicklung, Beschaffung und Infrastruktur, also, wenn Sie so wollen, die Struktur des Verteidigungshaushaltes. Der Vorschlag der Bundesregierung sieht ein weiteres Absenken der investiven Ausgaben um 1,6 Milliarden DM auf einen Anteil von nur noch knapp 21,5 % vor.Bei den Betriebsausgaben nehmen die Personalausgaben mittlerweile fast 52 % des Plafonds in Anspruch, obwohl seit 1991 in Ost und West rund 200 000 Soldatenstellen und rund 30 000 Stellen für Zivilpersonen abgebaut sein werden.Dies ist eine Entwicklung, die mich als Berichterstatter für die überwiegend investiven Ausgaben des Verteidigungshaushaltes beunruhigt. Denn es wäre ein Trugschluß, zu meinen, daß die veränderte Sicherheitslage Deutschlands den investiven Teil des Verteidigungshaushalts zu einer vernachlässigbaren Größe machte.Unser Land ist zwar zur Zeit nicht unmittelbar bedroht, eine Beteiligung der Bundeswehr an militärischen Maßnahmen ist aber wahrscheinlicher geworden. Gleichzeitig verlangen wir von der Bundeswehr, die politische Handlungs- und BündnisfähigkeitDeutschlands und die Fähigkeit zur Verteidigung der Bundesrepublik und ihrer Verbündeten zu erhalten, militärische Konflikte auch in Zukunft von Deutschland fernzuhalten und an internationalen Maßnahmen zur Friedenssicherung und an humanitären Aktionen teilzunehmen. Dazu, meine Damen und Herren, bedarf es entsprechend befähigter Streitkräfte.Der Einsatz der Bundeswehr in ihrem erweiterten Aufgabenspektrum ist nur zu rechtfertigen, wenn die Soldaten auch auftragsgerecht ausgestattet sind.
Die qualitativen Anforderungen an das Material können nicht reduziert werden. Nicht zuletzt wollen wir auch alle, daß die Lebensverhältnisse der Soldaten in den neuen Ländern denen im Westen angeglichen werden. Das alles kostet auch in Zukunft viel Geld und ist überwiegend dem investiven Bereich des Verteidigungshaushalts zuzuordnen. Der Trend eines sinkenden Anteils dieses Aufgabenbereichs muß deshalb gestoppt und umgekehrt werden. Ich fordere die Bundesregierung auf, dem im nächsten Jahr bei der Fortschreibung der Finanzplanung Rechnung zu tragen. Außerdem erwarte ich schon für den Haushalt 1994 zu den vor uns liegenden Beratungen Vorschläge zur Verbesserung der Situation. Dabei bitte ich, alle Möglichkeiten, auch die einer weiteren Flexibilität bei der Haushaltsführung, auszuloten.Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung ist vor allem gekennzeichnet durch die Verkleinerung der Bundeswehr auf einen Friedensumfang von 370 000 Soldaten ab 1995. Dazu werden rund 44 000 Soldatenstellen wegfallen. Parallel dazu sieht der Entwurf den Wegfall von mehr als 10 000 zivilen Personalstellen vor. Gleichzeitig soll es aber auch im Personalbereich einige Verbesserungen geben, überwiegend für Unteroffiziere und technische Beamte.Der Personalabbau führt aber nicht nur zu Einsparungen, meine Damen und Herren, sondern zeitigt auch Mehrausgaben. So sind für die Übergangsversorgung nach dem Tarifvertrag über einen sozialverträglichen Personalabbau erstmals ca. 280 Millionen DM mit steigender Tendenz vorgesehen.Neu veranschlagt im Einzelplan 14 sind auch die Maßnahmen der Bundeswehr im Zusammenhang mit den internationalen humanitären Hilfsmaßnahmen. Der Bedarf hierfür ist natürlich eine unbekannte Größe. Es ist aber Vorsorge getroffen, daß die Bundesregierung hier ein Mindestmaß an Handlungs- und Entscheidungsfreiheit hat.Die investiven Ausgaben sind, wie ich ausgeführt habe, auf dem Rückmarsch. Lediglich das europäische Jagdflugzeug 2000 benötigt nach erfolgter Programmumsteuerung mehr Mittel. Besonders dramatisch sind die Einbrüche bei den Ausgaben für militärische Beschaffungen mit einem Rückgang von 18 und bei denen für Infrastruktur, die um 14,2 % zurückgehen sollen.Bei Forschung und Entwicklung sowie den Beschaffungen hat die Bundeswehr bei den vorgesehenen Ansätzen praktisch keine Handlungsmöglichkeit mehr. Ich denke, es kann auf Dauer nicht hinge-
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Hans-Gerd Strubenommen werden, daß sich die Bundesrepublik Deutschland mehr und mehr aus Forschung und Entwicklung im Bereich der Verteidigung zurückzieht und damit an Dialogfähigkeit im Bündnis verliert. Innovationsfähigkeit ist auch heute in hohem Maße gefordert. Dazu bedarf es nicht nur motivierter Wissenschaftler, sondern auch einer leistungsfähigen wehrtechnischen Industrie im eigenen Lande. Nur dann können wir im Bündnis partnerschaftlich agieren und effektive Krisenreaktionskräfte aufbauen. Auf diese neue Aufgabe hin ist die Ausrüstung der Bundeswehr nicht optimiert. Hier muß noch einiges getan werden.Im Infrastrukturbereich allerdings wird es möglich sein, die Baumaßnahmen im Osten zwar auf abgesenktem, aber doch auf hohem Niveau fortzusetzen und das in diesem Jahr begonnene Wohnungsbauprogramm für Bundeswehrangehörige in den neuen Ländern um die Hälfte aufzustocken.Insgesamt bewerte ich den Entwurf des Verteidigungshaushalts als einen weiteren Übergangshaus - halt für die Bundeswehr auf dem Weg zu ihrer neuen Gestalt. Aber es ist ganz klar, daß die Bundeswehr am Rande des nicht mehr Tragbaren angelangt ist und daß die finanziellen Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung der Bundeswehr nicht weiter verschlechtert werden können, sondern nachhaltig konsolidiert werden müssen.Meine Damen und Herren, zum Abschluß meiner Ausführungen möchte ich unseren Soldaten für ihren Friedensdienst herzlich danken, den sie für unser Vaterland und für alle friedliebenden Völker dieser Welt leisten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Gerd Poppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum drittenmal in dieser Legislaturperiode — diesmal noch deutlicher als in den vorangegangenen Fällen — ist zu konstatieren, daß sich die Haushaltsdebatte wieder zu einem reinen Ritual zu entwickeln droht. Das gilt besonders für die bisherigen außen- und sicherheitspolitischen Aussagen der Bundesregierung.Erneut müssen wir feststellen, daß sie unter einem Hauptmangel leiden: dem Fehlen eines konzeptionellen Neuansatzes, der den Veränderungen seit dem Ende der bipolaren Welt auch nur annähernd gerecht wird.
Er wird immer nur angekündigt, auch heute wieder.
Es gibt gegenwärtig überhaupt keine Konzeption, es sei denn, man betrachtet die gebetsmühlenartige Beschwörung der neuen Rolle Deutschlands in der Welt als solche. Vermutlich müssen wir uns damit abfinden, daß es uns bis zu den Neuwahlen verborgen bleiben wird, ob diese neue Rolle noch in etwasanderem besteht, als daß deutsche Soldaten in Somalia auf das Erscheinen indischer Blauhelme warten.Statt daß nach einem in sich schlüssigen Gesamtkonzept gehandelt wird, erleben wir nach wie vor mangelnde Abstimmung verschiedener Ressorts, aber auch offenkundige Orientierungsprobleme innerhalb des Auswärtigen Amtes sowie opportunistisches, mindestens aber widersprüchliches Verhalten im internationalen Kontext.Dafür ein Beispiel: Noch auf dem Kopenhagener Gipfel im Juni dieses Jahres erklärte der Bundesaußenminister, Pläne zur Teilung von Bosnien-Herzegowina, die den bosnischen Muslimen gettoähnliche Restzonen überlassen, wären völlig unakzeptabel; wir bekämen dann ein neues Palästina. Noch am 28. August lehnte er eine Lösung ab — er hat das heute wiederholt —, die den Moslems ein würdiges Leben unmöglich macht, und äußerte in einem Interview seine Skepsis gegenüber dem jüngsten Teilungsplan von Owen und Stoltenberg. Ganze zwei Tage, bis zum 30. August, dauerte es, bis Staatsminister Schäfer erklärte, wenn die Moslems sich gegen den Teilungsplan sträubten, dann müßten sie die Verantwortung für die weitere Entwicklung tragen.Von der Kritik an der Verhandlungsführung Lord Owens bis zur Übernahme von dessen Zynismus, wonach den Opfern die Verantwortung für die absehbare Fortführung des Aggressionskrieges gegen sie anzulasten wäre, gelangt das Auswärtige Amt innerhalb von zwei Tagen. Staatsminister Schäfer, haben Sie sich nur vergaloppiert, oder ist es Ihre undankbare Aufgabe, die unangenehmen Wahrheiten zu verkünden, während sich der Außenminister der politischen Moral und der Durchsetzung der Menschenrechte widmet? Das sollten Herr Kinkel oder Sie, Herr Staatsminister, einmal erklären.Ein anderer beklagenswerter Mangel: Wo ist das Konzept der Bundesregierung zur Demokratisierung und Aufwertung der Vereinten Nationen? Die Reform ist überfällig. Spätestens seit den hilflosen Versuchen in Bosnien und Somalia weiß das jeder. Ich vermisse z. B. konkrete Vorschläge, um die längst in der UN-Charta vorgesehenen Verfahren zur friedlichen Beilegung von Konflikten endlich rechtsverbindlich zu machen, oder Vorschläge über ein neues Sicherheitsratsmodell, über die Partizipation von nationalen Parlamenten oder von Nichtregierungsorganisationen.Es ist entschieden zuwenig, als vorrangiges Ziel nur auf das größere Gewicht eines im Sicherheitsrat vertretenen starken Deutschlands zu setzen. Ohne eine demokratisierte und mit den Sonderorganisationen koordinierte UNO ist zu erwarten, daß nationale Interessensicherung in beliebigen Teilen der Welt — und dann womöglich unter Beteiligung der Bundeswehr — auch zukünftig einen höheren Stellenwert hat als der internationale Menschenrechtsschutz.Die einzigen außen- und sicherheitspolitischen Bemühungen, die so etwas wie ein Ziel erkennen lassen, sind solche nach dem Motto: Wir sind wieder wer in der Welt! Dem entspricht auch die Positionierung innerhalb der Militärbündnisse. Nichts ist davon zu sehen, daß die Bundesregierung der NATO eine
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14800 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Gerd Poppezeitgemäße Rolle zudenkt, etwa ihre Umwandlung in ein gesamteuropäisches, der KSZE zugeordnetes kollektives Sicherheitssystem.Statt eines Konzepts erleben wir nun den peinlichen Vorgang einer einseitigen Ankündigung gemeinsamer Manöver von Bundeswehr und polnischer Armee, was sofort dementiert wird. Schon handfester ist da das Deutsch-Französische Korps. Das aber gehört nun eher zu den Versuchen einer Wiederbelebung der WEU.Bleibt also nur die westeuropäische Wohlstandssicherung und Großmachtpolitik statt einer gesamteuropäischen Sicherheit?Im übrigen zeichnet sich die EG-Politik weiterhin durch einen Mangel an Koordinierung aus. Maastricht scheint schon fehlgeschlagen, denn einen qualitativen Schritt zur Demokratisierung der EG gibt es nicht, und das Kernstück Währungsunion hat sich bereits, wie zu erwarten war, als Phantom erwiesen.In Sicht ist ein Binnenmarkt mit nicht deklarierten genmanipulierten Lebensmitteln, aber keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik einer demokratischen zivilen Europäischen Union mit gesamteuropäischer Perspektive. Dadurch wird eine Tendenz verstärkt, die in manchen europäischen Ländern schon zu beklagen ist und der sich die Bundesrepublik nun zu öffnen anschickt: eine Renaissance nationalstaatlich geprägter Außenpolitik mit deutlichen Zügen traditionellen militärisch abgestützten Großmachtstrebens.Wenn sich der Haushalt 1994 auf einen derartigen Politikersatz bezieht, bleibt nur, ihn ganz entschieden abzulehnen.
Das Wort hat nunmehr der Bundesminister der Verteidigung, Volker Rühe.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Abgeordnete Strube, Berichterstatter der CDU/CSU im Haushaltsausschuß, hat recht: Der Verteidigungsetat des Jahres 1994 bewegt sich am Rande des für die Bundeswehr Erträglichen. Es gibt keinen weiteren Spielraum für Absenkungen. Wir haben eine noch einmal um 2,5 % gesenkte Summe Geld zur Verfügung, haben aber gleichzeitig mehr Aufgaben übernommen, indem nämlich alle internationalen Einsätze aus dem Haushalt finanziert werden müssen.Die Bundeswehr braucht jetzt eine ruhige Entwicklung. Sie muß sich ja noch weiter auf 370 000 Mann reduzieren. Die meisten tun so, als sei das bereits erreicht. Das muß zum 1. Januar 1995 erreicht sein. Das darf nicht übersteuert werden.Deswegen plädiere ich an alle zu begreifen: Wir brauchen keine neue Unruhe, keine neuen Stationierungsdebatten. Ich muß im übrigen sagen: Wer Soldaten nach Somalia schickt und dann hier Stationierungsdebatten anzettelt, den Soldaten also sozusagen zu Hause die Tür zumacht, handelt unverantwortlich gegenüber den Soldaten.
Ich muß von allen Fraktionen erwarten, daß wir ausreichende Finanzen zur Verfügung haben, um die Bundeswehr in Ruhe auf eine Stärke von 370 000 Mann zurückzuführen.Positiv ist die Verstetigung für die Jahre danach. Das ist auch notwendig, denn nur dann haben wir Planungssicherheit. Ich stimme zu: Wir brauchen mehr Geld für Investitionen. Wir wollen sparen, wir wollen Redundanzen zwischen den Teilstreitkräften beseitigen. Wir wollen auch Privatisierungen im Bereich der Logistik klären.Das Ersparte soll zu einem stärkeren Anteil der Investitionen bei der Bundeswehr führen.Dieser harte Sparhaushalt war notwendig, weil wir noch mitten in dem schwierigen Einigungsprozeß stehen. Ich möchte auch deutlich machen, daß die Bundeswehr in der Tat Schrittmacher im Einigungsprozeß ist. Alles zusammengenommen geben wir 5 Milliarden DM aus. Ich versuche, Kürzungen bei den Investitionen im Osten fast völlig zu vermeiden. Wer versucht, diese Mittel weiter zu beschneiden, muß wissen, daß das direkte Auswirkungen auf Stralsund, Dresden, Erfurt und wo auch immer in Ostdeutschland hat. Das, was wir an Investitionen in einer Größenordnung von 1 Milliarde DM vorhaben, ist dann nicht mehr zu halten.Die Bundeswehr ist vorbildlich im Einigungsprozeß. Manche können sich da eine Scheibe abschneiden. Ich nutze auch alle Reden in Westdeutschland, um deutlich zu machen, daß wir von dem westdeutschen Egoismus herunter müssen.Wir schließen eben die Heeresoffiziersschulen in München und Hannover — hervorragende und moderne Gebäude — und gehen nach Dresden. Jeder Offizier des deutschen Heeres wird in Zukunft nur in Dresden seine Ausbildung finden. Es muß eben auch Eliteausbildungen nur in Ostdeutschland geben. Ich weiß, die Dresdner Bank wird nicht nach Dresden zurückkehren. Aber ich würde mir schon wünschen, daß manch große Versicherung und manch großes Unternehmen auch mit der Führung in den Osten ginge.
Wir schließen eine Reihe von Marinetechnikausbildungsstätten in Westdeutschland, um eine einzige große Marinetechnikschule in Stralsund-Parow aufzubauen.Neue Flugplätze in Ostdeutschland kosten bis zu 1 Milliarde DM. Militärisch sind sie nicht notwendig; denn die Flugzeuge sind in zwei bis drei Minuten da. Aber es wäre keine Armee der Einheit, wenn ich sagen würde: Wir bleiben auf unseren schönen Flugplätzen im Westen, die Flugzeuge schicken wir hinüber, sollen sie da patrouillieren! Das muß man auch begreifen, wenn man über den Verteidigungsetat spricht: Wir setzen Milliarden ein, die militärisch nicht zwingend geboten sind, aber die im Sinne der Herstellung der Armee der Einheit zwingend geboten sind. Dafür bitte ich auch um Unterstützung aus allen Bereichen.
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Bundesminister Volker RüheFür mich ist der Schritt in den Bendlerblock auch ein ganz wichtiger Schritt zum Zusammenwachsen der Streitkräfte dieses Landes. Ich freue mich über die positive Reaktion und über das Zusammenwachsen der Menschen in dieser Bundeswehr. Ich freue mich, daß wir anknüpfen können an die Tradition des deutschen Widerstands. Ich denke, das ist auch etwas, was wir gemeinsam fördern sollten.Im übrigen gibt es kaum einen Bereich der Gesellschaft, in dem Deutschland so schnell zusammenwächst wie in der Bundeswehr, weil sich da die junge Generation trifft, die sich vorher nicht getroffen hat.Manche mögen es für etwas sentimental halten, aber ich werde für immer in Erinnerung behalten, wie es war, als ich das erste Mal auf der Reiteralpe war. Für einen Flachländer wie mich sind 2 000 m ohnehin schon ziemlich hoch. Dort habe ich sächsische und thüringische Laute gehört. Wehrpflichtige aus Sachsen waren da, mit denen ich gesprochen habe. Sie sind dort wie die Bayern und die Hessen und andere die Berge hochgekraxelt. Sie haben 16 Jahre lang in ihrem Leben die Alpen nur von Postkarten gekannt, und sie dachten auch, das würde immer so bleiben. Jetzt waren sie dort gemeinsam mit Wehrpflichtigen aus Bayern, aus Hamburg und aus Nordrhein-Westfalen. Dort in der Bundeswehr wächst Deutschland wirklich zusammen. Darauf sind wir auch stolz.
Wir müssen die Bundeswehr behutsam in die Zukunft führen und auch weiter sparsam sein. Ein Element der Sparsamkeit — da wende ich mich an die Sozialdemokraten — besteht eben darin, daß wir uns verabschieden müssen von der Universalarmee, die alles macht und alles kann. Wir müssen uns in den Fähigkeiten international ergänzen. Nicht jede Armee muß alles können.Aber wenn man das macht, dann muß man sich natürlich aufeinander verlassen können. Deswegen war die AWACS-Auseinandersetzung so wichtig. Es wäre eine Katastrophe, wenn zwölf Nationen jeweils ihr eigenes Flugzeug hätten. Es ist ein riesiger, politischer und finanzieller Fortschritt, daß zwölf Nationen ein Flugzeug haben. Aber dann müssen sie auch gemeinsam fliegen. Deswegen brauchen wir dieselben Bedingungen für internationale Einsätze wie unsere Verbündeten, wie unsere Nachbarn.Wir diskutieren sehr interessante Dinge z. B. mit den Niederländern. Ich weiß nicht, ob wir auf die Dauer eine eigene, separate deutsche U-Bootflotte von der Größenordnung her haben können. Wir führen interessante Gespräche darüber, ob man das nicht zusammenführen kann. Aber das geht doch nur, wenn man auch gemeinsam handelt.Ich frage mich, ob wir auf die Dauer die Fähigkeit haben müssen, Patrouillenflugzeuge des Typs Breguet Atlantique zu haben. Das ist viel zu teuer. Auch da gibt es ein Interesse, etwas miteinander zusammen zu machen, Fähigkeiten sich ergänzen zu lassen. Aber das geht nur, wenn man auch gemeinsame Grundsätze hat.Was immer wieder unterschätzt wird: Es gibt keine Zukunft für eine deutsch-französische Brigade, wenn die nicht für das Eurokorps und auch für andere dieselben Einsätze machen kann. Ich bitte, zu sehen, daß dieses der entscheidende Orientierungspunkt ist.Ich will jetzt nicht ausführlich auf Herrn Scharping eingehen; nur einen Punkt möchte ich ansprechen. Ich habe in den letzten Tagen interessante Reisen nach Dänemark und Norwegen gemacht: Sozialdemokratisches Urgestein, die norwegische Arbeiterpartei, Willy Brandt — die deutsche Sozialdemokratie hat kaum einer Partei nähergestanden. Wenn man dann die Gespräche hört, das Maß der Übereinstimmung mit mir und das Maß der Fragen im Hinblick auf Ihre Politik, dann zeigt das, wo Sie im Augenblick international stehen.
Eine Frage möchte ich stellen. Die Dänen — auch geführt von einer sozialdemokratischen Regierung — schicken eine Panzerkompanie mit in Deutschland gebauten Leopard I a nach Jugoslawien. Ist das damit eine Interventionsarmee? Hört Dänemark auf, ein ziviler Staat zu sein, so wie Herr Scharping das von uns gefordert hat? Sind Sie bereit, so etwas — nicht Jugoslawien, da haben wir unsere historischen Gründe — auch für Deutschland mitzutragen? Sind Sie bereit, AWACS-Missionen zu tragen oder den Einsatz von Jagdflugzeugen unter der Autorität der Vereinten Nationen, wie die Niederländer das in dem dortigen Konflikt machen? Das sind alles Fragen, die Sie beantworten müssen.Wir sollten vorsichtig sein mit den Worten. Wenn ein kleines, gewiß friedliebendes Land wie Dänemark bereit ist, unter der Verantwortung der Vereinten Nationen Leopard-Panzer nach Jugoslawien zu schikken, dann können wir nicht glauben, uns hier auf die Dauer grundsätzlich unterscheiden zu können.
Wir wollen auch mit Dänemark international zusammenarbeiten. Im Augenblick stellen die Dänen eine Brigade, 4 500 Mann, für friedenerhaltende und friedenschaffende Einsätze auf. Die Frage lautet: Wo werden sie angebunden? An einem deutschen Korps, an einer deutschen Division oder an einer Einheit, die durch die Engländer geführt wird? Ich will jetzt nicht auf Einzelheiten eingehen, aber die Frage spielt eine große Rolle: Wenn wir mit euch zusammenarbeiten, können wir dann auch dasselbe machen? Oder orientieren wir uns nicht lieber an denen, bei denen wir sicher sind, daß wir dasselbe machen? Das sind die wirklichen Probleme, die sich für den Verteidigungsminister stellen.Es darf keinen Gegensatz zwischen Entwicklungshilfe und dem Einsatz von Blauhelmsoldaten geben. In Belet Uen kann man es physisch sehen: Dort, wo unsere Soldaten heute sind, ist, zum Teil mit viel Geld, mit deutschen Steuergeldern, in der Vergangenheit eine veterinärmedizinische Station gebaut worden. Sie ist zerstört worden. Es kann dort wegen des Bürgerkriegs nicht mehr gearbeitet werden. Erst durch die Soldaten der UNO, die jetzt in Somalia sind, ist Entwicklungshilfe wieder möglich. Ich freue mich in Zusammenarbeit mit dem Bundesminister Spranger, daß auch in Belet Uen die deutsche Entwicklungs-
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Bundesminister Volker Rühehilfe wieder greift. Das ist der Zusammenhang, den man sehen muß.
Es macht keinen Sinn, wie in der Vergangenheit Mittel auszugeben, die dann bei den Banken landen. Es macht keinen Sinn, veterinärmedizinische Stationen aufzubauen, die dann im Bürgerkrieg zerstört werden. Lassen Sie uns also aufhören, dort Gegensätze zu konstruieren!Meine letzte Bitte lautet: Die SPD ist alleine nach Belet Uen gefahren; ich hoffe, in der Zukunft können wir den Soldaten — —
— Ich auch allein?
— Sie sind nicht eingeladen worden? Ich glaube, da liegt ein Mißverständnis vor. Von Anfang an haben wir Sie eingeladen, in der Vorbereitung auch schon nach Hammelburg. Es ist eine ganz neue Wende, daß Sie häufiger von mir eingeladen werden möchten mitzukommen.Lassen Sie uns über die Zukunft reden: Es ist wichtig für die deutschen Soldaten, daß wir möglichst gemeinsam auftreten. Ich habe das bei einer der letzten Debatten hier im Juni gespürt; ich bin danach nach Bogen zu den Pionieren gegangen. Meine Rede fanden die nicht so wichtig, denn die wußten, was der Bundesminister der Verteidigung sagt. Aber daß Herr Verheugen damals im Juni gesagt hat, jetzt, nach dem Urteil des Verfassungsgerichts, gebe es eine klare rechtliche Grundlage für den Einsatz in Somalia, war für sie die wichtigste Rede. Das habe ich verstanden.Da mir vor allen Dingen das Interesse der Bundeswehr am Herzen liegt, ist meine Bitte, in der Zukunft anders zu verfahren und vielleicht auch aus dieser Debatte heraus zu sagen, daß wir, glaube ich, schon stolz sein können auf das, was die Soldaten in Somalia geleistet haben.Vielen Dank.
Der Abgeordnete Karsten Voigt hat nunmehr das Wort.
Herr Rühe, wenn Sie mit skandinavischen und besonders mit dänischen Beispielen kommen, und es folgt einer, der sozusagen halb Skandinavier, nämlich halb Däne ist, begeben Sie sich auf eine gefährlich schiefe Bahn, weil Hans Haekkerup, der dänische Verteidigungsminister, mir sein Konzept natürlich zugeschickt hatte, noch bevor er es Ihnen geschickt hat.
— Nicht zur Genehmigung, sonderen weil wir eng und jahrelang miteinander befreundet sind.In diesem dänischen Konzept gibt es einen prinzipiellen Unterschied zu dem, was die Bundesregierung plant, beabsichtigt und dem Parlament vorgelegt hat.Das ist die Anbindung aller dänischen Maßnahmen an die Vereinten Nationen. Sie haben dem Bundestag einen Vorschlag für eine Grundgesetzänderung vorgelegt, die millitärische Kampfeinsätze, letzten Endes, rechtlich gesehen, auch Kriegseinsätze, ohne eine vorhergehende Entscheidung des UNO-Sicherheitsrates ermöglichen soll. Gerade dies wollen alle skandinavischen Parteien, auch die Sozialdemokraten, nicht, auch nicht die Dänen. Diese Differenz dürfen Sie hier nicht verschleiern; denn das ist bei allem innerparteilichen Streit, den wir zwischen Ihnen und uns, zwischen den Sozialdemokraten und der Regierungskoalition, haben, die eigentliche Differenz.
Als ich den Bundesaußenminister hörte — er kann aus verständlichen Gründen jetzt nicht mehr da sein; er hat mir das erläutert —, da habe ich gedacht: Mein Gott, der hat Mut! Auf gut Frankfurterisch nennt man das „Chuzpe" in Aufgreifung eines alten jiddischen Wortes. Man kann auch sagen: Er hat die Unverfrorenheit, mit Steinen zu werfen, obwohl er selber im Glashaus sitzt.Erstes Beispiel: Jugoslawien-Politik. War es nicht etwa ein gewisser Bundesaußenminister der Bundesrepublik Deutschland, der das Wort „die Serben in die Knie zwingen" gebraucht hat — ein Wort, das ein Außenminister in bezug auf keine Nation und kein Volk gebrauchen sollte? In welchem Verhältnis steht dieses unverantwortliche Wort, unabhängig davon, wie man die Taten der Serben beurteilt, zu dem faktischen Schweigen der Deutschen jetzt, wo es um eine friedliche Lösung in Jugoslawien geht? Welche Vorschläge haben Sie für diesen Prozeß, und welchen Einfluß haben die Deutschen auf den Friedensprozeß? Beides gegen Null tendierend. Dies ist das faktische Spannungsverhältnis zwischen Vollmundigkeit und Attentismus sowie Belanglosigkeit der deutschen Rolle bei dem Friedensgestaltungsprozeß im ehemaligen Jugoslawien.
Zweites Beispiel. Sie haben zu Recht die Frage der Bedeutung einer integrierten europäischen Verteidigung angesprochen, die als Ziel richtig ist und auch von uns geteilt wird. Wir glauben nicht, daß das schnell übers Knie gebrochen werden darf und kann. Aber die entscheidende Frage, die sich dabei neben dem Bekenntnis zu einer integrierten europäischen Verteidigung stellt, wie man nämlich solche integrierten Streitkräfte parlamentarisch kontrolliert, wie man also Demokratie in der Europäischen Gemeinschaft, in der Europäischen Union verwirklicht, haben Sie nicht einmal aufgeworfen, geschweige denn beantwortet.Daß die Europäische Gemeinschaft in einer Krise des Integrationsprozesses geraten ist, hängt vorrangig damit zusammen, daß sich die Demokratievorstellungen der verschiedenen Länder und Nationen nicht vereinbaren lassen und daß es deshalb zu einem Demokratiedefizit auf europäischer Ebene gekommen ist.
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Karsten D. Voigt
Es ist doch selbstverständlich so, daß wir die Errungenschaft der parlamentarischen Kontrolle über die bewaffneten Streitkräfte, also das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Armee, das wir nach dem Krieg in bitterem Streit um einen Konsens wegen einer integrierten europäischen Armee beschlossen haben, nicht preisgeben dürfen. Wenn wir uns bezüglich dieser Demokratieprinzipien ich wollte nur dieses eine als Beispiel nennen — auf europäischer Ebene nicht einigen, dann helfen alle Bekenntnisse zur europäischen Einigung nicht. Wenn man sich nicht einigt, das Demokratiedefizit zu überwinden, dann wird die europäische Integration stagnieren und vielleicht sogar wieder zurückfallen.Deshalb müssen Sie sich nicht nur zu Europa bekennen. Sie müssen auch Wege vorschlagen, wie man Europa demokratisiert, und sagen, was Sie tun, um dem europäischen Einigungsprozeß demokratische Impulse zu verleihen, so daß unsere Nachbarn und wir uns darauf einigen können.Drittes Beispiel: Blauhelme. Ich benutze es bewußt. Sie haben bestimmte Diskussionen in der SPD angesprochen, an denen auch ich mich beteilige. Aber es gehört schon einiger Mut dazu, als ein Außenminister, der als Parteivorsitzender mit dafür verantwortlich ist, daß er gegen eine Entscheidung seiner eigenen Regierung klagt, hier von Handlungsunfähigkeit, die durch die Opposition hervorgerufen sein soll, zu sprechen. Das ist mehr als Chuzpe; das ist Unverfrorenheit.
Ich war in Somalia: Was ist denn das für eine merkwürdige Nichteinsatztheorie, die er in bezug auf Somalia durchgesetzt hat, die dazu führt, daß deutsche Truppen in Somalia, die viel besser als die Nigerianer oder Italiener ausgerüstet sind, sich nicht selber schützen dürfen, d. h. die eigentliche soldatische Aufgabe nicht erledigen können, wo wir zu einer Verfassungsänderung entsprechender Art bereit wären?Nur weil der Bundesaußenminister und F.D.P.Vorsitzende nicht deutlich machen wollte, daß er wieder einmal umgefallen ist, hat er das zu einem „Nichteinsatz" definiert. Jetzt sind die Soldaten dort, nehmen in der Realität die Nigerianer, als sie noch da waren, oder die Amerikaner zwischen sich, zwischen zwei deutsche Schützenpanzer, um die anderen zu schützen, die formal für ihren Schutz zuständig sind.Diese absurde Situation, unter der die Soldaten dort leiden — das habe ich erfahren , haben Sie doch als F.D.P. mit diesem ganzen Eiertanz zu verantworten, nicht wir.
Was ist das für eine Regierung, die sozusagen die Fragen an die Opposition weiterreicht — ich verstehe einige dieser Fragen —, die bei der UN-Generalversammlung in Wirklichkeit an Sie gerichtet werden, an Herrn Kinkel, an Herrn Staatsminister Schäfer oder wer sonst von der F.D.P. da ist? Natürlich sagen sie in bezug auf die Opposition: Da gefällt uns hier und dort einiges nicht. Aber sie fragen zunächst einmal nach der Handlungsfähigkeit der Regierung. Und da ist dieF.D.P. eine der Ursachen für die Handlungsunfähigkeit dieser Regierung. Und Herr Kinkel stellt sich hier noch hin und lamentiert über diese Frage. Das ist schon ganz schöner Mut.Er sagt dann — um ein weiteres Beispiel zu nennen —: Die Entwicklungspolitik steht im Vordergrund; Außenpolitik soll friedlich sein. Das finde ich richtig. Aber hätte er dann nicht diese Debatte nutzen müssen, um neben dem generellen Bekenntnis, daß man den Friedensprozeß im Nahen Osten unterstützt, zu sagen: Das und das haben wir mit den Israelis und mit der PLO besprochen? Aber da kommt nichts.Oder ist es nicht so, daß in Somalia alle, auch die Soldaten, sagen — auch in Belet Uen, wo es glücklicherweise relativ gut läuft —: Unser Einsatz hat erst Sinn gehabt, wenn wir uns als Soldaten wieder zurückziehen können und wenn zivile Hilfsorganisationen die Arbeit machen können? Wo haben denn der Außenminister oder der Entwicklungshilfeminister in Somalia diese Überleitung zur zivilen Phase besprochen?Wird hier nicht eine Verkürzung der gesamten Denkungsart sichtbar, wenn nur der Verteidigungsminister hinfährt, aber nicht der Entwicklungshilfeminister oder der Außenminister?
Wir sind mit Entwicklungspolitikern und auch mit Menschenrechtlern hingefahren.Ich sage nur: Sie reden davon, aber in der Praxis folgt nichts. 91 Millionen für humanitäre Hilfe im Auswärtigen Ausschuß, 17 Milliarden für den Golfkrieg und etwas über 100 Millionen für Somalia. Gerade als jemand, der für Blauhelmeinsätze wirbt, damit wir uns an so etwas beteiligen können, sage ich: Die Proportionen müssen doch stimmen. Sie stimmen aber nicht in dieser Außenpolitik, die zwar mehr vom Vorrang der zivilen Mittel redet, aber wenn es um die „Pieselotten" geht, wenn es um das Geld geht, dann ist es faktisch viel leichter, Geld für militärische Einsätze als für Entwicklungshilfemaßnahmen zusammenzubekommen.Der Bundesaußenminister hat uns zum wiederholten Male ein außenpolitisches Konzept angekündigt. Er hat gesagt, er hätte darüber nachgedacht. Vielleicht hilft es ihm, wenn er das noch nicht vortragen konnte, daß ich ihm einige Anregungen mit auf den Weg gebe. Die beziehen sich auch auf die Fragen, die strittig sind.Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat der damalige Bundesaußenminister Genscher fälschlich gesagt, es ginge nur um deutsche Kontinuität. Einige der Probleme, die wir jetzt haben, sind dadurch entstanden, daß es eine neue Rolle Deutschlands gibt und daß das mit dem Begriff „Kontinuität" allein nicht zu machen ist.Das hängt nicht nur damit zusammen, daß der Ost-West-Konflikt zu Ende ist, sondern auch damit, daß die Stabilisierungsaufgaben, die sich in Osteuropa gestellt haben, nicht mehr primär militärischer Art sind. Ingomar Hauchler, unser Sprecher für diesen
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Karsten D. Voigt
Bereich, fährt inzwischen nicht nur in die Dritte Welt, sondern er fährt auch in große Teile der ehemaligen Sowjetunion, in die GUS-Staaten, weil es dort entwicklungspolitische Projekte gibt.Wenn es nicht gelingt, diese Länder ökonomisch und politisch vorbeugend zu stabilisieren — die ökonomische Destabilisierung z. B. der Ukraine mit den politischen Konsequenzen macht mir erhebliche Sorgen —, dann können wir militärisch noch so viel machen, es wird niemand helfen. Es wird nämlich primär Wanderungsbewegungen oder neue Tschernobyls geben, die man eben nicht mit militärischen Mitteln verhindern kann.Deshalb frage ich nach den Konzepten der Bundesregierung, die sie dort hat, was sie in dem Bereich neben einzelnen Projekten macht. Wo ist dort der große Gesamtentwurf? Ich kenne ihn nicht.Die politische, in bestimmten Bereichen ökologische, aber vor allen Dingen auch ökonomische Stabilisierung Osteuropas liegt in unserem Sicherheitsinteresse. So, wie die Amerikaner primär daran interessiert sind, daß die Nuklearwaffen beseitigt werden — auch ich bin daran interessiert —, sind wir als unmittelbar Betroffene natürlich auch daran interessiert, daß kein neues Tschernobyl passiert oder daß nicht Instabilität zu neuen Wanderungsbewegungen führt. Da gibt es spezifische westeuropäische Interessen, und Deutschland als das zur Zeit noch östlichste Land des Westens ist hiervon in besonderer Weise betroffen.Nun haben wir immer wieder darüber geredet, daß Deutschland nicht in eine Zwischenposition geraten sollte, daß es als ein Land mit so vielen Nachbarn am besten nicht bilateral mit diesen verkehrt, sondern im multilateralen Zusammenhang. Das hat bei uns glücklicherweise zu der großen Übereinstimmung geführt, daß wir die EG-Integration mit Maastricht vorantreiben müssen — trotz der Vorbehalte gegen einzelne EG-Regelungen.Dies führt bei uns jetzt nicht nur zur Bejahung der NATO, sondern zu einem Reformkonzept für die NATO, indem wir sagen, daß die Staaten, die die Option haben, der Europäischen Gemeinschaft beizutreten — also besonders unsere östlichen Nachbarn —, im Prinzip auch die Möglichkeit haben müssen, der NATO beizutreten.
— Sie sagen, das sei auch Ihr Konzept. Wo haben Sie denn mit den Briten darüber gesprochen?
Die Realität ist doch so, daß die Franzosen bei der Osterweiterung der EG skeptisch sind — Herr Lamers, Sie sitzen doch dauernd in Paris —, und die Briten sind bei der Osterweiterung der NATO meistens skeptisch. Die einen sind Traditionalisten bei dem einen, die anderen sind Traditionalisten bei dem anderen Punkt.Wo ist denn die Bundesregierung, die außer den Stellungnahmen ihrer einzelnen Minister innerhalb der EG und der NATO hier ein stimmiges Konzept — aufeinander abgestimmt — durchgesetzt hat?
Das ist nicht der Fall. Volker Rühe ist für die Osterweiterung der NATO, der andere ist für die Osterweiterung der EG, die Bundesregierung möglicherweise für beides.
Aber innerhalb der EG und der NATO ist diese Konzeption bisher keineswegs als stimmiges Gesamtkonzept der Osterweiterung westlicher Institutionen geglückt, so daß wir durch die Osterweiterung des Westens nur noch von westlichen Ländern umgeben wären.Wie verbinden Sie dies durch eine kooperative Politik mit Rußland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, so daß nicht neue Konfrontationslinien entstehen? Das ist nicht ein voluntaristischer Akt; da hilft nicht ein Bekenntnis, sondern da müssen Sie ein Gesamtkonzept der engsten Kooperation, das fast an die Assoziation mit EG und NATO herangeht, haben und es in der NATO durchsetzen. Ich sehe da bei vielen NATO-Partnern große Vorbehalte. Ich frage hier nicht danach, wie Sie im Bundestag reden, sondern danach, was Sie in der NATO machen, um solch ein Konzept durchzusetzen. Ich sehe das bisher auch für die EG nicht, wo doch der Protektionismus, bei den einen ökonomisch, bei den anderen sicherheitspolitisch, immer mehr um sich greift.Deshalb möchte ich Ihnen sagen, daß wir als Deutsche, als Teil des Westens, als Teil der NATO, als Teil der EG an einer solchen Kooperativen und, soweit es die Möglichkeiten unserer unmittelbaren östlichen Nachbarn betrifft, auch integrativen Politik mit unseren östlichen Nachbarn primär interessiert sind. Wenn wir dort keine Sonderwege wollen, müssen wir dafür sorgen, daß das in den Institutionen, in denen wir Mitglied sind, eine Mehrheitsmeinung wird.Da vermisse ich Ihre Initiativen. Da ist die Bundesregierung nicht spürbar. Da sagt sie mal etwas, aber sie spielt keine Rolle. Wir reden immer von der neuen deutschen Rolle, die wir spielen sollen, aber dort, wo es um unsere eigenen Interessen geht, um diese neue Form der Ostpolitik, sind Sie nicht da. Da höre ich Sie mal auf Tagungen, im Rahmen von Konventionen, aber ich sehe nicht Ihre Wirkung in diesen internationalen Organisationen.Wenn Sie das in diesen Zusammenhang einbetten, werden Sie auch feststellen, daß die UNO-Orientierung zwischen uns gar nicht strittig ist. Alles das, was Rudolf Scharping aufgeführt hat — in dem einen oder anderen Punkt gehe ich ja konzeptionell darüber hinaus —, würde in Wirklichkeit ausreichen, das zu erfüllen, was die UNO heute macht.
Das ist die Praxis. Wenn ich an frühere Äußerungenvon Herrn Rühe denke, so sagt er selber, daß überBlockaden in Nahost und Mission defense usw. usf.
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Karsten D. Voigt
hinaus auch die Bundesregierung in den nächsten Jahren gar nichts anderes machen möchte.
Aber der entscheidende Punkt, den auch der Bundeskanzler verschleiert hat, als er nur von der UNO redete, ist der — damit komme ich auf meine Eingangsbemerkung zurück —, daß die Bundesregierung diesem Parlament einen Vorschlag zur Verfassungsänderung vorgelegt hat, in dem es eben nicht nur um friedliche und auch militärische Kampfeinsätze oder Kriegseinsätze geht, die durch den UNO-Sicherheitsrat ermöglicht oder beschlossen sind, sondern auch unabhängig davon.Dabei geht es nicht um die Frage, ob ich Ihnen unterstelle, daß Sie eine Bundeswehr als Interventionsarmee oder Kriegsarmee wollen — Verfassungsänderungen stehen jenseits von Unterstellungen gegenüber jetzt noch bestehenden Regierungen oder Koalitionen —, sondern es geht darum, ob wir verfassungsrechtlich die Möglichkeit eröffnen, unabhängig von der UNO weltweit zu intervenieren. Diese Frage ist nicht nur legitim, sie ist erforderlich und notwendig. Da können Sie nicht dadurch ausweichen, daß Sie sagen, Sie subjektiv wollten solche Interventionen weltweit nicht. Wenn Sie sie nicht wollen, dann sollten Sie auch nicht solche Verfassungsänderungen hier beantragen. Diese Differenz werden wir allerdings in den nächsten Wochen und Monaten weiter herausarbeiten.
Nach § 30 unserer Geschäftsordnung erteile ich dem Abgeordneten Helmut Schäfer das Wort.
Herr Kollege Voigt, Sie zwingen mich zu einer Erwiderung, da Sie in einer geradezu abenteuerlichen Weise versucht haben, die F.D.P. dafür verantwortlich zu machen, daß angeblich deutsche Soldaten in Somalia nicht in der Lage seien, sich zu verteidigen. Ich halte das wirklich für einigermaßen grotesk.
Ich darf darauf hinweisen, Herr Voigt, daß wir in vielen Gesprächen in der Vergangenheit feststellen konnten, daß es zwischen Ihnen und mir und zumindest zwischen den Kollegen der SPD, die internationale Erfahrungen haben, und denen der F.D.P. überhaupt keine Unterschiede gibt, sondern daß es für Sie eigentlich ein großes Problem war, daß es an denjenigen in Ihrer Partei, die immer wieder UNO-Einsätze mit Interventionismus verwechseln und das auch plakativ der SPD-Mitgliedschaft andienen, liegt, daß wir nicht weiterkommen.
Wenn Sie jetzt sagen, Herr Kollege Voigt, es sei unsererseits keine Bereitschaft da, darf ich noch einmal darauf hinweisen: Der Außenminister hat gerade vor wenigen Minuten das Angebot, weiter zu verhandeln, auf den Tisch gelegt. Es liegt an Ihnen und nicht an uns. Da kann man auch über den einen von Ihnen möglicherweise durchaus zu Recht angesprochenen Punkt zu einer vernünftigen Lösung kommen. Die Kompromißbereitschaft ist ja da. Der Außenminister ist in einem anderen Punkt bis zu einem Zwei-Drittel-Mehrheits-Vorschlag gegangen. Das wissen Sie doch.
Ich bitte also, jetzt nur festzustellen, daß wir einen Kampfeinsatz in Somalia nicht genehmigen konnten und können, weil nach unserer Auffassung die Verfassungslage einen solchen Einsatz nicht hergibt. Insofern können Sie nicht den Vorwurf erheben, daß sich unsere Soldaten dort von anderen schützen lassen müßten. Das ist doch die Folge Ihrer unklaren Einstellung zu einer Verfassungsänderung und nicht die Folge einer verfehlten F.D.P.-Politik. Das wollte ich noch einmal in aller Deutlichkeit sagen.
Ich bin der festen Auffassung, daß wir weiterkommen. Denn ein letztes: Wir bemühen uns inzwischen auch, über Ihnen nahestehende und uns vertraute Politiker in der Sozialistischen Internationale Einfluß auf Ihre Partei zu gewinnen, damit die Solidarität der Sozialdemokraten in der SI in Zukunft wiederhergestellt wird, so daß die letzte Partei, die sich so gegen Einsätze in den Vereinten Nationen sperrt, auch bereit ist, der Mehrheit der SI zu folgen.
Ich erteile dem Abgeordneten Karsten Voigt zur Erwiderung das Wort.
