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ID1217202500

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    Plenarprotokoll 12/172 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 172. Sitzung Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 Inhalt: Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1994 (Haushaltsgesetz 1994) (Drucksache 12/5500) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1993 bis 1997 (Drucksache 12/5501) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (Drucksache 12/5502) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungsund Wachstumsprogramms (Drucksache 12/5510) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt (Fortsetzung): Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts (Mißbrauchsbekämpfungs- und Steuerbereinigungsgesetz) (Drucksache 12/5630) Rudolf Scharping, Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz 14735 D Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . 14744 C Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA . 14754 C Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. 14754 D Ingrid Matthäus-Maier SPD 14758A Dr. Gregor Gysi PDS/Linke Liste . . . 14760 C Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14764 C Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler . . . 14767 A Hans-Ulrich Klose SPD 14775 A Dr. Renate Hellwig CDU/CSU . . . 14778 A Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . 14778B Friedrich Bohl CDU/CSU 14784 B Johannes Gerster (Mainz) CDU/CSU 14786B Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . 14786D Michael Glos CDU/CSU 14790 C Walter Kolbow SPD 14791 D Dr. Hans Modrow PDS/Linke Liste . . 14796 C Hans-Gerd Strube CDU/CSU 14798A Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14799B Volker Rühe, Bundesminister BMVg . . 14800 B Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD 14802B, 14805C Helmut Schäfer (Mainz) F.D.P. . . . . 14805 B Vera Wollenberger BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14805 D Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 14807 A Dr. Ingomar Hauchler SPD 14808 B Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14809 B Dr. Klaus Rose CDU/CSU 14810B II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 Ortwin Lowack fraktionslos 14812B Ernst Hinsken CDU/CSU 14812D Dr. Ulrich Briefs fraktionslos . 14814B, 14848 C Hannelore Rönsch, Bundesministerin BMFuS 14815C Michael Habermann SPD 14817 B Norbert Eimer (Fürth) F.D.P. . . . . . 14820 C Ortrun Schätzle CDU/CSU 14822 A Michael Habermann SPD 14822 D Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 14824 A Maria Michalk CDU/CSU 14825 A Dr. Angela Merkel, Bundesministerin BMFJ 14826D Dr. Edith Niehuis SPD 14829A Uta Würfel F D P. 14831 A Dr. Edith Niehuis SPD 14832 A Petra Blass PDS/Linke Liste 14833 A Susanne Jaffke CDU/CSU 14834 A Ralf Walter (Cochem) SPD 14835 B Dr. Rainer Ortleb, Bundesminister BMBW 14837 C Doris Odendahl SPD 14838 C Dr. Klaus-Dieter Uelhoff CDU/CSU . . . 14841D Dr. Dietmar Keller PDS/Linke Liste . . . 14843 C Dr. Wolfgang Ullmann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14844 B Carl-Ludwig Thiele F D P 14845 B Alois Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU 14846 D Dr.-Ing. Paul Krüger, Bundesminister BMFT 14849B Josef Vosen SPD 14851D, 14855 C Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann F D P 14852 C Dietrich Austermann CDU/CSU 14855 B Siegmar Mosdorf SPD . . . 14856C, 14861A Werner Zywietz F D P 14857 D Josef Vosen SPD 14858 C Ingeborg Philipp PDS/Linke Liste . . . 14859 C Erich Maaß (Wilhelmshaven) CDU/CSU 14860B Nächste Sitzung 14862 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 14863* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. September 1993 14735 172. Sitzung Bonn, den 8. September 1993 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Andres, Gerd SPD 8. 9. 93 Bartsch, Holger SPD 8. 9. 93 Blunck (Uetersen), SPD 8. 9. 93** Lieselott Dr. Blunk (Lübeck), F.D.P. 8. 9. 93 Michaela Böhm (Melsungen), CDU/CSU 8. 9. 93 ** Wilfried Börnsen (Bönstrup), CDU/CSU 8. 9. 93 Wolfgang Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 8. 9. 93 * Clemens, Joachim CDU/CSU 8. 9. 93 Ebert, Eike SPD 8. 9. 93 Dr. Fischer, Ursula PDS/LL 8. 9. 93 Fischer (Hamburg), Dirk CDU/CSU 8. 9. 93 Dr. Gautier, Fritz SPD 8. 9. 93 Heyenn, Günther SPD 8. 9. 93 Hollerith, Josef CDU/CSU 8. 9. 93 Jaunich, Horst SPD 8. 9. 93 Dr. Kübler, Klaus SPD 8. 9. 93 Lambinus, Uwe SPD 8. 9. 93 Lenzer, Christian CDU/CSU 8. 9. 93 ** Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Lieberoth, Immo CDU/CSU 8. 9. 93 Meckel, Markus SPD 8. 9. 93 Michels, Meinolf CDU/CSU 8. 9. 93* Dr. Müller, Günther CDU/CSU 8. 9. 93 * Müller (Düsseldorf), SPD 8. 9. 93 Michael Opel, Manfred SPD 8. 9. 93*** Pfuhl, Albert SPD 8. 9. 93 Reddemann, Gerhard CDU/CSU 8. 9. 93 Reuschenbach, Peter W. SPD 8. 9. 93 Dr. Riedl (München), CDU/CSU 8. 9. 93 Erich Dr. Scheer, Hermann SPD 8. 9. 93 * Schell, Manfred CDU/CSU 8. 9. 93 Schmidt (Nürnberg), SPD 8. 9. 93 Renate Stachowa, Angela PDS/LL 8. 9. 93 Dr. von Teichman, F.D.P. 8. 9. 93 Cornelia Weis (Stendal), Reinhard SPD 8. 9. 93 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union *** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Gregor Gysi


