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ID1217209500

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    Plenarprotokoll 12/172 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 172. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 Inhalt: Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1994 (Haushaltsgesetz 1994) (Drucksache 12/5500) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1993 bis 1997 (Drucksache 12/5501) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (Drucksache 12/5502) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungsund Wachstumsprogramms (Drucksache 12/5510) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt (Fortsetzung): Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts (Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz) (Drucksache 12/5630) Rudolf Scharping, Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz 14735 D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . 14744 C Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA . 14754 C Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. 14754 D Ingrid Matthäus-Maier SPD 14758A Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 14760 C Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14764 C Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler . . . 14767 A Hans-Ulrich Klose SPD 14775 A Dr. Renate Hellwig CDU/CSU . . . 14778 A Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . 14778B Friedrich Bohl CDU/CSU 14784 B Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU 14786B Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . 14786D Michael Glos CDU/CSU 14790 C Walter Kolbow SPD 14791 D Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste . . 14796 C Hans-Gerd Strube CDU/CSU 14798A Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14799B Volker Rühe, Bundesminister BMVg . . 14800 B Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD 14802B, 14805C Helmut Schäfer (Mainz) F.D.P. . . . . 14805 B Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14805 D Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 14807 A Dr. Ingomar Hauchler SPD 14808 B Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14809 B Dr. Klaus Rose CDU/CSU 14810B II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 Ortwin Lowack fraktionslos 14812B Ernst Hinsken CDU/CSU 14812D Dr. Ulrich Briefs fraktionslos . 14814B, 14848 C Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS 14815C Michael Habermann SPD 14817 B Norbert Eimer (Fürth) F.D.P. . . . . . 14820 C Ortrun Schätzle CDU/CSU 14822 A Michael Habermann SPD 14822 D Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 14824 A Maria Michalk CDU/CSU 14825 A Dr. Angela Merkel, Bundesministerin BMFJ 14826D Dr. Edith Niehuis SPD 14829A Uta Würfel F D P. 14831 A Dr. Edith Niehuis SPD 14832 A Petra Blass PDS/Linke Liste 14833 A Susanne Jaffke CDU/CSU 14834 A Ralf Walter (Cochem) SPD 14835 B Dr. Rainer Ortleb, Bundesminister BMBW 14837 C Doris Odendahl SPD 14838 C Dr. Klaus-Dieter Uelhoff CDU/CSU . . . 14841D Dr. Dietmar Keller PDS/Linke Liste . . . 14843 C Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14844 B Carl-Ludwig Thiele F D P 14845 B Alois Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU 14846 D Dr.-Ing. Paul Krüger, Bundesminister BMFT 14849B Josef Vosen SPD 14851D, 14855 C Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann F D P 14852 C Dietrich Austermann CDU/CSU 14855 B Siegmar Mosdorf SPD . . . 14856C, 14861A Werner Zywietz F D P 14857 D Josef Vosen SPD 14858 C Ingeborg Philipp PDS/Linke Liste . . . 14859 C Erich Maaß (Wilhelmshaven) CDU/CSU 14860B Nächste Sitzung 14862 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 14863* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14735 172. Sitzung Bonn, den 8. September 1993 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Andres, Gerd SPD 8. 9. 93 Bartsch, Holger SPD 8. 9. 93 Blunck (Uetersen), SPD 8. 9. 93** Lieselott Dr. Blunk (Lübeck), F.D.P. 8. 9. 93 Michaela Böhm (Melsungen), CDU/CSU 8. 9. 93 ** Wilfried Börnsen (Bönstrup), CDU/CSU 8. 9. 93 Wolfgang Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 8. 9. 93 * Clemens, Joachim CDU/CSU 8. 9. 93 Ebert, Eike SPD 8. 9. 93 Dr. Fischer, Ursula PDS/LL 8. 9. 93 Fischer (Hamburg), Dirk CDU/CSU 8. 9. 93 Dr. Gautier, Fritz SPD 8. 9. 93 Heyenn, Günther SPD 8. 9. 93 Hollerith, Josef CDU/CSU 8. 9. 93 Jaunich, Horst SPD 8. 9. 93 Dr. Kübler, Klaus SPD 8. 9. 93 Lambinus, Uwe SPD 8. 9. 93 Lenzer, Christian CDU/CSU 8. 9. 93 ** Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Lieberoth, Immo CDU/CSU 8. 9. 93 Meckel, Markus SPD 8. 9. 93 Michels, Meinolf CDU/CSU 8. 9. 93* Dr. Müller, Günther CDU/CSU 8. 9. 93 * Müller (Düsseldorf), SPD 8. 9. 93 Michael Opel, Manfred SPD 8. 9. 93*** Pfuhl, Albert SPD 8. 9. 93 Reddemann, Gerhard CDU/CSU 8. 9. 93 Reuschenbach, Peter W. SPD 8. 9. 93 Dr. Riedl (München), CDU/CSU 8. 9. 93 Erich Dr. Scheer, Hermann SPD 8. 9. 93 * Schell, Manfred CDU/CSU 8. 9. 93 Schmidt (Nürnberg), SPD 8. 9. 93 Renate Stachowa, Angela PDS/LL 8. 9. 93 Dr. von Teichman, F.D.P. 8. 9. 93 Cornelia Weis (Stendal), Reinhard SPD 8. 9. 93 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union *** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Ulrich Briefs


