Rede von
Sabine
Zimmermann
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(DIE LINKE.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE LINKE.)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Professor Zimmer, ich schätze Sie
sehr, aber ich glaube, dass Sie unseren Antrag nicht gele-
sen oder nicht begriffen haben. Es geht hier nicht um das
bedingungslose Grundeinkommen,
sondern darum, dass die Menschen eine menschenwür-
dige Existenzsicherung sanktionsfrei bekommen. Es geht
darum, dass die Menschen ihr Leben in Würde gestalten
können. Begreifen Sie endlich, dass es nicht um das be-
dingungslose Grundeinkommen geht!
Meine Damen und Herren von der Großen Koalition,
Sie sagen: Zehn Jahre Agenda 2010 einschließlich
Hartz-Reformen sind ein Grund zum Feiern. Wir sagen:
Dank der Hartz-Reformen ist die Spaltung zwischen
Arm und Reich in diesem Land viel größer geworden.
Sie sagen: Mit 43 Millionen gibt es so viele Erwerbstä-
tige wie nie zuvor.
Wir sagen: Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ist
heute genauso hoch wie im Jahr 2000. Also hat das Ar-
beitsvolumen nicht zugenommen. Die vorhandene Ar-
beit ist bloß auf mehr Schultern verteilt worden.
Die Menschen haben teilweise zwei oder drei Jobs, um
leben zu können, meine Herren.
Sie sagen: Deutschland ist dank der Agenda gut durch
die Krise gekommen, und davon profitieren die Men-
schen. Wir sagen: Wovon profitieren denn etwa 13 Mil-
lionen von Armut bedrohte Menschen? Das ist jeder
Sechste in unserem Land. Über 2 Millionen Kinder le-
ben in Armut. Das ist beschämend für ein reiches Land
wie Deutschland.
Es reicht eben nicht, wenn es der Wirtschaft und den
Banken gut geht und dabei die Schere zwischen Arm
und Reich immer weiter auseinandergeht.
Meine Damen und Herren der Sozialdemokratie, es
ist beschämend für eine sozialdemokratische Arbeiter-
partei, so etwas überhaupt in Deutschland initiiert zu ha-
ben.
– Sie brauchen gar nicht zu lachen. Sie alle in diesem
Hohen Hause sind daran beteiligt, nur die Linke nicht.
Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014 7407
Sabine Zimmermann
(C)
(B)
Professor Zimmer, Sie sagen, dass wir ein katastro-
phales Bild zeichnen, das durch die Wirklichkeit nicht
gedeckt ist. Ich sage Ihnen: Jede unserer Aussagen ist
überprüfbar und durch Fakten gedeckt.
Sie weigern sich, die Realität wahrzunehmen, weil Sie
die hässlichen Flecken auf der Agenda 2010 nicht zur
Kenntnis nehmen wollen. Wir haben Ihnen die Realität
gezeigt und erklärt, wie es wirklich ist. Aber das wollen
Sie einfach nicht zur Kenntnis nehmen.
Sie machen sich die Welt, wie sie Ihnen gefällt.
Ein Beispiel. Kürzlich hat mir eine alleinerziehende
Mutter, die mit ihren drei Kindern – eines davon chro-
nisch krank – auf Hartz IV angewiesen ist, berichtet,
dass ihr der Strom abgestellt wird, weil sie ihre Rech-
nungen nicht mehr bezahlen kann.
Sie sagen wahrscheinlich, dass das ein Einzelfall ist. Ich
sage Ihnen: Die Bundesnetzagentur zählt für 2013
344 798 Stromsperren. Ist das sozial?
– Nein, es geht nicht nur um Hartz IV, wie Sie immer
denken. Vielmehr geht es darum, wie die Agenda 2010
auf Deutschland und die Gesellschaft gewirkt hat. Das
müssen Sie endlich zur Kenntnis nehmen.
Eines der reichsten Länder der Erde darf nicht so mit
den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft umgehen.