Herr Schäfer, es gibt einen gewissen Unterschied zwischen uns. Ich gestehe offen ein, daß ich in der einen oder anderen Frage in der Partei diskutiere und daß es da auch konzeptionelle Differenzen gibt. Aber ich versuche nicht, den Punkt zu machen, indem ich parteitaktische Erwägungen, für die ich nicht den Ausdruck „ Opportunismus" verwenden möchte, noch als Ausfluß der Vernunft und der Konzeption ausgebe. Das kann uns in diesem Augenblick unterscheiden.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Vera Wollenberger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es wird Sie sicherlich nicht weiter verwundern, daß der vorliegende Verteidigungshaushalt vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt wird. Verwunderlich ist vielmehr, wie stark die Haushaltsplaner noch in den Denktraditionen des kalten Krieges verhaftet sind.Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie haben in der Diskussion über die Abschaffung des Asylrechts in Deutschland selbst immer wieder betont, daß wir nur noch von sicheren Staaten umgeben sind. Es wäre doch nur logisch gewesen, wenn sich diese Erkenntnis auch in der Planung des Verteidigungshaushalts niedergeschlagen hätte. Gegen wen und wofür wollen Sie denn an einer Streit-
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14806 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Vera Wollenbergermacht von 370 000 Mann und an der antiquierten Wehrpflicht festhalten, wo doch inzwischen die Spatzen von den Dächern pfeifen, daß beides nicht mehr zu halten ist?Es wird in Ihren Reihen oft geklagt, der Verteidigungshaushalt würde wie ein Steinbruch behandelt und mit übermäßigen Kürzungen belastet. Beides ist falsch. Nicht nur hier, sondern auch in den Medien wurde bereits nachgewiesen, daß die im Einzelplan 14 angegebenen Milliardenbeträge nicht die einzigen verteidigungsrelevanten Ausgaben sind. Zu den 48,6 Milliarden DM, die der Entwurf 1994 ausweist, kommen noch die nach NATO-Kriterien ausgewiesenen 13,9 Milliarden DM, die in den Einzelplänen 5, 7, 30, 33, 35, 36 sowie 60 versteckt sind. Das sind insgesamt 62 Milliarden DM für ein Verteidigungskonzept, das aus der Zeit härtester Blockkonfrontation stammt. Das paßt nun wirklich nicht in die europäische politische Landschaft von heute.Im Gegenteil, das Festhalten an dem bisherigen Konzept der Gesamtverteidigung ist sicherheitspolitisch kontraproduktiv. Was sollen denn die sinnlosen Ausgaben für die Umrüstung früherer NVA-Schützenpanzer und die Millionen für ehemalige NVASchiffe? Warum werden die Ausgaben für den Wartime Host Nation Support gesteigert, wenn es für die Bundesrepublik doch gar keine Wartime mehr geben wird, dafür aber die sehr reale Gefahr einer ernsten inneren Krise besteht, wenn sie die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme der deutschen und europäischen Einigung nicht lösen kann?Herr Bundesminister, ich glaube, es gibt keine Ostdeutsche und keinen Ostdeutschen, die Ihnen zustimmen, wenn Sie hier behaupten, daß der Bau von modernen Militärflugplätzen die Wirtschaft in Ostdeutschland ankurbelt. Ich denke, das Geld wäre anders besser angelegt.
Der Einzelplan 14 macht aber auch noch etwas anderes deutlich. Das BMVg setzt, gestärkt durch die NATO-Pläne, für verschiedene Eingreiftruppen die alte Linie des Ausbaus der Offensivtätigkeit der Bundeswehr in operativer Hinsicht fort. Warum müssen denn luftgestützte Abstandswaffen, Jäger 90, Panzerabwehr, Hubschrauber, Pioniergerät für schnelle Flußübergänge, neue Fregatten und U-Boote sowie neue Tornado-Kampfflugzeuge bezahlt werden, wenn die osteuropäischen Nachbarn demnächst der NATO beitreten wollen bzw., wie ich eingangs schon sagte, die Bundesregierung selbst überall nur noch befreundete Nachbarstaaten ausmacht?Noch ein Umstand muß hier angesprochen werden, der den Einzelplan 14 unannehmbar macht. Truppenreduzierung, Truppenabzug, Standortschließung und -verkleinerung, wie sie aus dem Ressortkonzept und auch aus den Verlautbarungen der Alliierten bekannt sind, führen nicht nur die Berechnungsgrundlage des Verteidigungshaushalts ad absurdum, sondern bringen auch völlig neue Kostenpläne hervor. Dennoch findet aber die ganze Breite der Rezivilisierung bzw. Konversion ehemals militärisch genutzter und ausgenutzter Menschen, Mittel und Liegenschaften keinenNiederschlag im Etat. Nicht nur, daß der Punkt Rüstungskontrolle und Abrüstung mit 776 Millionen DM fast ausschließlich für Verifikationsaufgaben benötigt wird und nur ein kleinerer Teil dieser Summe für die direkten Abrüstungsausgaben vorgesehen ist.Das Verteidigungsministerium drückt sich um die Verantwortung für die Folgen der extensiven Aufrüstung, der Landnahme für militärische Zwecke und der Zerstörung der Natur durch Militär. Die Abrüstung soll durch die Kommunen und die Länder bezahlt werden, damit der Verteidigungshaushalt nicht nur nicht gekürzt, sondern in voller Höhe für die Reorganisation der Streitkräfte genutzt werden kann.Aus unserer Sicht gebietet die veränderte militärische, politische und wirtschaftliche Situation in Deutschland und in Europa, daß der Verteidigungshaushalt 1994 nur ein Übergangshaushalt sein kann. Wenn Ende 1994 die erste Etappe der Reduzierung der Bundeswehr vollendet sein wird, müssen weitere Abrüstungsschritte folgen, und der Haushalt muß diese Entwicklung widerspiegeln. Die Folgekosten sollen aber vom Verursacher getragen werden, und das heißt, sie müssen im Einzelplan 14 gedeckt sein.Leider hat sich die außen- und sicherheitspolitische Debatte in bedenklicher Weise auf die Kontroverse über den Out-of-area-Einsatz deutscher Soldaten verengt. Dabei droht die Orientierung auf die Zivilisierung der internationalen Beziehungen verlorenzugehen. Mein Kollege Poppe hat vorhin dazu schon Ausführungen gemacht.Es fehlt ein klares Konzept zur Förderung des Friedens in Europa und der Welt. Ohne ein solches bleibt aber die neue Verantwortung Deutschlands eine Phrase.Wie uns täglich vor Augen geführt wird, klafft zwischen dem Satzungsauftrag der Vereinten Nationen, weltweit Frieden nach den Regeln kollektiver Sicherheit zu gewährleisten, und ihren realen materiellen Fähigkeiten eine große Lücke. Ein Beitrag Deutschlands, diese Lücke zu schließen, wäre, die notwendige Reform der UNO mit allen Mitteln zu befördern.Die von Boutros Boutros-Ghali vorgelegte Agenda für den Frieden enthält eine Reihe von Vorschlägen, die durchaus unterstützungswürdig sind und die unterstützt werden sollten. Daneben ist die Entwicklung einer gesamteuropäischen Friedensordnung von höchstem Interesse.Die Antwort auf Krisen und Kriege darf nicht verstärkte Rüstung, sondern muß eine Verstärkung der Anstrengungen zur Herstellung einer europäischen Stabilität sein. Aber wie ich eingangs schon sagte, hat sich all das im Verteidigungshaushalt nicht niedergeschlagen.
Frau Kollegin Wollenberger, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mein rotes Licht ein bißchen beachten würden.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14807
Deshalb fehlt es dem Haushaltsentwurf an jeglicher Perspektive, die den neuen Rahmenbedingungen der Außen- und Sicherheitspolitik Rechnung trägt. Er setzt falsche Signale. Deshalb muß er abgelehnt werden.
Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, dem Bundesminister Carl-Dieter Spranger, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschland befindet sich in einer Situation, die Einsparungen und Konsolidierungsanstrengungen erforderlich macht.
Gleichzeitig sind wir aber auch draußen in der Welt gefordert. Dort haben Hunger und Elend, Bürgerkrieg und Not nicht nachgelassen. Wir müssen den Menschen dort helfen.Dafür gibt es in unserer Bevölkerung — Herr Schuster, Sie wissen es — großen Rückhalt. Ich finde es — sicherlich auch Sie — imponierend, daß sich so viele junge Menschen in den Dritte-Welt-Initiativen engagieren, daß so viele ältere Mitbürger ihre Erfahrungen in den Senior-Experten-Service einbringen und daß quer durch alle Bevölkerungsschichten im Jahre 1992 1,3 Milliarden DM für entwicklungspolitische Zwecke gespendet wurden. Ich möchte das hier einmal deutlich herausstellen, weil ich meine, daß wir auch von dieser Stelle aus all denen einen Dank aussprechen sollten, die sich auf diesem Gebiet einsetzen.
Armut, Umweltzerstörung, Bürgerkriege und Krankheit in den Entwicklungsländern haben sich zu globalen Risiken verdichtet, die auch unsere Zukunft bedrohen. Die Entwicklungszusammenarbeit versucht, diese Krisen mit zu lösen. Eine Reduzierung dieser Zusammenarbeit würde daher ein Sparen am falschen Ende bedeuten und uns selbst zum Nachteil gereichen.
Aus Erfahrung wissen wir: Schaden zu reparieren ist allemal teurer, als Schaden zu verhüten.
Deshalb ist Entwicklungszusammenarbeit notwendig. Sie ist eine Investition, die auch in unsere Zukunft gerichtet ist.
— Sie werden nichts zu beanstanden haben. Sie werden in den Schlußbeifall frenetisch einstimmen.Friedensstabilisierung und Zukunftssicherung sind Herausforderungen, die nicht mehr nur mit den traditionellen politischen Mitteln der Diplomatie und militärischen Abschreckung angegangen werden können. Unterentwicklung und ihre Folgen bedrohen den Frieden in der Welt und die Zukunft der Menschen. Die Welt befindet sich im Osten und Süden im Umbruch. Menschen fliehen — eine Million jährlich —, ökologische Desaster und Hungerkatastrophen drohen jährlich stärker denn je. Die Entwicklungszusammenarbeit hat dadurch größere Bedeutung gewonnen.Die friedliche Neuordnung und den Neuaufbau in vielen Teilen dieser Welt können wir nur erreichen, wenn wir die Armut bekämpfen, die natürlichen Ressourcen schützen und die politischen Rahmenbedingungen verbessern. Deutschland ist hier besonders gefordert, nicht nur als Financier, sondern vor allem als politscher Akteur. Durch konsequente Entwicklungspolitik müssen wir verhindern, daß die Welt von Angst vor Bürgerkriegen, politischem Chaos, Umweltzerstörung und bedrohlichen Krankheiten beherrscht wird.Um Schaden vorausschauend abzuwenden, unterstützen wir in zunehmendem Maße Demokratisierungsbestrebungen in den Partnerländern. Wir greifen den Willen zur Demokratie auf, der in vielen Entwicklungsländern nach dem Zusammenbruch des Ostblocks Gestalt annimmt, und fördern z. B. zwischenzeitlich in zwölf Ländern Vorhaben der Dezentralisierung und der kommunalen Selbstverwaltung.Aber Entwicklungspolitik allein vermag wenig, wenn sie nicht eng mit der Außen-, Wirtschafts- und Sicherheitspolitik verflochten ist.
Wie das Beispiel Somalia zeigt, müssen oft erst — jetzt kommt es allerdings etwas anders, als Herr Voigt gemeint hat — durch eine aktive Befriedigungspolitik im großen Rahmen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß Entwicklungszusammenarbeit wieder möglich wird.
Volker Rühe hat schon gesagt, was früher geleistet worden ist und was durch Krieg zerstört worden ist. Jetzt müssen wir erst wieder Frieden herstellen, bevor wir mit nachhaltiger und erfolgversprechender Entwicklungsarbeit beginnen können.
Wo das möglich ist, machen wir das schon mit einem nicht unbeträchtlichen Risiko auch für die Experten vor Ort. Auch an die sollten Sie denken. Sie in die Bürgerkriege und in die Auseinandersetzungen mit den Banden dort zu schicken ist verantwortungslos. Deswegen unterstützen wir Somalia zur Zeit nur im Nordosten und im Nordwesten
mit beispielsweise 16 Millionen DM für Viehwirtschaft und Wasserversorgung. Wir helfen der Bevölkerung beträchtlich mit Nahrungsmittelhilfe. Wir geben 1,6 Millionen DM im Nordwesten für Flüchtlingsprogramme aus, und wir haben unsere Experten-
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14808 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Bundesminister Carl-Dieter Sprangergruppe in Belet Uen dabeigehabt, die den Besuch jetzt ausgewertet hat. Wir werden sehen, was sich dort entwickelt.Karsten Voigt ist ja nicht mehr hier. Sagen Sie ihm bitte, daß sein Ausflug in die Entwicklungspolitik etwas mißglückt ist. Er sollte sich auf sein eigentliches Arbeitsgebiet konzentrieren; auch da hat er gewaltige Defizite auszuräumen.
Meine Damen und Herren, die Aufgaben für die Entwicklungspolitik wachsen. Deswegen würden wir uns eine bessere finanzielle und personelle Austattung wünschen.
— Es wird wieder so, wie Sie es sich vorstellen. Sie können zufrieden sein.Aber auch wir stellen uns unserer gesamtpolitischen Verantwortung, d. h. wir versuchen, durch neue Weichenstellungen mit weniger Geld mehr zu erreichen. Dabei geht es auch darum, das entwicklungspolitische Instrumentarium zu erweitern, um Partnerländern mit unterschiedlichem Entwicklungsstand Konditionen anzubieten, die ihren Möglichkeiten angepaßt sind. Konzentration und die Steigerung der Effizienz sind das Gebot der Stunde.
Deshalb haben wir verstärkt auf die Schwerpunkte Armutsbekämpfung und die anderen bekannten Schwerpunkte gesetzt. Auch die Kriterien sollen ja die Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit stärken.Wir konzentrieren uns auf Partnerländer, die diese Voraussetzungen erfüllen. Wenn sie sie nicht erfüllen, führt das auch zu den notwendigen Entscheidungen. Im Klartext: Wir erteilen dem Gießkannenprinzip eine klare Absage.
Eine bedauerliche Folge des Sparzwangs ist allerdings, daß sich das Verhältnis von bi- und multilateralen Mitteln zu Lasten der bilateralen Zusammenarbeit verschiebt. Diese unfreiwillige Verschiebung ist für uns deswegen erträglich, weil in der Zwischenzeit auch die internationalen Organisationen unsere Schwerpunkte und unsere Kriterien übernommen haben. Ich denke an die EG — schon 1991— oder die Weltbank und die regionalen Entwicklungsbanken.
Sie sind bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten, Herr Minister? — Bitte.
Herr Minister, Sie sprechen zu Recht davon, daß 1994 vorgesehen ist, 35 % des Entwicklungsetats durch multilaterale Leistungen zur Verfügung zu stellen.
Halten Sie es bei dieser Höhe des multilateralen Engagements für gerechtfertigt, daß dieses Parlament nie richtig informiert ist, auch nicht die Öffentlichkeit, was in diesen Institutionen an Projekten geplant wird, daß wir vom Parlament her überhaupt nicht die Möglichkeit haben, zu kontrollieren, wofür wirklich das Geld des Steuerzahlers hier ausgegeben wird?
Wäre nicht eine verschärfte Überlegung notwendig, wie man die Planung dieser Gelder und ihre Kontrolle parlamentarisch und öffentlich besser sicherstellen kann?
Herr Kollege Hauchler, Sie wissen, daß ich dieses Thema schon wiederholt sowohl öffentlich als auch hier angeschnitten habe, insbesondere auch in bezug auf den EEF. Wir haben erst gestern in der Arbeitsplanung eine Diskussion über ein Papier der Kommission vom Mai dieses Jahres gehabt, in der die Verbesserung der Koordinierung dargelegt wurde, die wir wollen. Zum anderen muß die Frage des effizienten Einsatzes der Mittel im EEF nicht nur von seiten der Bundesregierung, sondern durchaus auch im Rahmen der parlamentarischen Diskussionen stärker auf den Prüfstand. Das ist ganz meine Meinung.
Ich wäre auch dankbar, wenn uns dann auch etwas Konkretes einfallen würde, um bei dem Personal, das wir haben, die Kontrollen entsprechend durchzuführen. Das ist dann die Umsetzung von Überlegungen, die sehr viel schwieriger ist, als sich hier mancher vorstellen mag.
Meine Damen und Herren, Entwicklung braucht Zeit. Der neue Weg, den wir beschritten haben, scheint sich als richtig zu erweisen. Deswegen halte ich auch nichts von Pessimismus und Resignation.Wir dürfen nicht den Fehler begehen, nur Krisen wahrzunehmen und Erfolgsmeldungen zu ignorieren. Der neueste Weltentwicklungsbericht der Weltbank gibt auch Anlaß zur Hoffnung. In den letzten 40 Jahren haben sich die Gesundheitsverhältnisse weltweit stärker verbessert als während der ganzen vorangegangenen Menschheitsgeschichte. In den Entwicklungsländern ist die Lebenserwartung von 40 auf 63 Jahre gestiegen. Nach einer neuen Weltbankstudie ist in Südostasien im Laufe einer Generation die Zahl der Armen um die Hälfte zurückgegangen, und das trotz eines Bevölkerungswachstums von über 40 %.Auch eines müssen wir betonen: unsere enormen Leistungen im Osten, die allerdings nicht in der ODA-Quote, was ich sehr bedaure, zur Anrechnung kommen. Da haben wir weit vor anderen Ländern Pionierarbeit geleistet, die in hohem Maße auch anerkannt wird. Wer sich dort informiert hat, weiß dies.
Ich kann auch sagen, daß diese Leistungen bisher nicht zu Lasten der klassischen Entwicklungsländer gegangen sind. Wir haben auf Grund unserer Erfahrungen im Osten wirksam helfen können. Das wird international in hohem Maße anerkannt.
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Bundesminister Carl-Dieter SprangerMeine Damen und Herren, Entwicklungszusammenarbeit hat in der Vergangenheit Beachtliches geleistet. Das dürfen wir nicht als selbstverständlich voraussetzen, denn unsere Konzeptionen sind stets nur so gut wie die Menschen, die sie verwirklichen.Seit über 30 Jahren sind deutsche Fachkräfte in Afrika, Asien und Lateinamerika tätig, die durch ihre vorbildliche Arbeit in entscheidendem Maße das Bild Deutschlands im Ausland geprägt haben. Auch die Nichtregierungsorganisationen, beispielsweise die Kirchen, haben daran großen Anteil. Gemeinsam haben wir bewiesen, daß wir unsere Verantwortung auch erfüllen. Deutschland braucht auch in Zukunft Freunde in der Welt. Entwicklungszusammenarbeit ist ein Schlüsselbereich, von dem völkerverbindende Wirkung und menschliches Verständnis ausgehen. Gerade meine Gespräche im südlichen Afrika haben erneut bestätigt, wie sehr die deutsche Unterstützung des demokratischen und friedlichen Aufbaus international geschätzt wird. Die friedenstiftende Funktion der Entwicklungszusammenarbeit kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das haben mir Politiker wie De Klerk, Mandela, Masire und Nujoma versichert. Im übrigen setzt die positive Entwicklung in Namibia und Botsuana all diejenigen ins Unrecht, die Afrika bereits abgeschrieben haben und für nicht mehr entwicklungsfähig halten.Der Blick auf unsere Leistungsbilanz zeigt: Weder verschließen wir uns vor den Aufgaben der Zeit, noch ziehen wir uns zurück. Wir nehmen unseren Platz in der Völkergemeinschaft ein. Süden und Osten brauchen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Fortschritt, um den Gesellschaften und damit den Menschen ein Leben in Frieden, Freiheit und materieller Sicherheit zu ermöglichen. Hierbei mitzuhelfen ist auch weiterhin unsere Aufgabe.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Konrad Weiß.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der Abschaffung des Asylrechts ist auch der Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung signifikant für den Egoismus, die Entsolidarisierung und die menschliche Kälte, die sich in Deutschland ausbreiten.
Ich habe die vielen wohlfeilen Worte noch gut im Ohr, mit denen in der Asyldebatte gerade von Christdemokraten die Bekämpfung der Fluchtursachen beschworen wurde, beschworen als Alternative zu der versagten Hilfe hier im Land. In den Eckdaten zur Rahmenplanung 1994 heißt es nur noch lapidar, die Fluchtursachenbekämpfung durchziehe die gesamte Entwicklungszusammenarbeit.Für die unmittelbare Flüchtlingshilfe hat die Bundesregierung gerade einmal 67 Millionen DM. Das ist ein Tausendstel — ich wiederhole: ein Tausendstel — von dem, was sie für die überflüssigste Einrichtung in diesem Land, für die Bundeswehr, verschleudert. Als Bürger sage ich: Das ist unverantwortlich. Als Christ sage ich: Das ist Sünde.Ich erinnere mich noch genau an das medienwirksame Versprechen des Bundeskanzlers auf dem Umweltgipfel in Rio, künftig 0,7 % vom Bruttosozialprodukt für die deutsche Entwicklungshilfe bereitzustellen. Statt dessen wird nun der Etat auf dem Vorjahresstand eingefroren. Das sind 0,36 %, also gerade einmal die Hälfte des Versprochenen.Mit einer Chuzpe sondergleichen hat der Bundeskanzler die internationale Öffentlichkeit, die Menschen, die in Afrika, Asien und Südamerika auf Hilfe hoffen, enttäuscht, belogen und betrogen.
Diese Art Außenpolitik macht Deutschland unglaubwürdig und schadet uns zutiefest.
— Leider übertreibe ich nicht, Herr Kollege. Leider ist das eine Tatsache. Oder können Sie dem widersprechen, daß der Kanzler in Rio schlichtweg gelogen hat?
Die Zeichen, die vom Haushaltsentwurf der Bundesregierung ausgehen, sind fatal. Sie heißen: Deutschland macht dicht, mauert sich griesgrämig ein — wies es eine Zeitung jüngst schrieb —, kehrt zurück zu einer Politik des nationalen Egoismus und der Verantwortungslosigkeit. Der Nord-Süd-Dialog, der ohnehin nie viel mehr als eine vage Hoffnung war, wird aufgekündigt.Statt dessen hat die Bundesregierung Soldaten nach Afrika geschickt, und sie schämt sich nicht einmal, diesen verfassungswidrigen Einsatz auch noch entwicklungspolitisch zu verbrämen. 1991, als in Somalia zivile Hilfe gefragt und auch noch möglich war, war keine müde Mark dafür da. Heute werden für das sinnlose Abenteuer der Bundeswehr dort 400 Millionen DM verpulvert.
Der Krieg der UNO gegen das somalische Volk, an dem sich die Bundeswehr beteiligt, ist mit all seinen schmutzigen Details,
mit willkürlicher Gewalt, mit Korruption und mit kolonialer Überheblichkeit
— mein Herr, ich schreibe meine Reden selbst, im Gegensatz zu Ihnen — ein Verbrechen und wirft auch die deutsche Entwicklungspolitik in Afrika um Jahre zurück.Dabei verweist doch die Bundesregierung immer wieder auf die von ihr selbst gesetzten Kriterien, auf die Einhaltung der Menschenrechte und die demokratische und rechtsstaatliche Entwicklung in den
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14810 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Konrad Weiß
Empfängerländern. Die Entwicklungszusammenarbeit solle gerade diese Entwicklung fördern. Doch die konsequente Umsetzung fehlt. Noch immer gehören Staaten wie China, Indonesien und die Türkei, in denen permanent und systemimmanent Menschenrechte verletzt werden, zu den größten Empfängerländern in der finanziellen und technischen Zusammenarbeit. Die Bundesregierung hält trotz aller Kritik daran fest, mit Regierungen zu verhandeln, von denen sie weiß, daß sie vom Volk weder gewählt noch akzeptiert sind. Indem sie einem verbrecherischen Regime wie dem der Kommunisten in China Entwicklungshilfe gewährt, festigt sie dessen Macht und verlängert und vertieft die Leiden der unterdrückten Bevölkerung.Solange die staatliche deutsche Entwicklungszusammenarbeit vorrangig zur Förderung deutscher Exporte und zur Schaffung und Sicherung neuer Märkte herhalten muß, wird die Hilfe für die betroffenen Menschen drittrangig bleiben.Andere Geberländer, so die skandinavischen Staaten, drängen längst darauf, daß Projekte, die sie finanzieren, von regionalen oder kommunalen Partnern oder von unabhängigen Organisationen durchgeführt werden. In der Bundesrepublik hingegen wird die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen nach wie vor erschwert; der Abfluß der finanziellen Mittel wird durch den hohen Verwaltungsaufwand gering gehalten. Dabei sind die nichtstaatlichen Organisationen — das zeigt die Praxis und wird auch im jüngsten Weltentwicklungsreport erneut bestätigt — im Gegensatz zu den Regierungen häufig besser in der Lage, die Ärmsten der Gesellschaft zu erreichen.Der Ruf nach einer grundlegenden Reform der deutschen Entwicklungspolitik wird immer lauter, auch in diesem Hause. Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung ist nicht nur in seinen Zahlen von gestern, sondern auch in seiner politischen Substanz.
Herr Abgeordneter Weiß, Sie haben dem Bundeskanzler den Vorwurf gemacht, er habe gelogen und betrogen. Das ist ein unparlamentarischer Ausdruck. Ich erteile Ihnen dafür eine Rüge.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rose.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Schlußredner der Koalition betone ich nochmals das Motto des heutigen Tages: Politik für Deutschland. Und obwohl inzwischen bereits Einzelressorts behandelt wurden, möchte ich noch einmal auf das Gesamtthema der Haushaltsberatungen, die in dieser ersten Lesung beginnen, verweisen und dabei auch nicht vergessen lassen, daß wir auch über ein Gesetz zu einem Spar- und Wachstumsprogramm zu befinden haben.Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allen Dingen von der Opposition, wenn Sie heute schon wissen, was alles in diesen Gesetzentwürfen steht, kann ich Sie beglückwünschen. Ich bin nämlich der Überzeugung, daß Sie das nicht genau gelesen haben und daß wir als Parlamentarier eigentlich die Beratungen der nächsten Monate abwarten sollten, um zu endgültigen Schlüssen zu kommen. Wir sollten das eigentlich auch den Vertretern der Bundesregierung sagen, damit nicht heute der Eindruck erweckt wird, als wäre alles schon beschlossen. Es ist unsere Aufgabe, die richtigen Zielsetzungen zu bringen.
Meine Damen und Herren, Politik für Deutschland ist nicht bloß ein Motto, sondern eine Herausforderung für uns alle, nämlich das Beste für unsere gemeinsame Zukunft zu geben. Die Hauptherausforderung lautet — ich muß das als Haushaltspolitiker immer wieder sagen —: Sparen ist das Gebot der Stunde. Der Bürger sieht das auch ein, wenn vielleicht auch mit zunehmender Jugend etwas weniger. Die ältere Generation, die vieles mitgemacht hat, versteht eher, daß es auch einmal schlechte Zeiten gibt. Aber Sparen muß sein, ohne daß es Selbstzweck wird. Durch gezielte Sparanstrengungen muß und wird es zu mehr Effizienz kommen. Das gilt nach innen, das gilt — ich bin, wenn ich das so sagen darf, auch Außenpolitiker — aber auch für die internationale Politik Deutschlands. Ich möchte auch betonen, daß für einen CSU-Politiker, Mitglied einer großen bayerischen Volkspartei, das Sparen nie allein dem Zweck dient, gewisse Gruppen oder bestimmte Regionen oder einzelne Branchen zu treffen oder gar zu bestrafen. Wir wollen die Gesamtschau der Politik. Wir unterstützen deshalb die zielgerichteten Bemühungen der Bundesregierung um mehr Effizienz und Wachstum; nicht Wachstum der Ausgaben, sondern Wachstum bei der Erkenntnis der Effizienz.
Meine Damen und Herren, in unserem Grundsatzprogramm heißt es: Ein wirtschaftlich schwacher Staat ist auch ein sozial schwacher Staat. — Ein sozial schwacher Staat heißt, man muß eben auch wieder Freiräume schaffen können, um zu einem starken Staat zu kommen, Freiräume, die auch durch Sparen entstehen können, wie jeder in diesem Hause weiß.
Der Zweck lautet: Haushaltsdefizite zu beseitigen, und zwar jene, die aus der lauen Konjunktur entstanden, und auch jene, die strukturbedingt sind.Jeder versteht unter Sparen natürlich etwas anderes und auch, daß andere damit beginnen sollen. Die Bürger rufen, angeleitet durch manche Boulevardblätter: „Die da oben, die da in Bonn sollen mit gutem Beispiel vorangehen. " Richtig. Es fehlt leider zu oft an guten Beispielen. Es gibt auch immer wieder skandalträchtige Schlagzeilen. Das müssen wir uns alle zugestehen, ob wir jetzt in der Bonner Politik oder in der Landes- oder Kommunalpolitik sind.
Das ist sicherlich auch bei so manchen privaten Firmen der Fall, die so tun, als wären sie immer sauber.Die Fernsehsendung „Report" hat am Montagabend das Saarland angeprangert, weil es — wir wissen alle, daß das Saarland hoch verschuldet ist — gegen das Recht verstößt und auf Steuereinnahmen
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14811
Dr. Klaus Rosebei Unternehmern verzichtet. Das ist der gleiche Ministerpräsident, der immer gegen die Besserverdienenden loszieht. Sobald er oder zumindest seine Regierung oder sein Land mit diesen Unternehmen ein Geschäft machen kann, erläßt er — gegen Gesetz, gegen Recht und Ordnung, gegen die Aussage des Bundesrechnungshofs und gegen die Aussage und Beschlüsse des Rechnungsprüfungsausschusses — von sich aus einfach die Steuern. Meine Damen und Herren, das ist soziale Politik, wie sie offensichtlich von der SPD verstanden wird. Aber da machen wir nicht mit!Abgesehen von diesen schlimmen Entwicklungen setzt die Bundesregierung insgesamt auf strikte Sparsamkeit im eigenen Bereich. Wir sollten das auch einmal sagen, denn in der Öffentlichkeit wird durch manche Schlagzeile der Eindruck erweckt, als gebe es in Bonn nur die Großverdiener, nur immer einen schlechten Plenarsaal oder sonstige Skandale. Die Haushaltspolitiker der Koalition wollen die Bundesregierung darin unterstützen, wenn sie festlegt, daß es Null-Runden bei Beamten und bei Abgeordneten gibt, sicher auch bei Ministern, denn sie sind schließlich bei den Beamten angekoppelt; wir wollen das ja nicht anders haben. Das gilt auch für die Deckelung bei Planstellen und Sachausgaben, und das gilt für so manches Projekt und so manchen Bauwunsch.
Ich hoffe, daß auch die Opposition diesen Kurs unterstützt. Wenn Haushaltspolitiker da wären, wäre ich mir darin sicher, denn ich kenne die Leute seit 15 Jahren und weiß, wie sie darauf reagieren.
Nicht jene dürfen sich bei Ihnen durchsetzen, lieber Herr Kollege Ingomar Hauchler, die schon wieder den Ruf nach dem Staat auf den Lippen haben.
Wir haben genug von der Sozialisierung und von der Pleitenwirtschaft. Wir brauchen deshalb mehr Privatinitiative, wir brauchen größeren Ideenreichtum. Es ist wie damals bei der Adenauer-Regierung, wo es „Keine Experimente" hieß, weil wir vor allen Dingen nicht die Experimente wollten, die im anderen Teil Deutschlands zum Scheitern geführt haben.
Meine Damen und Herren, ich ergänze den Satz vom wirtschaftlich schwachen Staat durch die außenpolitische Dimension. Dazu heißt es in unserem Programm: Ein ökonomisch überlastetes Deutschland ist auch ein international geschwächtes Land. —
Es kommt bei den Sparbemühungen also auch darauf an, die internationale Attraktivität Deutschlands beizubehalten und zu festigen. Bundesfinanzminister Theo Waigel hat in zahlreichen multilateralen Konferenzen, besonders zuletzt bei den nicht durch Deutschland verursachten Turbulenzen im Europäischen Währungssystem, klar gehandelt und Erfolg gebracht. Die D-Mark ist hart.
Man traut Deutschland die wirtschaftliche Gesundung zu. Man spürt an Deutschland, daß es zu einer gewissen ökonomischen und finanzpolitischen Führungsrolle in der Welt geschaffen ist.
Ich meine, als 80-Millionen-Volk müssen wir diese Rolle auch annehmen, nicht nur, weil andere das von uns wollen.
— Ja, wer durch die Welt reist und nicht bloß Geld in die Welt trägt, sondern sich auch einmal mit Finanzpolitikern unterhält, der wird merken, daß man den Deutschen eine Führungsrolle zubilligt.
Das ist ja auch unbestritten.
Deshalb sollten wir diese Rolle auch aus eigener Würde heraus spielen dürfen und dabei nicht vergessen, daß wir auch Verantwortung haben. Wir haben Verantwortung nicht zuletzt für die politische Einigung Europas. Ich erwarte deshalb von der Bundesregierung — ja, soll ich jetzt sagen, natürlich auch vom Auswärtigen Amt, das durch die Beamten hervorragend vertreten ist? —, daß sie die Chance der nächstjährigen EG-Präsidentschaft nutzt und aktiv die europäische Vision vorantreibt.
Ich erwarte aber auch, daß die gefestigten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten gepflegt und neben den Aufbaubemühungen im Osten Europas die asiatischen Länder nicht übersehen werden.
Der Herr Bundesaußenminister hatte als Mitglied der Regierung die Gelegenheit, vor mir zu reden. Darum kam er mir auch zuvor mit der Betonung der Notwendigkeit einer neuen Asienpolitik. Meine Damen und Herren, wir können in unserem Land sparen, was wir wollen. Wenn wir überholt werden von den Volkswirtschaften, von der Leistungskraft, von all dem, was wir aus den asiatischen Ländern kennen — und das ist nicht bloß Japan, das ist inzwischen Korea, das ist auch die Volksrepublik China, die wir nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte beurteilen dürfen, auch wenn das wichtig ist —, können wir uns im eigenen Land noch auf manches mehr gefaßt machen.
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14812 Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dr. Klaus RoseMeine Damen und Herren, ein Unternehmer in meinem Wahlkreis, weltbekannt durch sein rollendes Hotel, hat unlängst bei der Eröffnung des ersten und in der Welt einzigartigen Radierhotels, eröffnet in Passau, davor gewarnt, daß Europa und Deutschland die asiatische Herausforderung übersehen könnten. Wörtlich meinte er: Wir können noch so sehr sparen und Haushaltsverantwortung zeigen, aber wenn es uns nicht gelingt, den asiatischen Markt für uns zu nutzen statt umgekehrt, haben wir einen wirtschaftlich schwachen Staat auf Dauer.
Die ICE-Entscheidung, daß unser verehrter „Kaiser" Franz Beckenbauer für eine japanische Autofirma wirbt statt umgekehrt und so manches mehr stimmt mich in diesem Zusammenhang nicht ganz froh.Meine Damen und Herren, ich bin, wie gesagt, der Schlußredner der Koalition; damit ist auch meine Redezeit etwas kürzer geraten.Ich möchte zum außenpolitischen Teil nur sagen: Wenn der Herr Bundesaußenminister heute verhältnismäßig optimistisch über manche zusätzlichen Leistungen, die er gern in der Außen- und Kulturpolitik haben möchte, gesprochen hat, dann muß ich auf die Stimmungs- und Beschlußlage des Haushaltsausschusses, zumindest der Haushaltskoalitionsgruppe, verweisen: Wir wollen vermeiden, daß wir durch die Überschreitung des durch Art. 115 des Grundgesetzes gesetzten Rahmens durch eine zu hohe Nettokreditaufnahme in Schwierigkeiten kommen. Wir setzen uns zum Ziel, noch weiter zu sparen. Ich kündige hiermit an, daß das auch für die auswärtige Politik gilt, und ich bitte alle anderen Ministerien, zu dieser Politik des Sparens im Interesse des Ganzen beizutragen.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Ortwin Lowack das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich verstehe diese Debatte so, daß sie eine Bilanz für das vergangene Jahr und Ausblick für die Zukunft sein soll. Das Ergebnis ist leider erschreckend. Die deutsche Politik befindet sich in einem Elfenbeinturm, sie sieht die Wirklichkeit nicht mehr. Sie hat sich auf Zahlenspielerei und leider auch auf Taschenspielertricks reduziert.
Da ist zunächst die ungeheure Arbeitslosigkeit, die immer noch verniedlicht, heruntergespielt und in ihrer Konsequenz für die Sozialgemeinschaft völlig verkannt wird. Der Haushalt enthält hierzu nichts. Solidaritätsgesetz, FKP, Standortsicherungsgesetz, Nachtragshaushalte, 1. SKWPG und 2. SKWPG, über das wir in den nächsten Tagen zu debattieren haben, sind Zeichen der Hilflosigkeit und der Perspektivlosigkeit.
Da ist eine tiefe Rezession, die vom Bundesfinanzminister mit den Worten heruntergespielt wird, man habe in den zweiten drei Monaten dieses Jahres, von April bis Juni, bereits 0,5 % mehr erwirtschaftet als in den ersten drei Monaten. Dabei verschweigt er, daß das immer noch 2 % unter dem Ergebnis des Vorjahres liegt.
Da ist eine Inflation zwischen 4 und 5 %, an die sich dieses Parlament offenbar einfach so gewöhnen will, obwohl dies noch vor elf Jahren zum Sturz einer Regierung geführt hat.
Da ist eine ungeheure Verbrechensquote — ich warte immer noch auf die Konsequenzen aus den Ergebnissen.
Da ist der absurde Identitätsverlust der Deutschen, der sich leider auch auf die Leistungsbereitschaft gravierend auswirkt und der bewußt von dieser Politik eingeleitet wurde.
Da ist eine grandiose Verschuldung, eine nicht mehr zu überbietende und nicht mehr zu überwindende Zukunftsbelastung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, da ist eine Belastung der Familien, die beim besten Willen niemand mehr begreifen kann. Was Sie beschließen wollen, ist, daß in Zukunft bei familienpolitischen Leistungen, die wir in den letzten Jahren mit Mühe durchgebracht und auf Grund richtiger Kenntnisse durchgesetzt haben, bürokratisiert wird, in Frage gestellt wird — mit nicht vorhersehbaren Konsequenzen für die Bereitschaft, überhaupt noch Kinder in der Familie aufzuziehen.
Der Generationenkonflikt ist vorprogrammiert, und der Bundeskanzler,
meine liebe Kolleginnen und Kollegen auch von der Unionsfraktion — das müssen Sie einfach akzeptieren —, gibt nach außen keinerlei Motivation, Null Komma Null, was von ihm und seiner Persönlichkeit ausgeht, nichts, was sich mental überträgt.
— Lieber Klaus, dann schau dir mal die Ergebnisse an. Bei den Umfragen liegt er bei 28 %.
Herr Abgeordneter Lowack, dies veranlaßt den Abgeordneten Ernst Hinsken zu einer Zwischenfrage.
Aber natürlich, gerne, lieber Ernst Hinsken.
Bitte sehr.
Lieber Kollege Lowack, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen und dann aufzunehmen und nach draußen zu tragen, daß diese Bundesregierung die familienpolitischen Leistungen, in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt und somit die Grundlage dafür geschaffen hat, daß augenscheinlich zum Ausdruck kommt, welche Bedeutung der Familie beigemessen wird?
Deutscher Bundestag- — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14813
Lieber Ernst Hinsken, ich darf darauf hinweisen, daß ich an dieser Ausarbeitung der familienpolitischen Leistungen seit 1985 tatkräftig, wie alle in der Landesgruppe der CSU damals, beteiligt war und darum um so enttäuschter darüber bin, was heute passiert.
Nach den ungeheuren Fehlern in der Vergangenheit überbringt der Bundeskanzler geradezu lächerliche Botschaften. Lest mal seine Reden durch! Er bringt Botschaften wie ein Heilsbringer — so steht es drin — und behauptet, aus dem Urlaub mit einem kräftigen Doppelkinn und vollem Gewicht zurückgekehrt, die Deutschen lebten über ihre Verhältnisse — eine Karikatur in sich selbst. Die Zuschüsse an die Fraktionen haben sich vervierzigfacht, ohne daß die Politik besser geworden ist, sie ist schlechter geworden, weil immer mehr Abhängigkeiten für die vielen kleinen Funktionäre geschaffen wurden.
Das ist doch letztlich die Macht Helmut Kohls und nicht die mentale Kraft. Machen wir uns doch nichts vor!
„Die Deutschen leben über ihre Verhältnisse", sagt der Bundeskanzler, aber die Zuschüsse an die politischen Stiftungen haben sich ebenfalls vervierzigfacht. Der Steuerzahler unterhält die Fassaden der etablierten Politik. Die Vertuschung, die Vernebelung, die ihm geboten wird, zahlt er aus der eigenen Tasche.Der Bundeskanzler spricht davon, die Deutschen lebten über ihre Verhältnisse, aber der Staatsanteil ist auf über 52 % hochgeschnellt. Nichts hat so rasant zugenommen wie die öffentlichen Haushalte, nichts hat so rasant zugenommen wie die unkontrollierten Zahlungen an die Europäische Gemeinschaft.Vom bayerischen Ministerpräsidenten ist an den Bundeskanzler ein bemerkenswerter Brief über das Elend, das Monstrum, den Mist von Maastricht, die Aufgabe rechtsstaatlicher Prinzipien, die Aufgabe nationaler Motivation geschrieben worden. Wenn dieses Parlament nicht bereit ist, auch einmal die Europäische Gemeinschaft und die Zahlungen an sie einer Kontrolle zu unterziehen, wird es tatsächlich den Haushalt niemals in den Griff bekommen.
— Ich nehme nur ein Beispiel, lieber Ernst Hinsken: 27,8 Milliarden DM Strukturmittel aus der Europäischen Gemeinschaft für die neuen Bundesländer. Das feiert die Bundesregierung. Was hat sie verschwiegen? 93,3 Milliarden DM zahlt der deutsche Steuerzahler in die Kassen ein, damit wir diese 27,8 Milliarden DM bekommen. Das ist die Wahrheit. Nur noch mit Teilwahrheiten zu arbeiten, die eigenen Leute zubelügen, das ist in der Zwischenzeit zum Markenzeichen dieser Regierung geworden.
Die Franzosen haben Maastricht — nur ein Teil hat überhaupt an der Abstimmung teilgenommen — deswegen mit einem halben Prozent Mehrheit zugestimmt, weil man ihnen regierungsoffiziell erklärt hat, es gehe darum, die Deutschen an die Kandare zu nehmen und finanzpolitisch auszunehmen. Die vier Staaten Spanien, Portugal, Irland und Griechenland haben zugestimmt, weil man ihnen zusätzlich zum aufgestocken Strukturfonds einen Adhäsionsfonds versprochen hat. Die Briten haben eine Ausnahmeregelung zur Sozialpolitik gemacht. Die Dänen haben erst zugestimmt, nachdem ihnen zugestanden war, daß die Regelungen für die Währungsunion wie auch die für den europäischen Staatsbürger für sie nicht gelten. So könnten wir auch zustimmen. Aber das hat mit Maastricht nichts mehr zu tun.Nur die deutsche Politik ist mit Hurra auf das sinkende Boot Maastricht gesprungen. Sie hat ihre Bevölkerung vorenthalten, ihre Meinung zu sagen, wo es um ihren Status geht, um ihre staatsbürgerlichen Rechte. Sie hat ihr vorenthalten, auch nur ein einziges Mal Stellung zu nehmen, bei Wahlen ihre Meinung wiederzugeben.Nein, das Ansehen der Deutschen ist dadurch nicht gewachsen. Es ist so niedrig wie noch nie. Der Bundeskanzler, der sich mit Adenauer vergleicht, hat nichts von Adenauer. Er hat auch nichts von Adenauer gelernt.
Zugunsten fragwürdiger politischer Freundschaft mit ausländischen Politikern wurde der Unfrieden im Land geschaffen: bei den Heimatvertriebenen, bei den Enteigneten, auf deren Buckel ohne ihre Beteiligung Aussöhnung und finanzpolitische Sanierung betrieben wurden.Wir sind von der inneren Einheit so weit entfernt wie nie zuvor. Wo hat diese Jugend bei uns in Deutschland Perspektiven? Wo sind die großen Ideale der Politik der Bundesregierung, die geistigen Grundlagen? Wir sollen sie hier diskutieren. Ich höre nur nichts davon.
Geistesarmut, Ideenlosigkeit, Stumpfsinn sind Markenzeichen dieser Politik.Wolfgang Schäuble hat heute früh in der Debatte die Grundlagen der nationalen Gemeinschaft betont. Dafür kämpfe ich schon seit vielen Jahren. Nur, keine Bundesregierung hat mehr gegen dieses Prinzip verstoßen als diese. Deutschland dürfe kein unverdaulicher Klotz in Europa werden: Das sind die Äußerungen des Bundeskanzlers hinter den Kulissen. Da merken wir, welche Infamie und welcher Zynismus dahinterstecken. Berlin ist doch nur ein Feigenblatt und etwas, was man finanzpolitisch überhaupt nicht vertreten kann.