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (PDS/LL)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS/LL)

    Ich mache es so, wie es mir meine Zeit erlaubt. Herr Rose, Sie können sicher sein: Es wird ein Kontrapunkt zu dem sein, was soeben gesagt worden ist.
    Die Politik dieses Bundeskanzlers und dieser Bundesregierung ist, oberflächlich betrachtet, eine Erfolgsstory. Das muß man zugestehen. Sieht man jedoch genauer hin, sind fast alle Erfolge dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers so geartet, daß sie dem eigentlich Notwendigen zuwiderlaufen.
    Ein Beispiel: Die längste Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs in der Nachkriegszeit, einer der Erfolge dieser Bundesregierung, ist zugleich eine Zeit ökologischen Stillstands und zum Teil sogar des ökologischen Rückschritts gewesen. Die Bundesrepublik ist, so sagt die Bundesregierung selbst, ein unsicherer Standort für Investitionen geworden. Aber wer hat seit mehr als elf Jahren die politische Verantwortung für den angeblich unsicheren Standort Deutschland? Wenn es Modernisierungsdefizite gibt — die weiter anhaltenden Exporterfolge dieses Landes und die nach wie vor harte D-Mark sprechen indes eine etwas andere Sprache —, sind sie nicht auch vor allem den Fehlern dieser Bundesregierung zuzuschreiben?
    Vor allem aber: Die Fehler und die Versäumnisse dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers haben uns etwas eingebracht, was womöglich nie wieder zu beseitigen ist, nämlich eine nach Millionen zählende Dauerarbeitslosigkeit. 7 Millionen fehlende Arbeitsplätze waren Anfang der 70er Jahre undenkbar. Da hat es Monate mit weniger als 100 000 registrierten Arbeitslosen gegeben und zugleich fünfmal soviel offenen Stellen. Sie waren auch Ende der 70er Jahre undenkbar, als die Arbeitslosigkeit bei etwa 1 Million statistisch erfaßter Arbeitskräfte lag.
    Der Arbeitsmarkt ist dieser Bundesregierung — ich sage es einmal ganz vorsichtig — entglitten, und sie wird ihn nie wieder in den Griff bekommen. 7 Millionen fehlende Arbeitsplätze sind aber nicht nur eine Chiffre für wachsende soziale Not, Verarmung, Verelendung — von der Not der Wohnungssuchenden und Obdachlosen, Opfer vor allen Dingen der unsozialen Wohnungsbaupolitik dieser Bundesregierung, ganz zu schweigen —; 7 Millionen fehlende Arbeitsplätze sind auch Ausdruck eines rabiaten strukturellen Wandels in der Wirtschaft, in der mit immer mehr Kapital und immer weniger menschlichem Arbeitsaufwand immer modernere Produkte produziert werden. Sie sind Ausdruck eines gewaltigen und auch gewalttätigen Rationalisierungsprozesses, der schlicht und einfach immer weniger menschliche Arbeitszeit zur Erstellung der gleichen oder einer wachsenden Leistung notwendig macht.
    Was tun diese Bundesregierung und dieser Bundeskanzler in dieser Situation? Sie fordern, die Arbeitszeit zu verlängern, statt sie zu verkürzen. Sie drücken auf die Personalkosten und die Personalnebenkosten, mit dem Ergebnis — das muß man ganz nüchtern betrieblich sehen —, daß sie mit den eingesparten Mitteln den Rationalisierungsprozeß und den Prozeß der Kapitalintensivierung in den Betrieben weiter anheizen. Sie bauen Arbeitnehmerschutzrechte und Gewerkschaftsrechte ab — das meiste kommt ja erst noch —, statt sie angesichts der wachsenden Schutzbedürftigkeit von Arbeitskräften in der modernen Produktion auszuweiten.
    Wie man sieht: Die Politik dieses Bundeskanzlers und dieser Bundesregierung handelt konsequent dem Notwendigen und Vernünftigen zuwieder.
    Ähnlich auf dem Gebiet der Umweltpolitik: Zu einem Zeitpunkt, in dem sichtbar geworden ist, daß nur eine Ökologisierung der Produktion wirklich zukunftsträchtige, wirklich sichere Arbeitsplätze und Absatzmöglichkeiten bieten kann, werden der Umweltschutz und der Naturschutz nicht ausgebaut, sondern abgebaut. Im Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie entscheidet sich diese Bundesregierung für die Ökonomie, zu Lasten einer gesunden Umwelt und zu Lasten der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen überhaupt auf diesem Planeten.
    Der Bundesumweltminister, der eh in diesem Kabinett bestenfalls eine Alibifigur ist, wird vollends zum Statisten degradiert. Der Kanzler selbst, zweifellos eine außerordentliche politische Potenz und ganz und gar nicht die Figur, die insbesondere im Osten so oft etwas witzelnd angesprochen wird — das hat der Kollege Lowack soeben auch getan —, ist jedenfalls ökologisch ein blinder Fleck. Er hat überhaupt keinen

