Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie herzlich.Der Kollege Karl Diller hat am 27. Januar seinen65. Geburtstag gefeiert.
Herr Kollege Diller, Herr Staatssekretär, im Namen desganzen Hauses gratuliere ich Ihnen zu Ihrem Geburtstagnachträglich sehr herzlich. Alles Gute!Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer,Irmingard Schewe-Gerigk, Markus Kurth, weiterer Abgeord-neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:Ergebnisse der wissenschaftlichen Auswertung der Hartz-Gesetze I bis III konsequent umsetzen– Drucksache 16/547 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusRedetAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Laurenz Meyer
, Ilse Aigner, Veronika Bellmann, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordne-ten Dr. Rainer Wend, Christian Lange , LudwigStiegler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD:Neue Impulse für den Mittelstand– Drucksache 16/557 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger AusschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklunAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Kuhn und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-NEN: Tierschutzpolitik energisch fortführen und weiter-entwickeln– Drucksache 16/550 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
und der FrKommissipektieren– Drucksa
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Vizepräsidentin Gerda HasselfeldtÜberweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann,Peter Hettlich, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Den Schutzder Anwohner vor Fluglärm wirksam verbessern– Drucksache 16/551 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, VolkerBeck , Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Leben undArbeiten mit Kindern möglich machen– Drucksache 16/552 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
FinanzausschussAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen,Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Michael Kauch, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gleiche Rechte,gleiche Pflichten – Benachteiligungen von Lebenspartner-schaften abbauen– Drucksache 16/565 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussFinanzausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann,Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter und der Fraktion desBÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Bestandssanierung derVerkehrsinfrastruktur ausweiten und effektive Sanie-rungsstrategie vorlegen– Drucksache 16/553 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
HaushaltsausschussZP 12 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS-SES 90/DIE GRÜNEN: Beitrag der deutschen Politik zurDeeskalation des Konfliktes um den KarikaturenstreitDie Tagesordnungspunkte 6 – Berufliche Bildung –und 16 – Welthandelskonferenz – sollen getauscht wer-den.Außerdem ist vorgesehen, den Tagesordnungs-punkt 10 b abzusetzen.Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so-weit erforderlich – abgewichen werden. Sind Sie mitdiesen Vereinbarungen einverstanden? – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie Zusatz-punkt 1 auf:ZdhsdAmHmsesbkvswmwfe
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen underren! Die derzeitige Situation auf dem Arbeitsmarktuss für uns alle vor allem Ansporn sein, mehr Men-chen die Chance auf Arbeit zu geben. Dazu sind wirntschlossen. Mit den Hartz-Gesetzen der Agenda 2010ind bereits weit reichende Reformen im Bereich der Ar-eitsmarktpolitik umgesetzt worden. Ihr Ziel ist es, ver-rustete und ineffiziente Strukturen aufzubrechen: wegon der Verwaltung von Arbeitslosigkeit hin zur ent-chlossenen und schnellen Vermittlung in Arbeit. Wirollen aktivieren statt alimentieren und die Arbeits-arktreformen zum Erfolg führen. Die Bundesregierungird prüfen, was funktioniert, und ändern, was nichtunktioniert.Dazu dient der Zwischenbericht zur Evaluation derrsten drei Gesetze für moderne Dienstleistungen am
