Rede von
Dr.
Ulrich
Briefs
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS/LL)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS/LL)
Ich mache es so, wie es mir meine Zeit erlaubt. Herr Rose, Sie können sicher sein: Es wird ein Kontrapunkt zu dem sein, was soeben gesagt worden ist.
Die Politik dieses Bundeskanzlers und dieser Bundesregierung ist, oberflächlich betrachtet, eine Erfolgsstory. Das muß man zugestehen. Sieht man jedoch genauer hin, sind fast alle Erfolge dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers so geartet, daß sie dem eigentlich Notwendigen zuwiderlaufen.
Ein Beispiel: Die längste Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs in der Nachkriegszeit, einer der Erfolge dieser Bundesregierung, ist zugleich eine Zeit ökologischen Stillstands und zum Teil sogar des ökologischen Rückschritts gewesen. Die Bundesrepublik ist, so sagt die Bundesregierung selbst, ein unsicherer Standort für Investitionen geworden. Aber wer hat seit mehr als elf Jahren die politische Verantwortung für den angeblich unsicheren Standort Deutschland? Wenn es Modernisierungsdefizite gibt — die weiter anhaltenden Exporterfolge dieses Landes und die nach wie vor harte D-Mark sprechen indes eine etwas andere Sprache —, sind sie nicht auch vor allem den Fehlern dieser Bundesregierung zuzuschreiben?
Vor allem aber: Die Fehler und die Versäumnisse dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers haben uns etwas eingebracht, was womöglich nie wieder zu beseitigen ist, nämlich eine nach Millionen zählende Dauerarbeitslosigkeit. 7 Millionen fehlende Arbeitsplätze waren Anfang der 70er Jahre undenkbar. Da hat es Monate mit weniger als 100 000 registrierten Arbeitslosen gegeben und zugleich fünfmal soviel offenen Stellen. Sie waren auch Ende der 70er Jahre undenkbar, als die Arbeitslosigkeit bei etwa 1 Million statistisch erfaßter Arbeitskräfte lag.
Der Arbeitsmarkt ist dieser Bundesregierung — ich sage es einmal ganz vorsichtig — entglitten, und sie wird ihn nie wieder in den Griff bekommen. 7 Millionen fehlende Arbeitsplätze sind aber nicht nur eine Chiffre für wachsende soziale Not, Verarmung, Verelendung — von der Not der Wohnungssuchenden und Obdachlosen, Opfer vor allen Dingen der unsozialen Wohnungsbaupolitik dieser Bundesregierung, ganz zu schweigen —; 7 Millionen fehlende Arbeitsplätze sind auch Ausdruck eines rabiaten strukturellen Wandels in der Wirtschaft, in der mit immer mehr Kapital und immer weniger menschlichem Arbeitsaufwand immer modernere Produkte produziert werden. Sie sind Ausdruck eines gewaltigen und auch gewalttätigen Rationalisierungsprozesses, der schlicht und einfach immer weniger menschliche Arbeitszeit zur Erstellung der gleichen oder einer wachsenden Leistung notwendig macht.
Was tun diese Bundesregierung und dieser Bundeskanzler in dieser Situation? Sie fordern, die Arbeitszeit zu verlängern, statt sie zu verkürzen. Sie drücken auf die Personalkosten und die Personalnebenkosten, mit dem Ergebnis — das muß man ganz nüchtern betrieblich sehen —, daß sie mit den eingesparten Mitteln den Rationalisierungsprozeß und den Prozeß der Kapitalintensivierung in den Betrieben weiter anheizen. Sie bauen Arbeitnehmerschutzrechte und Gewerkschaftsrechte ab — das meiste kommt ja erst noch —, statt sie angesichts der wachsenden Schutzbedürftigkeit von Arbeitskräften in der modernen Produktion auszuweiten.
Wie man sieht: Die Politik dieses Bundeskanzlers und dieser Bundesregierung handelt konsequent dem Notwendigen und Vernünftigen zuwieder.
Ähnlich auf dem Gebiet der Umweltpolitik: Zu einem Zeitpunkt, in dem sichtbar geworden ist, daß nur eine Ökologisierung der Produktion wirklich zukunftsträchtige, wirklich sichere Arbeitsplätze und Absatzmöglichkeiten bieten kann, werden der Umweltschutz und der Naturschutz nicht ausgebaut, sondern abgebaut. Im Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie entscheidet sich diese Bundesregierung für die Ökonomie, zu Lasten einer gesunden Umwelt und zu Lasten der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen überhaupt auf diesem Planeten.
Der Bundesumweltminister, der eh in diesem Kabinett bestenfalls eine Alibifigur ist, wird vollends zum Statisten degradiert. Der Kanzler selbst, zweifellos eine außerordentliche politische Potenz und ganz und gar nicht die Figur, die insbesondere im Osten so oft etwas witzelnd angesprochen wird — das hat der Kollege Lowack soeben auch getan —, ist jedenfalls ökologisch ein blinder Fleck. Er hat überhaupt keinen
Dr. Ulrich Briefs
ökologischen Touch oder Charakter. Auf diesem Gebiet ist er überhaupt nicht existent.
