Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zur voraussichtlich letzten Plenar-
sitzung dieses Jahres. Änderungen für die bereits gestern
modifizierte Tagesordnung gibt es nicht mehr.
Wir können also gleich in den Tagesordnungs-
punkt 22 eintreten:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau
und Reaktorsicherheit
zur UN-Klimakonferenz in Lima
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung 60 Minuten vorgesehen. – Dazu sehe ich Einver-
nehmen. Dann verfahren wir so.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit, Frau Hendricks. Bitte sehr.
Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-
welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Eine aktive Klimapolitik gehört heute zum gesell-
schaftlichen Konsens in Deutschland. Alle politisch akti-
ven Menschen, ob im Bundestag, in den Ländern oder
Kommunen, stellen sich heutzutage den Herausforde-
rungen des Klimaschutzes. Nehmen Sie die Energie-
wende! Sie ist eine Tochter unserer Klimaschutzpolitik.
Die Aktivitäten in Wirtschaft und Politik zur Minde-
rung von Treibhausgasemissionen bewirken zunehmend,
dass sich Wachstum und Wohlstand vom Ressourcenver-
brauch und vom Energieverbrauch abkoppeln. Das wäre
vor einigen Jahren noch völlig undenkbar gewesen. Dies
ist ein Fortschritt und tatsächlich eine richtig gute Ent-
wicklung.
Wir nehmen in Deutschland Schritt für Schritt Ab-
schied von klimafeindlichen Technologien; mehr noch:
Wir entwickeln Technologien und Lösungen, mit denen
eine klimaverträgliche und wirtschaftliche Entwicklung
überhaupt erst möglich ist.
In der EU haben wir uns das Ziel gesetzt, bis 2050
80 bis 95 Prozent weniger CO2-Emissionen zu verursa-
chen. Für Deutschland bedeutet das, dass wir eher am
oberen Ende dieses Korridors landen wollen. Damit wer-
den wir aber nicht auf unseren Platz als eine führende In-
dustrie- und Exportnation oder als Technologieführer
verzichten – weder müssen wir das noch wollen wir das –;
ganz im Gegenteil: Der Kampf gegen den Klimawandel
und seine Folgen ist eine herausragende Chance, um un-
seren Wohlstand auch für die Zukunft zu sichern und um
Deutschlands Position als Industrienation zu festigen
und auszubauen.
Meine Damen und Herren, aber schauen wir nicht nur
auf uns selbst! Das Klima macht, wie wir alle wissen,
natürlich nicht an Ländergrenzen halt. Die Folgen des
Klimawandels sind schon heute ungerecht verteilt. Es
sind die Menschen in den ärmsten Staaten und in den
ärmsten Regionen, die am meisten unter Extremwetter-
ereignissen und deren Folgen wie zum Beispiel Ernte-
ausfällen zu leiden haben. Wenn sich diese Entwicklung
durch den fortschreitenden Klimawandel weiter ver-
schärft, dann verschärfen sich auch die regionalen und
die globalen Konflikte um Wasser, um Land, um Roh-
stoffe und um Energie.
Die Auswertung der Daten, die weltweit im Zusam-
menhang mit dem Klima gesammelt werden, hat erge-
ben, dass 12 der 14 wärmsten Jahre seit Beginn der Wet-
teraufzeichnungen im 21. Jahrhundert liegen. Als ich
dies in der Vorlage gesehen habe, habe ich ein Fragezei-
chen daran gemacht und gefragt: Ist das richtig? Das
21. Jahrhundert ist ja noch nicht lange im Gange. Trotz-
dem liegen 12 der 14 wärmsten Jahre seit Beginn der
Wetteraufzeichnungen in diesem 21. Jahrhundert.
Es gibt keine vernünftigen Zweifel mehr daran, dass
die Erkenntnisse der Klimawissenschaftler uns zum
Handeln zwingen. Der Kampf gegen den Klimawandel
und seine Folgen ist ein Kampf um eine gerechtere und
7384 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks
(C)
(B)
eine friedlichere Welt. Ja, Klimapolitik ist auch Frie-
denspolitik.
In einer Zeit, in der Krisen und kriegerische Konflikte
immer mehr Menschen zu Flüchtlingen machen, brau-
chen wir Zeichen der Solidarität in der Welt. Dieses Zei-
chen könnte und sollte von einer erfolgreichen Klima-
schutzpolitik ausgehen. Wenn wir es schaffen, die
Erderwärmung zu begrenzen und damit neue Ungerech-
tigkeiten zu verhindern, wäre das ein unübersehbares
Symbol globaler Solidarität. Ein weltweites Klima-
abkommen, an dem alle Staaten beteiligt sind, kann, ja
muss ein Beispiel dafür sein, dass wir gute Lösungen
finden können, wenn wir fair miteinander verhandeln.
Ein solches Beispiel könnte auch bei anderen Konflikten
helfen. Lösungen können im Interesse aller Menschen
unabhängig von ihrer Nationalität oder Religion gefun-
den werden, und dafür setzen wir uns doch alle ein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Bundesregie-
rung bekennt sich uneingeschränkt zur 2-Grad-Ober-
grenze und damit zur Notwendigkeit einer wirksamen
Klimaschutzpolitik. Wir nehmen unser nationales Kli-
maschutzziel für 2020 ernst, das haben wir bewiesen.
Wir haben das 40-Prozent-Ziel nicht einfach nur über-
nommen, wir haben uns ehrlich gemacht und gefragt, ob
es bis 2020 überhaupt erreichbar ist. Nein, wenn wir
nichts unternommen hätten, hätten wir dieses Ziel nicht
erreicht.
Mit dem Aktionsprogramm Klimaschutz 2020, das
wir am 3. Dezember beschlossen haben, können wir
diese Lücke schließen. Nie zuvor hat eine Bundesregie-
rung ein so umfassendes Klimaschutzprogramm erarbei-
tet, das alle Sektoren und alle Akteure gleichermaßen in
die Pflicht nimmt. Egal ob Energiewirtschaft, Verkehr
oder Landwirtschaft – alle müssen ihren Beitrag leisten.
Daher auch an dieser Stelle nochmals die Bitte an Sie
alle, in Ihren Bereichen auch daran mitzuwirken.
Weil der Prophet in der eigenen Heimat oft nichts gilt,
kann ich Ihnen berichten, dass das Klimaaktionspro-
gramm auf der Weltklimakonferenz von vielen Rednern,
nicht zuletzt vom UN-Generalsekretär Ban Ki-moon in
seiner Eröffnungsrede, ausdrücklich gelobt wurde.
In dem Transformationsprozess, der der ganzen Welt
bevorsteht, nimmt Deutschland eine Vorreiterrolle ein.
Das deutsche Wort „Energiewende“ findet immer mehr
Einzug in die englische Sprache. Wir wollen andere
Staaten unterstützen, die noch nicht so weit sind, dies
aus eigener Kraft zu schaffen. Das funktioniert aber nur,
wenn wir glaubwürdig voranschreiten. Nach meinem
Eindruck werden weltweit immer mehr Menschen und
immer mehr Staaten aktiv. Das ist die gute Nachricht aus
den vergangenen Wochen.
Unser gemeinsames Ziel ist, im Dezember 2015 in
Paris einen neuen Klimavertrag abzuschließen. Die
ganze Welt wartet dringend auf ein neues Abkommen;
denn der Klimawandel findet, wie wir wissen, bereits
statt, und Menschen leiden bereits jetzt unter ihm. Wenn
wir den Sachstandsbericht des Weltklimarates und viele
andere Untersuchungen ernst nehmen, dann war die Not-
wendigkeit für ein Abkommen noch nie so groß wie
heute.
Die Konferenz in Lima hat zweierlei gezeigt: Es gibt
eine grundsätzliche Bereitschaft bei allen Staaten, ein
neues umfassendes Klimaabkommen zu treffen, aber es
gibt nach wie vor tiefe Gräben, die es zu überwinden
gilt. Ich will dies aus Sicht der Bundesregierung im Ein-
zelnen erläutern.
Als deutsche Delegation hatten wir im Vorhinein vier
Erfolgskriterien festgelegt:
Erstens. Wir wollten in Lima die Grundzüge eines
weltweiten Klimaabkommens festlegen. Das ist gelun-
gen. Im „Lima Call for Climate Action“ haben wir
wesentliche Elemente eines Verhandlungstextes festge-
halten, die das Gerüst für die Textverhandlungen im
kommenden Jahr bilden.
Zweitens. Wir wollten in Lima festlegen, welche In-
formationen die Staaten gemeinsam mit ihren geplanten
Minderungsbeiträgen vorlegen müssen, damit diese ver-
ständlich und vergleichbar sind. Wir haben uns für kla-
rere Vorgaben und mehr Details eingesetzt. Hier mussten
wir in der Tat – bis jetzt jedenfalls – einen Kompromiss
eingehen. Es gibt eine Reihe von Schwellenländern, die
sich nicht in dem Umfang zu einer umfassenden Trans-
parenz verpflichten wollten, wie wir es gerne gesehen
hätten.
Drittens. Wir wollten, dass die Staatengemeinschaft
schon vor dem Inkrafttreten des neuen Abkommens
2020 mehr für den Klimaschutz tut. Dieses Ziel wurde
im Entscheidungstext entsprechend hervorgehoben.
Aber auch hier hätte ich mir weniger Appell und mehr
Handlungsorientierung gewünscht.
Dass Deutschland hier glaubwürdig entsprechende
Schritte geht, also zunächst bis 2020, wurde weltweit po-
sitiv wahrgenommen.
Viertens. Wir wollten Fortschritte bei der Umsetzung
früherer Entscheidungen machen, insbesondere bei der
Klimafinanzierung. Durch die frühzeitige Zusage
Deutschlands, 750 Millionen Euro in den Grünen Klima-
fonds einzuzahlen, wurde eine positive Dynamik ausge-
löst. Das hat dazu geführt, dass wir in Lima unser Etap-
penziel von 10 Milliarden Dollar sogar etwas haben
überschreiten können.
Ich habe mich sehr gefreut, dass neben den klassi-
schen Gebern jetzt auch Länder wie zum Beispiel Peru,
Kolumbien, Panama, die Mongolei oder Indonesien zum
Fonds beitragen.
Alle vier Punkte, die wir uns vorgenommen hatten,
sind erfüllt oder zumindest ein gutes Stück vorange-
bracht worden. Meine Damen und Herren, darüber hi-
naus wurde unser zusätzlicher Beitrag zum Anpassungs-
fonds in Höhe von 50 Millionen Euro gelobt. Dieser
Beitrag ist gut investiertes Geld und schafft weiteres
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7385
Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks
(C)
(B)
Vertrauen. Besonders erfreulich finde ich, dass wir am
Rande der Verhandlungen in Lima einen Durchbruch zur
Ratifizierung der zweiten Verpflichtungsperiode des
Kioto-Protokolls durch die EU herbeigeführt haben. Das
war die Gelegenheit, noch einmal alle zusammenzubrin-
gen. Ich glaube, es wird allseits anerkannt, dass dies
ohne das monatelange Engagement Deutschlands nicht
gelungen wäre. Der gefundene Kompromiss konnte vor-
gestern, am Mittwoch, bereits im Umweltrat politisch
beschlossen werden. Jetzt steht der Ratifizierung von
Kioto II durch die EU nichts mehr im Wege.
Meine Damen und Herren, einer der Streitpunkte in
Lima war die sogenannte Firewall zwischen Industrie-
und Entwicklungsländern. Es ist eine unbestreitbare Tat-
sache, dass die industrialisierten Staaten in den vergan-
genen zwei Jahrhunderten den Großteil, fast 80 Prozent
der Summe aller CO2-Emissionen verursacht haben und
darauf ihren Wohlstand aufgebaut haben. Die ärmeren
Regionen, die diese Verschmutzung nicht zu verantwor-
ten haben, haben dagegen heute umso stärker mit den
Folgen des Klimawandels zu kämpfen. Diese historische
Verantwortung war der Grund, warum im Jahr 1997 im
Kioto-Protokoll keine Reduktionsziele für Schwellen-
länder und Entwicklungsländer beziffert wurden. Eine
Brandmauer, eine Firewall, sollte die brennende Seite
von der Seite trennen, auf der es noch nicht brennt. Die
ersten Löschmaßnahmen wurden auf die brennende
Seite gerichtet.
Bei den Treibhausgasemissionen ist es heute so, um
im Bild zu bleiben, dass es auf beiden Seiten brennt.
Deshalb ergibt diese Unterscheidung keinen Sinn mehr.
Die Welt im Jahr 2014 ist nicht mehr die von 1997. In
der Gruppe der Schwellenländer finden sich Staaten wie
China oder Indien. China ist derzeit der größte und In-
dien der drittgrößte CO2-Emittent der Welt; allerdings
noch nicht pro Kopf, sondern wegen der schieren Menge
der Bevölkerung. Über die Hälfte aller Emissionen
kommt heute aus Schwellen- und Entwicklungsländern.
Auch die Differenzierung nach der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit verläuft nicht mehr entlang der alten
Linien und in den alten Kategorien. Dabei rede ich nicht
nur von Singapur und den Vereinigten Arabischen Emi-
raten. Auch zum Beispiel Malaysia hat heute ein höheres
Pro-Kopf-Einkommen als zum Beispiel Rumänien. Wir
müssen deshalb zu einer neuen, differenzierteren Be-
trachtung der Verantwortung für den Klimaschutz kom-
men. Alle müssen etwas beitragen.
Der Umfang dieses Beitrages muss sich aus dem An-
teil an den Treibhausgasemissionen und der wirtschaftli-
chen Leistungsfähigkeit ergeben. Wer mehr zur Er-
hitzung der Erde beiträgt, muss auch mehr beim
Klimaschutz tun. Wer wirtschaftlich leistungsfähiger ist,
muss mithelfen, die ärmeren Länder bei Anpassung und
klimaverträglicher Wirtschaftsentwicklung zu unterstüt-
zen. Um diese grundlegend veränderte Herangehens-
weise haben wir in Lima gerungen, und wir werden es in
den nächsten Monaten bis zur Klimakonferenz in Paris
weiter tun, auch tun müssen. Alte Kampfparolen, wie sie
in Lima leider gerade von der sogenannten Group of
Like Minded Developing Countries besonders lautstark
hervorgebracht wurden, bringen uns da nicht weiter.
Meine Damen und Herren, Lima eignet sich nicht für
Superlative. Es war nicht der großartige Durchbruch, der
den Erfolg schon quasi vorzeichnet; aber es war auch
kein Scheitern. Wir haben eine solide Grundlage für die
weiteren Verhandlungen gelegt, aber auch ich hätte mir
natürlich eine weiter gehende Annäherung der Positio-
nen gewünscht.
Alle Staaten mit ihren unterschiedlichen Ausgangs-
positionen hinter einem Abkommen zu versammeln,
verlangt beharrliche Arbeit. Die konkreten Erfolge, die
wir erreicht haben, sind mehr als nur große Worte, und
sie sind allemal besser als das Genörgel mancher Zu-
schauer am Spielfeldrand.
Lima ist nicht das Ziel, sondern eine Etappe auf dem
Weg nach Paris. Ein Abkommen in Paris ist das Ziel; da-
rauf muss unser Engagement abzielen.
Mit dem Petersberger Klimadialog und der G-7-Präsi-
dentschaft im kommenden Jahr wird die Bundesregie-
rung ihre Möglichkeiten nutzen, um Paris zum Erfolg zu
bringen.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Mitgliedern
der deutschen Delegation, nicht zuletzt auch bei den be-
teiligten Mitgliedern des Deutschen Bundestages für ihre
Arbeit bedanken.
Gleichzeitig will ich sehr deutlich machen, dass ich es
für vollkommen inakzeptabel halte, dass Abgeordnete
des Deutschen Bundestages an der Einreise nach Ecua-
dor gehindert worden sind. Das war nicht nur ein un-
freundlicher Akt gegenüber den sehr engagierten Abge-
ordneten des Umweltausschusses; es schadet vor allem
dem gemeinsamen Interesse am Schutz der Umwelt und
fällt auf die Entscheider zurück.
Ich kann nur hoffen, dass dies ein einmaliger Vorgang
war.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten Mo-
naten und Wochen ist in Deutschland viel über die
schwarze Null im Bundeshaushalt diskutiert worden, die
wir ja gemeinsam erreicht haben. Es gibt eine weitere
Null, die wir uns unbedingt vornehmen sollten: weltweit
null Treibhausgasemissionen bis zum Ende des Jahrhun-
derts. Eine solche grüne Null sollten wir uns auf die
Agenda schreiben, und von dort darf sie dann auch nicht
mehr verschwinden, bis wir das Ziel erreicht haben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
7386 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
(C)
(B)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist ja eine recht verbreitete Meinung, dass Klimagipfel
im Prinzip sinnlos sind – aufwendige alljährliche Mas-
senkonferenzen, die ohne wirkliches Ergebnis bleiben.
Ich möchte explizit sagen: Ich teile diese Meinung nicht.
Ich habe jetzt über ein Dutzend Mal an Klimakonferen-
zen teilgenommen und halte es für sehr wichtig, dass der
Gesprächsfaden zwischen so vielen Ländern mit so un-
terschiedlichen Interessen nicht abreißt.
Für mich sind die vielen Begegnungen mit Menschen,
die direkt unter dem Klimawandel leiden, jedes Mal eine
besondere und erschütternde Erfahrung. Ich berichte da-
rüber in Blogs, weil ich diese Probleme der Länder des
Südens weitervermitteln will.
Ich hätte aus Lima gerne gute Nachrichten mitge-
bracht; aber ich möchte lieber Klartext reden. Liebe Kol-
leginnen und Kollegen, Lima war – anders als hier ver-
mittelt werden soll – kein Minimalkompromiss; Lima
war ein trauriger Offenbarungseid dessen, was wir unter
internationaler Klimadiplomatie verstehen. Ja, in Peru
wurde ein Schritt in Richtung Paris gemacht – das
stimmt. Aber nicht jeder Schritt ist zwangsläufig einer in
die richtige Richtung. Denn was da in Paris unter gro-
ßem Tamtam verabschiedet werden wird, das wird vor
allem eines sein: eine große Selbstlüge.
Statt den Menschen weiter vorzugaukeln, dass wir in
der Klimapolitik Lösungen finden, die den Klimawandel
auf das 2-Grad-Limit reduzieren, sollten wir endlich rei-
nen Wein einschenken.
Sie wissen genauso gut wie ich, dass die künftigen
Mechanismen des Pariser Abkommens das Papier nicht
wert sind, auf dem es stehen wird. Aber das können Sie
natürlich nicht eingestehen, meine Damen und Herren
von der Regierung: die einen, weil sie starrsinnig vom
eingeschlagenen Weg überzeugt sind, und die anderen,
die zwar verstanden haben, dass es so nicht geht, weil ih-
nen der Mut fehlt.
Lassen Sie mich eines ganz klar sagen: Mit den alten
neoliberalen Rezepten wurde die Finanzkrise ausgelöst
statt gelöst. Volkswirtschaften wie Griechenland und
Spanien haben Sie mit Ihrem Glauben an mehr Markt
und mehr Staatsrückbau an den Abgrund manövriert.
Mit den alten neoliberalen Rezepten wurde auch die
soziale Frage nicht gelöst. Was wir erleben, ist, dass
überall dort, wo Unternehmer freie Bahn haben, die
Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird. Die
85 reichsten Menschen der Erde sind reicher als 3,5 Mil-
liarden Mitbürgerinnen und Mitbürger. Fast die Hälfte
des weltweiten Reichtums gehört einer kleinen Gruppe
von 1 Prozent. Auf der anderen Seite verfügt die Hälfte
der Menschheit nur über 1 Prozent des weltweiten Ku-
chens von Besitz und Vermögen. Unfassbar!
Meine Frage lautet also: Warum sollten zwei typisch
neoliberale Instrumente – erstens weniger Verantwor-
tung für die Staaten durch freiwillige Klimaschutzziele
und zweitens die Übertragung des Löwenanteils der Kli-
maschutzfinanzierung auf die Privatwirtschaft – die so
dringliche Menschheitsfrage des Klimawandels lösen?
Schauen wir uns den Grünen Klimafonds an, der ge-
rade als das Klimaschutzinstrument überhaupt gefeiert
wird. Ich möchte Sie alle fragen: Woher kommt der Op-
timismus, dass es ausgerechnet der Grüne Klimafonds
sein soll, der die große Hebelwirkung entfaltet? Ich finde
diese Frage schon berechtigt; denn um die Einzahlungen
der Staaten wird aktuell politisch sehr großes Aufheben
gemacht.
Frau Ministerin Hendricks, Sie haben in Lima mit
dem deutschen Beitrag zum Klimafonds recht ordentlich
Imagepflege betrieben; übrigens genauso wie US-Au-
ßenminister Kerry oder sein australischer Kollege – die
USA und Australien sind Paradebeispiele für neoliberal
regierte Industriestaaten –, die den Klimaschutzprozess
aber weiterhin massiv behindern. Man schmiert sich ge-
genseitig Honig ums Maul, während in Washington der
Teersandboom eingeleitet wird und Berlin sich nicht ein-
mal traut, ein Kohleausstiegsgesetz bzw. keine Exporte
von Kohlekraftwerken zu beschließen.
Bis 2020 also sollen jährlich 100 Milliarden Dollar
zusammenkommen, um Klimaschutzprojekte und die
Anpassung an den Klimawandel in den Entwicklungs-
ländern zu finanzieren – eine gute Sache also. In der Tat
hört sich das ja erst einmal nicht schlecht an: 100 Mil-
liarden im Jahr, staatliche und private Gelder.
Was ich mich aber frage, ist: Kann mit den 100 Mil-
liarden im Jahr diese Mammutaufgabe – die Finanzie-
rung der weltweiten Energiewende und der weltweiten
Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel –
wirklich gestemmt werden? Wie können wir uns darauf
verlassen, dass die Privatinvestoren das quasi im Allein-
gang schaffen, zumal die Zeit, wie wir wissen, drängt?
Frau Ministerin Hendricks sagte nach der Klimakonfe-
renz selber im Deutschlandfunk:
Die öffentlichen Mittel sollen im Prinzip die priva-
ten Investorenmittel hebeln. Das kennt man ja als
Prinzip.
Ich kann Ihnen versichern: Niemand würde sich stär-
ker wünschen als ich, dass dieses Prinzip auch greift.
Schließlich könnte der Grüne Klimafonds ein exzellenter
Umverteilungsmechanismus von Reich zu Arm sein.
Aber es ist nicht klar, ob die 100 Milliarden überhaupt
zusammenkommen; ich sage nur: Stichwort „Schwarze
Null“.
Lassen Sie mich daran erinnern: Die Gelder für den
Klimaschutz müssen zusätzlich zur Verfügung gestellt
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7387
Eva Bulling-Schröter
(C)
(B)
werden. Sie dürfen nicht, wie es schon gängige Praxis
ist, mit den Entwicklungshilfegeldern verrechnet wer-
den. Nicht einmal hier haben die Industrieländer gelie-
fert. Auch Deutschland zahlt nicht wie zugesagt 0,7 Pro-
zent der Wirtschaftsleistung für Entwicklung und
Armutsbekämpfung, sondern nur gut die Hälfte der eige-
nen Zusagen, nämlich 0,38 Prozent. Das ist schäbig.
Einen Durchbruch – so reden Sie, Frau Hendricks,
den Klimagipfel in Peru schön – kann ich nicht erken-
nen. Das sind eigentlich nur Brotkrumen, die der Norden
den Entwicklungsländern hinwirft. Angesichts dessen
braucht man sich nicht zu wundern, dass uns kein Ver-
trauen entgegengebracht wird.
Wir halten also fest, dass es ohne zusätzliches Geld
für die Schwellen- und Entwicklungsländer nicht gehen
wird.
Zu den freiwilligen Klimazielen der Staaten will ich
nur eines sagen: Solange Klimapolitik auch Standort-
politik ist, wird mit Freiwilligkeit nur wenig erreicht
werden. Alles andere zu glauben, wäre wirklich naiv.
Um das zu erkennen, braucht man sich nur andere frei-
willige Selbstverpflichtungen anzuschauen, zum Bei-
spiel die Selbstverpflichtungen im Bereich der Textilin-
dustrie oder die Sozialkodizes bei OECD-Investitionen.
Die Standortpolitik erkennen wir auch in den umwelt-
schädlichen Subventionen, die in Deutschland laut Um-
weltbundesamt mehr als 50 Milliarden Euro betragen,
mit seit 2006 steigender Tendenz.
Also, Frau Hendricks, liebe Regierung: Schenken Sie
den Menschen reinen Wein ein, statt von einem Durch-
bruch in Lima zu sprechen;
denn wir können nur auf der Basis von Erkenntnis han-
deln. Wir müssen ehrlich sein, und dann müssen wir
wirklich handeln.
Danke.
Matern von Marschall ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Bulling-Schröter, ehe ich zu Ihren An-
merkungen komme – wir waren ja gemeinsam mit der
kleinen Delegation, die Frau Höhn geleitet hat, in
Lima –, möchte ich mich bei Ihnen, Frau Ministerin, und
Ihrem großen und engagierten Team sehr herzlich be-
danken. Sie haben, eingebunden in die Führung der Ver-
handlungen durch die Europäische Union, wirklich rund
um die Uhr und, man kann sagen, bis zur Erschöpfung
Ihr Bestes gegeben. Diese Verhandlungen hat Kommis-
sar Cañete nach meinem Eindruck in sehr guter Abstim-
mung mit Ihnen im allerbesten Sinne unserer Zielsetzun-
gen geführt. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei
Ihnen bedanken.
Frau Bulling-Schröter, Sie haben zwar eingangs ge-
sagt, dass Sie für diese Konferenzen etwas übrig haben,
aber anschließend klargemacht, dass sie Ihrer Meinung
nach eigentlich völlig sinnlos sind.
Das sehen wir naturgemäß nicht so. Ich möchte aber vor
allen Dingen auf ein paar absolut irrige Anmerkungen
von Ihnen eingehen: Wir wollen den Graben zwischen
Industriestaaten einerseits und sich entwickelnden Län-
dern andererseits überwinden. Grund dafür ist die Ent-
wicklung in den letzten Jahrzehnten: Vor 30, 40 Jahren
waren für zwei Drittel der weltweiten CO2-Emissionen
die USA, Europa und Russland verantwortlich. Heute ist
es umgekehrt, das heißt, diese Länder sind für nur noch
ein Drittel der weltweiten CO2-Emissionen verantwort-
lich, der Rest der Welt für zwei Drittel. Das bedeutet
übrigens auch, dass wir eine wesentliche Verschiebung
von Wohlstand in viele andere Staaten erlebt haben, ganz
im Gegensatz zu dem, was Sie gerade behauptet haben;
dies ist nämlich der Indikator dafür. Deswegen müssen
sich jetzt aber auch die Länder, in denen der CO2-Aus-
stoß steigt, engagieren. Deswegen brauchen wir die Be-
teiligung aller Länder an der Reduzierung der Emissio-
nen. Das ist das ganz wesentliche Ziel, das wir in Paris
erreichen müssen. Im Gegensatz zum Kioto-Protokoll,
das nur verhältnismäßig wenige Staaten unterzeichnet
haben, müssen wir jetzt die allermeisten Länder zur Teil-
nahme motivieren. Das ist ein ganz wichtiges Ziel. Des-
wegen müssen wir selbstverständlich Kompromisse ein-
gehen.
Wir haben auf der Konferenz von Tuvalu gehört, ei-
nem Inselstaat, der zu ertrinken droht. Wir haben auch
Berichte aus China gehört, einem Land mit einem Mil-
liardenvolk, in dem es Massenproteste gegen eine Luft-
verpestung gibt, die man sich überhaupt nicht vorstellen
kann, die so schlimm ist, dass die Menschen nicht mehr
auf die Straße gehen können. Dort kommt der Druck
also von einer ganz anderen Seite, nicht von engagierten
Klimaschützern, sondern er resultiert aus einer drohen-
den Lebensunfähigkeit. Deswegen müssen wir diese
Pole zusammenbringen.
Ich bin ganz sicher, dass unsere G-7-Präsidentschaft
eine riesengroße Chance ist, die Klimaziele, die wir und
die Europäische Union haben, weiter voranzubringen,
und zwar indem wir den Nationalen Aktionsplan als bei-
spielhaft darlegen. Er eignet sich zur Nachahmung bei
der Präzisierung und der Überprüfbarkeit von Zielen.
Das ist ganz wichtig. Dafür sind wir – die Ministerin hat
es gesagt – gelobt worden. Ich glaube, darauf sollten wir
auch noch einmal gegenüber denjenigen hinweisen, die
sich im Augenblick noch ganz bedeckt halten, zum Bei-
spiel China, und eigene Zielsetzungen und die Möglich-
keiten der Überprüfbarkeit nicht offenlegen. Deswegen
sollten wir auch dort unseren Nationalen Aktionsplan
7388 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Matern von Marschall
(C)
(B)
vorstellen; das Abschlussdokument von Lima trägt ja die
Überschrift „Call for Action“.
