Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Am letzten Plenartag hier im Hohen Haus reden zu
dürfen, ist besonders in diesem Jahr eine große Ehre.
Wir blicken auf ein ereignisreiches Jahr – insbesondere
für die Mitglieder des Sozialausschusses – zurück. Wir
haben die erste Rentenverbesserung der vergangenen
Jahre beschlossen. Darüber hinaus gilt ab dem 1. Januar
des kommenden Jahres ein bundesweit einheitlicher
Mindestlohn. Dies ist ein klares Zeichen unserer Gesell-
schaft, dass Lohndumping nicht Bestandteil der sozialen
Marktwirtschaft ist.
Im Ergebnis steht ein Resultat, mit dem man sehr zufrie-
den sein kann. Davon werden viele Menschen in unse-
rem Land profitieren.
Ich denke, dass auch Sie, sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen von den Linken, dem so zustimmen kön-
nen. Ich möchte nur ungern Wasser in den Wein der vor-
weihnachtlichen Harmonie gießen, aber Ihr Antrag, auch
wenn er nicht wirklich viel Neues zu bieten hat, liest sich
wie ein deutlich zu üppig geratener Wunschzettel an das
Christkind. Bereits in der Einleitung fordern Sie
schlichtweg, Transferleistungen massiv auszubauen,
ohne Möglichkeiten für eine Gegenfinanzierung aufzu-
zeigen. Zugleich wollen Sie die Anreize für den Wieder-
einstieg in das Arbeitsleben abschaffen.
Bei Ihnen heißt es weiter, für den Bezug staatlicher
Leistungen seien nicht die eigenen wirtschaftlichen Ver-
hältnisse entscheidend; nein, Sie erheben die individuel-
len Ansprüche zum Maßstab der staatlichen Fürsorge.
Vielen Dank für den Blick auf Ihr politisches Betriebs-
system!
Selbst für den Laien wird hier offensichtlich: Dies
kann nicht funktionieren, und das sollte auch nicht Ziel
einer nachhaltigen Politik sein, meine sehr verehrten Da-
men und Herren.
Geht es bei der Existenzsicherung wirklich darum, in-
dividuellen Ansprüchen gerecht zu werden, oder geht es
nicht vielmehr darum, den unschuldig in Not geratenen
Menschen vor menschenunwürdigen Bedingungen zu
schützen? Es ist doch nicht Aufgabe einer Solidarge-
meinschaft, einen einmal erworbenen Lebensstil bis auf
den Sankt-Nimmerleins-Tag festzuschreiben.
Liebe Freunde der Linken, auch wenn das Weih-
nachtsfest vor der Tür steht: Wir sind doch hier nicht bei
„Wünsch dir was“. Schließlich ist es doch so: Jeder
Euro, der ausbezahlt wird, muss erst einmal von jeman-
dem erwirtschaftet werden. Bitte verschonen Sie mich
an dieser Stelle mit dem Vorwurf, dass dies Stamm-
tischniveau sei! Nein, das hat ganz grundlegend etwas
mit dem gesunden Menschenverstand zu tun.
Die marxistische Präambel ist hier aber noch nicht zu
Ende.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7411
Albert Stegemann
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Sie enthält aberwitzige Analysen der arbeitsmarktpoliti-
schen Realität. So sind laut Ihrem Antrag „das kapitalis-
tische Wirtschaftssystem und die neoliberale Wirtschafts-
und Arbeitsmarktpolitik für die Massenarbeitslosigkeit
verantwortlich“. Aha, Massenarbeitslosigkeit.
Es geht sogar noch weiter. Sie sagen, die jetzige Bun-
desregierung wolle unter dem Motto „Fördern und For-
dern“ nur eines, nämlich die Opfer des Arbeitsmarktes
zu den Schuldigen der Arbeitsmarktkrise umdeuten. Sa-
gen Sie einmal: Wann haben Sie denn den Antrag ver-
fasst?
Mit 43 Millionen Beschäftigungsverhältnissen, davon
32 Millionen sozialversicherungspflichtig, steht der Ar-
beitsmarkt so robust da wie nie zuvor.
Wir haben mit unter 3 Millionen Erwerbslosen eine so
niedrige Arbeitslosenzahl wie noch nie, und Sie spre-
chen von Massenarbeitslosigkeit und Arbeitsmarktkrise.
2005, bei Einführung des SGB II, waren übrigens über
5 Millionen Menschen ohne Arbeit. Deswegen frage ich
Sie, ob dieser Antrag vielleicht aus jener Zeit stammt.
Glauben Sie ernsthaft, dass es außerhalb Ihrer Fraktion
auch nur eine Handvoll Menschen gibt, die Ihnen wirk-
lich abnimmt, dass Sie den Arbeitsmarkt besser im Griff
hätten?
Aber was fordern Sie? Sie fordern den Jobkiller Num-
mer eins: den gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro.
Also, effektiver kann man Arbeitsplätze wohl kaum ver-
nichten!
Dann haben Sie die glorreiche Idee, höhere tarifliche
Mindestlöhne in den betreffenden Branchen für allge-
meinverbindlich zu erklären.
Ehrlich gesagt, ich habe mich beim Lesen des Antrags
an dieser Stelle auf den Arm genommen gefühlt. Das ist
doch wohl nicht Ihr Ernst?
Dann wollen Sie die Rahmenfrist beim Arbeitslosen-
geld I auf drei Jahre erweitern und zudem einen öffentli-
chen Beschäftigungssektor in der Größenordnung von
200 000 Stellen aufbauen.
Damit sollen die vorübergehenden 1-Euro-Jobs dauer-
haft auf 10-Euro-Jobs ausgeweitet werden. Löblich, löb-
lich!
Nur fehlt mir an dieser Stelle die Fantasie, um zu sagen,
wie hoch der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung wer-
den würde.
Dann wollen Sie auch die Sanktionen bei Hartz IV
abschaffen; dazu ist einiges gesagt worden. Zusammen-
gefasst: Wir wollen den Jobcentern lediglich Spielräume
ermöglichen, um Menschen wieder dauerhaft in Arbeit
zu bringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der hier zu
beratende Antrag ist bei genauer Betrachtung mehr als
ein üppiger Wunschzettel an das Christkind. Er ist ein
Angriff auf die soziale Marktwirtschaft, wie wir sie ken-
nen.
Der Antragsteller stellt das Grundprinzip der Eigenver-
antwortung auf der einen Seite und der Verantwortung
für andere auf der anderen Seite infrage.
Sie sind davon überzeugt, dass es für eine Leistung kei-
ner Gegenleistung bedarf.
Sich auf die Solidarität der Gemeinschaft zu verlas-
sen, ohne seine eigenen Möglichkeiten und Talente mit
einzubringen, das wird unser politisches System nicht
nur überfordern; nein, das entspricht auch nicht der
Menschenwürde, auf die Sie sich hier paradoxerweise
berufen. Arbeitslose sind schließlich keine Opfer, die
alimentiert werden müssen. Sie wollen und sie müssen
wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden.
Wir wollen ein System, in dem nicht jeder Stütze be-
zieht, sondern eines, in dem jedermann dazu befähigt
wird, zu einer Stütze der Gesellschaft zu werden. Ich bin
zutiefst davon überzeugt, dass dieses Menschenbild der
Würde des Menschen am nächsten kommt und nur die-
ses politische Weltbild eine Zukunft hat. Deshalb lehnen
wir Ihren Antrag ab.
Gleichzeitig wünsche ich uns allen ein gesegnetes
Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit im nächs-
ten Jahr.
Vielen Dank.
7412 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
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