Das größte und auf lange Sicht wohl verhängnisvollste Versäumnis dieses Bundeskanzlers und dieser Bundesregierung ist jedoch die grob fahrlässige Hinnahme der Rückentwicklung großer Teile der Bevölkerung dieses Landes zu einem nationalistischen, antisemitischen und rassistischen Bewußtsein. Es wäre falsch, davon auszugehen, daß dieses rassistische, antisemitische, nationalistische Bewußtsein von Bonn, von dieser Bundesregierung, von diesem Bundeskanzler oder aus diesem Parlament heraus erzeugt oder auch nur im wesentlichen geweckt worden wäre. Das Problem der Rechtsentwicklung mit unabsehbaren Folgen für Deutschland, für seine Nachbarn, für Europa ist weniger in den politischen Parteien und Institutionen dieses Landes verankert. Es steckt in der Bevölkerung, in den Menschen dieses Landes.
Wie die öffentlichen Beifallsbekundungen für Ausschreitungen gegen Hilflose und Wehrlose in Rostock, Hoyerswerda, Quedlinburg und Dolgenbrodt, diesem brandenburgischen Dorf mit dem unaussprechlichen Namen, und anderswo zeigen, ist es offensichtlich besonders ausgeprägt in der ostdeutschen Bevölkerung. Um Herrn Schäuble kurz zu zitieren: Auch da muß die Wahrheit gesehen und gesagt werden.
Das hat mit deutschen Traditionen, mit deutschen Sozialstrukturen, mit sogenannten deutschen Werten, mit sogenannten deutschen Tugenden und Sekundärtugenden, mit deutscher Geschichte und Erziehung, mit deutschen autoritären Familienstrukturen, mit dem deutschen Selbstverständnis zu tun.
Ich fürchte, es wäre auch ohne die Asyldebatte in irgendeiner Form zum Ausdruck gekommen. Es ist doch erschreckend, wenn Ignatz Bubis zu der Einschätzung kommen muß, daß in diesem Land ein Drittel der Bevölkerung antisemitisch ist. Ich sage es ganz offen: Angesichts der Angriffe in Rostock und anderswo, angesichts der getöteten Kinder und Frauen in Mölln und Solingen wäre so etwas wie Bevölkerungsverdrossenheit sicherlich ebenso verständlich wie die vielberufene Politikverdrossenheit.
Das große verhängnisvolle Versäumnis dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers war es, daß sie nicht ganz früh und mit aller gebotenen Gewalt des staatlichen Gewaltmonopols dieser Entwicklung entgegengetreten sind, und jede derartige Regelung bereits 1989 und 1990 im Keim erstickt haben. Polizeilich und juristisch Verfolgen und gesellschaftlich Ächten, das wäre notwendig gewesen.
Heute, so fürchte ich, ist es dazu zu spät. Wer auf eine zukünftige neokonservative Erziehung spekuliert — da bahnt sich ja so etwas an —, muß wissen, daß wir damit nicht ein oder zwei Generationen warten können. Das heißt: Mit der neokonservativen Erziehung können wir sehr wohl so lange warten. Aber mit den notwendigen Ergebnissen können wir nicht so lange warten. In den USA — das habe ich gerade einer Mitteilung entnommen — glauben inzwischen mehr als die Hälfte der Menschen, daß in Deutschland der Nationalsozialismus wiederkehren kann.
Übrigens, wenn die Bundesregierung endlich einmal ein deutliches Signal setzen will, sollte sie mit einer drastischen diplomatischen Demarche in der Slowakei gegen die Rehabilitierung des Klerikalfaschisten Tiso und gegen den offiziell angeheizten Antisemitismus sowie gegen die zu Pogromen führende Hetze gegen Roma vorstellig werden.
Diese und andere beängstigende Wahrnehmungen lassen ahnen, was — so fürchte ich — auch in diesem Land und in großen Teilen dieser Bevölkerung möglich sein wird, wenn sich der wahnsinnige Brand des Rechtsradikalismus weiter ausbreitet.
Der Bundeskanzler und die Bundesregierung sollten vielleicht einmal mit den europäischen Partnerregierungen über wirksame Wege zur Bekämpfung der Rechtsentwicklung in der Bevölkerung beraten und dann schnell und wirksam handeln. Es darf kein Spiel mehr mit dem Feuer rassistischer und nationalistischer Aggression, Werte und Neigungen in der deutschen Bevölkerung geben. Hier liegt die größte und wichtigste Aufgabe dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers in der Zukunft.
Herr Präsident, ich danke Ihnen.