Ich glaube übrigens, wir sollten ganz klar sagen, Frau
Bulling-Schröter: Die Wirtschaft ist selbstverständlich
der entscheidende Motor für den Klimawandel. Wettbe-
werbsfähige saubere Technologien sind die Grundlage
für den Klimawandel. Der Green Climate Fund soll
selbstverständlich dazu beitragen, diese zu entwickeln.
Das ist ganz wichtig. Ich glaube, dass das nicht unter-
schätzt werden darf. Ich möchte Ihnen deutlich sagen,
dass wir in Lima zum Beispiel auch mit der dortigen Au-
ßenhandelskammer gesprochen haben, die einen um-
fangreichen Untersuchungsbericht über die Potenziale
der Entwicklung erneuerbarer Energien vorgelegt hat.
Ich habe gesehen: Ja, das bietet uns die Chance, unsere
bereits entwickelten Technologien dorthin zu exportie-
ren. Aber ich bin auch davon überzeugt, dass wir die
Forschungsanstrengungen in Deutschland und in der Eu-
ropäischen Union zur Entwicklung sauberer Technolo-
gien, vor allen Dingen der Speichertechnologien, noch
wesentlich erhöhen müssen.
Die andere Seite – auch das haben Sie angesprochen;
ich will es aber noch einmal am Beispiel unserer Reise
verdeutlichen – ist die internationale Zusammenarbeit.
Die internationale Zusammenarbeit, Herr Minister
Müller, konnten wir in hervorragender Weise am Bei-
spiel Peru nachvollziehen, wo die GIZ eine nachhaltige
Nutzung des Regenwaldes, natürlich unter gleichzeiti-
gem Schutz großer Teile dieses Regenwaldes, mit großer
Wertschöpfungstiefe exzellent vorantreibt. Das ist für
die lokale Wirtschaft gut und trägt im Wesentlichen zum
Klimaschutz bei. Deswegen können wir sagen, dass auch
jenseits des Green Climate Funds besonders diese beiden
Ministerien, das Umweltministerium und Ihr Ministe-
rium, Herr Müller, wesentlich zum Klimaschutz beitra-
gen.
Frau Ministerin, Sie haben eingangs Ban Ki-moon er-
wähnt. Ich möchte noch kurz darauf zu sprechen kom-
men. Wir sollten und wir müssen den Klimaschutz in un-
sere globalen Entwicklungsziele, in die Sustainable
Development Goals, eingebettet sehen. In diesen Sustai-
nable Development Goals, die Ban Ki-moon, die die UN
im nächsten Jahr vorstellen sollen, ist natürlich auch der
Klimaschutz enthalten. Ich bin dankbar, dass Professor
Hacker, Präsident unserer Nationalen Akademie der
Wissenschaften, in diesem Scientific Advisory Board
von Ban Ki-moon sitzt. Ich glaube, dass wir deswegen
nicht nur beim Klimaschutz, sondern auch bei der Ent-
wicklung der Nachhaltigkeitsziele auf einem guten Weg
sind. Diese Dinge gehören zusammen.
Ich komme zum Schluss und fasse noch einmal zu-
sammen. Für eine ambitionierte Klimapolitik sind zwei
Dinge notwendig: eine gute Förderung von Wissenschaft
im Bereich der sauberen Technologien und eine weitere
Stärkung der internationalen Zusammenarbeit, wie sie
Deutschland beispielhaft leistet. Ich glaube, wenn wir
das in den nächsten Monaten in die Welt transportieren,
haben wir auch die Chance, in Paris zu einem guten Ver-
trag zu kommen. Da bin ich sehr, sehr guter Hoffnung.
Danke. Ich wünsche Ihnen einen schönen 4. Advent
und frohe Weihnachten.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Anton Hofreiter das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Hoffnungen, dass bereits in Lima die
Grundlagen für ein vernünftiges Abkommen in Paris ge-
legt werden, waren sehr groß. Diese Hoffnungen sind
leider teilweise enttäuscht worden.
Traurigerweise sind wieder die alten Gegensätze zwi-
schen Industrieländern und manchen Schwellenländern
auf der einen Seite und manchen Entwicklungsländern
auf der anderen Seite aufgebrochen. Insbesondere China
– bei China hatte man ja nach dem Ban-Ki-moon-Gipfel
eine gewisse Hoffnung, dass es eine positivere Rolle
spielt – hat am Ende wieder eine sehr negative Rolle ge-
spielt. Deshalb muss man jetzt ganz viel Energie darauf
verwenden, dass es in Paris gelingt, zu einem vernünfti-
gen Abkommen zu kommen.
Nach dem Scheitern des Abkommens von Kopenha-
gen im Jahre 2009, als der Versuch unternommen wor-
den ist, völkerrechtlich verbindliche nationale Ziele fest-
zulegen, hat man sich auf ein Rahmenabkommen und
einen Mechanismus für verbindliche nationale Ziele ge-
einigt. Deshalb ist ganz entscheidend, was die National-
staaten am Ende leisten und was die Nationalstaaten im
nächsten Jahr melden.
Frau Hendricks, mir wird ja ab und zu vorgeworfen,
dass ich zu schonend mit der Bundesregierung umgehe,
weil ich, wenn Sie mal keinen totalen Unsinn machen,
das auch sage und die Bundesregierung dann lobe; das
ist auch bei Herrn Steinmeier schon einmal vorgekom-
men. Trotz dieses Vorwurfs, der ab und zu an uns gerich-
tet wird, mache ich es diesmal wieder so. Ja, es stimmt:
Deutschland hat auf dieser Klimaschutzkonferenz eine
vernünftige Figur gemacht. Es ist im Großen und Gan-
zen lobenswert, wie Sie sich da verhalten haben. Wir
freuen uns, dass die Tradition, dass Deutschland bei Kli-
maschutzabkommen auf internationaler Ebene eine posi-
tive Rolle spielt, aufrechterhalten bleibt.
Im Rahmen des neuen Mechanismus der internationa-
len Klimaschutzabkommen haben wir uns darauf geei-
nigt, dass umso entscheidender ist – das habe ich bereits
erwähnt –, was die Nationalstaaten am Ende machen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7389
Dr. Anton Hofreiter
(C)
(B)
Damit sind wir in einem Bereich, in dem wir Sie leider
nicht loben können. Wir würden Sie auch da gerne lo-
ben. Aber da sind wir mitten im Elend der nationalen
Klimaschutzpolitik, mitten im Elend der nationalen
Energiepolitik.
Da sind wir mitten im Elend von Merkel und Gabriel,
mitten in dem Elend, dass Sie sich nicht durchsetzen
können.
Wir glauben Ihnen ja sogar, dass Sie wissen, worauf
es letztendlich ankommt. Wir glauben Ihnen ja sogar,
dass Sie guten Willens sind. Aber schauen wir uns die
Zahlen einmal nüchtern an: Germanwatch hat festge-
stellt, dass Deutschland im internationalen Ranking, was
den Klimaschutz angeht, auf Platz 22 zurückgefallen ist.
Auf Platz 22! Deutschland war einmal Vorreiter. Da kön-
nen Sie doch nicht sagen, dass alles wunderschön und
toll ist!
Schauen wir uns an, wie sich die erneuerbaren Ener-
gien entwickelt haben. Deutschland hat extrem viel Geld
investiert, um die erneuerbaren Energien marktreif zu
machen. Es stimmt, wir haben da sehr viel investiert,
und wir sind da in Vorleistung gegangen. Aber jetzt, da
die erneuerbaren Energien an der Schwelle zur Wettbe-
werbsfähigkeit stehen, lassen Sie es zu, dass Merkel und
Gabriel diese Industrie kaputtmachen. Wir haben bei den
Investitionen in Erneuerbare einen massiven Einbruch
zu verzeichnen. Im letzten Jahr waren es minus 56 Pro-
zent. Dieses Jahr schaut es nicht besser aus. Da können
Sie doch nicht davon sprechen, dass wir auf einem guten
Weg sind!
Das Gleiche gilt für die Kohle. Es ist immer noch so,
dass sechs der zehn schmutzigsten Kohlekraftwerke in
Europa in einem einzigen Land stehen. Dieses eine Land
ist Deutschland.
Da können Sie doch nicht davon sprechen, dass wir auf
einem guten Weg sind!
Sie loben sich mit großer Begeisterung für Ihr Ak-
tionsprogramm. Wir haben ja schon vieles zu diesem
Aktionsprogramm, an dem Sie jetzt ein ganzes Jahr lang
„herumgewürgt“ haben, gesagt. Dieses Aktionspro-
gramm ist, vor allem dank Herrn Gabriel und Frau
Merkel, eine Ansammlung von Prüfaufträgen. Wissen
Sie: Wenn im nächsten Jahr die Meldung der verbindli-
chen Klimaschutzziele an die UNO ansteht, dann müs-
sen Sie eine konkrete Zahl nennen. Diese konkrete Zahl
sollte hinterlegt sein. Da kommen Sie am Ende nicht mit
lauter Prüfaufträgen durch.
Im nächsten Jahr besteht eine große Chance. Im
nächsten Jahr hat Deutschland die G-7-Präsidentschaft
inne. Da erwarten wir von dieser Bundesregierung, dass
sie nicht nur bei Klimaschutzabkommen auf internatio-
naler Ebene eine gute Figur macht, sondern wir erwarten
von der Regierung Merkel auch, dass sie, wenn es beim
G-7-Abkommen so richtig hart auf hart kommt, endlich
eine positive Rolle spielt und man sich am Ende auf Vor-
lagen verständigt, die es möglich machen, dass in Paris
die Chance besteht, zu einem völkerrechtlich verbindli-
chen und auch wirksamen Klimaschutzabkommen zu
kommen.
Das nächste Jahr wird in Bezug auf den Klimaschutz
ein arbeitsreiches Jahr. Ich erwarte von unserer Bundes-
regierung, dass sie nicht nur Prüfaufträge erteilt, sondern
dass sie etwas Vernünftiges vorlegt – sowohl für die G 7
als auch für die Konferenz in Paris – und dass die erneu-
erbaren Energien und der nationale Klimaschutz endlich
wieder vorankommen.
In diesem Sinne wünsche ich uns eine frohe Weih-
nacht und einen guten Rutsch ins neue Jahr, damit diese
Bundesregierung im nächsten Jahr endlich ans Arbeiten
kommt.
Danke.
Frank Schwabe erhält nun das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Bulling-Schröter, wenn dem mal so wäre! Ich
stehe dem demokratischen Sozialismus ja durchaus nahe
– das steht jedenfalls so in unserem Programm –, die
Realität ist aber leider eine andere. Es ist eben nicht so,
dass auf den Weltklimakonferenzen eine Unterteilung
zwischen den bösen neoliberalen Staaten und den guten
vermeintlich realsozialistischen Staaten zu machen ist.
Auch Staaten wie China, Equador und Bolivien sind
eben nicht bereit, sich international zu verpflichten. Der
Realsozialismus hat insofern bisher jedenfalls noch kei-
nen Weg zur Lösung der internationalen Klimakrise ge-
zeigt.
Toni Hofreiter, es ist ja auch wichtig, dass die Opposi-
tion hier Kritik übt, aber ich will ausdrücklich würdigen,
7390 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Frank Schwabe
(C)
(B)
dass wir das – auch gemeinsam auf der Klimakonferenz
in Lima – gut gemacht haben.
– Das, was dort erreicht worden ist, wurde von der grü-
nen Delegation und auch hier gewürdigt. – Ich glaube,
man muss schon einmal feststellen: Deutschland ist in-
ternational wirklich führend. Das ist auf dieser Konfe-
renz nicht von uns selbst, sondern von den allermeisten
Ländern festgestellt worden, die dort vertreten waren.
Christoph Bals von Germanwatch hat deutlich ge-
macht: Wir haben selten ein so produktives Miteinander
zwischen der Umweltministerin und dem Wirtschafts-
minister erlebt. – Der Wirtschaftsminister weiß natürlich
auch, wie Klimaverhandlungen laufen und wie wichtig
die internationale Klimapolitik ist. Ich glaube, wir soll-
ten hier im Deutschen Bundestag gemeinsam würdigen,
dass es eine solch gute Voraussetzung in Deutschland
jetzt gibt, sodass wir international und national eine gute
Klimaschutzpolitik machen können.
Wir können lange über Erfolge oder Misserfolge von
internationalen Konferenzen reden. Die Welt verändert
sich in zweierlei Maß: Zum einen wächst der Treibhaus-
gasausstoß kontinuierlich – das ist richtig –, zum ande-
ren sind wir gleichzeitig in der Lage, Energie anders zu
produzieren. Das passiert, und das muss man wahrneh-
men. Im Jahr 2013 sind weltweit mehr Kapazitäten im
Bereich der erneuerbaren Energien hinzugebaut worden
als in den Bereichen Kohle, Gas und Atom zusammen.
Das ist die Grundlage dafür, dass wir auch internatio-
nal zu anderen Verabredungen kommen können, und ich
glaube, das haben wir auf der Konferenz auch gespürt.
Am Ende, in der Endphase der Konferenz, sind dann
aber doch wieder die alten Gräben aufgetreten. Dass wir
in einer neuen Klima- und Energiewelt leben, ist auch
auf der Konferenz in Lima spürbar gewesen, weil alle
Menschen in allen Teilen der Welt mittlerweile mitbe-
kommen, dass der Klimawandel stattfindet – wir in
Deutschland bei einem warmen Weihnachtsfest, die In-
seln, die untergehen, aber auch Länder wie China.
Schwierig ist es deshalb, weil manche Länder wirk-
lich mit fundamentalen Problemen zu kämpfen haben:
ein Land wie Indien, das sich wirklich bemüht, Armut zu
bekämpfen, Länder wie Tuvalu, Kiribati und andere, die
eigentlich dem Untergang geweiht sind und deswegen
bei den Themen „Lost and Damage“ und Versicherungs-
lösungen so hart sind. Sie verhandeln doch nicht deshalb
so hart, weil sie die Deutschen oder andere über den
Tisch ziehen wollen, sondern aus reiner Not heraus. Sie
sagen: Wir brauchen auf diesen internationalen Konfe-
renzen eine Lösung und können nicht nach Hause fah-
ren, ohne etwas präsentiert bekommen zu haben.
Es wird immer lange darüber spekuliert – ich betei-
lige mich ja seit acht Jahren daran; so lange war ich bis
jetzt auf Konferenzen –, was eigentlich eine erfolgreiche
und was eine nicht erfolgreiche Konferenz ist. Es ist
eben kompliziert, wenn fast 200 Länder der Welt mit
völlig unterschiedlichen Bedingungen zusammenkom-
men und sich am Ende auf eine Politik einigen sollen.
Deswegen glaube ich, ist das, was die Ministerin be-
schrieben hat, richtig: Das war ein Schritt in Richtung
Paris 2015, aber natürlich haben wir an der einen oder
anderen Stelle durchaus mehr Hoffnung gehabt.
Von vielen anderen Dingen, die man in diesem Zu-
sammenhang noch ansprechen müsste, was ich aber in
der Kürze der Zeit nicht tun kann, will ich zwei Dinge
ansprechen: Das eine ist eine kritische Geschichte bei
der Konferenz. Es betrifft die Frage der Überprüfung der
Verpflichtungen. Da hätten wir uns deutlich mehr ge-
wünscht. Wir wollen am Ende in Paris ein Abkommen
sehen, mit dem sich die Staaten substanziell zu Klima-
schutzanstrengungen verpflichten.
Wenn nicht genug Mechanismen vorgesehen sind,
heißt das aber nicht, dass man bis Paris 2015 nichts tun
würde. Die Ministerin hat das auch im Umweltausschuss
gesagt. Es gibt genug Menschen auf der Welt, in den In-
stitutionen und NGOs, die in der Lage sind, das zu be-
werten, was Länder wie China, Indien und andere vorle-
gen. Das muss dringend getan werden.
Es ist zwar nur in Ansätzen erkennbar, aber es ist uns
gelungen, die alte Kioto-Welt ein Stück weit aufzubre-
chen. Am Ende haben sich diese alten Gräben wieder
aufgetan. Einige haben sich zurückgezogen und gesagt,
dass wir die Kioto-Welt – also auf der einen Seite die In-
dustriestaaten und auf der anderen Seite die Entwick-
lungs- und Schwellenländer – noch weiter unterteilen
müssen.
Eigentlich ist aber sichtbar geworden – das sind zum
Teil nur kleine Zeichen –, dass sich diese Welt auflöst.
Auch das hat die Ministerin angesprochen. Es waren
Länder wie Peru, Kolumbien, aber auch Mexiko, die ge-
sagt haben: Ja, auch wir sind bereit, uns zumindest mit
kleinen Beiträgen in den Green Climate Fund einzubrin-
gen. – Damit machen diese Länder deutlich, dass sie be-
reit sind, Verantwortung zu übernehmen. Ich glaube, das
macht auch Hoffnung für die nächsten Konferenzen.
Was war eigentlich die Rolle Deutschlands? Deutsch-
land wurde für das Klimaaktionsprogramm gelobt.
Deutschland wurde nicht nur für die Einzahlungen in
den Green Climate Fund gelobt, sondern auch für die
Dynamik, die aus Deutschland heraus entwickelt wurde.
Allerorten wurden wir von allen Delegationen, mit de-
nen wir uns getroffen haben, für das gelobt, was an inter-
nationaler Klimaschutzpolitik gerade in Bezug auf Ent-
wicklungsländer stattfindet und was den Boden für ein
gemeinsames Abkommen bereitet.
Im Namen der sozialdemokratischen MdBs – ich
denke, ich spreche aber auch im Namen aller MdBs –
möchte ich für die wirklich wunderbare Kooperation, die
es gegeben hat, danken. Es ist noch einmal deutlich ge-
worden, wie wichtig es ist, dass auch Bundestagsabge-
ordnete bei solchen Konferenzen dabei sind.
Ich will ausdrücklich Barbara Hendricks dafür dan-
ken, dass sie auf eine unprätentiöse, schnörkellose, ru-
hige, aber unnachgiebige Art Deutschland auf Klima-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7391
Frank Schwabe
(C)
(B)
kurs geführt hat. Wir machen eine gute internationale
Klimapolitik, und das hat sehr viel mit Barbara
Hendricks zu tun. Vielen Dank dafür.
Das war jetzt eigentlich ein schönes Finale, Herr
Schwabe.
Das finde ich auch. Ich darf vielleicht noch zum Ab-
schluss sagen, was zu tun ist.
Wir müssen das 40-Prozent-Ziel einhalten, wie wir es
national vorgesehen haben. Dabei sind wir alle gefor-
dert. Auch das hat die Ministerin gesagt. Alle Minister
sind gefordert. Der gesamte Deutsche Bundestag ist ge-
fordert. Außerdem ist es dringend notwendig, dass wir
die G-7-Präsidentschaft zum Erfolg führen. Dies gilt ins-
besondere für die wichtige Frage der Finanzverantwor-
tung. Ich glaube, bei der Finanzierung können wir viel
leisten. Dann wird es auch ein gutes Abkommen 2015 in
Paris geben.
Herzlichen Dank, frohe Weihnachten und Glück auf!
Anja Weisgerber ist die nächste Rednerin für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man ein Haus baut, dann wird zuerst
das Grundgerüst errichtet. Später kommen die Mauern
hinzu, die Fenster, die Wandfarbe und der Boden. Man
kümmert sich dann um die Details.
Ähnlich ist das bei Klimakonferenzen. Zunächst muss
der Grundstein gelegt werden. Diesen haben wir auf je-
den Fall jetzt in Lima gelegt.
Der Grundstein ist gelegt. Die Textelemente wurden
erstellt, die die Grundlage für die weiteren Arbeiten sind.
Einige Mitgliedstaaten legen ihre Beiträge bis zum März
nächsten Jahres vor. Die anderen folgen bis zum
Sommer. Bis zum Herbst werden alle ihre Beiträge vor-
gelegt haben, die dann auch von der UN veröffentlicht
werden.
Wir haben konkrete Beispiele erarbeitet für die Hin-
tergrundinformationen, die wir bei der Vorlage dieser
Beiträge einfordern werden. Die Bedeutung des Klima-
schutzes vor 2020 wurde hervorgehoben. Für den Grü-
nen Klimafonds wurden sogar mehr als 10 Milliarden
US-Dollar zugesagt. Zudem bekennt sich die Staaten-
gemeinschaft eindeutig zum IPCC-Bericht. Dies haben
sogar die Grünen im Ausschuss gelobt.
All das ist natürlich noch kein Durchbruch. Das sagt
auch niemand. Das sind aber wichtige Zwischenerfolge
auf dem Weg zum Durchbruch, meine Damen und Her-
ren.
Es ist ein erster wichtiger Schritt. Der Weg ist aber
unzweifelhaft noch steinig, und er ist auch noch lang.
Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass auf diesem
Grundstock die Mauern und das Dach errichtet werden,
damit wir am Ende verbindliche Klimaziele in vielen
Mitgliedstaaten der Welt erreichen und auch die Voraus-
setzungen für eine Überprüfbarkeit schaffen. Das, was
wir in Lima dazu erreicht haben, ist mir noch zu wenig.
Deutschland und Europa haben eine besondere Ver-
antwortung. Aber wir nehmen diese Verantwortung auch
wahr, und das ist gut so. Die Bemühungen Deutschlands
werden international wahrgenommen, sei es aufgrund
der finanziellen Zusagen, die wir in Lima noch erhöht
haben, wie auch aufgrund des Klimaaktionsprogramms.
Es war und ist ein Erfolg, dass wir punktgenau am
3. Dezember das Klimaaktionsprogramm vorgelegt ha-
ben. Es enthält nicht nur Prüfaufträge, sondern auch
Maßnahmen, Herr Hofreiter. Ich wiederhole, was ich in
meiner letzten Rede gesagt habe: Wir haben geliefert.
Ich habe damals auch gesagt: Trittin hat seinerzeit die
Ziele nicht erreicht, die sich die Grünen gesetzt haben.
Aber wir müssen weiter daran arbeiten. Darin sind
wir uns einig. Wir bekennen uns zu dem nationalen Kli-
maziel und zeigen, dass wir den Ehrgeiz haben, das Ziel
einzuhalten. Obwohl das vielleicht in manchen Punkten
auch wirtschaftlich durchaus unbequem ist, bekennen
sich alle Fraktionen im Bundestag zu diesem Klimaziel.
Die Regierung schreitet voran, auch mit dem Klimaak-
tionsprogramm.
Dass wir auch damit unsere Vorreiterrolle bekräftigt
haben, zeigt sich daran, dass – Frau Ministerin
Hendricks hat es erwähnt – das Aktionsprogramm in
Lima auch von UN-Generalsekretär Ban Ki-moon meh-
rere Male im Plenum lobend erwähnt wurde. Wir ma-
chen es vor: Wirtschaftswachstum und Klimaschutz
können Hand in Hand gehen.
Das Entscheidende ist doch: Nur dann, wenn wir den
anderen Staaten dieser Welt, die beim Klimaschutz viel-
leicht noch nicht so viel machen, zeigen, dass beides
Hand in Hand geht, importieren andere Staaten vielleicht
die „German Energiewende“, wie es im Englischen
heißt.
7392 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Dr. Anja Weisgerber
(C)
(B)
Wenn wir es so machen, wie die Grünen es wollen,
dann erreichen wir diesen Einklang zwischen Wirt-
schaftlichkeit und Klimaschutz nicht in diesem Maße.
Da bin ich mir sicher.
Was den Emissionshandel betrifft, haben wir schon
erreicht, dass China das Emissionshandelssystem, das
beim Klimaschutz das marktwirtschaftliche Instrument
schlechthin ist, importiert und angekündigt hat, dieses
System zwischen 2017 und 2020 landesweit zu etablie-
ren. Das ist ebenfalls ein wichtiger Erfolg.
Wir müssen weiter darauf hinarbeiten, dass auch andere
Staaten nachziehen.
Entscheidend für den Erfolg der internationalen Kli-
mapolitik ist die Klimafinanzierung. Wir müssen die
Schwellen- und Entwicklungsländer auch finanziell da-
rin unterstützen, ihre Wirtschaft kohlenstoffarm und
energieeffizient aufzubauen. Deutschland war das erste
Land, das seinen Beitrag von 750 Millionen Euro für den
Grünen Klimafonds angekündigt hat. Das waren knapp
10 Prozent der 10 Milliarden Euro, die letzten Endes im
Grünen Klimafonds zusammengekommen sind. Dass es
immer mehr wurde – inzwischen sind es sogar mehr als
10 Milliarden Euro –, ist auch ein Erfolg Deutschlands,
weil wir auch hier vorangeschritten sind. Auch das kann
mitentscheidend sein. Wir brauchen diese finanziellen
Mittel, um die anderen Staaten, denen es nicht so gut
geht, davon zu überzeugen, den Klimaschutz umzuset-
zen.
Bemerkenswert ist dabei auch, dass sich Entwick-
lungsländer wie Peru, Panama und Kolumbien am Grü-
nen Klimafonds beteiligt haben. Es ist zumindest ein
Teildurchbruch, dass die alte Denke „Wer verschmutzt,
der zahlt“ und die Unterscheidung zwischen Industrie-
ländern und Entwicklungsländern zumindest teilweise
überwunden wurden. Auch das ist ein Erfolg der Konfe-
renz in Lima.
Zum Abschluss möchte ich allerdings nicht ver-
schweigen: Ich hätte mir von anderen Staaten mehr ge-
wünscht, insbesondere von China, den USA, Russland
und Indien. Wir dürfen nicht vergessen, dass China und
die USA zusammen mehr als 50 Prozent der weltweiten
Emissionen ausstoßen. Diese Länder müssen noch viel
mehr machen, wenn wir unsere internationalen Klima-
ziele erreichen wollen.
Ich setze hier auf die G-7-Präsidentschaft und den
Einsatz Angela Merkels auf internationaler Ebene.
Dann können wir es vielleicht gemeinsam schaffen, dass
die Klimakonferenz in Paris im nächsten Jahr zu Weih-
nachten erfolgreich sein wird.
Ich verbleibe mit frohen Weihnachtswünschen und
wünsche ein gutes und vor allen Dingen gesundes neues
Jahr 2015.
Vielen Dank.
Die Kollegin Annalena Baerbock ist die nächste Red-
nerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, Sie haben
schon dargelegt: In Lima wurde heiß verhandelt. Am
Anfang wurde viel hineinverhandelt. Am Ende wurde
leider viel herausverhandelt. Ich glaube, wir alle sind
nicht wirklich glücklich aus diesem Prozess herausge-
gangen. Nichtsdestotrotz auch von meiner Seite herzli-
chen Dank an das Ministerium und vor allem an die vie-
len Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in Lima einen
sehr guten Job gemacht haben.
Umso fataler ist aber – Frau Weisgerber, Sie haben
die Bundeskanzlerin schon erwähnt –, dass ausgerechnet
die Bundeskanzlerin den Verhandlerinnen und Verhand-
lern hier in Deutschland in den Rücken fällt. Es war
schon ein starkes Stück, dass Frau Merkel zuerst den Ge-
neralsekretär der Vereinten Nationen im September ver-
prellte, dann auf der Parallelveranstaltung beim BDI im
September das Wort „Klimaschutz“ noch nicht einmal in
den Mund nehmen konnte und es nun – das muss man
sich einmal vorstellen – auf dem CDU-Parteitag, der pa-
rallel zur Weltklimakonferenz in Lima stattfand, erneut
nicht schaffte, das Wort „Klimaschutz“ in den Mund zu
nehmen.
Blöd ist nur, dass dieses Verhalten offensichtlich auf
die SPD abfärbt. Natürlich gibt es engagierte Klimapoli-
tiker bei den Sozialdemokraten, aber leider müssen wir
feststellen, dass der SPD-Parteitag im nächsten Jahr aus-
gerechnet in der heißen Phase der Klimakonferenz in Pa-
ris stattfindet. Das ist vielleicht ein dummer Zufall.
Eventuell ließ sich der Parteitag nicht mehr verschieben.
Eine Woche zuvor findet vielleicht auch noch die
IGBCE-Jahresversammlung statt. Allerdings ist es auf-
fällig, dass sich solche Zufälle häufen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7393
Annalena Baerbock
(C)
(B)
Kein wirklicher Zufall war jedoch, dass ausgerechnet
zu dem Zeitpunkt, wo die Umweltministerin gen Süden
reist, um in einen Verhandlungstext hineinzuschreiben,
dass das IPCC recht hat und dass zwei Drittel der fossi-
len Energieträger unter der Erde bleiben müssen, Herr
Gabriel – er hat leider den Saal verlassen – gen Norden
nach Schweden fährt. Was sagt er dort? Nicht, dass zwei
Drittel der fossilen Energieträger unter der Erde bleiben
müssen. Parallel zu den Verhandlungen in Lima appel-
liert der Bundeswirtschaftsminister an die schwedische
Regierung, dafür zu sorgen, dass Vattenfall vor seinem
Abzug aus der Lausitz noch fünf neue Tagebaue er-
schließt. Das ist mehr als kontraproduktiv. Das ist ein
Verrat an der deutschen Umweltpolitik.
Dafür bekommt Herr Gabriel nicht nur eine grüne Null.
In Lima hätte er dafür den Fossil of the Day bekommen.
Das hätte alles zunichte gemacht, was Sie auf positive
Weise herausgehandelt und im Rahmen der Klimafinan-
zierung angekündigt haben und wofür Sie in Lima den
Ray of the Day bekommen haben.