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Parl. Staatssekretär Gerd AndresArbeitsmarkt, den die Bundesregierung nun vorgelegthat. Er folgt der Aufforderung des Bundestages vom14. November 2002, die Wirkung der Hartz-Gesetze zuevaluieren. Gegenstand ist zunächst die Evaluation derHartz-Gesetze I bis III. Die Grundsicherung für Arbeit-suchende, Hartz IV, ist erst später in Kraft getreten; dieErgebnisse dieser Evaluation folgen frühestens Ende2006.Die ersten beiden Gesetze für moderne Dienstleistun-gen am Arbeitsmarkt enthalten eine Neuausrichtung al-ler zentralen Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpoli-tik. Außerdem tragen sie zur Flexibilisierung derZeitarbeitsbranche bei und regeln die geringfügige Be-schäftigung neu. So wurden in Hartz II die Mini- undMidijobs erweitert und der Existenzgründungszuschuss,die so genannte Ich-AG, eingeführt. Beide Gesetze tra-ten am 1. Januar 2003 in Kraft, einzelne Instrumente erstim Frühjahr 2003.Das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen amArbeitsmarkt mit Wirkung ab 1. Januar 2004 steuert dieNeuorganisation der Bundesagentur für Arbeit hin zumehr Kundenorientierung und Vermittlung sowie zu ei-ner Erhöhung von Effektivität, Effizienz und Transpa-renz der Abläufe in der Agentur.Der vorgelegte Evaluationsbericht ist Ausdruck einesselbstkritischen und zielorientierten Politikstils. Im Mit-telpunkt steht dabei das Interesse der Betroffenen an ei-ner Steigerung ihrer Beschäftigungsfähigkeit und Auto-nomie. Daran müssen sich alle arbeitsmarktpolitischenStrategien messen lassen. Wir lassen damit erstmals indiesem Umfang begleitend die faktische Wirkung derArbeitsmarktpolitik untersuchen.Was jetzt vorliegt, ist ein Zwischenfazit. Der Berichthat aufgrund des noch zu kurzen Beobachtungszeitraumsden Charakter einer ersten Bestandsaufnahme. Er ba-siert auf Erkenntnissen, die über Mitte 2005 nicht hi-nausgehen, weil ein Teil der von den Instituten zu erstel-lenden Gutachten im Juli des vergangenen Jahresabgeliefert wurde. Seitdem wurde eine Reihe von Wei-terentwicklungen und Änderungen insbesondere bei derUmgestaltung der Bundesagentur vorgenommen. EinigeRegelungen, die sich als nicht wirksam erwiesen, wur-den bereits modifiziert. Wir stehen also mitten in derUmsetzung. Auf der Basis des Endberichtes, der bisEnde 2006 vorzulegen ist, werden wir im nächsten Jahr,wie in der Koalitionsvereinbarung vorgesehen, gesetzge-berische Konsequenzen für eine Neuausrichtung undBündelung der aktiven Arbeitsmarktpolitik ziehen; abereiniges optimieren wir schon jetzt.Die vorliegenden Zwischenergebnisse enthalten Kri-tik, aber auch Zustimmung. Eine ganz wichtige Nach-richt ist, wie ich finde: Der Umbau der Arbeitsverwal-tung ist auf einem guten Weg. Die Dienstleistungen derAgentur unterliegen jetzt einer konsequenten Steuerungund Kontrolle und erfolgen kostenbewusst. Bereits imletzten Jahr hat die Bundesagentur für Arbeit einen fastausgeglichenen Haushalt vorgelegt. Diese Entwicklungeröffnet die Möglichkeit, ab 2007 den Beitrag zur Ar-beitslosenversicherung zu senken und so ein Signal fürmehr Beschäftigung zu setzen.hEgdAdEmrwFvsacBirScfb–1hdSDVdSPEnrvtAmmsEnansdimwF
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enn man dem Herrn Staatssekretär zugehört hat, kannan sich mit einem gewissen Maß an Berechtigungurchaus auch die Frage stellen, warum wir im letztenahr überhaupt gewählt haben, wo doch alles so gut ist.Im letzten Monat wurden tatsächlich wieder überMillionen Arbeitslose registriert. Wir alle wissen doch,ass diejenigen, die eine Ich-AG betreiben, die einen-Euro-Job haben oder die sich in einer Arbeitsbeschaf-ungs-, Trainings- oder Bildungsmaßnahme befinden, inieser Statistik nicht registriert worden sind. Das heißt,as tatsächliche Ausmaß der Unterbeschäftigung ineutschland spielt sich bei 6 bis 7 Millionen Menschenb. Trotzdem tut der Herr Staatssekretär so, als ob allesut sei.
Peter Hartz ist im August 2002 mit der Leitung einereformkommission beauftragt worden. Die Freien De-okraten sind der festen Überzeugung, dass die Idee,uch die Instrumente des Arbeitsmarktausgleiches neuu gestalten und zu überprüfen, grundsätzlich vernünftigewesen ist. Erinnern wir uns doch einmal daran, dassie alte Bundesregierung im August 2002 nach einemirklich schönen Aufzug am Gendarmenmarkt im Fran-ösischen Dom zelebriert hat, dass die Arbeitslosigkeitn zwei Jahren halbiert werden wird. Das muss man bitteuch einmal mit den heutigen Zahlen vergleichen dür-en.