    Dr. Ulrich Briefs
    ökologischen Touch oder Charakter. Auf diesem Gebiet ist er überhaupt nicht existent.
    Das größte und auf lange Sicht wohl verhängnisvollste Versäumnis dieses Bundeskanzlers und dieser Bundesregierung ist jedoch die grob fahrlässige Hinnahme der Rückentwicklung großer Teile der Bevölkerung dieses Landes zu einem nationalistischen, antisemitischen und rassistischen Bewußtsein. Es wäre falsch, davon auszugehen, daß dieses rassistische, antisemitische, nationalistische Bewußtsein von Bonn, von dieser Bundesregierung, von diesem Bundeskanzler oder aus diesem Parlament heraus erzeugt oder auch nur im wesentlichen geweckt worden wäre. Das Problem der Rechtsentwicklung mit unabsehbaren Folgen für Deutschland, für seine Nachbarn, für Europa ist weniger in den politischen Parteien und Institutionen dieses Landes verankert. Es steckt in der Bevölkerung, in den Menschen dieses Landes.
    Wie die öffentlichen Beifallsbekundungen für Ausschreitungen gegen Hilflose und Wehrlose in Rostock, Hoyerswerda, Quedlinburg und Dolgenbrodt, diesem brandenburgischen Dorf mit dem unaussprechlichen Namen, und anderswo zeigen, ist es offensichtlich besonders ausgeprägt in der ostdeutschen Bevölkerung. Um Herrn Schäuble kurz zu zitieren: Auch da muß die Wahrheit gesehen und gesagt werden.
    Das hat mit deutschen Traditionen, mit deutschen Sozialstrukturen, mit sogenannten deutschen Werten, mit sogenannten deutschen Tugenden und Sekundärtugenden, mit deutscher Geschichte und Erziehung, mit deutschen autoritären Familienstrukturen, mit dem deutschen Selbstverständnis zu tun.
    Ich fürchte, es wäre auch ohne die Asyldebatte in irgendeiner Form zum Ausdruck gekommen. Es ist doch erschreckend, wenn Ignatz Bubis zu der Einschätzung kommen muß, daß in diesem Land ein Drittel der Bevölkerung antisemitisch ist. Ich sage es ganz offen: Angesichts der Angriffe in Rostock und anderswo, angesichts der getöteten Kinder und Frauen in Mölln und Solingen wäre so etwas wie Bevölkerungsverdrossenheit sicherlich ebenso verständlich wie die vielberufene Politikverdrossenheit.
    Das große verhängnisvolle Versäumnis dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers war es, daß sie nicht ganz früh und mit aller gebotenen Gewalt des staatlichen Gewaltmonopols dieser Entwicklung entgegengetreten sind, und jede derartige Regelung bereits 1989 und 1990 im Keim erstickt haben. Polizeilich und juristisch Verfolgen und gesellschaftlich Ächten, das wäre notwendig gewesen.
    Heute, so fürchte ich, ist es dazu zu spät. Wer auf eine zukünftige neokonservative Erziehung spekuliert — da bahnt sich ja so etwas an —, muß wissen, daß wir damit nicht ein oder zwei Generationen warten können. Das heißt: Mit der neokonservativen Erziehung können wir sehr wohl so lange warten. Aber mit den notwendigen Ergebnissen können wir nicht so lange warten. In den USA — das habe ich gerade einer Mitteilung entnommen — glauben inzwischen mehr als die Hälfte der Menschen, daß in Deutschland der Nationalsozialismus wiederkehren kann.
    Übrigens, wenn die Bundesregierung endlich einmal ein deutliches Signal setzen will, sollte sie mit einer drastischen diplomatischen Demarche in der Slowakei gegen die Rehabilitierung des Klerikalfaschisten Tiso und gegen den offiziell angeheizten Antisemitismus sowie gegen die zu Pogromen führende Hetze gegen Roma vorstellig werden.
    Diese und andere beängstigende Wahrnehmungen lassen ahnen, was — so fürchte ich — auch in diesem Land und in großen Teilen dieser Bevölkerung möglich sein wird, wenn sich der wahnsinnige Brand des Rechtsradikalismus weiter ausbreitet.
    Der Bundeskanzler und die Bundesregierung sollten vielleicht einmal mit den europäischen Partnerregierungen über wirksame Wege zur Bekämpfung der Rechtsentwicklung in der Bevölkerung beraten und dann schnell und wirksam handeln. Es darf kein Spiel mehr mit dem Feuer rassistischer und nationalistischer Aggression, Werte und Neigungen in der deutschen Bevölkerung geben. Hier liegt die größte und wichtigste Aufgabe dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers in der Zukunft.
    Herr Präsident, ich danke Ihnen.