Wir hoffen sehr, dass Sie nun über Weihnachten zur
Besinnung kommen und wieder in den Fokus stellen,
was Klimapolitik – auch auf nationaler Ebene – bedeu-
tet, und dass das auch – das hat mich leider sehr ge-
schmerzt, liebe Frau Hendricks – bis zur Führungsspitze
Ihres Ministeriums durchdringt. Auch wir Grüne haben
in Lima applaudiert, als Sie an die Welt appellierten: Act
now! – Was mussten wir dann feststellen, als wir hier im
Deutschen Bundestag fragten, ob dieses „Act now“ be-
deutet, dass sich Deutschland nun im Rahmen der G-7-
Präsidentschaft für einen Abbau der Subventionen für
fossile Energieträger einsetzt, wie es in Lima im Ele-
mentetext – ein kleiner positiver Aspekt – steht und be-
schlossen wurde? Leider musste ich von Ihrer Staatsse-
kretärin erfahren, dass die deutsche Übersetzung von
„Act now“ nicht etwa ist: „Ja, wir handeln jetzt im Rah-
men der G 7“, sondern die deutsche Übersetzung von
„Act now“ für die fossilen Subventionen bedeutet: Mit-
telfristig planen wir, daraus auszusteigen. – Das ist mehr
als Doppelmoral, liebe Frau Hendricks.
Live und in Farbe konnten wir das im Wirtschaftsaus-
schuss erleben: KfW-Kohleauslandsfinanzierung. Im
Mai hat das Wirtschaftsministerium angekündigt, dass es
registriert habe, dass andere Länder wie die USA und
Frankreich und internationale Institutionen wie die Euro-
päische Investitionsbank oder die Weltbank gesagt ha-
ben: Wir müssen aus der Kohleauslandsfinanzierung
aussteigen. – Seit Mai warten wir auf den Vorschlag der
Bundesregierung. Wir haben immer wieder nachgefragt.
Er wurde dann für Mittwoch versprochen, und wir durf-
ten Erstes in der Zeitung lesen. Aber dann stand die
Staatssekretärin im Wirtschaftsausschuss leider mit lee-
ren Händen da, weil man sich immer noch nicht ent-
schieden hatte, auch aus der KfW-Kohlefinanzierung
auszusteigen, obwohl Sie, liebe Frau Ministerin, in New
York das schon im September angekündigt haben. Es ist
nicht nur ein Affront gegenüber dem Parlament, es ist
auch unverschämt gegenüber der Weltgemeinschaft,
wenn Sie verkünden: Was schert mich mein Geschwätz
vor den Vereinten Nationen, wenn ich doch unsere eige-
nen Berichte immer wieder aufschieben kann.
In diesem Sinne noch einmal der Appell: Kommen
Sie zur Besinnung! Halten Sie Ihre internationalen Ver-
sprechen, auch beim nationalen Handeln!
Machen Sie Ihre nationalen Hausaufgaben! Hören Sie
auf, sich hinter Polen, China oder sonst wem zu verste-
cken! Setzen Sie national um, was Sie international ver-
sprechen! Das bedeutet: Machen Sie den Subventionsab-
bau zum Thema der G-7-Präsidentschaft, und stellen Sie
die Klimafinanzierung in den Mittelpunkt der Präsident-
schaft!
Sie wissen es ganz genau und haben es selber ange-
sprochen: Das ist der Casus knacksus für die Entwick-
lungsländer. Ja, die 750 Millionen Euro für den Green
Climate Fund sind richtig; aber sie reichen doch nicht
aus, um auf die 100 Milliarden Dollar, die die Industrie-
staaten jährlich versprochen haben, zu kommen. Der
Green Climate Fund hat jetzt 10 Milliarden Dollar, aber
wir brauchen 100 Milliarden Dollar. Die Einzahlungen
in den Green Climate Fund sind einmalig. Sie aber ha-
ben versprochen, 100 Milliarden jährlich zu zahlen.
Diese Versprechen wurden nicht gehalten. Deswegen
misstrauen Ihnen und uns viele Entwicklungsländer. Da
müssen wir heran.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Schauen
Sie sich die Zahlen noch einmal an. Woher sollen wir
das Geld nehmen? 750 Millionen Euro einmalig für den
Green Climate Fund sind Peanuts im Vergleich zur Koh-
leauslandsfinanzierung. Sie stellen 750 Millionen jähr-
lich bereit, damit wir weiterhin Kohle ins Ausland
exportieren können. Das heißt, hier können Sie eine Um-
schichtung vornehmen, weg von den fossilen Energien
hinein in die erneuerbaren. Das wäre der richtige Weg.
Ich wünsche mir sehr, dass im Jahr 2015 das Nachhaltig-
keitsmotto „Global denken, lokal handeln“ auch bei Ih-
nen endlich ankommt.
Herzlichen Dank.
7394 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
(C)
(B)
Nächster Redner ist der Kollege Matthias Miersch,
dem ich zu seinem heutigen Geburtstag herzlich gratu-
liere. Alles Gute!
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielen Dank. – Wir stehen nach Klimakonferenzen re-
gelmäßig an diesem Pult und diskutieren über den Aus-
gang. Ich möchte mich dem Thema etwas anders nähern.
Ich glaube, die Gefahr, die augenblicklich besteht, ist,
dass wir Paris wieder zu hopp oder top hochstilisieren.
So ist das Gefüge immer bei Klimakonferenzen. Wir alle
wollen, um nicht falsch verstanden zu werden, ein er-
folgreiches Abkommen in Paris. Aber viel wichtiger,
glaube ich, ist der Mechanismus, der sehr wohl in Lima
begonnen wurde, nämlich die einzelnen Staaten zu for-
dern, sie zu bitten und einzuladen, ihre Minderungsziele
zu benennen. Ja, richtig, das war viel zu vage bislang;
aber es wird ein Mechanismus in Gang gesetzt werden,
der es ermöglicht, dass sich gerade die aktive Zivilge-
sellschaft ein Bild über Erfolg oder Nichterfolg macht.
Ich finde es sehr wohltuend, Toni Hofreiter, dass die
Bundesregierung für ihre Rolle in Lima gelobt worden
ist. Ich glaube, diese Rolle wäre nicht einnehmbar gewe-
sen, wenn nicht Menschen wie Ban Ki-moon, der UN-
Generalsekretär, anerkennen würden, was hier in den
letzten Monaten tatsächlich geleistet worden ist, liebe
Kolleginnen und Kollegen. Erstmals hat eine Bundesre-
gierung gesagt: Wenn wir national so weitermachen,
dann erreichen wir unser Klimaschutzziel bis 2020 nicht. –
Erstmals liegt dem deutschen Parlament ein ganzer Ka-
talog vor, aus dem hervorgeht, wie diese Klimaschutz-
ziele dennoch erreicht werden können. Ich finde, es liegt
jetzt an uns, zu zeigen, ob wir bereit und in der Lage
sind, den Katalog umzusetzen, der von der Umweltmi-
nisterin, dem Wirtschaftsminister und dem Kabinett ins-
gesamt vorgelegt worden ist. Darauf wird es in den
nächsten sechs Monaten maßgeblich ankommen.
An diesem Beispiel zeigt sich letztlich auch – Herr
Bundestagspräsident, ich nutze die Gelegenheit, es Ihnen
direkt zu sagen –, wie wichtig die Verzahnung zwischen
Regierungskonferenzen und parlamentarischem Agie-
ren ist. Nichts von dem, was in Lima vereinbart worden
ist oder in Paris vereinbart werden könnte, ist de facto
umgesetzt; vielmehr bedarf es nationaler Parlamente, die
die Umsetzung vornehmen. Überdenken Sie deswegen
bitte die Entscheidung des Präsidiums, und klären Sie,
ob es nicht doch angebracht ist, zu Regierungskonferen-
zen wie einer Klimakonferenz stets eine Delegation des
Deutschen Bundestages mitreisen zu lassen! Ich halte
das für unverzichtbar.
Wir haben in den vielen Gesprächen, die wir mit Par-
lamentariern anderer Parlamente geführt haben, auch er-
fahren, dass das Interesse an der deutschen Energie-
wende ungebrochen ist. Zwei Beispiele dafür will ich an
dieser Stelle nennen. Die mexikanische Delegation hat
uns gesagt: Wenn ihr, die ihr euch auf dem gleichen
Breitengrad wie Alaska befindet, die Nutzung erneuer-
barer Energien zustande bringt, dann müssten wir Mexi-
kaner das mit der Photovoltaik doch erst recht zustande
bringen. Ich finde, das ist ein schönes Beispiel.
Die Amerikaner haben sich bei uns, der Bundesrepublik
Deutschland, ausdrücklich dafür bedankt, dass wir mit
unserem Erneuerbare-Energien-Gesetz dafür gesorgt ha-
ben, dass die Kosten für die Einführung erneuerbarer
Energien von einer Nation wie der Bundesrepublik
Deutschland geschultert werden. Das ist ein weiteres
positives Signal dafür, dass die internationale Staatenge-
meinschaft anerkennt, dass Deutschland hier weiterhin
eine Vorreiterrolle einnimmt. – Diese beiden Beispiele
zeigen mir, dass wir viel Reputation haben, jetzt aber
auch viel auf dem Spiel steht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden in den
kommenden Monaten beweisen müssen, dass das, was
wir hier machen, kein Selbstzweck ist, dass sich Klima-
schutz, wirtschaftliche Erneuerung und wirtschaftlicher
Fortschritt nicht ausschließen, dass, im Gegenteil, Wirt-
schaft und Umweltschutz nur gemeinsam erfolgreich
sind, dass wir in Deutschland weiterhin eine starke Wirt-
schaft haben können, weil wir in erneuerbare Energien
investieren und auf Effizienz setzen.
Da dies der letzte Plenartag in diesem Jahr ist: Ich
wünsche mir, dass gerade angesichts der UN-Klimakon-
ferenz in Paris eine breite Dynamik entsteht – nicht nur
in Europa, sondern auf der ganzen Welt –, das zu prakti-
zieren, was bei uns in Deutschland bereits geschieht,
nämlich Innovationen und die Behandlung von Gerech-
tigkeitsfragen zu verbinden. Klimaschutz sollte im Jahr
2015 das Thema sein, das über allem steht; denn wir
brauchen wirksame Schritte. Wir haben nur eine Welt,
und wir dürfen sie nicht fahrlässig verspielen. In diesem
Sinne wünsche ich mir, dass der Klimaschutz durch die
Pariser Konferenz eine neue Dynamik gewinnt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun der Kollege Peter Stein für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wie soll man die Ergebnisse der 20. Klimakonfe-
renz in Lima bewerten? Ich glaube, wer auf einen klar
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7395
Peter Stein
(C)
(B)
umrissenen Entwurf für ein weltweites Klimaabkommen
mit konkreten Zielen und Zusagen gehofft hatte, wurde
enttäuscht. Aber war das wirklich zu erwarten? Aber
auch ein völliges Scheitern der Konferenz, wie es bei
solchen Konferenzen immer droht, ist nicht eingetreten.
Man hat sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner ge-
einigt. Das Gesicht des peruanischen Umweltministers
zeigte deutlich die Spuren der Anstrengungen, die al-
leine dazu nötig waren.
Der Klimaprozess geht weiter. Das Abschlussdoku-
ment hält uns als Weltgemeinschaft den Weg frei, um im
nächsten Jahr in Paris zu einer besseren Einigung zu
kommen. Wir in Deutschland sind mit unseren sehr am-
bitionierten Klimazielen sehr gut aufgestellt und wollen
Vorreiter und Vorbild bleiben. Das ist kein leichter Weg;
aber wir stehen unerschütterlich zu diesen Zielen – und
das quer durch alle Ministerien und Fraktionen.
Es ist dringend notwendig, dass es solche selbst aufer-
legten Ziele gibt. Ich fordere hier andere Staaten auf, im
nächsten Jahr ebenso verbindliche Ziele zu benennen.
Wir gestehen dabei selbstverständlich jedem Land das
Recht auf eine eigene Entwicklung zu. Dazu haben wir
ja unsere Konzepte und Projekte in der Entwicklungszu-
sammenarbeit. Schon alleine deshalb wäre es als para-
dox zu bezeichnen, wenn wir bei unserer Hilfe und Un-
terstützung die dafür erforderliche Entwicklungsfreiheit
in den Zielländern und deren staatliche Souveränität
missachten würden.
Diese sind Grundvoraussetzungen des gemeinsamen Ar-
beitens und des gegenseitigen Vertrauens. Verantwor-
tung bedeutet, dass wir aus dem Handeln der Vergangen-
heit lernen und anderen Ländern bessere Lösungen
anbieten, als sie uns selber noch vor Jahren zur Verfü-
gung standen.
Deutschland steht zu seiner Industriegeschichte. Un-
sere Art und Weise der industriellen Entwicklung über
einen Zeitraum von 150 Jahren und der damit einherge-
hende Ressourcenverbrauch darf und muss heute nicht in
gleicher Weise wiederholt werden. Mein Eindruck ist,
dass ein Umdenken eingesetzt hat und dies in Lima vie-
len Ländern bewusst geworden ist, auch wenn man sich
noch nicht auf einen verbindlichen Entwurf für Reduk-
tionsziele einigen konnte. Das kann jedoch auch moti-
vierend wirken, weil alle spätestens in Paris Farbe be-
kennen müssen. Es ist gut, dass der Druck geblieben ist
und dieser nicht durch einen Entwurf mit zu niedrig an-
gesetzten Zielvorgaben wegverhandelt wurde. Das Er-
gebnis von Lima ist nämlich auch, dass das 2-Grad-Ziel
von keinem Teilnehmer mehr infrage gestellt wird.
Aufgabe unserer Entwicklungspolitik ist es, die Fol-
gen des Klimawandels wahrzunehmen und darauf zu re-
agieren. Die Menschen und Kommunen des Südens ha-
ben meistens keine Möglichkeit, die Anpassungskosten
zu bezahlen und auf Katastrophen rechtzeitig reagieren
zu können. Den Entwicklungsländern wurde daher in
Lima zugesichert, dass die Anpassungskosten und der
Umgang mit Schäden und Verlusten durch den Klima-
wandel eine wichtige Rolle im Post-2015-Prozess spie-
len werden. Es ist daher zu begrüßen, dass die starre
Aufteilung in Industrie- und Entwicklungsländer im Ab-
schlussdokument zumindest im Ansatz neu organisiert
wurde.
Was die Schwellenländer betrifft, ist ein differenzier-
ter Blick angebracht. Es ist aus meiner Sicht nicht wirk-
lich schlüssig, dass ein Land wie China darauf besteht,
klimatechnisch immer noch als Entwicklungsland zu
gelten. Ich denke, zu einem weltweiten Einflussstreben
gehört auch, globale Verantwortung zu übernehmen.
China hat im Vorfeld der Konferenz freiwillige Klimazu-
sagen gemacht und will den Anteil der erneuerbaren
Energien steigern. Nichtsdestotrotz ist gerade China ei-
nes der Länder, die bis Paris dringend liefern müssen.
Das werden wir auch einfordern, wenn China weiterhin
globaler Partner bleiben will.
Was müssen wir also tun? Zunächst einmal müssen
wir alle eine Grundverantwortung übernehmen. Das ist
in Lima mit dem Abschlussdokument erneut geschehen.
Dann muss ein Weg gefunden werden, wie Kosten ge-
recht verteilt und Entwicklungskorridore eingerichtet
werden können. Wichtig ist, nicht unsere Art der Ent-
wicklung in der Vergangenheit technisch zu wiederho-
len, sondern es anders, zeitgemäß und besser zu machen
und den nötigen wirtschaftlichen Aufschwung nicht auf
alte Verfahren, sondern auf neue, nachhaltige Technolo-
gien zu stützen. Im Rahmen der deutschen Entwick-
lungszusammenarbeit engagieren wir uns hier bereits
sehr stark bei konkreten Klimaprojekten und wollen dies
auch weiterhin tun. Seit 2013 haben wir dafür knapp
2 Milliarden Euro bereitgestellt. Fast 90 Prozent davon
kamen aus dem Etat des BMZ.
Schließlich haben wir auch Alternativen zu betrach-
ten, zum Beispiel die Verlagerung der Klimapolitik von
der internationalen auf die nationale oder lokale Ebene.
Städte und Regionen machen heute schon selbstständig
Fortschritte in der Klimapolitik, und das wollen wir un-
terstützen.
Ein Beispiel sind für mich die großen Städte – da gibt es
die sogenannte C40-Initiative –, die bereits gemeinsame
Strategien erarbeiten, wie Treibhausgase im urbanen
Raum eingespart werden können. Sie warten dabei nicht
auf nationale Vorgaben ihrer Heimatstaaten. Das ist ein
wichtiger Schritt, denke ich; denn bis zu 80 Prozent der
Emissionen finden in urbanen Räumen statt. Auch das
muss in Paris stärker herausgehoben werden.
7396 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Peter Stein
(C)
(B)
Wir müssen uns stets gewiss sein, dass ohne klare Er-
gebnisse beim Klimaschutz gewaltsame Konflikte und
der Kampf um Ressourcen ständige Begleiter unseres
Nichthandelns sein werden. Die Klimaverhandlungen
haben daher auch – das möchte ich unterstreichen; es ist
bereits angeklungen – friedens- und sozialpolitisch ganz
enorme Bedeutung.
Einhergehend mit der Bevölkerungsentwicklung ist
das 2-Grad-Ziel die vielleicht größte Herausforderung
der Menschheitsgeschichte. Die werden wir nur gemein-
sam bestehen können. Auf dem Weg wünsche ich uns
und unserer Bundesregierung alles erdenklich Gute.
Viele schöne Tage, vor allem schöne Feiertage und
guten Rutsch!
Danke, dass Sie mir zugehört haben.
Ich erteile das Wort der Kollegin Bärbel Kofler für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Viele Kollegen im Saal haben zu den Emissionsminde-
rungszielen Stellung genommen – zu Recht. Ich möchte
darauf hinweisen, dass auch die Ministerin selbst dazu
Stellung genommen und gesagt hat, dass wir alle bis Pa-
ris unsere Hausaufgaben noch machen müssen, damit
wir wirklich zu einer erfolgreichen Minderung der CO2-
Emissionen und der CO2-Äquivalente gelangen.
Ich möchte mich als Entwicklungspolitikerin aber auf
die Fragen des Anpassungsmechanismus, des Anpas-
sungsfonds, und die Rolle Deutschlands dabei konzen-
trieren, weil ich glaube, dass dies nicht genug gewürdigt
werden kann. Ich finde es sehr positiv – nicht nur ich,
sondern gerade auch Climate Action Network –, dass
Deutschland nach Jahren, in denen es schon einmal das
„Fossil des Tages“ war, mit Barbara Hendricks und ih-
rem Engagement für den Anpassungsfonds auf der Kli-
makonferenz in Lima zum „Ray of The Day“, zum Son-
nenstrahl des Tages, wurde.
Die zusätzlichen 50 Millionen Euro bzw. 60 Millio-
nen Dollar aus Deutschland sind von großer Bedeutung.
Das wird klar, wenn man das Gesamtvolumen des An-
passungsfonds kennt und weiß, dass er seit 2010 erst
265 Millionen Euro ausschütten konnte, um für die
Ärmsten der Armen zu arbeiten, für die Schaffung einer
Lebensgrundlage für viele Menschen, die nicht verant-
wortlich sind für das, was vor ihrer Haustür an durch den
Klimawandel ausgelösten zerstörerischen Momenten
passiert. Dieser Anpassungsfonds ist also von großer Be-
deutung.
Ich glaube, es wird auch von großer Bedeutung sein,
beim Green Climate Fund den Anpassungsanteil von
50 Prozent so auszugestalten, dass die Entwicklungslän-
der Mitsprache bei der Verwaltung haben. Das ist ganz
wichtig und entscheidend.
Ich möchte ein Beispiel nennen. Der Anpassungs-
fonds hat sehr erfolgreich im Senegal agiert. Es gibt gute
Beispiele, die zeigen, wie man Menschen, ganzen Re-
gionen, aber auch der Wirtschaft in den Ländern ins-
gesamt helfen kann, wieder Tritt zu fassen. Es gibt dort
Regionen mit Küstenerosion, steigendem Meeresspiegel
und der Überschwemmung von Ackerland. Durch das
Engagement des Anpassungsfonds, des Adaptation Fund,
konnten die Lebensgrundlagen von Bauern und Fischern
wieder stabilisiert werden. Es ist an dieser konkreten
Stelle gelungen, einen Damm zu bauen. Hinter diesem
Damm konnten Flächen renaturiert werden und versal-
zene Böden für die Menschen wieder nutzbar gemacht
werden, sodass sie wieder zur Ernährungssicherung bei-
tragen. Das ist Zukunft für die Menschen. Sie müssen
von Tag zu Tag ihr Leben in den Griff bekommen. In
dem konkreten Beispiel aus dem Senegal haben 5 000 Bau-
ern von den Anpassungsmaßnahmen in der Weise profi-
tiert, dass sie wieder eine Lebensgrundlage für sich und
ihre Familien haben. Das finde ich unterstützenswert.
Ich finde das auch deshalb unterstützenswert, weil das
gerade die Beispiele sind, die den beiden anderen „Rays
of The Day“, den beiden anderen Sonnenstrahlen von
Lima, nämlich Peru und Kolumbien, den Weg erleich-
tern, ihre eigenen Mittel einzubringen, um Anpassungs-
maßnahmen voranzubringen. Das ist es doch, worüber
wir immer wieder diskutiert haben, nämlich dass jeder
einen Beitrag leisten muss und leisten kann, dass aber
die Länder, deren Finanzkraft besser ausgestattet ist und
die aus ihrer historischen Verantwortung heraus dazu
verpflichtet sind, mit entsprechend höheren Beiträgen
vorangehen müssen. Das ist hier geschehen. Das finde
ich wirklich unterstreichenswert und besonders wichtig.
Es wird jetzt darauf ankommen, den Anpassungs-
fonds auch zukünftig mit finanziellen Mitteln auszustat-
ten, damit er seine Arbeit weiter leisten kann. Wir wis-
sen, seine Finanzierung ist an die Abgabe aus dem CO2-
Zertifikate-Handel gebunden. Durch den niedrigen Preis
kommt es zu einer entsprechend geringen Ausstattung
des Anpassungsfonds. Leider kommt es aber nicht zu ei-
ner entsprechend geringeren Verschmutzung und Zerstö-
rung von weiten Teilen der Erde. Das heißt, wir müssen
höhere Mittel für den Anpassungsfonds erreichen, und
selbstverständlich müssen wir zu entsprechenden Mit-
teln für den Green Climate Fund kommen. Es geht um
eine Emissionsverminderung – das ist selbstverständlich –,
aber eben auch um Anpassung.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7397
Dr. Bärbel Kofler
(C)
(B)
Ich glaube, wir haben einige Chancen, uns für das
nächste Jahr finanziell anders aufzustellen, für die Kon-
ferenz in Paris das Vertrauen der Entwicklungsländer zu-
rückzugewinnen und bei dem Prozess der SDGs, der
Nachhaltigkeitsziele, im Sommer bei der Finanzierungs-
konferenz in Addis Abeba, aber auch bei der Beschrei-
bung der Ziele, zu denen sich die Weltgemeinschaft ver-
pflichtet, im September in New York dieses Thema und
die Finanzierung in den Mittelpunkt zu stellen, es mit
Entwicklungspolitik zu verzahnen, unseren Haushalt in
Ordnung zu bringen und einen Beitrag zu leisten, Ent-
wicklungsmittel und Klimamittel gemeinsam zu erhö-
hen.
Barbara Hendricks, du hast eingangs gesagt, Klima-
politik sei Friedenspolitik. Ich möchte ergänzen: Klima-
politik und Entwicklungspolitik sind Friedenspolitik.
Darauf müssen wir uns im nächsten Jahr konzentrieren.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Thomas Gebhart für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! In Lima hat mir am Rande der Konferenz ein junger
Mann aus Bangladesch geschildert, wie insbesondere die
Menschen, die dort an der Küste leben, bereits heute un-
ter den Auswirkungen des Klimawandels leiden, weil
sich etwa die Stürme häufen und intensiver werden. Dies
ist nur ein Beispiel von vielen. Der Klimawandel verän-
dert die Lebensbedingungen auf dieser Erde. Die War-
nungen der Wissenschaftler liegen auf dem Tisch. Wir
müssen das Klima schützen, und es braucht Maßnah-
men, um den Klimawandel insgesamt auf ein Maß zu be-
grenzen, das als verantwortbar gilt. Dies ist für uns
Christdemokraten ein Kernanliegen unserer Politik.
Der Klimawandel ist ein weltweites Problem. Wir al-
lein können es nicht lösen. Auf uns entfallen gut 2 Pro-
zent der weltweiten Emissionen. Das ist ein globales
Problem, deshalb muss es auf die Tagesordnung der
Weltpolitik. Deswegen ist es richtig, dass die Vereinten
Nationen jedes Jahr zu diesen weltweiten Klimakonfe-
renzen einladen. Es gibt keine vernünftige Alternative
dazu.
Wir brauchen diese Konferenzen. Wir müssen verabre-
den, was möglich ist, und das Ziel bleibt richtig: Wir
brauchen im nächsten Jahr einen weltweiten Vertrag
über den Klimaschutz. Lima war ein Schritt in diese
Richtung, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Auch ich möchte ausdrücklich der deutschen Delega-
tion, denjenigen, die dort für Deutschland und für die
Europäische Union verhandelt haben, den Beamten aus
den Ministerien, danken. Sie haben eine großartige Ar-
beit geleistet.
Wir brauchen diese Konferenzen. Gleichwohl hat
Lima einmal mehr gezeigt, dass es Grenzen dessen gibt,
was diese Konferenzen leisten können. Wir haben das
förmlich spüren können, als wir Samstagnachmittag in
diesem großen Zelt zusammensaßen. Die Delegationen
aller Länder waren vertreten, zwei Wochen nach Beginn
der Konferenz, 18 Stunden nach dem eigentlichen Ende
der Konferenz. Man dachte, jetzt wäre endlich ein Kom-
promiss gefunden. Er war schon abgeschwächt. Es sollte
zu einer Entscheidung kommen, und dann haben sich
reihenweise Länder zu Wort gemeldet – von Tuvalu über
Malaysia bis hin zu China –, die gesagt haben: Wir sind
nicht einverstanden. – Man konnte spüren, wie die unter-
schiedlichen Interessen der Länder aufeinanderprallen:
der Länder, die für weitgehenden Klimaschutz streiten,
der Länder, die vor allem wirtschaftliche Entwicklung
wollen, und wiederum anderer Länder, die vor allem fi-
nanzielle Hilfen wollen, um sich an die Folgen des Kli-
mawandels anpassen zu können.
Wir haben es also bei den 196 Ländern, die dort ver-
treten sind, mit unterschiedlichen Interessen zu tun.
Hinzu kommt: Bei diesen Verhandlungen gilt das Ein-
stimmigkeitsprinzip; das heißt, Entscheidungen können
immer nur im Konsens getroffen werden. Das macht den
Prozess unglaublich zäh. Deswegen sage ich ganz klar:
Wer von diesen Konferenzen, so wichtig sie sind, den
ganz großen Wurf erwartet, der wird enttäuscht werden.
Wer von diesem Vertrag – wir alle hoffen, dass wir ihn
im nächsten Jahr bekommen; er ist wichtig – den ganz
großen Wurf erwartet, wird enttäuscht werden. Wir brau-
chen diese Konferenzen; aber sie alleine können die Pro-
bleme nicht lösen. Wir brauchen mehr als diese Konfe-
renzen. Da stellt sich natürlich die Frage: Was muss
hinzukommen?
Ich bin überzeugt, dass wir das Problem nur dann lö-
sen können, wenn es uns gelingt, diesen Grundkonflikt
aufzulösen, wenn es uns gelingt, die Interessengegen-
sätze zu überwinden, wenn es uns gelingt, Umwelt- und
Klimaschutz auf der einen Seite und Wohlstand und Ent-
wicklung auf der anderen Seite vernünftig zusammenzu-
bringen, zu verbinden. Das ist die große Aufgabe. Dies
geht nur mit Technologien wie erneuerbaren Energien,
Speichertechnologien, hochmodernen Recyclinganlagen
und vielem mehr. Forschung und Entwicklung, Innova-
7398 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Dr. Thomas Gebhart
(C)
(B)
tionen, moderne Technologie sind wesentliche Schlüssel
zur Lösung der Probleme.
Wir haben uns in Deutschland mit der Energiewende
längst auf den Weg gemacht. Es liegt an uns, zu zeigen,
dass es geht, dass es gelingt, einen wachsenden Anteil an
erneuerbaren Energien in Übereinstimmung zu bringen
mit einer starken Wirtschaft, mit einer starken Industrie-
nation. Es ist unsere Aufgabe, dies zu zeigen. Nur wenn
uns das gelingt, haben wir eine Chance, dass uns andere
Länder folgen. Nur dann haben wir eine Chance, dass
dieses Modell für andere attraktiv wird. Das haben in
Lima die vielen Gespräche mit anderen Delegationen
einmal mehr ganz klar und deutlich gezeigt.