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14814 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Ortwin LowackMeine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte nicht näher auf mein Spezialgebiet Außenpolitik eingehen,
will nur die Prinzipienlosigkeit, Feigheit und Einfallslosigkeit feststellen, vor allem die völlige Verkennung der Situation in Fernost und der Chancen, die beispielsweise die Entwicklung Taiwans und der Auslandschinesen für Gesamtchina auch zum Wohle der deutschen Politik hätte haben können.Ich darf nur eines festhalten: Wir brauchen in Deutschland eine grundsätzliche, eine gründliche demokratische Erneuerung. Wenn die Politik dafür zu schwach, zu egozentrisch, zu zynisch, zu müde, zu verkrustet ist, muß die Antwort, wenn die verfaßte Gewalt dazu nicht mehr in der Lage ist, von der verfassunggebenden Gewalt vom Volk kommen. Sie dürfen sicher sein: Sie wird kommen.
Ich erteile nunmehr das Wort dem Abgeordneten Dr. Briefs.
— Herr Abgeordneter Hinsken, das hat das Bundesverfassungsgericht mit Recht, wie ich glaube, so festgelegt. Wenn Sie das in der Landesgruppe montags abends hätten besprechen können, hätten Sie uns diesen Ärger erspart.
Nun hat der Abgeordnete Dr. Briefs das Wort.
Ich mache es so, wie es mir meine Zeit erlaubt. Herr Rose, Sie können sicher sein: Es wird ein Kontrapunkt zu dem sein, was soeben gesagt worden ist.
Die Politik dieses Bundeskanzlers und dieser Bundesregierung ist, oberflächlich betrachtet, eine Erfolgsstory. Das muß man zugestehen. Sieht man jedoch genauer hin, sind fast alle Erfolge dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers so geartet, daß sie dem eigentlich Notwendigen zuwiderlaufen.
Ein Beispiel: Die längste Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs in der Nachkriegszeit, einer der Erfolge dieser Bundesregierung, ist zugleich eine Zeit ökologischen Stillstands und zum Teil sogar des ökologischen Rückschritts gewesen. Die Bundesrepublik ist, so sagt die Bundesregierung selbst, ein unsicherer Standort für Investitionen geworden. Aber wer hat seit mehr als elf Jahren die politische Verantwortung für den angeblich unsicheren Standort Deutschland? Wenn es Modernisierungsdefizite gibt — die weiter anhaltenden Exporterfolge dieses Landes und die nach wie vor harte D-Mark sprechen indes eine etwas andere Sprache —, sind sie nicht auch vor allem den Fehlern dieser Bundesregierung zuzuschreiben?
Vor allem aber: Die Fehler und die Versäumnisse dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers haben uns etwas eingebracht, was womöglich nie wieder zu beseitigen ist, nämlich eine nach Millionen zählende Dauerarbeitslosigkeit. 7 Millionen fehlende Arbeitsplätze waren Anfang der 70er Jahre undenkbar. Da hat es Monate mit weniger als 100 000 registrierten Arbeitslosen gegeben und zugleich fünfmal soviel offenen Stellen. Sie waren auch Ende der 70er Jahre undenkbar, als die Arbeitslosigkeit bei etwa 1 Million statistisch erfaßter Arbeitskräfte lag.
Der Arbeitsmarkt ist dieser Bundesregierung — ich sage es einmal ganz vorsichtig — entglitten, und sie wird ihn nie wieder in den Griff bekommen. 7 Millionen fehlende Arbeitsplätze sind aber nicht nur eine Chiffre für wachsende soziale Not, Verarmung, Verelendung — von der Not der Wohnungssuchenden und Obdachlosen, Opfer vor allen Dingen der unsozialen Wohnungsbaupolitik dieser Bundesregierung, ganz zu schweigen —; 7 Millionen fehlende Arbeitsplätze sind auch Ausdruck eines rabiaten strukturellen Wandels in der Wirtschaft, in der mit immer mehr Kapital und immer weniger menschlichem Arbeitsaufwand immer modernere Produkte produziert werden. Sie sind Ausdruck eines gewaltigen und auch gewalttätigen Rationalisierungsprozesses, der schlicht und einfach immer weniger menschliche Arbeitszeit zur Erstellung der gleichen oder einer wachsenden Leistung notwendig macht.
Was tun diese Bundesregierung und dieser Bundeskanzler in dieser Situation? Sie fordern, die Arbeitszeit zu verlängern, statt sie zu verkürzen. Sie drücken auf die Personalkosten und die Personalnebenkosten, mit dem Ergebnis — das muß man ganz nüchtern betrieblich sehen —, daß sie mit den eingesparten Mitteln den Rationalisierungsprozeß und den Prozeß der Kapitalintensivierung in den Betrieben weiter anheizen. Sie bauen Arbeitnehmerschutzrechte und Gewerkschaftsrechte ab — das meiste kommt ja erst noch —, statt sie angesichts der wachsenden Schutzbedürftigkeit von Arbeitskräften in der modernen Produktion auszuweiten.
Wie man sieht: Die Politik dieses Bundeskanzlers und dieser Bundesregierung handelt konsequent dem Notwendigen und Vernünftigen zuwieder.
Ähnlich auf dem Gebiet der Umweltpolitik: Zu einem Zeitpunkt, in dem sichtbar geworden ist, daß nur eine Ökologisierung der Produktion wirklich zukunftsträchtige, wirklich sichere Arbeitsplätze und Absatzmöglichkeiten bieten kann, werden der Umweltschutz und der Naturschutz nicht ausgebaut, sondern abgebaut. Im Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie entscheidet sich diese Bundesregierung für die Ökonomie, zu Lasten einer gesunden Umwelt und zu Lasten der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen überhaupt auf diesem Planeten.
Der Bundesumweltminister, der eh in diesem Kabinett bestenfalls eine Alibifigur ist, wird vollends zum Statisten degradiert. Der Kanzler selbst, zweifellos eine außerordentliche politische Potenz und ganz und gar nicht die Figur, die insbesondere im Osten so oft etwas witzelnd angesprochen wird — das hat der Kollege Lowack soeben auch getan —, ist jedenfalls ökologisch ein blinder Fleck. Er hat überhaupt keinen
Dr. Ulrich Briefs
ökologischen Touch oder Charakter. Auf diesem Gebiet ist er überhaupt nicht existent.
Das größte und auf lange Sicht wohl verhängnisvollste Versäumnis dieses Bundeskanzlers und dieser Bundesregierung ist jedoch die grob fahrlässige Hinnahme der Rückentwicklung großer Teile der Bevölkerung dieses Landes zu einem nationalistischen, antisemitischen und rassistischen Bewußtsein. Es wäre falsch, davon auszugehen, daß dieses rassistische, antisemitische, nationalistische Bewußtsein von Bonn, von dieser Bundesregierung, von diesem Bundeskanzler oder aus diesem Parlament heraus erzeugt oder auch nur im wesentlichen geweckt worden wäre. Das Problem der Rechtsentwicklung mit unabsehbaren Folgen für Deutschland, für seine Nachbarn, für Europa ist weniger in den politischen Parteien und Institutionen dieses Landes verankert. Es steckt in der Bevölkerung, in den Menschen dieses Landes.
Wie die öffentlichen Beifallsbekundungen für Ausschreitungen gegen Hilflose und Wehrlose in Rostock, Hoyerswerda, Quedlinburg und Dolgenbrodt, diesem brandenburgischen Dorf mit dem unaussprechlichen Namen, und anderswo zeigen, ist es offensichtlich besonders ausgeprägt in der ostdeutschen Bevölkerung. Um Herrn Schäuble kurz zu zitieren: Auch da muß die Wahrheit gesehen und gesagt werden.
Das hat mit deutschen Traditionen, mit deutschen Sozialstrukturen, mit sogenannten deutschen Werten, mit sogenannten deutschen Tugenden und Sekundärtugenden, mit deutscher Geschichte und Erziehung, mit deutschen autoritären Familienstrukturen, mit dem deutschen Selbstverständnis zu tun.
Ich fürchte, es wäre auch ohne die Asyldebatte in irgendeiner Form zum Ausdruck gekommen. Es ist doch erschreckend, wenn Ignatz Bubis zu der Einschätzung kommen muß, daß in diesem Land ein Drittel der Bevölkerung antisemitisch ist. Ich sage es ganz offen: Angesichts der Angriffe in Rostock und anderswo, angesichts der getöteten Kinder und Frauen in Mölln und Solingen wäre so etwas wie Bevölkerungsverdrossenheit sicherlich ebenso verständlich wie die vielberufene Politikverdrossenheit.
Das große verhängnisvolle Versäumnis dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers war es, daß sie nicht ganz früh und mit aller gebotenen Gewalt des staatlichen Gewaltmonopols dieser Entwicklung entgegengetreten sind, und jede derartige Regelung bereits 1989 und 1990 im Keim erstickt haben. Polizeilich und juristisch Verfolgen und gesellschaftlich Ächten, das wäre notwendig gewesen.
Heute, so fürchte ich, ist es dazu zu spät. Wer auf eine zukünftige neokonservative Erziehung spekuliert — da bahnt sich ja so etwas an —, muß wissen, daß wir damit nicht ein oder zwei Generationen warten können. Das heißt: Mit der neokonservativen Erziehung können wir sehr wohl so lange warten. Aber mit den notwendigen Ergebnissen können wir nicht so lange warten. In den USA — das habe ich gerade einer Mitteilung entnommen — glauben inzwischen mehr als die Hälfte der Menschen, daß in Deutschland der Nationalsozialismus wiederkehren kann.
Übrigens, wenn die Bundesregierung endlich einmal ein deutliches Signal setzen will, sollte sie mit einer drastischen diplomatischen Demarche in der Slowakei gegen die Rehabilitierung des Klerikalfaschisten Tiso und gegen den offiziell angeheizten Antisemitismus sowie gegen die zu Pogromen führende Hetze gegen Roma vorstellig werden.
Diese und andere beängstigende Wahrnehmungen lassen ahnen, was — so fürchte ich — auch in diesem Land und in großen Teilen dieser Bevölkerung möglich sein wird, wenn sich der wahnsinnige Brand des Rechtsradikalismus weiter ausbreitet.
Der Bundeskanzler und die Bundesregierung sollten vielleicht einmal mit den europäischen Partnerregierungen über wirksame Wege zur Bekämpfung der Rechtsentwicklung in der Bevölkerung beraten und dann schnell und wirksam handeln. Es darf kein Spiel mehr mit dem Feuer rassistischer und nationalistischer Aggression, Werte und Neigungen in der deutschen Bevölkerung geben. Hier liegt die größte und wichtigste Aufgabe dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers in der Zukunft.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich der Bundesministerin für Familie und Senioren. Ich erteile Frau Ministerin Hannelore Rönsch das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Familienpolitik, die Seniorenpolitik und die soziale Wohlfahrtspolitik sind die drei großen Aufgabenfelder des in dieser Legislaturperiode geschaffenen Ministeriums für Familie und Senioren. Sie sind sachlich und inhaltlich eng miteinander verbunden und bilden eine integrale Einheit. So gehören ganz selbstverständlich die alten Menschen mit zum Familienverbund, bei Pflegebedürftigkeit werden über 70 % von ihren Familienangehörigen versorgt. Ebenso sind die Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege aus der Versorgung alter und pflegebedürftiger Menschen außerhalb der Familie nicht mehr wegzudenken.Die Sozialhilfepolitik wiederum steht allein schon aufgrund der Urteile des Bundesverfassungsgerichts im engsten Bezug zur gerechten Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs. Denn das Existenzminimum nach sozialhilferechtlichen Maßstäben ist von der Besteuerung freizustellen, dies gilt auch für den Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, der heute morgen darauf verzichten wollte. Wir sind nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu gehalten. Auch sie müssen das Mindestkindergeld von 70 DM erhalten.Auf dem Gebiet der Familienpolitik sind im laufenden Haushaltsjahr deutliche Verbesserungen in Kraft getreten. Beim Unterhaltsvorschußgesetz konnte die Bezugsdauer von drei auf sechs Jahre verdoppelt und die Altersgrenze von sechs auf zwölf Jahre angehoben werden. Beim Erziehungsgeld wurde die Bezugsdauer auf zwei Jahre ausgeweitet.Dem Zwang zum Sparen konnte sich allerdings auch der Etat des Familienministeriums nicht entzie-
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Bundesministerin Hannelore Rönschhen. Ich will hier kein Mißverständnis aufkommen lassen. Keine Mark, die den Familien zugute kommt, ist zu viel. Wir werden uns sicher auch in der Zukunft noch weitere Gedanken machen müssen, wie wir den Familienlastenausgleich noch gerechter gestalten können. Mir sind deshalb die Entscheidungen, die wir treffen mußten, mit Sicherheit nicht leicht gefallen, aber ich denke, daß es uns im Ergebnis nicht nur gelungen ist, unabwendbare Einsparungen sozial verträglich zu gestalten, vielmehr wurde sogar die Familienförderung ein Stück gerechter.Hierzu möchte ich zwei Beispiele nennen: Das Erziehungsgeld für Besserverdienende soll nun vom ersten Tag an einkommensabhängig gestaltet werden: Die Einkommensgrenze für Alleinerziehende liegt bei 110 000 DM, für Eltern bei 140 000 DM. Ich glaube, daß dies eine familienpolitisch unbedenkliche Maßnahme ist. Zu erheblich mehr Gerechtigkeit angesichts der knappen Mittel trägt bei, daß wir das aktuelle Einkommen zur Berechnungsgrundlage machen. Bisher war es üblich, daß das Einkommen von vor zwei Jahren zu Rate gezogen wurde. Geringerverdienende erhalten auch weiterhin ungeschmälert Erziehungsgeld. Wir verbinden hier das finanzpolitisch Nötige mit der Gestaltung von mehr sozialer Gerechtigkeit, und das ist durchaus zu vertreten.Das zweite Beispiel: Das Kindergeld bleibt unangetastet, auch beim dritten Kind. Dennoch sind Einsparungen notwendig, aber auch möglich geworden. Denn künftig wird das eigene Einkommen eines Kindes verstärkt berücksichtigt. Die Ausbildungsvergütung wurde bereits im Jahr 1976 mit einem gewissen Limit angerechnet. Zukünftig werden Einkünfte aus dem eigenen Vermögen eines Kindes mitberücksichtigt. Auch hier, meine ich, ist es ein Stück mehr Gerechtigkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Wochen, am 20. Oktober dieses Jahres, besteht das Familienministerium genau 40 Jahre. Vom ersten Bundesminister für Familienfragen — so hieß es damals —, Dr. Franz-Josef Wuermeling, war in den letzten Wochen wieder recht häufig die Rede. Der Wuermeling-Paß, die Fahrpreisermäßigung für kinderreiche Familien bei der Bundesbahn, ist seit 1955 ein Markenzeichen familienfreundlicher Tarifpolitik.Im Haushaltsentwurf 1994 war der Subventionsbetrag an die Bundesbahn erstmals nicht mehr enthalten. Ich darf Ihnen versichern, daß ich mich in den jetzt laufenden Verhandlungen ganz massiv dafür einsetzen werde, daß dieser Betrag auch weiterhin im Haushalt enthalten sein wird.
Allerdings meine ich, daß wir auch hier eine Einkommensgrenze einziehen können.Darüber hinaus, denke ich, sollte die Deutsche Bundesbahn aber auch aufgefordert werden, im Rahmen ihrer Tarifpolitik darüber nachzudenken, daß sie sich die Kunden von morgen, nämlich die Kinder, erhalten muß. Sie sollte Anreize schaffen, damit die Familien mit Kindern auch in der Zukunft zu ihrenStammkunden zählen. Ich erwarte von der Deutschen Bundesbahn, daß sie uns hier entgegenkommt.Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stehen alle gemeinsam vor der Aufgabe, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz des ungeborenen Lebens umzusetzen. Ich meine — und das ist meine feste Überzeugung —, daß dieses Thema in Wahlkämpfen nicht mißbraucht werden darf. Ich hoffe und wünsche mir, daß wir alle die Kraft aufbringen, mit der gebotenen Ernsthaftigkeit darüber zu diskutieren und auch in der gewünschten Eile gemeinsam einen Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen.Frauen in Konfliktsituationen haben zum augenblicklichen Zeitpunkt leider sehr viel Ungewißheit; es wurde auch über die Medien sowie durch verschiedene Kolleginnen und Kollegen dazu beigetragen. Frauen in schwierigen Lebenssituationen sollten endlich wissen, an wen sie sich wenden können. Wir müssen mit dazu beitragen, daß dies schnell geschieht.Vor dem Hintergrund des rasanten demographischen Umbaus unserer Gesellschaft gewinnt die Seniorenpolitik zunehmend an Bedeutung. Ich freue mich, daß dies mittlerweile von allen Seiten dieses Hauses so anerkannt wird. Wir stellen heute die Weichen für morgen und übermorgen; denn schon heute leben im wiedervereinigten Deutschland 16 Millionen Menschen, die über 60 Jahre alt sind. Das ist heute jeder fünfte Bundesbürger.Mit zunehmendem Alter erhöht sich natürlich auch das Risiko gesundheitlicher Einschränkungen. Hilfen und Pflegeleistungen im Alter gewinnen zunehmend an Bedeutung. Deshalb verfolgt die Bundesregierung mit großer Vehemenz das Ziel, die Pflegeversicherung so schnell wie möglich einzuführen.
Mir geht es ganz besonders darum, daß wir den 1,1 Millionen pflegebedürftigen alten Menschen, die zu Hause von ihren Angehörigen versorgt werden, 1994 tatsächlich weiterhelfen können. Tragen Sie alle mit dazu bei, helfen Sie mit! Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr, damit diese Pflegeversicherung, sozial gut ausgestaltet, endlich umgesetzt werden kann!Die Diskussion um die Pflegeversicherung überlagert augenblicklich, daß die überwiegende Mehrzahl der älteren und alten Menschen jedoch sehr aktiv und kompetent ist. Ich freue mich, wenn viele ältere Menschen ihre reiche Berufs- und Lebenserfahrung, ihre im Leben erworbene Kompetenz auch weiterhin in die Gesellschaft einbringen wollen.
Die Politik muß alles tun, um dieses Engagement, dieses große Potential zu nutzen.Gefragt ist eine moderne Altenpolitik. Mit dem Bundesaltenplan und dem darin enthaltenen Modellprogramm „Seniorenbüros" haben wir einen wichtigen ersten Beitrag geleistet. Ende 1993 werden insgesamt 32 Seniorenbüros ihre Arbeit aufnehmen. Ich erhoffe mir davon — auch von der offenen Konzeption, die wir angeboten haben, basierend auf dem ehrenamtlichen Engagement —, daß wir die vielfältigen Möglichkeiten zu Kontakten zwischen älteren Men-
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Bundesministerin Hannelore Rönschschen dann geschaffen haben und daß diese Kompetenz, die ich eben angesprochen habe, dann an viele weitergegeben wird.Meine sehr geehrten Damen und Herren, besonders schwerwiegende Entscheidungen standen in diesen Monaten auch in der Sozialhilfepolitik an, die mit einem Leistungsvolumen von 42,5 Milliarden DM eine der großen Säulen unseres sozialen Sicherungssystems bildet. Erfreulicherweise ist es hier wie in der Familienpolitik gelungen, die notwendigen generellen Einschnitte in das Leistungssystem durch die konsequente Vermeidung bzw. durch die Überprüfung von Mißbräuchen auch sozialverträglich vorzunehmen.Wir müssen alles daransetzen, daß die knapper gewordenen Mittel denen zugute kommen, die sie tatsächlich benötigen.
Wir müssen auch Mißbräuche vermeiden. Hier appelliere ich ganz deutlich an die örtlichen Sozialhilfeträger, daß sie die Arbeitsgelegenheiten schaffen, die nach § 19 BSHG jetzt im Gesetz festgeschrieben sind, nämlich daß Sozialhilfeempfänger auch zu gemeinnützigen Arbeiten herangezogen werden sollen.
In den Jahren 1994 und 1995 soll sich die Anpassung der Regelsätze am Anstieg der Nettolöhne ausrichten. Die Anwendung dieses Maßstabs ist sicher nur einmal ausnahmsweise gerechtfertigt. Aber sie ist gerechtfertigt in einer Situation, in der auch alle Arbeitnehmer netto keinen oder nur einen geringen Einkommenszuwachs zu erwarten haben. Dieser Schritt beinhaltet — und das gehört natürlich zur konsequenten Handhabung —, daß ab 1996 wieder auf die übliche Anpassung der Regelsätze zurückgegriffen wird.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke, daß wir im Interesse der Familien, der älteren Menschen innerhalb und außerhalb der Familien und ganz besonders im Namen der Schwächeren in unserer Gesellschaft aufgefordert sind, in den anstehenden Einzelberatungen sehr viel politische Sensibilität, Aufgeschlossenheit, aber auch das notwendige Verständnis für das wirtschaftlich Machbare aufzubringen. Bereits heute müssen wir die richtigen Weichen für langfristige, generationenübergreifende Erfordernisse unseres Zusammenlebens stellen. Wir alle haben die Aufgabe, Verantwortung wahrzunehmen. Wir sind dazu bereit, und wir laden Sie dazu ein.
Herr Kollege Michael Habermann, Sie haben jetzt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Minister, ich kann Ihnen zusichern, daß Ihre Rede immer ein gewisses Spannungsmoment hat. Wenn man als Abgeordneter zuhört, wartet man darauf, ob Sie irgend etwas Neues sagen. Aber ich muß Sie enttäuschen: Diese Spannung hält sich noch immer bei mir. Das, was Sie heute hier erzählt haben, haben wir schon öfters gehört.
— Es war zumindest nichts Schlechtes dabei, etwa die Ankündigung einer weiteren Kürzungsmaßnahme.Wenn Familien in diesem Land nach Bündnispartnern suchen, dann finden sie diese seit geraumer Zeit beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, bei den Familienverbänden und Wohlfahrtsverbänden sowie in Bonn bei der Opposition.
Diese Bundesregierung ist für Familien zu einer Belastung geworden. Sie belastet die Familien, sie ist unzuverlässig, sie ist in Teilen inkompetent, und ihre Politik ist aus unserer Sicht sozial ungerecht.
Diese Bundesregierung hält ihre Versprechen nicht. So geschehen mit der vom Bundesfinanzminister versprochenen Nachzahlung des Kindergeldes für alle Familien auf Grund des Bundesverfassungsgerichtsurteils 1990, wo letztendlich doch nur die etwas bekamen, die noch einen offenen Steuerbescheid hatten.Die Bundesregierung gibt Zusagen, um die sie sich nicht mehr kümmert — ich hoffe, daß es heute keine offen bleibende Zusage von Ihnen war, was die Weiterentwicklung des Lastenausgleichs betrifft; denn es steht noch eine offene Zusage aus —; so geschehen im Januar 1992, als die Zusage gegeben wurde, daß der Kinderlastenausgleich weiter ausgebaut wird und dem Parlament dazu noch in dieser Legislaturperiode Vorschläge vorgelegt werden.Diese Bundesregierung diskriminiert aber auch ihre eigenen familienpolitischen Leistungen, wenn sie das Erziehungsgeld als Geburtsprämie bezeichnet, die sich ein Staat nur in fetten Jahren leisten kann.
Die Bundesregierung entwertet das Zusammenleben mit Kindern, indem sie verfassungswidrig das Existenzminimum von Kindern nicht steuerfrei stellt, das Bedarfsdeckungsprinzip in der Sozialhilfe außer Kraft setzt und die Lastenausgleichsregelungen für Kinder und Familien wie beim Erziehungsgeld immer weiter kürzt.Der vorliegende Haushalt und die ihn begleitenden Spargesetze sind die Fortsetzung der Unzuverlässigkeit, der Inkompetenz und einer Politik der mangelnden sozialen Gerechtigkeit.Die Familienpolitik der Bundesregierung ist aus unserer Sicht gescheitert. Immer weniger junge Menschen können sich unter den bestehenden Rahmenbedingungen vorstellen, daß sie mit Kindern zusammenleben können. Bestehende Kinderwünsche werden aufgeschoben oder werden immer weniger realisiert. In ganz Deutschland wurden 1992 rund 809 000 Kinder geboren, 21 000 weniger als 1991.
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14818 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Michael HabermannVon dieser Entwicklung besonders betroffen sind die neuen Länder. Zwar hat sich der drastische Geburtenrückgang von 39,6 % im Jahr 1991 verlangsamt, aber die 88 000 Geburten im vergangenen Jahr stellen immerhin nochmals einen Rückgang von 18 % gegenüber 1991 dar.Mit dieser Entwicklung hin zur Kinderlosigkeit nimmt Deutschland mit seiner Geburtenziffer den drittletzten Platz unter den 18 Staaten des Europäischen Wirtschaftsraumes ein. Als einziges Land hat es dabei noch eine höhere Sterbeziffer.Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, müssen sich an diesen Zahlen messen lassen; denn — jetzt kommt ein Zitat —der Geburtenrückgang ist in der Bundesrepublik stärker als in allen anderen europäischen Ländern. Die Ursache ist darin zu sehen, daß sich das Klima für die Familie, oder besser gesagt für Kinder, negativ verändert hat. Sie ist darin zu sehen, daß für die durchschnittlich verdienenden Bürger in der Bundesrepublik Kinderreichtum mit sozialem Abstieg identisch wurde.Dieses Fazit hat der damalige Oppositionsführer und heutige Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl gezogen.Wir müssen heute nach elf Jahren Kohl-Regierung feststellen: Das fehlende familien- und kinderfreundliche Klima in unserer Gesellschaft ist das Spiegelbild der fehlenden Interessenvertretung von Familien und Kindern in dieser Regierung.
Ihre Versprechungen, die Sie nicht gehalten haben, haben das Vertrauen vieler Familien in die Interessenvertretung durch die Politik nachhaltig beeinträchtigt. Fehlende Konzepte, um gesellschaftliche Entwicklungen und deren Auswirkungen auf Familien zu begleiten, zeigen die familienpolitische Inkompetenz der Bundesregierung. Der Eindruck in der Fachöffentlichkeit muß bestätigt werden, daß die Bundesregierung eher mit großflächigen Werbeplakaten für die Ministerin mit Senioren auffällt als durch Aussagen und Handlungsstrategien für eine sozial gerechte Familienpolitik.
Wenn die Dreiteilung des ehemaligen BMJFFG einen Sinn gemacht hat, dann doch nur, um die Interessen von Familien und Kindern zielgerichteter und wirksamer wahrnehmen zu können. Wenn die Innovationskraft und die Kompetenz, die Fachlichkeit und das Durchsetzungsvermögen hätten verbessert werden können, so wäre auch dies eine Zielsetzung gewesen. Diese Zielsetzungen sind aber bis heute nicht erfüllt. Glauben Sie uns: Wir Sozialdemokraten hätten uns doch lieber mit den familienpolitischen Vorschlägen und Absichten des Ministeriums auseinandergesetzt als mit dem stetigen Problem des Personalmangels in den einzelnen Häusern.Der Verlauf der bisherigen Legislaturperiode zeigt, daß die Familienpolitik durch die Koalition und die Regierung keine neuen Impulse erfahren hat. Sie waren noch nicht einmal bereit, gute Vorschläge von uns zu unterstützen. Sie sind gegen einen Kinderbericht, wie ihn die Kinderkommission vorgeschlagen hat. Sie sind gegen einen Bericht über die Höhe des Existenzminimums, wie es aus der ersten Lesung herauszuhören war, und Sie sind gegen einen Armutsbericht. Dabei ist Ihre Angst vor dem Offenlegen der Wahrheit und dem ganzen Ausmaß der benachteiligten Lebenssituation von Familien mit Kindern durchaus begründet.Der Armutsbericht des Deutschen Caritasverbandes sowie jüngste Untersuchungen des rheinland-pfälzischen Sozialministeriums belegen die zunehmende materielle Verarmung von Familien. Bei immer mehr Personen mit Kindern ist festzustellen, daß das Einkommen mittlerweile unterhalb der Sozialhilfeschwelle liegt. Der Anteil der Familien unterhalb der nach Sozialhilfesätzen definierten Armutsgrenze hat sich in dem Zeitraum von 1981 bis 1986 verdoppelt. In Rheinland-Pfalz hat sich die Zahl der Familien mit Kindern, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, von 1980 bis 1990 um 250 % erhöht.Die noch vor 20 Jahren klassische Armutsgruppe der älteren Menschen, insbesondere der älteren Frauen, ist längst von einer neuen Armutsgruppe, nämlich von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie von Frauen, die mit Kindern zusammenleben, abgelöst worden.
Wir wissen alle, welche negativen Auswirkungen materielle Armut auf die Entwicklung von Kindern und das Zusammenleben der Eltern hat.Der Zusammenhang zwischen Kindern und Armut ist auch von Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren der Regierungskoalition, nicht mehr zu leugnen. Wir als SPD-Bundestagsfraktion finden es beschämend, daß Kinder in einer der reichsten Industrienationen wie der unsrigen jetzt zum Armutsrisiko Nummer eins geworden sind.
Eine für die Familien positive Antwort auf diese Entwicklung bleibt die Bundesregierung allerdings schuldig.Wir Sozialdemokraten verfolgen mit der von uns vertretenen Familienpolitik mit Sicherheit keine demographischen Ziele. Angesichts der von der Bundesregierung ständig beklagten Alterung unserer Gesellschaft vermisse ich jedoch zusätzliche Initiativen, die die individuelle Entscheidung für Kinder positiv unterstützen. Im Gegenteil: Wir müssen feststellen, daß in jeder neuen Sparrunde Personen mit Kindern überproportional zur Kasse gebeten werden. Bei Familien mit Kindern kumulieren die Auswirkungen Ihrer Sparoperationen. Und Ihnen ist das — so sieht es zumindest aus — gleichgültig. Sie schneiden immer tiefer in das soziale Netz für Familien.
— Dann sind Sie hier genau richtig! Hören Sie genau zu, dann können Sie vielleicht auch noch etwas mitnehmen.
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Michael HabermannSie schrecken auch nicht davor zurück, weitere Kürzungen im Bereich des Bundessozialhilfegesetzes vorzuschlagen. Schon innerhalb des Föderalen Konsolidierungsprogramms wurden die Kürzungen im Bereich der Sozialhilfe seitens der Bundesregierung damit begründet, das im BSHG verankerte Gebot des Abstands zwischen unteren Lohngruppen und Sozialhilfeempfängern sei nicht mehr gewahrt. Wir wissen alle, daß diese Behauptung so nicht zutrifft. Vergleicht man nämlich das Nettoeinkommen eines alleinstehenden Vollzeitarbeitnehmers der unteren Lohngruppe in Höhe von 1 894 DM im Jahre 1991 mit der Höhe des Sozialhilfeeinkommens eines Alleinstehenden in Höhe von 1 049 DM, so ist der vielzitierte Lohnabstand sehr wohl gewahrt.Kritisch, sehr kritisch wird der Vergleich erst mit steigender Kinderzahl. Daß der Lohnabstand mit zunehmender Anzahl von Kindern kleiner wird, liegt daran, daß sich die Leistungen des Bundessozialhilfegesetzes am Existenzminimum aller Familienmitglieder orientieren, was bei den Arbeitseinkommen, bedingt durch einen völlig unzureichenden Familienlastenausgleich, fatalerweise nicht der Fall ist.Selbst der Deutsche Caritasverband — ein Verband, der Ihnen sehr nahe steht — stellt in seinem Armutsbericht „Arme unter uns" die Forderung auf, daß sich das Abstandsgebot zu unteren Lohngruppen nur auf den Abstand zu dem Nettoeinkommen Alleinstehender beziehen darf.Ganz abgesehen von dieser Kritik ist die Ausgewogenheit von Löhnen und Sozialhilfe in nahezu 90 aller Fälle auch gewahrt. Nach Berechnungen des Deutschen Caritasverbandes lebten 1991 78 % der Sozialhilfeempfänger in Ein- und Zwei-PersonenHaushalten und 9 % in Drei-Personen-Haushalten.
— Doch, bei uns schon immer. Da täuschen Sie sich.Dazu der Caritasverband in seiner Stellungnahme zum Sparprogramm der Bundesregierung:Selbst Kritiker— zu denen gehören Sie ja —des zu geringen Abstandes von Lohn und Sozialhilfe behaupten eine Verletzung des Abstandsgebotes nur bei den Haushalten mit vier oder mehr Personen. Folglich wird fast 90 % der Sozialhilfeempfänger eine Einbuße zugemutet mit einer Begründung, die für sie gar nicht zutrifft.
Es ist ein Skandal — und das macht mich besonders betroffen —, daß die Bundesregierung die von ihr in Auftrag gegebene statistische Untermauerung des angeblich nicht vorhandenen Lohnabstandes bis heute nicht vorlegen kann. Mit anderen Worten: Die Bundesregierung kürzt die Sozialhilfe nun schon zum zweitenmal in diesem Jahr mit einer Begründung, deren Verifizierung noch aussteht. Deshalb fordern wir Sozialdemokraten: Legen Sie endlich Ihre Daten offen, und weisen Sie die Schlüssigkeit Ihrer Begründung für die Kürzung der Sozialhilfeleistungen nach.Meine Damen und Herren, die soziale Kälte der Politik der Bundesregierung hat nicht nur weitere Verarmungsprozesse der betroffenen Menschen zur Folge — so wie uns der DGB das vorgerechnet hat —, sie führt auch zu skandalösen Ausgrenzungsprozessen aus den Sicherungssystemen und zu einem Abgleiten in die Sozialhilfe. Sie reichen mit Ihrer Politik die Menschen von den Leistungen des Arbeitsförderungsgesetzes direkt an die Sozialhilfe weiter. Den Kommunen, von denen Sie immer vollmundig verlangen, für die Umsetzung des Rechts auf einen Kindergartenplatz geradezustehen, verschütten Sie mit Ihrer Sozialpolitik hemmungslos die finanziellen Spielräume, um dieser und anderen sozialen Aufgaben auch nur annähernd gerecht zu werden.Ihrer Verantwortung obliegt es, daß die schon benachteiligten Familien nicht noch weitere Nachteile erleiden müssen.Familien in den neuen Ländern sind noch stärker von den Auswirkungen Ihrer Politik betroffen. Wer die Lebensverhältnisse vieler Familien in den neuen Ländern kennt, weiß von den ungleich schwereren Bedingungen, als Familie leben zu können. Nicht nur die Wohnung und das Wohnumfeld, auch die erst im Aufbau befindliche soziale Infrastruktur und die weitaus größere Problematik der Arbeitslosigkeit machen den Familien zu schaffen.Dabei reduziert sich die vorhandene familiäre Selbsthilfemöglichkeit in dem Umfang, wie die äußeren Belastungen und Einschränkungen dieses Selbsthilfepotential zunehmend in Anspruch nehmen. Viele Familien fürchten um ihre Existenz, sehen sich den Belastungen nicht gewachsen, zerbrechen und gehen auseinander. Ihre Politik für Familien nicht nur in den neuen Ländern läßt das notwendige Maß an Fürsorglichkeit vermissen. Es ist Ihr fehlendes Gespür und Ihre nicht sichtbar werdende Verantwortung, die betroffen macht und erschreckt.Nicht erst durch die Vereinigung Deutschlands hat sich die Lebensrealität vieler Familien in den letzten Jahren stark verändert. Trotzdem orientiert sich Ihre Familienpolitik an Leitbildern, die diese gesellschaftlichen Veränderungen nicht berücksichtigen. Obwohl die Erziehung von Kindern eine gesellschaftlich notwendige Leistung ist, werden Menschen, die diese Aufgabe übernehmen, von dieser Regierung nur unzureichend unterstützt.Spüren alle Familien gegenüber Kinderlosen diese Nachteile, so sind die alleinerziehenden Mütter und Väter, insbesondere die Mütter, von dieser Situation besonders betroffen. Gerade diese in den letzten Jahren immer größer gewordene Gruppe von Familien benötigt positive Veränderungen in den bestehenden Rahmenbedingungen für ihre Lebensführung.Eine dieser positiven Veränderungen wäre die Flexibilisierung der Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs und des Erziehungsgeldes. Warum soll es nicht möglich sein, den Erziehungsurlaub als Zeitkontingent bis zum 12. Lebensjahr eines Kindes zu nehmen, nämlich genau dann, wenn er von der
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14820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Michael HabermannFamilie und dem Kind benötigt wird? Der Verwaltungsaufwand wäre sicherlich geringer als der für die Umsetzung der aktualisierten Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld.
Dabei verstehen die Familien die Aktualisierung der Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld nicht; denn seit 1986 ist das Erziehungsgeld in seiner Höhe gleichgeblieben. Warum aktualisieren Sie nicht auch einmal die Höhe des Erziehungsgeldes, um eine jährliche Entwertung der Honorierung der Erziehungsleistungen zu verhindern?
Die aktualisierten Einkommensgrenzen führen zwar laut Haushaltsentwurf zu Einsparungen im Bundeshaushalt, aber der Verwaltungsaufwand bei den Ländern frißt diese Einsparung auch schon wieder auf.
Für diese Bundesregierung gilt eben der Spruch, daß sich aus anderer Leute Leder gut Riemen schneiden läßt.Hier — und nicht nur hier — unterscheiden wir Sozialdemokraten uns von Ihnen: Statt mehr Bürokratie und Verwaltungsaufwand für familiäre Leistungen wollen wir Sozialdemokraten mehr Transparenz und mehr Durchschaubarkeit. Leistungen für Familien dürfen für diese nicht im Paragraphendschungel hängenbleiben. Leistungen müssen einfach erreichbar sein. Diesen Forderungen wird Ihre Familienpolitik nicht gerecht.Ihre Familienpoliltik hat nicht nur Strukturdefizite. Auf neue Entwicklungen und Anforderungen wissen Sie auch keine Antwort. Selbst die Auflagen des Bundesverfassungsgerichtes sind Sie nicht bereit zu erfüllen. Ohne Rücksicht auf dessen Urteil besteuern Sie seit fast zwei Jahren verfassungswidrig die Unterhaltsaufwendungen für das Existenzminimum von Kindern. Sie nehmen den unterhaltsleistenden Eltern so Jahr für Jahr Milliardenbeträge ab und tragen so zu den Verarmungsprozessen von Familien bei.Das Existenzminimum von 600 DM pro Kind und Monat wollen Sie durch Ihre Eingriffe in die Sozialhilfe auf Dauer festschreiben.
Wir appellieren an Sie: Hören Sie auf, am Existenzminimum der Ärmsten zu manipulieren!
Wir fordern Sie deshalb auch hier und heute wiederholt auf: Stellen Sie umgehend eine verfassungskonforme Besteuerung der Familie sicher.
Einen Haushaltsentwurf, der gegenüber dem laufenden Jahr mehr als eine Verdoppelung der Ausgaben für das Internationale Jahr der Familie vorsieht, aber bei Erziehungsgeld und Kindergeld Ausgabenkürzungen zu verzeichnen hat, können wir so nicht akzeptieren. Eine Bundesregierung, die die Haushaltsmittel für ihre Selbstdarstellung erhöht, es aber nicht schafft, einen verfassungsgemäßen Kinderlastenausgleich sicherzustellen, kann von uns für ihren Haushalt keine Zustimmung erwarten.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Norbert Eimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mich in meiner Rede beschränken auf das Thema Familienlastenausgleich, und die notwendigen Kürzungen sowie das zukünftige Konzept des Familienlastenausgleichs, das der Finanzminister gestern in seiner Einbringungsrede vorgestellt hat, nämlich alles über Freibeträge zu regeln; nur für Bedürftige wird Kindergeld gezahlt.Es ist bekannt, daß ich nicht unbedingt ein Freund von Freibetragsregelungen bin; andere Lösungen sind mir lieber. Aber dieses System ist wenigstens in sich stimmig. Die Argumente der SPD — wie sie von Frau Matthäus-Maier vorgetragen wurden —, der Finanzminister gebe dem, der viel verdient, mehr als dem, der wenig verdient, ist falsch.
Das kann nur jemand sagen, der nicht rechnen kann.Das Existenzminimum darf nach dem Urteil des Verfassungsgerichts nicht besteuert werden. Also gibt der Finanzminister über Freibeträge die Steuer, die er zuviel verlangen würde, zurück. Der Besserverdienende hat aber für den gleichen Betrag des Existenzminimums mehr Steuern gezahlt als derjenige mit geringem Einkommen. So bekommt jener auch mehr zurück als der andere. Das heißt aber — und das ist die Funktion der Freibeträge —, daß der Staat gemäß der Forderung der SPD alle Kinder gleich behandelt, ganz gleich, ob sie arm oder reich sind, und zwar dadurch, daß alle gleiche Steuern zahlen für das Existenzminimum, nämlich gar keine, so wie das Verfassungsgericht es fordert.Wie schon gesagt, meine Kollegen, ich bin kein Freund dieser Regelung, aber man muß wenigstens bei der Logik und bei der Wahrheit bleiben.
Ihre Argumente sind mathematisch falsch.Wenn nun aber ein in sich stimmiges System angestrebt werden soll, dann dürfen die notwendigen Operationen von einem solchen System nicht wegführen, sondern müssen zu ihm hinführen. Wenn ich also jetzt Kritik übe an dem, was die Bundesregierung vorhat, so ist dies nicht im Sinne der SPD, sondern ich versuche konstruktiv aufzuzeigen, wo noch Änderungen notwendig sind. Ich hoffe, daß im Bundestag die Ausschüsse, vor allem die Kollegen der Koalition diese Argumente aufnehmen.Zunächst aber eine generelle Aussage: Das Kindergeld ist ein Teil unseres Steuersystems. Es war der
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14821
Norbert Eimer
erste Teil einer umfassenden Steuerreform zu Beginn dieser Koalition, Anfang der achtziger Jahre. Ich wiederhole: ein Teil des Steuersystems, keine soziale Maßnahme, die ohne weiteres disponibel ist. Eine Kürzung an dieser Stelle ist eine Steuererhöhung für Familien mit Kindern und keine Steuererhöhung für Familien ohne Kinder. Ich meine, wir dürften hier eigentlich nicht mehr kürzen.Nun wird aber zu Recht gesagt: Wenn jemand Mehrausgaben vorschlägt oder Kürzungen verhindern will, so soll er Alternativen vorschlagen, und zwar im eigenen Bereich. Wo wollen wir aber im Familienbereich etwas finden, wenn fast alles in dem Haushalt des Familienministeriums Familienlastenausgleich ist. Meine Kollegen, wir müssen leider feststellen, daß der Knochen abgelutscht ist. Er gibt nicht mehr viel her.Ich komme nun zu den einzelnen Vorschlägen: Kinder, die über 16 Jahre alt sind, sollen zukünftig beim Kindergeld nicht mehr berücksichtigt werden, wenn sie als Ausbildungsvergütung oder durch andere Einkünfte ein Bruttoeinkommen von wenigstens 750 DM monatlich erhalten. Das klingt auf den ersten Blick ganz vernünftig, aber wie wirkt es sich aus?Stellen Sie sich vor, ein Auszubildender bekommt 749 DM im Monat, und er ist das dritte Kind, so bekommt er das Kindergeld dazu, und das macht zusammen 969 DM. Verdient er aber eine Mark mehr, dann hat er plötzlich 219 DM weniger. Das ist ein Sprung von 29 %. Ich glaube, wir müssen uns überlegen, ob wir das so machen dürfen. Ich glaube nicht. Wir müssen uns da etwas anderes einfallen lassen, um die gleichen Kürzungen zu erhalten.Die zweite Maßnahme, die die Bundesregierung ändern will, ist die Bekämpfung des Mißbrauchs durch Manipulation in der Zuordnung des Zweit- und Drittkindes. Etwas anders ausgedrückt: Unverheiratete können durch Zuordnung des Bezugsberechtigten manipulieren, daß sie mehr Kindergeld bekommen. Die F.D.P. wird bei der Änderung mitmachen. Ich glaube, diese Änderung ist berechtigt. Wir werden das unterstützen.Eine weitere Maßnahme, beim Kindergeld noch einzusparen, soll dadurch erreicht werden, daß das Kindergeld für die oberen Einkommensgruppen, nämlich Verheiratete 150 000 DM, Ledige 120 000 DM — ich habe gerade in der Rede gehört, daß das auf 140 000 DM bzw. 110 000 DM geändert wurde — auf den Sockelbetrag von 70 DM reduziert werden soll.Ich habe meine Berechnungsbeispiele für die alten Werte gemacht. Die neuen Werte sind eigentlich noch schlimmer. Das betrifft vor allem Eltern mit Drittkindem. Ich will bei den alten Zahlen bleiben. Ob jemand mit diesem Einkommen, bei einem Ledigen sind es wahrscheinlich um die 8 000 DM im Monat, 70 DM Kindergeld mehr oder weniger hat, spielt in dieser Einkommenshöhe keine Rolle mehr. So könnte man diese Kürzung hinnehmen. Aber damit wird der systematische Fehler, der hier eingeführt ist, noch verstärkt.
— Ich wundere mich immer über den Beifall der SPD. Aber wenn ich Ihnen nachweise, daß Sie auch nicht rechnen können, dann sind Sie völlig uneinsichtig.Wenn also einem Paar nach den alten Zahlen 150 000 DM, also pro Person 75 000 DM, einem Ledigen 120 000 DM zugebilligt werden, dann heißt das, daß pro Kopf in einer Familie 45 000 DM weniger Einkommen zur Verfügung stehen, ohne daß bei Ledigen gekürzt wird. Damit wird der Irrsinn dieser Einkommensgrenzen deutlich. Wer soll denn dann noch heiraten, wenn jemand, der ledig ist, und Paare, die ledig sind und zusammenleben, mehr Vorteile vom Staat bekommen als jemand, der zum Standesamt geht?