Der alte BA-Vorstand hat noch Anfang des Jahres ge-agt: Die Wahrscheinlichkeit, dass die 5-Millionen-renze in diesem Winter überschritten wird, liegt deut-ich unter 50 Prozent. – Nachdem Schwarz-Rot Ende
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Dirk Niebelletzten Jahres noch die Frühverrentungsregelung fürArbeitslose verlängert hat, hat er wahrscheinlich damitgerechnet, dass das wirkt; denn über 400 000 ältere Ar-beitslose tauchen in der Statistik nicht auf. Lassen Sieuns doch endlich einmal damit aufhören, die Statistik zuverkleistern! Lassen Sie uns das tun, was wir im Wahl-kampf gefordert haben, nämlich beim Beschreiben desAusmaßes der Unterbeschäftigung in Deutschland ehr-lich sein.
Der vorliegende Bericht ist eine Dokumentation desMisserfolges rot-grüner Arbeitsmarktpolitik. Die Bun-desregierung will aber keine Konsequenzen daraus zie-hen.
Sie sagt: Wir warten mal ab, bis der AbschlussberichtEnde des Jahres vorgelegt wird. – Sie wollen die Gelderder Beitragszahler ein ganzes Jahr lang für Maßnahmen,bei denen schon heute klar erkennbar ist, dass sie nichtzur Integration in den Arbeitsmarkt beitragen, weiterverschleudern. Das ist unverantwortlich. Das ist einePolitik der ruhigen Hand und die ruhige Hand haben Siedoch eigentlich abgelöst.
Schauen wir uns die einzelnen Instrumente an:Völlig zu Recht loben Sie die Möglichkeit der Inte-gration von Arbeitslosen als selbstständige Unter-nehmer. Das Überbrückungsgeld wurde von Ihremfrüheren Arbeitsminister Wolfgang Clement immer alsein Bestandteil der Hartz-Reform bezeichnet. Das Über-brückungsgeld gibt es aber schon seit 1986, also seit20 Jahren. Seitdem funktioniert es gut.Sie haben die Ich-AG eingeführt. Bei diesem Instru-ment konnte man sich hinstellen und sagen: Ich machemich selbstständig. – Dies war auch ohne Geschäftsidee,Kostenplan und Kalkulation möglich. Dieses Instrumentist erst auf dem Weg zum Erfolg, seitdem hier die Krite-rien eingeführt worden sind, die beim Überbrückungs-geld schon seit 20 Jahren gelten, seitdem man also eineVorstellung davon haben muss, ob ein Unternehmenüberhaupt tragfähig ist. Deswegen ist es richtig, diesebeiden Förderinstrumente zusammenzuführen. Dabeiunterstützen wir Sie ausdrücklich. Das ist jedoch keinErgebnis der Hartz-Reform.
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen führen, wie Sierichtigerweise feststellen, nicht zu einer Integration inden ersten Arbeitsmarkt. Nein, die Teilnehmerinnen undTeilnehmer werden durch sie sogar stigmatisiert und dieDauer der Arbeitslosigkeit wird verlängert. Warum för-dern Sie so etwas mit den Mitteln der Beitragszahlerin-nen und Beitragszahler weiter? Da könnten Sie das Geldauch verbrennen.
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as ist ein Instrument, bei dem wir gemeinsam mit unse-em Koalitionspartner einen wesentlichen Kurswechselingeleitet haben. Es war richtig und notwendig, diesesnstrument als Pflichtleistung abzuschaffen.
Wir haben auch in anderen Bereichen genau das ge-acht, was Sie, Kollege Niebel, gefordert haben, was Ih-en aber offensichtlich entgangen ist. Wir haben schononsequenzen aus erkennbaren Fehlentwicklungen ge-ogen. Das gilt auch für den Bereich der Ich-AGs. Micherwundert es ein wenig, wie gut die Ich-AGs in der öf-entlichen Berichterstattung über den Bericht der Bun-esregierung gelegentlich wegkommen. In dem Berichter Bundesregierung – er ist ja quasi eine Kurzfassunger rund 4 500 Seiten, die wir von den Instituten bekom-en haben – werden die Ich-AGs nämlich ganz andersargestellt. Dort steht beispielsweise über die Ich-AGs,on Existenzgründerinnen und -gründern sei die Kritikeäußert worden, dass das Konzept zu Mitnahme undissbrauch verleite und dass eine stärkere Kontrolle derignung potenzieller Gründerinnen und Gründer zu for-ern sei. Genau auf diesen Weg haben wir uns begeben.Wir debattieren heute auch über einen Antrag derraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Dem Antrag ister Schmerz über den Wählerwillen anzumerken, derie, die Grünen, nur zur fünftstärksten Fraktion gemachtat. Dieser Schmerz ist menschlich verständlich.
ber Sie sollten sich nicht nur an dem Instrument derch-AG hochziehen und fordern, dort müsse alles soleiben, wie es ist. Ich möchte Ihnen in diesem Zusam-enhang die Aussage in dem vorliegenden Bericht zuen Ich-AGs und den Instrumenten der Existenzförde-ung aus der Arbeitslosigkeit zitieren: Die Zusammen-ührung beider Instrumente erscheint sinnvoll. Genauas haben wir schon im Koalitionsvertrag festgelegt.as werden wir zum 30. Juni dieses Jahres machen. Ichinde, diesen Weg sollten wir gemeinsam gehen; denn erst richtig.