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (DIE LINKE.)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)

    Ich bin schon am Schluß. — Ich habe die Bitte, eine wirkliche Wende in der Wohnungspolitik zu vollziehen. Die Wohnung muß endlich zum Sozialobjekt statt zum Marktobjekt werden. Es ist unerträglich, Menschen in die Obdachlosigkeit zu drängen und die Kosten so zu erhöhen, daß sie sich Wohnungen nicht mehr leisten können.

    (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ CSU]: Herr Gysi, haben Sie schon einmal etwas von Wohngeld gehört?)

    Noch nie waren ein Kurswechsel in der Politik, ein Wechsel der Bundesregierung so erforderlich wie heute. Ich befürchte allerdings, die Bundestagswahlen kommen mindestens ein Jahr zu spät.

    (Beifall bei der PDS/Linke Liste)



Rede von Dieter-Julius Cronenberg
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Werner Schulz (Berlin) das Wort.

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    Rede von Werner Schulz


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Debatte der letzten Tage ist durchzogen von der aufgesetzten Frage nach dem Wirtschaftsstandort Deutschland. Aber leider wird diese Frage meist nur auf den Unternehmensstandort Deutschland eingeengt. Es geht für meine Begriffe um mehr. Es geht um die Lebensbedingungen in diesem Land, um den Zustand dieser Gesellschaft drei Jahre nach der Vereinigung. Da ist festzustellen: Diese Gesellschaft steckt in einer tiefen Krise, in einer vielfältigen Krise ihres Selbstverständnisses, des Wirtschaftens, ihrer äußeren Beziehungen und inneren Verhältnisse. Am deutlichsten zeigt sich die Krise der politischen Institutionen.
    Der Fall der Mauer hat auch den Zustand des Westens offengelegt und seinen Ideenhaushalt kräftig erschüttert. Das wäre für sich genommen nicht schlimm, eher eine Chance, zumal sich auch viele neue Fragen stellen, gäbe es nicht die Regierung Kohl, würde zur Zeit nicht die Einfallslosigkeit regieren. Vor einem Jahrzehnt ist diese Regierung mit dem Versprechen angetreten, die geistig-moralische Wende einzuleiten. Herausgekommen sind allenfalls eine Rolle rückwärts, geistiger Rückstand, moralische Inflation und nun eine großangelegte Kehrtwende in eine andere Republik.
    Diese Regierung begreift Krisen nicht als Herausforderungen, die geistige Anstrengungen und neue Ideen erfordern. Sie reagiert auf Probleme defensiv, mit nostalgisch verklärtem Rückblick, im schlechtesten Sinne konservativ.
    Das Ergebnis dieser Politik drückt sich in der Politikverdrossenheit der Bürger aus. Noch ist es Politikverdrossenheit und keine Staatsverdrossenheit. Aber auch das kann passieren. Wir müssen aufpassen, daß der anstehende Umzug von Bonn nach Berlin nicht auf halbem Wege in Weimar steckenbleibt.
    Aufschlußreiche Symbolik an einem Tag: Der Palast der Republik wird abgerissen, der Kaiser Wilhelm steht wieder auf dem Deutschen Eck, und der Bundesminister für Verteidigung Rühe verkündet von seinem neuen Schreibtisch im Bendler-Bau, die Bundeswehr sei der Schrittmacher der Vereinigung. Ich frage Sie nur: Wohin marschiert denn diese Bundeswehr?
    Ich meine, über Blauhelme können wir ja reden; das ist allgemein Thema, nicht nur in diesem Hause. Nur, dieses veränderte Schwarz-rot-gold, Herr Schäuble, dieses Burschenschaftslied mit dem Text: „Darunter hau'n und holen wir uns bald wohl junge Narben", das werden wir nicht mitsingen.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wer singt das? Singe ich das?)

    „Unser Schicksal ist nicht die Welt, sondern die
    Wirtschaft", sagt Rathenau. Wie dem auch sei. Doch



    Werner Schulz (Berlin)