Nun wird man mir vielleicht vorhalten, daß es so etwa ähnliches bereits gibt. Das ist schlimm genug. Aber dieser Fehler beträgt nur ungefähr 460 DM im Monat an Einkommensunterschied. Das ist tolerabel.Selbst wenn man dieses System für richtig hält und versucht nachzurechnen, wie hoch eigentlich die Freibeträge für Erwachsene und Kinder sind, kommt man nach den alten Zahlen auf ein merkwürdiges Ergebnis, nämlich für Erwachsene 30 000 DM und für Kinder 90 000 DM. Diese Berechnung muß ein Jurist gemacht haben — denn es heißt ja: „Judex non calculat" oder jemand, der mit der Mathematik auf Kriegsfuß steht.Ich halte eine derartige Ungleichbehandlung von Ledigen und Verheirateten für verfassungswidrig, auch wenn es hier nur um 70 DM im Monat geht. Die gleichen Argumente gelten selbstverständlich auch für die Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld. Auch hier, meine ich, müssen wir im Parlament nachbessern. Ich will gleich sagen: Wir wissen, daß gespart werden muß, auch im sozialen Bereich. Hier sind die Argumente der SPD falsch. Wir werden uns nicht verweigern, wenn es darum geht zu kürzen.Der Finanzminister hat in seiner Einbringungsrede einen sehr guten Vergleich gebracht:Wir können nicht das Saatgut verfrühstücken, was wir für die nächste Periode brauchen.Wir wissen das, aber ich meine, wie sollten uns zusammensetzen und so viel Selbstbewußtsein haben — wir im Parlament, in den Ausschüssen —, daß wir versuchen, die systematischen Fehler, die auch im Hinblick auf das Fehler sind, was der Finanzminister will und was er gestern hier vorgetragen hat, auszubessern, damit am Ende ein besseres System als das herauskommt, was bisher vorgesehen ist.Vielen Dank.
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14822 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Ortrun Schätzle das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer in den letzten Wochen vor Ort in die Bevölkerung und in die Familien hineinhörte — und dazu bot sich ja für uns Abgeordnete reichlich Gelegenheit —, der war in aller Schärfe mit Zukunftssorgen konfrontiert, mit der Sorge um den Arbeitsplatz, mit der Sorge um die Übernahme der Kinder durch den Betrieb nach abgeschlossener Ausbildung, mit der Sorge um die Staatsfinanzen und die weitere Entwicklung bei uns in Deutschland, aber auch draußen in der Welt.
Der dringende Wunsch nach einer ordnenden politischen Hand war spürbar, und war von Zukunftssicherung und vom Sparen die Rede, dann wurde auch eigene Sparbereitschaft signalisiert, aber nur unter der Bedingung, daß die Wertmaßstäbe unseres sozialen und gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht außer acht gelassen werden, vorrangig in der Familien- und Seniorenpolitik, denn Familien- und Seniorenpolitik ist nicht ausschließlich nur Finanzpolitik.
Der vorliegende Haushaltsentwurf des Geschäftsbereichs des Bundesministeriums für Familie und Senioren wird diesen Ansprüchen gerecht. Der Einzelplan 18 erfährt keine unverantwortbaren Einbrüche; er sieht keinen Kahlschlag vor. Er geht im Rahmen der Sparauflagen wie alle anderen Haushaltsbereiche die Verpflichtung ein, strukturelle Veränderungen zugunsten einer gerechteren Verteilung der knapp bemessenen Haushaltsmittel vorzunehmen.
Der Haushalt für Familien und Senioren darf sich dem Ordnungsprinzip nicht verschließen, einkommensschwache Familien stärker zu unterstützen als einkommensstarke Familien. Es ist ein gutes Stück Zukunftssicherung für Familien, wenn unterstützungsbedürftige Familien in ihrer Existenz gefestigt werden, indem grundsätzlich die Leistungsberechtigung an die Höhe des Familieneinkommens gekoppelt wird.
Die bisherige Haushaltsdebatte hat verdeutlicht, daß der Sozialstaat mit seinen bisherigen Angeboten nicht mehr finanzierbar ist. Daher darf kein Haushaltsbereich tabu sein, wenn es darum geht, Überversorgung, Unwirtschaftlichkeit, auch Ungleichheit oder gar Mißbrauch abzubauen.
Ich meine, vor allem aus Verantwortung gegenüber der jungen Generation darf kein Blankoscheck auf deren Zukunftsbelastung ausgestellt werden.
Die Bundesregierung orientiert ihre Maßnahmen an den veränderten Lebensformen von Familien. Das Einkommen des nichtehelichen Lebenspartners wird in die Einkommensbewertung mit einbezogen. Auch das ist für mich Zukunftssicherung von Familien und
Kindern durch die stärkere Mitverantwortung meist der Väter.
Die neuen Kriterien für den Bezug von Erziehungsgeld sind von sogenannten Großverdienern oft eingefordert worden. Hat nicht die finanzpolitische Sprecherin der SPD oft über die Medien gefragt, warum sie und entsprechende Einkommensbezieher nicht auf das Erziehungs- bzw. Kindergeld verzichten dürften? — Jetzt ist es soweit.
Der Bezug von Erziehungsgeld soll grundsätzlich von Anfang an einkommensabhängig erfolgen.
Verheiratete und Partnerschaften mit einem Jahreseinkommen von netto über 100 000 DM und andere Berechtigte mit einem Einkommen von über 75 000 DM verlieren ihre vollen Ansprüche.
Bisher wurde das Erziehungsgeld in den ersten sechs Monaten grundsätzlich einkommensunabhängig in Höhe von 600 DM pro Monat gezahlt. Danach erfolgte die einkommensabhängige Zahlung bis zum 24. Lebensmonat des Kindes.
Interessant ist, daß 76,5 % der Erziehungsgeldempfänger in den alten Bundesländern auch nach dem sechsten Lebensmonat des Kindes das Erziehungsgeld in voller Höhe von 600 DM erhielten,
was beweist, daß nur ein kleiner Teil, nämlich keine 25 %, zu den Höherverdienenden zählt und von den neuen Maßnahmen betroffen sein wird.
In den neuen Bundesländern macht die betroffene Elterngruppe einen verschwindend geringen Teil der Eltern aus, nämlich nur 2,6 %, die ab dem siebenten Lebensmonat des Kindes nicht mehr berechtigt sein werden, Erziehungsgeld zu beziehen. Für die neuen Bundesländer ist diese Neuregelung kein Thema.
Frau Kollegin Schätzle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Habermann?
Ja, bitte.
Bitte sehr, Kollege Habermann.
Frau Kollegin, Sie haben soeben erwähnt, daß 76 % der Familien nach dem sechsten Lebensmonat ihres Kindes das Erziehungsgeld ungekürzt weiterbekommen. Würden Sie mir zustimmen, daß die Höhe der Einkommensgrenze, die fast identisch ist mit der Höhe der Sozialhilfeleistungen, eher ein Ausdruck für die Armut dieser Familien ist, als daß es sich hier um eine Wohltat handelt?
Herr Habermann, ich glaube, daß gerade die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, auf die ich nachher zu sprechen kommen werde, sich auch Gedanken zu machen, ob
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14823
Ortrun Schätzlesich die Sozialhilfesätze in der richtigen Höhe bewegen,
ein Ansatzspunkt ist, auch mit den Einkommen der unteren Einkommensklassen so zu verfahren,
daß wir nach dem Prinzip der Gerechtigkeit handeln.
Der heute auf Grund der Sparmaßnahmen so wichtige Gedanke zur Überprüfung und Neufestsetzung der Anspruchsberechtigung zieht sich durch das gesamte Gefüge der Familienleistungen. Der Bezug von Erziehungsgeld orientiert sich auch für das zweite Jahr am aktuellen Einkommen. Ebenso gelten beim Bezug von Kindergeld in Zukunft andere Einkommenskriterien. Entsprechend wie beim Erziehungsgeld — es wurde schon erwähnt — wird auch das Kindergeld bei höheren Einkommensgruppen ab dem dritten Kind auf einen Sockelbetrag vermindert.Darüber hinaus findet das Einkommen von Kindern in der Ausbildung in Zukunft eine stärkere Berücksichtigung als bisher. Auch wer in der Vergangenheit auf einen Teil der Ausbildungsvergütung zugunsten der Kindergeldanrechnung verzichtet hat, kann diesen Weg der Anspruchsbegründung in Zukunft nicht mehr gehen.Korrekturen der Anspruchsberechtigung in der Familienpolitik müssen durch eine verstärkte Politik zur Entlastung von Familien ergänzt werden. Für uns Familienpolitiker war die gestrige Aussage unseres Finanzministers Theo Waigel von größter Bedeutung, den Familienlastenausgleich auf der Tagesordnung zu halten, um das Existenzminimum — die Zusage steht —
von Kindern entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts abzusichern.
Ich bin zuversichtlich, daß wir auch eine familienfreundliche Entscheidung im Sinne des Wuermeling-Passes im Rahmen der Haushaltsberatungen fällen werden.Wenn Haushaltskonsolidierung durch Einsparungen bei öffentlichen Ausgaben Zukunftssicherung bedeutet, dann dürfen auch die Sozialausgaben im Bereich der Sozialhilfe kein Tabu sein. Die zwiespältige Forderung, vom Staat Sparsamkeit zu erwarten, aber an den eigenen Besitzständen festzuhalten, greift nicht.
Den Umfang der bisherigen Sozialleistungen können wir uns nicht mehr leisten. Er ist nicht mehr finanzierbar. Den im Gegensatz zur Lohn- und Einkommensentwicklung hohen Anstieg der Sozialhilfesätze in den letzten Jahren — er lag bei 60 % — werden wir weder fortführen können, noch eben imVergleich, wie ich vorhin sagte, zu den Einkommen niedriger Lohnstufen verantworten können.
Zukunftssicherung im Rahmen von Standortsicherung in Deutschland ist vor allem auch für die ältere Generation von existentieller Bedeutung.
Hauptanliegen der Seniorenpolitik muß bleiben, Hilfen und Hilfsdienste für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen zu verbessern und sie vielfältiger zu gestalten als bisher. Wir brauchen auch mehr Rehabilitationseinrichtungen und seniorengerechte Wohnungen.Wie wir in der gestrigen Debatte gehört haben, ist die Pflegeversicherung endlich auf den Weg gebracht.
Sie ist notwendig und unverzichtbar.Es ist ein Verdienst der Bundesministerin für Senioren, durch die Erstellung und Breitenwirkung des Bundesaltenplans mit der Vorstellung aufgeräumt zu haben, daß Seniorenpolitik nur Politik für pflegebedürftige Menschen sei.
Es stimmt nicht, daß ältere Menschen meist wenig aktiv, kaum kreativ oder nur einsam, krank und pflegebedürftig seien. Die aktiven Senioren in meinem Wahlkreis haben mich eines Besseren belehrt. Infolge der demographischen Entwicklung und der verlängerten Lebensdauer beteiligen sich 80 % der Senioren noch tatkräftig und lebenstüchtig am Alltagsgeschehen.Der Bundesaltenplan hat daher mit seiner offensiven Seniorenpolitik richtungsweisende Orienteirung für Maßnahmen und Projekte verschiedenster Art gegeben. So wird neben der persönlichen Selbständigkeit auch die gesellschaftliche Teilhabe bis ins hohe Alter erhalten. Dabei nehmen die Seniorenbüros eine Schlüsselfunktion ein. Sie leisten überall im Land, auch in den neuen Bundesländern, wo sie eröffnet sind, hervorragende Arbeit. Sie sind Drehscheibe für Information und Kommunikation, sie vermitteln Hilfe und Beratung, sie fördern kulturelle und sportliche Aktivitäten und koordinieren soziale Netze, Ehrenamt und Selbsthilfe.Die 80er Jahre haben gezeigt, daß auch im Rahmen knapper Mittel gestalterische Politik möglich war.
Damals wurde neben einer erfolgreichen Konsolidierungspolitk konstruktive Familienpolitik betrieben: Verbesserungen beim Kindergeld und bei den Kinderfreibeträgen, die Anrechnung von Erziehungszeiten im Rentenrecht und die Einführung von Erziehungsgeld.Es muß weiterhin gelingen, unter veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Überzeugung zu vermitteln, welchen hohen gesellschaftlichen Wert die derzeitige Bundesregierung Familien und älteren Mitbürgern zumißt. Ich bin der Überzeugung, daß wir,
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14824 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Ortrun Schätzledie Familien- und Seniorenpolitiker der CDU/CSU, die Bundesregierung auch in Zukunft in allen ihren Bemühungen unterstützten werden.Vielen Dank.
Das Wort erhält jetzt Frau Kollegin Dr. Barbara Höll.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einem Zitat beginnen:Es bleibt unsere vornehmste Pflicht, die Familie zu stärken ... Wir wollen die Familien noch stärker als bisher steuerlich entlasten, ihre Förderung durch Kindergeld wollen wir ausbauen . . . Das Kindergeld werden wir so ausgestalten, daß es nicht allein der Herstellung von Steuergerechtigkeit dient, sondern darüber hinaus Familien um so stärker fördert, je niedriger ihr Einkommen und je höher die Kinderzahl ist.Und weiter:Unsere Politik wird in besonderem Maße auf die Bedürfnisse der älteren Generation ausgerichtet sein. Unsere Gesellschaft muß den Alteren ein Leben in Selbständigkeit und Sicherheit ermöglichen — ein Leben in Würde.Diese Zitate des Bundeskanzlers aus der Regierungserklärung vom 30. Januar 1991 sollten ein Regierungsprogramm beschreiben, das Sie verwirklichen wollten. Die Haushaltsdebatte der letzten zwei Tage zeigt, daß davon überhaupt nichts übriggeblieben ist. Selbst wenn in diesem Haushalt für 1994 noch einiges da sein mag, so hat ja Herr Waigel gestern schon angekündigt, daß das Kindergeld für bestimmte Bevölkerungsgruppen dann vollständig gestrichen werden soll, und die Ungerechtigkeiten bei der Bezuschussung von Kindern werden fest zementiert.Lang, lang ist es her, daß Sie sich an diese Grundsätze überhaupt halten wollten. Inzwischen hebelt die Bundesregierung wirklich absolut bewährte Prinzipien des sozialen Systems aus und begründet zudem die angebliche Notwendigkeit für ihr Tun mit einer vorgeschobenen MiBbrauchsdiskussion; sie weist die finanziellen Belastungen, die mit Kindern nun einmal entstehen, ausschließlich der Familie, den Eltern zu. Das heißt, daß Sie Kinder immer noch als nicht selbständige Wesen, als nicht selbständige Subjekte verstehen, obwohl das Bundesverfassungsgericht bereits 1968 feststellte, daß Kinder Wesen mit eigener Menschenwürde und mit eigenem Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit im Sinne der Art. 1 und 2 des Grundgesetzes sind.Es ist schon bezeichnend, wenn sich die gesamte Diskussion heute nur noch um die Finanzen dreht und es keine Möglichkeit mehr gibt, über andere Sachen wie die Ausgestaltung und Umgestaltung in Richtung einer kinderfreundlichen Gesellschaft zu reden.Der Redner von der SPD hat ausführlich darüber gesprochen, wie auch über das Lohnabstandsgebot und diese Diskussion beginnend mit diesem Jahr eine Politik eingeleitet wurde, die dann in den Diskussionen über den Familienpaß kulminierte, bei dem gesagt wird, daß natürlich gekürzt werden muß und 50 Millionen DM auf diese Weise eingespart werden sollen. Herr Schäuble sagte dazu in der „Augsburger Allgemeinen":Selbstverständlich kann man über die eine oder die andere Kürzung im sozialen Bereich wie im Familienpaß bei der Bahn reden. Aber dann muß das Geld an anderer Stelle gespart werden.Ich meine, hier hat Frau Rönsch wirklich gute Möglichkeiten. Treten Sie doch bitte schön einmal für die Einbeziehung von Motorbooten in die Kfz-Steuer ein! Die würde 30 Millionen DM einbringen. Motorboote kann sich bekannterweise auch nicht jeder leisten. Die Beseitigung der Steuerbefreiung auf Flugbenzin für Privatflüge würde z. B. 35 Millionen DM einbringen. Damit könnten Sie den Familienpaß sogar noch besser ausgestalten.Diese kinder- und familienfeindliche Politik gipfelt nun in einer Kürzung des Gesamthaushalts im Bereich Familie und Senioren um 5,1 %, obwohl der größte Anteil dieses Haushalts über Kindergeld und Erziehungsgeld fest gebunden ist. Interessanterweise verteilen sich in dem variablen Teil Ausgabenerhöhungen, die da sind, und Ausgabenkürzungen sehr verschieden. Es ist Geld vorhanden, um die finanzielle Ausstattung für Mitglieder von Fachbeiräten von 64 000 DM auf 75 000 DM zu erhöhen, um Reisevergütungen für Auslandsdienstreisen von 64 000 auf 124 000 DM fast zu verdoppeln und nach dreijähriger Amtszeit auch endlich das Dienstzimmer der Ministerin für 25 000 DM zu verschönern. Ich kann nicht beurteilen, ob dies im Vergleich zu anderen Ministerien vielleicht sogar noch bescheiden ist, aber ich weiß, daß eine alleinerziehende arbeitslose Mutter mit zwei Kindern mit dieser Summe ein Jahr lang auskommen muß.Auf dem Hintergrund einer Gesellschaftsvorstellung, die ständig eine partriarchalische Vater-MutterKind-Idylle beschwört, wo Papa arbeitet und Geld verdient und Mama Kind und Küche versorgt und somit auch nicht wirklich arbeitet, sondern ausschließlich glücklich ihr Frausein genießt, werden im gesamten sozialen Bereich möglichst alle finanziellen Belastungen im Bereich der Familie privatisiert.Durch diese Idealisierung und Beschwörungen läßt sich gesellschaftliche Realität meines Erachtens aber nicht ändern. Familie heute ist äußerst differenziert. Es gibt Erstheiraten, Zweitheiraten, es leben ein, zwei oder drei Generationen zusammen. Herr Eimer hat die Frage aufgeworfen: Mir ist nicht unbedingt klar, warum man heute heiraten soll. Für den Trauschein ist nur noch ein finanzieller Anreiz vorhanden. Der Staat behandelt alle diese Formen des menschlichen Zusammenlebens sehr, sehr verschieden und gleicht nicht auch nur ansatzweise die finanziellen Belastungen für Menschen aus, die besondere Belastungen wie Kindererziehungsarbeit und Familienarbeit auf sich nehmen, von der politisch-gestalterischen Kraft im Hinblick auf eine Umgestaltung der Gesellschaft zu Kinderfreundlichkeit und den Aufbau eines Wertgefühls für die ältere Generation, die ich eben nicht durch belanglose Plakate erreiche, ganz zu schweigen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14825
Dr. Barbara HöllHier beginnen tatsächlich kaltblütige Kürzungen bzw. das Einfrieren der Zuschüsse z. B. für die Wohlfahrtsverbände. Ich frage mich, wie da ein Ausbau von Selbsthilfe, von Eigenaktivität im Alter erfolgen kann. Die Mittel der Selbsthilfeorganisationen werden beschnitten. Auch die Mittel für die Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder" werden gegenüber diesem Jahr um sage und schreibe 50 % gekürzt.Ich glaube, das sind eindeutige Zahlen. Die Debatte heute stimmt mich für die Beratung in den Ausschüssen nicht gerade optimistisch.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, als letzte Rednerin in dieser Debatte hat jetzt das Wort unsere Frau Kollegin Maria Michalk.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Jahren verlief die Haushaltsdebatte in etwa stets nach dem gleichen Muster. Die Regierung begründete ihr besonderes Engagement für bestimmte Themen und Gruppen mit gestiegenen Haushaltsansätzen, und die Opposition konterte mit schöner Regelmäßigkeit, daß dies längst noch nicht ausreicht. In diesem Jahr — habe ich den Eindruck — haben sich die Akzente grundlegend geändert.
Angesichts knapper Haushaltskassen und großer Herausforderungen geht es nicht mehr um Zuwächse, sondern darum, die vorhandenen Mittel möglichst effizient und sozial gerecht einzusetzen. Inzwischen hat nämlich auch der letzte in unserem Land verstanden:
Einsparungen in allen öffentlichen Bereichen sind unvermeidlich, und davon können auch — ich betone: auch — soziale Leistungen nicht ausgenommen werden. Es gehört zur unbequemen, nichtsdestotrotz zutreffenden Wahrheit, daß Ausgabenkürzungen gerade dort ansetzen müssen, wo eben die größten Ausgabensummen stehen. Ich komme darauf noch zu sprechen.Bei der Diskussion um die Bewahrung des Wirtschaftsstandortes Deutschland und bei dem Umbau des Sozialstaates handelt es sich nicht um akademische Gedankenspielereien irgendwelcher Wirtschaftstheoretiker. Nein, es berührt jeden, und zwar in Ost und in West. Die notwendige Umstrukturierung von 40 Jahren SED-Mißwirtschaft in den neuen Bundesländern stellt uns neben den ohnehin anstehenden strukturellen Veränderungen vor besonders schwierige Herausforderungen. Immer mehr Menschen begreifen, daß es um weit mehr als allein um die Finanzierung der DDR-Erblast und eine möglichst schnelle Angleichung der materiellen Lebensverhältnisse in Deutschland geht.Von dem Erfordernis der Einsparung in allen politischen Bereichen ist eben auch die Familienpolitik betroffen. Die Ausgaben im Einzelplan 18 des Bundesministeriums für Familie und Senioren gehen gegenüber dem Vorjahr um 5,1 % zurück. -Lassen Sie mich etwas gleich vorweg sagen — es ist ja heute schon von meinen Vorrednern betont worden: Selbstverständlich kann kein Familienpolitiker glücklich über Einschränkungen der familienpolitisch so bedeutsamen Leistungen wie Erziehungsgeld und Kindergeld sein. Es ist kein Geheimnis, daß sich gerade die Familienpolitiker der Union sehr schwer mit der Einsparaktion getan haben.Diese Bundesregierung hat sich wie keine andere zuvor für die Belange der Familie stark gemacht, trotz Ihrer anderslautenden Behauptungen. Ich möchte daran erinnern, daß wir trotz sich abzeichnender finanzpolitischer Zwänge Ende 1991 beschlossen haben, zum Januar diesen Jahres die Bezugsdauer des Erziehungsgeldes von 18 auf 24 Monate auszudehnen.
Diese Verlängerung, die sich haushaltsmäßig erstmals eben jetzt, 1994, auswirkt, erklärt auch, warum der Ansatz insoweit nicht rückläufig ist, sondern sogar, wenn auch nur geringfügig, erhöht worden ist.Ich halte es für ein Verdienst der Bundesfamilienministerin, daß die von ihr vorgelegten Einsparvorschläge im Ergebnis so gestaltet sind, daß diejenigen Familien und Alleinerziehenden, die in besonderem Maße auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, eben davon nicht betroffen sind.
Hier wird nicht pauschal der Rasenmäher angesetzt, wie Sie behaupten, sondern entgegen allen Behauptungen wird familienpolitisches Augenmaß gewahrt.Der Ausschluß der Bezugsberechtigung von Erziehungsgeld für die Bezieher hoher Einkommen vom ersten Monat an führt bei einkommensschwachen Eltern bzw. Elternteilen nicht zu einer Verschlechterung ihrer bisherigen Rechtsposition. Das muß einmal in aller Deutlichkeit betont werden. Allerdings mache ich aus meinen gewissen Bauchschmerzen in diesem Zusammenhang keinen Hehl, die mit diesem Instrument von uns stets verfolgte Zielsetzung, auch eine gesetzliche und gesellschaftliche Anerkennung für die Erziehungsleistung von Müttern und Vätern in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder zu schaffen, egal, ob sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen oder sich ausschließlich der Kindererziehung widmen, zu erreichen. Doch ist das der Preis dafür, daß diese familienpolitisch bedeutsame Leistung der breiten Masse der Berechtigten ungeschmälert erhalten bleibt.Die Einführung von Einkommensgrenzen, wie sie ähnlich auch für das Kindergeld vorgesehen ist, widerlegt im übrigen die immer wieder gern vorgebrachte Behauptung von der sozialen Unverträglichkeit der von der Bundesregierung verfolgten Konsolidierungsmaßnahmen. Die künftig vorgesehene Absenkung des Kindergeldes für dritte und weitere Kinder auf den Sockelbetrag von 70 DM bei hohen Einkommen ist sozial vertretbar und der derzeitigen Lage angemessen. In Zeiten, in denen jeder den
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14826 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Maria MichalkGürtel enger schnallen muß, ist es den Menschen nicht verständlich zu machen, warum der gutverdienende Arzt oder Abgeordnete oder wer auch immer dasselbe Kindergeld erhalten soll wie der einfache Arbeiter. Natürlich wird dabei geflissentlich übersehen — auch von Ihnen —, daß schon heute das Kindergeld bei Besserverdienenden ab dem zweiten Kind abgesenkt wird.Forderungen, das Kindergeld einkommensabhängig zu gestalten, sind überaus populär und reichen auch weit in die SPD hinein. Nur ist es wie so oft bei der SPD: Sie fällt mit ihren Forderungen von einem Extrem in das andere: einmal einheitliches Kindergeld von 250 DM, wie wir gestern wieder hören konnten, und dann umfassende Einkommensabhängigkeit. Das eine ist so wenig finanzierbar, wie das andere verfassungsrechtlich realisierbar ist. Sie wissen alle, daß bislang noch ein Sockelbetrag in Höhe von 70 DM je Kind notwendig ist, um die verfassungsrechtlich geforderte tatsächliche Freistellung des Existenzminimums zu gewährleisten.Jeder Steuerpflichtige erhält den gleichen Freibetrag. Damit wird die gleiche Höhe seiner Unterhaltsleistung gegenüber dem Kind steuerfrei gestellt. Familien, die nicht steuerpflichtig sind und deshalb den Steuerfreibetrag nicht in Anspruch nehmen können, erhalten zusätzlich zum Kindergeld den Kindergeldzuschlag. Wenn dies bei der einen Familie eine höhere Steuerersparnis bedeutet als bei der anderen, so liegt das doch daran — das müssen Sie doch einmal zur Kenntnis nehmen —, daß Familien mit unterschiedlich hohen Einkommen eben auch unterschiedlich hoch besteuert werden. Wo bleibt bei Ihnen eigentlich die Steuergerechtigkeit? Ich frage mich, wer hier eine Blockade zu überwinden hat.
Der Bundesfinanzminister hat gestern betont, daß die Bundesregierung an dem dualen Familienlastenausgleich festhalten wird, und — Kollegin Schätzle hat das schon betont — wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden ihn dabei unterstützen. Nur durch eine konsequente Weiterentwicklung des Familienlastenausgleiches kann die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Familienhaushalten gegenüber Haushalten ohne Kinder nachdrücklich verbessert werden. Für die Familien in den neuen Bundesländern ist dies von besonderer Bedeutung. Auf Grund allgemein ungünstigerer Erwerbschancen und stärkerer Arbeitslosigkeit gestaltet sich ihre wirtschaftliche Situation tatsächlich oft schwierig.Doch eines muß auch gesagt werden: Familienpolitik wird nicht allein an materiellen Werten und Zuwendungen gemessen. Ihr Erfolg oder ihr Scheitern ist geknüpft an die Herausforderung, in Familien Werte zu erhalten und verantwortungsbewußte Erziehungsarbeit zu leisten. Das wird um so stärker gelingen, je intensiver sich Mutter und Vater oder auch die Großeltern einbringen oder einbringen können. Die gegenseitige Verantwortung für die Zukunft innerhalb der Generationen ist nicht etwa unmodern, nur meinen heute viele, sie schwimmen nicht mit dem Strom der Zeit, wenn sie an diesem Familienbild festhalten. Dabei ist wissenschaftlich längst erwiesen, daß die Familien die Quelle einer intakten Gesellschaft sind. Diese Erkenntnis kann ich auch mit einem Wort unseres Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf bekräftigen, der gesagt hat — das klingt sehr populär, hören Sie zu —: Der Weg zur Quelle führt gegen den Strom.
Lassen Sie mich schließlich noch das Augenmerk auf einen Punkt richten, der mir aus familienpolitischer Sicht besonders am Herzen liegt und der hier noch nicht Erwähnung fand, und zwar die Ausgestaltung des von den Vereinten Nationen für 1994 proklamierten Internationalen Jahres der Familie. Ich hoffe, daß die Chance, die in der Ausgestaltung dieses Jahres liegt, die Gesellschaft dazu bringt, das Bild der Familie und die Bedeutung der Familie stärker unter diesen werteorientierten Gesichtspunkten zu diskutieren.Ich wünsche uns allen, daß die Haushaltsberatungen zu diesen Positionen zeigen, daß die Familienpolitik bei der Bundesregierung in guten Händen ist.Ich danke Ihnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, eine kurze Bemerkung zur Geschäftslage. Wir haben jetzt den Bereich für Familie und Senioren behandelt. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich der Bundesministerin für Frauen und Jugend. Dann haben wir noch den Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft und schließlich noch den Bereich für Forschung und Technologie. Für alle Bereiche ist vorgesehen, jeweils eine Stunde zu diskutieren. Das heißt, unsere Debatte wird etwa gegen 21.30 Uhr beendet sein.
Ich rufe nun den Geschäftsbereich der Bundesministerin für Frauen und Jugend auf und erteile zunächst der Frau Ministerin das Wort. Frau Dr. Angela Merkel, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Haushalt des Jahres 1994 ist Ausdruck unserer politischen Zielsetzung: auf der einen Seite Stabilität bei den Ausgaben zu wahren und das auf der anderen Seite mit sozial gerechtem Handeln zu verbinden. Deshalb müssen wir mit diesem Haushalt — das hat heute in der Debatte eine große Rolle gespielt — die Frage neu beantworten, wo die Grenzen des Staates verlaufen und welche Verantwortung die Gesellschaft in Zukunft übernehmen muß. Diese Meßlatte müssen wir auch an unseren Haushalt anlegen, den Haushalt des Ministeriums für Frauen und Jugend, der mit 2,64 Milliarden DM um 9,1 % niedriger ist als im Jahre 1993. Dennoch werden wesentliche Schwerpunkte unserer Arbeit deutlich sichtbar.Im Jugendbereich stehen im Rahmen des Bundesjugendplans, wenn wir das AFT-Programm nicht berücksichtigen, zusätzlich 8 Millionen DM zur Verfügung. Der Bundesjugendplan hat sich über die Jahre als Förderinstrument bewährt. Aber wir müssen auch sehen, daß es hier Verkrustungen gibt und daß es
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Bundesministerin Dr. Angela Merkelnotwendig ist, auf neue Anforderungen zu reagieren. Wir sind deshalb dabei, die Richtlinien und die Förderpraxis des Bundesjugendplans zu überarbeiten. Diese Überarbeitung erfolgt in sehr engem Kontakt mit den Trägern der Jugendarbeit. Wir werden demnächst neue Richtlinien präsentieren können.Ich möchte auf vier Schwerpunkte unserer Jugendpolitik eingehen.Zum einen wollen wir entsprechend den Anforderungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes den Bundesjugendplan zu einem Kinder- und Jugendplan weiterentwickeln. Allein die Mittel für außerfamiliäre und außerschulische Hilfen für Kinder haben wir gegenüber 1992 mehr als verdreifacht. Auch der Ansatz für Erziehungshilfen und andere unterstützende Maßnahmen ist seit 1992 überdurchschnittlich um rund 30 % angehoben worden, d. h. seit dem Inkrafttreten des neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes.Wir haben außerdem einen Schwerpunkt mit unserer Kampagne zum Schutz von Kindern vor Gewalt gesetzt. Diese Kampagne wollen wir vor allen Dingen deshalb weiterführen, um in der Öffentlichkeit ein Bewußtsein dafür zu erzeugen, daß Kinder in viel zu vielen Fällen Gewalt ausgesetzt sind und daß sie mehr Hilfs- und Beratungsangebote benötigen. Das erfordert allerdings auch, daß jeder in der Gesellschaft den Mut hat, sich notfalls in die Belange von Familien einzumischen, um Kinder vor Gewalt zu bewahren.
Weiter verstärken wir unsere Anstrengungen im internationalen Jugendaustausch. Wir alle wissen, wie wichtig es ist, daß Kinder und Jugendliche aus eigenem Erleben andere Kulturen kennenlernen und Freundschaften knüpfen können. Es gibt hier einen Zuwachs der Mittel von 31 Millionen DM in diesem Jahr auf 32,7 Millionen DM im Jahre 1994. Wir haben unsere Aktivitäten vor allen Dingen in Richtung der mittel- und osteuropäischen Staaten verstärkt. Vor kurzem wurden Abkommen mit der Ukraine und Ungarn abgeschlossen. Unser Ziel ist es auch, vertragliche Grundlagen für den deutsch-türkischen Jugendaustausch zu schaffen. Dies halten wir für außerordentlich wichtig.Drittens ist nach wie vor die Stärkung und der Aufbau von Jugendhilfestrukturen in Ostdeutschland ein Schwerpunkt unserer Arbeit. Wir werden 1994 wichtige Sonderprogramme, so das Aktionsprogramm gegen Gewalt und das Programm zum Aufbau freier Träger, und auch die Schulung von Mitarbeitern der freien und öffentlichen Jugendhilfe weiterführen. Dennoch muß ich darauf hinweisen, daß mit dem Jahre 1995 die neuen Bundesländer durch die Ergebnisse der Solidarpaktverhandlungen in die Lage versetzt sind, diese Programme eigenständig fortführen zu können. Unsere Aufgabe im Jahre 1994 wird darin bestehen, diese Fortführung und den Übergang in die Verantwortung der Länder zu organisieren und möglich zu machen.Natürlich ist ein Schwerpunkt unserer Arbeit weiter der Kampf gegen die Gewalt, die von Jugendlichen ausgeht. Das Aktionsprogramm gegen Aggressionen und Gewalt wird deshalb 1994 fortgesetzt. In zahlreichen Projekten dieses Programms ist bewiesen worden, daß die Eskalation von Gewalt keine Einbahnstraße sein muß, sondern daß es auch ein Zurück geben kann.
— Ich bin gerade dabei, Frau Wegner, es zu erwähnen. Trotzdem muß ich sagen, daß auch ich nicht die Patentantworten auf die Frage habe, wie jedes dieser Projekte gelingen und diese riskante Arbeit, die es in der Tat ist, in jedem Falle zum Erfolg geführt werden kann.Ich möchte Sie alle, die Sie an der Arbeit mit Jugendlichen interessiert sind, bitten, mit uns gemeinsam nach Wegen zu suchen, um diese Arbeit erfolgreich weiterzuführen. Kritik ist leicht geübt; ein Ausweg ist sehr viel schwieriger gefunden. Manchmal frage ich mich, wenn wir mit eindeutig gewaltorientierten Jugendlichen arbeiten, wie wir erwarten können, daß sie am nächsten Tag von allen ihren Verhaltensweisen weg sind.Wir brauchen ausgebildete und gut motivierte Sozialarbeiter. Es ist unsere Aufgabe, diese Personen und auch die Lösungswege zu finden. Wir werden daran weiterarbeiten. Auf jeden Fall werden wir im Jahre 1994 5 Millionen DM zusätzlich für Präventionsmaßnahmen in Ost- und auch in Westdeutschland zur Verfügung haben, um neue Modelle und neue Wege auszuprobieren. Ich weiß, als Jugendpolitiker dürfen wir auf diesem Wege nicht nachlassen.
Obwohl wir die Mittel für die Jugendpolitik in vielen Bereichen erhöhen konnten, müssen wir auch im Haushalt unseres Ministeriums sparen. Wir haben die Eingliederungshilfen für junge Aussiedler von 360 Millionen DM auf 300 Millionen DM zurückgenommen. Angesichts der geringeren Zahl von Aussiedlern halten wir diese Kürzung für verträglich.Wir müssen auch beim Zivildienst sparen. Diese Einsparungen dürfen und sollen nicht zu Lasten der Zivildienstleistenden gehen. Sie leisten einen wichtigen Dienst für unsere Gesellschaft. Vielmehr — und darum geht es bei diesen Einsparungen — sollen die Kosten diejenigen tragen, die vom Einsatz der Zivildienstleistenden nicht nur einen ideellen, sondern auch ganz konkret einen finanziellen Nutzen haben. Das sind in vielen Fällen öffentliche Kostenträger in den Kommunen und in den Ländern. Ich sage aber auch ganz deutlich: Es bleibt natürlich die Aufgabe des Bundes, eine ausreichende Zahl von Zivildienstplätzen bereitzustellen. Deshalb werden wir im Rahmen der Haushaltsberatungen weiter über die Frage diskutieren müssen, wie wir das garantieren können.Trotz einer angespannten Haushaltslage werden die Mittel zur Verwirklichung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern nicht zurückgeführt. Wir haben auf diesem Gebiet leicht ansteigende Haushaltsbeträge. Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, daß in dieser Legislaturperiode die Mittel für die Frauenpolitik um 10 Millionen DM gesteigert
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14828 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Bundesministerin Dr. Angela Merkelwerden konnten. Ich halte das für eine richtige und wichtige Sache.
— Es sind 25 Millionen DM, Herr Walter.Deshalb sind wir auch 1994 im Rahmen der Gleichberechtigungspolitik in der Lage, wichtige Vorhaben und Projekte der letzten Jahre zu Ende zu führen und neue Schwerpunkte zu entwickeln.Natürlich stellt sich auch die Frage: Was kann der Staat in der Gleichberechtigungspolitik leisten? Was muß von der Gesellschaft selbst geleistet werden?Ich möchte als erstes sagen, daß Frauenförderung natürlich ganz fest in der Wirtschafts- und Strukturpolitik verankert sein muß. Das heißt, daß Frauenpolitik nicht allein von der Bundesregierung gemacht werden kann, sondern daß sie selbstverständlich auch ein Anliegen der Tarifpartner sein muß und soll.
Wir haben im Juni dieses Jahres mit unserer konzertierten Aktion „Frauenerwerbstätigkeit in den neuen Bundesländern", die ich als Frauenministerin initiiert habe, hierzu einen ganz wesentlichen Beitrag geleistet. Es ist uns gelungen, die beteiligten Ressorts, den Deutschen Gewerkschaftsbund, die Arbeitgeberverbände, die Kammern und andere an einen Tisch zu bringen und auf eine gemeinsame Erklärung zu verpflichten, und — was ich für am allerwichtigsten halte — es ist uns auch gelungen, dieses Signal in die Kreise, die Länder und auch in die neuen Bundesländer zu tragen. Wir hoffen, daß diese Erklärung auch in konkretes Handeln umgesetzt wird.Ich möchte an dieser Stelle ganz herzlich dem Deutschen Frauenrat danken, der immer wieder auch auf einer solchen konzertierten Aktion bestanden hat und uns auch bei der Bewerkstelligung dieser Aktionen geholfen hat und dies auch bei der Umsetzung tun wird.
— Dem Deutschen Frauenrat können Sie auch einen kleinen Beifall gönnen. Es wäre sonst traurig.
— Im Herzen, aber niemals, wenn von hier aus gesprochen wird.Unser Modellprojekt „Neue Wege der Arbeitsplatzbeschaffung", das wir in je einem Landkreis der neuen Bundesländer initiieren werden, ist auch ein Weg, um ganz deutlich und konkret Frauen bei der Suche nach neuen Arbeitsmöglichkeiten zu helfen; denn es ist keine Frage, daß dies das zentrale Problem in den neuen Bundesländern ist: Wie schaffen wir genug und ausreichend Arbeitsplätze, und dies gerade für Frauen, die von der Umstrukturierung sehr viel härter betroffen sind, als dies bei Männern der Fall ist.Ein wichtiges Ziel ist es natürlich, Frauen in den Strukturwandel einzubeziehen und sie dabei selber an den Dingen teilhaben zu lassen. So werden wir uns ganz speziell auf die Förderung von Frauen konzentrieren, die neue Unternehmen gründen wollen, also auf Existenzgründerinnen. Das ist ein Schwerpunkt, den wir in den letzten Jahren noch nicht in dem Maße hatten. Ich glaube, es ist ganz wichtig, daß Frauen anderen Frauen auch zeigen, welcher Weg in die Selbständigkeit führt.
Ein wesentliches Thema bleibt das Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wir werden unser Modellprogramm zur Wiedereingliederung von Frauen in den Beruf in den alten Bundesländern fortführen und auf die neuen Bundesländer ausdehnen.
— Darüber habe ich gerade im Rahmen der konzertierten Aktion zur Erwerbstätigkeit gesprochen. Das können wir durch Aufblähung der öffentlichen Verwaltung am allerschlechtesten erreichen.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist auch ein Aspekt, der im Gleichberechtigungsgesetz eine sehr wichtige Rolle spielt. Wir werden die erste Lesung dieses Gleichberechtigungsgesetzes noch in diesem Monat haben. Ich bitte Sie alle, mit dazu beizutragen, daß dieses Gesetz in dieser Legislaturperiode so verabschiedet werden kann, daß es eine Hilfe bei der Durchsetzung der Gleichberechtigung für die Frauen in der Bundesrepublik Deutschland ist.Wir müssen Frauen — das halte ich für ganz wichtig — auch darin unterstützen, ihre Interessen selbst wahrzunehmen. Hier ist es wichtig, daß Frauenverbände ein starkes Rückgrat für die Frauen bieten, die sich engagieren wollen. Wir haben als Bundesregierung in den letzten Jahren 10 Millionen DM aufgewendet und damit das Engagement von Frauen aus meiner Sicht gestärkt.Auf der vierten Gleichberechtigungskonferenz Anfang Dezember werden wir uns noch einmal ganz intensiv damit befassen, was Frauen hindert und was Frauen motiviert, sich in unserer Gesellschaft zu engagieren. Hier gibt es viele Defizite.Zum Abschluß gestatten Sie mir noch ein Wort zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs. Ich möchte darauf hinweisen, daß wir die Beratungen zügig voranbringen werden und daß es mir ganz besonders wichtig ist, daß dies kein Thema für den Wahlkampf wird, sondern die Regelung vom Parlament vorher verabschiedet wird.
Es ist wichtig, daß die sozialen Begleitmaßnahmen auch wirklich umgesetzt werden. Als Jugendministerin liegt mir hier die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz ganz besonders am Herzen.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14829
Meine Damen und Herren, jetzt hat das Wort unsere Frau Kollegin Dr. Edith Niehuis.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, Frau Merkel, hier liegt ein Mißverständnis vor. Die Meßlatte, die wir an Sie legen, ist nicht der kleine 25-Millionen-Etat, sondern das ist die Frage: Was tut die Regierung insgesamt für die Frauen?
Ich denke, da können Frauen nur in Resignation verfallen. Der Kanzler entdeckt den Standort Deutschland und meint, die Löhne seien zu hoch, es gebe zu viele ordnungsrechtliche Auflagen, und die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme sei in Gefahr. Wissen Sie, wenn Frauen dieses hören, dann wissen sie, daß sie nicht gemeint sein können. Denn wer als Arbeiterin 30 % und als Angestellte 36 % weniger als der vergleichbare männliche Kollege verdient, kann sich vom Schimpf über zu hohe Löhne nicht angesprochen fühlen.
Es geht darum, was der Kanzler sagt.Wer wie die Gruppe der Frauen nach wie vor die schlecht abgesicherten Teilzeitarbeitsplätze nehmen muß und zunehmend in sozialversicherungsfreie Beschäftigungen geschickt wird, hat von dem Zuviel an ordnungsrechtlichen Auflagen noch nichts gehört. Wer im Leben immer wieder erfährt, daß unsere sozialen Sicherungssysteme auf einer durchgängigen Erwerbsbiographie beruhen — ob es das Arbeitsförderungsgesetz ist oder die Rentenversicherung —, diese als Frau objektiv aber selten vorweisen kann, hat von der Stabilität unseres sozialen Sicherungssystems wenig erfahren, ist stets durch dessen Maschen gefallen und schließlich bei der Sozialhilfe gelandet.Viel zu viele Alleinerziehende und Rentnerinnen können davon ein trauriges Lied singen. Das ist die weibliche Wirklichkeit, über die der Kanzler auch hätte reden können.
Der Ausspruch „Die Armut ist weiblich" kommt doch nicht von heute, wo der Kanzler den Wirtschaftsstandort Deutschland entdeckt hat, sondern aus einer Zeit, als der Kanzler noch selbstgefällig die wirtschaftliche Blüte des Vaterlandes gepriesen hat. Nun könnte man meinen, wem es in sogenannten Schönwetterzeiten schon schlechtging, der würde in Schlechtwetterzeiten vor weiterem Unbill geschützt werden. Ich denke, es wäre trügerisch, wenn die Frauen diese Hoffnung hätten. Der soziale Kahlschlag, den Sie als Bundesregierung hier vorsehen, wird gerade Frauen besonders hart treffen.
Darum werden Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, nicht damit rechnen können, daß wir Ihnen da die Hand reichen.Worum geht es? Da zeigen die Statistiken eine zunehmende Frauenarbeitslosigkeit, und im Osten stellen die Frauen fast 65 % der Arbeitslosen. Da sagt das Bundesministerium für Frauen und Jugend in dem Bericht über Frauenerwerbstätigkeit in den neuen Bundesländern voraus, daß Frauen immer mehr in das Stadium der Langzeitarbeitslosigkeit hineinwachsen werden. Das sind Zahlen, die alarmieren, weil Frauen ins soziale und finanzielle Abseits abgedrängt werden. Frau Merkel, da hilft die konzertierte Aktion mit Ihrem runden Tisch herzlich wenig.