Rede von Dieter-Julius Cronenberg
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich der Bundesministerin für Familie und Senioren. Ich erteile Frau Ministerin Hannelore Rönsch das Wort.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Hannelore Rönsch


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Familienpolitik, die Seniorenpolitik und die soziale Wohlfahrtspolitik sind die drei großen Aufgabenfelder des in dieser Legislaturperiode geschaffenen Ministeriums für Familie und Senioren. Sie sind sachlich und inhaltlich eng miteinander verbunden und bilden eine integrale Einheit. So gehören ganz selbstverständlich die alten Menschen mit zum Familienverbund, bei Pflegebedürftigkeit werden über 70 % von ihren Familienangehörigen versorgt. Ebenso sind die Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege aus der Versorgung alter und pflegebedürftiger Menschen außerhalb der Familie nicht mehr wegzudenken.
    Die Sozialhilfepolitik wiederum steht allein schon aufgrund der Urteile des Bundesverfassungsgerichts im engsten Bezug zur gerechten Ausgestaltung des Familienlastenausgleichs. Denn das Existenzminimum nach sozialhilferechtlichen Maßstäben ist von der Besteuerung freizustellen, dies gilt auch für den Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, der heute morgen darauf verzichten wollte. Wir sind nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu gehalten. Auch sie müssen das Mindestkindergeld von 70 DM erhalten.
    Auf dem Gebiet der Familienpolitik sind im laufenden Haushaltsjahr deutliche Verbesserungen in Kraft getreten. Beim Unterhaltsvorschußgesetz konnte die Bezugsdauer von drei auf sechs Jahre verdoppelt und die Altersgrenze von sechs auf zwölf Jahre angehoben werden. Beim Erziehungsgeld wurde die Bezugsdauer auf zwei Jahre ausgeweitet.
    Dem Zwang zum Sparen konnte sich allerdings auch der Etat des Familienministeriums nicht entzie-



