Rede von
Katja
Kipping
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DIE LINKE.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)
Herr Präsident! Werte Damen und Herren! Vor knapp
zehn Jahren trat das Vierte Gesetz für moderne Dienst-
leistungen am Arbeitsmarkt, eher bekannt unter dem Na-
men Hartz IV, in Kraft. Wir nehmen dieses Jubiläum
zum Anlass für eine kritische Bilanz.
Herausgekommen ist ein System, mit dem die Ar-
beitslosen diszipliniert und bestraft werden.
So spricht inzwischen Peter Hartz über Hartz IV. Die
Bilanz von Hartz IV ist also offensichtlich so verhee-
rend, dass sich selbst der Namensgeber davon distan-
ziert.
Bei der Einführung vor über zehn Jahren hieß es: Die
Hartz-Reformen sollen eine bessere Vermittlung in Ar-
beit ermöglichen. Tatsache ist jedoch: Im Vergleich zum
Vorgängersystem hat sich die Verweildauer im Sozial-
system verlängert. Jeder zweite erwerbsfähige Betrof-
fene ist länger als vier Jahre auf Hartz IV angewiesen.
Von einer schnelleren Vermittlung kann also überhaupt
gar keine Rede sein. Genau deswegen kann es nicht wei-
tergehen mit Hartz IV.
Außerdem hieß es bei der Einführung: Das Arbeits-
losengeld II soll ausreichend materielle Sicherung ge-
währleisten. In der offiziellen Bilanz der Bundesagentur
heißt es noch heute:
Die gute Idee der Grundsicherung war, … eine an-
gemessene Pauschale zu zahlen.
Eine „angemessene Pauschale“ – so weit die Theorie.
Wer in der Praxis jedoch auf Hartz IV angewiesen ist,
dem fehlt es oft an wirklich notwendigen Dingen. Bei-
spielsweise fehlt jedem zweiten Betroffenen das Geld
für notwendige medizinische Leistungen, die nicht von
der Kasse übernommen werden.
Falls einer hier im Saal ernsthaft meint, 391 Euro im
Monat seien ausreichend, möchte ich ihn mit der Zu-
schrift einer 64-jährigen Frau konfrontieren. Renate S.
schrieb mir vor einigen Tagen:
Ich lebe von Grundsicherung, bin 64 Jahre alt, habe
gesundheitliche Probleme und sitze viel einsam in
meiner Wohnung, weil ich am sozialen Leben nicht
teilnehmen kann. Jetzt ist Weihnachten, und ich
möchte gern meinen Sohn und meinen Enkel besu-
chen, weiß aber nicht, von was ich kleine Ge-
schenke kaufen soll.
Eine Großmutter weiß nicht, wovon sie ihrem Enkel zu
Weihnachten ein kleines Geschenk kaufen soll! Das ist
die Realität von Hartz IV, und damit kann man sich nicht
abfinden.
Ja, Hartz IV, das bedeutet Armut statt gesellschaftli-
che Teilhabe, Bedarfsgemeinschaften mit schikanöser
Überprüfung der Wohn- und Beziehungssituation statt
individuelle Rechte, fragwürdige 1-Euro-Jobs statt gute
Arbeit, statt ordentliche öffentliche Beschäftigung,
Sanktionen statt soziale Grundrechte. Kurzum: Zehn
Jahre Hartz IV sind zehn Jahre zu viel. Es ist höchste
Zeit für einen sozialpolitischen Neustart,
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7399
Katja Kipping
(C)
(B)
auch deshalb, weil Hartz IV der Ideologie folgt, der Ein-
zelne sei schuld an seiner Erwerbslosigkeit. Die Opfer
des Arbeitsmarktes werden so noch als Schuldige abge-
stempelt. Ausdruck dieser falschen Ideologie ist die
Sanktionspraxis.
Sanktionen bedeuten, dass das ohnehin niedrige Ar-
beitslosengeld II gekürzt werden kann – erst um 30,
dann um 60 Prozent – und schließlich ganz weggestri-
chen werden kann. Allein die Androhung einer mögli-
chen Sanktion hängt wie ein Damoklesschwert über den
Betroffenen. Wo Existenzangst um sich greift, da ver-
schärft sich das gesellschaftliche Klima. Mitmenschlich-
keit, Humanität und Demokratie haben es deswegen
umso schwerer, und darüber können wir nicht einfach
hinweggehen.
Die Linke meint: Sanktionen untergraben das Grund-
recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum. Sie ge-
hören deswegen abgeschafft, und zwar sofort.
Da wir gerade über Sanktionen reden: Bemerkens-
wert ist doch, dass 44 Prozent der Klagen gegen Sanktio-
nen ganz oder teilweise stattgegeben wird. Das heißt:
Selbst gemessen an den harten herrschenden Gesetzen,
werden viele Sanktionen noch zu Unrecht verhängt; und
wir reden hier über Menschen, die kein finanzielles Pols-
ter haben. Deswegen meinen wir: Damit muss Schluss
sein.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, so steht
es in Artikel 1 unseres Grundgesetzes. Ich meine, daraus
folgt auch: Die Würde eines Menschen hängt nicht da-
von ab, wie verwertbar er für den Arbeitsmarkt ist. Zu
einem würdevollen Leben gehört auch das Recht, die ei-
gene Erwerbsarbeit frei zu wählen, statt in irgendeinen
schlecht bezahlten Job oder in irgendeine fragwürdige
Maßnahme gepresst zu werden.
Zu einem würdevollen Leben gehört auch, dass alle,
auch diejenigen, die keinen Erfolg auf dem Erwerbsar-
beitsmarkt hatten, als Bürger bzw. Bürgerin aufrechten
Ganges an der Gesellschaft teilhaben können und sich
nicht aus Scham oder Geldnot in den eigenen vier Wän-
den verkriechen müssen. Auch deswegen sagen wir
heute erneut: Hartz IV muss abgeschafft und durch gute
Arbeit und eine sanktionsfreie Mindestsicherung ersetzt
werden. Unter 1 050 Euro im Monat droht Armut.
Ja, werte Damen und Herren von der Sozialdemokra-
tie, Hartz IV ist „zum Symbol für soziale Kälte“ gewor-
den, so schrieb Andrea Nahles, die heutige Sozialminis-
terin, noch im Jahr 2009. Wenn das mehr als Lyrik, mehr
als purer Wahlkampf war, dann frage ich mich, warum
Sie vor Hartz IV so dermaßen kapituliert haben, warum
Sie keinerlei ernsthafte Veränderungen an Hartz IV vor-
nehmen. Ich meine – man kann es nicht oft genug sagen –:
Zehn Jahre Hartz IV sind zehn Jahre zu viel. Es ist
höchste Zeit für einen sozialpolitischen Neustart. Es ist
an der Zeit, Hartz IV zu entsorgen und durch eine sank-
tionsfreie Mindestsicherung, die sicher vor Armut
schützt, zu ersetzen.
Vielen Dank.