    wie steht es mit der Wirtschaft? Es gibt nicht d e n Standort Deutschland, sondern zwei, die miteinander in Konkurrenz stehen.
    Verteidigung der Arbeitsplätze West gegen die Deindustrialisierung Ost heißt der einseitige Überlebenskampf. Aus dem vielzitierten Aufschwung Ost droht das Gemeinschaftswerk Aufstand Ost zu werden. Die vom Kanzler verkündete Stunde der Wahrheit war nur eine Schrecksekunde zwischen Täuschung und Selbsttäuschung.
    Seine Regierung hält sich lieber an aufgebauschte Erfolgsmeldungen, so bei der Treuhandanstalt: Mit einem Zahlenfeuerwerk und einem unendlichen Schwall von Jubelbotschaften versüßt deren Presseabteilung der Öffentlichkeit die Abwicklung der DDRVolkswirtschaft.
    Dennoch, das Konzept der Sanierung durch Privatisierung trägt nicht und hat nie getragen. Es war von Anfang an verfehlt, zu glauben, man könne eine Staatswirtschaft im Hauruckverfahren in die Marktwirtschaft überführen. Die Bundesregierung hat bei dieser zentralen Aufgabe der Gestaltung der Deutschen Einheit kläglich versagt.
    In der momentanen Wirtschaftsflaute schmelzen selbst die geringsten Arbeitsplatzzusagen und Investitionen wie Schnee in der Sonne. Die angebotsorientierte Wirtschaftsförderung für die neuen Länder bewirkt wenig, wenn sie nicht durch eine Verbesserung der Marktchancen für ostdeutsche Produkte ergänzt wird. Aber daran mangelt es im Förderwirrwarr Ost.
    Merkwürdigerweise ist diese vordringliche Aufgabe der deutschen Wirtschaft, der Aufbau Ost, in den Hintergrund getreten hinter eine seltsam anmutende Standortdebatte, die den Verlust von Weltmarktarbeitsanteilen und Arbeitsplätzen in der westdeutschen Vorzeigebranche Automobil und Maschinenbau zum Ausgangspunkt nimmt.
    Sozialopfer sollen jetzt den Standort sichern, heißt das Konzept von Wirtschaftsminister Rexrodt, mit dem er den Klassenkampf von oben wieder anfacht. Die beiden Parteien mit dem hohen C kennen nur noch das eine Gebot, das elfte, das Lohnabstandsgebot. Die soziale Kälte in diesem Gruselkabinett nähert sich dem Gefrierpunkt.
    Ist der Standort Deutschland wirklich in Gefahr, dann sicher nicht wegen zu hoher Sozialhilfesätze oder wegen mangelnder Mobilität der Arbeitnehmer, schon eher durch ein verwöhntes und wenig experimentierfreudiges Management. Heute kommen die Innovationsanstöße von Greenpeace, von Umweltverbänden, sogar vom Bundesverband Junger Unternehmer.
    Gefahr geht von einer Regierung aus, die die Zeichen der Zeit nicht erkennt, die Rolle des Staates im Transformationsprozeß nicht annimmt, dem anstehenden ökologischen Strukturwandel der Wirtschaft den Weg nicht ebnen will oder kann, von einer Regierung, die glaubt, die Spitzenstellung der Wirtschaft durch eigenes Mittelmaß sichern zu können.
    Wir brauchen jetzt und sofort eine ökologische Steuerreform, damit der betriebliche Rationalisierungsdruck weg von der Arbeitsplatzeinsparung hin zur Einsparung von Energie und Rohstoffen gelenkt wird. Damit lassen sich auch die beklagten Lohnnebenkosten nachhaltig senken, ohne Sozialleistungen zu kappen.
    Jetzt ist eine Energie-, Abfall- und Verkehrswende geboten. Das Instrumentarium liegt vor und ist ausgefeilt. Was fehlt, ist der politische Wille, es einzusetzen.
    Deutschland sollte endlich seine notorische Gescheitheit nutzen, um die Umwelt wieder in Ordnung zu bringen, und nicht, um Weltmeister im Autobahnbau zu werden oder den Standort der Rüstungskonzerne zu verteidigen.
    Nicht die rot-grünen Bündnisse, Herr Schäuble, sind die Frage, sondern Ihr Starrsinn in vielen Fragen. Sie sollten nicht nur das Buch von Helmut Schmidt, sondern vielleicht einmal das Ihres Parteifreundes Geißler lesen. Da sind interessante Fragen aufgeworfen.