Frau Baerbock, Sie sagten, die Kanzlerin nehme das
Wort „Klimaschutz“ noch nicht einmal in den Mund. Ich
sage Ihnen: Die Kanzlerin hat das Thema Klimaschutz
längst in die Hand genommen. Wir handeln. Darauf
kommt es letzten Endes an. Meine herzliche Bitte: Las-
sen Sie uns weiter daran arbeiten! Wir dürfen nicht nach-
lassen; denn es geht um sehr, sehr viel.
Da es die letzte Sitzung vor Weihnachten ist, wünsche
auch ich uns allen ein gesegnetes Weihnachtsfest.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Sabine Zimmermann , Klaus
Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Gute Arbeit und eine sanktionsfreie Mindest-
sicherung statt Hartz IV
Drucksache 18/3549
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Die Stimmung ist erkennbar friedlich. Es wäre den-
noch ganz schön, wenn der Schichtwechsel zum nächs-
ten Tagesordnungspunkt zügig zum Abschluss gebracht
werden könnte, damit ich die erste Rednerin aufrufen
kann. Das ist in diesem Fall die Kollegin Katja Kipping,
die jetzt für die Fraktion Die Linke das Wort erhält.
Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Vor knapp
zehn Jahren trat das Vierte Gesetz für moderne Dienst-
leistungen am Arbeitsmarkt, eher bekannt unter dem Na-
men Hartz IV, in Kraft. Wir nehmen dieses Jubiläum
zum Anlass für eine kritische Bilanz.
Herausgekommen ist ein System, mit dem die Ar-
beitslosen diszipliniert und bestraft werden.
So spricht inzwischen Peter Hartz über Hartz IV. Die
Bilanz von Hartz IV ist also offensichtlich so verhee-
rend, dass sich selbst der Namensgeber davon distan-
ziert.
Bei der Einführung vor über zehn Jahren hieß es: Die
Hartz-Reformen sollen eine bessere Vermittlung in Ar-
beit ermöglichen. Tatsache ist jedoch: Im Vergleich zum
Vorgängersystem hat sich die Verweildauer im Sozial-
system verlängert. Jeder zweite erwerbsfähige Betrof-
fene ist länger als vier Jahre auf Hartz IV angewiesen.
Von einer schnelleren Vermittlung kann also überhaupt
gar keine Rede sein. Genau deswegen kann es nicht wei-
tergehen mit Hartz IV.
Außerdem hieß es bei der Einführung: Das Arbeits-
losengeld II soll ausreichend materielle Sicherung ge-
währleisten. In der offiziellen Bilanz der Bundesagentur
heißt es noch heute:
Die gute Idee der Grundsicherung war, … eine an-
gemessene Pauschale zu zahlen.
Eine „angemessene Pauschale“ – so weit die Theorie.
Wer in der Praxis jedoch auf Hartz IV angewiesen ist,
dem fehlt es oft an wirklich notwendigen Dingen. Bei-
spielsweise fehlt jedem zweiten Betroffenen das Geld
für notwendige medizinische Leistungen, die nicht von
der Kasse übernommen werden.
Falls einer hier im Saal ernsthaft meint, 391 Euro im
Monat seien ausreichend, möchte ich ihn mit der Zu-
schrift einer 64-jährigen Frau konfrontieren. Renate S.
schrieb mir vor einigen Tagen:
Ich lebe von Grundsicherung, bin 64 Jahre alt, habe
gesundheitliche Probleme und sitze viel einsam in
meiner Wohnung, weil ich am sozialen Leben nicht
teilnehmen kann. Jetzt ist Weihnachten, und ich
möchte gern meinen Sohn und meinen Enkel besu-
chen, weiß aber nicht, von was ich kleine Ge-
schenke kaufen soll.
Eine Großmutter weiß nicht, wovon sie ihrem Enkel zu
Weihnachten ein kleines Geschenk kaufen soll! Das ist
die Realität von Hartz IV, und damit kann man sich nicht
abfinden.
Ja, Hartz IV, das bedeutet Armut statt gesellschaftli-
che Teilhabe, Bedarfsgemeinschaften mit schikanöser
Überprüfung der Wohn- und Beziehungssituation statt
individuelle Rechte, fragwürdige 1-Euro-Jobs statt gute
Arbeit, statt ordentliche öffentliche Beschäftigung,
Sanktionen statt soziale Grundrechte. Kurzum: Zehn
Jahre Hartz IV sind zehn Jahre zu viel. Es ist höchste
Zeit für einen sozialpolitischen Neustart,
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7399
Katja Kipping
(C)
(B)
auch deshalb, weil Hartz IV der Ideologie folgt, der Ein-
zelne sei schuld an seiner Erwerbslosigkeit. Die Opfer
des Arbeitsmarktes werden so noch als Schuldige abge-
stempelt. Ausdruck dieser falschen Ideologie ist die
Sanktionspraxis.
Sanktionen bedeuten, dass das ohnehin niedrige Ar-
beitslosengeld II gekürzt werden kann – erst um 30,
dann um 60 Prozent – und schließlich ganz weggestri-
chen werden kann. Allein die Androhung einer mögli-
chen Sanktion hängt wie ein Damoklesschwert über den
Betroffenen. Wo Existenzangst um sich greift, da ver-
schärft sich das gesellschaftliche Klima. Mitmenschlich-
keit, Humanität und Demokratie haben es deswegen
umso schwerer, und darüber können wir nicht einfach
hinweggehen.
Die Linke meint: Sanktionen untergraben das Grund-
recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum. Sie ge-
hören deswegen abgeschafft, und zwar sofort.
Da wir gerade über Sanktionen reden: Bemerkens-
wert ist doch, dass 44 Prozent der Klagen gegen Sanktio-
nen ganz oder teilweise stattgegeben wird. Das heißt:
Selbst gemessen an den harten herrschenden Gesetzen,
werden viele Sanktionen noch zu Unrecht verhängt; und
wir reden hier über Menschen, die kein finanzielles Pols-
ter haben. Deswegen meinen wir: Damit muss Schluss
sein.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so steht
es in Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Ich meine, daraus
folgt auch: Die Würde eines Menschen hängt nicht da-
von ab, wie verwertbar er für den Arbeitsmarkt ist. Zu
einem würdevollen Leben gehört auch das Recht, die ei-
gene Erwerbsarbeit frei zu wählen, statt in irgendeinen
schlecht bezahlten Job oder in irgendeine fragwürdige
Maßnahme gepresst zu werden.
Zu einem würdevollen Leben gehört auch, dass alle,
auch diejenigen, die keinen Erfolg auf dem Erwerbsar-
beitsmarkt hatten, als Bürger bzw. Bürgerin aufrechten
Ganges an der Gesellschaft teilhaben können und sich
nicht aus Scham oder Geldnot in den eigenen vier Wän-
den verkriechen müssen. Auch deswegen sagen wir
heute erneut: Hartz IV muss abgeschafft und durch gute
Arbeit und eine sanktionsfreie Mindestsicherung ersetzt
werden. Unter 1 050 Euro im Monat droht Armut.
Ja, werte Damen und Herren von der Sozialdemokra-
tie, Hartz IV ist „zum Symbol für soziale Kälte“ gewor-
den, so schrieb Andrea Nahles, die heutige Sozialminis-
terin, noch im Jahr 2009. Wenn das mehr als Lyrik, mehr
als purer Wahlkampf war, dann frage ich mich, warum
Sie vor Hartz IV so dermaßen kapituliert haben, warum
Sie keinerlei ernsthafte Veränderungen an Hartz IV vor-
nehmen. Ich meine – man kann es nicht oft genug sagen –:
Zehn Jahre Hartz IV sind zehn Jahre zu viel. Es ist
höchste Zeit für einen sozialpolitischen Neustart. Es ist
an der Zeit, Hartz IV zu entsorgen und durch eine sank-
tionsfreie Mindestsicherung, die sicher vor Armut
schützt, zu ersetzen.
Vielen Dank.
Als nächster Redner hat der Kollege Professor
Matthias Zimmer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Biswei-
len kann man eine gewisse Säuerlichkeit der Mitteilung
bei denjenigen ausmachen, die mit großer Geste das
Schlimmste prophezeit haben
und nun konstatieren müssen, dass sie nicht nur Unrecht
hatten, sondern dass sich alles zum Positiven gewendet
hat.
Eine solche Mitteilung in kurzer Form hat die Tageszei-
tung Die Welt angesichts des ersten Jahres der Großen
Koalition am Mittwoch zum Besten gegeben. Dort heißt
es beinahe ungläubig, im vergangenen Jahr seien
400 000 neue Arbeitsplätze entstanden,
trotz der Großen Koalition.
Man spürt förmlich das Unbehagen des Schreibers, das
ihm Unerklärliche erklären zu müssen. Aber mehr als
die Erklärung, die Politik könne damit nichts zu tun ha-
ben, mehr will ihm nicht gelingen.
Ähnlich, nur umfangreicher, ist der Antrag der Lin-
ken, den wir beraten: eine einzige Abrechnung mit
Hartz IV, und ein durchaus verzerrtes Bild. Die Wirk-
lichkeit sieht so aus: Die Arbeitsmarktreformen waren
erfolgreich, die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland
ist vorbei, viele Menschen haben in den letzten Jahren
erfolgreich in Arbeit vermittelt werden können, heute
haben so viele Menschen in Deutschland wie noch nie
Arbeit.
7400 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Dr. Matthias Zimmer
(C)
(B)
Und, verehrte Frau Kipping, das sieht auch Peter Hartz
so.
Ich gebe zu, meine Damen und Herren, an der einen
oder anderen Stelle haben wir nachsteuern müssen. Das
betrifft etwa die Instrumentenreform, und wir sind in der
Diskussion darüber, wie wir hier einige Dinge vereinfa-
chen können.
Herr Professor Zimmer, lassen Sie eine Zwischen-
frage zu?
Aber selbstverständlich.
Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Vielen Dank, Herr
Kollege Zimmer, dass Sie die Zwischenbemerkung zu-
lassen. Es geht mir darum, Ihnen in kurzer Zeit vier
Punkte zu nennen, zu denen ich Sie um eine kleine Stel-
lungnahme bitte.
Sie haben eben zu Beginn Ihrer Rede auf die Zeitung
Die Welt hingewiesen. Meine erste Bemerkung: Die Zei-
tung Die Welt hat heute ein Interview mit Peter Hartz
veröffentlicht. Er wird unter anderem gefragt, was bei
der Umsetzung der Beschlüsse der Hartz-IV-Kommis-
sion denn falsch gelaufen sei. Immerhin: Am 16. August
2002 hat Hartz hier in Berlin im Französischen Dom die
Kommissionsergebnisse vorgestellt. Ich war damals da-
bei. Peter Hartz sagt in der Welt: Wir – also die Hartz-
Kommission – haben damals – 2002, also vor zwölf Jah-
ren – vorgeschlagen, Hartz IV auf einem deutlich höhe-
ren Niveau anzusetzen, nämlich bei 511 Euro. Wenn ich
jetzt einmal die Inflation beiseitelasse und nur die Stei-
gerung berücksichtige, die absolut vorgenommen wor-
den ist, dann müsste der Hartz-IV-Regelsatz ab dem
1. Januar 2015 bei 565 Euro liegen. Das hat sozusagen
der Chef dieser Kommission gefordert. Wir Linken for-
dern eine sofortige Anhebung des Regelsatzes auf
500 Euro. Sie sehen: Wir sind eigentlich noch zu be-
scheiden. Dazu bitte Sie ich einmal etwas zu sagen.
Zweitens sagt er zu den Vorschlägen der Hartz-Kom-
mission:
Wir hätten Jobcenter und Arbeitsagenturen bei der
Bundesagentur für Arbeit in einer Hand gelassen.
Dass ein Teil der Jobcenter von den Kommunen be-
trieben wird, ist ineffizient.
Das ist ein Originalzitat von Peter Hartz. – Was sagen
Sie dazu, dass es zu dieser völlig unsachlichen Trennung
gekommen ist, nur weil die CDU/CSU das im Bundesrat
hineinverhandelt hat? Darauf hätte ich gerne eine Ant-
wort.
Dritte Bemerkung. In der Frankfurter Allgemeinen
vom heutigen Tag wird darauf hingewiesen, dass es Ver-
lierer und Verliererinnen und Gewinner und Gewinnerin-
nen von Hartz IV gibt. Hier steht – ich zitiere –, dass in
Haushalten von Langzeitarbeitslosen die Dinge so lie-
gen, dass „nur 13 Prozent der Gewinner“ sind, „drei
Viertel dagegen mit der Reform um mindestens 25 Euro
im Monat schlechter“ abschneiden, also 25 Euro und
mehr im Monat weniger haben – das ist bei den Ein-
kommensgrößen wirklich viel –, und vor allen Dingen
Singles bzw. Alleinstehende Verlierer dieses Systems
sind. Und – das steht da auch –:
Zu den Verlierern zählen ebenso ältere Langzeitar-
beitslose.
Sie hätten nach dem alten System im Durchschnitt
1 200 Euro erhalten, heute haben sie nur noch 950 Euro.
Insgesamt gesehen bedeutet Hartz IV laut diesem Artikel
in der Frankfurter Allgemeinen für viele Menschen aus
der Mittelschicht, die früher Arbeitslosenhilfe bezogen
haben, eine deutliche Verschlechterung.
Wir müssen dabei auch berücksichtigen, dass Hartz IV
auch Teil der Altersabsicherung ist, quasi der Grund-
sicherung im Alter. Der Satz liegt bundesweit im Durch-
schnitt bei gerade einmal 721 Euro; das Minimum sind
jeweils 638 Euro durchschnittlich in Thüringen, und das
Maximum sind durchschnittlich 816 Euro in Hamburg.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Zimmer, stellen
Sie sich vor: Davon müssen Sie Essen, Trinken, Klei-
dung und Miete bezahlen.
– Ich habe drei Minuten, Frau Kollegin.
Theoretisch müssen auch noch Heizung, Energie, Warm-
wasser und das, was wir gesellschaftliche Teilhabe nen-
nen und normale Menschen Cappuccino, Oper, Kino
oder Bier nennen, bezahlt werden. Ich weiß nicht, wie
Sie hier im Saal das von 721 Euro hinkriegen wollen.
Letzte Bemerkung. Ich finde es absolut zynisch, dass
die Bundesagentur für Arbeit eine Karte mit der Auf-
schrift „10 Jahre Hartz IV“ als Weihnachtskarte ver-
schickt. Das ist wirklich zynisch. Hartz IV hat keine
Probleme gelöst. Hartz IV hat einen riesigen Niedrig-
lohnsektor hervorgebracht, Leute in Armut gestürzt. An-
gesichts dessen auch noch so eine Weihnachtskarte zu
verschicken, finde ich unmöglich. Auch dazu hätte ich
gerne eine Bemerkung von Ihnen.
Ich freue mich auf Ihre Antworten.
Herzlichen Dank.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7401
(C)
(B)
Herzlichen Dank, Herr Kollege Birkwald. – Ich
glaube, das war die längste Zwischenfrage, die ich je-
mals zu Gehör bekommen habe.
Ich bin versucht, das mit der längsten Antwort zu beden-
ken, die es im Deutschen Bundestag je gegeben hat.
Aber im Geiste vorweihnachtlicher Freude halte ich
meine Antwort auf diese Fragen eher kurz.
Erster Punkt. Ich nehme mit großem Vergnügen zur
Kenntnis, dass Peter Hartz um eine Ehrenmitgliedschaft
bei den Linken zukünftig vermutlich nicht herumkom-
men wird. Ich halte trotzdem aber 511 Euro für deutlich
zu hoch, und zwar schlicht und einfach, weil es zwischen
einer Sozialfürsorgeleistung und einem Arbeitsentgelt
einen Abstand geben muss, damit sich die Aufnahme der
Arbeit auch lohnt.
Als zweiten Punkt sprachen Sie das Interview mit
Peter Hartz an, in dem er sagt, Jobcenter und Arbeits-
agenturen sollten in einer Hand bleiben. Ich komme aus
dem Bundesland Hessen, in dem es die meisten Options-
kommunen in der Bundesrepublik gibt. Ich halte es noch
nicht für ausgemacht, dass die Bilanz so eindeutig ist.
Ich kenne Optionskommunen, die hervorragend arbei-
ten, die effizient und schnell Menschen wieder in Arbeit
bringen, und ich kenne ganz normale Kommunen, in de-
nen das nicht der Fall ist. Insofern, glaube ich, sollten
wir uns das sehr genau anschauen und hier nicht pau-
schal darüber urteilen, was richtig und was falsch ist.
Der letzte Punkt, den ich hier aufgreifen will: Gewin-
ner und Verlierer. Auch ich habe den Artikel in der FAZ
gelesen. Dort steht aber auch, lieber Herr Kollege
Birkwald, dass das Institut der deutschen Wirtschaft Fol-
gendes festgestellt hat:
Die Hälfte der Bezieher der sozialen Mindestsiche-
rung hätte heute allen Grund, eine „Abschaffung“
von Hartz IV zu fürchten.
Aber genau das fordern Sie ja heute. Weiter heißt es:
Zugleich wären ohne Hartz IV mehr Menschen ei-
nem Armutsrisiko ausgesetzt.
Das zeigt mir ganz deutlich: Ihr ganzer Antrag ist
ideologisch bedingt und hat mit der Wirklichkeit in die-
sem Lande nichts zu tun.
Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, ich gebe zu: Wir haben bei
Hartz IV und der Arbeitsmarktreform an der einen oder
anderen Stelle nachsteuern müssen.
Das betrifft die Instrumentenreform; darüber diskutie-
ren wir im Moment.
Das betrifft Missbrauch. Wir haben Missbrauch bei
der Arbeitnehmerüberlassung unterbunden, und wir wer-
den uns auch die Werkverträge noch einmal genau anse-
hen.
Und wir haben einen gesetzlichen Mindestlohn be-
schlossen. Er wird ab 1. Januar 2015 weitgehend gelten.
Der Mindestlohn ist von einer übergroßen Mehrheit in
unserer Bevölkerung begrüßt worden, und wir haben ihn
mit einem breiten Konsens im Deutschen Bundestag ver-
abschiedet.
Der Mindestlohn ist normativ geboten und ordnungs-
politisch richtig. Deshalb fehlt mir ein wenig Verständ-
nis, wenn es einige gibt, die im Mindestlohn einen
Fremdkörper in der sozialen Marktwirtschaft sehen.
Erst recht aber fehlt es mir an Verständnis, wenn der
FDP-Vorsitzende Lindner
sich in einem Interview wie folgt äußert: Die Tatsache,
dass der Mindestlohn mit nur fünf Gegenstimmen be-
schlossen worden ist, sei, so Lindner, nicht nur Politik
wie in der DDR-Volkskammer, sondern auch ein Ab-
stimmungsergebnis wie in der Volkskammer. – Ich bin
mir sicher, dass Herr Lindner den Unterschied zwischen
Volkskammer und Bundestag kennt.
Einen Unterschied will ich ihm aber noch erklären: In
der Volkskammer hatten die Liberalen eine Bestandsga-
rantie, im Deutschen Bundestag nicht.
Im Deutschen Bundestag gilt, was auch in der Wett-
bewerbsordnung der sozialen Marktwirtschaft gilt: Wer
ein Produkt anbietet, das keiner haben will, scheidet aus
dem Markt aus. Offensichtlich sind schneidig-rittmeis-
terliche Herablassung und eine Politik der sozialen Kälte
keine nachgefragten Produkte im politischen Wettbe-
werb – und das ist auch gut so.
Aber zurück zum Antrag der Linken. Darin enthalten
ist ein alter Bekannter: die sanktionsfreie Mindestsiche-
rung. Diese haben Sie schon oft gefordert, aber durch
stetige Wiederholung wird das Argument nicht besser.
7402 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Dr. Matthias Zimmer
(C)
(B)
Darauf will ich kurz eingehen. Ich denke, da ist zunächst
einmal das Argument, dass eine sanktionsfreie Mindest-
sicherung der erste Schritt in ein bedingungsloses
Grundeinkommen ist.
Das halte ich für grundsätzlich falsch und verderblich.
Es löst nämlich letztendlich den engen Zusammenhang
von Arbeit und Einkommen auf – und das wollen wir
nicht.
Ein zweites Argument. Laut einer Umfrage aus Nord-
rhein-Westfalen empfindet die übergroße Mehrzahl der
Langzeitarbeitslosen Sanktionen als gerechtfertigt, auch
wenn sie selbst davon betroffen sind. Warum sie dies
tun, bleibt zunächst offen. Man kann vermuten, dass
viele im Inneren davon überzeugt sind, dass der Staat für
Leistungen auch Gegenleistungen erwarten kann und
dass dies für ein geordnetes Gemeinwesen legitim ist,
wenn und solange diese Gegenleistungen erbracht wer-
den können. Wenn schon die Betroffenen selbst ganz
überwiegend der Meinung sind, dass Sanktionen legitim
sind, warum sollten wir daran rütteln? Würden wir damit
nicht einen moralischen Konnex auflösen, der für die
meisten Menschen auch heute noch selbstverständlich
ist?
Und, noch einen Schritt weitergehend: Lösen wir,
wenn wir Sanktionen ganz fallen lassen, nicht auch den
Kontext der Legitimation bei denjenigen auf, deren
Steuergelder Hartz IV finanzieren? Sind es nicht gerade
die Sanktionen, die für die Leistungserbringer ein wich-
tiges Argument dafür sind, dass es im Bereich der So-
zialfürsorge auch fair zugeht? Brauchen wir die Sanktio-
nen nicht auch, um diesen Leistungserbringern deutlich
zu machen: „Wir gehen sorgfältig mit dem Steuergeld
um und wollen Missbrauch unterbinden“?
Das bedeutet freilich nicht, dass wir uns die Wirksam-
keit der Instrumente und auch der Sanktionen nicht ge-
nauer anschauen. Da ist es zunächst richtig, die Einglie-
derungsvereinbarungen als das Herzstück der Integration
in den Arbeitsmarkt zu stärken und deutlich zu machen,
wann und unter welchen Umständen Sanktionen erfol-
gen können oder werden. Das gibt beiden Seiten Verhal-
tenssicherheit und sorgt hoffentlich auch für ein Stück
mehr Rechtssicherheit.
Sanktionen sind keine Strafen, die vom Himmel fal-
len, sondern eine Rechtsfolge und damit folgerichtig.
Die Androhung von Sanktionen ist Ausdruck einer ge-
rechtfertigten Erwartungshaltung, insofern diese mit ei-
ner staatlichen Leistung verknüpft werden. Sie sind inte-
graler Bestandteil des Begriffs der Solidarität dort, wo
das Prinzip der Gegenseitigkeit gilt. Der Verzicht auf
Sanktionen wäre im Ergebnis eine Auflösung der gesell-
schaftlichen Solidarität. Ich frage mich ernsthaft, wie
eine Partei, für die der Begriff der Solidarität so zentral
ist, dies wollen kann.
Wir als Union, für die Solidarität ein Gestaltungsprinzip
der Gesellschaft ist, wollen das nicht.
Ich glaube, wir sind mit dem, was wir bereits verab-
schiedet haben und was wir im Koalitionsvertrag noch
vereinbart haben, auf einem guten Weg zur Vollbeschäf-
tigung und zur Annäherung an das Ideal guter Arbeit.
Wenn wir dafür von der publizistischen Rechten, der
politischen Linken und den liberalen Marktradikalen ge-
scholten werden, zeigt mir das: Wir liegen mit unserer
Politik gar nicht so falsch. „An ihren Früchten sollt ihr
sie erkennen“, heißt es. Die Marktradikalen und die Lin-
ken haben nur Dörrobst anzubieten:
Das ist zu wenig für eine wahrhaft soziale Marktwirt-
schaft und eine moderne Gesellschaft wie die Bundes-
republik Deutschland.
Jetzt spricht Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Damen und Herren! Die ehrliche Bilanz von zehn
Jahren Hartz IV, so ist gesagt worden: Das heißt, bei
Hartz IV war nicht alles schlecht, liebe Katja Kipping.
Es haben tatsächlich Leute davon profitiert, die ver-
deckte Armut ist gesunken. Aber, lieber Matthias
Zimmer: Es ist auch nicht alles gut – wahrlich nicht.
Die Armut ist gestiegen, die Langzeitarbeitslosigkeit hat
sich verfestigt, und die Existenzängste in diesem unse-
rem Land haben zugenommen; auch das muss man zur
Kenntnis nehmen. Unsere Position dazu ist, dass Hartz
IV tatsächlich grundlegend reformiert werden muss.
In dem Antrag, den die Linken vorlegen, findet man
viel Altes, viele Forderungen, die sie schon immer erho-
ben haben. Eine Stelle ist aber interessant. Der Satz „Das
Hartz-IV-System muss weg“ steht nach wie vor drin,
aber neuerdings heißt es „mittelfristig“. Mittelfristig soll
Hartz IV abgeschafft werden. Das heißt, da gibt es jetzt
eine gewisse Anschlussfähigkeit an die SPD und an uns.
Und kurzfristig soll es eine Hartz-IV-Reform geben. Ich
werte das als weiteren Schritt in Richtung Realitätstaug-
lichkeit.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7403
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(C)
(B)
Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Kanzlerin
Merkel die Wahl 2017 nicht wieder gewinnt.
Was Sie vorschlagen, ist aber durchaus problema-
tisch. Sie fordern einen Regelsatz von 500 Euro. Das be-
deutet – da gebe ich dem Kollegen Zimmer durchaus
recht –, dass der Anreiz, zu arbeiten, geringer bzw. die
Belohnung von Arbeit schwieriger wird. Die Hartz-IV-
Hürde zu überwinden, wird damit noch schwieriger. Und
zur Finanzierung sagt die Linke – wieder einmal – auch
nichts.
Ich beschränke mich nur auf vier Punkte, die aus un-
serer Sicht geändert werden sollten:
Erstens. Der Regelsatz ist deutlich zu niedrig; er
reicht für soziokulturelle Teilhabe nicht aus. Deswegen
muss der Regelsatz sehr schnell deutlich erhöht werden.
Punkt zwei. Das ganze System ist viel zu kompliziert.
Wir haben ein sehr komplexes, sehr intransparentes Sys-
tem der Grundsicherung eingeführt. Das muss dringend
entschlackt, entbürokratisiert und vereinfacht werden,
und zwar, damit der Zugang zu Hartz IV vereinfacht
werden kann, vor allen Dingen aus Sicht der Betroffenen
und nicht, wie es die Bundesregierung vorhat, nur aus
Verwaltungssicht. Das Interesse der Betroffenen muss da
im Vordergrund stehen.
Dritter Punkt. Wir müssen dafür sorgen, dass sich Tä-
tigkeiten, Erwerbstätigkeit und eigene Aktivitäten, mehr
lohnen und stärker belohnt werden. Es kann nicht sein,
dass wir mittlerweile eine Niedriglohnfalle haben, in der
Leute infolge von Aufstockung und Hartz-IV-Bezug ste-
cken bleiben. Diese Niedriglohnfalle müssen wir drin-
gend überwinden.
Der Mindestlohn war hier ein Schritt in die richtige
Richtung.
Wir finden es aber wichtig und richtig, dass sich auch
Teilzeiterwerbs- und selbstständige Tätigkeiten lohnen.
Diese müssen stärker belohnt werden.
Punkt vier. Es ist wichtig, das Ziel der Existenzsiche-
rung bei der Grundsicherung wieder nach vorne und ins
Zentrum zu stellen. Das ist das eigentliche Ziel der
Grundsicherung. Ehrlicherweise muss man sagen: Die
Vermischung von Existenzsicherung und Arbeitsmarkt-
politik war auch ein Fehler, über den wir noch einmal
nachdenken müssen.
An dieser Stelle ist es für uns auch wichtig, dass wir
über das gesamte Sanktionsregime noch einmal grundle-
gend nachdenken. Deswegen fordern wir ein Sanktions-
moratorium, dass also die Sanktionen ausgesetzt werden
und noch einmal genau darüber nachgedacht wird, wie
man ein Sanktionsregime so ausgestaltet, dass der
Grundbedarf, der zur soziokulturellen Teilhabe notwen-
dig ist, tatsächlich immer gesichert ist.
Das sind für uns die zentralen Punkte. Für uns steht
die Freiheit des Einzelnen, des Individuums, im Mittel-
punkt. Eine stabile Grundsicherung ist die Vorausset-
zung für ein selbstbestimmtes Leben. Das ist für uns das
Wichtigste.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen frohe Weih-
nachten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Als nächster Redner spricht Dr. Martin Rosemann
von der SPD.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Antrag der
Linken werden ja viele Aspekte der Grundsicherung für
Arbeitsuchende angesprochen. Deshalb will ich als ers-
ter Redner der SPD auch etwas grundsätzlicher auf die
Reformen und ihre Wirkungen eingehen.
Um es gleich am Anfang klar zu sagen: Die Arbeits-
marktreformen der rot-grünen Bundesregierung waren in
ihrem Grundsatz richtig und notwendig.