Auf der anderen Seite erscheint mir, dass die Mini-obs in der öffentlichen Darstellung sehr viel kritischeretrachtet werden, als es aus dem vorliegenden Berichtervorgeht. Man muss sich natürlich ständig fragen, was
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Dr. Ralf Brauksiepeman mit einem solchen Instrument erreichen will. Es istwahr: Mit Minijobs wurden nicht in nennenswertemMaße Brücken in die sozialversicherungspflichtige Voll-zeitbeschäftigung geschlagen. Aber ich will deutlich sa-gen: Das ist für uns nicht in erster Linie Sinn und Zweckdieses Instruments gewesen. Vielmehr haben wir zurKenntnis zu nehmen, dass es Millionen Menschen gibt,die ein solches Beschäftigungsverhältnis eingehen, weilsie in einer bestimmten Lebensphase ihre Konsummög-lichkeiten verbessern wollen. Für die meisten sind Mini-jobs die einzige Einkommensquelle. Die Zahl der Fälle,in denen sie als Nebenjobs ausgeübt werden, ist eher ge-ring. Es ist beispielsweise in den Untersuchungen derBundesknappschaft nachzulesen, dass es keine Verdrän-gung der Vollzeitbeschäftigung durch den parallelenAufbau der geringfügigen Beschäftigung gegeben hat.Dieses Instrument ist also erfolgreich und wir werden esdeshalb beibehalten.
Die Zeitarbeit bzw. die Leiharbeit wird in dem Be-richt ebenfalls als ein sehr dynamisches Marktsegmentbeschrieben, in dem seit der Reform des Arbeitnehmer-überlassungsrechts im Dezember 2002 mit Hartz I etwa24 000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Stellenentstanden sind. Es ist daher sinnvoll, darüber nachzu-denken, wie man dieses Instrument noch attraktiver ge-stalten kann.Nachdem bei den PSAs schon Konsequenzen gezo-gen worden sind, ist unsere konkrete Aufgabe bei derNeuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik in diesem Jahr,ein sinnvolles, finanzierbares und einheitliches Instru-ment zur Förderung der Selbstständigkeit aus der Ar-beitslosigkeit zu schaffen. Wir werden außerdem aus denbestehenden Modellen betreffend die Kombination ausLohn und Transferleistungen ein stringentes und ziel-gruppengenaues Kombilohnmodell zu entwickeln ha-ben. Auch dies werden wir in diesem Jahr tun. Da wartenwir keine Berichte ab, sondern wir lassen die Arbeit, diewir machen, kritisch begleiten. Aber wo immer Konse-quenzen gezogen werden können, werden sie auch gezo-gen.
Wir werden in diesem Zusammenhang den Instrumen-tenkasten der BA entrümpeln. Das werden Sie sehen.Das, was im Moment alles darin ist – über 80 Instru-mente –, ist selbst den Mitarbeitern der BA nicht be-kannt.
Damit werden wir Schluss machen. Das werden wir zu-rückführen.
Wir werden selbstverständlich auch entschlossen dieMaßnahmen anpacken, die notwendig sind, um die Be-schäftigung Älterer zu fördern. Das haben wir uns vor-genommen, weil es notwendig ist. Das geschieht nicht inerster Linie im Hinblick auf Maßnahmen, die erst sehrvdnhgawwttffEzdDrSvd–nTndweuPrlhatArfvLa
Mit dem nun vorliegenden Bericht der Bundesregie-ung ist es amtlich: Die Hartz I-bis-III-Gesetze haben dieituation von Millionen Erwerbslosen nicht nur nichterbessert; im Gegenteil: Durch manche Maßnahme istie Situation sogar noch verschärft worden. So habenum nur ein Beispiel von vielen zu nennen – die Perso-al-Service-Agenturen die Eingliederungschancen dereilnehmenden im Endeffekt verschlechtert. Ausgerech-et diejenigen, die am dringendsten Beratung brauchten,ie so genannten Betreuungskunden, bekommen so gutie gar keine Unterstützung. Aus so einer Bankrott-rklärung müssen doch Konsequenzen gezogen werden,nd das ziemlich schnell.