    (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ich lese das!)

    Wir wissen seit langem, daß blindes Wachstum die ökologischen Schäden verschlimmert, daß der materielle Wohlstand, von dem die Lösung aller Probleme erhofft wurde, selbst zum Problem geworden ist. Wirtschaftswachstum wird die Dauerarbeitslosigkeit nicht beseitigen. Wenn Kanzler und Wirtschaftsminister nun lauthals nach der Verlängerung der Arbeitszeit rufen, kommt mir das vor wie die späte Umsetzung der alten DDR-Parole: „Immer weniger produzieren immer mehr. " In der DDR hätte man damit noch „Held der Arbeit" werden können.
    Die Politik schwafelt über die Verlängerung der Lebensarbeitszeit. In der Praxis werden die Menschen in den Vorruhestand geschickt. Eine Verlängerung der Arbeitszeit im öffentlichen Dienst anstelle einer überfälligen Verwaltungsreform wird mancherorts nur den Büroschlaf verlängern. Wir können uns die 40-Stunden-Arbeitswoche nicht mehr leisten, meine Damen und Herren. Bezahlte Erwerbsarbeit ist Mangelware, und wenn etwas knapp wird, muß es gerecht verteilt werden. Im Osten hungern die Menschen regelrecht nach Arbeit, Arbeit hat dort noch einen tief verinnerlichten Wert. Offenbar haben sich nicht alle mit dem Zynismus der Resignation abgefunden, daß Arbeitslosigkeit nun mal zum System der Sozialen Marktwirtschaft gehört.
    Dabei müßten wir doch wissen, daß sich soziale Krisen der Gesellschaft immer dann zuspitzen, wenn viele ihrer Angehörigen ausgegrenzt werden. Dem muß nicht so sein, wenn wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, wie Verkürzung der Arbeitszeit, flexible Arbeitszeiten, Teilzeitarbeitsplätze, Abbau von Überstunden und Schwarzarbeit. Von Gewerkschaften und Arbeitnehmerseite liegen diskutable Vorschläge vor: Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich, steuerliche Finanzierung des zweiten Arbeitsmarkts. Allein die Regierung bleibt auf ihre falsche Weichenstellung fixiert.