In dieser Situation stimmt die Bundesministerin für Frauen und Jugend im Kabinett den Kürzungen bei Sozialhilfe, bei Arbeitslosenhilfe, bei Arbeitslosengeld, dem Kahlschlag bei Fortbildungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nach dem Arbeitsförderungsgesetz zu. Das sind alles Maßnahmen, die Frauen besonders hart treffen. Zumindest einen lauten Protest von Ihnen, Frau Ministerin, hätten die Frauen schon verdient gehabt.
Als zynisch empfinde ich, was Sie im Oktober 1992 vor der Frauen-Union in Sachsen-Anhalt sagten, nämlich: Frauen dürften nicht glauben, daß sie ihre Rechte „auf dem Silbertablett" präsentiert bekämen. Dazu kann ich nur feststellen: Für Arbeitslose und Sozialhilfeempfängerinnen ist das Bild vom Silbertablett eine demütigende Zumutung.
Dabei wissen Sie als Bundesregierung, daß die Frauen besonders getroffen werden. Zumindest hat die Ministerin Merkel, als wir die zehnte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz hier zu verabschieden hatten, in Zeitungen gesagt, daß Kürzungen mit Bezug auf Qualifizierungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen besonders Frauen treffen. Dennoch bleibt der Protest aus.Ich will Ihnen sagen, was hier abläuft. Da redet auf der einen Seite der Kanzler von Arbeitszeitverlängerung, und auf der anderen Seite fordert die Frauenministerin vermehrte Teilzeitarbeit für Frauen, wobei Teilzeitarbeit doch nichts anderes ist als Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich.
— Natürlich ist es das. Merken Sie, wohin dann die Politik der Bundesregierung läuft? Wenn Sie so weitermachen, führt sie letztendlich zur totalen Verdrängung der Frauen vom Arbeitsmarkt. Das werden wir nicht mitmachen.
Ich frage mich, wie viele alarmierende Zahlen die Bundesregierung noch braucht, um sich endlich auf
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14830 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dr. Edith Niehuisdie Seite der Frauen zu stellen? Frauen lassen sich sterilisieren, um einen Arbeitsplatz zu bekommen.
Frauen treten in einen Gebärstreik, denn wie soll man sonst das, was in den neuen Bundesländern passiert — von 1990 bis 1992 ein Rückgang der Geburtenrate um 50 % — bezeichnen? Frauen werden zunehmend psychisch krank, wie jetzt sogar der Chefarzt der Thüringer Burgklinik, Stadtlengsfeld, auch für die neuen Bundesländer — für die alten Bundesländer wissen wir das schon sehr viel länger — meldet. Vor diesen Meldungen darf eine Frauenministerin die Augen nicht verschließen.Es ist schon schlimm genug, daß die Bundesregierung ihrer Verantwortung gegenüber Frauen in keiner Weise nachkommt. Aber der Gipfel ist, daß der Bundesfinanzminister in einer Fußnote zum sogenannten Konsolidierungsprogramm die Länder und Kommunen geradezu einlädt, die Verwirklichung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz nicht ernst zu nehmen. Damit setzt die Bundesregierung auf ihre alte Steuerlüge eine Kindergartenlüge drauf. Sie können nicht erwarten, daß wir Ihnen dazu die Hand reichen.
Schließlich geht es doch, Frau Würfel, um eine Gesetzgebung, die wir zusammen hier im Parlament mit großer, überparteilicher Mehrheit beschlossen haben. Zuerst verschieben Sie, die Bundesregierung, die Kosten auf andere — häufig auf die Kommunen — und nennen das fahrlässigerweise Sparprogramm. Dann sind es die Kommunen, die aus lauter Verzweiflung die Kindergartenbeiträge für die Eltern zunehmend erhöhen, so daß letztendlich die Inanspruchnahme des Kindergartenplatzes irgendwann schon aus finanziellen Gründen gefährdet ist. Dann hören Sie das Stöhnen der Kommunen und raten zum Nichternstnehmen eines Bundesgesetzes, des Gesetzes über den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Besser wäre es gewesen, die Bundesregierung würde sich durch eine Gemeinschaftsinitiative aktiv an dem Bau von Kindergärten beteiligen.
Wir wissen alle: Sie zerstören durch diesen Vorstoß der Bundesregierung einen ganz wichtigen Kern des Schwangeren- und Familienhilfegesetzes, wie Sie überhaupt, so meine ich, durch den Bundeshaushalt 1994 von der vom Verfassungsgericht vorgeschriebenen frauen-, familien- und kinderfreundlichen Gesellschaft erheblich abweichen. Das ist schlimm genug. Das Verfassungsgerichtsurteil hat die Eigenverantwortung der Frau in Schwangerschaftskonflikten gestärkt. Wenn Sie in den weiteren Beratungen wagen sollten, diese Eigenverantwortung der Frau zu unterlaufen, dann werden Sie auf unseren erbitterten Widerstand und, so denke ich, auch auf den erbitterten Widerstand der Bevölkerung stoßen.
Nun frage ich mich, was eine Frauenministerin eigentlich mit der berechtigten Kritik macht. Dann kommt — das war die Substanz Ihrer Rede — der kleine Etatansatz von 25 Millionen DM zur Verwirklichung der Gleichberechtigung von Frau und Mann. Mit diesem Ansatz zumeist für kleine Projekte werden Sie die struktuellen Verschlechterungen für Frauen nicht ausgleichen können. Bedenken Sie nur einmal, wie viele wichtige kleine Frauenprojekte, ja ein ganzes Frauennetzwerk, zerstört werden, weil keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mehr finanziert werden.
Diesen Rückschlag werden Sie mit Ihrem kleinen Etatansatz nie und nimmer ausgleichen können. Als Parlamentarierin möchte ich gerade wegen dieser 25 Millionen DM noch einiges anmerken. Es ist unbefriedigend, wenn man einen Etatposten sieht, der — dieser Etatposten ist so — eigentlich nur ein Merkmal hat, nämlich das Merkmal der Undurchsichtigkeit. Es ist noch unbefriedigender, wenn man hört, daß diese wenigen Gelder auch noch in den Sand gesetzt werden, weil Projektansätze falsch sind, wie z. B. bei dem von Ihnen gerade genannten Modellversuch „Wiedereingliederung der Frauen ins Berufsleben" . Dieses Projekt konnte nur durch eine Reform vor dem Scheitern bewahrt werden. Ich bin versucht zu sagen: Wenn keine vernünftigen Ideen da sind, dann braucht man auch kein Geld.
Aber eines vermisse ich sehr: Wir haben es mit einer Bundesregierung zu tun, die nicht müde wird, die internationale Verantwortung Deutschlands anzumahnen und diese fahrlässig auf militärische Einsätze zu verkürzen. Viele Länder haben schon längst erkannt, was internationale Frauenpolitik bedeutet und spielen dort eine wichtige Rolle. Die Bundesrepublik Deutschland ist hier leider eine graue Maus, ob auf EG-Ebene oder auf UN-Ebene.Auch im Haushalt werden die Mittel für die internationale Frauenpolitik verschämt versteckt, vielleicht verschämt, weil sie beschämend sind. Ich wünschte mir hier mehr Engagement, weil internationale Frauenpolitik immer wichtiger wird und die Entwicklung der Welt zu wichtig ist, als daß wir sie allein den Männern überlassen könnten.
Wir, aber nicht nur wir, sondern auch der von mir sehr geschätzte Deutsche Frauenrat, der elf Millionen Frauen repräsentiert, sehen die frauenpolitische Richtung der Bundesregierung mit großer Sorge an. Ich kann Sie nur bitten: Kehren Sie um! Dieser Kurs ist fatal.
Jetzt hat unsere Frau Kollegin Uta Würfel das Wort.
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Tatsächlich ist der Haushalt des Frauen- und Jugendministeriums kein Etat, der durch seinen Umfang beeindruckt. Die Finanzmittel, die im Bereich Frauenpolitik und Jugend zur Verfügung stehen, sind im Vergleich zu den Milliardenbeträgen, mit denen wir sonst Politik machen, verschwindend gering.Aber die Beratungen des Haushalts geben auch uns Frauenpolitikern die Gelegenheit, über die Situation eines maßgeblichen Teils der Gesellschaft zu sprechen; denn Frauenpolitik ist Gesellschaftspolitik.Wir befinden uns weltweit und auch bei uns in Deutschland in einer gesellschaftlichen Umbruchsituation, die durch die Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands einen weiteren Impuls bekommen hat. Die Menschen im Osten wie im Westen fühlen, daß sich die Zeiten geändert haben und daß einiges überdacht werden muß, was über Jahrzehnte Gültigkeit hatte. Die Bereitschaft der Menschen, Veränderungen zu akzeptieren, wächst.Es ist nicht nur den Politikern klargeworden, daß die ordnungspolitischen Konzepte, die bislang funktionierten, auslaufende Modelle sind und in Zukunft nicht mehr angewandt werden können. Fehlentwicklungen in vielen gesellschaftlichen Bereichen zwingen zur Umkehr und verlangen nicht nur von uns Politikern, sondern von allen Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Maß an Flexibilität und auch Kreativität.Wir sind in einer Phase der Rezession. Das heißt, es fallen auch in einem erheblichen Umfang Arbeitsplätze weg. Wir haben einen Rückgang der Beschäftigung. Hiervon sind besonders Frauen betroffen.Jedem Politiker und jeder Politikerin fällt es schwer, überhaupt die Zahl von vier Millionen nicht erwerbstätigen Menschen in den Mund zu nehmen. Denn es handelt sich dabei in der Regel um Männer und Frauen, die gerne einen bezahlten und versicherungspflichtigen Arbeitsplatz hätten und die dazu keine Chance bekommen. Natürlich wissen wir auch, daß hinter jedem dieser vier Millionen Menschen ein Einzelschicksal steht.Die gesellschaftliche Gesamtsituation wird besonders deutlich, wenn wir uns klarmachen, daß in Deutschland 29 Millionen Menschen erwerbstätig sind und diese 29 Millionen mit ihrem Einkommen für die weiteren 51 Millionen Menschen aufkommen: für die nicht erwerbstätigen Mütter, die Rentner, die Kinder, die Kranken und die Behinderten.Es ist durchaus das Verdienst von Wirtschaftsminister Rexrodt, auch auf Entwicklungen hingewiesen zu haben, in die wir in den nächsten Jahrzehnten eben nicht sehenden Auges hineinstolpern dürfen.
Immer wieder stelle ich fest, wie wenige Menschen überhaupt wissen, daß es auf die in Arbeit und Brot stehenden Menschen ankommt, die Renten sicherzustellen. Es gibt eben keinen Topf, in den jeder Erwerbstätige einzahlt, um bei Eintritt seines Rentenalters daraus seine Rente finanziert zu bekommen.Jeder Erwerbstätige finanziert durch seinen Beitrag, der ihm monatlich abgezogen wird, die Rente seiner Mutter und seines Vaters.
Es ist die uns nachfolgende Generation, die durch ihre Arbeitsleistung dafür sorgen muß, daß wir, die wir dann die aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene Menschen sind, unseren Lebensunterhalt bestreiten können.Nicht von ungefähr hat das Bundesverfassungsgericht in seinem viel zuwenig beachteten Urteil vom Juli 1992 deutlich herausgestellt, daß es nicht länger angeht, daß Frauen, die Kinder erziehen und damit die Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung auf Dauer garantieren, in ihrer eigenen Rentenversorgung große Einbußen hinnehmen müssen.Wir als Politiker dürfen wirklich nicht länger hinnehmen, daß diejenigen, die mit ihrer Erziehungsleistung die Grundlage für die Finanzierung der Rente überhaupt erst schaffen, als Rentnerinnen um die Früchte ihrer Arbeit betrogen werden, indem sie eine ganz geringe Rente erhalten.Das Beispiel mit den 35 Kindern, die erzogen werden müßten, um für Mütter eine Rente auf Sozialhilfeniveau zu erreichen, ist zwingend und zeigt jedem, wie es wirklich um das Einkommen der Mütter, wenn sie Kinder erzogen haben, bestellt ist, wenn sie Rentnerinnen sind.Da Frauen also darauf angewiesen sind, auch als Mütter zur Finanzierung ihrer eigenen Rente eine Berufstätigkeit auszuüben, wird ersichtlich, daß es darauf ankommt, einerseits mehr versicherungspflichtige Arbeitsplätze zu schaffen, andererseits auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Frauen zu verbessern. Dazu müssen alle bisherigen Instrumente zur Schaffung von Arbeitsplätzen auf ihre Tauglichkeit überprüft werden.Arbeitsplätze fallen nicht vom Himmel, sondern müssen von Unternehmern und Unternehmen für Arbeitswillige eingerichtet werden. Festgefahrenes, durch Ideologie bestimmtes Denken ist bei kreativen Überlegungen eher hinderlich, wie sich an den Äußerungen von Frau Matthäus-Maier zu den versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen im Haushalt zeigt, die leider von der SPD grundsätzlich durch den Begriff „Dienstmädchenprivileg" diffamiert werden.
Mein Fraktionsvorsitzender Dr. Solms hat heute vormittag bereits auf die Bedeutung und den angestrebten Umfang dieser Dienstleistungsarbeitsplätze in Familien hingewiesen.
Ich hätte mich in der Tat gefreut, wenn auch Herr Scharping heute in seiner Rede die Frauenproblematik in der Gesellschaft überhaupt angesprochen hätte. Ich weiß nicht, ob ich es überhört habe; aber der Begriff „Frauen" und die besondere Situation von Frauen wurden von ihm nicht erwähnt.
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14832 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Uta WürfelWas wir brauchen, ist eine flexiblere Arbeitszeitgestaltung und ein größeres Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen; denn nur dadurch ist es möglich, mehr Frauen in Beschäftigung zu bringen.
Es ist doch so — das richtet sich an die Kolleginnen und Kollegen der SPD —, daß die Frauen vor allen Dingen deshalb Teilzeitarbeitsplätze wünschen, damit sie ihre Familientätigkeit mit der Berufstätigkeit vereinbaren können.Wie groß das Interesse der Frauen an Teilzeitarbeitsplätzen ist, ergibt folgender interessanter Vergleich. Von 1 000 männlichen Beschäftigten befinden sich nur 26 auf Teilzeitarbeitsplätzen, während von 1 000 Gesamtbeschäftigten 338 Frauen Teilzeitarbeitsplätze innehaben. Ich freue mich, daß es auch in diesem Bereich, Gott sei Dank, eine Abkehr von dem ideologisch geprägten Ziel gibt — auch bei der SPD —, für jeden Menschen einen Vollzeitarbeitsplatz vorhalten zu müssen.Erfreulicherweise gilt es auch bei den Überlegungen zur Schaffung neuer Arbeitsplätze nicht mehr als unanständig, über eine Öffnung in der Tarifgestaltung nachzudenken. Sie wissen ja, daß diese Überlegungen sogar in einzelnen Gewerkschaften angestellt werden. So hat der IG-Chemie-Chef Hermann Rappe sich wiederholt für flexiblere Arbeitszeiten ausgesprochen. Er sprach sogar von der Samstagsarbeit und sagte, daß wenigstens auf dem zweiten Arbeitsmarkt Löhne unter Tarif möglich sein müßten — etwas, was ich nicht will; aber er erwähnt es wenigstens überhaupt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Kollegin Niehuis?
Aber gern.
Sie haben jetzt völlig zu Recht erzählt, wie nötig Arbeitsplätze auch für Frauen sind, und Sie haben von der flexiblen Arbeitszeit geredet. Meine Frage ist ganz konkret: Stellen Sie sich auch hinter des Kanzlers Konzept der Arbeitszeitverlängerung? Wie wollen Sie dann den vielen Frauen die Arbeitsplätze sichern?
Ich glaube, es ist für jeden von uns ersichtlich — da wir in einer Gesellschaft mit der längsten Studienzeit, der kürzesten Arbeitszeit und dem Sehr-früh-in-Rente-Gehen leben —, daß es nicht mehr bezahlt werden kann, und daß vor allen Dingen die finanziellen Mittel zur Sicherstellung der Rente dann nicht mehr vorhanden sind, wenn immer mehr Menschen aus dem Erwerbsleben so früh wie möglich ausscheiden und immer mehr Rentner von diesen Beschäftigten unterhalten werden müssen.Unter diesem Gesichtspunkt halte ich Überlegungen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit durchaus für berechtigt. In der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation sieht das natürlich anders aus. Um mehr Menschen in Arbeit bringen zu können, ist es sicherlich notwendig, die Arbeitszeit, die Möglichkeit des Arbeitens, des Erwerbstätigseins herunterzufahren — aber nicht so, wie Sie es sich vorstellen, nämlich bei vollem Gehalt, sondern dann entsprechend den Stunden, die wirklich gearbeitet werden können.Wir waren bei der Verbesserung der Arbeitsmarktsituation von Frauen. Ich glaube, es wird uns allen deutlich, daß es ganz wichtig ist, welcher Stellenwert diesem Problem in der öffentlichen Meinung beigemessen wird. Hierzu ist es erforderlich — und das zeigt sich ja auch in dieser Debatte heute —, über die Situation und die Benachteiligung von Frauen offen zu sprechen und aktiv für Veränderungen einzutreten.Ich habe nur noch wenig Zeit; deswegen muß ich jetzt abkürzen.Ich möchte jetzt von der Lage der Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu den Rahmenbedingungen kommen, unter denen Frauen und Mütter in unserer Gesellschaft leben, und speziell zu dem, was bereits von Frau Dr. Niehuis und Frau Dr. Merkel besprochen worden ist.Das Bundesverfassungsgericht sagt in der Begründung der einstweiligen Anordnung im Zusammenhang mit dem neuen Schwangeren- und Familienhilfegesetz — das war 1992 —, daß — ich zitiere mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten —der Senat davon ausgeht, daß die am 5. August 1992 in Kraft tretenden sozialen Maßnahmen, die der Gesetzgeber im Schwangeren- und Familienhilfegesetz zur Verbesserung der Situation von Müttern und Kindern getroffen hat, zur Verwirklichung des Lebensschutzes ernsthaft gewollt sind und ohne Abstriche ins Werk gesetzt werden.Das Bundesverfassungsgericht meint damit auch die Schaffung von Kinderkrippen- und Kindergartenplätzen, die bis zum 1. Januar 1996 für alle Kinder nach Bedarf zur Verfügung stehen müssen.Meine Damen und Herren, wer es wirklich ernst meint mit dem Schutz des ungeborenen Lebens, der muß den Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts auch im Urteil vom 28. Mai 1993 folgen, die lauten — ich darf zitieren —:Eine Beratungsregelung, die vorwiegend auf präventiven Schutz setzt, verlangt, daß ein Angebot sozialer Hilfen für Mütter und Kinder auch tatsächlich bereitsteht.In diesem Zusammenhang weist das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber auch daraufhin — ich zitiere —,daß die Bedeutung solcher Leistungen als Maßnahme präventiven Lebensschutzes vom Gesetzgeber in Rechnung zu stellen ist, wenn es erforderlich wird, staatliche Mittel im Hinblick auf knappe Mittel zu überprüfen.Das kann für uns nur heißen: Die Mehrheit des Deutschen Bundestages, die den Gruppenantrag zur Neuregelung des Abtreibungsstrafrechts verabschiedet hat, wird das Konzept „Hilfe statt Strafe", das
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14833
Uta Würfeldiesem Gruppenantrag zugrunde liegt, von niemandem in Frage stellen lassen.
Wir erteilen jeder Überlegung, die Krippen- und Kindergartenplätze bis 1996 nicht schaffen zu wollen, eine deutliche Absage.
Daraus können Sie entnehmen, Frau Dr. Niehuis, wie auch wir in der Fraktion der Freien Demokraten darüber denken. Es kommt für uns nicht in Frage.Den weiteren Teil muß ich mir sparen, denn meine Redezeit ist zu Ende.
Nun erteile ich unserer Frau Kollegin Petra Bläss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorgelegten Gleichberechtigungsgesetz und mit den ersten Aktivitäten nach der Sommerpause zur Schaffung überbetrieblicher Ausbildungsstellen für die Jugendlichen in den neuen Bundesländern hat die Bundesregierung in mediengerechter Weise versucht, den Anschein zu erwecken, als würden die extreme Benachteiligung und die wachsende Perspektivlosigkeit der Jugend sie endlich zu adäquaten Antworten bewegen.Der vorliegende Einzelplan 17 des Bundeshaushaltsplans zeigt diese Bemühungen als das, was sie sind: pure Demagogie, mit der das Wahlvolk befriedet werden soll, während hinter den Kulissen die Weichen für eine frauen- und jugendfeindliche Entwicklung längst gestellt worden sind.Die von der Koalition so oft vollmundig versprochene Frauenförderung soll offensichtlich Frauen nicht fördern, sondern befördern, und zwar dahin, wohin sie nach herrschender Meinung offenbar längst wieder gehören: an Heim und Herd.Mit dem vorliegenden Haushalt wird die strukturelle Diskriminierung der Frauen systematisch weiter verschärft. Auch der Geschäftsbereich von Frau Merkel muß seinen Beitrag zum Sparhaushalt 1994 leisten, und zwar kräftig. Auf den ersten Blick scheint es zwar, als wären die Maßnahmen für die Gleichberechtigung von Frau und Mann davon noch am wenigsten betroffen, weil die Zuweisungen und Zuschüsse bei diesem Titel etwa gleich geblieben sind. Dem ist jedoch nicht so, und zwar schon aus drei Gründen:Zum einen war an diesem winzigen Etat für eine der grundlegendsten gesellschaftlichen Aufgaben nun wirklich nichts mehr zu streichen. Denn es glaubt doch niemand ernsthaft, daß mit einem Sümmchen von 25 Millionen DM gesellschaftliche Voraussetzungen für eine chancengleiche Entwicklung von Frauen zu schaffen wären. Nicht einmal die für einen solchen Prozeß erforderliche Öffentlichkeitsarbeit ist damit zu finanzieren.Zum zweiten treffen die freundschaftlichen Vereinbarungen der Bundesregierung mit den Arbeitgebern über das Ende des Sozialstaats die Frauen direkt und indirekt am stärksten. Darauf werde ich in der Debatte über den Einzelplan 11 noch näher eingehen.Als drittes wäre anzumerken, daß 1995 eine Weltfrauenkonferenz ins Haus steht, für deren Vorbereitung wir bereits im vergangenen Haushalt Mittel beantragt hatten. Im Gegensatz zur Vorbereitung der Weltkonferenz Familie wurden derartige Mittel für Frauen nicht bewilligt, was sich auch vom Standpunkt der Bundesregierung her logisch erklären läßt: Die Familie als ordnungspolitisch wichtiger Produktionsfaktor muß gefördert werden; Frauen sind mal wieder nur als Mütter von Interesse.Wer sich den Sozialabbau der Bundesregierung in seiner Gesamtheit ansieht, wird feststellen, daß damit eine Entwicklung fortgesetzt wird, die Ende der siebziger Jahre in der BRD begann
und seit 1990 als offenes Rollback vor sich geht. Frauen werden aus dem Erwerbsleben massiv herausgedrängt und über die Gebärpflicht bei gleichzeitiger Kürzung der Mittel für die Kinderbetreuung wieder auf die Familie orientiert. Der bisher gesellschaftlich akzeptierte Wunsch von Frauen nach einer eigenständigen Existenz wird zunehmend als selbstsüchtig diffamiert, und längst überwunden geglaubte Rollenzuweisungen werden aus der historischen Mottenkiste geholt.
Die Prämissen, an denen sich diese Strategie orientiert, werden nicht durch die Bedürfnisse der Menschen in diesem Lande bestimmt, sondern richten sich nach den Erfordernissen der deutschen Großindustrie. Ein Blick auf den Bundeshaushaltsplan beweist dies: Der größte Ausgabenzuwachs mit einem Plus von 10 Milliarden DM ist dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr zuzuordnen, vorrangig zum Bau von Bundesautobahnen.Bezeichnend für den Einzelplan 17 ist auch die Kürzung der Zuwendungen für den Zivildienst um 20 %, und das bei gleichzeitigem Anstieg der Zahl der Zivildienstleistenden — kein Wunder, wenn man in Wirklichkeit wieder an militärische Optionen und an eine Arbeitspflicht für Arbeitslose und Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger denkt, mit der soziale Notstände billig behoben werden sollen.In diesem Kontext macht auch die Kürzung des Etats für Jugendpolitik und innerhalb dessen für die soziale Arbeit mit Jugendlichen zu einem Zeitpunkt zunehmender Jugendarbeitslosigkeit und Gewaltbereitschaft einen Sinn. Der Gedanke an eine gesellschaftskonforme Einbindung Jugendlicher über Bundeswehr, soziales und ökologisches Jahr und Gemeinschaftsarbeit für alle Arbeitslosen scheint die Mittelkürzung für die Träger von Einrichtungen der Jugendhilfe und Jugendsozialarbeit wohl zu legitimieren.Der von der Bundesregierung vorgelegte Sparhaushalt 1994 ist Zeugnis einer zutiefst unsozialen und patriarchalen Politik, die auf Kosten von Frauen, Jugendlichen und Kindern ausgetragen wird.
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14834 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Petra BlassEinem solchen Politikansatz muß entschiedener Widerstand entgegengesetzt werden.
Das Wort hat die Kollegin Susanne Jaffke.
Es gibt nichts Schlimmeres im Leben, als wenn man falsche Dinge zurechtrücken muß. Diese hier braucht man nicht zurechtzurücken. Sie sind einfach sachlich falsch.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie im gesamten Bundeshaushalt, so nehmen auch im Einzelplan 17 die zur Verfügung stehenden Mittel nicht mehr am linearen Aufwuchs so teil, wie wir es in den vergangenen Jahren gewohnt waren.Dies muß aber nicht bedeuten, daß die Qualität und der Stellenwert der Jugendpolitik dadurch geschmälert werden. Wer eine gute Jugendpolitik lediglich daran mißt, in welcher Höhe finanzielle Mittel bereitgestellt werden, macht es sich zu einfach.Vielmehr muß auch bei den bisherigen jugendpolitischen Förderinstrumentarien umgedacht werden. Es gilt hier kritisch zu prüfen, ob bisher geförderte Projekte künftig noch sinnvoll sind oder ob es nicht besser ist, neue, von den Jugendlichen vor allen Dingen selbst entwickelte Ideen zu unterstützen. Erbhöfe darf es nicht mehr geben.Die neuen Fördergedanken sollen sich auf Wesentliches konzentrieren. Im Vordergrund muß dabei die Ehrenamtlichkeit stehen. Gerade diese Arbeit leistet den wichtigsten Beitrag, weil ihre Aktivität eben auf Freiwilligkeit beruht. Nur so können Schrittmacher und Trendsetter in der Kinder- und Jugendarbeit sein. Natürlich muß es auch hauptamtlich Tätige in der Jugendarbeit sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene geben. Doch sollte vor allen Dingen hier kritisch die Notwendigkeit geprüft werden.
— Aber selbstverständlich.
Der Bund kann lediglich Rahmenbedingungen schaffen. Über Erfolg und Mißerfolg entscheidet erheblich der Einsatz der Länder und noch mehr der Kommunen. Gerade der Jugendpolitik vor Ort kommt eine herausgehobene Bedeutung zu. Sie hat einen besonderen Stellenwert für die Lebensbedingungen von Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und jungen Familien.Von den Lebensverhältnissen in ihrem Ort hängt es ab, ob junge Menschen ja zu ihm sagen und dort längerfristig ihren Lebensmittelpunkt sehen. Das bedeutet konkret: Eine moderne Jugendpolitik umfaßt eine vielfältige Jugend- und Jugendsozialarbeit, bedarfsgerechte Kinderbetreuungsmöglichkeiten, ein differenziertes Schulwesen, eine kinder- und familiengerechte Stadtplanungs- und Wohnungsbaupolitik, einschließlich verkehrsberuhigter Straßen, bedarfsgerechten ÖPNV, eines ausgebauten Radwegenetzes und nicht zuletzt eines ausreichenden Freizeit- und Kulturangebots.
Das kann der Bund natürlich in seiner Gesamtheit allein nicht leisten. Er kann, wie erwähnt, nur die Rahmenbedingungen schaffen.
In diesem Zusammenhang gilt es vor allen Dingen den Bundesjugendplan einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Auch hier müssen die Förderungen auf ihre Zeitgemäßheit überprüft werden.
Dabei sollen freie Träger bei der Durchführung von Vorhaben verstärkt zusammenarbeiten. Manchmal kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß es, aus welchen Gründen auch immer, ein Konkurrenzgebaren bei der Durchführung von Maßnahmen im jugendpolitischen Bereich gibt.Eine freie Jugendpolitik muß nach demokratischem Verständnis den Freiraum des einzelnen stärken. Jeder hat das Recht zur individuellen Freizeitgestaltung. Jugendpolitik darf kein Gängelband sein.
Wohin eine staatliche Überorganisierung der Freizeit geführt hat, sehen wir heute besonders in den neuen Bundesländern. Nicht nur Jugendliche haben es schwer, individuelle Freizeit mit Verantwortung zu leben. Auch Eltern haben die Beziehung zur jüngeren Generation dadurch verloren, daß der sozialistische Staat mit seiner Bevormundungsstrategie die Generationen ideell voneinander getrennt hat.
Träger der Jugendarbeit dürfen nicht durch Behörden begründet werden. Sie sollen durch Vorschläge von Jugendlichen und für Jugendliche initiiert sein. Die Schaffung von Trägervielfalt läßt sich nicht verordnen. Sie ist vielmehr Ausdruck von gelebter Demokratie. Sie soll den heranwachsenden Jugendlichen nicht als zu verwaltendes Objekt ansehen, sondern ihn als Individuum begreifen.
— Ich finde es toll, daß Sie das sagen. Wissen Sie, ich bin erst seit dem 3. Oktober 1990 in Deutschland und wundere mich, daß Sie vorher nicht alle Möglichkeiten genutzt haben, die Ihnen dieser Staat gegeben hat.Ziel muß es heute mehr denn je sein, diejenigen Aktivitäten zu unterstützen, die von Jugendlichen
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Susanne Jaffkeselbst ausgehen oder ihnen eine breite Mitwirkungsmöglichkeit bieten.Wer Politik für die Jugend machen will, darf nicht Tagessymptomen hinterherlaufen. Er muß seine Entscheidung überprüfen, welche Auswirkungen sie auf eine junge Generation in einer sich ständig verändernden Welt haben.Ich habe in vielen Gesprächen mit Jugendlichen dieses Landes in Ost und West feststellen können, daß unsere jungen Menschen in der Mehrheit aufgeschlossen und sachlich kritisch sind. Sie wollen schöpferisch mitwirken. Sie sind im allgemeinen weitaus besser als ihr Ruf.Mit Sicherheit wird sich das in der Zeit vom 26. bis zum 28. September in diesem Plenarsaal zeigen. Dann werden wieder junge Menschen dieses Landes ihr Verständnis von parlamentarischer Demokratie unter Beweis stellen. Bei dieser Gelegenheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich es nicht versäumen, diese Veranstaltung Ihrer geschätzten Aufmerksamkeit zu empfehlen.Ich bedanke mich.
Herr Kollege Ralf Walter, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Jaffke, Ihre Rede zu hören und sie dann mit den Realitäten dieses Einzelplans in Verbindung bringen zu sollen bedarf mehr als der Phantasie; da muß man von einer anderen Welt sein.
Denn das, was Sie hier vorgetragen haben, hat mit dem, was an Zahlenwerk vor uns liegt, nichts, aber auch wirklich gar nichts zu tun.
Eine Vorbemerkung möchte ich auch zur Ministerin Frau Merkel machen. Frau Merkel, Sie sagen: Wenn man den Wegfall von 10 Millionen DM beim AFT außer acht läßt, dann steigt der Bundesjugendplan um 2 Millionen DM. Das ist natürlich eine ganz kesse Art, zu rechnen: Wenn ich erst einmal zehn Millionen abziehe, habe ich irgendwo anders dann zwei Millionen zusätzlich. Ich weiß nicht, wie Sie auf solche Sachen kommen. Zumindest ist es bemerkenswert.
„Eine Gesellschaft, die Kinder und Jugendliche vernachlässigt, ist am Ende. " Dieses Urteil des Sozialpädagogen Hans Uwe Otto von der Uni Bielefeld über die Jugendpolitik nach der deutschen Einigung kann drastischer wohl kaum ausfallen.Wir stellen heute fest: Die Jugendpolitik wird immer wichtiger, die Bewilligungen in den öffentlichen Haushalten aber werden immer unzureichender.
Der vorliegende Haushalt zeigt im Einzelplan 17 für Frauen und Jugend einen Volumenrückgang von über 9 %. Frau Merkel, ich kann es mir nicht ersparen, Sie hier doch als die Parade- oder Musterfrau des Bundeskanzlers darstellen zu müssen,
wenn es um Einsparungen geht, Einsparungen in einem Bereich, der ansonsten doch von der Bundesregierung in Sonntagsreden immer wieder als der Bereich dargestellt wird, der eine besondere Aufmerksamkeit braucht, und über den man dann immer wieder redet, wenn es darum geht, ein erhebliches Gewaltpotential oder die Gefahr des Abdriftens in den Rechtsextremismus bei Jugendlichen besonders stark hervorzuheben.Eine solche Streichung, wie sie von Ihnen hier vorgenommen wird, muß man fast als Sicherheitsrisiko bezeichnen.
Natürlich kann man einen Einzelplan nicht nur an einer Gesamtsumme festmachen, und auch ich möchte dies nicht tun. Aber auch bei der Betrachtung von Einzelansätzen wird erkennbar, daß die Bundesregierung bis auf den blinden Sparwunsch — und dieser ist auch bei meiner Vorrednerin deutlich geworden — und Krisenintervention keine Konzepte für eine zukunftsorientierte Jugendpolitik hat.
Dabei hat doch auch die Bundesregierung in den letzten Jahren die vielen Gutachten, Anhörungen und Expertisen zur Kenntnis genommen. Warum handelt sie nicht danach?Eine Zielrichtung dieses Haushaltes scheint es zu sein, die Verbände kurzzuhalten, und das wird damit begründet, daß angeblich Verkrustungen vorhanden seien, daß zuviel Vielfalt da sei, daß sogar Konkurrenz da sei.
Wir hier in der ehemaligen Bundesrepublik waren immer stolz auf die Vielfalt, die wir hatten; wir waren froh, keine FDJ zu haben, die alles einheitlich gemacht hat.
Ich weiß nicht, warum Sie sich jetzt hier hinstellen und sich darüber beschweren, daß es hier eine Vielfalt gebe.
Eine Zielrichtung dieses Haushalts scheint es also zu sein, die Verbände kurzzuhalten, denn Regelförderungen, die eine kontinuierliche Arbeit ermöglichen, werden eingegrenzt bzw. erschwert. Dafür stecken
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Ralf Walter
Sie dann um so mehr Geld in ein Programm, das Sie unter dem wohlklingenden Namen „Aktionsprogramm Zielgruppenorientierte Prävention" führen.
Nun sind wir Sozialdemokraten ausgesprochene Befürworter von Prävention, wenn sie diesen Namen verdient. Im vorliegenden Fall haben wir es aber mit einer ausgemachten Feuerwehrpolitik zu tun.
Wenn irgendwo randaliert wird, erleben wir seitens der Bundesregierung wieder einen hektischen Schub von Aktivität und Aufgeregtheit. Die Folge ist, daß der Eindruck entstehen könnte, das Zündeln und die Krawalle würden belohnt. Was hat das mit Prävention zu tun?
Darüber hinaus lohnt es sich aber auch einmal, diesen Ansatz und die damit unterstützten Projekte im einzelnen unter die Lupe zu nehmen.Es ist in den letzten Tagen und Wochen durch die Medien gegangen: Da wird eine Jugendbegegnungsstätte in Görlitz mit 700 000 DM gefördert, in der sich gewaltbereite, zum Teil rechtsradikale Jugendliche einen Unterschlupf einrichten können. Reichskriegsflagge und volksverhetzende Plakate hängen offen an den Wänden, und der örtliche Bürgermeister findet das auch noch in Ordnung.
Es ist ein Skandal, der hier aus Bundesmitteln gefördert wird!
Die Zeitschrift „Die Zeit" hat übrigens einen bezeichnenden Satz dafür gefunden. Sie bezeichnete die Jugendpolitik des Bundes sehr zutreffend als „Glatzenpflege auf Staatskosten". Damit meine ich nicht meinen sehr geschätzten Fraktionsgeschäftsführer Peter Struck,
sondern diejenigen, die uns allen doch hoffentlich zuwider sind.
Gleichzeitig mit diesen Fördermaßnahmen würden und werden in den neuen Ländern in den vergangenen Jahren Hunderte von Jugendklubs geschlossen. Welche Gefühle sollen da in den Köpfen der sogenannten Stinos, also der Stinknormalen, aufkommen, wenn sie sehen, daß sie in ihren Ansätzen und Wünschen nicht berücksichtigt werden und daß reguläre Förderungen nicht stattfinden, sondern nur dann Gelder und Mittel fließen, wenn radikale Sprüche fallen oder Gewaltbereitschaft irgendwo auftritt? Dies ist ein ziemlich verheerender Eindruck, den Jugendliche von unserer Gesellschaft erhalten müssen.Wir wissen, daß man auch gewaltbereit und radikal daherredende Jugendliche nicht von vornherein abschreiben darf. Man muß versuchen, sie zurückzugewinnen. Prävention ist aber etwas anderes. Prävention erfordert eine Gesellschafts-, Sozial- und Jugendpolitik, die soziale Schieflagen behebt und Einstiegsmöglichkeiten schafft; eine Politik, die etwas dagegen tut, daß ein Drittel aller Sozialhilfeempfänger jünger als 18 Jahre ist, wie dies Realität in der Bundesrepublik ist;
eine Politik, die etwas dagegen unternimmt, daß über 300 000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unter 30 Jahren in dieser Bundesrepublik obdachlos sind. Dazu ist die Bundesregierung offenbar nicht bereit und auch nicht fähig.Statt den Aufbau freier Träger und damit reguläre Jugendhilfestrukturen voranzutreiben, beabsichtigt die Bundesregierung schon zum zweitenmal, aus dem sinnvollen Programm „Aufbau freier Träger" auszusteigen.Statt daß die Verbände und freien Träger gestärkt werden, findet Stagnation, ja sogar Behinderung statt. Ich erinnere an die Streichung des Haushaltsvermerks bezüglich der Rückflußmittel im Rahmen der Nachtragshaushaltsberatungen. Ich muß ganz deutlich sagen: Ich muß hier meine Enttäuschung über das Verhalten auch unserer Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion deutlich machen. Im Fachausschuß haben Sie großspurig angekündigt: Wenn wir einen gemeinsamen Antrag daraus machen, diese Rückflußmittel nach wie vor fließen zu lassen, dann wird das auch entsprechend erfolgen. Sie haben im Ausschuß den Mund gespitzt, um nach draußen eine weiße Weste zu haben. Als es dann aber darum ging zu pfeifen, war in Ihrer Fraktion nichts mehr davon zu hören, und wir standen mit einem kurzen Hemd da.
Statt daß ein Abbau von Vorurteilen zwischen den Jugendlichen aus den alten und den neuen Ländern gefördert wird, wird diese Problematik ignoriert. Statt der Schaffung von Arbeit und Wohnungen gibt es Streichungen bei den Schwächsten der Schwachen. Was dagegen not tut, ist ein weiterer Ausbau von attraktiven Freizeitmöglichkeiten.Was not tut, ist der Anreiz, die Selbsthilfekräfte der Jugendlichen zu reizen. Wir schlagen ein Projekt „Jugend hilft Jugend" vor, mit dem Jugendliche in die Lage versetzt werden, sich die Infrastruktur der Jugendarbeit selber aufzubauen und instand zu halten.Was not tut, ist die Stärkung der im Jugendbereich haupt- und vor allem ehrenamtlich Tätigen. Da nützen nicht ein paar warme Worte, Frau Kollegin Jaffke, sondern da muß dann auch gesagt werden, wie man sie konkret unterstützen will.Was ebenfalls not tut, ist eine größere Flexibilität bei Baumitteln des Bundes, wenn den Kommunen das Aufbringen der Komplementärmittel nicht möglich ist. Der vorliegende Haushalt für 1994 belegt aber, daß die Jugendpolitik der Bundesregierung keine ausreichenden Konzepte hat.
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Ralf Walter
Alle diese Bereiche — — Nein, Entschuldigung. Nachdem ich jetzt den Jugendbereich — —
— Nein, ich merke, die Zeit geht zu Ende. Ich werde da ein bißchen flexibel weitergehen. Das hat mit „in der Zeile vertan" nichts zu tun.Ich möchte nämlich noch einen wichtigen Punkt ansprechen, der eben auch angesprochen werden muß. Das ist der Zivildienst.
— So ist das!Nachdem Sie schon im laufenden Jahr die Aufwandsentschädigung für die mobilen sozialen Dienste gestrichen haben und das Entlassungsgeld gekürzt wurde, wollen Sie den Zivildienst jetzt erneut als Sparschwein heranziehen. 190 Millionen DM 1994 und 380 Millionen DM in den Folgejahren wollen Sie im Haushalt einsparen.Sie wissen sehr wohl, daß dies zwar den Bundeshaushalt entlastet, an anderer Stelle aber doch wieder zu höheren Belastungen führt:
zu Belastungen bei den Hilfebedürftigen selbst; zu Belastungen bei den Trägern der Sozialhilfe, also wieder einmal bei den Kommunen — Sie wälzen wieder Ihre eigentlichen Aufgaben auf die Kommunen ab —;
zu Belastungen bei den Krankenversicherern, was zu einer Erhöhung der Lohnnebenkosten führen kann, die Sie ja sonst so eifrig zu senken bestrebt sind, und schließlich zu Belastungen der Träger von sozialen Diensten, die vielfach nicht mehr in der Lage sein werden, ihre Dienste weiter anzubieten.Abgesehen von diesen Folgen sozialer Blindheit werden die Einsparungen auch zu einer weiteren Schlechterstellung des Zivildienstes gegenüber dem Wehrdienst führen. Das werden wir nicht mittragen.
Wenn Sie wirklich sparen wollen, meine Damen und Herren von der Koalition, dann vollziehen Sie doch mit uns — und das würden wir dann wirklich gemeinsam machen — endlich die längst überfällige Anpassung an die zwölfmonatige Dauer des Grundwehrdienstes auch für den Zivildienstbereich. Wir sind auf Ihre Offenheit in dieser Frage, wo es wirklich Möglichkeiten gibt, Gelder einzusparen, gespannt.
Die Bundesregierung sollte endlich einsehen, daß Jugendpolitik kein Luxus ist. Was wir heute in diesem Bereich nicht leisten, werden wir schon morgen nicht mehr ausbügeln können. Ein Haushaltsplan, der die ohnehin spärliche Jugendpolitik dieser Regierung noch weiter zurückdreht, wird die SPD daher ablehnen. Ein solcher Haushalt gefährdet die Zukunft unserer jungen Menschen und damit die Zukunft unserer Gesellschaft.
Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich liegen nicht vor.
Meine Damen und Herren, wir setzen die Aussprache mit dem Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft fort.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Dr. Rainer Ortleb.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Qualifikation der Erwerbstätigen gewinnt bei der zukunftsorientierten Entwicklung unserer Volkswirtschaft und der damit verbundenen Bewältigung aller ökonomischen, sozialen und kulturellen Aufgaben immer stärker an Bedeutung. Unter diesem Gesichtspunkt können Bildungsausgaben nicht nur rein konsumtiv betrachtet werden. Sie sind vielmehr unabdingbare Investitionen, wenn Bildung und Wissenschaft die an sie gestellten qualitativen und quantitativen Ansprüche zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland erfüllen sollen. Das gilt für Bund und Länder.Das Niveau des Haushalts des BMBW ist trotz angespannter Haushaltslage mit ca. 6,2 Milliarden DM weiter hoch. Trotzdem geraten wir bei den überbetrieblichen Ausbildungsstätten und im Hochschulbau zunehmend in Engpässe.Meine Damen und Herren, ich kann jetzt nur auf zwei bedeutsame bildungspoltische Schwerpunkte des Einzelplans 31 eingehen.Zur beruflichen Bildung: Weitere inhaltliche und struktruelle Verbesserungen in der beruflichen Bildung sind zwingend. Entscheidend ist ebenso, allen Jugendlichen in den neuen Ländern, die dies wünschen, einen Ausbildungsplatz anzubieten und ihnen damit eine echte Zukunftschance zu eröffnen. Dazu sind nach wie vor große Anstrengungen aller Beteiligten, besonders der Wirtschaft, erforderlich. Die Bundesregierung hat auf meinen Vorschlag hin eine Gemeinschaftsinitiative beschlossen: Bund und Länder sollen bis zu 10 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze gemeinsam finanzieren.
— Herr Kuhlwein, das ist nicht ganz korrekt. Außerbetriebliche Ausbildung ist nicht extra ausgewiesen.Das erforderliche Finanzvolumen beträgt 250 Millionen DM. Neben Bundes- und Ländermitteln sollen auch EG-Mittel eingesetzt werden. Bei der Vergabe der Fördermittel sollen die regionalen Ausbildungsplatzprobleme berücksichtigt werden. Der berufsstrukturelle Schwerpunkt liegt auf den Bereichen Dienstleistungs- und kaufmännische Berufe. Vor allem die Ausbildungschancen von Frauen und Mädchen sind zu verbessern. Die Länder sind jetzt aufge-
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Bundesminister Dr. Rainer Ortlebfordert, möglichst schnell die notwendigen Vereinbarungen mit dem Bund sicherzustellen.Hauptsächlich in den neuen Ländern steht im Zusammenhang mit der Erstausbildung auch der Aufbau und die Modernisierung eines bedarfsgerechten, regional ausgewogenen Netzes überbetrieblicher Ausbildungsstätten. Sie sind zu einem unverzichtbaren Strukturbestandteil der Berufsbildung insbesondere für die mittelständische Wirtschaft geworden. Auch dazu stehen Finanzmittel zur Verfügung.