Einst hieß es, man werde mit den Vorschlägen voneter Hartz die Zahl der Arbeitslosen halbieren. Davonedet heute kaum noch jemand. Das ist auch verständ-ich. Wer gibt schon gerne zu, dass er auf einen Hallodriereingefallen ist, der inzwischen wegen des Verdachtsuf Veruntreuung in das Fadenkreuz der Ermittler gera-en ist.
Um die von Gerhard Schröder im Zuge dergenda 2010 gemachten Versprechen ist es auch sehruhig geworden. Die sind wohl zu Recht in dem Ordnerür Märchenstunden archiviert. Nun ist Peter Hartz wegom Fenster, Gerhard Schröder verdient sein Geld außerandes und Millionen Erwerbslosen geht es dreckigerls je zuvor.
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Katja KippingNun gut, die Zahl der Minijobs stieg. Wer dies jedochals Erfolg verkaufen will, der muss wahrlich über großeideologische Scheuklappen verfügen. Schließlich gehtder Anstieg der Minijobs immer Hand in Hand mit demAbbau von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsver-hältnissen.
Darüber hinaus sollte es uns schon zu denken geben,dass gerade die Mini- und Midijobs überproportionalstark von Frauen nachgefragt werden. Leisten wir hiernicht einer weiteren Verfestigung von überholten Ge-schlechterrollen Vorschub – der Mann als Haupternäh-rer, die Frau als Zuverdienerin? Wir leben im21. Jahrhundert. Solch mittelalterliche Formen der Ar-beitsteilung gehören endlich überwunden.
Das allein schon deswegen, weil man als Zuverdienerinim Minijob eben nicht genügend Rentenpunkte für eineigenständiges Auskommen im Alter ansammeln kann.Minijobs führen zu Minirenten. Mit dieser Vorprogram-mierung von Altersarmut sollte Schluss sein.
Zur Bundesagentur für Arbeit heißt es im Bericht,Effektivität und Transparenz hätten sich erhöht. Dies istnun nicht unbedingt Ausdruck für die jetzige Qualität,sondern eher ein Beleg dafür, dass es vorher noch ver-heerender war.
Das, was ich neulich von Erwerbslosengruppen über diejetzige Beratungsqualität zu hören bekam, war allesandere als erfreulich. Immer wieder bekommen Er-werbslose Sätze zu hören wie: Beraten werden Sie hiernicht; dazu sind wir nicht da. Oder: Also, wie dieser Be-scheid zustande kommt, das kann ich Ihnen nun auchnicht erklären.So mancher Erwerbslose dringt schon seit Monatenauf einen Eingliederungsvertrag, und das vergeblich. DieTatsache, dass ihm bei jedem Beratungsgespräch ein an-derer Vermittler gegenübersitzt, hat die Qualität der Be-ratung bestimmt nicht gehoben. Ich finde, das muss sichändern.
Dass in der Praxis solche Defizite auftauchen, liegtwahrlich nicht an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiternder Agenturen. Sie haben in den letzten Jahren viel be-wältigen müssen. Ich glaube, die Ursache dieser Pro-bleme liegt vielmehr in einer katastrophalen personellenUnterausstattung der Agenturen. Es gibt dort einfachviel zu viel Arbeit für viel zu wenige Mitarbeiter.
Der Bericht selber bestätigt es: Die Relation von Kundenund Vermittlern konnte kaum verbessert werden.Meine Damen und Herren von CDU/CSU und SPD,wenn Sie die Arbeitsagenturen auch nur ansatzweise indie Nähe eines modernen Dienstleisters bringen wollen,dvDwerdnGgnhgAwded–FsmldcHeA3SehtAmSiiIPdglE
Ja, das müssen wir sagen. Wir haben nämlich aus denehlern der Vergangenheit gelernt, während Sie dabeiind, elementare Eingriffe in die Privatsphäre vorzuneh-en.
Im Übrigen ist die finanzielle Inhaftnahme von Fami-ienmitgliedern von vorgestern und sie sollte endlichurch die schrittweise Einführung des Individualanspru-hes ersetzt werden.