    Werner Schulz (Berlin)

    Gerade der zweite Arbeitsmarkt ist wichtig. Hiermit verbundene Probleme rechtfertigen es nicht, eine ganze Generation aufs Abstellgleis zu schieben. Es gibt genügend notwendige und nützliche Arbeit, die nicht erledigt wird, nur weil sich der Bedarf nicht in monetärer Nachfrage ausdrücken läßt.
    Lassen Sie uns eine große Anhörung und Aussprache hier im Bundestag zu den Möglichkeiten und Grenzen der Arbeitsgesellschaft durchführen! Ich vermute, die Bundesregierung wird mit ihrer Arbeitszeitvorgabe ein ähnliches Debakel wie bei der geplanten Karenztageregelung zur Pflegeversicherung erleben.
    Auch wenn der Kanzler behauptet, meine Damen und Herren, er sei weder rechts noch links einäugig — ein anatomisches Wunder! —, ist er, zumindest, was das Wiedererstarken des Rechtsextremismus anbelangt, dennoch blind. Zwar hat der neue Innenminister mit dem Antrag auf Verbot der FAP Entschlossenheit gezeigt, doch vergessen wir nicht, daß die Bundesregierung selbst die Geister rief, die sie jetzt zu bannen sucht! Der Asylkompromiß hat gezündet. Wer fortwährend den desolaten Zustand der Gesellschaft auf die Zuwanderung von Ausländern zurückführt, muß sich nicht wundern, daß sich der Terror organisiert, daß Fremde nicht zu ausländischen Mitbürgern, sondern zu Freiwild werden.
    Das außenpolitische Ansehen Deutschlands hängt nicht von ein paar militärischen Dauerarbeitsplätzen in Afrika ab, sondern davon, ob wir mit den Mordbrennern im eigenen Land fertigwerden.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS/Linke Liste)