Erinnern wir uns einmal zehn Jahre zurück: Die Ar-
beitsmarktreformen wurden nicht aus Jux und Tollerei
gemacht, sondern sie waren die Konsequenz daraus, dass
die Sockelarbeitslosigkeit in unserem Land von Kon-
junkturzyklus zu Konjunkturzyklus immer weiter zuge-
nommen hat. Heute können wir sagen, meine Damen
und Herren: Genau das haben wir mit den Arbeitsmarkt-
reformen beendet.
Deutschland ist damit vom kranken Mann Europas zum
starken Mann Europas geworden, und kein anderes Land
in Europa hat die Finanz- und Wirtschaftskrise so gut
überstanden wie Deutschland.
Darauf sind wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-
kraten stolz.
7404 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Dr. Martin Rosemann
(C)
(B)
Meine Damen und Herren, die Zusammenlegung von
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war, ist und bleibt rich-
tig, auch schon deshalb, weil wir damit Hunderttausen-
den von Menschen überhaupt erst den Zugang zur Ar-
beitsförderung ermöglicht haben.
Natürlich haben wir auch Fehler gemacht; das bleibt bei
einer solch umfassenden Reform nicht aus.
Es war ein Fehler, nicht bereits mit der Einführung
von Hartz IV einen gesetzlichen Mindestlohn als untere
Auffanglinie einzuführen.
Wir haben diesen Fehler aber erkannt und korrigiert. Ab
dem 1. Januar kommenden Jahres gilt ein flächende-
ckender gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland, und
das ist verdient und nicht geschenkt.
Ja, es war auch ein Fehler, bei der Leiharbeit Ausnah-
men vom Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit im
gleichen Betrieb“ vorzusehen. Auch diesen Fehler haben
wir erkannt. Deshalb werden wir im kommenden Jahr
gemeinsam mit unserem Koalitionspartner die Leihar-
beit regulieren und die Werkverträge gleich mit.
Ja, es ist eine andauernde Aufgabe, im Zusammen-
hang mit dem SGB II die Rechtspraxis für die Jobcenter
handhabbar zu machen und den betroffenen Menschen
immer wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Deswegen
haben wir die Praktiker sprechen lassen, und wir werden
im kommenden Jahr die Vorschläge der Arbeitsgruppe
„Rechtsvereinfachung im SGB II“ umsetzen. Alle Vor-
schläge dienen dem Bürokratieabbau in den Jobcentern.
Viele der Vorschläge verbessern die Situation der Leis-
tungsbeziehenden. Besonders wichtig für meine Frak-
tion ist es, bei den Sanktionen zu einer besseren Praxis
zu kommen und insbesondere die verschärfte Sanktio-
nierung von Jugendlichen zu beenden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wir
müssen auch einmal die Kirche im Dorf lassen. Sie re-
den immer vom Sanktionsregime. Ich glaube, die Öf-
fentlichkeit sollte wissen, dass die Sanktionsquote bei
gerade einmal 3 Prozent liegt.
Ich finde, die größte und wichtigste Aufgabe ist es
– das kommt in Ihren Reden leider immer wieder zu
kurz –, Menschen, die im ALG-II-Bezug sind, wieder
eine wirkliche Perspektive auf dem ersten Arbeitsmarkt
zu eröffnen.
Dabei sind wir nicht ganz erfolglos gewesen. Die Quote
der Langzeitarbeitslosen ist von 2007 bis 2013 von
4,1 Prozent auf 2,5 Prozent zurückgegangen. Darauf ru-
hen wir uns aber nicht aus, weil wir erkennen, dass es
seit 2011 kaum noch Verbesserungen gibt. Da wollen wir
ansetzen.
Meine Damen und Herren, Langzeitarbeitslosigkeit
hat viele Gesichter: die Alleinerziehende ohne Ausbil-
dung mit schlechten Deutschkenntnissen, den 55-Jähri-
gen mit gesundheitlichen Einschränkungen und veralte-
ten Qualifikationen oder den unter 25-Jährigen ohne
Ausbildung mit Bewährungsauflagen und Schuldenpro-
blemen. Deshalb brauchen wir individuelle Antworten.
Genau da setzen wir Sozialdemokraten, da setzt unsere
Ministerin mit ihrem Eckpunktepapier zur Bekämpfung
der Langzeitarbeitslosigkeit an.
Das verlangt drei Dinge:
Erstens eine gute Beratung und Betreuung in den Job-
centern. Deswegen haben wir den Personalkörper stabi-
lisiert. Deswegen lassen wir 1 000 Stellen aus dem Pro-
gramm „50plus“ im System. Deshalb setzen wir auf
Personalentwicklung und Qualifizierung.
Zweitens ein besseres und zielgenaueres Fördern. Das
heißt zum Beispiel die Förderung einer Ausbildung über
das Programm „Zweite Chance“. Das heißt zum Beispiel
auch eine engere Verzahnung von Arbeits- und Gesund-
heitsförderung oder die gezielte Akquise von Stellen für
Langzeitarbeitslose mit begleitendem Coaching und
Nachbetreuung.
Drittens Angebote für diejenigen, die trotz aller Be-
mühungen keine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt
haben. Deswegen werden wir ein zusätzliches Pro-
gramm mit 10 000 Stellen und Lohnkostenzuschüssen
von bis zu 100 Prozent auflegen.
Meine Damen und Herren, wenn ich den Antrag der
Linken lese, muss ich sagen: Deutlich zu kurz gesprun-
gen. Unsere Arbeitsministerin ist in ihrem Handeln
heute bereits deutlich weiter, als Sie verbal gekommen
sind.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen ein frohes
Weihnachtsfest.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7405
(C)
(B)
Als nächster Redner spricht der Kollege Matthäus
Strebl von der CDU/CSU.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Wir beraten heute über den Antrag mit
dem Titel „Gute Arbeit und eine sanktionsfreie Mindest-
sicherung statt Hartz IV“ der Fraktion Die Linke. Inhalt-
lich sehe ich relativ wenig Neues; denn Ihre Forderun-
gen ähneln doch sehr Ihren bisherigen Anträgen.
Natürlich geht es wieder um Themen wie die Ab-
schaffung von Arbeitslosengeld II und Sanktionen, Wei-
terbildung für alle Leistungsempfänger, Stärkung von
Rechtspositionen und so weiter. Alles nichts Neues, was
Sie nicht schon einmal gefordert haben und womit wir
uns nicht schon wiederholt beschäftigt haben. Bei dieser
Gelegenheit möchte ich einmal fragen, wie oft man ei-
gentlich inhaltsgleiche Anträge stellen darf.
Erst gestern Abend haben wir zu später Stunde ebenfalls
einen Antrag der Fraktion Die Linke, der schon einmal
gestellt wurde, beraten.
Ich vermute, es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir
uns mit einem ähnlichen Antrag von Ihnen beschäftigen
werden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, hervorheben
möchte ich, dass sich die Große Koalition natürlich auch
mit diesen Themen der Arbeitsmarktpolitik ausführlich
beschäftigt, jedoch unter anderen Gesichtspunkten.
Trotz der guten Arbeitsmarktzahlen gehört die Langzeit-
arbeitslosigkeit zu den großen Herausforderungen, de-
nen wir uns mit aller Anstrengung widmen müssen und
widmen werden. Lassen Sie mich auf einige Ihrer ohne-
hin bekannten Forderungen eingehen.
Sie fordern die Abschaffung der Bedarfsgemein-
schaft.
Damit ignorieren Sie die Lebenswirklichkeit. In einer
durchschnittlichen Familie kann doch von dem wechsel-
seitigen Willen ausgegangen werden, dass jeder fürei-
nander einsteht und Gegenstände des täglichen Lebens
teilt. Anscheinend bewerten Sie das bei Familienmitglie-
dern im Leistungsbezug anders.
Ich habe mich im Deutschen Bundestag bereits mehr-
fach zu Sanktionen beim Arbeitslosengeld II geäußert.
Ich habe mir zwar jedes Mal auch die Argumente der
Fraktion Die Linke anhören müssen, meine Meinung hat
sich aber nicht geändert.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei den
Sanktionen handelt es sich um eine notwendige Konse-
quenz bei Fehlverhalten, von der im Übrigen – in An-
führungszeichen – nur 3 Prozent aller Leistungsbezie-
her betroffen sind. Es handelt sich also nicht um eine
Problematik, von der die breite Masse der Gesellschaft
oder auch alle Leistungsbezieher betroffen sind. Viele
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Jobcentern reagieren
nur mit Kopfschütteln auf Ihre Vorschläge.
Herr Strebl, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kolle-
gin Kipping zu?
Frau Präsidentin, ich möchte meine Rede im Zusam-
menhang vortragen.
Jedes Fehlverhalten im Leben hat eine Konsequenz,
und jedes Mitglied der Gesellschaft muss einen Beitrag
leisten. Wenn wir Sanktionen abschaffen, dann können
wir fast das bedingungslose Grundeinkommen einfüh-
ren. Das würde aber den Menschen eine falsche Bot-
schaft vermitteln. Es würde den Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern suggerieren: Wer arbeitet, ist der Dumme.
Und den Leistungsbeziehern würden wir den Eindruck
vermitteln: Deutschland braucht euch eigentlich nicht,
und wir erwarten nichts mehr von euch.
Ich wehre mich vehement gegen die Aussage, dass
die Einführung von Hartz IV zu einer Entrechtung der
Leistungsbezieher führt.
Wir leben weiterhin in einem Rechtsstaat, in dem die
Bürgerinnen und Bürger ihre durch das Grundgesetz und
in anderen Gesetzen verankerten Rechte wahrnehmen
können.
Beim Arbeitslosengeld II besteht eben auch das Nach-
rangigkeitsprinzip. Das heißt, zunächst muüssen das ei-
gene Ersparte und andere Sozialleistungen zur Finanzie-
rung des Lebensunterhaltes in Anspruch genommen
werden. Sind andere Mittel nicht vorhanden, können
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes bean-
tragt werden. Dazu gehört auch, die Hilfebedürftigkeit
offenzulegen. Dieses Vorgehen halte ich für naheliegend.
Wenn Sie beispielsweise bei einer Bank einen Kredit be-
antragen, müssen Sie auch Ihr Einkommen offenbaren.
Zum Schluss: Ich halte Ihre umfangreichen Forderun-
gen für nicht finanzierbar und der Bevölkerung für nicht
vermittelbar. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
7406 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
(C)
(B)
Die Kollegin Kipping erhält das Wort zu einer Kurz-
intervention.
Werter Kollege, Sie waren nicht so flexibel, eine Zwi-
schenfrage zuzulassen. Von den Erwerbslosen verlangen
Sie deutlich mehr Flexibilität.
Sie haben über Bedarfsgemeinschaften gesprochen
und uns unterstellt, dass wir nicht wissen, dass Men-
schen in Familien füreinander einstehen. Das wissen wir
natürlich. Aber ich glaube, man muss noch einmal aus-
führen, was „Bedarfsgemeinschaft“ – das ist ein sehr bü-
rokratischer Begriff – eigentlich heißt. Es bedeutet, dass
Menschen, die zusammenleben, automatisch unterstellt
wird, dass es sich um eine Einstandsgemeinschaft han-
delt. Davon sind auch sehr unterschiedliche Formen des
Zusammenlebens betroffen.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Eine alleinerziehende
Mutter lernt einen neuen Partner kennen, der bereits ein
Kind aus einer vorangegangenen Beziehung hat. Die
beiden ziehen zusammen, was in einer solchen Situation
wahrscheinlich ohnehin keine leichte Entscheidung ist,
und in dem Moment wird automatisch das Einkommen
des neuen Partners auf ihre Regelleistungen angerech-
net, obwohl er womöglich noch Unterhaltspflichten ge-
genüber dem anderen Kind hat. Das führt dazu, dass
auch Leute mit einem sehr geringen Einkommen mit für
die anderen aufkommen müssen, was eine enorme finan-
zielle Einbuße bedeutet. Sie müssen auch für die neu
hinzugekommenen Kinder in den Patchwork-Familien
haften.
Was Sie den Menschen durch das Konstrukt der Be-
darfsgemeinschaft abverlangen, bedeutet, dass sie sich
sehr schnell auf Armut einlassen müssen, wenn sie zu-
sammenziehen. Deswegen steht die Bedarfsgemeinschaft
der Bildung von Familien entgegen und ist alles andere
als familienfreundlich.
Herr Strebl, möchten Sie antworten? – Gut. Dann fah-
ren wir in der Debatte fort. Als nächste Rednerin hat
Sabine Zimmermann von der Linken das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Professor Zimmer, ich schätze Sie
sehr, aber ich glaube, dass Sie unseren Antrag nicht gele-
sen oder nicht begriffen haben. Es geht hier nicht um das
bedingungslose Grundeinkommen,
sondern darum, dass die Menschen eine menschenwür-
dige Existenzsicherung sanktionsfrei bekommen. Es geht
darum, dass die Menschen ihr Leben in Würde gestalten
können. Begreifen Sie endlich, dass es nicht um das be-
dingungslose Grundeinkommen geht!
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
Sie sagen: Zehn Jahre Agenda 2010 einschließlich
Hartz-Reformen sind ein Grund zum Feiern. Wir sagen:
Dank der Hartz-Reformen ist die Spaltung zwischen
Arm und Reich in diesem Land viel größer geworden.
Sie sagen: Mit 43 Millionen gibt es so viele Erwerbstä-
tige wie nie zuvor.
Wir sagen: Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ist
heute genauso hoch wie im Jahr 2000. Also hat das Ar-
beitsvolumen nicht zugenommen. Die vorhandene Ar-
beit ist bloß auf mehr Schultern verteilt worden.
Die Menschen haben teilweise zwei oder drei Jobs, um
leben zu können, meine Herren.
Sie sagen: Deutschland ist dank der Agenda gut durch
die Krise gekommen, und davon profitieren die Men-
schen. Wir sagen: Wovon profitieren denn etwa 13 Mil-
lionen von Armut bedrohte Menschen? Das ist jeder
Sechste in unserem Land. Über 2 Millionen Kinder le-
ben in Armut. Das ist beschämend für ein reiches Land
wie Deutschland.
Es reicht eben nicht, wenn es der Wirtschaft und den
Banken gut geht und dabei die Schere zwischen Arm
und Reich immer weiter auseinandergeht.
Meine Damen und Herren der Sozialdemokratie, es
ist beschämend für eine sozialdemokratische Arbeiter-
partei, so etwas überhaupt in Deutschland initiiert zu ha-
ben.
– Sie brauchen gar nicht zu lachen. Sie alle in diesem
Hohen Hause sind daran beteiligt, nur die Linke nicht.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7407
Sabine Zimmermann
(C)
(B)
Professor Zimmer, Sie sagen, dass wir ein katastro-
phales Bild zeichnen, das durch die Wirklichkeit nicht
gedeckt ist. Ich sage Ihnen: Jede unserer Aussagen ist
überprüfbar und durch Fakten gedeckt.
Sie weigern sich, die Realität wahrzunehmen, weil Sie
die hässlichen Flecken auf der Agenda 2010 nicht zur
Kenntnis nehmen wollen. Wir haben Ihnen die Realität
gezeigt und erklärt, wie es wirklich ist. Aber das wollen
Sie einfach nicht zur Kenntnis nehmen.
Sie machen sich die Welt, wie sie Ihnen gefällt.
Ein Beispiel. Kürzlich hat mir eine alleinerziehende
Mutter, die mit ihren drei Kindern – eines davon chro-
nisch krank – auf Hartz IV angewiesen ist, berichtet,
dass ihr der Strom abgestellt wird, weil sie ihre Rech-
nungen nicht mehr bezahlen kann.
Sie sagen wahrscheinlich, dass das ein Einzelfall ist. Ich
sage Ihnen: Die Bundesnetzagentur zählt für 2013
344 798 Stromsperren. Ist das sozial?
– Nein, es geht nicht nur um Hartz IV, wie Sie immer
denken. Vielmehr geht es darum, wie die Agenda 2010
auf Deutschland und die Gesellschaft gewirkt hat. Das
müssen Sie endlich zur Kenntnis nehmen.
Eines der reichsten Länder der Erde darf nicht so mit
den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft umgehen.
Das ist eine Frage des Anstandes und der Menschen-
würde.
Mit der Agenda 2010 haben Sie zuerst und vor allem
das Vorurteil von den faulen Leistungsempfängern in der
Hängematte bedient. „Fördern und Fordern“ war Ihr Slo-
gan. Gefordert haben Sie tatsächlich und haben Ihre For-
derungen häufig genug mit Sanktionen durchgesetzt.
Auf das Fördern warten viele Erwerbslose bis heute ver-
geblich. Angesichts der Kürzungen in der Arbeitsmarkt-
politik ist in Zukunft keine Förderung mehr möglich.
Zuletzt haben Sie von der CDU/CSU vor allen Din-
gen das Hohelied auf die Flexibilisierung durch die
Agenda 2010 gesungen. Was bedeutet denn Flexibilisie-
rung? Ich will Ihnen das sagen: Der Anteil des Niedrig-
lohnbereichs hat über die Jahre deutlich auf 24 Prozent
zugenommen. Deutschland hat übrigens den größten
Niedriglohnsektor in Europa.
Ja, das ist wahrscheinlich der große Erfolg von Hartz IV;
denn das Hartz-IV-System ist ein wesentlicher Motor der
Niedriglöhne. Durch die Abschaffung jedweder Zumut-
barkeitskriterien werden die Menschen gezwungen, na-
hezu jede Beschäftigung anzunehmen. Ansonsten droht
ihnen der Entzug ihrer Existenzgrundlage. Das ist Er-
pressung und nichts anderes. Das verkaufen Sie als Er-
folgsmodell. Es ist unfassbar!
Deshalb war und ist Hartz IV ein Generalangriff auf
das Lohnniveau. 1,2 Millionen abhängig Beschäftigte
können von ihrem Lohn nicht leben und beziehen ergän-
zende Hartz-IV-Leistungen, oft schon seit vielen Jahren.
Mancher Arbeitgeber sagt sogar: Du bekommst von mir
5 Euro, und den Rest holst du dir vom Amt.
Ist das die Form, die Sie sich vorstellen?
Soll der Staat die Löhne in Milliardenhöhe subventionie-
ren?
2,5 Millionen Beschäftigte gehen mittlerweile einem
Zweitjob nach. Es ließe sich noch viel dazu sagen: stei-
gende Altersarmut, zunehmende Überschuldung. Aber
aus Zeitgründen lasse ich das weg.
– Nein. Herr Rosemann, hören Sie mir zu, dann kann ich
Ihnen das erklären. – Mit Hartz IV wurde vor allem ei-
nes erreicht: Der soziale Konsens in diesem Lande
wurde aufgekündigt.
Das hat zu einer tiefen Verunsicherung der Menschen
geführt.
Ich fasse zusammen. Hören Sie auf, Hartz IV über
den grünen Klee zu loben. Dieses System gehört endlich
abgeschafft.
Das ist ganz einfach – hören Sie mir zu! Darüber können
Sie unter dem Weihnachtsbaum nachdenken –:
Erstens. Ersetzen Sie Hartz IV durch eine sanktions-
freie menschenwürdige Mindestsicherung.
Zweitens. Stellen Sie die Schaffung von guter Arbeit
in den Mittelpunkt. Dazu gehört auch ein Mindestlohn,
7408 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Sabine Zimmermann
(C)
(B)
der flächendeckend ist und der keine Ausnahmen hat,
der zumindest so hoch ist, dass man dadurch nicht in Al-
tersarmut gerät. Nehmen Sie Geld für die Arbeitsmarkt-
politik in die Hand, anstatt die Erwerbslosen abzuschrei-
ben. So geht eine erfolgreiche Politik mit links. Denken
Sie darüber nach.
Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachten.
Als nächster Redner spricht der Kollege Dr. Matthias
Bartke von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der vorliegende Antrag der Linken ist ein
echter Rundumschlag.
Es geht nach dem Motto: Was ich immer schon einmal
sagen wollte. – Sie behaupten, eine kritische Bilanz des
Hartz-IV-Systems zu ziehen. Das machen Sie aber nicht.
Was Sie machen, ist, eine reine Anklageschrift zu verle-
sen. Kritisch Bilanz ziehen, heißt, Positives und Negati-
ves gegeneinander abzuwägen.
Ich sage Ihnen: Die seinerzeitige Zusammenführung
von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe war die größte So-
zialrechtsreform in der Bundesrepublik Deutschland.
Damit wurden zwei Systeme zusammengelegt, die prak-
tisch identisch waren, aber völlig losgelöst voneinander
gewesen sind.
Vor allem für ehemalige Sozialhilfebezieher bedeu-
tete das in der Regel durchaus eine Einkommensverbes-
serung. Das ist übrigens in der FAZ von heute nachzule-
sen. Herr Birkwald, Sie haben den Artikel zitiert. Ich
war relativ irritiert darüber, wie Sie den Artikel zusam-
mengefasst haben, insbesondere vor dem Hintergrund,
dass die Überschrift des Artikels lautete: „Hartz IV hat
die Ärmsten reicher gemacht.“
– Reicher gemacht! So ist der Titel des Artikels.
Sie kritisieren in Ihrem Antrag, dass die Hartz-IV-Re-
form ein Anwachsen des Niedriglohnsektors bewirkt
hat. Ich sage Ihnen: Das trifft zu. Das war eine Fehlent-
wicklung. Wenn man merkt, dass sich Dinge falsch ent-
wickeln, dann muss man reagieren. Wir haben reagiert,
und wir haben gegengehalten, und am 1. Januar 2015
wird es den gesetzlichen Mindestlohn geben.
Das Gleiche gilt für die Leiharbeit. Leiharbeit ist
durchaus in vielen Fällen sinnvoll. Die Zahl der Leihar-
beitnehmer ist aber in den letzten Jahren dramatisch an-
gestiegen, geradezu explodiert. Das heißt, dass wir auch
hier gegensteuern müssen.
Herr Dr. Bartke, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Zimmermann zu?
Ja, gerne.
Vielen Dank, lieber Kollege Bartke, dass Sie die Zwi-
schenfrage zulassen. – Nehmen Sie zur Kenntnis, dass
die Niedriglohnschwelle bei 10,36 Euro liegt und dass
man 10,36 Euro in der Stunde sein Leben lang verdienen
müsste, um später nicht in Altersarmut zu fallen? Wie
bewerten Sie in diesem Zusammenhang den Mindest-
lohn von 8,50 Euro?
Ich halte einen Mindestlohn von 8,50 Euro als Le-
bensarbeitsperspektive auch nicht für sinnvoll. Ich
möchte, dass die Menschen mehr Geld verdienen, aber
ich glaube, dass 8,50 Euro erst einmal ein sinnvoller
Einstieg sind und danach durchaus mehr Geld verdient
werden sollte. Nur, von vornherein den Mindestlohn auf
über 10 Euro festzusetzen, halte ich für falsch. Übrigens
hat die Hamburger Linke einen Mindestlohn von
13,50 Euro gefordert. Sie packen immer wieder etwas
obendrauf, also eine nach oben offene Lohnskala. Das
kann so nicht funktionieren.
Ich sage Ihnen: Wir prüfen das Hartz-IV-System sehr
kritisch. Ein Teil dieser Prüfung beinhaltet die Auswer-
tung der Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur
Rechtsvereinfachung im SGB II. Die Arbeitsgruppe be-
stätigt uns in der Einschätzung, dass besonders das
Sanktionssystem so nicht fortgeführt werden kann. Es ist
zu kompliziert und zu intransparent; aber vor allem wird
es von vielen Betroffenen als repressiv wahrgenommen.
Das war nicht die Idee, und das muss geändert werden.
„Fördern und Fordern“ funktioniert nur, wenn in
beide Richtungen interagiert wird. Wir werden daher
künftig den Beratungen und den daraus resultierenden
Eingliederungsvereinbarungen einen deutlich höheren
Stellenwert beimessen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7409
Dr. Matthias Bartke
(C)
(B)
Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe fordert überdies die
Abschaffung des Sondersanktionssystems für Jugendli-
che. Ich sage Ihnen: Das ist eine richtige Forderung.
Die Menschen nicht verlieren zu wollen, ist gerade bei
Jugendlichen von besonderer Bedeutung. Eine härtere
Sanktionierung von Jugendlichen widerspricht jeder pä-
dagogischen Erwägung.
Durch harte Sanktionen geht Vertrauen verloren, und
es bauen sich Mauern auf. Die Mitarbeiter in den Job-
Centern werden von den Jugendlichen nicht mehr als
Berater, sondern als Bestrafer wahrgenommen. Das kann
so auf keinen Fall weitergehen.
Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe rät überdies dazu,
die Kürzungsmöglichkeiten bei den Kosten für die Un-
terkunft aufzuheben. Auch diesen Rat sollten wir beher-
zigen.
Es mag Konstellationen geben, bei denen die Betrof-
fenen hartnäckige Kooperationsverweigerer sind. Das
sind aber die völligen Ausnahmen. Es gibt viel mehr
Fälle, in denen Menschen ihr Leben nicht mehr in den
Griff bekommen, ihre Post nicht mehr öffnen, nicht
mehr miteinander kommunizieren und auf der Schwelle
zur Verwahrlosung stehen. In solchen Fällen kann die
Streichung der Leistung für Unterkunft der entschei-
dende Schritt in die Obdachlosigkeit sein. Diesen Schritt
müssen wir verhindern.
Deswegen: in solchen Fällen nicht mehr Sanktionen,
sondern mehr Sozialarbeit.
Unser Ziel ist es, Menschen in Arbeit zu bringen, und
zwar in Arbeit zu guten Bedingungen. Diesen Anspruch
untermauern wir mit konkreten Ergebnissen und nicht
mit unrealistischen Forderungen.
Am 1. Januar 2015 gibt es zum ersten Mal in
Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn; man kann
das gar nicht oft genug wiederholen. Jeder Mensch weiß:
Ohne die deutsche Sozialdemokratie gäbe es diesen
Mindestlohn nicht.
Gute Arbeit zu guten Bedingungen, das ist unser An-
spruch seit 150 Jahren.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen und wün-
sche Ihnen ein friedvolles Weihnachtsfest.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Brigitte
Pothmer von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von den Linken, den General-
verriss von Hartz IV teile ich in der Tat nicht. Ich finde,
das Bild ist deutlich differenzierter. Liebe Kollegin
Zimmermann, auch Sie müssen einmal zur Kenntnis
nehmen, dass Sie nicht die alleinige Definitionsmacht
über die Wirklichkeit haben.
In diesem Bundestag gilt das Motto „Die Partei hat im-
mer recht“ auch für die Linke nicht.
Es ist doch richtig – dem können Sie doch nicht wirk-
lich widersprechen –: Die Zusammenlegung von Ar-
beitslosenhilfe und Sozialhilfe war ein Fortschritt für die
Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger.
Das zentrale Politikversagen von Hartz IV liegt aus
meiner Sicht woanders: darin, dass das Teilhabe- und
Aufstiegsversprechen, das mit Hartz IV gegeben worden
ist, nicht erfüllt worden ist.
2,8 Millionen Menschen bewegen sich länger als vier
Jahre im Hartz-IV-System. Für sie ist der Hartz-IV-Be-
zug eben keine vorübergehende schwierige Zeit in ihrem
Leben, sondern für sie war Hartz IV das, was ihre Wirk-
lichkeit ausmacht. Sie konnten sich eben nicht, wie es ih-
nen versprochen wurde, mit Unterstützung und durchaus
auch mit eigener Anstrengung aus diesem System be-
freien. Für sie ist Hartz IV eine Sackgasse. Für sie gilt
das Motto „Einmal Hartz IV, immer Hartz IV“. Was das
angeht, sind Sie als Große Koalition in der Verantwor-
tung, und daran werden wir Sie messen.
Das wesentliche Problem bei Hartz IV liegt in der
Umsetzung. Die versprochene Ausgewogenheit zwi-
schen Fordern und Fördern hat es nie gegeben und gibt
es, lieber Herr Rosemann, bis heute nicht.
Da ist die Politik nicht vertragstreu. Da wären auch ein-
mal Sanktionen angemessen.
Es ist doch immer noch so, dass es die verschärften
Sanktionen für unter 25-Jährige gibt. Es ist doch so, dass
in den letzten Jahren rabiate Kürzungen bei der Arbeits-
förderung stattgefunden haben. Daran haben auch Sie
7410 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Brigitte Pothmer
(C)
(B)
nichts geändert. Da kann es Sie doch nicht wundern,
dass ein Bild von Hartz IV entstanden ist, das als unge-
recht und repressiv empfunden wird. Das muss grundle-
gend geändert werden. Dafür brauchen wir einen echten
Paradigmenwechsel, insbesondere in der Arbeitsförde-
rung.
Lieber Herr Rosemann, wenn ich von Paradigmen-
wechsel in der Arbeitsförderung rede, dann meine ich
nun wirklich nicht das Miniprogramm, das Frau Nahles
vorgelegt hat. Es setzt doch nur das Programmhopping
der Vorgängerregierung fort und trägt nicht zu struktu-
rellen Verbesserungen in diesem Bereich bei. Wenn ich
von einem Paradigmenwechsel in der Arbeitsförderung
rede, dann meine ich: Wir müssen endlich weg von der
Devise „Hauptsache in Arbeit vermittelt, egal wie lange
dieser Arbeitsplatz behalten werden kann“. Ich sage Ih-
nen: Wir müssen weg von einem Vermittlungsvorrang
hin zu einem Investitionsvorrang. Wir müssen in die Ar-
beitslosen investieren, damit diese wirklich langfristig
auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Sie brauchen
Qualifikationen, die nachgefragt werden.