Um dem erkennbar zunehmenden Fachkräftemangel zu begegnen, sind Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung der beruflichen Bildung dringend erforderlich. Aus dem Handwerk und aus der Wirtschaft erfahre ich viel Zustimmung, weil mit der Erhöhung des Ansatzes für die Begabtenförderung in der beruflichen Bildung auf 28 Millionen DM weitere 3 000 Stipendiaten in das Programm aufgenommen werden können.
Zum zweiten Komplex: Hochschule und Wissenschaft. Hohe Leistungen in Lehre und Forschung sind für den Wirtschaftsstandort Deutschland unverzichtbar. Dazu bedarf es modern ausgestatteter und effizienter Hochschulen, die ein Studium mit der Vermittlung auf Wissenschaft begründeter Qualifikationen in angemessener Zeit sichern. Deshalb ist neben einer Studienstrukturreform auch der weitere quantitative und qualitative Ausbau der Hochschulen dringend erforderlich. Das betrifft vorrangig die Erweiterung des Fachhochschulbereichs, aber auch die qualitative Umgestaltung und bessere Nutzung der Universitäten. Das geht nicht ohne zusätzliche Investitionen. Wie Sie wissen, ist der für 1994 vorgesehene Ansatz von 1,68 Milliarden DM für mich die unterste Grenze, dieses Ziel zu realisieren.Hinsichtlich der im Hochschulbereich erforderlichen Maßnahmen gibt es zwischen Bund und Ländern und Wissenschaftsorganisationen einen breiten Konsens. Ich wünsche und hoffe, daß nach der gründlichen Vorbereitung in absehbarer Zeit nun auch die Regierungschefs entsprechende Beschlüsse fassen können.Als besonders erfreulich möchte ich noch hervorheben, daß die Studienabschlußförderung fortgesetzt werden kann und damit die Studierenden in der Examensphase wirtschaftlich abgesichert bleiben, daß für den Studentenwohnraumbau in den neuen Ländern weitere 60 Millionen DM im Haushalt 1994 eingestellt sind und daß es trotz großer finanzieller Schwierigkeiten gelungen ist, den Ansatz für die Deutsche Forschungsgemeinschaft erneut um real 5 % zu erhöhen.Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf können nur die notwendigsten Schritte zur Sicherung der Qualität von Bildung, Ausbildung und Wissenschaft getan werden. Somit können nicht alle aus fachlicher Sicht dringenden Erfordernisse erfüllt werden. Um das bestehende gute internationale Niveau des deutschen Bildungswesens zu sichern und, wo nötig, weiter zu verbessern, muß in diesem Bereich künftig noch mehr investiert werden.
Ich bedanke mich für die breite Unterstützung, die nicht nur aus den Koalitionsfraktionen kam.Danke.
Ich erteile das Wort der Kollegin Doris Odendahl, die ich dazu beglückwünsche, daß sie Gips und Krücke wieder los ist.
Danke schön, Herr Präsident.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Einzelplan 31, der Haushalt des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, ist gewiß kein Nebenbereich, wie es bei bildungspolitischen Debatten in diesem Haus oft den Anschein hat. Nein, er hat eine Schlüsselfunktion, weil Bildungspolitik die Aufgabe hat, jungen Menschen Vertrauen und Orientierung für ihre Lebensplanung zu geben.
Mit dem heute vorgelegten Haushalt, meine Damen und Herren, wird das nicht gelingen.
Wer möchte heute in der Haut des Bundesbildungsministers stecken? Mit Zwiespältigen Gefühlen muß er — wie im Vorjahr auf die Stärke des Parlaments hoffen. Wir sollen ihm die Kastanien aus dem Feuer holen, die ihm das Bundeskabinett verweigert hat. Ich sage ausdrücklich „wir", weil ich es für ein schweres Versäumnis des Bundesbildungsministers wie der Koalitionsfraktionen halte, nicht jedenfalls den Versuch eines Zweckbündnisses in der Bildungspolitik mit der SPD zu machen. Dies geschieht weder beim Hochschulbau, wo wir ein gemeinsames Interesse zur Erhöhung des Bundesanteils von 1,68 Milliarden auf mindestens 2 Milliarden DM haben müssen, noch gar beim BAföG oder beim Ausbildungsprogramm für die neuen Länder, um drei zentrale Titelgruppen des Einzelplans 31 zu erwähnen. Auf diese Kernaufgaben des Bundesbildungsministeriums werde ich gleich noch eingehen. Dies geschieht schon gar nicht bei der überfälligen Einleitung von wirksamen Reformen im Hochschulbereich und bei der Modernisierung der beruflichen Bildung, wie die Debatte in diesem Hause zu dem Antrag der SPD „Bildungsgipfel — Vorbereitung parlamentarisieren und Betroffene einbeziehen" gezeigt hat.Wir sehen weder im Entwurf des Bundesbildungshaushalts 1994 noch in den Entwürfen der beiden Gesetze zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungsund Wachstumsprogramms, die von sozialer Kälte auch gegenüber den Studierenden und von der Unfähigkeit, den Qualifikationsstandort Deutschland zu
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Doris Odendahlsichern, gekennzeichnet sind, dazu positive Ansätze.
Im Hochschulbereich geht es, ausgehend von einer Reform der Studieninhalte und der Studienbedingungen für die Studierenden, um das Ziel, beruflich verwertbare Qualifikationen für 2 Millionen Studierende in wesentlich kürzerer Studienzeit als bisher zu vermitteln. Es geht darum, die Erneuerung der Hochschullandschaft in den neuen Ländern gemäß ihrer Bedeutung für die wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung im geeinten Deutschland als Ganzes, keinesfalls nur für das Beitrittsgebiet, rasch zu ermöglichen.
Es geht dabei um die Sicherung der Zukunftschancen für alle Jugendlichen in Bildung und Beruf.Es geht um die Bewahrung des sozialen Friedens und um Solidarität. Diese Solidarität muß sich im Bildungsbereich als Generationenvertrag zwischen der älteren und der jüngeren Generation bewähren. Wir müssen heute die Jugendlichen qualifzieren und in der Entfaltung ihrer gesamten Persönlichkeit fördern, wenn wir morgen von ihnen die Leistungen erwarten, die die Sicherung unserer wirtschaftlichen Existenz, den sozialen Frieden und die Bewahrung der Natur ermöglichen sollen.
Ich setze das Bild vom Generationenvertrag damit bewußt gegen die von der Bundesregierung verengte Sicht auf den Wirtschaftsstandort Deutschland. Wer wie die Bundesregierung Deutschland mit Sozialabbau, mit einer Einschränkung der arbeitsmarktpolitischen Möglichkeiten der Bundesanstalt für Arbeit und nicht zuletzt auch mit der Drohung, Langzeitstudenten mit Studiengebühren aus den Hochschulen zu vertreiben, umgestalten will, anstatt ihnen Angebote zu machen, wie sie ihr Studium schneller abschließen können, versagt dabei kläglich.Ich komme wieder auf die Zwiespältigkeit des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft zurück. Diese wird deutlich, wenn man sich das Chaos vorstellt, das im vergangenen Jahr in seinem Hause geherrscht haben muß. Da erarbeitete eine Gruppe von Mitarbeitern zusammen mit Vertretern der Länder das sogenannte Eckwertepapier zur Vorbereitung des Bildungsgipfels, den der Kanzler immer weiter verschiebt. Dieses Papier stellt ein Paket dar, das nur Sinn macht, wenn es in all seinen Teilen, den strukturellen Änderungen wie den finanziellen Vorschlägen, verwirklicht wird. Sonst würden die geplanten Strukturreformen im Hochschulbereich einseitig auf dem Rücken der Studierenden und des Hochschulpersonals ausgetragen.In dem Eckwertepapier stellen Bund und Länder gemeinsam fest:Die angestrebten Reformen sind notwendig und zügig umzusetzen. Trotz der Reformmaßnahmen entstehen für die gestiegenen Aufgaben in Bildung, Wissenschaft und Forschung Mehraufwendungen, für die Vorsorge zu treffen ist. Nach den Ermittlungen der Wissenschaftsressorts von Bundund Ländern führen die dargestellten Maßnahmen zu Mehrkosten für laufende Ausgaben in Höhe von zirka 4 Milliarden DM jährlich, im investiven Bereich bis zum Jahr 2000 zu Mehrkosten von zirka 12 Milliarden DM für den Hochschulbau, 490 Millionen DM nur bis 1997 für außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und zirka 5 Milliarden DM für den Studentenwohnraumbau.Die Kostenzusammenstellung enthält noch keine Angaben zum Bereich berufliche Aus- und Weiterbildung, der im Eckwertepapier sehr stiefmütterlich behandelt wird.Ich wollte Ihnen das Chaos im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft schildern. Während also unter Hochdruck das Eckwertepapier erarbeitet wurde, waren gleichzeitig alle Abteilungen des Hauses mit dem komplizierten Verfahren der Aufstellung des Haushaltsentwurfs 1994 befaßt, zunächst intern, dann, wie üblich, auf den verschiedenen Hierarchieebenen bis zum sogenannten Chefgespräch mit dem Bundesfinanzminister. Wir als Opposition ahnen mehr, als daß wir es wissen, daß der Bundesfinanzminister beim Hochschulbau zunächst auf 1,4 Milliarden DM oder gar auf 1,3 Milliarden DM Bundesanteil gehen wollte. Daran gemessen, mögen 1,68 Milliarden DM für Herrn Ortleb als ein Erfolg erscheinen. Wohl wahr!
— Seien Sie nicht so selbstzufrieden; Sie verstehen nichts davon.
Aber er weiß wie wir alle: Dieser Betrag ist zum Sterben zuviel und zum Leben zuwenig. Nach dem 22. wird auch der 23. Rahmenplan für den Hochschulbau nur ein Rumpfrahmenplan sein können, wenn das Parlament kein Einsehen hat und nicht mindestens 2 Milliarden DM bereitstellt. Im Klartext heißt das: keine neuen Studienplätze, insbesondere nicht mehr Fachhochschulplätze, und das Strecken bereits begonnener Modernisierungs- und Ausbaumaßnahmen nunmehr wohl auch in den neuen Ländern. Sämtliche Neuanschaffungen von Großgeräten sind bereits beim 22. Rahmenplan ausgesetzt worden.Die Festschreibung des Hochschulbauansatzes des Bundes auf 1,68 Milliarden DM für 1994 wäre auch das Aus für den Bildungsgipfel. Ohne eine Anpassung der Bedarfssätze und Freibeträge 1994/95 beim BAföG zum Inflationsausgleich und ohne mindestens 2 Milliarden DM Hochschulbaumittel des Bundes werden jedenfalls die SPD-regierten Länder diese Gipfeltour nicht mitmachen.
Aus dem Kohlschen Gipfel würde dann höchstens eine platte Wanderdüne, und das wäre nach der ständigen Ankündigung, meine Damen und Herren, wahrhaftig der Gipfel.Nach der Zwiespältigkeit des Bundesbildungsministers wende ich mich nun der Doppelbödigkeit des
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Doris OdendahlFinanzministers zu. Von Zwiespältigkeit kann man bei Herrn Waigel wahrhaftig nicht reden. Hier handelt es sich eindeutig um die Tatsache der Täuschung und des Wortbruchs. Blicken wir doch nur wenige Monate zurück: Als es um die Zustimmung zu seinem Föderalen Konsolidierungsprogramm ging, ließ sich der Finanzminister von der SPD-Bundestagsfraktion und den Ländern den schon in diesem Papier ursprünglich vorgesehenen sozialen Kahlschlag ausreden, um ihn postwendend nach Zustandekommen der Einigung heute um so brutaler wieder auf den Tisch zu legen. Das alles hat mit verläßlicher Politik nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun. In anderen Bereichen oder im schönen Allgäu, wo der Finanzminister herkommt, würde man dabei glatt von Roßtäuschermethoden reden.
— Das ist wohl wahr.Gestaltung der Zukunft bedeutet für die SPD Ausbau statt Abbau des Bildungsangebots, denn nur wenn wir dem wachsenden Bedarf an Qualifikationen Rechnung tragen, werden wir als rohstoffarmes Land überleben können. Die deutsche Wirtschaft wird international nur wettbewerbsfähig sein, wenn die Anstrengungen in Forschung, Technologie, Bildung und Wissenschaft und Umweltpolitik entscheidend verstärkt werden. Einen Abbau der Bildungsangebote, eine Einschränkung des Zugangs zu weiterführender Bildung und eine weitere Verschlechterung der Qualität lehnen wir als den falschen Weg grundsätzlich ab.Daß gespart werden muß, ist unbestritten. Wenn gespart werden muß, ist der erste Weg die Neubestimmung von Prioritäten im eigenen Haus. Benötigte Mittel müssen daher zunächst durch den Versuch der Umstrukturierung im Einzelplan des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft gesucht werden. Wenn man sich die einzelnen Haushaltsansätze ansieht, vor allem die großen Blöcke Ausbildungsförderung, Hochschulbau und Wissenschaftsförderung unter Einschluß der Hochschulerneuerung in den neuen Ländern, so sind bereits zwei Drittel der vorgesehenen Gesamtausgaben von knapp 6,2 Milliarden DM im Jahr 1994 festgelegt. Die übrigen Haushaltsansätze im Einzelplan 31 geben für eine merkliche Akzentverschiebung bei näherer Betrachtung nicht viel her.Wir werden jedoch bei den Ausschußberatungen auch kleinste Beträge unter die Lupe nehmen, und zwar nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit und der Angemessenheit. Dies betrifft z. B. die Begabtenförderung in allen Bildungsbereichen, die in den letzten zehn Jahren gegenüber der Benachteiligtenförderung stark ausgeweitet wurde.Wenn dieser Weg nichts bringt, bleibt nur eine Prioritätsverschiebung innerhalb der Ausgabenblöcke des gesamten Bundeshaushalts.
— Es würde uns noch mehr einfallen; Sie haben nur nie zugehört. Es gibt sehr viele Vorschläge, und das wissen Sie.
Als dritter Weg ist die Rede von einer stärkeren Belastung des einzelnen mit Aufwendungen für Bildung. Dazu hat vor knapp einem Jahr der Wissenschaftsrat das Stichwort Studiengebühren erneut in die Diskussion gebracht, das nach Veröffentlichung des Entwurfs für ein solches Finanzierungsmodell allerdings sofort wieder aus dem Verkehr gezogen wurde. Angesichts der damit offenbar geplanten Abschreckungswirkung vom Studium und der ungeklärten Frage nach der sozialen Gerechtigkeit war dieser Rückzieher unvermeidlich. Mit Chancengleichheit hatten diese Überlegungen nichts zu tun.Bei der heutigen Höhe der Staatsverschuldung fällt es als vierte Möglichkeit schwer, zugunsten von Bildungsausgaben als Zukunftsinvestition eine weitere Kreditaufnahme und damit eine weitere Erhöhung der Staatsverschuldung zu empfehlen. Ich bekenne offen: Eine einfache Lösung ist nicht in Sicht. Nur: Wenn wir der jungen Generation unsere Hypotheken hinterlassen, müssen wir sie auch in die Lage versetzen, sie überhaupt abzahlen zu können.
Meine Damen und Herren, zu drei Einzelfragen möchte ich wie angekündigt abschließend Stellung nehmen: BAföG, Hochschulbau und Notprogramm für die ausbildungsplatzsuchenden Jugendlichen in den neuen Ländern.Zunächst zur aktuellen Entscheidung des Bundeskabinetts vom 2. September 1993, endlich doch ein Sonderprogramm für Ausbildungsplätze in den neuen Ländern aufzulegen,
die auf Druck des Bundeswirtschaftsministers um eine weitere kostbare Woche hinausgeschoben werden mußte. Sie haben sich redlich bemüht, Herr Minister. Ich habe das wohl beobachtet. Kostbar war diese Woche deshalb, weil 23 500 Bewerberinnen und Bewerber Ende August noch nicht auf einen Ausbildungsplatz vermittelt worden waren. Dem stehen noch rund 12 000 offene Ausbildungsstellen gegenüber. Es ist aber eine völlig unsinnige Transaktion, wenn die Bundesregierung offene Stellen und unversorgte Bewerberinnen und Bewerber einfach saldiert und erwartet, daß die betroffenen Jugendlichen schon irgendwie auf den freien Plätzen unterkommen werden. „Irgendwie" bedeutet dann, daß jemand, der in Rostock einen Ausbildungsplatz sucht und dort keinen findet, in Sachsen unterkommen könnte. Solche Transaktionen haben noch nie geklappt, auch nicht in den Jahren, als wir es hier in den alten Ländern mit derselben Ausbildungsplatzmisere zu tun hatten.
Schon zu dieser Zeit haben Sie damit großen Schaden angerichtet. Sie müßten es heute besser wissen.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14841
Doris OdendahlDennoch freuen wir uns natürlich, daß die Bundesregierung dem Drängen der SPD-Bundestagsfraktion endlich nachgegeben hat. Noch in der Berufsbildungsdebatte und in der Aktuellen Stunde vor der Sommerpause haben Sie die Situation schöngefärbt und keinen Handlungsbedarf sehen wollen.
Vielleicht haben Sie inzwischen den SPD-Antrag zur Sicherung eines auswahlfähigen qualifizierten Ausbildungsplatzangebotes für alle Jugendlichen in den neuen Ländern zur Kenntnis genommen. Unser erster Maßnahmenschwerpunkt darin lautet: Schaffung der haushaltsrechtlichen Voraussetzungen zur Förderung in außerbetrieblichen Einrichtungen. Sorge bereitet uns, daß die Bundesregierung die neuen Länder offenbar zusätzlich zu den inzwischen dort eingeleiteten zahlreichen Maßnahmen in weitere finanzielle Verantwortung ziehen will, obwohl hier ganz eindeutig der Bund zuständig und verantwortlich ist.
Natürlich erspare ich mir nicht den Satz, daß die im Frühjahr dem Bundeskanzler von der Wirtschaft gegebene Ausbildungsgarantie gescheitert ist.
Bei dieser Beurteilung läßt sich die SPD-Bundestagsfraktion auf keine Spiegelfechterei mit Zahlen mehr ein. Dieses Spiel haben Sie viel zu lange betrieben.
Nun zum gemeinsamen Hochschulbau. Der Ansatz ist wie 1993 auf 1,68 Milliarden DM festgefroren. Das hat Einzelne hier zum Klatschen veranlaßt; das hat mich doch erstaunt.
Damit war schon 1993 nur ein Rumpfrahmenplan zu realisieren. Der Ausbau der Fachhochschulkapazitäten, der von allen Seiten als vordringlich anerkannt wird, ist bei diesem Ansatz unmöglich. Neue Studienplätze können im gewünschten Umfang mit diesem Programm ebensowenig geschaffen werden wie die Modernisierung der Altbausubstanz und die Komplettierung begonnener Maßnahmen.Bund und Länder haben im Wissenschaftsrat einvernehmlich eine Sachplanung im Umfang von 2,3 Milliarden DM für notwendig erklärt. Der Bildungsminister hat dort dieser sachlichen Notwendigkeit zugestimmt und ist über seine schon erwähnte Zwiespältigkeit dann doch noch gestolpert.Ich möchte Ihnen heute einen Vorschlag zur Güte unterbreiten. Es gibt ja Möglichkeiten; tun wir doch nicht so. Wie wäre es, wenn der Bund leerstehende Kasernenanlagen an Hochschulorten kostenlos und folgelastenfrei zur Verfügung stellt und sich die Länder den fiktiven Kaufpreis auf den Bundesanteil für den Hochschulbau anrechnen ließen?
Vielleicht können wir darüber nachdenken.
Beim BAföG kann ich Ihnen keinen Kompromiß anbieten. Wir halten daran fest, daß die Verbesserung der Studienbedingungen wesentlich vom realen Wert des BAföG abhängt. Das Statistische Bundesamt hat soeben mitgeteilt, daß die Zahl der nach dem BAföG geförderten Studierenden 1992 um 27 000 oder 3,1 % gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen ist. Trotz steigender Lebenshaltungskosten und wachsender Studentenzahlen ist der Gesamtbetrag, den Bund und Ländern für die individuelle Ausbildungsförderung zahlen, inzwischen rückläufig.Schon lange benutzt der Bundesfinanzminister den BAföG-Plafonds des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft als Sparbüchse. Dabei sind die fast 400 Millionen DM Darlehensrückflüsse noch nicht einmal berücksichtigt.Meine Damen und Herren, die SPD hält an ihrer Linie bei den Solidarpaktverhandlungen fest: Der Verzicht auf eine Anpassung von Freibeträgen und Bedarfssätzen stellt angesichts der hohen Inflationsrate insbesondere in den neuen Ländern einen Sozialabbau dar.Die von mir beschriebenen Mängel gehen zum großen Teil auf Fehlentscheidungen seit 1982 zurück, als die Vorgänger von Herrn Ortleb das Bildungsministerium bedeutungslos werden ließen bzw. die Hochschulen mit Sonderprogrammen abgespeist haben. Sie hätten zu ihrer Zeit verhindern müssen, daß es zu der jetzt allseits beklagten dramatischen Unterfinanzierung des gesamten Bildungsbereichs gekommen ist. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.
Wir müssen uns in den anstehenden Haushaltsberatungen gemeinsam große Mühe geben, doch noch bessere Lösungen zu finden; denn es ist ein Glück in unserer heutigen Situation, daß es noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine in größerem Umfang lernende Jugend gegeben hat. Sie hat es nicht verdient, mit Schlagworten vom Bildungsgipfel bis hin zum Wirtschaftsstandort Deutschland abgespeist zu werden. Sie hat Chancengleichheit in der Bildung und Ausbildung verdient. Sie braucht Orientierung und Vertrauen, daß ihre Lebensplanung in bezug auf Bildung und Ausbildung in guten Händen ist.Mit dem Haushaltsentwurf der Bundesregierung wird diese Orientierung nicht gegeben, wird das Vertrauen enttäuscht und durch die Mißachtung der sozialen Gerechtigkeit zerstört.Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Klaus Uelhoff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist sicher richtig, wenn man feststellt, daß es schon eine Schlüsselfunktion ausmacht, was Staat und Gesellschaft für Bildung und Wissenschaft ausgeben. Insofern, Frau Kollegin Odendahl, stimme ich Ihnen zu.
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14842 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dr. Klaus-Dieter UelhoffAber es ist nicht redlich, wenn man zur Meßlatte seiner eigenen Kritik nur das macht, was der Teil des Staates, von der Gesellschaft einmal ganz zu schweigen, der — wie der Bund — nur ein wenig Kompetenz für Bildung und Wissenschaft hat, im Rahmen engster Finanzzwänge für diesen Bereich zur Verfügung stellt. Natürlich wäre auch im Einzelplan 31 mehr drin gewesen — wir alle hätten uns gefreut, nicht zuletzt der Bundesbildungsminister —, wenn nicht beim Solidarpakt die Länder bis zum letzten dem Bund fast jede weitere finanzielle Bewegungsmöglichkeit genommen hätten.
Ich muß sagen: Ich bin dankbar dafür, daß auch dieser Etat in einem engen Finanzrahmen wichtige Schwerpunkte setzt und auch Vorgaben macht, an denen sich andere orientieren können. In diesem Etat ist weiß Gott nicht alles Wünschenswerte enthalten. Aber das Notwendige wird möglich gemacht.Ich möchte dies an Hand einiger weniger Beispiele deutlich machen. Ich bin Ihnen, Herr Bundesminister Ortleb, und dem Bundeskanzler, der ja aus den 80er Jahren in dieser Frage seine guten Erfahrungen hat, sehr dankbar dafür, daß die Bundesregierung es nicht hinnehmen will, daß ein 15jähriger in Ostdeutschland, wenn er seine schulische Ausbildung beendet hat, als erstes die Erfahrung der Arbeitslosigkeit und der mangelnden Ausbildungsmöglichkeiten macht. Aber es wäre natürlich finanzpolitisch und auch psychologisch völlig falsch gewesen, wenn etwa die Bundesregierung im März oder im April, als es sich abzeichnete, wieviel junge Menschen — das weiß man ja — nach einem Ausbildungsplatz streben, gesagt hätte: Wir sind jetzt bereit, ein großes Programm aufzulegen. Es hätte genau die — ich sage jetzt einmal — Heilungskräfte der Wirtschaft nicht richtig eingesetzt.
— Ich erinnere daran, daß es die Präsidenten der großen Wirtschafts- und Handwerksverbände waren, die zunächst gesagt haben: Wir werden alles versuchen, um möglichst vielen Menschen Arbeitsplätze zu geben. Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch Handel, Handwerk und Gewerbe in Ostdeutschland dafür danken, daß sie das Mögliche getan haben.
Aber das, was sie tun konnten, war eben nicht genug. Deshalb, Herr Minister Ortleb, finde ich es goldrichtig, daß Sie nicht zu einem früheren Zeitpunkt, sondern eben jetzt, wo man sieht, daß es noch etwa 20 000 junge Menschen — —
— Nach dieser Presseerklärung sind noch 10 000 bis 12 000 junge Menschen da, die einen Ausbildungsplatz — generell, auf die Fläche Ostdeutschlands gesehen — nicht haben. Hier wissen wir auch — wenn man die Berichte aufmerksam verfolgt —, daß es hier sektoral und regional große Unterschiede gibt.Ich möchte bei dieser Gelegenheit nur an das Beispiel des Arbeitsamtes Gera erinnern, wo auf jedenJugendlichen, der einen Ausbildungsplatz sucht, rechnerisch 1,5 freie Stellen kommen, aber im Baugewerbe. Obwohl in Ostdeutschland das Baugewerbe Zukunftsperspektiven sogar noch für die übernächste Generation bieten würde, ist es offenbar nicht attraktiv genug, um alle die angebotenen Plätze zu besetzen. Das Dienstleistungsgewerbe ist offenbar nicht attraktiv genug.Deshalb meine ich: Bei allem Verständnis dafür, daß die individuelle Neigung eine wichtige Funktion bei der Wahl des eigenen Berufes haben muß, dürfen wir nicht übersehen, daß auch die Eignung ein weiteres wichtiges Kriterium ist. Ich sage mit allem Nachdruck: Auch der Bedarf, der objektive Bedarf des Arbeitsmarktes ist ein weiteres wichtiges Kriterium. Da kann ich nur sagen: Jeder, der bereit ist, sich im Bauhaupt-und Baunebengewerbe zu aktivieren und dort seinen Ausbildungsplatz zu suchen, wird wahrscheinlich noch in der übernächsten Generation in Ostdeutschland seinen Platz finden.Auf diesem Hintergrund ist mein dringender Appell, daran zu denken, daß die jungen Menschen nicht nur nach dem streben, was sie als eigene Neigung verspüren, sondern daß sie auch daran denken, was an Bedarf in der Umgebung vorhanden ist.
Herr Minister, es ist erfreulich, daß Sie zum richtigen Zeitpunkt dieses Programm auflegen wollen. Ich kann Ihnen versichern, wir werden Ihnen im Haushaltsausschuß dabei helfen, die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen.
Daß wir im Bereich der Forschung in diesem Etat einen Aufstieg von 50 Millionen haben, verdanken wir der Rahmenvereinbarung. Aber ich will nicht unerwähnt lassen, daß etwa 900 Millionen DM für die Deutsche Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellt werden. Dies ist eine erhebliche Leistung in einer Zeit, in der andere Bereiche ihren Gürtel sehr viel enger schnallen müssen. Ich bin allerdings überzeugt, daß bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft diese Mittel gut eingesetzt werden.Zum Hochschulprogramm hat Frau Kollegin Odendahl einiges gesagt. Ich bin sehr dankbar, daß es gelungen ist, die 1,68 Milliarden DM zu halten. Es ist natürlich trefflich, aus anderer Leute Leder Riemen zu schneiden. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß es noch im Frühsommer der Bund war, der den Ländern bei der Feststellung des Finanzrahmens gesagt hat: Dies können wir bei den uns zur Verfügung stehenden engen Mitteln nicht leisten. Die 16 Länder haben sich daran nicht gestört. Sie haben gegen die Stimme des Bundes erstmals einen Finanzrahmen beschlossen. Und anschließend fordert man, daß sich der Bund, der genau weiß, was verfügbar ist, in seinem Haushalt eben darauf aufstellt.
Ich kann nur als ein ganz konkretes Beispiel sagen: Ich wünschte, daß wirklich alle Länder immer daran dächten, daß nicht jeder Neubau, daß nicht jeder Umbau auch strukturpolitisch sinnvoll ist. Lassen Sie mich das
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Dr. Klaus-Dieter UelhoffBeispiel der Brandenburgischen Universität Potsdam nennen! Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür, daß gewissermaßen in dem Weichbild der Universitäts- und Hochschulstadt Berlin mit der Freien Universität, der Technischen Universität, der Humboldt-Universität, die sich besser wieder „Freie" nennen und mit der anderen zusammengehen würde, mit einer zweistelligen Zahl von Hochschulen und Fachhochschulen ein Prestigeobjekt als brandenburgische Universität in Potsdam zusätzlich gebaut werden muß. Nichts gegen Cottbus und Frankfurt an der Oder, aber eine solche Universitätsplanung durch den brandenburgischen Landtag macht es dem Bund nicht leichter, jetzt nach Art. 91 a seine Mitwirkung — mehr ist es nicht — an dieser Gemeinschaftsaufgabe deutlich zu machen.
Der Neubau von Hochschulen allein reicht zur Verbesserung der Situation der Universitäten nicht aus.Ich erinnere daran: Vor 30 Jahren hat der Heidelberger Professor Picht sein Buch „Die Bildungskatastrophe" geschrieben. Sinngemäß enthält es die These: Wenn wir nicht ein Volk von Abiturienten werden, dann werden wir das nächste Jahrtausend in Deutschland nicht erleben. — Jetzt sind wir fast ein Volk von Abiturienten, und die Bildungskatastrophe ist in der Tat da.
Nein, meine Damen und Herren, ich erwarte, daß man sich überlegt, ob die 1,9 Millionen Studenten, denen 1,6 Millionen Lehrlinge in Deutschland gegenüberstehen, wirklich alle an die Hochschule gehören.Ich verweise auf einen interessanten Artikel am letzten Freitag im „FAZ"-Magazin, wo Professor Steinmann, der Rektor der Universität München, die Universitäten als ein „Überlaufgefäß des Bildungswesens " bezeichnet hat, weil nämlich viele Leute nach dem Abitur, weil sie noch nicht genau wissen, was sie machen wollen, einfach erst mal studieren.
Wir haben ein großes Problem mit Abbrechern, wir haben ein großes Problem mit Langzeitstudenten, wir haben das große Problem der „Grauen Panther" an den Universitäten. Ich kann nur sagen: Das, was Professor Erhardt, der Berliner Bildungssenator gemacht hat, nämlich die Einführung von Studiengebühren für Langzeitstudenten, trägt hoffentlich mit zur Solidarität bei, so daß verhindert wird, daß viele Studenten anderen, die besser studieren würden, die Plätze vorenthalten.
Ein letztes Dankeschön, Herr Minister Ortleb, für den wichtigen Bereich der beruflichen Bildung, Qualifizierung von Personal für Ostdeutschland, auch die Begabtenförderung im beruflichen Bildungsbereich. Dies alles sind erfreuliche Ansätze, denn Bildung ist nicht allein Hochschulbildung.Für unsere Zukunft wird es entscheidend darauf ankommen, daß wir wieder den Bedarf an gut ausgebildeten Handwerkern, an Facharbeitern, an graduierten Ingenieuren decaen. Die berufliche Bildung — davon bin ich überzeugt — wird in Zukunft eine zentrale Rolle in der deutschen Bildungspolitik spielen. Wir werden Ihnen, Herr Minister Ortleb, so gut wir es können, dabei helfen.Danke schön.
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt unser Kollege Dr. Dietmar Keller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte das Glück, mit dem Bundesminister zur gleichen Zeit in dieses Haus einzuziehen. Ich hatte im ersten Jahr das Gefühl, daß er die Reden, die man ihm geschrieben hatte, abgelesen hat. Inzwischen habe ich das Gefühl, daß er glaubt, was er sagt. Denn es gibt doch eine Reihe von Problemen, über die wir miteinander reden müssen.Ich will Ihnen für das, was Sie Aufschwung im Bildungs- und Wissenschaftsbereich nennen, einige Beispiele geben.
— Ich lese und glaube, im Gegensatz zu Ihnen, Sie glauben nur, und ich lese dazu. Das ist der Unterschied.Die schönen Worte von der Umgestaltung, Erneuerung und Stärkung der ostdeutschen Bildung und Wissenschaft ziehen sich von den Reden aus Anlaß der deutschen Einheit über die Regierungserklärungen und die Fachministerienerklärungen, die Erklärung zu Beginn dieser Wahlperiode bis zur Erklärung des Bundeskanzlers von vorgestern. Ich zitiere ihn:Wir wollen in gemeinsamer Anstrengung allen jungen Menschen in den neuen Bundesländern eine Lehrstelle anbieten können. Darauf lege ich besonderen Wert. Denn eine hervorragende Ausbildung gibt der Jugend das unverzichtbare Gefühl, wirklich gebraucht zu werden. Damit wird das Vertrauen junger Menschen in unsere freiheitliche und demokratische Gesellschaftsordnung gefestigt.Ich hoffe nur, daß er auch an die denkt, die keine Lehrstelle bekommen. Deren Vertrauen in diese Gesellschaft wird nicht gefestigt sein. Der Bundesminister hat einmal die Ausbildung Ost als „Bombenerfolg" zu verkaufen versucht. Ich erinnere daran: Am Ende der DDR gab es dort 400 000 Ausbildungsplätze, etwas mehr als in dem demographisch vergleichbaren Nordrhein-Westfalen. Wenn man alle hinzurechnungsfähigen Faktoren wie die Verlängerung der Ausbildungszeiten oder abzugsfähige Größen wie den stärkeren Besuch von Abiturschulen, zusammengerechnet,
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14844 Deutscher Bundestag -- 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dr. Dietmar Kellerbleibt für alle Berufsbildungsjahre zusammen ein Ausbildungsbedarf von etwa 400 000. Der Berufsbildungsbericht 1993 und selbstverständlich auch die Bundesregierung schweigen sich über den jetzigen Gesamtbestand an Ausbildungsplätzen in Ostdeutschland aus. Diese Zahl ist bisher nirgendwo offiziell richtig benannt worden.
Nein, er ist nicht benannt worden. Die letzte verfügbare Zahl aus den Grund- und Strukturdaten des Bundesministers bezieht sich auf 1991 und lautet 253 000, Herr Jork. Wenn man davon die künstlichen rund 60 000 außerbetrieblichen Ausbildungsplätze abzieht, bleiben 170 000, die dann auch noch ihre erheblichen regionalen und strukturellen Macken haben, was ja verständlich ist und was man auch nachvollziehen kann. Inzwischen dürften es eher weniger als mehr Plätze geworden sein. Aber solche Feinheiten sind doch unnötig, wenn es um ein Verhältnis zwischen Bedarf und Bestand von 4 : 1,7 geht.Ich jedenfalls halte die unverschämte Verfälschung der realen Sachverhalte in der Berufsausbildung Ost mit Hilfe statistischer Taschenspielertricks und eine auf diesen Fälschungen aufgebaute Bildungs- und Finanzpolitik für einen schlimmen Betrug der Bundesregierung an den ostdeutschen Jugendlichen. Sie werden dafür Ihre Rechnung bekommen.Ich hoffe sehr, daß die Bundesregierung mit einer solchen Politik wenigstens ihre überfällige Abwahl gefördert hat; denn das Vertrauen zu festigen ist damit wohl nicht erreicht worden. Was die anfänglichen und sodann gebetsmühlenartig wiederholten Phrasen vom Zusammenwachsen, dem Angleichen oder Annähern der Wissenschafts- und Forschungslandschaften auch wert sein mögen: Die Reduzierung der Zahl der in der DDR beschäftigten Wissenschaftler von 180 000 auf jetzt 25 000 oder ein Siebentel verdeutlicht eine Fehlpolitik. Übrigens war die Zahl der in Forschung und Entwicklung Beschäftigten in Ost und West auf die Bevölkerungszahl bezogen etwa gleich. Wie soll denn der Aufschwung Ost mit einem Siebentel des Forschungspotentials in der Industrie und Wissenschaft, wie es heute in Ostdeutschland übriggeblieben ist, vollzogen werden?Ich glaube, meine Damen und Herren, hier wird eine Politik gemacht, die letztendlich nicht zu Lasten der Bundesregierung geht — das interessiert mich überhaupt nicht; sie wird sowieso abgewählt —, sondern zu Lasten des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Für Deutschland tragen diejenigen Verantwortung, die heute in der Regierung sitzen, und auch die, die auf den Oppositionsbänken sitzen. Deshalb müssen Sie sich das von mir so sagen lassen.
Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Dr. Wolfgang Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!Bildungsnotstand — daran wurde schon erinnert —, dieser Ruf alarmierte das Land schon vor mehreren Jahrzehnten. Jetzt müssen wir festellen: Der Bildungsnotstand reicht noch viel weiter, als Georg Picht 1964 bei seinem Alarmsignal ahnen konnte. Auf Straßen, Schulhöfen, in Klassenräumen, ja sogar in den Familien breitet sich eine neue Art gewalttätigen Barbarentums mitten in unserer epochenalten Kultur aus. Gegen sie hilft kein Moralisieren, kein Rufen nach Tradition und Werten. Denn Tatsache ist, daß diese neue Barbarei gerade auf dem Obsolet- und Kraftlos-werden jener Werte beruht, von denen Stabilisierung und Abhilfe erwartet werden.Ich möchte diesen hilflosen Appellen nach rückwärts eine historische Behauptung entgegenstellen. Was wir erleben, ist das Auslaufen einer über 2 500 Jahre alten Schul- und Bildungstradition, die die Schule als unterste Stufe und Mindestbedingung für den Gelehrtenberuf ansah und darum Schreiben, Lesen und Rechnen als Basis und Anfang aller Künste lehrte. Schreiben, Lesen und Rechnen sind mittlerweile voll mechanisiert. Der Schule des digitalen Zeitalters fehlt damit jene Basis, auf der Antike, Mittelalter und Nachmittelalter aufbauten.Sind wir uns der ungeheuren Konsequenzen dieser Sachlage schon bewußt? Das gesprochene Wort in allen seinen Dimensionen und Strukturen hat ein so noch nie dagewesenes Gewicht bekommen. Die Kompetenz in seinem Bereich zu erlangen ist um viele Grade schwieriger geworden als zu der Zeit, in der Schriftsprache eine unmittelbar anschauliche Definition von Sprache war, ganz anders als jetzt, da vornehmlich Maschinen es sind, die die Kunst des Schreibens bzw. Druckens beherrschen.Alle, denen es nicht gelingt, die sprachliche Vollkompetenz der Kommunikation zu erlangen, sinken ab in die Barbarenwelt der neuen Analphabeten und Illiteraten der Informationsgesellschaft und entwikkeln sich immer mehr zu einer kritischen Masse von asozialem Gewaltpotential.Wer sich zur Priorität der Sozialpolitik bekennt, muß konsequenterweise in der Sozialisation durch Bildung deren ersten Schritt und ihre elementare Voraussetzung sehen.Eine neue Schule kann nicht aus dem Boden gestampft werden. Aber wer sie anstrebt, darf doch nicht weniger, er muß mehr Wissenschaft wollen. Um sie effektiv werden zu lassen, müssen weit ausgreifende Forschungsprogramme aufgelegt und organisiert werden, wie sie z. B. von Catenhusen und anderen in „Innovative Technologiepolitik" unlängst eingefordert worden sind.Es ist vollkommen unverständlich, daß der Bildungsnotstand dadurch vertieft wird, daß gerade in einer solchen Situation die Etatposten der Bundesministerien für Forschung und Technologie und für Bildung und Wissenschaft gekürzt werden. Ich kann nur sagen: Ich würde die beiden Herren Minister gerne unterstützen, aber sie sind offenbar an dieser Stelle zu weich gewesen. In beiden Fällen, könnte man sagen, handelt es sich nur um wenige Prozente.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14845
Dr. Wolfgang UllmannEs tröstet mich nicht, daß man als mildernden Grund die geringe Kompetenz des Bundes in dieser Sache anführt. Das ist eine schwache Ausrede. Ich erinnere nur daran, daß Japan an der gleichen Stelle seinen Haushaltsansatz um 15 % erhöht hat. Ich darf an jene OECD-Studie erinnern, die der Bundesrepublik Deutschland in der Liste, die das Verhältnis von Bruttosozialprodukt zu Bildungsausgaben wiedergibt, den 22. Platz neben Ghana anweist. Also, hier muß das Parlament die Regierung in die Verantwortung nehmen.Ohne die Bereitschaft zu erheblichen Etatumstellungen würde es keinerlei Sinn haben, in die Diskussion folgender Fragen einzutreten, die im Sinne einer Effektivierung von Forschungs- und Hochschulpolitik unerläßlich sind:Erstens. Ist es angesichts der in Gang kommenden Umstrukturierung der Gesellschaft weiterhin zu verantworten, Forschung und Technologie einerseits, Bildung und Wissenschaft andererseits in zwei Ministerien aufzuspalten?Zweitens. Kann Studium weiter seinen akademischen Charakter, Lernen durch Teilhabe an Forschung, ohne eine erhebliche Reform und Aufstokkung der Studienfinanzierung bewahren? Diese Frage halte ich für viel wichtiger als den Versuch, etwa mit DDR-Methoden Studenten in das Handwerk abzudrängen.Sind die augenblicklichen Personalstrukturen samt dem sie fundierenden Hochschullehrerdienstrecht den heutigen Anforderungen an Forschung und Lehre noch gewachsen?Gerade wer die Beantwortung dieser Fragen nicht übers Knie brechen will, muß der Gesellschaft Zeit zum Dialog einräumen, aber auch Bereitschaft zur Finanzierung des Erforderlichen signalisieren.Ein Bildungsgipfel, der diese Fragen unbeantwortet ließe, wäre in meinen Augen kein Bildungsgipfel, sondern eine Bildungslücke.Ich danke Ihnen.
Nun hat als nächster unser Kollege Carl-Ludwig Thiele das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! „Über allen Gipfeln ist Ruh"', so beginnt Johann Wolfgang von Goethe sein Gedicht. Zur Hochschulpolitik:Über allen Gipfeln ist Ruh',aber darunter spürest dunicht nur einen Hauch.Es ist ein Brausen und Toben, bis endlich drobenüber des Parlamentes Niederungen kommt er ans Licht gedrungen.Oder kommt der Bildungsgipfel etwa nicht?
Selten wurde im Bereich der Hochschulen über ein Thema über einen so langen Zeitraum mit einer so unklaren Zeitsetzung räsoniert wie über den Bildungsgipfel. Für den Deutschen Bundestag gibt es bei den Beratungen des Haushalts 1994 fast keinen anderen Einzelposten, bei dem man — wie beim Hochschulbau — nicht weiß, ob der Regierungsansatz von 1,68 Milliarden DM das letzte Wort ist, weil — Parlament hin, Parlament her die Regierung möglicherweise doch einen Gipfel macht, der dann natürlich nicht nur mit symbolischen oder sibyllinisch verkrypteten Erklärungen enden darf, sondern konkrete Ergebnisse für den Bildungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland bringen soll.Dieser Gipfel ist allerdings nicht nur für den Hochschulbau erforderlich, sondern auch aus vielen anderen Gründen. So muß es doch in dem zusammenwachsenden Deutschland möglich sein, die Zeit für die Erlangung der allgemeinen Hochschulreife einvernehmlich auf zwölf Jahre zu regeln.
Die F.D.P. fordert dies schon seit langem.Ferner muß deutlich werden, daß Deutschland eine lebendige Kulturnation bleibt. Das Ansehen Deutschlands in der Welt wird maßgeblich von der Vielfalt und dem Reichtum seiner Kultur geprägt. Auch deshalb war und ist Bildung nicht nur auf ökonomische Zwecke hin orientiert.Persönlichkeitsentwicklung und Stärkung der Eigenverantwortung sind neben der Wissensvermittlung wichtige Ziele, an denen sich die Bildung orientieren muß.
Der beste Platz, an dem dies vermittelt werden kann, ist die Familie. Unser Bildungssystem muß den Familien aber bei ihrer Erziehungsaufgabe beistehen. Die Vermittlung von positiven Wertvorstellungen wie Toleranz, Anständigkeit, Ehrlichkeit und auch die Einübung demokratischer Tugenden ist für das Zusammenleben der Menschen unerläßlich. Dieses muß durch unser Vorbild und durch Möglichkeiten geschehen, diese Werte erfahren und erlernen zu können.