    Ich hoffe, Herr Kinkel, Ihr Vorschlag, ein Einwanderungsgesetz vorzulegen — was übrigens von unserer Gruppe längst getan wurde —, war nicht nur eine Pusteblume im Sommerloch, war keine zweite Kinkel-Initiative, der die Verbiegung ins Gegenteil blüht. Denn zum Thema RAF wollten die aufgeblähten Sicherheitsbehörden keine politische Lösung, sondern einen Fahndungserfolg, um ihre Existenzberechtigung nachzuweisen. Hier liegt das Ungeheuerliche: Versagen oder Komplott — das ist die immer noch offene Frage nach Bad Kleinen.
    Alle, die sich jetzt den Kopf über eine Stasi-Amnestie zerbrechen, obwohl sie davon relativ wenig verstehen, sollten wissen, daß zumindest das Kapitel der RAF hätte abgeschlossen werden können. Doch anscheinend soll diese fast überstandene Krankheit verschleppt werden, um das Gleichgewicht des LinksRechts-Bedrohungspappkameraden aufrechtzuerhalten.
    Immer wieder gibt die Bundesregierung Anlaß zu der Frage, was eigentlich mehr Besorgnis auslösen muß: die zunehmende Kriminalität oder die Versuche dieser Regierung, ihr entgegenzusteuern. Die alten Reaktionsmuster — schärfere Gesetze, schlagkräftige Polizei, mehr Überwachung — greifen nicht mehr. Statt den Straftätern geht es häufig den Rechten der Bürger an den Kragen. Die Wohnung scheint verletzbar, doch das Bankgeheimnis bleibt heilig. Sie sollten bei Gelegenheit einmal einige Stasi-Opfer über den
    Erkenntniswert von Lauschangriffen befragen. Sie werden staunen!
    Was wir brauchen, ist eine präventive Politik: Abbau struktureller Gewalt, moderne Polizeikonzepte, bessere Ausbildung und Bezahlung, auch Ausländer in der Polizei, Bildung und Jugendaustausch. Doch dafür ist im Haushalt wenig Geld da.
    Ich sage Ihnen: Hinter diesem Spar- und Konsolidierungsprogramm lauert Nationalismus, nicht aus vollem Herzen, sondern eher aus leeren Kassen. Der Rechtsstaat, Herr Schäuble, zieht sich dort zurück, wo sich die Reichen mit Bodyguards eindecken. Das Thema innere Sicherheit eignet sich nicht als Wahlkampfthema. Das wäre ein gefährliches Vorhaben, ein „KKW", ein „Kanzler-Kanther-Wunsch". Sie sollten die Energie dieser kernigen Fusion lieber auf die soziale Sicherheit richten, auf die innere Verunsicherung unserer Bürger, wie es mit Arbeit, Wohnung und Umwelt weitergehen soll.
    Eine Regierung, die keinen ernsthaften Willen zeigt, Ausgegrenzte in die Gesellschaft zu integrieren, und hemmungslos bei den Armsten zufaßt, erzeugt selbst den Sprengstoff der Gewalt, über den sie sich dann heuchlerisch empört. Es ist schon üble Polemik, wenn da vom „Vollkaskostaat" gesprochen wird. Die Bürger erwarten von einem Staat, den sie voll finanzieren, zu Recht Versicherung und Schutz.
    Mit der aufgeblasenen Mißbrauchskampagne werden die sozialen Sicherungssysteme madig gemacht, obwohl sie seit der Vereinigung von dieser Regierung zweckentfremdet werden und einen Großteil der Vereinigungskosten getragen haben. Ich nenne das Mißbrauch, der zur Unglaubwürdigkeit führt. Denn was ist von einem Kanzler zu halten, der 1992 erklärt, kein Rentner, kein Kranker, kein Arbeitsloser brauche Leistungskürzungen zu befürchten, und sich jetzt genau diesen Personenkreis vornimmt? Den Gürtel enger schnallen heißt bei diesem Kanzler allemal, am Riemen anderer zu reißen.
    Es gibt etliche offene Fragen, an die sich diese Regierung überhaupt nicht herantraut. Der Generationsvertrag ist fragwürdig geworden. Wir erreichen die Jugend nicht mehr. Die Teilungs- und Vereinigungsgeneration ist nicht in der Lage, ihre Ideale weiterzugeben. Das gilt für Ost wie West. „Die Zukunft gehört der Jugend" sagt sich so leicht, doch wer gibt sie ihr wirklich?
    Es gibt jede Menge offene Fragen und Gestaltungsmöglichkeiten wie nie zuvor, doch unsere Gesellschaft befindet sich in einem rasenden Stillstand. Die politische Führung scheint gelähmt oder in alten Ritualen befangen zu sein.
    Ein Paradebeispiel ist der tägliche Eiertanz um das Neuauftreten von Bundespräsidentschaftskandidaten auf die illustre Perlenkette. Allein darin, wie diese Diskussion geführt wird, zeigt sich der Geist der alten Bundesrepublik. Ginge es nach den Teilnehmern der Zuschauerdemokratie, dann hieße der nächste Bundespräsident: „Jetzt reicht's". Mit anderen Worten: Der künftige Bundespräsident sollte vom Volk gewählt und nicht in Parteihinterzimmern gekürt werden.



    Werner Schulz (Berlin)

    Runderneuerung und Umdenken heißen die neuen Schlüsselbegriffe der Regierung. Runderneuerung, weil das Profil abgefahren ist, was bleibt, ist ein alter Schlappen. Auch beim Umdenken sind keine umwerfenden Lösungen zu erwarten; denn jeder, der diesen Kanzler kennt, weiß, was das zu bedeuten hat. Hier ist das Problem, und so wird künftig drumrumgedacht.

    (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Liste)