Hinzu kommt, dass diese Herumschnüffelei auch ausaushaltssicht total ineffizient ist. Lassen Sie mich dasinmal an zwei Zahlen verdeutlichen. Für den gesamtenLG-II-Bereich sind im letzten Jahr insgesamt5 Milliarden Euro ausgegeben worden. Die Deutscheteuer-Gewerkschaft schätzt, dass uns allein durch Steu-rbetrug 70 Milliarden Euro verloren gehen. Im Klartexteißt das: Wenn wir nur jeden zweiten Euro Steuerbe-rug verhindert hätten, dann hätten wir den komplettenLG-II-Bereich finanzieren können. Auf diesem Gebietüssen wir ansetzen.
Die Bilanz von Hartz I bis III ist eine Bilanz descheiterns. Der Grund für dieses Scheitern liegt wenigern handwerklichen Fehlern; schuld an diesem Scheiternst die hinter allen Hartz-Gesetzen stehende Ideologie.hre Ideologie folgt der Vorstellung, die Ursache desroblems liege bei dem Einzelnen. Angesichts von min-estens 6 Millionen fehlenden Stellen ist dieser Ansatzeradezu absurd. Mit Ihrem Ansatz bewirken Sie viel-eicht, dass sich der Einzelne in der langen Schlange derrwerbslosen etwas besser vordrängeln kann; aber an
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Katja Kippingder Länge der Schlange ändern Sie nichts. Sie bewirkenvielleicht, dass der einzelne Erwerbslose etwas schnellerrennt; aber an der Tatsache, dass man auf der Suche nachArbeit im Kreis rennt, ändern Sie nichts.
Wo ist eigentlich der Minister?
– Sie lachen. Ich finde es nicht selbstverständlich, dassder zuständige Minister bei der Beratung eines so zentra-len Berichts nicht anwesend ist. –
Der Minister präsentierte den Bericht in der Öffentlich-keit mit der Aussage, es gebe Licht und Schatten.
Nachdem ich mittlerweile viele kritische Aspekte ange-sprochen habe, möchte ich nicht verschweigen, dass estatsächlich einen positiven Aspekt gibt. Auch wir sehenetwas Licht, auch wenn es sich um einen etwas dünnenLichtstrahl handelt.Wir finden es toll, dass es den Anspruch gibt, dieWirksamkeit der Hartz-Gesetze zu evaluieren und sie beiMisserfolg abzuschaffen. Nehmen Sie diesen selbst ge-stellten Anspruch ernst! Verabschieden Sie sich von demgescheiterten Ansatz Ihrer bisherigen Arbeitsmarktre-form! Setzen Sie endlich auf eine Arbeitsmarktpolitik,die gesellschaftlich sinnvolle Arbeit auch ordentlichbezahlt! Das Motto sollte sein: Sozialarbeiterstellen statt1-Euro-Jobs. Nehmen Sie endlich die wirklichen Ursa-chen der Massenarbeitslosigkeit in Angriff!Besten Dank.
Frau Kipping, das war Ihre erste Rede in diesem
Haus. Ich gratuliere Ihnen dazu und verbinde das mit
den besten Wünschen.
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Thea Dückert,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Die Koalition hat uns viel versprochen, zum Beispieldass sie ihre Mehrheit für strukturelle Reformen nutzenwird, um Vertrauen bei den Menschen herzustellen. HerrAndres sagt aber heute Morgen hier: Wir tun gut daran,auf den Endbericht 2006 zu warten.
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Ihre gesamte Argumentation ist von vorn bis hintenbrüchig. Sie behaupten, dass das Überbrückungsgeldund die Förderung der Ich-AGen ungefähr das Gleichesind. Die Evaluation belegt etwas ganz anderes, nämlich:Es werden andere Zielgruppen erreicht. Mit der Ich-AGwerden überproportional Frauen, Menschen in Ost-deutschland und Langzeitarbeitslose erreicht. Wenn wirhier lange Reden über die Probleme am Arbeitsmarkthalten, dann reden wir genau über diese Gruppen.