Zum Hochschulbau haben wir im Haushaltsausschuß vor kurzem eine Vorstellung davon erhalten, wieviel von diesen Geldern gar nicht für den Hochschulneubau, sondern für Reparaturen, Asbestsanierungen und ähnliches ausgegeben wird. Ich frage mich in diesem Zusammenhang — auch über den Einzelplan 31 hinaus —, ob wir uns die preußisch genaue Durchsetzung von Asbestsanierungen im gesamten öffentlichen Bereich noch leisten wollen oder ob es hier nicht angesichts geringer gesundheitlicher Gefährdung durch Asbest — verglichen z. B. mit Passivrauchen; dieses ist nach Auffassung des Bundesgesundheitsamtes nämlich hundertmal schädlicher als Asbestgefährdung —, angesichts 'der Situation der öffentlichen Kassen, angesichts des knappen Ansatzes für den Hochschulbau nicht endlich angezeigt ist, das Vorschriftendickicht der Asbestsanie-
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Carl-Ludwig Thielerung zu überprüfen oder es zumindest für einen auf einige Jahre befristeten Zeitraum auszusetzen. Ich meine, daß wir dieses über Parteien und alle öffentlichen Körperschaften übergreifend tun sollten. Lassen Sie uns nicht nur davon reden, daß wir Verkrustungen in unserem System haben! Lassen Sie uns auch einmal einige konkret beim Namen nennen und aufbrechen!
Unabhängig davon halte ich es für notwendig zu überprüfen, ob nicht wieder Kolleggelder für Lehrveranstaltungen oder andere Formen finanzieller Anreize für Professoren geschaffen werden könnten; dann werden auch die Kapazitäten auf nicht ausgeschöpfte Kapazitäten überprüft.
— Einverstanden.Während meines Studiums vor ca. 15 Jahren sagte mir ein befreundeter Arzt, daß die Zahl der Studienplätze für die Medizinstudenten trotz entsprechender Mittel für die Neueinrichtung von Studienplätzen deshalb nicht gestiegen sei, weil die Kolleggelder abgeschafft worden sind. Wir brauchen auch im öffentlichen Dienst eine Anreizförderung, damit sich dort etwas mehr bewegt, als es derzeit der Fall ist.Die Arbeiten, die wir verantwortlich für heranwachsende Generationen im Bildungsbereich erbringen müssen, umfassen aber nicht nur universitäre Maßnahmen, sondern auch entsprechende Maßnahmen der beruflichen Bildung. Dies gilt für die F.D.P. ebenso wie der Grundsatz, daß Begabtenförderung und Breitenförderung keine Gegensätze sind. Jeder einzelne, aber auch unsere Gesellschaft insgesamt ist darauf angewiesen, daß möglichst viele Menschen ihr individuelles Potential optimal entwickeln können. Besondere Begabungen werden nicht nur in Wissenschaft und Kunst, sondern auch in der Berufspraxis gebraucht. Wir benötigen deshalb in allen Bereichen von Aus- und Weiterbildung eine systematische Begabtenförderung; und ich freue mich, daß auch dieser Haushaltsentwurf entsprechende Mittel für die Begabtenförderung im beruflichen Bereich enthält.Unser duales System der beruflichen Bildung hat sich bewährt und wird international nachgefragt. Es ist allerdings erforderlich, die Gleichwertigkeit zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung zu erhöhen, das System der beruflichen Bildung stärker zu differenzieren und seine Attraktivität im Vergleich zum Studium deutlich zu erhöhen, auch hinsichtlich erreichbarer Beschäftigungspositionen.
Dieses muß endlich dazu führen, daß die Berufsbildung die Durchlässigkeit zu anderen Ausbildungswegen und entsprechende Aufstiegsmöglichkeiten auch für beruflich Qualifizierte eröffnet.
Ich begrüße es an dieser Stelle ausdrücklich, daß das Bundeskabinett dem Vorschlag des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft, Professor Dr. Rainer Ortleb, für eine Gemeinschaftsinitiative des Bundes, der Wirtschaft und der neuen Länder zur Sicherung der Berufsbildung in den neuen Bundesländern zugestimmt hat.
— Aber es kommt dann ja! Und nicht jeder Schnellschuß von Ihnen muß richtig sein.
Dieses Lehrstellenprogramm für Ostdeutschland für die Schaffung von bis zu 10 000 zusätzlichen außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen stellt auch angesichts der schwierigen finanziellen Situation des Haushalts einen enormen Kraftakt dar. Ich erwarte, daß die neuen Bundesländer dieses Angebot des Bundes positiv aufgreifen und die entsprechende Gegenfinanzierung sicherstellen.Ich weiß, daß sich die Haushaltspolitik und auch die Haushaltspolitiker häufig den Vorwürfen der Kollegen — allerdings selten innerhalb unserer Fraktion
— lassen Sie mich meine Kollegen doch einmal ins Wort nehmen! — aus der Sozial-, Kultur- und Bildungspolitik ausgesetzt sehen, daß zuwenig für diese Bereiche getan werde. Dem kann ich nur entgegenhalten, daß Haushaltskonsolidierung Zukunftssicherung im besten Sinne des Wortes darstellt. Zukunftssicherung bedeutet eben auch, die Menschen davon zu überzeugen, daß sie nicht auf Kosten anderer und nicht auf Kosten ihrer eigenen Zukunft über ihre Verhältnisse leben können.
Gerade dieser Haushalt ist ein richtiger Schritt in diese Richtung. Lassen Sie uns hieran mitarbeiten!
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Graf von Waldburg-Zeil das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf auf die Rede meiner geschätzten Kollegin Frau Odendahl zurückkommen, die mich sehr beeindruckt hat, die ich als Allgäuer aber in einem Punkt korrigieren muß: Sie haben den Herrn Finanzminister mit einem Roßtäuscher verglichen. Aber das ist die andere Rolle. Das haben Sie verwechselt. Er ist nicht der Roßtäuscher, sondern der Roßkäufer. Im Allgäu ist es üblich, bevor man das Roß kauft, zweimal in den Geldbeutel zu schauen, ob auch genug Geld da ist.
Liebe Frau Kollegin, natürlich ist es angenehmer, in den guten Jahren zu sprechen und zu sagen: Hier tun wir noch etwas drauf, und dort tun wir noch etwas drauf! Aber wir sind nun einmal in den mageren
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Alois Graf von Waldburg-ZeilJahren. In den mageren Jahren ist es eigentlich fast interessanter, zu sehen, wo man dann das Geld hintut, das man zum Schluß noch zusammenkratzen konnte, wo da die Prioritäten liegen.Es ist schon Georg Picht angesprochen worden. Vor fast drei Jahrzehnten, 1964, erschien sein berühmter Artikel. Seitdem haben wir uns angewöhnt, Bildungspolitik hauptsächlich mit Hochschulpolitik zu identifizieren. Ausschöpfung von Begabungsreserven, horizontale und vertikale Durchlässigkeit, Steigerung der Abiturientenquote, Steigerung der Studentenquote standen im Vordergrund.Auch in diesem Jahr spielen Hochschule und Wissenschaft eine wichtige Rolle im Haushalt. Wir alle kennen die Diskussion um die dringend nötige Aufstockung der Bundesmittel für die Hochschulbauförderung, und es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, daß man lieber mehr Mittel hätte als die veranschlagten 1,68 Milliarden DM. Nun sind aber die 500 Millionen DM, die noch zusammengekratzt worden sind, die wir dort gut hätten gebrauchen können, in eine andere erste Priorität gegangen, eben in die Garantie, daß jeder Ausbildungsplatzsuchende in den neuen Ländern auch einen Ausbildungsplatz erhält.Nun werden Sie, meine Damen und Herren von der SPD, mit Recht sagen: Wir haben ja von vornherein gesagt, daß das zuwenig sein wird und daß ihr etwas tun müßt! — Richtig! Bloß, man muß so etwas spät ankündigen, sonst ist die Wirtschaft lahm und tut nicht das, was sie tun soll.Jetzt, im rechten Moment, ist das Programm angekündigt worden. Zunächst einmal war es unerläßlich, die Wirtschaft zeigen zu lassen, was sie entsprechend ihren Zusagen realisieren kann. In der Tat ist Ende August die Ausbildungsplatzlücke um rund 12 geringer als im Vorjahr. Ich glaube, daß es am Platz ist, denjenigen zu danken, die Ausbildungsplätze angeboten haben, bevor man diejenigen anspricht, die noch etwas unternehmen können, was wir natürlich alle tun müssen.
Trotz dieser Verbesserung der Lehrstellensituation ist das Angebot an Ausbildungsplätzen aber nicht befriedigend, da im Vorjahr 16 000 Jugendliche in außerbetriebliche Maßnahmen geleitet wurden, was wegen Wegfalls der Rechtsgrundlage in diesem Jahr nicht mehr möglich ist. Also war es die erste und wichtigste Aufgabe, dafür zu sorgen, daß auch in diesem Jahr keine Lücke offenbleibt.Ich begrüße deshalb außerordentlich die Gemeinschaftsinitiative zur ergänzenden außerbetrieblichen Ausbildung mit Vorrang in den unterrepräsentierten Dienstleistungs- und kaufmännischen Berufen sowie — ganz wichtig — in den Angeboten für junge Frauen.Das Programm wird teuer sein, da die Förderung die gesamte Ausbildungsdauer umfaßt, also bei einem dreieinhalbjährigen Ausbildungsberuf bis 1997 dauert, soweit es nicht gelingt, Jugendliche aus diesen außerbetrieblichen Ausbildungsgängen mit der Zeit dann doch noch in eine betriebliche Ausbildung zu vermitteln.Der Gesamtbetrag für das Programm wird zwischen Bund und Ländern aufgeteilt, einschließlich Berlin für den Ostteil, wobei aber jeweils die Hälfte der Kosten von Bund und Ländern durch Mittel des Europäischen Sozialfonds gedeckt werden kann. Übrigens, wer immer davon redet, daß wir die Zahlmeister in Europa sind, sollte auch einmal dieses Faktum erwähnen.Lassen Sie mich aber noch einen Moment bei der Prioritätensetzung verweilen. Als Georg Picht davor warnte, daß wir in der Bundesrepublik zuwenig Akademiker hätten, erreichten knapp 7 % eines Altersjahrgangs die Hochschule. Er meinte, daß man das verdoppeln sollte. Das Ziel ist mittlerweile weit überschossen; viel mehr als das Vierfache ist mittlerweile zur Universität gegangen.Ich möchte darüber kein Klagelied anstimmen, weil ich einen hohen Respekt vor Bildungsentscheidungen junger Menschen habe. Es ist aber nötig, mit dem Realitätssinn, der für Politik unerläßlich ist, zu erkennen, daß es nicht möglich ist, für eine höchstmögliche Zahl von Interessenten eine entsprechende Menge teuerster akademischer Ausbildungsplätze zum Nulltarif vorzuhalten, wenn nicht folgende Bedingungen erfüllt sind — ich möchte nur einige aufzählen:Erstens. Wer nicht schwimmen kann, darf nicht ins Schwimmbad gehen, wo es tief ist. Wer Hochschulreifen bescheinigt, die die akademische Schwimmfähigkeit nicht garantieren, handelt fahrlässig an den jungen Studenten.
Die Folge ist zwar nicht Ertrinken wie im Schwimmbad, sondern Studienabbruch, der mittlerweile einem Drittel der Studierenden widerfährt, in manchen Studienfächern sogar der Hälfte.Die Verantwortung liegt bei den Ländern. Ich erwähne das Thema demnach hier im Bundestag nur, weil Gespräche über weiteren Hochschulausbau nur Sinn machen, wenn die Länder hier handeln.
Zweitens. In den 50er Jahren haben die Hochschulrektoren den Abiturienten zwar gute Allgemeinbildung bescheinigt — die berühmte Tagung in Tutzingen —, aber die Unfähigkeit zum Wählen. Man hat dann die Oberstufenreform geschaffen, bei der das Wählen allerdings durch den Numerus clausus vergällt wurde, da nicht nach eigenen Neigungen, sondern im Hinblick auf den Notendurchschnitt gewählt wurde.Heute beschweren sich die Rektoren darüber, daß die Studenten zuwenig Allgemeinbildung besitzen und zu spezialisiert seien. Damit will ich wiederum nicht einer Totalrevision das Wort reden. Nichts ist in der Bildungspolitik schädlicher als ständige Totalwechselbäder. Aber Bildungspolitik bewegt sich zwischen Versuch und Irrtum und muß Mittelwege finden.Die Schulzeitverkürzungsdiskussion gibt nur Sinn, wenn das Volumen an Spezialwissen, das sich ja selbst ständig überholt, reduziert und die Allgemeinbildung wieder gestärkt wird.
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14848 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Alois Graf von Waldburg-ZeilWiederum bewege ich mich auf der Zuständigkeitsebene der Länder, aber bewußt; denn wenn der Bund im Hochschulbereich, etwa beim Hochschulbau, handeln soll, kann er es nur im Kontext mit Reformbemühungen und Anstrengungen der Länder tun.Drittens. Das Beispiel Studienzeiten. Länder und Universitäten müssen endlich mit der Studienzeitverkürzung ernst machen.Viertens. Die Problematik Nulltarif für Langzeitstudenten. Es kann nicht angehen, daß der noch größere Teil der Jugend bereits Steuern zahlt, mit denen der Nulltarif universitäre Einrichtungen sozusagen über Gerechte und Ungerechte, über Arme und Reiche gleichermaßen gestreut wird.Selbst wenn man einer Zwangsexmatrikulation von Dauerstudenten nicht zustimmt, wie ich das tue, so kann man doch zumindest erwarten, daß sie sich an der Finanzierung beteiligen.
Ich finde die Vorschläge des baden-württembergischen Wissenschaftsministers oder des Berliner Wissenschaftssenators in dieser Hinsicht außerordentlich interessant.Darf ich Ihnen kurz widersprechen? Da liegt nämlich das Problem. Darüber haben wir alle noch nicht so richtig nachgedacht. Schauen Sie sich einmal das BAföG an: Ein Drittel ist BAföG-berechtigt. Wir haben mittlerweile sehr hohe Einkommensgrenzen, mit bis zu 80 000 DM kann man noch ins BAföG gelangen. Zwei Drittel können es nicht in Anspruch nehmen. Ich rede von den alten Ländern, nicht von den neuen.Wie ist das eigentlich? Muß wirklich der Sohn des Millionärs den Nulltarif haben? Darüber werden wir sicher bei Gelegenheit noch nachdenken.Ich nenne schließlich die stärkere Gliederung der Hochschullandschaft. Sie hat sich von der Menge ihrer Inanspruchnahme her grundlegend verändert. Konnte sie früher für eine kleine und homogene Gruppe weitgehend einheitlich sein, muß sie sich heute, um der Vielfalt der Begabungen und Bildungswege gerecht zu werden, stärker differenzieren. Ein Stichwort ist der Ausbau der Fachhochschulen, ein anderes die bundesweite Anerkennung von Berufsakademien. Ich muß es als Baden-Württemberger jedesmal sagen.
Ich breche die Aufzählung ab, die nur deutlich machen soll, wie unerläßlich das Gespräch zwischen Bund und Ländern in diesem Themenbereich ist, das mit dem Stichwort Bildungsgipfel verbunden ist. Das Beispiel zeigt: Gerade im Bildungsbereich kann man nicht die Menge des ausgegebenen Geldes mit der Güte des Erreichten gleichsetzen. Oder umgekehrt: Man kann nicht einfach in Bereiche Geld pumpen, ohne voher dafür gesorgt zu haben, daß die Mittel auch optimal wirken.Ich danke Ihnen.
Nunmehr erteile ich noch dem Abgeordneten Dr. Ulrich Briefs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zitat:Deutschland wird die Chancen, die sich ihm in einer sich verändernden Welt bieten, nur dann nutzen können, wenn seine Bürger weltoffen bleiben, wenn in globalen Zusammenhängen und Dimensionen gedacht und gehandelt wird. Hierbei sind Bildung und Ausbildung von zentraler Bedeutung.Das Zitat ist von Bundeswirtschaftsminister Rexrodt und stammt aus dem Standortpapier.Was aber tut die Bundesregierung bei Bildung und Wissenschaft im Haushalt 1994?Erstens. Sie senkt ihn um nominal 4 %. Das sind real aber fast 10 %.Zweitens. Sie benachteiligt die fünf neuen Länder besonders stark durch Kürzung des Hochschulerneuerungsprogramms um 37 Millionen DM. Das sind allein 25 % des gesamten Kürzungsvolumens, und das angesichts der Totalabwicklung des Hochschulwesens und der Schrumpfung der Industrieforschung auf einen Restposten von etwa 15 % in der früheren DDR.Drittens. Obwohl die Hochschulen angesichts von chronischer Überlastung und Unterfinanzierung aus dem letzten Loch pfeifen, werden die Mittel für den Aus- und Neubau eingefroren und die Studentenwohnraumförderung im Westen um 100 Millionen DM gekürzt. Zugegebenermaßen wird im Osten um 60 Millionen DM aufgestockt.Aber das Fazit ist: Der Etatentwurf für das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft ist völlig unangemessen. Die Kürzungen sind kontraproduktiv, sie tragen vor allem dazu bei, daß die Hochschulen buchstäblich verkommen. Die Haushaltspolitik dieser Bundesregierung ist auf diesem Gebiet eine Katastrophe. Sie wird die Hochschulen und das Bildungswesen weiter in die Katastrophe treiben, und das zu einem Zeitpunkt, wo technologische, organisatorische und infrastrukturelle Modernisierung angesagt ist.So ist es richtig, wenn die „Süddeutsche Zeitung" am 30. August schreibt: Der Rohstoff Geist zählt hierzulande wenig. Warum sonst steht Deutschland in der Liste der OECD-Staaten hinsichtlich der Bildungsausgaben an beschämender drittletzter Stelle?Den Rüstungsetat rühren Sie kaum an, der verbleibt auf der alten Höhe. Den Verkehrsetat weiten Sie sogar um 22 % aus. Für die zukünftige Entwicklung im Hochschulwesen lassen Sie sich eine ganze Latte von Rezepten einfallen, die im wesentlichen dazu führen, daß auch auf diesem Gebiet in der Gesellschaft ein zusätzliches Moment, eine zusätzliche Tendenz von Spaltungen eingeführt wird und daß wirtschaftliche Verwertbarkeit durch und durch an den Hochschulen dominieren soll. Ich kann als Hochschullehrer nur
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Dr. Ulrich Briefssagen, als jemand, der selbst in diesem Bereich, wennauch in einem noch etwas privilegierten Fach, tätig ist— die Informatik ist immer noch etwas besser dran —: Das können wir uns alle nicht wünschen.Ich schließe mit einem Zitat des Vorsitzenden des Wissenschaftsrates, Professor Gerhard Neuweiler, der in diesem Beschluß, den Hochschulausbau einzufrieren, „einen bildungspolitischen Offenbarungseid" sieht. Er hat das letzte Woche auf unserer GEWSommerschule auf Sylt so geäußert. Das ist also die Position, die Stellungnahme des Vorsitzenden des Wissenschaftsrats. Das müssen Sie sich einmal klarmachen! — Ich zitiere:Wenn der Staat wirklich der Auffassung sei,
die Köpfe der jungen Menschen seien das Kapital zur Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland,— ich verweise auf das Rexrodt-Zitat vom Anfang —so würde er auch dafür das notwendige Geld aufbringen. 50 Kilometer neue Straßen weniger pro Jahr würden ausreichen, die aktuellen finanziellen Probleme beim Hochschulbau zu lösen.Ich glaube, dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Herr Präsident, ich danke Ihnen.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereiches des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft und kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Forschung und Technologie.
Ich erteile zunächst einmal dem Minister Dr. Paul Krüger das Wort. Herr Minister, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wirtschaften müssen bedeutet im Grunde, mit begrenzten Mitteln unendlichen Bedürfnissen gegenüberzustehen.
— So ist es.Das gilt in besonderem Maße auch für die Politik. Daraus begründet sich auch die Ambivalenz jeder Haushaltsentscheidung und, wie wir heute feststellen konnten, auch jeder Haushaltsberatung.Auch ich wäre kein guter Minister, wenn ich nicht zur Bewältigung zusätzlicher Aufgaben um mehr Mittel für die Forschung in unserem Land werben würde.
— So ist das.
Ich glaube, wir sind uns alle über die Bedeutung der Forschung gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Standortdiskussion in Deutschland im klaren, dennForschung und Entwicklung, Forschung und Technologie sind mit die wichtigsten Voraussetzungen für eine gedeihliche Entwicklung unserer Wirtschaft,
gerade vor dem Hintergrund der Standortindikatoren — der Lohnkosten, der Lohnnebenkosten, der langen Urlaubszeiten, der kurzen Arbeitszeiten und vieler anderer, auch der hohen Steuersätze, über die ja hier in den letzten Tagen gesprochen worden ist.Ich darf an dieser Stelle auch meine Bedenken äußern, was im Angesicht der heute auch beschworenen Tarifpartner an Veränderungen möglich ist, meine Bedenken, daß hier tatsächlich Entscheidendes passieren wird.Genau vor diesem Hintergrund kann man nicht deutlich genug auf die Notwendigkeit von Forschung und Technologie in diesem Lande hinweisen.
In diesem Zusammenhang ist sicher der Staat in ganz besonderer Weise gefragt. Darüber hinaus haben wir in Deutschland, wie das heute auch von vielen Rednern sehr ausführlich behandelt worden ist, die Herausforderungen der deutschen Wiedervereinigung — nein, richtiger müssen wir sagen, die Herausforderungen der Beseitigung der katastrophalen Hinterlassenschaften von 40 Jahren Sozialismus.
Hier ist natürlich gesagt worden, daß im Bereich der Industrieforschung enorm abgebaut worden ist. Ich kann da entgegenhalten: Es ist richtig, aber es ist nicht in dem Umfang geschehen, wie es hier zitiert worden ist. Wir müssen dabei auch zur Kenntnis nehmen, daß in vielen Bereichen — ich habe selber in der Forschung gearbeitet — in den neuen Ländern Personal untergebracht war, das mit Forschung nichts zu tun hatte. Ich will das nur relativieren.Fakt ist, daß beide Faktoren — die Notwendigkeit der verstärkten Forschung in diesem Lande wie auch die Notwendigkeit, Strukturwandel in den neuen Bundesländern im Bereich der Forschung zu realisieren — in den Haushalten seit 1990 im Verhältnis zu anderen Ressorts nur unterproportional berücksichtigt worden sind.Der Gesamtentwurf des Bundeshaushalts 1994 ist ein Spar- und Konsolidierungshaushalt, und das ist richtig so. Er ist durch einen zentralen Gedanken geprägt: Wir müssen Verzicht üben, jedoch gleichzeitig alles für einen günstigen Investitionsstandort Deutschland tun.Unter diesen Voraussetzungen, Herr Vosen, ist der Haushalt 1994 bei aller Kritikwürdigkeit schon ein positives Signal.
Der Bundeskanzler hat den hohen Stellenwert der Forschung zum Erhalt und zum Ausbau des Wirt-
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14850 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Bundesminister Dr.-Ing. Paul Krügerschaftsstandorts Deutschland in den vergangenen Tagen mehrfach hervorgehoben. Ich appelliere an Sie, daß wir in diesem Sinne gemeinsam nach Möglichkeiten suchen, im Bundeshaushalt zusätzlich Zukunftsinvestitionen in die Forschung, insbesondere im neuen Bundesgebiet, zu finanzieren.Meine Damen und Herren, es wird in der Diskussion dieser Tage allzuhäufig übersehen, daß wir in Deutschland im internationalen Vergleich ein außergewöhnlich hohes Niveau der öffentlichen Finanzierung der Forschung erreicht haben. Der Anteil der gesamten staatlich finanzierten Ausgaben für die zivile Forschung am Bruttoinlandsprodukt in Deutschland betrug im Jahr 1991 — und das hat sich nicht wesentlich verändert — 0,94 %. In den USA betrug dieser Wert 0,48 %, also etwa die Hälfte. In Japan waren es 0,42 %.Es ist klar, daß beim internationalen Vergleich der Forschungssysteme viele Besonderheiten zu beachten sind. Es ist aber eine Tatsache, daß der Staat in Deutschland seiner Verantwortung für die Forschung nach wie vor auf einem sehr hohen Niveau nachkommt. Wir werden auch in Zukunft dafür sorgen, daß dies so bleibt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben aller Wichtigkeit der finanziellen Rahmenbedingungen ist es ebenso wichtig, die Effizienz der Forschung in Deutschland zu verbessern. Die Forschungspolitik der Bundesregierung hat hierzu, wie ich meine, die richtigen Strategien, angelegt. Die Technologien des 21. Jahrhunderts, die Informationstechnik, die Biotechnologie, physikalische und chemische Technologien und die Materialforschung haben eine zentrale Bedeutung für die Innovationsfähigkeit unseres Landes.
— Darüber können wir uns gern unterhalten.Hier werden die Grundlagen für wichtige neue technologische Entwicklungen gelegt. Diese Technologiefelder werden im Haushalt des BMFT prioritär gefördert. Die Forschungspolitik hilft durch Forschung mit langfristiger Perspektive, heute Technologielinien anzulegen, die morgen den Erfolg auf den Märkten bestimmen und damit die dringend notwendigen Arbeitsplätze sichern helfen.
Wer, wie Teile der SPD, eine Vernachlässigung junger Technologielinien durch den Staat unterstellt, verdrängt die Realität der Haushaltszahlen.
Ich kann mich nur wundern über das, was Herr Scharping hier heute morgen von sich gegeben hat. Wenn er Herrn Schäuble der Lüge bezichtigt hat, dann müßte ich das an dieser Stelle entsprechend gegenüber Herrn Scharping tun. Ich will das jetzt nicht, aber die Zahlen sind schlichtweg unwahr gewesen.
Typisch für die SPD ist in diesem Zusammenhang auch ihre Uneinigkeit. Wenn ich Sie nicht so gut kennen würde, Herr Vosen — auch wenn Sie in demFall nicht betroffen sind —, würde ich sagen: Typisch ist auch Doppelzüngigkeit; denn auf der einen Seite wirft der Abgeordnete Mosdorf der Bundesregierung vor, die Weltraumfahrt fresse im Etat des BMFT die Technologieförderung auf.
— Ich glaube, ich habe das richtig aufgeschrieben, Herr Mosdorf. Aber wir können uns darüber gern noch unterhalten.Auf der anderen Seite fordert aber Bremens SPDBürgermeister Wedemeier lauthals gerade den Ausbau des deutschen Engagements im Weltraum.
In seinem Auftrag bitten mich seine Beamten um eine höhere Förderung im Weltraumetat.Vielleicht, meine Damen und Herren von der SPD, sollten Sie sich erst einmal im eigenen Haus einig werden.
— Moment, meine Damen und Herren. Wenn Sie das genau wissen wollen, so gibt es da einen ganz klaren Auftrag. Es gibt eine Protokollnotiz, die auch in der Öffentlichkeit bekannt ist. Deshalb kann ich Ihnen das ganz beruhigt sagen. Im Kabinett ist einstimmig angenommen worden, daß ich beauftragt bin, im Rahmen der Verhandlungen mit unseren ESA-Partnern tatsächlich noch Reduzierungen im Raumfahrthaushalt vorzunehmen.
Das ist so beschlossen. Bloß werden Sie auch zur Kenntnis nehmen müssen, daß wir an Verpflichtungen mit unseren ESA-Partnern gebunden sind.
— Ja sicher, ich bin für jede Unterstützung dankbar.
— Ich sehe das nicht so. Herr Waigel hat hier zugestimmt.
— Herr Waigel hat hier zugestimmt. Hier gibt es keine Probleme.
Die Bündelung der Kräfte zwischen der Wissenschaft und der Wirtschaft, meine Damen und Herren, zur Umsetzung von Forschungsergebnissen in Deutschland, wird weiter ausgebaut werden. Wichtig sind dabei eine kontinuierliche Analyse der Technologieentwicklung und vor allem die Definition von strategischen Zielen.Als wesentliche Instrumente dazu haben uns in der Vergangenheit zum einen der Bericht zu den Technologien des 21. Jahrhunderts und zum anderen der Deutsche Delphi-Bericht zur Entwicklung von Wissenschaft und Technik für die Zukunft gedient, den
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Bundesminister Dr.-Ing. Paul Krügerich in der letzten Woche vorstellen konnte und der sehr interessante Ergebnisse gebracht hat.
Diesen Bericht darf ich allen wirklich zur intensiven Auswertung empfehlen.
— Das sind, glaube ich, ungefähr 800 Seiten, die wirklich einer intensiven wissenschaftlichen Auswertung bedürfen. Wir sind nach Japan das erste Land in der Welt, das eine solche Delphi-Studie angefertigt hat, und ich meine, daß hier wirklich interessante Ergebnisse zu verzeichnen sind.
Am 22. September wird sich der Strategiekreis des BMFT konstituieren. Der strategische Dialog zwischen Politik, Wissenschaft und Wirtschaft wird auch auf Fachebene und Projektebene weiter intensiviert werden. Wir haben ja schon einige Strategiekreise aufgenommen. Ich nehme mit Freude zur Kenntnis, daß die SPD — allerdings ohne jegliche Konkretisierung — ähnliches fordert. Ich glaube, daß Sie zur Kenntnis nehmen müssen, daß Sie der Entwicklung zumindest an diesem Punkt hinterherlaufen.
Die Grundlagenforschung ist eine der ausgewiesenen Stärken Deutschlands. Grundlagenforschung wird in Deutschland im internationalen Vergleich in ungewöhnlich hohem Maße gefördert. 20 % der Forschungsmittel in Deutschland gehen in diesen Bereich im Vergleich zu 13 % in Japan und 12 % in den USA. Das macht im Haushalt des BMFT einen Anteil von 40 % aus. Viele Klagen, die wir in diesen Tagen hören, sind vor diesem Hintergrund völlig unverständlich.Wir wollen die Grundlagenforschung auf einem hohen Niveau weiterführen. Grundlagenwissen sollte jedoch schneller als bisher in anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung umgesetzt werden. Hier liegt ein wesentlicher Ansatzpunkt der Forschungs-und Technologiepolitik in Deutschland.
Ich glaube, es ist wichtig, daß jeder Grundlagenforscher mögliche Anwendungsziele seines Tuns im Auge behält, zumindest aber im kontinuierlichen Kontakt zu den Entwicklern, die seine Ergebnisse umsetzen müssen, und auch zur angewandten Forschung bleibt. Hier, meine ich, ist auch die Industrie in ganz besonderem Maße gefragt. Es gibt viele Symptome, die darauf hindeuten, daß sich die Industrie nach dem Motto „Not invented here" sehr restriktiv verhält, Ergebnisse der Grundlagenforschung aufzunehmen.
Herr Minister, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Gemäß Art. 43 Abs. 2 GG haben Sie als Mitglied der Bundesregierung jederzeit das Rederecht und auch praktisch unbeschränkt. Ich muß Sie aber darauf aufmerksam machen, daß, wenn Sie weitere Redezeit in Anspruch nehmen, das auf Kosten der nachfolgenden Redner Ihrer Fraktion geht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme zum Ende.
Forschung und Technologie sind eine unverzichtbare Investition in die Zukunft unseres Landes. Das gilt in besonderem Maße für den Aufbau einer modernen Wirtschaftsstruktur in den neuen Ländern.
Wir haben in Deutschland ein hohes Niveau der staatlichen Finanzierung der Forschung. Es ist notwendig, dieses Niveau zu halten und weiterhin auszubauen.
Trotz größter Sparsamkeit im Haushalt besteht, wie ich meine, die Notwendigkeit, für das Haushaltsjahr 1994 mehr Geld für die Forschung bereitzustellen. Ich sage ganz deutlich: Das ist nur durch Umschichtungen möglich. Ich unterstreiche das „nur"
Meine sehr verehrten Damen und Herren, insbesondere von der SPD und ganz besonders Herr Vosen, ich freue mich auf Ihre Umschichtungs- und Dekkungsvorschläge, die Sie bringen. Denn Sie sind wie ich — das weiß ich aus vielen Beiträgen — der Meinung, daß wir in diesem Bereich mehr Geld bereitstellen müssen. Ich bin auf Ihre Deckungsvorschläge gespannt und wünsche uns gemeinsam für die Aufstockung des Forschungshaushalts im Rahmen der kommenden parlamentarischen Beratung viel Erfolg.
Vielen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Josef Vosen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Minister! Sehr geehrter Herr Ex-Minister! Auch er ist da; ich begrüße auch ihn herzlich.Daß von uns Deckungsvorschläge erwartet werden, zeigt natürlich schon auf, wie hilflos diese Regierung ist. Eigentlich wäre es ja die Aufgabe der Regierung, vernünftige Vorschläge zur Finanzierung des Forschungshaushalts zu machen. Aber natürlich kommen wir Ihnen mit unserer Erfahrung gern zu Hilfe. Das werden wir auch tun. Es ist ja auch möglich, das eine oder andere noch umzuschichten. Aber das wird nicht ausreichen — das sage ich schon jetzt —, um die wirklichen Lücken, die der Forschungshaushalt hat, auffüllen zu können. So viel Deckung gibt es in diesem Restbestand an Haushalt, der überhaupt noch für Forschung da ist, gar nicht.Ich will das gleich ein bißchen belegen. Hier sind ja auch ein paar Profis dabei, die das schon etwas länger kennen und die wissen, wie schwierig es ist, mit ganz wenig Geld viel umzuschichten. Das ist schon eine Kunst. Aus nichts kann man ja nicht viel machen. Das ist das Problem des Forschungshaushalts.
Ich glaube aber auch — das ist meine Hoffnung —, daß dies der letzte Haushalt ist, den der Bundeskanz-
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Josef Vosenler Kohl und seine Regierung vorlegt. Beim nächsten Mal dürfte das sowieso zu Ende sein.
Ich befürchte und glaube, daß dann die Not wirklich dazu zwingt, einen neuen Kanzler und natürlich auch einen neuen Minister zu wählen. Deswegen glaube ich, Herr Dr. Krüger, daß es Ihre erste und letzte Haushaltsrede gewesen ist, die Sie heute hier haben halten können. Da bin ich ziemlich sicher.Nun wollen wir einmal zu den Zahlen kommen. Selbst Heinz Riesenhuber hat es nicht geschafft — er war ein hervorragender Redner und konnte viele überzeugen —,
im Forschungshaushalt seit 1986 die gleichen Steigerungsraten wie im übrigen Etat zu erreichen. Hätten wir es geschafft, jedes Jahr prozentual mitzusteigen, dann hätten wir heute nicht 9,4 Milliarden DM als Etatansatz, sondern 12,5 Milliarden DM. Bescheidene 3 Milliarden DM haben wir in den letzten Jahren nicht erreichen können. Was wir wohl erreicht haben, ist, daß wir jetzt natürlich viel größere Aufgaben mit dem viel zu wenigen Geld lösen müssen. Das ist unbestritten, da können Sie sagen, was Sie wollen. Sie wissen, es ist die Wahrheit. Die Zeitreihen sind für den Forschungsetat leider ungünstig gelaufen. Der Forschungsetat war einer der Spartöpfe dieser Bundesregierung. So ist es in der Realität.
Wie ist es denn in diesem Jahr? Ich lasse die Zeitreihe ab 1986 einmal weg und nehme nur den Sprung von 1993 auf 1994. Der Forschungshaushalt ist eingefroren, steigt also nicht. Wenn man eine Inflationsrate von 4 bis 5 % zugrunde legt, wird er real um diesen Betrag abrutschen. Andererseits ist der gesamte Bundeshaushalt um 4,4 % gestiegen. Wir brauchten also allein zum Ausgleich der inflationsbedingten Steigerungen über 400 Millionen DM, damit der Haushalt 1994 real wenigstens so hoch wäre, wie er bisher war, nämlich auch schon zu knapp. Aber er wird jetzt noch knapper. Das ist die Situation, wie wir sie erleben. Deswegen werden wir nicht nur Umschichtungsvorschläge machen, sondern auch einen Antrag auf Erhöhung um die Inflationsrate oder um die Steigerungsrate des Gesamthaushalts stellen. Ich denke, das ist gerechtfertigt. Ich werde die Einzelheiten später noch vortragen.Von Herrn Dr. Krüger wurde vom Weltmaßstab gesprochen und was das mit dem Bruttoinlandsprodukt denn so auf sich habe. Da muß man einmal feststellen, daß wir erheblich zurückgefallen sind. Die Japaner geben z. B. über 3 % des Bruttoinlandprodukts für Forschungszwecke aus. Wir in der Bundesrepublik sind abgefallen und geben hierfür ungefähr 2,5 % aus.
Herr Abgeordneter Vosen, Professor Laermann wollte Sie in diesem Zusammenhang befragen. Sind Sie bereit, das zu beantworten?
Bitte. — Aber das wird mir sicher nicht auf meine Zeit angerechnet werden?
Nein. Josef Vosen : Das ist ganz wichtig.
Wenn Sie kurz darauf antworten, rechne ich Ihnen das nicht an. — Bitte schön, Herr Professor.
Herr Kollege Vosen, stimmen Sie mir zu, daß man mit Prozentzahlen natürlich sehr Unterschiedliches darstellen kann, und stimmen Sie mir zu, daß in den Zahlen, die Sie für Japan nennen, die Gesamtaufwendungen der japanischen Regierung enthalten sind? Übertragen Sie das auf den Etat der Bundesregierung, dann weist dieser Haushalt nicht 9,4 Milliarden, sondern mehr als 15 Milliarden DM für Forschung und Entwicklung aus. Sie dürfen die Ressortforschung dabei natürlich nicht vernachlässigen und nicht unterschlagen.
Sehr geehrter Herr Kollege Laermann, Sie sind mir ein sehr angenehmer Kollege, und Sie sind ein geschickter Kollege. Ich muß Ihnen sagen, mit dieser Rechnerei mit Prozenten — da gebe ich Ihnen recht — kann man sehr viel Unsinn anstellen. Genau das haben Sie jetzt gemacht. Das Problem ist: Das schafft Verwirrung. Aber das ändert nichts an den Fakten. Es sind im Grunde genommen Ihre eigenen Zahlen, die ich hier vortrage. Die Quelle ist der Bundesbericht Forschung 1993 der Bundesregierung. Ich trage also das vor, was Sie selber schreiben, und zwar in der Drucksache 12/5550, Seiten 42 und 600. Wenn also etwas verwirrend ist, Herr Kollege, dann ist es der Bericht der Bundesregierung, den ich hier zitiert habe. Ich zitiere Ihre eigenen Zahlen; stellen Sie die bitte nicht in Frage. So sieht die Sache aus. Sind Sie zufrieden, Herr Kollege?
Offensichtlich nicht; es gibt noch eine Nachfrage.
Von mir aus; auch die wollen wir erfolgreich abwehren.
Bitte sehr.
Herr Kollege Vosen, ich frage Sie: Stimmen Sie mir zu, daß wir als diejenigen, die sich mit der Forschungspolitik beschäftigt haben, es bisher jedenfalls versäumt haben, uns neben den Aufwendungen des Forschungsministeriums auch mit der Ressortforschung insgesamt zu beschäftigen?
Wir hätten — lassen Sie mich es einmal vereinfacht sagen — vielleicht noch mehr Lobbyismus betreiben und Druck machen müssen, mit dem Ziel, insgesamt bessere Zahlen zu erzielen. Das wollen wir heute wieder tun. Versuchen wir es einmal gemeinsam.Ich will noch eine Zahl nennen, die ebenfalls stimmt, nämlich die, daß der Anteil des Forschungs-
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Josef Vosenetats am Gesamtetat mittlerweile unter 2 % liegt. Es sind 1,9 %. Dies stimmt uns sehr, sehr nachdenklich. Erstmals ist nicht mehr eine Zwei vor dem Komma, sondern eine Eins. Ich befürchte, daß das so weitergeht. Wenn das eine Zukunftsinvestition sein soll, dann weiß ich nicht, was man überhaupt als Zukunftsinvestition bezeichnen soll.Ich will noch etwas dazu sagen, wie sich Forschung in Ihrer Regierung darstellt. Man sieht es schon daran, daß das Thema Forschungspolitik der letzte Tagesordnungspunkt der heutigen Diskussion ist.
— Damit ist es ja nicht getan. Sie müssen den Termin festsetzen; wir hätten es auch mittags machen können. Ich bin Herrn Scharping jedenfalls sehr dankbar, daß er in seiner Rede heute morgen das Thema Forschung angesprochen hat.
Dadurch, daß die SPD dieses Thema zu einem Hauptthema Ihres Hauptredners gemacht hat, zeigt sich, daß wir das Thema sehr wichtig nehmen. Das ist ein Symbol.
Wie sieht es bei Ihnen aus? Bei Ihnen ist Forschung das fünfte Rad am Wagen. Das Ministerium ist zu einer Wechselstube geworden. In diesem Jahr haben wir schon den dritten Minister erlebt. Da wechseln ständig die Minister.
Das Problem ist: In dieser Wechselstube sinkt der Kurs der Forschung rapide. Das finde ich traurig. Damit nicht genug: Wir haben neuerdings einen vierten, einen heimlichen Forschungsminister, nämlich den Finanzminister Waigel, der in Sachen Luft-und Raumfahrt an seinen Fachministerkollegen die Dienstanweisung erteilt, 122 Millionen DM mehr für die Raumfahrt einzustellen, um bayerische Interessen etwas besser berücksichtigen zu können.
Das mag man ja als Bayer schön finden. Aber immerhin ist der Forschungshaushalt kein Subventionshaushalt, sondern ein Haushalt, mit dem man Zukunftsinvestitionen tätigen soll.
So war das in der Vergangenheit eigentlich immer. Sogar Herr Riesenhuber — da sehe ich ihn — hat immer schon Probleme gehabt, das alleine machen zu dürfen. Es war zum einen Herr Bangemann, der ihm ins Handwerk pfuschte. Dann war es auch schon einmal ein Haushaltsberichterstatter; auch das kam vor. Dann war es der Bundeskanzler, der auf eine Reise in Paris seinem Freund Mitterrand wieder einmal versprach, daß wir irgend etwas bauen. Es war immer auch der Finanzminister. Dann war es wieder Herr Genscher, der in einer Rede im Ausland die deutsch-französische Freundschaft mit Hermes unterstreichen wollte. Es war immer der arme Forschungsminister, der nachher das Ganze bezahlen sollte, ohne daß er dafür mehr Geld bekam. Das war das Problem. Hätte er nämlich all das gemacht, was man ihm aufgetragen hat — man wollte es auch —, hätte man ihm auch mehr Geld geben müssen. Als Waigel noch nicht Finanzminister war, hat er Forschungsminister Riesenhuber Briefe geschrieben, er möge doch mehr für diese Sachen tun; man brauche mehr solcher Mittel. Das hat er dann an den Bundeskanzler Kohl geschrieben. Als er aber selber Finanzminister war, hat er dieses Geld nicht mehr eingestellt. Das sind Realitäten, das läßt sich schriftlich belegen. Das ist der Unterschied zwischen Forderungen und Wirklichkeit. So ist das mit der ganzen Regierung. Die Dinge, die Sie sich hier einreden, klingen, als wenn Sie vor Angst im Wald pfeifen, um sich die Angst zu nehmen. Ich glaube, unter dem Strich werden die Bürger das auch merken.
— Das hat mit 11. 11. nichts zu tun, das ist nur ein bißchen anders vorgetragen. Ich lese hier nicht sauber ab, wie wenn Ihnen das jemand aufgeschrieben hat, sondern wir tragen das so vor, wie wir das in diesem Parlament seit vielen Jahren erleben.Wir alle zusammen, aber auch der jeweilige Minister, haben es noch nicht einmal geschafft, an irgendwelchen Sonderprogrammen für die neuen deutschen Länder teilzunehmen. Auch das ist uns nicht gelungen. Wir mußten also aus dem ganz normalen Forschungsetat die Finanzierung der neuen Länder aufbringen. Daß das natürlich unheimlich wichtig ist, ist unbestritten. Das wollen wir auch mitmachen, und da muß man auch Opfer bringen. Aber besser wäre es gewesen, wir hätten in den Sonderprogrammen wie dem Fonds Deutsche Einheit auch einen Anteil für die Forschung gehabt. Das wäre dringend nötig gewesen, leider ist das nicht passiert.
Ich denke, daß wir eine finanzpolitische Decke haben, mit der wir es nicht erreichen werden, jemals warme Füße zu bekommen. Dafür ist die Decke zu kurz. Auch die Brust wird kalt bleiben. Man wird also im Grunde die finanzpolitische Nacktheit dieser Regierung damit knapp bedecken können. So sieht das aus.
Immerhin wird wenigstens schamhaft die Sache nach draußen so halb in Ordnung gehalten.Wir wollen, daß der Haushalt um 400 Millionen DM aufgestockt wird, denn die Forschung braucht Verläßlichkeit, Stetigkeit und keine Wechselbäder.
Alle Ministerpräsidenten und der Bundeskanzler haben der Max-Planck-Gesellschaft einmal versprochen, daß sie über fünf Jahre je 5 % Steigerungsrate erfahren sollte. Das wird nicht mehr eingehalten. Das
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14854 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Josef Vosenist keine Verläßlichkeit, das ist Unzuverlässigkeit und nicht Verläßlichkeit.Der Kernforschungsanstalt Jülich werden in diesem Haushalt 9,8 % weggenommen. — Das geht noch, gleich kommen noch andere Zahlen. — Hier werden 45 Millionen DM gekürzt, fast 10 %. Das wird in dieser Anlage zu Folgen führen, die ein Forschungsvorstand nicht mehr sozial verträglich bewältigen kann, egal, von welcher Partei er ist.Noch schlimmer wird es in Karlsruhe. In Karlsruhe sollen in einem Jahr 19,1 % gestrichen werden. Das sind 90 Millionen DM. Ich weiß gar nicht, wer sich das ausgedacht hat.