Wir müssen Schluss machen mit der On-off-Beschäfti-
gung. Das wäre Ihre Aufgabe.
Ich sage Ihnen noch etwas: Wir sollten uns jetzt end-
lich einmal ehrlich machen. Wir wissen doch längst, dass
es für ganz viele Menschen – 200 000, eher 400 000 –
keine Chance gibt, mittel- oder langfristig im ersten Ar-
beitsmarkt Fuß zu fassen. Für diese Menschen brauchen
wir ein Angebot: Das ist der soziale Arbeitsmarkt. Dafür
brauchen wir den Passiv-Aktiv-Transfer. Dazu hat Frau
Nahles nichts vorgelegt.
Ich mache Ihnen jetzt einmal einen ganz konkreten
Vorschlag: Herr Alt von der Bundesagentur für Arbeit
hat uns vorgerechnet, dass die Einführung des Mindest-
lohns bei den Ausgaben für das Arbeitslosengeld II eine
Einsparung in Höhe von 700 bis 900 Millionen Euro er-
bringen würde. Dieses Geld gehört den Arbeitslosen.
Lassen Sie uns dieses Geld nehmen und es in die Ar-
beitsförderung, in den Bereich der Qualifizierung und in
den Aufbau eines sozialen Arbeitsmarktes investieren.
Das ist doch ein Angebot, das Sie nicht ablehnen kön-
nen. Schlagen Sie ein. Das wäre ein echtes Weihnachts-
geschenk für die Langzeitarbeitslosen.
Ich danke Ihnen.
Als nächster Redner hat der Kollege Albert
Stegemann von der CDU/CSU das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Am letzten Plenartag hier im Hohen Haus reden zu
dürfen, ist besonders in diesem Jahr eine große Ehre.
Wir blicken auf ein ereignisreiches Jahr – insbesondere
für die Mitglieder des Sozialausschusses – zurück. Wir
haben die erste Rentenverbesserung der vergangenen
Jahre beschlossen. Darüber hinaus gilt ab dem 1. Januar
des kommenden Jahres ein bundesweit einheitlicher
Mindestlohn. Dies ist ein klares Zeichen unserer Gesell-
schaft, dass Lohndumping nicht Bestandteil der sozialen
Marktwirtschaft ist.
Im Ergebnis steht ein Resultat, mit dem man sehr zufrie-
den sein kann. Davon werden viele Menschen in unse-
rem Land profitieren.
Ich denke, dass auch Sie, sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen von den Linken, dem so zustimmen kön-
nen. Ich möchte nur ungern Wasser in den Wein der vor-
weihnachtlichen Harmonie gießen, aber Ihr Antrag, auch
wenn er nicht wirklich viel Neues zu bieten hat, liest sich
wie ein deutlich zu üppig geratener Wunschzettel an das
Christkind. Bereits in der Einleitung fordern Sie
schlichtweg, Transferleistungen massiv auszubauen,
ohne Möglichkeiten für eine Gegenfinanzierung aufzu-
zeigen. Zugleich wollen Sie die Anreize für den Wieder-
einstieg in das Arbeitsleben abschaffen.
Bei Ihnen heißt es weiter, für den Bezug staatlicher
Leistungen seien nicht die eigenen wirtschaftlichen Ver-
hältnisse entscheidend; nein, Sie erheben die individuel-
len Ansprüche zum Maßstab der staatlichen Fürsorge.
Vielen Dank für den Blick auf Ihr politisches Betriebs-
system!
Selbst für den Laien wird hier offensichtlich: Dies
kann nicht funktionieren, und das sollte auch nicht Ziel
einer nachhaltigen Politik sein, meine sehr verehrten Da-
men und Herren.
Geht es bei der Existenzsicherung wirklich darum, in-
dividuellen Ansprüchen gerecht zu werden, oder geht es
nicht vielmehr darum, den unschuldig in Not geratenen
Menschen vor menschenunwürdigen Bedingungen zu
schützen? Es ist doch nicht Aufgabe einer Solidarge-
meinschaft, einen einmal erworbenen Lebensstil bis auf
den Sankt-Nimmerleins-Tag festzuschreiben.
Liebe Freunde der Linken, auch wenn das Weih-
nachtsfest vor der Tür steht: Wir sind doch hier nicht bei
„Wünsch dir was“. Schließlich ist es doch so: Jeder
Euro, der ausbezahlt wird, muss erst einmal von jeman-
dem erwirtschaftet werden. Bitte verschonen Sie mich
an dieser Stelle mit dem Vorwurf, dass dies Stamm-
tischniveau sei! Nein, das hat ganz grundlegend etwas
mit dem gesunden Menschenverstand zu tun.
Die marxistische Präambel ist hier aber noch nicht zu
Ende.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7411
Albert Stegemann
(C)
(B)
Sie enthält aberwitzige Analysen der arbeitsmarktpoliti-
schen Realität. So sind laut Ihrem Antrag „das kapitalis-
tische Wirtschaftssystem und die neoliberale Wirtschafts-
und Arbeitsmarktpolitik für die Massenarbeitslosigkeit
verantwortlich“. Aha, Massenarbeitslosigkeit.
Es geht sogar noch weiter. Sie sagen, die jetzige Bun-
desregierung wolle unter dem Motto „Fördern und For-
dern“ nur eines, nämlich die Opfer des Arbeitsmarktes
zu den Schuldigen der Arbeitsmarktkrise umdeuten. Sa-
gen Sie einmal: Wann haben Sie denn den Antrag ver-
fasst?
Mit 43 Millionen Beschäftigungsverhältnissen, davon
32 Millionen sozialversicherungspflichtig, steht der Ar-
beitsmarkt so robust da wie nie zuvor.
Wir haben mit unter 3 Millionen Erwerbslosen eine so
niedrige Arbeitslosenzahl wie noch nie, und Sie spre-
chen von Massenarbeitslosigkeit und Arbeitsmarktkrise.
2005, bei Einführung des SGB II, waren übrigens über
5 Millionen Menschen ohne Arbeit. Deswegen frage ich
Sie, ob dieser Antrag vielleicht aus jener Zeit stammt.
Glauben Sie ernsthaft, dass es außerhalb Ihrer Fraktion
auch nur eine Handvoll Menschen gibt, die Ihnen wirk-
lich abnimmt, dass Sie den Arbeitsmarkt besser im Griff
hätten?
Aber was fordern Sie? Sie fordern den Jobkiller Num-
mer eins: den gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro.
Also, effektiver kann man Arbeitsplätze wohl kaum ver-
nichten!
Dann haben Sie die glorreiche Idee, höhere tarifliche
Mindestlöhne in den betreffenden Branchen für allge-
meinverbindlich zu erklären.
Ehrlich gesagt, ich habe mich beim Lesen des Antrags
an dieser Stelle auf den Arm genommen gefühlt. Das ist
doch wohl nicht Ihr Ernst?
Dann wollen Sie die Rahmenfrist beim Arbeitslosen-
geld I auf drei Jahre erweitern und zudem einen öffentli-
chen Beschäftigungssektor in der Größenordnung von
200 000 Stellen aufbauen.
Damit sollen die vorübergehenden 1-Euro-Jobs dauer-
haft auf 10-Euro-Jobs ausgeweitet werden. Löblich, löb-
lich!
Nur fehlt mir an dieser Stelle die Fantasie, um zu sagen,
wie hoch der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung wer-
den würde.
Dann wollen Sie auch die Sanktionen bei Hartz IV
abschaffen; dazu ist einiges gesagt worden. Zusammen-
gefasst: Wir wollen den Jobcentern lediglich Spielräume
ermöglichen, um Menschen wieder dauerhaft in Arbeit
zu bringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der hier zu
beratende Antrag ist bei genauer Betrachtung mehr als
ein üppiger Wunschzettel an das Christkind. Er ist ein
Angriff auf die soziale Marktwirtschaft, wie wir sie ken-
nen.
Der Antragsteller stellt das Grundprinzip der Eigenver-
antwortung auf der einen Seite und der Verantwortung
für andere auf der anderen Seite infrage.
Sie sind davon überzeugt, dass es für eine Leistung kei-
ner Gegenleistung bedarf.
Sich auf die Solidarität der Gemeinschaft zu verlas-
sen, ohne seine eigenen Möglichkeiten und Talente mit
einzubringen, das wird unser politisches System nicht
nur überfordern; nein, das entspricht auch nicht der
Menschenwürde, auf die Sie sich hier paradoxerweise
berufen. Arbeitslose sind schließlich keine Opfer, die
alimentiert werden müssen. Sie wollen und sie müssen
wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden.
Wir wollen ein System, in dem nicht jeder Stütze be-
zieht, sondern eines, in dem jedermann dazu befähigt
wird, zu einer Stütze der Gesellschaft zu werden. Ich bin
zutiefst davon überzeugt, dass dieses Menschenbild der
Würde des Menschen am nächsten kommt und nur die-
ses politische Weltbild eine Zukunft hat. Deshalb lehnen
wir Ihren Antrag ab.
Gleichzeitig wünsche ich uns allen ein gesegnetes
Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit im nächs-
ten Jahr.
Vielen Dank.
7412 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
(C)
(B)
Als nächster Redner spricht Markus Paschke von der
SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! An-
fang der Woche kannte ich nur die Überschrift: „Gute
Arbeit und eine sanktionsfreie Mindestsicherung statt
Hartz IV“.
Ich habe mir gedacht: Es ist gut, hier im Bundestag ein-
mal über gute Arbeit zu reden.
Als ich den Antrag dann das erste Mal gelesen habe,
dachte ich: Irgendetwas ist hier falsch gelaufen. Das ist
doch die Vorlage für die Jahrespressekonferenz der Lin-
ken, auf der noch einmal zusammengefasst wird, was im
Laufe des Jahres so alles an Anträgen gestellt wurde.
Also, nach der Freude kam die Enttäuschung.
Aber bleiben wir beim Thema „gute Arbeit“. Ich
zeige Ihnen einmal am Beispiel der Bundesregierung,
was gute Arbeit ist:
Stichwort „Rente“. Das erste große Gesetzesvorhaben
der Großen Koalition war das Rentenpaket.
Zu diesem Paket gehören die abschlagsfreie Rente nach
45 Beitragsjahren, die höhere Mütterrente, Verbesserun-
gen bei der Erwerbsminderungsrente und die Erhöhung
des sogenannten Rehabudgets.
Seit langem mal wieder keine Kürzungen, sondern Ver-
besserungen bei der Rente, also ein Trendwechsel.
Das Rentenpaket ist die Anerkennung für die Arbeit und
die Leistung vieler Menschen. Kurz gesagt: Das Renten-
paket ist nicht geschenkt, sondern verdient.
Stichwort „Mindestlohn“. Es ist dieser Regierung,
also der Regierung, die Sie so gern der Tatenlosigkeit
beschuldigen, und insbesondere unserer Arbeitsministe-
rin Andrea Nahles zu verdanken, dass in Deutschland
der Mindestlohn nach langer Diskussion endlich einge-
führt wird.
Dies ist eine historische Entscheidung, auf die ich und
meine Fraktionskolleginnen und -kollegen zu Recht
stolz sind.
Wir haben den Mindestlohn eingeführt. Das zähle ich
eindeutig zu der von Ihnen geforderten guten Arbeit.
Stichwort „Bekämpfung der Langzeitarbeitslosig-
keit“. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat vor
kurzem ihr Maßnahmenpaket zur Bekämpfung der
Langzeitarbeitslosigkeit vorgestellt.
Neben dem Aufbau von Aktivierungszentren und einem
Arbeitsmarktprogramm für Langzeitarbeitslose zählen
weitere Maßnahmen zu dem breiten Ansatz, mit dem wir
die Chancen der Betroffenen verbessern werden.
Mit den Vorschlägen von Andrea Nahles ist ein wichti-
ger Schritt in die richtige Richtung getan.
Ich bin überzeugt, dass fast alle Sozial- und Arbeits-
marktpolitiker gern noch mehr tun würden. Aber lieber
heute das Machbare umsetzen, als für morgen das Para-
dies versprechen und gar nichts tun!
Viele Menschen werden von der guten Arbeit der Bun-
desregierung in diesem Jahr profitieren, und wir werden
auch 2015 diesen Weg fortsetzen.
In Ihrem Antrag, werte Kolleginnen und Kollegen
von der Linken, sprechen Sie auch Themen an, die wir,
wie Sie wissen, längst bearbeiten: Rechtsvereinfachun-
gen im SGB II, Förderung von guter Arbeit, Ausweitung
der Rahmenfrist. Über all dies wird in den Koalitions-
parteien seit langem diskutiert. Wir diskutieren, weil
gute politische Arbeit auch gründliche Arbeit ist.
Aber natürlich ist damit die Arbeit für die Menschen
in unserem Land nicht getan; Sie können sicher sein,
dass wir Schritt für Schritt unsere gesteckten Ziele um-
setzen werden.
Gute Arbeit ist mehr, als einen ganzen Katalog Weih-
nachtsgeschenke zu versprechen, wenn man nicht in der
Verlegenheit ist, sie einlösen zu müssen.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7413
Markus Paschke
(C)
(B)
Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem Genossen
Ramelow, der in Thüringen mit der rot-rot-grünen Koali-
tion das Wünschenswerte mit dem Machbaren abwägt.
Gute Arbeit in der Politik funktioniert so: gesagt, getan,
gerecht.
Da dies meine letzte Rede in diesem Jahr ist,
möchte ich an dieser Stelle allen Zuhörerinnen und Zu-
hörern geruhsame und vor allem friedliche Feiertage so-
wie einen guten Rutsch ins neue Jahr wünschen, damit
wir auch 2015 unsere gute Arbeit fortsetzen können.
Danke.
Als nächste Rednerin spricht Christel Voßbeck-
Kayser von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Alle Jahre wieder“, so lautet der Anfang eines schönen
Weihnachtsliedes. Aber bei Ihrer wiederkehrenden Lie-
derplatte, Kollegen und Kolleginnen der Fraktion Die
Linke, geht es mir nicht so. Seit 2010 in Ihren Anträgen
immer wieder die gleichen Themen: Abschaffung von
Sanktionen, Mindestsicherung und Mindesteinkommen.
Der Antrag, der uns heute vorliegt, trägt die Über-
schrift „Gute Arbeit und eine sanktionsfreie Mindestsi-
cherung statt Hartz IV“.
Was bedeutet „sanktionsfreie Mindestsicherung“?
Ohne Wenn und Aber, ohne Bedingungen, egal wie man
sich verhält: Man soll auf jeden Fall Geld vom Staat be-
kommen. Ich kann nur sagen: schön märchenhaft – mehr
nicht.
Auch wenn Sie diesen Antrag jedes Jahr wiederholen,
so ändert sich unsere Position nicht und wird sich auch
nicht ändern; denn wir halten das Prinzip des Forderns
und Förderns für ein geeignetes Instrument. Dieses Prin-
zip spiegelt die Realität der Arbeitswelt wider. Warum
sollen Menschen, die vorübergehend nicht in der Ar-
beitswelt sind, sich diesem Prinzip entziehen? In jedem
Beruf wird man gefordert und gefördert.
Warum soll dieses gesellschaftlich anerkannte Prinzip
für Menschen im Rahmen des Bezuges von SGB-II-
Leistungen nun nicht mehr gelten? Abgesehen davon
– das haben meine Vorredner schon gesagt –: Hat die So-
lidargemeinschaft nicht ein Recht darauf, dass die Men-
schen, die der Hilfe bedürfen und Geld von und aus der
Solidargemeinschaft erhalten, aktiv einen Beitrag leis-
ten, so wie sie es können?
Wir reden hier schließlich von Geld, das Menschen für
Menschen, die Unterstützung benötigen, erst einmal er-
wirtschaften müssen.
Zum anderen reden wir hier nicht von unmöglichen
Regeln. Es geht darum, sich an Verabredungen zu halten,
Termine einzuhalten. Inzwischen werden sogar, wie wir
wissen, Erinnerungs-SMS versendet. Also, mich hat
morgens noch nie jemand daran erinnert, dass ich zur
Arbeit gehen soll.
Den Mitarbeitern in den Jobcentern steht ein großes Re-
pertoire an verschiedenen Instrumenten zur Verfügung.
Die Mitarbeiter in den Jobcentern setzen diese auch ver-
antwortungsvoll ein.
Kurz zum Thema Sanktionen. Wir haben die aktuel-
len Zahlen aus dem Jahr 2013 gehört. 3 Prozent der Leis-
tungsbezieher im SGB II sind überhaupt von Sanktionen
betroffen. Das heißt im Umkehrschluss: 97 Prozent der
Leistungsbezieher sind nicht betroffen.
Sie stellen diese Sanktionen als Massenphänomen dar;
Sie wollen die Menschen dies glauben machen.
Ihr Lied mit der Forderung nach einer bedingungslo-
sen Grundsicherung – das Sie auch noch soziale Gerech-
tigkeit nennen – hat in dieser Form gar nichts mit dem
Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, an der sich unsere
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung erfolgreich
orientiert, zu tun. Wohlstand per Gesetz gibt es nicht.
Wohlstand wird, flankiert von entsprechenden gesetzli-
chen Rahmenbedingungen, erarbeitet. Das war immer
so, und das wird auch immer so bleiben.
Auch wenn bald Weihnachten ist und Sie meinen,
Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Die Linke, das
Märchen vom Sterntaler erzählen zu müssen – Sie wis-
sen, das arme Mädchen, das die Schürze aufhält, in die
7414 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Christel Voßbeck-Kayser
(B)
die goldenen Taler hineinfallen –: Das glauben ja nicht
einmal Ihre eigenen Kollegen, wie wir in den letzten Ta-
gen in den Medien lesen konnten. Viele aus Ihrer Partei
glauben nicht an Ihr Märchen vom bedingungslosen
Grundeinkommen, weil es nicht bezahlbar ist.
Deshalb mein Vorschlag zum Ende: Bringen Sie sich
doch mal im neuen Jahr mit einer neuen Platte zu den
Themen „SGB-II-Leistungen“ und „arbeitsmarktpoliti-
sche Maßnahmen“ konstruktiv in unsere gemeinsame
Arbeit ein!
Den Rest meiner Redezeit schenke ich dem Deut-
schen Bundestag. Ich wünsche uns allen schöne Weih-
nachten.
Vielen Dank. – Als letzter Redner in dieser Debatte
spricht jetzt Ewald Schurer von der SPD.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute diese Debatte führen – es ist kein Fehler,
kurz vor Weihnachten inhaltlich über den Arbeitsmarkt
zu reden –, dann muss man konstatieren: Wir hatten vor
einem Jahrzehnt in der Tat größere Probleme am Ar-
beitsmarkt. Damals traf der Begriff „Massenarbeitslosig-
keit“ eher zu, da sich die Situation dramatisch dargestellt
hat. Ich konstatiere auch: Der Druck, eine Arbeitsmarkt-
reform durchzuführen, war damals in der Tat groß. Wie
auch immer Sie es bewerten: Der Deutsche Gewerk-
schaftsbund bzw. das Wirtschafts- und Sozialwissen-
schaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung hat da-
mals festgestellt, dass durch die Sozialhilfeintegration
fast 800 000 Menschen im Vergleich zu vorher besserge-
stellt worden sind und überhaupt erst wahrgenommen
wurden, was den Arbeitsmarktbereich und die Integra-
tion in die Gesellschaft anbelangt.
Es gab in der Tat auch Verwerfungen durch diese Re-
form. Ich gebe ganz ehrlich zu: Ich glaube, die Reform
ist damals mit heißer Nadel gestrickt worden. Der Chef-
ingenieur, Peter Hartz, hat Jahre später selbst gesagt,
dass er nicht nur handwerkliche Fehler sieht, sondern
auch strukturelle Fehler; er hat es offen zugegeben. Er
wünschte sich, dass bei der Dualität aus Fördern und
Fordern der Aspekt des Förderns stärker berücksichtigt
wird. Diese Verwerfungen möchte ich hier ganz offen
konstatieren.
Dennoch: Die Reform war unter den damaligen ge-
sellschaftlichen Umständen notwendig; das Übrige habe
ich dazu gesagt.
Man darf aber auch, werte Freundinnen und Freunde
auch der Linken, nicht vergessen: Der Arbeitsmarkt ist
in den letzten zehn Jahren nicht nur von der Hartz-IV-
Reform geprägt gewesen – von ihren guten und viel-
leicht auch verbesserungswürdigen Tatbeständen –, son-
dern es gab auch massive strukturelle und inhaltliche
Veränderungen. Menschen mit niedriger Qualifikation,
denen die Bildungsvoraussetzungen fehlen, tun sich heute
in einer Wirtschaft, die ständig nach mehr Qualifikatio-
nen, nach mehr beruflicher Bildung verlangt, signifikant
schwerer, mitzuhalten. Deswegen sind Fördermaßnah-
men aller Art auf dem jeweiligen Qualifikationsniveau
für die Menschen von größter Bedeutung.
Wir machen da jetzt etwas, auch wenn es – das gebe ich
gerne zu – nur Modellbausteine sind, einmal mit 30 000,
einmal mit 10 000 Menschen. Das ist der richtige Weg.
Man darf auch nicht vergessen, dass wir, nachdem es
unter der damaligen Sozialministerin – ich will hier höf-
lich sein – einen relativen Kahlschlag im Bereich der
Jobcenter gab, gemeinsam mit der CDU/CSU versuchen,
die Ausstattung der Jobcenter mit Mitteln in Höhe von
viermal 350 Millionen Euro, sprich 1,4 Milliarden Euro
– ich sage das auch als Haushälter für den Bereich Arbeit
und Soziales –, deutlich zu verbessern.
Das reicht noch nicht; aber wir sind da in struktureller
Hinsicht auf dem richtigen Wege.
Ich will es in diesem letzten Debattenbeitrag auf den
Punkt bringen: Wir brauchen jetzt ohne Wenn und Aber
– das hat Peter Hartz selbst moniert – klare Konturen im
Werkvertragswesen und im Leihvertragswesen. Die
Ministerin – da bin ich ihr dankbar; die Staatssekretärin
hört es sicherlich mit Überzeugung – hat angekündigt,
dass die SPD und die Union im Jahr 2015 beim Kampf
gegen den Missbrauch und das Ausfluten im Werkver-
tragswesen klare Konturen schaffen wollen,
um den ursprünglichen Charakter der Werkverträge wie-
derherzustellen; denn Werkverträge sind nicht für Mas-
senbeschäftigung gedacht.
Was die Leiharbeit angeht, hat Peter Hartz damals
deutlich beschrieben, dass die Öffnung zu Beliebigkeit
am Arbeitsmarkt geführt hat und kontraproduktiv war.
Es hat den Menschen in der Tat nicht geholfen. Wir
brauchen auch bei der Leiharbeit künftig klare Konturen.
Die Auswirkungen der Einführung des Mindestlohns
– davon bin ich fest überzeugt – werden von den Linken
aus rein rhetorischen und strategischen Gründen eindeu-
tig unterschätzt. Schauen Sie sich mal an, mit welch ei-
ner Unvernunft ein Teil der Wirtschaft bzw. der Unter-
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7415
Ewald Schurer
(C)
(B)
nehmen heute schon, vor dem 1. Januar 2015, versucht,
den Mindestlohn zu unterlaufen. Mir war immer klar:
Ein Mindestlohn in Höhe von zunächst einmal 8,50 Euro
wird nicht automatisch in allen Kreisen der Wirtschaft
Gefallen finden, vor allen Dingen bei denen, die ihn in-
haltlich und intellektuell nicht verstanden haben.
Mir geht es letzten Endes darum, klarzumachen: Es
gehört zur Würde aller Menschen, dass sie von ihrer Ar-
beit – zumindest in der Regel – auch leben können. Das
ist auch eine Voraussetzung für die Integration in unsere
Gesellschaft. Dass wir diese Philosophie gemeinsam mit
den Freunden der Union durchsetzen, das ist schon ein
Paradigmenwechsel in unserer Gesellschaft,
der in Zukunft noch ausgebaut werden muss.
Als Haushälter habe ich zusammen mit dem Kollegen
Axel Fischer dafür gesorgt, dass die Mindestlohnkom-
mission von einer Geschäftsstelle unterstützt wird. Auf
der Grundlage der Arbeit von Wissenschaftlern ist die
Mindestlohnkommission in der Lage, alle Folgeentwick-
lungen zu evaluieren: Wie wirkt sich der Mindestlohn
auf Tarifverträge aus? Wie kann sichergestellt werden,
dass der Mindestlohn nicht unterlaufen werden kann?
Wie wird sich der Mindestlohn auf die Steuereinnahmen
und die Sozialsysteme auswirken? Eine Evaluierung die-
ser Themen ist eine enorm wichtige Aufgabe.
Es geht darum, dass der Mindestlohn nicht statisch
ist, Frau Präsidentin, sondern sich mit der Dynamik in
unserer Gesellschaft entwickelt. Nur so können die Men-
schen von ihrer Arbeit auch wirklich leben. Das zu errei-
chen, wäre, zusammen mit der Begrenzung des Miss-
brauchs von Werkverträgen und Leiharbeit, das größte
Ziel. Dann würde es wieder möglich, die Menschen in
unsere Gesellschaft zu integrieren, und zwar durch gute
Arbeit, was das Thema der heutigen Debatte war.
Herzlichen Dank.
Wie Sie sehen, ist die Geduld der Präsidentin auch
nicht statisch, sondern dynamisch. Das war schon eine
kleine Geduldsprobe, lieber Kollege.
Aber da es im Sinne der Debatte ist, einen Gedanken
vollständig auszuführen, habe ich es zugelassen, dass sie
ein bisschen länger reden.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3549 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Regionale Wirtschaftspolitik – Die richtigen
Weichen für die Zukunft stellen
Drucksache 18/3404
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Koordinierungsrahmen der Gemeinschafts-
aufgabe „Verbesserung der regionalen Wirt-
schaftsstruktur“ ab 1. Juli 2014
Drucksache 18/2200
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsauschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung, liebe
Kolleginnen und Kollegen, sind für die Aussprache
25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Wider-
spruch. Dann ist das auch so beschlossen.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen sich jetzt gesetzt
haben, kann ich die Aussprache eröffnen, und wir kön-
nen die Debatte beginnen.
Als erste Rednerin in der Debatte erhält Andrea
Wicklein von der SPD das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Heute beraten wir den Antrag der Fraktionen
der CDU/CSU und SPD „Regionale Wirtschaftspolitik –
Die richtigen Weichen für die Zukunft stellen“. Kern der
regionalen Wirtschaftspolitik ist die Gemeinschaftsauf-
gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“,
GRW, zur Unterstützung strukturschwacher Regionen.
Wir, die Koalitionsfraktionen, bekennen uns mit unse-
rem Antrag zu diesem bewährten Förderinstrument.
Die GRW ist eine Erfolgsgeschichte. Allein zwischen
1991 und 2013 wurden mit 45 Milliarden Euro GRW-
Mitteln Investitionen der gewerblichen Wirtschaft in
Höhe von sage und schreibe 239 Milliarden Euro ausge-
löst. Dadurch wurden 1,2 Millionen Arbeitsplätze ge-
schaffen sowie über 2,3 Millionen Arbeitsplätze gesi-
chert.
7416 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Andrea Wicklein
(C)
(B)
Diese Bilanz zeigt: Ohne die GRW hätten viele Investi-
tionen nicht stattgefunden, hätten sich viele Regionen in
unserem Land nicht so gut entwickeln können. Die
GRW ist deshalb ein Stück gelebter Solidarität zwischen
dem Bund und den Ländern. Darauf können wir mit
Recht stolz sein.
Was viele nicht wissen: Die GRW ist nicht erst nach
der deutschen Einheit erfunden worden, um die neuen
Bundesländer zu unterstützen. Sie besteht bereits seit
45 Jahren. Sie wurde damals gemeinsam mit anderen
Gemeinschaftsaufgaben, zum Beispiel der Gemeinschafts-
aufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küs-
tenschutzes“ im Grundgesetz verankert. Bereits in den
60er-Jahren ging es nämlich um die Frage, ob und wie
Bund und Länder bei wichtigen gesamtstaatlichen Auf-
gaben zusammenwirken können. Damals waren es Län-
der wie Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Rhein-
land-Pfalz, die auf Bundeshilfe angewiesen waren.
Damals war die Bund-Länder-Zusammenarbeit übri-
gens sehr umstritten. 1967 zitierte Der Spiegel Kanzler
Kiesinger bei einem Treffen mit den Ministerpräsidenten
der Länder zur Reform der Finanzbeziehungen mit fol-
genden Worten:
Diese Reform ist der Prüfstein der Großen Koali-
tion. Wenn sie scheitert, dann scheitert auch die Ko-
alition.