Aber gerade dieses Instrument wollen Sie zurückführen.Ich kann Ihnen nur sagen: Nehmen Sie Ihre schwarz-roten Scheuklappen ab; dann können Sie auf diesen Be-richt reagieren!Ein weiteres Thema, das in diesem Bericht behandeltwird: Auf der einen Seite führen Sie, vor allem HerrMüntefering, eine große Debatte über die Hinausschie-bung des Renteneintrittsalters, was ich verdienstvollfinde, wenn man darüber zusammen mit der Forderungdiskutiert, dass – was Not tut – ältere Menschen eineChance am Arbeitsmarkt bekommen müssen. Aber waszeigen uns die Ergebnisse in diesem Bericht? Die vielenInstrumente unterschiedlichster Art, die es gibt, umälteren Langzeitarbeitslosen wieder in den Arbeits-markt zu helfen, werden von der Bundesagentur für Ar-beit faktisch boykottiert. Die Entgeltsicherung hat kei-nen strategischen Stellenwert und die Vermittler kennendie Instrumente zum großen Teil nicht; deshalb werdensie nicht in Anspruch genommen.Ihre Schlussfolgerung, Herr Andres, ist – das ist übri-gens im letzten Herbst schon von Herrn Brandner ver-kündet worden –, dass man die Instrumente ein bisschenübersichtlicher gestalten sollte. Ich kann Ihnen an dieserStelle nur sagen: Es kann doch nicht wahr sein, dass In-strumente, die älteren Langzeitarbeitslosen als Hilfestel-lung dienen sollen, reduziert und zum Teil abgeschafftwerden sollen, weil die Vermittler sie nicht kennen. Ichdenke, der Arbeitsminister hat hier die „Oberhoheit“über die Bundesagentur für Arbeit. Hier muss dafür ge-sorgt werden, dass das, was an Hilfestellungen für die äl-teren Langzeitarbeitslosen möglich ist, auch umgesetztwird.
Die Geringqualifizierten sind eines unserer zentra-len Probleme am Arbeitsmarkt. Auch das wird in diesemBericht beschrieben. Dabei wird deutlich gemacht, dassdie Kundinnen und Kunden mit den schlechtesten Inte-grationschancen – das ist das, was auch der „Economist“beschreibt – und dem höchsten Betreuungsbedarf vonder Bundesagentur für Arbeit nur wenig unterstützt wer-dDzSeSdsawhubmeBnnrPre–kBnemSiSklrgdsesngv
Jedenfalls kann es nicht sein, dass auf Basis dieserteuerungslogik ein Weiteres passiert: Nicht nur, dassie Betreuungsbedürftigsten schnell ins SGB II abge-choben werden, sondern bei der Weiterbildung wirduch so etwas wie eine Bestauslese betrieben. Auch dasird in dem Bericht bescheinigt. Deshalb müssen wirier noch einmal neu nachdenken; denn Weiterbildungnd Qualifizierung müssen ja gerade für schlecht Ausge-ildete und Geringqualifizierte zugänglich sein.
Gerade in der Auseinandersetzung mit den Arbeits-arktproblemen zeigen sich ganz viele Beispiele fürine schwarz-rote Selbstblockade. Ich will ein weitereseispiel nennen, nämlich die Geringqualifizierten, de-en die Hilfsinstrumente der Bundesagentur für Arbeiticht zur Verfügung stehen. Sie, meine Damen und Her-en von der Koalition, wissen, dass wir hier die stärkstenrobleme am Arbeitsmarkt haben. Was machen Sie? Sieichten, auch weil Sie miteinander nicht klarkommen,ine Arbeitsgruppe ein. Prost Mahlzeit!
Nur, Herr Niebel, sind wir auch zu einem Ergebnis ge-ommen. Das ist genau mein Problem.
Die Evaluation zeigt, dass einige Instrumente, zumeispiel die Midijobs mit dem Ansatz geringer Lohn-ebenkosten bei kleinen Einkommen, die Beschäftigungrweitern. Das muss man doch einmal zur Kenntnis neh-en. Der Bericht zeigt weiter, dass die Minijobs zurenkung der Schwarzarbeit führen, aber keine Brückenn den Arbeitsmarkt bauen.
ie von der Bundesregierung sollten an dieser Stelleeine Arbeitsgruppe einrichten, um lange über Kombi-öhne zu diskutieren, sondern diese Ergebnisse des Be-ichts zur Kenntnis nehmen. Wir haben einen Vorschlagemacht. Für Sie ist es ganz einfach: Sie brauchen sichiesem Vorschlag nur anzuschließen.
Dieser Vorschlag umfasst das so genannte Progres-ivmodell, in dem genau die erforderlichen Maßnahmennthalten sind: Minijobs, Midijobs und andere unüber-ichtliche Instrumente werden aufgelöst; Bezieher klei-er Einkommen zahlen geringe Beiträge und Bezieherroßer Einkommen zahlen hohe Beiträge in die Sozial-ersicherung. Das hat den Vorteil, dass die Senkung der
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Dr. Thea DückertLohnnebenkosten gezielt da wirkt, wo die meisten Jobsgeschaffen werden. Das hat den Vorteil, dass die Sen-kung der Lohnnebenkosten zu den höchsten Beschäfti-gungseffekten gerade in den Bereichen führt, in denenBeschäftigung auch zukünftig möglich sein muss.All dies kommt in Ihrer Politik nicht vor: Fehlanzeigeund Sitzen im Wartesaal. Es ist nichts anderes als ein„Waiting for a Wunder“.