Haben Sie schon einmal was von Tarifverträgen gehört oder von Kündigungsschutz? Ich sehe den Forschungsminister schon vor dem Arbeitsgericht stehen, wie er verdonnert wird, seine komischen Zahlen in Ordnung zu bringen.
Es glaubt doch niemand, was hier aufgeschrieben ist. Wer Ihnen das aufgeschrieben hat, Herr Dr. Krüger, hat keinerlei Ahnung vom Tarifrecht. Das ist ein Laie, und der stellt Sie damit öffentlich bloß. Das müssen Sie in Ordnung bringen. Das ist so nicht darzustellen. Selbst wenn einer wirklich sparen will — wir haben ja im Prinzip gar nichts dagegen, daß auch hier und da gespart werden muß —, dann geht es doch nicht so. Das ist mehr oder weniger schon Raubrittertum. Das hat nichts mehr mit solider Forschungsfinanzpolitik zu tun.
Ich denke, daß es gut ist, in der Weltraumfahrt international zusammenzuarbeiten. Das war auch die Meinung von Heinz Riesenhuber; das war auch die Meinung von Wissmann; das ist auch die Meinung von Dr. Krüger. Das muß man ihnen bescheinigen. Daß wir jetzt zu einer Zusammenarbeit zwischen Amerika, Rußland und Westeuropa kommen, ist eine vernünftige Sache. Wir werden Sie nach besten Kräften unterstützen, wo immer wir international Gespräche führen. Ich denke, daß ich Ihnen bescheinigen kann, daß Sie hierbei auf dem richtigen Weg sind. Das muß ich hier ausdrücklich sagen. Man kann ja nicht nur kritisieren. Das führt uns nicht weiter.Apropos Weltraumfahrt: Die DARA, die Deutsche Raumfahrtagentur, hat keinen Erfolg gehabt. Post, Verteidigung und Landwirtschaft und etliche andere, die mitmachen sollten, machen nicht mit. Das heißt, es gibt keine Koordination in Ihrer Regierung. Aber das wußten wir schon immer. Ich hätte jedoch nicht gedacht, daß sich das so im Etat niederschlägt. Man muß sich überlegen, ob das nicht in irgendeiner Weise abgeschlankt werden müßte. Ich rede nicht von „beseitigen", weil ich auch hier um die tarifrechtlichen Folgen weiß. Aber da kann man etwas machen.Auch nukleare Altlasten kann man aus dem Forschungsetat auslagern. Überlegen Sie einmal: Was hat es mit Forschung zu tun, wenn wir demnächst die alten Reaktoren abreißen? Diese Altlasten gehören in einen Subventionshaushalt; ich weiß nicht, in welchen, aber auf keinen Fall in den Forschungshaushalt. Das ist eindeutig.
Es ist nichts dagegen zu sagen, die Abrißmaßnahmen zu begleiten. Ich gebe natürlich auch zu — ich will ja keine Sachen verbreiten, die nicht ganz stimmen —: Es gibt vertragliche Verpflichtungen, das zu tun. Das sage ich hier ausdrücklich, Herr Austermann. Ich weiß, auch Sie sind ein alter Profi.
Das Problem ist: Natürlich haben wir diese Dinge damals mit verantwortet. Ich gebe ja zu, daß wir das früher alles mit auf den Weg gebracht haben. Das werden Sie mir ohnehin gleich vorwerfen. Ich sage: Sie haben recht; wir haben es mit auf den Weg gebracht.
Aber wo steht geschrieben, daß wir alle zusammen nicht schlauer werden könnten? Wir können mit dem knappen Forschungsetat nicht sämtliche Atomruinen in den Forschungseinrichtungen abreißen. Das kriegen wir nicht geregelt. Hier sollten wir an die Energiewirtschaft appellieren — darüber waren wir uns schon weitgehend einig —, in die Energieforschung und in die Beseitigung der Altlasten einzusteigen. Man kann das machen, auch wenn sie dazu rechtlich nicht verpflichtet ist. Man muß miteinander reden. Es ist uns auch schon früher an anderer Stelle gelungen, die Wirtschaft ins Boot mit hineinzubekommen.
Wir werden auch ein paar andere Sachen machen müssen.Die Frage ist: Was können wir in Zukunft tun? Ich denke, daß wir uns besonders um die neuen Länder kümmern müssen. Darüber sind wir uns auch einig. Aber das darf nicht zum rigorosen Plattmachen ganzer Bereiche in den alten Ländern führen. Man muß moderat miteinander umgehen. Sonst steht nachher Forschung West gegen Forschung Ost. Das können wir uns nicht erlauben. Wir müssen miteinander arbeiten, nicht gegeneinander.Die Forschungseinrichtungen in den neuen Ländern müssen vernünftig ausgerüstet werden; wir müssen das fördern. Wir sollten Präferenzen schaffen; auch das ist in Ordnung. Das ist ein Ansatz; den tragen wir mit.Wir müssen auch etwas für kleine und mittlere Unternehmen besonders in den neuen Ländern tun, aber auch in den alten, hier etwa mit steuerlichen Maßnahmen. In den neuen Ländern müssen wir direkt helfen. Die haben Schwierigkeiten.Wir müssen uns in der Informationstechnik etwas mehr einfallen lassen. Das sind Wachstumsmärkte, auf denen unsere Wirtschaft Geld verdient. Ich denke etwa an die Telekommunikation.
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14855
Josef VosenAuch in der biotechnologischen Forschung sind wir gemeinsam auf einem guten Weg.
Das ist allerdings nicht direkt unser Ressort. — Es läuft. Wir sind auf einem guten Weg; glauben Sie es mir. Ich flunkere selten.
Wir kommen dort ganz gut voran. Ich denke, daß wir da etwas machen müssen.Bei der nicht-nuklearen Energieforschung und der Umweltforschung muß auch mehr getan werden als vorgesehen. Ich denke, die Gesundheitsforschung muß ebenfalls mehr Mittel als nach dem soeben verkündeten Programm vorgesehen erhalten.Das sind meiner Meinung nach Dinge, die wir gemeinsam anpacken müssen, für die wir Aufstokkungsanträge stellen werden. Ich sage Ihnen ganz offen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das Interesse an der Forschung ist mittlerweile gewachsen. Das Interesse, die Forschung zu bezahlen, ist allerdings noch nicht gewachsen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, setzen Sie sich in Ihren Fraktionen dafür ein, machen Sie Druck auf den Finanzminister und auf den Bundeskanzler! Der Bundeskanzler ist zwar, wie wir wissen, schwer zu bewegen, aber vielleicht bewegt er sich doch.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Dietrich Austermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Während der Debatte soeben und der Rede des Kollegen Vosen ist viel davon gesprochen worden, es sei zuwenig Geld vorhanden. Ich glaube, man muß ganz deutlich sagen, daß wenig manchmal viel sein kann. Umgekehrt gilt dasselbe: Der Kollege Vosen hat bewiesen, daß man mit viel Redezeit wenig Gutes von sich geben kann.
Andererseits gehe ich davon aus, daß wir mit dem Geld, das für den Forschungsetat vorhanden ist, viel Gutes tun können. Ich glaube, dazu gehört, daß wir zunächst sagen, wie die Zahlen tatsächlich aussehen.
Niemand wird in euphorischen Jubel ausbrechen, wenn er die Zahlen des Forschungsetats sieht. Trotzdem muß man feststellen, daß 9,5 Milliarden DM, ergänzt um andere Mittel in den Einzelplänen, insbesondere im Einzelplan 60, eine einigermaßen beachtliche Summe ausmachen.
Wir sind davon überzeugt, daß der Forschungsminister sein Verhandlungsgeschick nutzt, in Sachen EG einiges, was dort an Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Raumfahrt besteht, herunterzuhandeln, so daß er Mittel für andere Bereiche der Forschung zur
Verfügung hat. Die Position, die die Amerikaner im Bereich der Raumstation einnehmen, die Verhandlungen mit den Russen und viele andere Positionsänderungen in den europäischen Ländern führen dazu, daß man annehmen kann, daß das, was im Bereich der Raumfahrt für die nächsten Jahre geplant war, so nicht aufrechterhalten werden kann. Das gilt auch für die Deutschen.
Ich bin davon überzeugt — das sage ich ausdrücklich auch zum Finanzminister und zu seinem Engagement in dieser Frage —, daß wir auf wesentliche Initiativen bei der Raumfahrt als einer Zukunftstechnologie überhaupt nicht verzichten können.
Von dort sind eine ganze Reihe von Impulsen ausgegangen, die wir nutzen müssen.
Nun hat Herr Kollege Vosen auch darauf hingewiesen — das ist ein ganz wichtiger Punkt —, daß im Forschungsressort die Minister in diesem Jahr zweimal gewechselt haben. Das zeigt natürlich nur, daß wir eine Menge gute Leute haben, die sich in der Forschungspolitik auskennen.
— Es scheint bei Ihnen anders zu sein.
Herr Austermann, Sie haben gesagt, Sie hätten so viele gute Leute. Ich hatte die ganze Zeit gehofft, daß man auch an Sie denkt. Wieso ist das nicht geschehen?
Warten Sie doch einmal ab!
Außerdem ist es ganz wichtig, glaube ich, daß man sich davon überzeugt, daß gute Arbeit geleistet wird. Jeder, der die ersten Tage des Ministers betrachtet hat, konnte feststellen, daß ein paar eigene Akzente zu verzeichnen sind, angefangen beim Strategiekreis, den er eingerichtet hat. Es wäre sehr interessant gewesen, Sie hätten auch etwas zu der sachlichen Arbeit des neuen Ministers gesagt.
Ich meine, man kann ganz deutlich feststellen, daß wir für Forschung und Entwicklung mehr Geld ausgeben, als allgemein angenommen wird. Im letzten Jahr wurden von Staat und Wirtschaft zusammen 80 Milliarden DM für Forschung und Technologie ausgegeben, darunter allein 17,8 Milliarden DM vom Bund und 13 Milliarden DM von den Ländern. Die Wirtschaft ist mit einem wachsenden Anteil beteiligt, was wohl auch richtig ist. Wir können doch nicht die Projekte fördern, und die Industrie nimmt sie nachher nicht ab.Wir konnten in den letzten Jahren auch die Grundlagenforschung deutlich ausweiten, so daß Deutschland hier inzwischen den dritten Platz in der Welt einnimmt.
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14856 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Dietrich AustermannDie Neuordnung der Forschungslandschaft in „Fünfneuland" ist, glaube ich, ein ganzes Stück vorangekommen. Das ist deutlich zu erkennen, wenn man sich anschaut, was dort in diesem Bereich an zusätzlichen Stellen gesichert worden ist, was im Bereich der Hochschulerneuerung, der Wissenschaftlerintegration und der Sicherung industrienaher Forschung — ein besonderes Anliegen des Ministers —getan worden ist. Auch hier ist auf wertvolle Arbeit hinzuweisen.
— Des Ministers Krüger. Wir gehen immer davon aus, daß wir uns heute über den Forschungsetat dieses Ministers unterhalten. Ich glaube, daß Ihre Hoffnungen völlig unberechtigt sind.Der Auf- und Ausbau der Forschungslandschaft in den neuen Ländern bleibt ein wichtiges Thema. Dabei gibt es gelegentlich Irritationen. Dies muß ich auch zu den Kollegen aus den neuen Bundesländern sagen. Der Kollege Schnell, mit dem man gut zusammenarbeiten kann — was bei den meisten Kollegen im Haushaltsausschuß, auch denen der SPD, die Regel ist —, hat mit mir zusammen vor kurzem in Adlershof feststellen müssen, daß es manchmal die eine oder andere Initiative gibt, Institute in die neuen Bundesländer zu verlagern. Dann war dem Land Mecklenburg-Vorpommern angeboten worden, die Chemiezentren mit 300 Mitarbeitern zu übernehmen. Das Land hat gesagt, man sei bereit, maximal zehn Leute zu nehmen. Wenn das so ist, dann muß man künftig auch bei einem anderen Mal die Backen vielleicht nicht ganz so dick machen.Es gibt ein anderes Beispiel im Bereich der MaxPlanck-Gesellschaft. Das war ganz genau das gleiche, wobei ich hier heute ausdrücklich sagen möchte: Die Kritik, die wir gegenüber der Max-Planck-Gesellschaft in der letzten Zeit geäußert haben, ist nicht mehr berechtigt. Was an Aufbauarbeit in den fünf neuen Ländern gemacht worden ist, kann sich sehen lassen. Wir sollten sie ermuntern, so weiterzumachen.
Es wäre auch falsch, wenn man die Behauptung weiter aufstellte — wie Herr Mosdorf das gemacht hat —, wir täten zuwenig für kleine und mittlere Unternehmen. 1982 gab es dafür 340 Millionen DM für Forschung und Entwicklung. In diesem Jahr sind es 580 Millionen DM. Also, es ist wesentlich mehr.Der wesentliche Schritt für die nächste Zeit dürfte sein, daß wir die Förderung der strategischen Technologien für das 21. Jahrhundert unterstützen. Wir teilen hier die Position von Minister Krüger: Informationstechnik und Biotechnologie, Materialforschung, Verkehrs- und Energieforschung und sicher auch in Teilen die Raumfahrt. Die deutsche Industrie steht an einem Scheideweg, wie die Anzahl der Patente, die angemeldet worden sind, zeigen. Hier müssen weitere Impulse gegeben werden.
Sie sind bereit, die Zwischenfrage zu beantworten? — Bitte schön, Herr Kollege Mosdorf.
Herr Kollege, ich habe nur die Frage, ob Sie mit mir der Meinung sind, daß es ein falsches Signal ist, daß der Bundeswirtschaftsminister — das ist das, worauf ich mich öffentlich bezogen habe — die industrielle Gemeinschaftsforschung von 200 Millionen auf 163 Millionen heruntergefahren hat. Das sind 24 %. Das ist vor allen Dingen für mittlere und kleinere Betriebe ein ganz wichtiger Bereich in der vorwettbewerblichen Kooperation. Ich kann mir nicht denken, daß Sie das für einen richtigen Schritt halten.
Ich habe Ihre Pressemeldung gelesen. Ich bin wahrscheinlich einer der wenigen, der dies getan hat. Ich habe dabei festgestellt, daß die Zahl falsch ist, die Sie zitiert haben. Der Bundeswirtschaftsminister stellt 290 Millionen bereit, d. h. einen ganz anderen Betrag, als Sie ihn genannt haben. Wenn man kritisiert, sollte man sich vorher die Zahlen angucken. Ich komme aber gleich noch zu Ihnen.
Er möchte noch eine zweite Frage stellen.
Gut.
Die Zahlen hat mir der Bundeswirtschaftsminister bestätigt. Nun kann es natürlich sein, daß Sie von einem anderen Bundeswirtschaftsminister reden, aber die Zahlen sind wirklich ganz nüchtern die: von 200 Millionen auf 163 Millionen. Ich wollte aber nicht wissen, ob Sie die Zahlen teilen, sondern ich wollte fragen, ob Sie der Meinung sind, daß das das richtige Signal ist.
Wenn es so wäre, wäre es nicht das richtige Signal. Aber Ihre Zahlen sind falsch. Der Kollege Vosen hat doch vorhin auf den Forschungsbericht hingewiesen. Sie können sich auch den Haushaltsplan nehmen, was wohl in diesem Fall richtiger ist, weil dort die Entwürfe für das kommende Jahr stehen. Dort stehen beim Wirtschaftsminister 290 Millionen DM. Wenn ich die dann zu den 580 Millionen DM im Forschungsetat addiere, dann ergibt das zusammen eine wesentlich höhere Summe als die kümmerlichen, mickrigen 340 Millionen DM, die Sie uns 1982 noch unter dem Titel „Modell Deutschland" verkaufen wollten und für richtig gehalten haben.
Dies ist eine nachhaltige Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen. Sie hat in den letzten Jahren wesentlich zugenommen. Dies ist eine gute Arbeit auch der Vorgänger von Minister Krüger.Lassen Sie mich noch einmal darauf hinweisen, wie wichtig es ist, daß wir in den Technologien des 21. Jahrhunderts mehr tun. Dort wird es sicher im Rahmen der Haushaltsberatungen auch gewisse Korrekturen geben müssen. Dafür sind die Beratungen ja
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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14857
Dietrich Austermannda, daß man Akzente anders setzt. Wir werden sie in die Richtung vornehmen, die der Minister gefordert hat.Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen. Das ist das Thema Flexibilität bei der Forschungsförderung. Wir wissen alle, daß die Unternehmen heute stärker denn je unter dem Kostendruck leiden; er gefährdet industrielles Engagement bei vielen Projekten. Dann kann man bei Dingen, die längere Zeit dauern, die fünf bis zehn Jahre erfordern, nicht gleich die volle Beteiligung, also die übliche Beteiligung von 50 %, von der Industrie fordern. Dann muß die wichtige Aufgabe darin bestehen, daß Verbundforschung wieder aufgenommen wird, daß gemeinsame Arbeitstische von Wirtschaft und Wissenschaft bereitgestellt werden. Das heißt aber auch, daß man beispielsweise für Mikroelektronik und Mikrosystemtechnik mehr Geld bereitstellt als bisher. Dies gilt ganz generell für die Technologien des 21. Jahrhunderts.Nun haben Sie, Herr Mosdorf, in Ihrer Presseerklärung, die ich eben bereits erwähnt habe, Kritik am Forschungshaushalt geübt: Wir würden die alten Dinosaurier-Technologien — so haben Sie das genannt und wollten damit wohl ein bißchen up to date sein —, die Kernenergie und Raumfahrt, unterstützen. Dazu muß man zunächst sagen, daß die Altlasten, die Herr Vosen hier beklagt hat, alle aus der Regierungszeit der SPD stammen. Gut, er bestätigt das.
Das sind nicht die einzigen schädlichen Altlasten, die Sie hinterlassen haben.Aber Herr Mosdorf meint nun, wir würden den Abstieg aus dem „Modell Deutschland" betreiben. Jeder weiß: Das „Modell Deutschland" ist 1982 kläglich gescheitert. Da müssen viele Dinosaurier am Werke gewesen sein.Es muß einen auch verwundern, daß ein Teil der SPD das Thema Raumfahrt als veraltete Technologie bezeichnet. Gleichzeitig protestiert die Bremer Bürgerschaftsfraktion gegen angebliche „Zerschlagungspläne der Bundesregierung". Wenn ich von 1,1 Milliarden DM für die Raumfahrt ausgehe und jemand sagt, das sei kein Geld, dann lassen wir die 1,1 Milliarden DM doch völlig weg. Das wären Zerschlagungspläne; aber davon ist überhaupt nicht die Rede.Wenn Vergleiche aus der Urzeit unbedingt gewünscht sind, müßte man für die SPD wohl eher das Beispiel der Vorzeitschnecke wählen: Sie kommen immer zu spät. Die politischen Ammoniten haben in der Vergangenheit in der Forschung eher dadurch aufmerksam gemacht, daß sie sich für Zweifel entschieden haben. Ich glaube, dies läßt sich mit vielen, vielen Beispielen belegen: Technologiefolgenabschätzung bis zum Geht-nicht-Mehr, Humanisierung des Arbeitslebens, Stopp bei Gentechnik. Also heute nicht so tun, als hätten Sie etwas für Biotechnologie übrig; schauen Sie sich doch einmal Ihre Bundesländer an, wie dort gestoppt wird!
— Ammoniten sind die versteinerten Schnecken, wissen Sie, spiralförmig; man kann sie sich in jedem Museum ansehen. Politische Forschungsammoniten, für die, die es gerne noch einmal hören wollen.Technologiefolgenabschätzung um jeden Preis, Humanisierung des Arbeitslebens, Stopp der Gentechnik und neuer Energietechnologien, Stopp beim Transrapid neue Technologie wird von der SPD nicht gewollt —, Verweigerung bei der Beschleunigung von Genehmigungsverfahren, bei privatwirtschaftlicher Organisation. Das sind die falschen Wege. Wir werden beobachten, welche Wege sie künftig gehen.Gestern hat die „Frankfurter Rundschau", die nicht im Verdacht steht, der CDU zu nahe zu stehen, geschrieben: „Wozu auch immer sich SPD-Politiker äußern — Widersprüche, Ungereimtes, Unklarheiten. " Wie will eine Partei, die überall und auch in der Forschungspolitik den eigenen Standort sucht, anderen Hinweise für den Standort geben?Meine Damen und Herren, bei den Haushaltsberatungen, die jetzt anstehen, werden klare Entscheidungen für 1994 festgelegt. Wir betreiben mit dem Forschungshaushalt Standortsicherung durch Zukunftstechnologien. Die Entscheidung für den Transrapid muß fallen. Die Informationstechnik muß verstärkt werden. Erneuerbare Energien aus vielen Bereichen brauchen weitere starke Unterstützung. Materialforschung, Biotechnologie, auch die nationale Raumfahrt brauchen stärkere Akzente.BDI-Präsident Necker hat die Sorge geäußert, daß der Forschungsstandort Deutschland an Stärke verliert, wenn der Industriestandort Deutschland an Glanz einbüßt. Wir arbeiten in der Koalition gemeinsam dafür, daß über die Weiterentwicklung des Forschungsstandortes Deutschland der Industriestandort zusätzliche Chancen gewinnt.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, nunmehr spricht der Abgeordnete Werner Zywietz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich meine, daß auch ohne Wiedervereinigung die Haushaltsgestaltung im Bereich von Forschung und Entwicklung schwieriger geworden wäre. Aber mit der Wiedervereinigung ist das eine besonders herausfordernde und nicht ganz einfache Aufgabe geworden. Denn es geht darum, daß mit Hilfe von Forschungsakzenten, mit Hilfe von Entwicklungen möglichst wettbewerbsfähige Leistungen und wettbewerbsfähige Produkte angestrebt und realisiert werden können. Diese Wettbewerbsfähigkeit muß — das ist die besondere Herausforderung für die neuen Bundesländer — auf europäischem, auf internationalem Niveau erreicht werden. Nur dann sind die dahinterstehenden Arbeitsplätze sicher.Diese Aufgabe ist angesichts der Situation, in der wir uns befinden, gewiß nicht leicht zu lösen. Da habe ich dann mit großem Interesse versucht — das ist nicht ganz leicht —, zur Opposition herüberzuhören, zum Kollegen Josef Vosen, was er da an Hilfe und Vision,
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14858 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Werner Zywietzvon der immer so gern geredet wird, anzubieten hat. Aber ich muß sagen, es ist bei mir eine Mischung aus Klagemauer und Wunschkonzert angekommen, zugegebenermaßen ganz gut vorgebracht in burlesker Darlegungsweise. Das will ich ihm zubilligen.Nur, sehr viel weiter geführt in der Sache hat das nicht, auch nicht die Aneinanderreihung der Zahlen, wieweit nun dieser Haushalt steigt und ob das angemessen ist oder nicht. Ich muß sagen: Mich hat das ein bißchen an einen Vergleich hinsichtlich der Reeperbahn erinnert. Bei den Zahlenreihen, auf die der Kollege Vosen abgestellt hat
— gelegentlich muß man Besucher ausführen —,
ist es so wie mit der Laterne auf der Reeperbahn: Sie dient in der Regel mehr dem Halt denn der Erleuchtung. So ist das auch mit diesen Zahlenreihen: Man nennt sie, aber fragt sich hinterher, was sie denn an geistiger Erhellung gegeben haben. Eigentlich nicht allzuviel.
Wir wissen doch, daß die gesamtökonomische Situation angestrengt ist. Das haben wir hier und heute doch in vielen Reden gerade von der Opposition gehört. Das wissen wir auch selbst. Das ist Faktum. Das heißt, mit Blick auf Staatsfinanzen muß man vorsichtig sein. Der Haushalt ist insofern in den Zuwächsen in Ordnung. Mit Blick auf die Standortdiskussion, die wir ebenfalls führen, muß man Akzente setzen, muß man aktiv sein. Denn nur, wenn man sich etwas Neues einfallen läßt und kostengünstig produziert, wird man Arbeitsplätze und damit ökonomische und soziale Perspektiven für unseren Staat haben.Man könnte meinen, diese beiden Enden sind nicht zusammenzubringen. Auf den ersten Blick scheint es ja auch so zu sein. Aber ich meine, sie sind zusammenzubringen. Ich würde eine kleine Anlehnung aus dem Sportbereich nehmen: Manchmal wird man schneller, wenn man schlanker wird.
Wenn ich zu Jupp Vosen hinüberschaue, dann habe ich immer das Gefühl: Das könnte ein treffendes Bild sein. Schneller, tüchtiger und leistungsfähiger werden durch Schlankheit. Die Masse allein bringt es nicht,
noch nicht einmal beim Kugelstoßen oder beim Gewichtheben. Schlanker ist also ein bißchen fitter.
— Das habe ich ja schon gemacht.
Herr Abgeordneter Zywietz, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen?
Ja, Herr Kollege Vosen.
Herr Kollege Zywietz, zu Ihrem Beispiel aus dem Sport: Fürchten nicht auch Sie, daß Sie mit Ihrem Haushalt so schlank werden könnten, daß Sie durch jeden Kanaldeckel fallen könnten?
Nein, nein, durchs Schlüsselloch werden wir nicht geschoben. Da passen wir schon auf. So weit wollen wir das nicht treiben. Alles ist gut, bloß der Extremismus ist schlecht. Das gilt auch für diesen Vergleich. Man soll es nicht übertreiben.
Dafür sind wir alle Realisten. Das haben wir im Blick, auch der Minister und das Haus, der diesen Haushalt vorgelegt hat.Eines ist doch klar: Die Herausforderung durch die Wettbewerbsfähigkeit auf Grund der Globalisierung der Märkte ist größer geworden. Die Kernbereiche, die zu unserem Sozialprodukt beitragen, sind folgende: Elektronik und Datentechnik, Telekommunikation, Chemie, Biotechnik, der gesamte Verkehrsbereich vom Kfz über die Schiffe bis in die Luft und der Maschinenbau. Das sind die Bereiche, von denen ich mir habe sagen lassen, daß sie zu 50 % zu unserem Sozialprodukt beitragen. Wir müssen diese Bereiche halten und weiterentwickeln, aber auch neue Akzente setzen, und zwar die richtigen.Ich habe in der Not hier am Pult einmal gesagt: Man braucht ein Trüffelschwein für das Erkennen der zukünftigen Schneisen, in die man sich hineinbewegen kann. Ich bin ganz beruhigt. Ich verneige und entschuldige mich vor der Wissenschafts-Community für einen solchen bildhaften Vergleich. Aber wir haben in der Zwischenzeit etwas Besseres gefunden — dazu danke ich dem Haus —, nämlich eine Strategiegruppe.Ich bin sehr gespannt, wie all die Erlauchten, die den Zukunftshorizont abtasten sollen, herausfinden, was für das deutsche Volk im allgemeinen und im Bereich der Forschung wichtig ist. Ich wünsche dieser Gruppe wirklich aus vollem Herzen alles Gute; denn dieser Versuch muß angestellt werden. Keiner kann das mit einem Schnipp definieren. Zu kopieren oder nach Japan zu MITI zu schauen ist auch nicht das Glück dieser Erde. Man muß sich auf den eigenen Weg machen und sehen, wo man Stärken hat.
Da kann ich nur sagen: A la bonne heure! Das ist eine wichtige Schneise, in der wir uns bewegen.Aber neben dieser Linie werden wir mehr nach meinem Einschätzungsvermögen bei den Ressourcen, die gegeben sind, mehr als in der Vergangenheit auf Effizienz im weitesten Sinne des Wortes zu achten haben. Es gibt keine andere Strategie. Kollege Laermann hat in einer Zwischenfrage darauf hingewiesen. Die gute Koordination von Ressourcen, die eingesetzt werden, die Strukturen und Prozeduren zu hinterfragen und auszuleuchten und auch ein wissenschaftliches Controlling stärker auf den Weg zu bringen, das muß sein. Es gibt da keinen kontrollfreien Raum, nicht einmal im Bereich der Grundlagenforschung, obwohl sie sicherlich nicht ganz einfach zu kontrollieren ist.
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Werner ZywietzAber jeder steht in der Pflicht, seinen Einsatz zu rechtfertigen.Man sagt zuweilen, Reisen können durchaus bilden. Ich will nur zwei Beispiele anführen. Ich habe den Eindruck — wenn ich mich auf die Schnelle orientiere —, jeder, der hier sitzt, war schon einmal in Japan und in den Vereinigten Staaten.In Amerika ist der Rechtfertigungszwang in der Grundlagenforschung, aber auch in den anderen Bereichen sehr viel größer als in unserer Forschungslandschaft, zu sagen, wofür man das Geld ausgibt und wann ein Produkt eine Leistung erbringt. Der Rechtfertigungszwang ist größer. Ich kann das mit Blick auf die Uhr — ich habe noch drei Minuten — nicht weiter ausführen. Aber das ist meine Summierung aus Beobachtungen und Gesprächen. Da würde ich mitdiskutieren, wenn das in Zweifel gestellt wird. Man muß das Geld, auch weil der Privatanteil größer ist, sehr viel stärker rechtfertigen.Zwar machen auch die Japaner Grundlagenforschung und finden es immer toll, daß wir da soviel ausgeben, aber auch sie marschieren den direkteren Weg von der Grundlagenforschung zu den Produkten.Man sollte sich nur einmal auf Messen umschauen, wo wir stark sind, wie andere aufgeholt haben und warum sie aufgeholt haben. Messen sind da ein guter Maßstab, ob man die Photokina oder die Funkausstellung in Berlin nimmt. Man wird da sehen, wo im wahrsten Sinne die Musik in der Technologie gemacht wird, wo andere Felder besetzen oder wo sie uns sehr nahe kommen, wo wir stark sind. Ich orientiere mich an diesen Messen und denke: Es ist schon das Richtige, daraus Schlußfolgerungen zu ziehen.Es geht ja nicht allein um Forschung im Ressort. Da möchte ich aus meiner Sicht etwas ernster werden. Es war einmal gedacht, daß dieses Ministerium die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten als Querschnittsministerium zusammenzieht. Aber ich meine zu beobachten — ich habe ein bißchen in die anderen Ressorts hineingeschaut —, daß die Wachstumsraten im Agrarbereich, im Telekommunikationsbereich, im Gesundheitsbereich, im Umweltbereich, auseinanderdriften. Das entwickelt sich ganz hübsch, ganz munter.Es kann unter dem Gesichtspunkt der Effizienz eigentlich nicht der rechte Sinn sein, wenn man dabei möglicherweise den Überblick und die Koordination verliert. Je mehr im Spiel sind, desto eher kann das passieren. Das heißt, man muß darauf achten, daß man die Zügel in der Hand hat und daß in der EG das Querschnittsressort, die Einzelressorts, die Länder und die Industrie nicht so weit gefächert werden, daß die Schwerpunkte verlorengehen. Ich bitte, in der Zukunft darauf zu achten, daß wir die Sache voll im Griff haben.Man kommt irgendwann so ins Rollen und möchte das eine oder andere noch ausführen. Aber der Dialog geht ja weiter; die Haushaltsberatungen fangen erst an. Der Etat, den wir in den Konturen für gut befinden, ist dem Parlament übergeben; dies ist heute eine erste Aussprache. Wir werden jetzt zwei, zweieinhalbMonate Zeit haben, das mit den Fachkollegen im Haushaltsausschuß zu beraten und zu strukturieren.Ich wünsche dem Minister, der noch nicht so lange im Amt ist, daß er dabei den guten norddeutschen klaren Blick für die Notwendigkeiten und die Realitäten und das gute Nervenkostüm hat, um in der Vielfalt der Themen und der Notwendigkeiten zu bestehen. Ich denke, im Haushaltsausschuß werden wir sein Nervenkostüm nicht über Gebühr strapazieren.Vielen Dank.
Ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau Ingeborg Philipp das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einen neuen Denkakzent ansprechen. Bei der Diskussion des Forschungshaushaltes möchte ich eine Problematik in den Blick nehmen, die mich schon lange bewegt: die Ausgaben für die wehrtechnische Forschung. Sie betrugen vor zehn Jahren knapp 1,7 Milliarden DM und sind heute mit 3,2 Milliarden DM im Haushaltsentwurf angesetzt.Für die Technologie- und Innovationsförderung als Vergleich dazu wurden vor zehn Jahren 5,3 Milliarden DM und werden heute 4,9 Milliarden DM vorgesehen. Während auf diesem Gebiet eine Mittelreduzierung wirksam wurde, wurden die Ausgaben für die wehrtechnische Forschung fast verdoppelt. Der Mitteleinsatz steht im Verhältnis 3 : 2. Das ist ein Mißverhältnis.Die 80er Jahre sind durch die Regierung Kohl zu Jahren der wehrtechnischen Entwicklung gemacht worden. Dieser Trend entspricht nicht den menschheitsgeschichtlich anstehenden Aufgaben. Wehrtechnische Forschung führt zu Waffenproduktionen, und diese wiederum führen zu Waffenexporten. Damit verursachen wir millionenfaches Leid und Tod in den Entwicklungsländern und auch bei uns in den Industrieländern.Gewalttätigkeit im Denken und Tun ist eine weltweite Erscheinung der 80er Jahre geworden und Ursache für unterschwellig ständig wirkende Ängste und ganz konkret auch für Verzweiflung und qualvolles Sterben.Es geht nicht an, daß wir diese Tendenz in den 90er Jahren fortsetzen. Wir dürfen eine solche Bilanz des Schreckens nicht dulden. Wir müssen die Gedanken von Gorbatschow in unser politisches Nachdenken hineinnehmen und in unser politisches Handeln übertragen. Wir brauchen ein neues Denken des Gewaltverzichts und seine konkrete Umsetzung.Es geht nicht an, daß wir einen Fortschrittsfetischismus hin zu einer immer raffinierter werdenden Gewaltanwendung zulassen. Wir müssen vielmehr ein gezieltes Nachdenken in Richtung auf gewaltarme, noch besser gewaltfreie Gewaltabwehr beginnen und die konkreten Gedanken dazu in der Öffentlichkeit bekanntmachen. Gewaltabwehr ohne Blutvergießen ist eine Forderung der Zeit.
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14860 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Ingeborg PhilippHätten wir diesen technischen Entwicklungsvorsprung realisiert, wäre der Krieg in Jugoslawien niemals so eskaliert und auch Somalia könnte dann eine Friedensaktion im wohlverstandenen Sinn der UNO sein. In beiden Ländern wird dagegen die Hilflosigkeit der gegenwärtigen wehrtechnischen Entwicklung deutlich sichtbar. Militärisches High-Tech schützt nicht vor militärischer Hilflosigkeit. Die Denk- und Gestaltungsansätze müssen ganz anders gewählt werden.Es ist an der Zeit, umzudenken. Unser Land ist für die Auslösung zweier Weltkriege verantwortlich. Daraus wurde nicht die Lehre gezogen, mit der Waffenentwicklung Schluß zu machen und Wege in ein Friedenszeitalter der Menschheit zu ebnen. Wir verharren im alten Freund-Feind-Denken. Der Kalte Krieg wurde verbal als beendet erklärt. Wir müssen noch viel dafür tun, daß diese Position in Denken und Tun umgesetzt wird.
Clinton und Gore haben die Umstellung der Rüstungsproduktion auf eine zivile Produktion als klar benannte Aufgabe in ihr Wahlprogramm aufgenommen. Diese Umstellung kann nicht von heute auf morgen erfolgen. Es muß viel mühsame politische Kleinarbeit geleistet werden, bis diese große Aufgabe umgesetzt werden kann. Es wurde eine große politische Denkaufgabe vorgegeben. Die Umstellung großer Produktionsbetriebe erfordert viel schöpferisches Nachdenken und hohe ingenieurtechnische Leistungen. Sie kann nicht von heute auf morgen erfolgen, sondern muß in einem komplexen Umdenkprozeß entwickelt werden. Aber es ist eine viele Menschen befriedigende Aufgabe.Heute läuft es anders. Wir haben in unserem Land auch geistige Potenzen; sie werden nur in eine falsche und verhängnisvolle Richtung gelenkt. Frieden ist angesagt für das dritte Jahrtausend unserer Zeitrechnung. Dafür sollten wir große schöpferische Anstrengungen und ein aufopferungsvolles Alltagstun aufbringen — in der praktischen Forschung und auch in der großen Politik. Wir brauchen neue soziale und wissenschaftlich-technische Visionen, damit wir die herangereiften Zukunftsaufgaben erfüllen können. Diesen Anforderungen genügt der gegenwärtige Denkansatz im Haushalt noch nicht.Danke schön.
Meine Damen und Herren; nun hat als letzter der Abgeordnete Erich Maaß das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Den letzten beißen die Hunde, aber lassen Sie mich einige grundsätzliche Ausführungen machen.Der Herr Bundeskanzler sagte heute morgen: Wir befinden uns in einer strukturellen Rezession. In der Tat, das stimmt. Wir müssen uns Gedanken machen, ob wir auch mit unserem Forschungshaushalt an die Grenze einer strukturellen Unbeweglichkeit gekommen sind. Aus diesem Grunde müssen wir versuchen, nicht zu jammern, nicht zu klagen. Forschungspolitik eignet sich sowieso nicht für parteipolitische Grabenkämpfe. Vielmehr wir müssen die Chance sehen, wie wir aus dieser Situation herauskommen können.Das bedarf einer gemeinsamen Anstrengung, ob wir wollen oder nicht; nicht nur auf Bundesebene, sondern auch auf Länderebene. Wenn wir das wirklich beherzt wollen, müssen wir fragen, wie wir Strukturen verändern können. Ganz ohne zusätzliches Geld geht das nicht. Das wissen wir alle.
Deshalb die Forderung: Wir wollen und wir brauchen hier, um neue Strukturen zu schaffen, zusätzliche Mittel.
Ob das jemandem gefällt oder nicht, das kann ich nicht ändern. Aber darauf müssen wir hinmarschieren.Ich bin eigentlich sehr dankbar, daß der Herr Bundeskanzler seit einigen Monaten und mittlerweile auch viele andere führende Politiker deutlich machen, daß wir uns im Rahmen der Diskussion über den Standort Bundesrepublik Deutschland mit der Vorstufe, nämlich mit der Forschungs- und Technologiepolitik, offensiv auseinandersetzen wollen,
daß er auch versprochen hat, Akzente zu setzen, und erklärt hat, daß zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt werden sollen.
— Darauf verlassen wir uns auch. Wir werden es zu gegebener Zeit einfordern. Darin sehe ich unsere Aufgabe.Lassen Sie mich einige grundsätzliche Ausführungen machen. Wir müssen uns doch die Frage stellen: Haben wir in dieser Republik die Möglichkeit, ein forschungs- und technikfreundliches Klima herzustellen? Ich habe hier große Sorge. Die Zahl der „Reichsbedenkenträger" nimmt immer mehr zu.
Das müssen wir sehen, und wir müssen auch überlegen, ob wir nicht vor lauter Sorgen um Risiken vergessen, daß wir Chancen mit Forschung und Technologie wahrnehmen können.
Meine Damen und Herren, mit unseren Sorgen bei der Gentechnik vertreiben wir die Forscher aus dem Land, und die Industrie marschiert hinterher. So ist es doch leider.
Und wenn wir mit einer Spitzentechnologie wie dem Transrapid im Zieleinlauf sind, müssen wir leider feststellen, daß wir aufpassen müssen, uns nicht selbst die Beine zu stellen.Meine Damen und Herren, die anderen amüsieren sich, das Ausland amüsiert sich, daß wir so wenig Waghalsigkeit und Mut aufbringen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14861
Sind Sie bereit, auf eine Zwischenfrage zu antworten, Kollege Maaß? — Bitte schön.
Herr Kollege Maaß, ich wollte Sie zwei Dinge fragen.
Erstens. Teilen Sie meine Auffassung, daß die technikfeindliche Bewußtseinslage, die ich Mitte der 80er Jahre auch festgestellt habe, im Moment eher wieder dabei ist, sich in positiver Tendenz zu verändern? Das spüre ich jedenfalls. Ich glaube, daß sich da etwas ändern wird. Auch wenn Beck nicht mehr von der Risikogesellschaft, sondern von der Chancengesellschaft schreibt, ist das ein wichtiger Indikator dafür, daß sich da etwas ändert. Ich halte diesen Trend für richtig und will ihn gern unterstützen.
Zweitens. Sind Sie mit mir nicht auch der Meinung, Herr Maaß, daß es positiv ist, daß wir dabei sind, bis zum November dieses Jahres gemeinsam eine Novellierung des Gentechnikgesetzes hinzubekommen, die zu einer Entbürokratisierung führt und damit den Standort Deutschland in der Frage der Chemieforschung möglicherweise entscheidend voranbringt? Die Chemieindustrie begrüßt das sehr. Ich habe bei Ihnen eben herausgehört, daß Sie das auch positiv bewerten.
In der Tat, ich bewerte es positiv. Wenn wir es gemeinsam hinbekommen, müssen wir es auch möglichst schnell realisieren.
In der Tat, wir sehen doch die Alarmzeichen. Nur, über eines mache ich mir nach wie vor Sorge: So Technikfreundlich, wie es teilweise in anderen Ländern zugeht, ist es bei uns noch nicht. Hier haben wir eine gemeinsame Anstrengung zu unternehmen.
Auf diesem Weg müssen wir gemeinsam marschieren. Ich greife hier niemanden an, aber hier wäre natürlich auch von der Opposition ein wichtiger Beitrag zu erbringen. Den erbitte ich an dieser Stelle.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einen weiteren Begriff bringen: vernetztes Denken und vernetztes Handeln. Ich mache mir ganz große Sorgen. Ich will jetzt nicht in den Streit über die Grundlagenforschung eintreten, ob es nun 40 oder 38 % sind. Ich will auch nicht in das Primat der Freiheit der Wissenschaft eingreifen. Aber über eines müssen wir uns im klaren sein: Wenn wir so viel Geld aus dem Haushalt des Forschungsministers für die Grundlagenforschung ausgeben, darf das nicht dazu führen, daß die Grundlagenforschung in diesem Staat isoliert dasteht. Dann müssen sich auch die Forscher und Wissenschaftler gefallen lassen, daß wir eine gesamtstaatliche Verantwortung sehen und darauf aufmerksam machen, daß hier der Technologietransfer funktioniert. Es kann nicht angehen, daß wir forschen und entwickeln, während andere das Geschäft machen. Das ist vernetztes Denken und Handeln.
Das gilt auch für das enge Ressortdenken in den j eweiligen Bundesministerien.
Hier muß übergreifend gearbeitet werden. Exzellente Forschungsergebnisse können nur mit Hilfe des Wirtschaftsministers oder des Bildungsministers etc. umgesetzt werden. Auf diesem Weg müssen wir marschieren.Ein weiteres Beispiel: Mich beschleicht Sorge, wenn ich mir die Fraunhofer-Gesellschaft oder teilweise die Kapriolen angucke, die sich die einzelnen Landesministerien erlauben. Manchmal habe ich das Gefühl, daß wir Prestigeprojekte entwickeln, die nicht dazu führen, uns weiter nach vorn zu bringen, sondern nur den Wettkampf untereinander verstärken. Das ist die große Sorge, die uns umtreibt. Hier müssen wir auch einmal überlegen.Das könnte jetzt beliebig weit fortgesetzt werden. Lassen Sie mich bitte mit einem Appell und mit einer dringenden Bitte schließen.
Ich möchte hier den Konsens finden, den Bundeskanzler aufzufordern, sich gerade in einer rezessiven Phase antizyklisch zu verhalten.
Denn wir wissen ganz genau, wie wichtig es ist, in einer rezessiven Phase ein Zeichen zu setzen, die Saat auszusäen, die wir in den nächsten Monaten und Jahren ernten können, statt die Saat vielleicht fiskalisch oder kameralistisch jetzt zu verfrühstücken. Das ist meine Sorge.Deshalb sollten wir die Zeit jetzt nutzen und den Bundeskanzler gemeinsam ermutigen, zu einer Forschungs- und Technologieoffensive in diesem Land zu kommen, einmal die Interessen von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zu bündeln. Nicht übereinander zu reden, sondern miteinander zu reden und uns miteinander in die Verantwortung einzubeziehen, das bringt uns weiter voran.Es muß dann auch überlegt werden, wie wir marktstrategisch nachdenken und arbeiten können. Wir haben Stärken. Wir sind in vielen Positionen exzellent und gut. Diese Stärken gilt es weiterzuentwickeln. Das hilft uns auch, den Standort Bundesrepublik Deutschland in den nächsten Jahren zu sichern.Wenn Sie sich dieser Offensive anschließen und mit dazu auffordern können, habe ich keine Sorge, daß wir eine gute Entwicklung nehmen.
— Ich glaube, wir haben in der Koalition einen guten Konsens. Es wäre aber wichtig, daß auch die Opposition mitmachen würde.
Metadaten/Kopzeile:
14862 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993
Erich Maaß
Wir reden über längere Maschinenlaufzeiten; wir müssen auch längere Laborzeiten haben. Dazu können Sie einen Beitrag leisten, und dazu möchte ich Sie auffordern. Das bringt uns ein Stück weiter für den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland.Herzlichen Dank.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir heute nicht vor.
Ich kann also die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 9. September, 9 Uhr einberufen.
Bevor ich die Sitzung schließe, möchte ich mich bei all denjenigen, die bis zum Schluß ausgehalten haben, herzlich bedanken und Ihnen einen geruhsamen und erholsamen Restabend wünschen.
Die Sitzung ist geschlossen.