Keine Sorge, liebe Kolleginnen und Kollegen,
diese Zeiten sind vorbei. Heute sind wir uns in diesem
Hohen Hause, glaube ich, alle einig, dass es eine ge-
meinsame Verantwortung von Bund und Ländern geben
muss, dass sie sinnvoll ist, um strukturelle Unterschiede
zwischen den Regionen auszugleichen, und dass wir
eine solche Gemeinschaftsaufgabe auch zukünftig brau-
chen. Unser Ziel sind gleichwertige Lebensverhältnisse
in unserem Land. Dieses Ziel ist grundgesetzlich ver-
brieft und ist deshalb eine Verpflichtung für die Politik.
Wie sieht die Situation in unserem Land heute aus?
Der aktuelle Raumordnungsbericht des Bundesinstituts
für Bau-, Stadt- und Raumforschung zeigt, dass die Ent-
wicklungsunterschiede im gesamten Bundesgebiet nach
wie vor sehr groß sind. Er zeigt die regionalen Disparitä-
ten in Bezug auf Demografie, Wirtschaft, Arbeitsmarkt,
Wohlstand und Infrastruktur. So liegt beispielsweise das
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung im
ländlichen Trier oder auch in Mecklenburg-Strelitz bei
unter 20 000 Euro. In den Städten Erlangen oder Re-
gensburg beträgt es dagegen mehr als 60 000 Euro. Bei
der Arbeitslosigkeit sieht die Spreizung ähnlich aus: In
Gelsenkirchen, Bremerhaven und der Uckermark liegt
sie bei 14 Prozent, während sie in Donau-Ries, Pfaffen-
hofen an der Ilm oder Erding gerade einmal 2 Prozent
beträgt.
– Auch dort, Willi Brase.
In dem Bericht wird deshalb vor einer negativen Ab-
wärtsspirale aus Abwanderung, zurückgehenden Be-
triebsansiedlungen und zurückgehenden Finanzen in die-
sen Regionen gewarnt. Genau hier setzt die GRW gezielt
an: Sie unterstützt schwächere Regionen im Struktur-
wandel, verbessert die Standortbedingungen und schafft
wettbewerbsfähige Arbeitsplätze.
Ein gelungenes Beispiel ist das frühere Stahlwerkge-
lände im Dortmunder Stadtteil Hörde: Land und Bund
fördern hier den Ausbau zum Technologiestandort
Phoenix. Hier entstehen auf über 200 Hektar Entwick-
lungsfläche Räume für Mikro- und Nanotechnologie,
Softwareschmieden, Wohnen und Freizeit im Grünen.
Das ist eine Fläche annähernd so groß wie 300 Fußball-
felder.
Oder nehmen wir Rostock: In der Hansestadt wurden
seit 2007 Investitionen in Höhe von rund 850 Millionen
Euro durch die GRW ausgelöst. Dadurch wurden Tau-
sende Arbeitsplätze gesichert oder geschaffen, beispiels-
weise durch die Ansiedlung des Unternehmens Liebherr,
das Schiffs- und Offshorekrane entwickelt und fertigt.
Diese Beispiele zeigen: Die gemeinsame Wirtschafts-
politik von Bund und Ländern zahlt sich aus. Wir wollen
deshalb die GRW weiterentwickeln und stärken. Das ha-
ben wir im Koalitionsvertrag beschlossen.
Der heute von den Koalitionsfraktionen vorgelegte
Antrag verfolgt dieses Ziel und kommt genau zur rech-
ten Zeit. Aktuell laufen die Bund-Länder-Finanzver-
handlungen. Dabei muss eines klar sein: Auch ein neuer
Länderfinanzausgleich wird die Strukturschwäche von
Regionen nicht ausreichend berücksichtigen können.
Deshalb ist Kern unseres Antrags, dass wir auch nach
2020 ein Fördersystem für strukturschwache Regionen
brauchen. Deshalb müssen wir schon jetzt die Weichen
für ein gesamtdeutsches System der regionalen Wirt-
schaftsförderung stellen.
Für den Haushalt 2015 haben wir die Bundesmittel
für die GRW auf 600 Millionen Euro aufgestockt. In den
kommenden Jahren werden wir diese Mittel weiter erhö-
hen. Zusammen mit den Ländermitteln wird die GRW
dann über 1 Milliarde Euro betragen.
Mit dem beschlossenen Haushalt und unserem Antrag
machen wir deutlich, dass sich die Menschen auch zu-
künftig darauf verlassen können, dass Bund und Länder
miteinander daran arbeiten, dass sich die Lebensverhält-
nisse in Ost und West, in Nord und Süd weiter anglei-
chen und keine Region abgehängt wird.
In diesem Sinne vielen Dank und schöne Weihnach-
ten.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7417
(C)
(B)
Als nächster Redner spricht Thomas Nord von der
Linken.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es
vorwegzunehmen: Die Linke wird diesem Antrag der
Regierungskoalition zustimmen. Das kommt ja nicht
allzu oft vor. Deswegen lassen Sie mich kurz etwas dazu
sagen.
– Zu Weihnachten kommen wir noch. – Zunächst sei ge-
sagt, dass mein Wahlkreis im äußersten Osten der Repu-
blik liegt. Er gehörte schon bisher zu den Profiteuren der
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“. Auch die jetzt vorgenommenen
Anpassungen zum Koordinierungsrahmen fallen zu-
gunsten meines Wahlkreises aus. Aber auch der Osten
insgesamt profitiert von diesem Instrument; das wurde
hier bereits gesagt. Dieses Instrument kann nicht alle
Probleme, zum Beispiel in meiner Heimatstadt Frank-
furt/Oder, klären – so ist es bei weitem leider nicht –, ei-
nes ist aber sicher: Ohne die Gemeinschaftsaufgabe wä-
ren die Probleme noch größer.
Die Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur
wird seit 1969 durch Bund und Länder gleichermaßen
als Gemeinschaftsaufgabe ausgeführt. Denn durch starke
regionale Ungleichheit der wirtschaftlichen und sozialen
Lebensverhältnisse kann, wenn sie dauerhaft besteht,
eine so große Unzufriedenheit entstehen, dass hieraus re-
gionale Fliehkräfte erwachsen. Bei den letzten Landtags-
wahlen in Sachsen und Brandenburg war das zum Bei-
spiel auch an den Wahlergebnissen der AfD abzulesen.
Bei mir in Frankfurt/Oder erhielt diese Partei knapp
20 Prozent der Stimmen.
Das grundgesetzlich verankerte Ziel der Herstellung
gleichwertiger Lebensverhältnisse im ganzen Bundesge-
biet muss daher jetzt und auch in Zukunft energisch wei-
terverfolgt werden. Seit den 90er-Jahren spielt die Ge-
meinschaftsaufgabe eine zentrale Rolle beim Aufbau
von wirtschaftlich tragfähigen Strukturen in den ostdeut-
schen Ländern. Zusammen mit den Struktur- und Inves-
titionsfonds der Europäischen Union ist sie eine der we-
sentlichen Maßnahmen beim Abbau wirtschaftlicher
Unterschiede. Heute kommen zunehmend Gebiete im
Westen in den Förderbereich. Die regionalen Wirt-
schaftsleistungen differenzieren sich auch in den alten
Bundesländern aus. Aber die ostdeutschen Länder blei-
ben ein zentraler Förderschwerpunkt. Meine Fraktion
und ich halten das auch für notwendig.
Darüber hinaus enthält der Antrag eine ganze Reihe
von Maßnahmen zur Ausgestaltung der neuen Förderge-
bietskarte und des Koordinierungsrahmens, von denen
ich zwei positiv hervorheben möchte.
Erstens. Das Fördergefälle von Förderregionen in
Deutschland zu angrenzenden Höchstfördergebieten an-
derer EU-Nachbarstaaten wurde begrenzt. Insbesondere
an der Oder ist das für eine ausgeglichene wirtschaftli-
che Entwicklung der deutschen wie der polnischen Seite
von besonderer Bedeutung.
Zweitens. Die Mittelverteilung soll sich durch eine
einheitliche und transparente Berechnungssystematik
nun noch stärker an der regionalen Strukturschwäche
orientieren und sich zu einem System der gesamtdeut-
schen Regionalförderung entwickeln. Dies entspricht
den Forderungen meiner Partei vollständig.
Wir begrüßen auch, dass die Bundesregierung durch
den Antrag für die Jahre nach 2020 dazu aufgefordert
wird, erstens die Gleichwertigkeit der Lebensverhält-
nisse weiter zu erfüllen und die Gemeinschaftsaufgabe
entsprechend weiterzuführen, zweitens gleichzeitig da-
bei zu berücksichtigen – das finde ich besonders wichtig –,
dass insbesondere die strukturschwachen Länder einer-
seits durch die Pflicht zur Einhaltung der Schulden-
bremse und andererseits durch die rückläufigen Zuwei-
sungen von Bund und Europäischer Union in ihren
finanzpolitischen Handlungsspielräumen stärker ein-
geschränkt sind, drittens der Strukturschwäche in ländli-
chen Räumen entgegenzuwirken, indem neue Förder-
schwerpunkte und verstärkt neue Impulse für
Innovationsförderung verankert werden, viertens darauf
hinzuwirken, dass auch künftig hilferechtliche Regelun-
gen der Europäischen Union den grundgesetzlichen Auf-
trag zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse
nicht behindern. All dies finden wir richtig und unter-
stützen es. Wir werden darauf achten, dass die Koalition
ihre Versprechen an dieser Stelle einhält.
Warum soll man dann zu Weihnachten nicht auch einmal
einem Antrag der Koalitionsfraktionen zustimmen?
Herzlichen Dank.
Als nächster Redner hat Jan Metzler von der CDU/
CSU das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Welch Einig-
keit zum Jahresabschluss in diesem Haus!
7418 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Jan Metzler
(C)
(B)
Warum leben Menschen dort, wo sie geboren wurden,
und warum verlassen sie ihre Heimatregion nicht? In al-
ler Regel deswegen, weil sie dort einen qualifizierten
Job gefunden haben. Viele Regionen in Deutschland ver-
lieren aber immer häufiger qualifizierte Arbeitskräfte an
die wirtschaftlich stark wachsenden Regionen wie
Bayern, Baden-Württemberg, aber auch Berlin. Men-
schen leben dort, wo Arbeitsplätze sind und wo Arbeits-
plätze erhalten werden. Wo das nicht passiert, ziehen sie
weg.
Wie kann nun die Politik dazu beitragen, dass in Zu-
kunft im besten Fall in jeder Region in Deutschland wei-
terhin Arbeitsplätze entstehen und die Region dadurch
lebenswert bleibt? Indem wir die richtigen Rahmen-
bedingungen schaffen – das tun wir – und gute Anreize
setzen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Die Stichworte
lauten Gewerbegebietsausbau, Verkehrsanbindung,
schnelles Internet. Das sind Beispiele dafür, wie insbe-
sondere unsere mittelständische Wirtschaft gestärkt wer-
den kann. Das ist der Grundgedanke und der Kern der
regionalen Wirtschaftspolitik: Anreize setzen, damit sich
Firmen in den unterschiedlichsten Regionen Deutsch-
lands weiter ansiedeln und Arbeitsplätze schaffen – be-
sonders in den Regionen, in denen Unternehmer im ers-
ten Moment nicht daran gedacht haben, sich dort
anzusiedeln.
Genauso fördern Bund und Länder seit 45 Jahren ge-
meinsam die Regionen in Deutschland, die aus unter-
schiedlichsten Gründen weniger wettbewerbsfähig sind
als andere. Dadurch hebt der Bund gemeinsam mit den
Ländern die Wachstumspotenziale in strukturschwachen
Regionen und leistet so einen Beitrag zu mehr Wachs-
tum und Beschäftigung. Jährlich stellt der Bund dafür
rund 600 Millionen Euro zur Verfügung. Weitere 600
Millionen Euro kommen von den Ländern. Der Fachbe-
griff heißt Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbes-
serung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, kurz: GRW.
Dieser Fachbegriff klingt weder leicht verständlich noch
etwa sexy, aber die Idee dahinter überzeugt; denn keine
Region in Deutschland aus dem Blick zu verlieren, ist
uns wichtig. Auch aufgrund dieser regionalen Wirt-
schaftsförderung konnte sich Deutschland im europäi-
schen Vergleich positiv entwickeln.
Aber auch wenn wir im europäischen Vergleich insge-
samt besser dastehen als andere Länder in Europa, geht
es einigen Regionen innerhalb Deutschlands nach wie
vor weniger gut als anderen. Wir reden hier von der so-
genannten Strukturschwäche. Aber was heißt das denn
konkret? Wann ist eine Region weniger wettbewerbsfä-
hig als eine andere?
Strukturschwäche berechnet sich aus verschiedenen
Indikatoren. Dabei werden Arbeitslosenquote und Brut-
tojahreslohn am stärksten gewertet. Rückblickend ist in-
teressant, dass in der Vergangenheit solche Regionen ge-
fördert wurden, von denen man sich heute kaum noch
vorstellen kann, dass sie wirtschaftlich einmal schlecht
dastanden. Die regionale Wirtschaftsförderung hat im-
mer die Herausforderungen der jeweiligen Zeit aufge-
griffen und die Regionen dabei unterstützt, ihre Wettbe-
werbsfähigkeit zu steigern. Ich glaube, da kann man von
einem absoluten Erfolgsmodell sprechen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen.
Eines ist aber auch festzustellen: Der Abstand zwi-
schen strukturschwachen und strukturstarken Regionen
in Deutschland nimmt in vielen Fällen zu. Sowieso
schon schwache Regionen hinken manchmal in der
Gesamtentwicklung hinterher. Die zum Teil langsame
Entwicklung in altindustriellen Regionen oder dünn be-
siedelten ländlichen Regionen ist in diesem Zusammen-
hang zu nennen. Deshalb müssen wir uns überlegen, ob
das Erfolgsmodell regionale Wirtschaftsförderung an
neue Herausforderungen wie die Auswirkungen des de-
mografischen Wandels angepasst werden muss.
Reichen unsere bisherigen Indikatoren für Struktur-
schwäche aus, um erstens die Ursachen dafür festzuma-
chen, zweitens die richtigen Maßnahmen zu ergreifen
und drittens wirklich alle strukturschwachen Regionen
in Deutschland zu identifizieren und zu fördern? Ist das
Arbeitsplatzangebot allein ausschlaggebend, oder über-
zeugt eine Region erst durch eine Angebotskombination
wie beispielsweise Infrastruktur und allgemeine flächen-
deckende Versorgung? Wir müssen uns fragen, wie wir
es schaffen, dafür zu sorgen, dass jede Region in
Deutschland für Unternehmen attraktiv und für die Men-
schen lebenswert bleibt. Denn jede Region ist wichtig
und für die Menschen vor Ort Heimat, in der sie gerne
leben und arbeiten wollen.
Deswegen fordern wir mit unserem Antrag, das bishe-
rige Modell der regionalen Wirtschaftspolitik so weiter-
zuentwickeln, dass die Strukturschwäche in den Regio-
nen Deutschlands weiterhin gut angegangen werden
kann. Ich glaube, wir brauchen dazu ein Gesamtkonzept,
das alle Facetten berücksichtigt und mehrere Politikfel-
der einschließt. Als Fan der schwarzen Null sage ich:
Dies muss immer im Rahmen der finanziellen Mittel ge-
schehen.
Ich freue mich auf eine spannende und inhaltsgela-
dene Diskussion.
Lassen Sie mich damit schließen, dass ich allen in
diesem Hohen Hause frohe Weihnachten und alles er-
denklich Gute für das kommende Jahr 2015 wünsche.
Herzlichen Dank.
Als nächster Redner spricht Markus Tressel von
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie wir sehen konnten, erinnern wir alle an dieser Stelle
gerne an unseren grundgesetzlichen Auftrag, gleichwer-
tige Lebensverhältnisse in allen Landesteilen herzustel-
len. Wir sind der festen Überzeugung: Gleichwertige
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7419
Markus Tressel
(C)
(B)
Lebensverhältnisse herzustellen, bedeutet vor allem,
gleiche Startchancen für alle, auch unabhängig von der
Herkunftsregion, zu schaffen.
Wir wollen Teilhabe an der Arbeitswelt, an der Bil-
dung, an der Gesellschaft, an der Politik und nicht zu-
letzt auch an der Digitalisierung ermöglichen. Dafür
müssen wir gerade im ländlichen Raum Jobs erhalten.
Genauso müssen wir aber auch die regionale Infrastruk-
tur stärken; denn weiche Standortfaktoren – auch das ist
hier angesprochen worden – entscheiden letztendlich da-
rüber, ob Fachkräfte vor Ort bleiben, ob sie die Region
für lebenswert halten.
Ein integrierter Politikansatz, also die Betrachtung ei-
ner Region gleichzeitig als Lebens-, Arbeits-, Erho-
lungs- und Naturraum, ist unser Auftrag für eine nach-
haltige Regionalentwicklung, und das haben Sie in
Ihrem Antrag ja auch aufgeschrieben.
Wissen Sie aber, wie viel GRW-Bundesmittel in die
integrierte Entwicklung geflossen sind? Wir haben das
einmal abgefragt: Es waren ganze 50 000 Euro. Das ist
eindeutig zu wenig. Es ist hier angesprochen worden:
Die GRW ist gut, aber sie muss hier weiterentwickelt
werden, um als Grundlage für die Förderperiode nach
2020 zu dienen.
Eine Frage, über die wir streiten werden, lautet: Wie ent-
wickeln wir sie weiter?
Herr Kollege Metzler, Sie haben es angesprochen:
Natürlich müssen wir auch über neue Indikatoren für die
Strukturschwäche sprechen, die über den Arbeitsmarkt
hinausgehen. Ich denke zum Beispiel an den demografi-
schen Wandel. In Schrumpfungsregionen greift der Fo-
kus auf Wachstum und Beschäftigung heute meines Er-
achtens viel zu kurz.
In diesem Zusammenhang würde ich mir zunächst
einmal eine umfassende Evaluation der GRW wünschen,
nicht nur bezogen auf die geschaffenen Arbeitsplätze,
sondern zum Beispiel auch auf den Mittelabfluss in fi-
nanzstärkere und finanzschwächere Regionen und den
langfristigen Nutzen der Investitionen in wirtschaftsnahe
Infrastruktur.
Das hat es meines Wissens bisher nicht gegeben.
Betrachten wir das Beispiel Breitbandversorgung:
Das ist entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unserer
Regionen. Das Projekt Industrie 4.0 – das wissen wir
alle; wir alle sprechen davon – bietet Entwicklungschan-
cen für den Mittelstand im ländlichen Raum. Kurzum:
Breitbandausbau ist Wirtschaftsförderung.
Wenn man über den ländlichen Raum spricht, darf
man nicht vergessen, dass schnelles Internet auch
Lücken überbrückt: bei der Nahversorgung, bei der Mo-
bilität, bei der ärztlichen Versorgung, da, wo die Infra-
struktur ausdünnt. Wenn wir uns anschauen, wie viel
GRW-Bundesmittel in den Breitbandausbau geflossen
sind, dann sehen wir: Das waren klägliche 400 000 Euro.
Sie fordern in Ihrem Antrag jetzt einen neuen Förder-
schwerpunkt. Ich muss an dieser Stelle deutlich sagen:
Die GRW kann hier helfen, aber sie ersetzt eben kein
Bundesprogramm für den Breitbandausbau. Hier brau-
chen wir deutlich mehr, nämlich auch eine angemessene
Finanzierung seitens des Bundes.
Wenn man sich die GRW anschaut, dann muss man
auch sagen: Ziel der Förderung muss ganz eindeutig der
Mittelstand sein. Das muss sich auch im Mittelabfluss
widerspiegeln. Auch das hatten wir bei der Bundesregie-
rung abgefragt. Der Mittelstand wirkt für die Region und
setzt auf regionale Belieferungs- und Vermarktungs-
strukturen. Wir Grüne wollen zum Beispiel auch ein
Bundesprogramm Regionalvermarktung, um hier deut-
lich mehr zu stärken.
Das heißt, wir wollen regionale, nachhaltige Struktu-
ren fördern und in Köpfe und Netzwerke investieren.
Das ist der Ort der Innovation. Es gilt, die Potenziale der
ländlichen Räume zu erschließen, eine junge Start-up-
Kultur zu ermöglichen und Synergien zu nutzen statt re-
gional gegeneinanderzuarbeiten.
Regionale Wirtschaftsförderung, liebe Kolleginnen
und Kollegen, richtig gemacht, ist wichtiger denn je. Vo-
raussetzung dafür ist eine öffentliche Debatte über die
Ziele, die die Akteure aus der Zivilgesellschaft bewusst
einschließt und auch mitnimmt.
Wirtschaftsförderung muss die Energiewende flankie-
ren, weil zum Beispiel die Lausitz Strukturen und Ar-
beitsplätze für die Zeit nach der Kohle braucht. Sie muss
aktiven Klimaschutz durch kurze Wege unterstützen, wie
Sie ja selbst in Ihrem Klimaschutzaktionsprogramm fest-
gestellt haben. Schließlich muss sie die Agrarwende hin
zur bäuerlich-ökologischen Landwirtschaft begleiten,
die nachgelagerte regionale Verarbeitungsstrukturen
braucht.
Hierzu kann die GRW einen großen Beitrag leisten;
denn ihr Ansatz ist richtig. Die Antworten auf diese glo-
balen Fragen liegen in regionalen Lösungen. Da müssen
wir anpacken. Das müssen wir angehen, um das zu ge-
währleisten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat Karl
Holmeier von der CDU/CSU das Wort.
7420 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn
(C)
(B)
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Am 22. November 2005 wurde Angela Merkel zur Bun-
deskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland gewählt.
Seither tragen Angela Merkel und die Union Verantwor-
tung in dieser Bundesregierung.
Die Regierungszeit der Union ist von einem maßge-
benden wirtschaftlichen Aufschwung geprägt. Dem konnte
auch die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise
nicht viel anhaben. Meine Damen und Herren, Deutsch-
land steht hervorragend da und ist die Lokomotive in
Europa.
So konnte das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner seit
2005 um 19 Prozent gesteigert werden. Dieser Wachs-
tumswert liegt somit deutlich über dem Durchschnitt in
der Europäischen Union, der bei 12 Prozent liegt. Dank
einer erfolgreichen Wirtschafts- und Förderpolitik der
Bundesregierung liegt die Wirtschaftskraft je Einwohner
in allen Regionen Deutschlands deutlich über 75 Prozent
des EU-Durchschnitts.
Meine Damen und Herren, die regionale Wirtschafts-
politik ist ein strukturpolitischer Pfeiler der sozialen
Marktwirtschaft in Deutschland. Dadurch hebt der Bund
gemeinsam mit den Ländern die Wachstumspotenziale
in strukturschwachen Regionen. Wir leisten so einen
Beitrag für mehr Wachstum und Beschäftigung.
Bewährtes – das wurde bereits einige Male angespro-
chen – und zentrales Instrument der deutschen Regional-
förderung ist seit nunmehr 45 Jahren die Bund-Länder-
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“, abgekürzt: GRW.
Ziel der GRW war und ist die Herstellung gleichwer-
tiger Lebensverhältnisse im gesamten Bundesgebiet. Die
Stärke des Instruments GRW lag und liegt und begründet
sich in seinem Grundsatz: gemeinsames und anteilsglei-
ches Handeln von Bund und Ländern, Schwerpunkte der
GRW-Förderung in strukturschwachen Regionen in
Deutschland, die Zonenrandförderung im ehemaligen
Grenzgebiet zur DDR und zu den Ländern des Ost-
blocks.
Meine Heimat liegt in solch einem Bereich. Wir ha-
ben davon gewaltig profitiert. So lag zum Beispiel in
Teilen der Region, aus der ich komme, die Arbeitslosig-
keit im Januar 1983 bei 48 Prozent. Zurzeit liegt die Ar-
beitslosigkeit bei 2,5 Prozent. Dies ist ein großartiger
Erfolg der Wirtschaftsförderung. Sie können sich bei ei-
nem Besuch selbst davon überzeugen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Hand in
Hand mindern Bund und Länder durch die Förderung
gezielter gewerblicher Investitionen und der wirtschafts-
nahen und touristischen Infrastruktur Standortnachteile
in besonders strukturschwachen Regionen. So werden
langfristig Arbeitsplätze geschaffen und gesichert.
Die erfolgreiche Wirtschafts- und Förderpolitik in
Deutschland führt dazu, dass wir nicht mehr so sehr von
den Mitteln des Europäischen Struktur- und Investitions-
fonds abhängig sind. Gleichzeitig sind die neuen Länder
– das ist ein riesiger Erfolg – aus dem Höchstförderstatus
herausgefallen.
Mit unserem heute vorgelegten Antrag „Regionale Wirt-
schaftspolitik – Die richtigen Weichen für die Zukunft
stellen“ reagieren wir auf die geänderte Rahmenlage.
Wir unterstreichen in unserem Antrag, dass struktur-
schwache Regionen in Deutschland weiterhin systematisch
gefördert werden sollten. Das gilt vor allem auch für Re-
gionen in Deutschland, die an Höchstfördergebiete im
benachbarten EU-Ausland angrenzen.
Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung
auf, sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass
das Fördergefälle zu diesen Nachbarstaaten nicht zu
groß und somit begrenzt wird.
Meine Damen und Herren, wir wollen auf der Grund-
lage der bisherigen Förderinstrumente ein gesamtdeut-
sches System der regionalen Wirtschaftsförderung ent-
wickeln. Wir werden nicht mehr zwischen Ost und West
unterscheiden. Mit der neuen Förderrunde ab dem Jahr
2020 soll sich die Regionalpolitik, wie im Koalitions-
vertrag vereinbart, auf strukturschwache Regionen in
Deutschland konzentrieren. So schaffen wir Planungs-
sicherheit für Länder und Regionen, egal ob im Süden,
Norden, Westen oder Osten unseres Landes.
Wir wollen in diesen nach wie vor strukturschwachen
Gebieten mittel- und langfristig Wachstumspotenziale
erschließen. So leisten wir in diesen Landesteilen einen
Beitrag für mehr Wirtschaftskraft und Beschäftigung. In
einem geeinten Deutschland und in einem geeinten Eu-
ropa gilt es, neue Förderwettläufe zu verhindern. So
müssen Rahmen für einen fairen Wettbewerb zwischen
den strukturschwachen und strukturstarken Regionen
und Ländern innerhalb der Bundesrepublik und der Eu-
ropäischen Union gesetzt werden.
Es liegt noch eine Menge Arbeit vor uns. Ich freue
mich darauf, dass diese wichtigen Richtungsentschei-
dungen für strukturschwache Regionen bereits jetzt,
sechs Jahre vor dem Jahr 2020, angepackt werden. Es
kommt für die Zukunft darauf an, welche Weichen wir
heute stellen. Ich bin zuversichtlich. Mit diesem Antrag
sind wir zum Ende des Jahres 2014 auf einem guten
Weg.
Ich wünsche Ihnen allen frohe, gesegnete Weihnach-
ten und ein gutes und erfolgreiches Jahr 2015. Wenn es
für unsere Regierung so erfolgreich wird wie das Jahr
2014, dann können wir, glaube ich, alle zufrieden sein.
Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7421
(C)
(B)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/3404 und 18/2200 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Ebner, Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Gentechnik-Anbauverbot bundeseinheitlich
und konsequent umsetzen
Drucksache 18/3550
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
Harald Ebner vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das EU-Parlament hat uns ein Weihnachtsge-
schenk gemacht und hat den komplett untauglichen Vor-
schlag von Kommission und Rat zum Anbau gentech-
nisch veränderter Pflanzen doch noch in eine bessere
Richtung gelenkt. Es ist besser als nichts, aber noch
lange nicht wirklich gut.
Es bleibt dabei: Die Flucht in nationale Anbauverbote
bleibt falsch, weil sie die Gentechnik nach Europa
bringt, statt sie draußen zu halten. Nationale Anbauver-
bote können nur ein Notnagel sein, solange sich an man-
gelhaften Zulassungsverfahren für GVO nichts ändert.
Es bleibt falsch, erst zuzulassen und dann wieder ein
bisschen zu verbieten.
Aber wenn man nationale Anbauverbote umsetzt,
dann bitte richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das
heißt: bundesweit für das ganze Land, statt einen Fli-
ckenteppich zu häkeln.
Leider hat die Bundesregierung bei den Verhandlun-
gen eine unrühmliche Rolle gespielt. So ist es nur dem
Europaparlament zu verdanken, dass gewählte Regie-
rungen künftig nicht als Bittsteller bei Monsanto und
Konsorten anklopfen müssen.
Wir wissen, dass die Bundesregierung in den Gesprä-
chen in Brüssel zu fast allen sinnvollen Änderungsvor-
schlägen des Europäischen Parlaments Nein gesagt hat,
zur Aufhebung der verpflichtenden Konzernbeteiligung
ebenso wie zum Umweltrecht als Rechtsgrundlage. Aber
es kommt noch schlimmer: Der Beschluss des Deut-
schen Bundestages zu verpflichtenden Koexistenzmaß-
nahmen war der Bundesregierung bei den Verhandlun-
gen in Brüssel nicht nur egal; sie wollte diese Forderung
ausdrücklich nicht mittragen.
Das ist in den Protokollen nachzulesen.
Wichtig war dem Vertreter dagegen, in den Text noch
einen Passus zu den Chancen der Gentechnik hineinzu-
verhandeln. Weil das nicht geklappt hat, musste die Sit-
zung unterbrochen werden und erst das Plazet aus Berlin
eingeholt werden.