    Bundesministerin Hannelore Rönsch
    hen. Ich will hier kein Mißverständnis aufkommen lassen. Keine Mark, die den Familien zugute kommt, ist zu viel. Wir werden uns sicher auch in der Zukunft noch weitere Gedanken machen müssen, wie wir den Familienlastenausgleich noch gerechter gestalten können. Mir sind deshalb die Entscheidungen, die wir treffen mußten, mit Sicherheit nicht leicht gefallen, aber ich denke, daß es uns im Ergebnis nicht nur gelungen ist, unabwendbare Einsparungen sozial verträglich zu gestalten, vielmehr wurde sogar die Familienförderung ein Stück gerechter.
    Hierzu möchte ich zwei Beispiele nennen: Das Erziehungsgeld für Besserverdienende soll nun vom ersten Tag an einkommensabhängig gestaltet werden: Die Einkommensgrenze für Alleinerziehende liegt bei 110 000 DM, für Eltern bei 140 000 DM. Ich glaube, daß dies eine familienpolitisch unbedenkliche Maßnahme ist. Zu erheblich mehr Gerechtigkeit angesichts der knappen Mittel trägt bei, daß wir das aktuelle Einkommen zur Berechnungsgrundlage machen. Bisher war es üblich, daß das Einkommen von vor zwei Jahren zu Rate gezogen wurde. Geringerverdienende erhalten auch weiterhin ungeschmälert Erziehungsgeld. Wir verbinden hier das finanzpolitisch Nötige mit der Gestaltung von mehr sozialer Gerechtigkeit, und das ist durchaus zu vertreten.
    Das zweite Beispiel: Das Kindergeld bleibt unangetastet, auch beim dritten Kind. Dennoch sind Einsparungen notwendig, aber auch möglich geworden. Denn künftig wird das eigene Einkommen eines Kindes verstärkt berücksichtigt. Die Ausbildungsvergütung wurde bereits im Jahr 1976 mit einem gewissen Limit angerechnet. Zukünftig werden Einkünfte aus dem eigenen Vermögen eines Kindes mitberücksichtigt. Auch hier, meine ich, ist es ein Stück mehr Gerechtigkeit.

    (Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker)

    Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesen Wochen, am 20. Oktober dieses Jahres, besteht das Familienministerium genau 40 Jahre. Vom ersten Bundesminister für Familienfragen — so hieß es damals —, Dr. Franz-Josef Wuermeling, war in den letzten Wochen wieder recht häufig die Rede. Der Wuermeling-Paß, die Fahrpreisermäßigung für kinderreiche Familien bei der Bundesbahn, ist seit 1955 ein Markenzeichen familienfreundlicher Tarifpolitik.
    Im Haushaltsentwurf 1994 war der Subventionsbetrag an die Bundesbahn erstmals nicht mehr enthalten. Ich darf Ihnen versichern, daß ich mich in den jetzt laufenden Verhandlungen ganz massiv dafür einsetzen werde, daß dieser Betrag auch weiterhin im Haushalt enthalten sein wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Allerdings meine ich, daß wir auch hier eine Einkommensgrenze einziehen können.
    Darüber hinaus, denke ich, sollte die Deutsche Bundesbahn aber auch aufgefordert werden, im Rahmen ihrer Tarifpolitik darüber nachzudenken, daß sie sich die Kunden von morgen, nämlich die Kinder, erhalten muß. Sie sollte Anreize schaffen, damit die Familien mit Kindern auch in der Zukunft zu ihren
    Stammkunden zählen. Ich erwarte von der Deutschen Bundesbahn, daß sie uns hier entgegenkommt.
    Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir stehen alle gemeinsam vor der Aufgabe, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutz des ungeborenen Lebens umzusetzen. Ich meine — und das ist meine feste Überzeugung —, daß dieses Thema in Wahlkämpfen nicht mißbraucht werden darf. Ich hoffe und wünsche mir, daß wir alle die Kraft aufbringen, mit der gebotenen Ernsthaftigkeit darüber zu diskutieren und auch in der gewünschten Eile gemeinsam einen Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen.
    Frauen in Konfliktsituationen haben zum augenblicklichen Zeitpunkt leider sehr viel Ungewißheit; es wurde auch über die Medien sowie durch verschiedene Kolleginnen und Kollegen dazu beigetragen. Frauen in schwierigen Lebenssituationen sollten endlich wissen, an wen sie sich wenden können. Wir müssen mit dazu beitragen, daß dies schnell geschieht.
    Vor dem Hintergrund des rasanten demographischen Umbaus unserer Gesellschaft gewinnt die Seniorenpolitik zunehmend an Bedeutung. Ich freue mich, daß dies mittlerweile von allen Seiten dieses Hauses so anerkannt wird. Wir stellen heute die Weichen für morgen und übermorgen; denn schon heute leben im wiedervereinigten Deutschland 16 Millionen Menschen, die über 60 Jahre alt sind. Das ist heute jeder fünfte Bundesbürger.
    Mit zunehmendem Alter erhöht sich natürlich auch das Risiko gesundheitlicher Einschränkungen. Hilfen und Pflegeleistungen im Alter gewinnen zunehmend an Bedeutung. Deshalb verfolgt die Bundesregierung mit großer Vehemenz das Ziel, die Pflegeversicherung so schnell wie möglich einzuführen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Mir geht es ganz besonders darum, daß wir den 1,1 Millionen pflegebedürftigen alten Menschen, die zu Hause von ihren Angehörigen versorgt werden, 1994 tatsächlich weiterhelfen können. Tragen Sie alle mit dazu bei, helfen Sie mit! Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr, damit diese Pflegeversicherung, sozial gut ausgestaltet, endlich umgesetzt werden kann!
    Die Diskussion um die Pflegeversicherung überlagert augenblicklich, daß die überwiegende Mehrzahl der älteren und alten Menschen jedoch sehr aktiv und kompetent ist. Ich freue mich, wenn viele ältere Menschen ihre reiche Berufs- und Lebenserfahrung, ihre im Leben erworbene Kompetenz auch weiterhin in die Gesellschaft einbringen wollen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Politik muß alles tun, um dieses Engagement, dieses große Potential zu nutzen.
    Gefragt ist eine moderne Altenpolitik. Mit dem Bundesaltenplan und dem darin enthaltenen Modellprogramm „Seniorenbüros" haben wir einen wichtigen ersten Beitrag geleistet. Ende 1993 werden insgesamt 32 Seniorenbüros ihre Arbeit aufnehmen. Ich erhoffe mir davon — auch von der offenen Konzeption, die wir angeboten haben, basierend auf dem ehrenamtlichen Engagement —, daß wir die vielfältigen Möglichkeiten zu Kontakten zwischen älteren Men-