Das ist eine Frage des Anstandes und der Menschen-
würde.
Mit der Agenda 2010 haben Sie zuerst und vor allem
das Vorurteil von den faulen Leistungsempfängern in der
Hängematte bedient. „Fördern und Fordern“ war Ihr Slo-
gan. Gefordert haben Sie tatsächlich und haben Ihre For-
derungen häufig genug mit Sanktionen durchgesetzt.
Auf das Fördern warten viele Erwerbslose bis heute ver-
geblich. Angesichts der Kürzungen in der Arbeitsmarkt-
politik ist in Zukunft keine Förderung mehr möglich.
Zuletzt haben Sie von der CDU/CSU vor allen Din-
gen das Hohelied auf die Flexibilisierung durch die
Agenda 2010 gesungen. Was bedeutet denn Flexibilisie-
rung? Ich will Ihnen das sagen: Der Anteil des Niedrig-
lohnbereichs hat über die Jahre deutlich auf 24 Prozent
zugenommen. Deutschland hat übrigens den größten
Niedriglohnsektor in Europa.
Ja, das ist wahrscheinlich der große Erfolg von Hartz IV;
denn das Hartz-IV-System ist ein wesentlicher Motor der
Niedriglöhne. Durch die Abschaffung jedweder Zumut-
barkeitskriterien werden die Menschen gezwungen, na-
hezu jede Beschäftigung anzunehmen. Ansonsten droht
ihnen der Entzug ihrer Existenzgrundlage. Das ist Er-
pressung und nichts anderes. Das verkaufen Sie als Er-
folgsmodell. Es ist unfassbar!
Deshalb war und ist Hartz IV ein Generalangriff auf
das Lohnniveau. 1,2 Millionen abhängig Beschäftigte
können von ihrem Lohn nicht leben und beziehen ergän-
zende Hartz-IV-Leistungen, oft schon seit vielen Jahren.
Mancher Arbeitgeber sagt sogar: Du bekommst von mir
5 Euro, und den Rest holst du dir vom Amt.
Ist das die Form, die Sie sich vorstellen?
Soll der Staat die Löhne in Milliardenhöhe subventionie-
ren?
2,5 Millionen Beschäftigte gehen mittlerweile einem
Zweitjob nach. Es ließe sich noch viel dazu sagen: stei-
gende Altersarmut, zunehmende Überschuldung. Aber
aus Zeitgründen lasse ich das weg.
– Nein. Herr Rosemann, hören Sie mir zu, dann kann ich
Ihnen das erklären. – Mit Hartz IV wurde vor allem ei-
nes erreicht: Der soziale Konsens in diesem Lande
wurde aufgekündigt.
Das hat zu einer tiefen Verunsicherung der Menschen
geführt.
Ich fasse zusammen. Hören Sie auf, Hartz IV über
den grünen Klee zu loben. Dieses System gehört endlich
abgeschafft.
Das ist ganz einfach – hören Sie mir zu! Darüber können
Sie unter dem Weihnachtsbaum nachdenken –:
Erstens. Ersetzen Sie Hartz IV durch eine sanktions-
freie menschenwürdige Mindestsicherung.
Zweitens. Stellen Sie die Schaffung von guter Arbeit
in den Mittelpunkt. Dazu gehört auch ein Mindestlohn,
7408 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 77. Sitzung. Berlin, Freitag, den 19. Dezember 2014
Sabine Zimmermann
(C)
(B)
der flächendeckend ist und der keine Ausnahmen hat,
der zumindest so hoch ist, dass man dadurch nicht in Al-
tersarmut gerät. Nehmen Sie Geld für die Arbeitsmarkt-
politik in die Hand, anstatt die Erwerbslosen abzuschrei-
ben. So geht eine erfolgreiche Politik mit links. Denken
Sie darüber nach.
Ich wünsche Ihnen schöne Weihnachten.