Dieser Kompromiss ist also nicht wegen, sondern
trotz der Bundesregierung zustande gekommen.
Aber wegen der Bundesregierung ist er nicht besser ge-
worden, als er jetzt ist. Dass Sie sich, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Regierungsfraktionen, von der ei-
genen Regierung so an der Nase herumführen lassen, ist
aus meiner Sicht schlicht peinlich.
Die CDU bleibt der politische Arm der Gentechlobby.
An dem Tag, als die Regierung in Brüssel der neuen Re-
gelung zugestimmt hat, beschließt die CDU in Köln,
dass sie die Umsetzung dieser Regelung kritisch prüfen
möchte. Wer sich bei der Gentechnikfreiheit auf diese
Bundesregierung verlässt, ist wirklich verlassen.
Die US-Regierung hat Minister Schmidt und mir in
der letzten Woche deutlich gemacht, dass sie bei der
Gentechnikkennzeichnung und den Gentechnikstandards
unsere Standards nicht akzeptieren möchte. Aber wie
wir gestern gehört haben, singt Ihr Fraktionsvize Fuchs
weiterhin ein Loblied auf TTIP.
Die Erhaltung der gentechnikfreien Geflügelfütterung
haben wir schließlich nicht Ihnen, sondern dem Lebens-
mitteleinzelhandel, den Umweltverbänden, dem Handel
sowie den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu ver-
danken.
– Das ist auch eine Lobby, nämlich die Lobby der Ver-
braucher.
Zur Krönung kommen Sie nun auf die Idee, die An-
bauverbote auf die Bundesländer abzuschieben und da-
mit in die Kleinstaaterei zurückzufallen, und das gegen
7422 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Harald Ebner
(C)
(B)
den Willen der Bundesländer; ein Vertreter sitzt hier. Das
wäre wirklich absurd.
Wie soll das denn in der Praxis funktionieren? Wollen
Sie Grenzkontrollen einführen und alle Saat- und Ernte-
guttransporte durchleuchten lassen? Der Milchwirtschaft
entstehen heutzutage schon 2 Milliarden Euro Kosten,
um ihre Produktionskette sauber zu halten. Hier noch ei-
nen Flickenteppich einzuführen, ist das Letzte, was un-
sere krisengeschüttelten Milchviehbetriebe brauchen.
Ich komme zum Schluss. Bevor Sie sich verrennen,
bieten wir Ihnen mit unserem Antrag eine Lösung an.
Sorgen Sie für bundesweite Anbauverbote! Nutzen Sie
die Option, Gruppen von Gentechpflanzen zu verbieten!
Verbieten Sie alle Gentechpflanzen mit Bt- und Herbi-
zidtoleranz – diese braucht kein Mensch –, und verhin-
dern Sie weitere Zulassungen von Gentechpflanzen in
Europa! Setzen Sie an den Ursachen an, anstatt an den
Symptomen herumzudoktern! Gehen Sie über die Feier-
tage in sich! Gehen Sie diesen Weg im neuen Jahr mit
uns und den Menschen in diesem Land!
Danke schön.
Als nächster Redner spricht Kees de Vries von der
CDU/CSU.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Nun bin
ich auch schon in Weihnachtsstimmung und deshalb ein
bisschen milder gestimmt.
Trotzdem: Diesen Antrag braucht keiner. Er ist vollkom-
men überflüssig, es sei denn, man braucht wieder einmal
eine Bühne.
Zum Ergebnis des informellen Trilogs vom 3. und
4. Dezember zur Änderung der Freisetzungsrichtlinie ist
festzustellen, dass die Mitgliedstaaten den Anbau von in
der EU zugelassenen GVO-Pflanzen in ihrem Hoheits-
gebiet beschränken oder verbieten können. An dieser
Stelle sollte man folgende Festlegungen noch einmal
nennen: Erstens. Es gilt der Verzicht auf die obligatori-
sche Verbindung der Phasen 1 und 2. Das heißt, dass das
begründete Verbot direkt oder zu einem späteren Zeit-
punkt möglich ist.
Zweitens. Die Mitgliedstaaten, die GVO-Pflanzen an-
bauen, werden verpflichtet, Koexistenzbestimmungen
gegenüber Mitgliedstaaten, die nicht GVO-Pflanzen an-
bauen, in Grenzgebieten zu erlassen.
Drittens. Darüber hinaus werden die Opt-out-Mög-
lichkeiten auf Gruppen von zugelassenen GVO erwei-
tert.
Mit den eben genannten Punkten wurden die zentra-
len Forderungen des Bundestagsbeschlusses aus dem
Mai dieses Jahres auf den Weg gebracht. Die Bundes-
regierung hat dann konsequenterweise im Rat dem im
Trilog gefundenen Kompromiss zugestimmt. Damit ha-
ben wir unser Versprechen, die Sorgen und Vorbehalte
der Bevölkerung im Zusammenhang mit dem Anbau von
genetisch veränderten Organismen ernst zu nehmen und
in unserem Handeln zu berücksichtigen, erfüllt.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, in Ihrem Antrag fordern Sie
nun, bei der Umsetzung der Änderung der Freisetzungs-
richtlinie in nationales Recht gesetzlich zu verankern,
dass entsprechende Anbauverbote immer bundeseinheit-
lich zu verhängen sind. Dem kann man zum jetzigen
Zeitpunkt noch nicht zustimmen, weil es einfach nicht
klar ist, ob ein solches Gesetz juristisch sicher ist.
Die in Ihrem Antrag daraus resultierende Forderung
– ich zitiere –, „das so geänderte Recht anzuwenden, um
den kommerziellen Anbau aller zugelassenen und zur
Zulassung anstehenden gentechnisch veränderten Pflan-
zen in Deutschland zu untersagen“, würde bedeuten,
dass wir bis in alle Ewigkeit möglichen neuen wissen-
schaftlichen Erkenntnissen per Gesetz eine Absage ertei-
len.
Ich denke nicht, dass das im Interesse der Menschen
in unserem Land ist.
Ihre Aufforderung an die Bundesregierung, bei der
Abstimmung über die EU-Anbauzulassungen von GVO,
deren Anbau in Deutschland untersagt werden soll, mit
einer Ablehnung zu votieren, weise ich entschieden zu-
rück.
Im Mai dieses Jahres hat sich der Deutsche Bundestag
deutlich für das Selbstbestimmungsrecht der EU-Mit-
gliedstaaten ausgesprochen. Daran hat sich bis heute
nichts geändert.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7423
(C)
(B)
Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Ebner zu?
Natürlich.
Herr Ebner.
Lieber Kollege, welche wissenschaftlichen Erkennt-
nisse, die noch kommen könnten, versprichst du dir, lie-
ber Kees, in der Zukunft? Wir hören immer von Wunder-
pflanzen, die eines Tages kommen könnten. Aber in
einer Ausgabe des Fachmagazins Nature von diesem
Jahr wurde festgestellt, dass klassische Züchtungsan-
sätze bislang deutlich erfolgreicher als gentechnische
Ansätze sind.
Es gibt das Beispiel der Entwicklung von trocken-
heitstoleranten Sorten in parallelen Programmen. Ein
und dasselbe Institut entwickelte gentechnisch verän-
derte und konventionell gezüchtete Pflanzen. Mit der
konventionellen Züchtung wurden schon über 20 tro-
ckenheitstolerante Sorten entwickelt, bei der Gentechnik
ist noch gar nichts herausgekommen.
Ich hätte gerne gehört, was da noch kommen soll. In
den Niederlanden hatten Züchter ganz konventionell
Kartoffeln gezüchtet, die 15 Prozent Meeresanteil im
Beregnungswasser ertragen. Das sind Fortschritte, die
zeigen, dass wir die Gentechnik nicht brauchen. Deshalb
würde mich schon interessieren, welche wissenschaftli-
chen Erkenntnisse denn da noch kommen sollen.
Lieber Kollege Ebner, ich glaube, einigermaßen beur-
teilen zu können, was bis jetzt gelaufen ist. Ich habe nur
ein Problem: Ich kann nicht in die Zukunft schauen.
Deshalb will ich mir die mögliche Chance nicht ver-
bieten lassen.
Wer in die Zukunft schauen kann, kann mir gerne sagen,
was ich machen soll.
Bereits im Rahmen der Debatte im Mai habe ich be-
tont, dass Transparenz und Wahlfreiheit für den Verbrau-
cher für mich die wichtigsten Punkte sind. Aus diesem
Grunde fordere ich nach wie vor eine praktikable und lü-
ckenlose Produktkennzeichnung mit dem so einfachen
wie deutlichen Satz: Mithilfe von Gentechnik produ-
ziert. – Nur so können wir unbegründete Ängste abbauen
und zu einer absolut notwendigen Sachlichkeit in der
Diskussion zurückkommen.
Ich stelle fest: Der vorliegende Antrag führt nicht
dazu und ist deshalb abzulehnen.
Lassen Sie mich zum Schluss trotzdem jedem eine
frohe und gesegnete Weihnacht wünschen. Guten Rutsch!
Ich hoffe, dass wir nächstes Jahr weiterkämpfen.
Danke.
Als nächste Rednerin spricht Dr. Kirsten Tackmann
von der Linken.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Bevor wir in hoffentlich friedliche Weih-
nachten entschwinden können, geht es noch einmal um
Agrogentechnik. Bei diesem Thema ging es bis vor kur-
zem wenig friedlich zu. Ich finde, es ist unterdessen zu
einem Lehrstück einer lebendigen parlamentarischen
Demokratie geworden. Die Mehrheitsverhältnisse sind
mittlerweile nämlich ziemlich klar: Die übergroße Mehr-
heit der Menschen um uns herum will keine gentech-
nisch veränderten Pflanzen, und zwar weder auf dem
Teller noch auf dem Acker noch im Trog oder im Tank.
Im Bundestag reicht rein rechnerisch schon die Mehr-
heit von Rot-Rot-Grün, um jede Abstimmung, auch über
den Antrag der Grünen, zu gewinnen. Hinzu kämen die
blau-weißen Stimmen der CSU. Wir haben hier also eine
satte Mehrheit, und das ist unser gemeinsamer Erfolg.
Nur die CDU bleibt wacker an der Seite der Saatgut-
konzerne, zumindest mehrheitlich; denn, wie man so
hört, bröckelt auch diese Bastion. Selbst im bisher gen-
technisch freundlichen Spanien wurde 2014 weniger
GVO-Mais angebaut als in den Vorjahren. Der Wider-
stand wächst also, und das ist auch gut so.
Aber wir haben mit den Saatgutkonzernen natürlich
mächtige Gegner. Deshalb möchte ich all jenen danken,
die engagiert und mutig aufklären über die Folgen dieser
Risikotechnologie und auch darüber, wer von dieser
Technologie wirklich profitiert. Denn uns Linken geht es
um einen Grundsatz: Wir wollen nicht, dass Saatgutkon-
7424 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Dr. Kirsten Tackmann
(C)
(B)
zerne darüber entscheiden, was auf unseren Tellern lan-
det.
Dabei geht es um hohe Profite, und die werden mit allen
Mitteln verteidigt. Im Film Gekaufte Wahrheit von
Bertram Verhaag wird gezeigt, wie kritische Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler verleumdet, diffamiert
und eingeschüchtert werden. Gerade weil ich selbst Wis-
senschaftlerin bin, finde ich das unerträglich. Das kön-
nen wir so nicht hinnehmen.
Dagegen hilft eben nur eine kluge Bündnispolitik. Bei
der Agrogentechnik zeigen wir, was eigentlich möglich
ist, wenn Naturschutz, christliche Ethik und linke Sys-
temkritik mal zusammenhalten.
Der Antrag der Grünen hat mich in seiner Milde aller-
dings überrascht. Vielleicht liegt es ja an Weihnachten.
Eure Forderungen teilen wir natürlich: Anbauverbote
müssen in allen Bundesländern gelten. Die Bundesregie-
rung muss natürlich dafür sorgen, dass riskante Pflanzen
nicht zugelassen werden. Aber das sind alles nur Notlö-
sungen; so haben es die Grünen selbst bezeichnet.
Wir als Linke wollen eben, dass riskante Pflanzen nicht
zugelassen werden; denn dann müssen sie hinterher auch
nicht verboten werden.
Was erwarten Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn
gentechnisch veränderte Pflanzen zugelassen werden?
Sie erwarten zum Beispiel, dass es keine Risiken für
Mensch und Tier, für Natur und Umwelt gibt, dass ethi-
sche Bedenken ausgeräumt wurden, dass es keine Nach-
teile für diejenigen Betriebe gibt, die keine gentechnisch
veränderten Pflanzen anbauen, verarbeiten oder verfüt-
tern, und dass auch den Imkern dadurch kein Risiko ent-
steht. In der EU gilt schließlich das Vorsorgeprinzip, und
das ist auch richtig.
Aber genau diese Forderungen erfüllt das Zulassungs-
verfahren gar nicht. Das sagen nicht nur wir, sondern
auch das Europäische Parlament. Zum Beispiel fehlen
unabhängige Untersuchungen, zum Beispiel fehlen
Langzeituntersuchungen zu Schäden an Umwelt und für
Tiergesundheit, und es fehlen Untersuchungen zu soge-
nannten Kollateralschäden bei Nichtzielorganismen.
Diese Lücken müssen jetzt endlich geschlossen werden.
Um das Problem zu verdeutlichen: Zu Recht wird kri-
tisiert, dass bei Nutztieren zu viele Antibiotika einge-
setzt werden. Gleichzeitig werden aber gentechnisch
veränderte Pflanzen zugelassen, die ständig Insektengift
produzieren, und das mit dem gleichen Risiko von Re-
sistenzen. Das ist so, als würde man Weihnachtsgänse
gentechnisch so manipulieren, dass sie ständig Antibio-
tika produzieren. Also, mir vergeht da der Appetit.
Deshalb bleibt die Linke dabei: Wir fordern ein Zu-
lassungsverfahren, das die Gesellschaft vor riskanten
Pflanzen schützt und nicht die Profite von Saatgutkon-
zernen. Weil wir nicht an den Weihnachtsmann glauben,
werden wir im neuen Jahr weiter darum kämpfen. Da
Weihnachten eine Zeit der Besinnlichkeit ist, wünsche
ich uns allen, dass wir diese Zeit gut nutzen.
Vielen Dank.
Als nächste Rednerin spricht Elvira Drobinski-Weiß
von der SPD.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Auf das ver-
frühte Weihnachtsgeschenk – die Nachrichten aus Brüs-
sel – ist schon hingewiesen worden. Ich denke, der
Kompromiss auf der europäischen Ebene zwischen Rat,
Kommission und Parlament ist ein Kompromiss, der den
nationalen Ausstieg aus dem Anbau gentechnisch verän-
derter Pflanzen ermöglicht – und dieser Kompromiss ist
gut!
Er enthält wesentliche Punkte, die wir von der SPD
gefordert haben. Wir haben lange dafür gekämpft, und
die Anstrengungen haben sich gelohnt.
Die Mitgliedstaaten der EU können künftig souverän
entscheiden, ob sie Gentechnik auf ihren Äckern erlau-
ben wollen oder nicht. Die Entscheidung muss nicht, wie
es ursprünglich einmal geplant war, mit den Unterneh-
men ausgehandelt werden. Das, finde ich, war auch völ-
lig inakzeptabel.
Der Ausstieg soll nun also jederzeit möglich sein, und
Länder, die den Anbau gentechnisch veränderter Pflan-
zen erlauben, werden zu Schutzmaßnahmen gegenüber
den Nachbarstaaten verpflichtet. Beides ist sehr wichtig.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7425
Elvira Drobinski-Weiß
(C)
(B)
Noch lieber hätte ich es natürlich gesehen, wenn die
Regeln im Umweltrecht und nicht im Binnenmarktrecht
verankert worden wären.
Aber der Ausstieg aus der Gentechnik auf dem Acker
wird trotzdem rechtssicherer. Diesen Ausstieg, denke
ich, wollen wir alle.
Ich sage Ihnen auch, warum: weil die Gentechnik auf
dem Acker nicht kontrollierbar ist
und weil wir als Gesetzgeber die Pflicht haben, die na-
türlichen Lebensgrundlagen für die zukünftigen Genera-
tionen zu schützen. Das, sehr verehrte Kolleginnen und
Kollegen, steht in unserem Grundgesetz.
Die langfristige Wirkung der Grünen Gentechnik auf
die Artenvielfalt, auf die Ökosysteme, auf die Lebens-
mittel- und Futtermittelkreisläufe ist nicht absehbar.
Diese Technologie ist enorm risikobehaftet, und sie ist
nicht rückholbar. Ich denke, das müssen wir uns klarma-
chen. Felder, Äcker und Beete sind eben keine abge-
schlossenen Laborräume. Samen fliegen umher, kreuzen
aus. Wenn wir die Gentechnik auch nur begrenzt zulas-
sen, dann haben wir sie irgendwann überall, dann ist es
nämlich mit der Wahlfreiheit für Verbraucherinnen und
Verbraucher vorbei. Die Mehrheit dieser Verbraucher-
schaft will eben keine Gentechnik auf dem Teller.
Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, diese Vor-
behalte der Bevölkerung gegenüber der Gentechnik an-
zuerkennen. Das heißt für die nationale Umsetzung des
europäischen Kompromisses:
Erstens. Wir brauchen die rechtliche Möglichkeit,
bundesweite Anbauverbote zu verhängen; ich betone:
bundesweit.
Zweitens. Wir müssen die Anbauverbote auch regel-
mäßig bundesweit aussprechen.
Und drittens. Das alles muss selbstverständlich ohne
irgendwelche Verhandlungen mit den Saatgutkonzernen
stattfinden.
Herr Minister Schmidt ist heute nicht da, aber ich
denke, dass die Frau Staatssekretärin das weitergeben
wird. Das wird, finde ich, eines unserer wichtigsten Pro-
jekte im nächsten Jahr, ebenso wie die Kennzeichnungs-
pflicht – ich möchte nochmals darauf hinweisen, damit
das nicht vergessen wird – für die Produkte von Tieren,
die mit gentechnisch veränderten Futtermitteln gefüttert
worden sind.
Auch dafür muss sich Deutschland auf der europäischen
Ebene starkmachen.
Das haben wir den Menschen in unserem Koalitionsver-
trag versprochen. Das heißt also: Wir werden das tatkräf-
tig anpacken. Lassen Sie uns aber erst noch das kom-
mende Weihnachtsfest friedlich begehen. Und dann
arbeiten wir im neuen Jahr weiter.
Vielen Dank und alles Gute.
Als nächste Rednerin spricht Carola Stauche von der
CDU/CSU.
Sehr verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In einer knappen Woche, ganz unerwartet wie
jedes Jahr, werden wir Weihnachten feiern. Es ist nicht
nur das Fest der Liebe, der Familie usw., sondern auch
das Fest, an dem es sehr viele Geschenke gibt. Wie das
bei Geschenken so ist, ist oft auch das eine oder andere
dabei, das man eigentlich gar nicht braucht.
Ich habe den Eindruck, dass der Antrag, über den wir
heute beraten, ein solches Geschenk ist.
Deshalb werden wir dieses Geschenk nicht annehmen.
Nun könnte man meinen, das wäre ungebührlich, da
dieses Geschenk ja immerhin auf dem Wunschzettel ge-
standen hätte; denn im Antrag der Grünen wird aus ei-
nem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD vom
20. Mai 2014 zitiert, wo es heißt:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
rung auf, … das Selbstbestimmungsrecht der Mit-
gliedstaaten beim Anbau gentechnisch veränderter
Organismen zu stärken und die Möglichkeiten zum
nationalen Ausstieg aus dem GVO-Anbau rechtssi-
cher zu verankern …
Doch ich gebe zu bedenken: Da hat man wohl den
Wunschzettel falsch verstanden.
Hier wird keine bundeseinheitliche Umsetzung gefor-
dert. Diese Aussage bezieht sich auf das Selbstbestim-
7426 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Carola Stauche
(C)
(B)
mungsrecht der Mitgliedstaaten. Es geht hier nicht um
eine bundeseinheitliche Lösung, sondern lediglich um
die Möglichkeit, innerhalb Deutschlands eine eigene Lö-
sung zu finden.
Wie mein Kollege de Vries bereits bemerkt hat, muss
noch juristisch und fachlich geprüft werden, ob eine
bundesweite oder eine föderale oder eine gemischte Lö-
sung am besten ist.
Einen politischen Aspekt halte ich in dieser Frage für
bedenkenswert: Eine Stärke Deutschlands ist der Föde-
ralismus.
– Aha. – Ich halte es nicht für das Schlechteste, wenn
Landesregierungen ihre eigenen Akzente setzen können.
Ich denke, zumindest in diesem Punkt ganz generell
können Sie mir zustimmen.
Aber, wie gesagt: Die fachliche und juristische Prü-
fung steht noch aus. Hier werden selbstverständlich die
verschiedenen Ressorts des Bundes und der Länder eng
miteinander zusammenarbeiten. Vorbereitende Gesprä-
che hat es dazu im Übrigen bereits gegeben, und es sind
weitere Gespräche geplant.
Wenn Gentechnik in Deutschland weitgehend unmög-
lich gemacht wird, so ist die öffentliche Forschung auf
diesem Gebiet umso wichtiger. Die Unternehmen ziehen
sich zurück; der Forschungsstandort Deutschland ver-
liert.
Aber nur weil wir nicht mehr forschen, heißt das nicht,
dass nicht mehr geforscht wird. Auch in der Gentechnik
wird die Entwicklung weitergehen. Ich kann sie genauso
wenig voraussagen wie Sie, wie wir alle. Wir wissen
nicht, was die Zukunft bringt.
Frau Kollegin Stauche, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu?
Nein. Ich möchte eigentlich fertig werden.
– Ich werde aber trotzdem ausreden. – Forschung in die-
sem Bereich ist zumindest wichtig, damit wir uns klar
darüber werden können, wofür und wogegen wir eigent-
lich sind. Deshalb brauchen wir die Forschung.
Denn es kann nicht sein, dass Gentechnik nur aufgrund
von diffusen Ängsten und der Sehnsucht nach einer vor-
modernen Landwirtschaft abzulehnen ist.
Selbstverständlich sind wir in der Unionsfraktion und
wir in der Koalition uns einig, dass wir ein Maximum an
Verbraucherschutz wollen. Wir wollen umfassende Klar-
heit und Wahrheit.
Genauso setzen wir uns auch für die Wahlfreiheit des
Verbrauchers und nicht für ein absolutes Verbot ein. Aus
diesem Grunde befürworte ich die Kennzeichnung aller
Produkte, die mithilfe von Gentechnik produziert wer-
den. Dann würde vielen Menschen bewusst, wie sehr wir
in den verschiedensten Bereichen – nicht nur in der Er-
nährungswirtschaft – bereits mit Gentechnik zu tun ha-
ben,
so zum Beispiel in der Medizin – ich sage bloß „Insu-
lin“; da haben wir die Produktion in Deutschland verlo-
ren; wir beziehen das jetzt aus dem Ausland –, in der
Textilindustrie
und bei Nahrungsergänzungsmitteln, die auch viele
Grüne zu sich nehmen, die eigentlich vegetarisch leben;
dabei sind sehr viele dieser Produkte gentechnisch ver-
ändert.
Wenn wir das alles kennzeichnen, dann kann sich der
Verbraucher entscheiden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Antrag der Grü-
nen wird eine konsequente und bundeseinheitliche Um-
setzung von Anbauverboten gefordert. Wie beschrieben,
muss die Frage, ob dies bundeseinheitlich geschehen
soll, noch ausführlich besprochen werden. Was die kon-
sequente Umsetzung angeht, habe ich Vertrauen in unse-
ren Minister und in unsere Staatssekretäre; die beachten
auch immer die Praxis.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7427
Carola Stauche
(C)
(B)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als Agrarpoliti-
ker haben die Ehre, im Hohen Hause den letzten Tages-
ordnungspunkt vor Weihnachten zu diskutieren. Weih-
nachten ist ein Fest des Friedens und der Versöhnung.
Deshalb halte ich es für angebracht, am Ende meiner
Ausführungen noch auf Folgendes hinzuweisen: Egal
aus welcher Fraktion wir sind: Wir alle sind hier, weil
uns die Menschen in Deutschland am Herzen liegen.
– Jawohl. – Dabei liegen wir sicher oft weit auseinan-
der in der Frage, welche konkreten Schritte sich aus die-
sem Anliegen ableiten lassen. Das wurde auch heute
wieder deutlich.
– Das weiß ich, das brauchen Sie nicht zu betonen.
Dennoch freue ich mich, dass wir gemeinsam miteinan-
der ringen, um die besten Lösungen für dieses Land und
die Bürger zu finden. In diesem Sinne wünsche ich uns
allen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest und im
neuen Jahr wiederum viel Kraft und Mut für inspirie-
rende Politik für unser Land, und dies mit Gottes Segen.
Lassen Sie mich Ihnen noch einen Spruch mit auf den
Weg geben, meinen diesjährigen Weihnachtsspruch:
Weihnachten ist keine Veranstaltung des Gemüts, son-
dern eine zur Rettung der Welt.
Danke schön.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat Johann
Saathoff von der SPD das Wort.
Das Beste kommt zum Schluss, Herr Krischer.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit dem vorliegenden Ergebnis der Verhand-
lungen zwischen Parlament, Rat und Kommission zur
Änderung der Freisetzungsrichtlinie geht ein jahrelanges
Rechtsetzungsverfahren auf die Zielgerade, das lange
von Stillstand geprägt war. Ich bin froh, dass Rat und
Parlament zu einem gemeinsamen Ergebnis gekommen
sind, und ich denke, dieses Ergebnis kann sich sehen las-
sen. Meine Kollegin Elvira Drobinski-Weiß hat es ja
schon gesagt: So kurz vor Weihnachten könnte man es
fast als Geschenk bezeichnen. Damit werden viele unse-
rer Forderungen umgesetzt. Die Mitgliedstaaten bekom-
men nun endlich die notwendigen Instrumente an die
Hand, um den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen
auf ihrem Territorium zu verbieten. Bislang war das viel
zu umständlich und viel zu schwierig.
Mit der Entkopplung der beiden Phasen zum Opt-out
sind die Mitgliedstaaten nicht mehr abhängig vom Wohl-
wollen der Unternehmen. Sie können aufgrund einer
politischen Entscheidung den Anbau gentechnisch ver-
änderter Pflanzen verbieten. Das ist eine Frage der Sou-
veränität des staatlichen Handelns, die wir derzeit auch
bei CETA oder TTIP diskutieren.
Mit Blick darauf hat der Kompromiss zum Opt-out für
mich Vorbildcharakter.
Der Minister hat angekündigt, rasch nach der Beendi-
gung des Rechtsetzungsverfahrens in Brüssel einen Ge-
setzentwurf für die Umsetzung des Opt-out in Deutsch-
land vorzulegen. Die Gespräche dazu laufen bereits. Ein
Flickenteppich, das wissen wir auch aus anderen Politik-
bereichen, ist meist für das Gesamte nicht förderlich. Die
Bundesregierung und der Deutsche Bundestag sollten
deshalb ihrer Verantwortung gerecht werden und eine
Regelung für die gesamte Bundesrepublik treffen. Ich
denke, das dürfen die Menschen von uns erwarten.
Besondere Aufmerksamkeit sollte auch der Bereich
des Schutzes vor Auskreuzung erfahren. Dabei geht es
nicht nur um Mindestabstände – die Mindestabstände für
den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen in der EU
unterscheiden sich übrigens zum Teil sehr stark; in den
Niederlanden sind sie beispielsweise wesentlich niedri-
ger als in Deutschland –, es geht auch um die Lagerung,
den Transport, die Information und die Aufzeichnung,
wie sie in der guten fachlichen Praxis geregelt sind. Das
Auskreuzungsverhalten variiert bekanntermaßen sehr
stark zwischen verschiedenen Pflanzen, weshalb vor al-
lem beim Raps besondere Vorsicht geboten ist. Ich be-
grüße es, dass diese Koexistenzmaßnahmen nun obliga-
torisch sind.
Gerade bei so wichtigen bundesgesetzlichen Regelun-
gen wie zur Gentechnik stecken die Probleme oft in win-
zigen Details. Mallör sitt up een lütjen Stee – so würde
man das als Ostfriese übersetzen.
Nach dem Geschenk in diesem Jahr sollten wir also
bei der Umsetzung darauf achten, dass wir im nächsten
Jahr nicht eine Rute bekommen. In diesem Sinne wün-
sche ich Ihnen eine besinnliche Weihnachtszeit und ei-
nen guten Rutsch ins neue Jahr.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
7428 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
(C)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Wir sind aber noch nicht am Ende der Sitzung.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3550 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
auch so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung. Ich wünsche Ihnen ein fröhliches, ein besinn-
liches und vor allen Dingen auch ein erholsames Weih-
nachten. Ich glaube, das können wir alle gut gebrauchen.
Vor allen Dingen wünsche ich uns aber für 2015 ein gu-
tes und hoffentlich auch friedvolleres Jahr, als wir es
2014 erleben mussten.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutsche Bundes-
tages auf Mittwoch, den 14. Januar 2015, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.