    Bundesministerin Hannelore Rönsch
    schen dann geschaffen haben und daß diese Kompetenz, die ich eben angesprochen habe, dann an viele weitergegeben wird.
    Meine sehr geehrten Damen und Herren, besonders schwerwiegende Entscheidungen standen in diesen Monaten auch in der Sozialhilfepolitik an, die mit einem Leistungsvolumen von 42,5 Milliarden DM eine der großen Säulen unseres sozialen Sicherungssystems bildet. Erfreulicherweise ist es hier wie in der Familienpolitik gelungen, die notwendigen generellen Einschnitte in das Leistungssystem durch die konsequente Vermeidung bzw. durch die Überprüfung von Mißbräuchen auch sozialverträglich vorzunehmen.
    Wir müssen alles daransetzen, daß die knapper gewordenen Mittel denen zugute kommen, die sie tatsächlich benötigen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir müssen auch Mißbräuche vermeiden. Hier appelliere ich ganz deutlich an die örtlichen Sozialhilfeträger, daß sie die Arbeitsgelegenheiten schaffen, die nach § 19 BSHG jetzt im Gesetz festgeschrieben sind, nämlich daß Sozialhilfeempfänger auch zu gemeinnützigen Arbeiten herangezogen werden sollen.

    (Beifall der Abg. Anneliese Augustin [CDU/CSU])

    In den Jahren 1994 und 1995 soll sich die Anpassung der Regelsätze am Anstieg der Nettolöhne ausrichten. Die Anwendung dieses Maßstabs ist sicher nur einmal ausnahmsweise gerechtfertigt. Aber sie ist gerechtfertigt in einer Situation, in der auch alle Arbeitnehmer netto keinen oder nur einen geringen Einkommenszuwachs zu erwarten haben. Dieser Schritt beinhaltet — und das gehört natürlich zur konsequenten Handhabung —, daß ab 1996 wieder auf die übliche Anpassung der Regelsätze zurückgegriffen wird.
    Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich denke, daß wir im Interesse der Familien, der älteren Menschen innerhalb und außerhalb der Familien und ganz besonders im Namen der Schwächeren in unserer Gesellschaft aufgefordert sind, in den anstehenden Einzelberatungen sehr viel politische Sensibilität, Aufgeschlossenheit, aber auch das notwendige Verständnis für das wirtschaftlich Machbare aufzubringen. Bereits heute müssen wir die richtigen Weichen für langfristige, generationenübergreifende Erfordernisse unseres Zusammenlebens stellen. Wir alle haben die Aufgabe, Verantwortung wahrzunehmen. Wir sind dazu bereit, und wir laden Sie dazu ein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)