– Die Überschrift dieses Berichtes macht doch deutlich,dass auf ein Wunder gewartet wird. Was darin beschrie-ben wird, ist zum Teil eine Persiflage auf die Zuständeam deutschen Arbeitsmarkt. Wir sitzen hier und wartenauf ein deutsches Wunder. Aber es wird ein solchesWunder nicht geben, wenn die Bundesregierung nicht inder Lage ist, auf das, was an Fakten auf dem Tisch liegt,zu reagieren.
Fakt ist, dass wir in Deutschland Antworten brauchengerade auf die Herausforderungen im Bereich der Ge-ringqualifizierten. Wir brauchen in Deutschland bei-spielsweise ein durchdachtes Konzept zur Senkung derLohnnebenkosten, das da ansetzt, wo es auch wirkenkann. Dieses Konzept muss finanzierbar sein. SeineFinanzierung darf nicht durch eine Mehrwertsteuererhö-hung erkauft werden, die im Nachgang dazu führen wird– das ist vom DGB und anderen schon dargelegt wor-den –, dass die Konjunktur, die hoffentlich ein wenig an-zieht, schon im Jahre 2007 zum Nachteil der Beschäftig-ten abgewürgt wird.Wir sollten uns von dieser Politik der schwarz-rotenKoalition möglichst schnell verabschieden. Wir solltennicht im Wartesaal sitzen und auf ein Wunder hoffen,sondern das Heft des Handelns in die Hand nehmen. Esgibt viel zu tun. Der Bericht hat es dargelegt.Danke schön.
Das Wort hat nun die Kollegen Katja Mast, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnenund Kollegen! Wie Sie gehört haben, ist es eine Zwi-schenbilanz der Hartz-Gesetze I bis III. Die Evaluationhat den Charakter einer ersten Bestandsaufnahme. Trotz-dem sind einige Tendenzen bemerkenswert und verdie-nen unsere Aufmerksamkeit. Das gilt insbesondere fürdie Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit.Sowohl das Überbrückungsgeld als auch die Ich-AG gehören zu den erfolgreichsten Instrumenten, umASsbrArudAdebgdpdBugfcWtDtfgsAdnbetsEsAsendimba
ie Existenzgründungsförderung sollte als Pflichtleis-ung erhalten bleiben, das heißt als Anspruchsleistungür gründungswillige und -fähige Arbeitslose; denn eseht uns darum, dass die Arbeitslosen wissen, woran sieind.
llerdings – auch dies wird im vorliegenden Berichteutlich; ich würde mir wünschen, dass meine Kollegin-en und Kollegen in ihren Statements ein bisschen mehreim Text des Berichts bleiben – müssen Mitnahme-ffekte besser verhindert und muss die Qualitätskon-rolle der Businesspläne intensiviert werden.Bemerkenswert an der Evaluierung der Hartz-Gesetzeind für mich aber nicht nur die Förderinstrumente fürxistenzgründungen, sondern auch die Angebote, dieich insbesondere an ältere Arbeitnehmerinnen undrbeitnehmer richten. Dies sind die Eingliederungszu-chüsse – es existiert also schon heute gewissermaßenin Kombilohn –, die Entgeltsicherung, der Beitragsbo-us und die Möglichkeit, ältere Arbeitnehmer ohne Kün-igungsschutz einzustellen.Ich fand es in den letzten Tagen wenig hilfreich, dassmmer wieder pauschal von guten und schlechten Instru-enten in den Hartz-Gesetzen gesprochen und geschrie-en worden ist. Sowohl bei der Entgeltsicherung alsuch beim Beitragsbonus und den Eingliederungszu-
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Katja Mastschüssen für Ältere lässt sich feststellen, dass die gerin-gen Fallzahlen auf Unkenntnis sowohl bei den Vermitt-lern als auch bei Arbeitnehmern und Arbeitgebernzurückzuführen sind. Hier ist eine Aussage darüber, obes sich um gute oder schlechte Instrumente handelt, nochnicht möglich und daher nicht sinnvoll. Bis zum Ab-schlussbericht in circa einem Jahr wird es unter anderemnotwendig sein, die weit verbreitete Unkenntnis über dieInstrumente ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer betreffend zu verringern.Leider muss aber auch festgestellt werden, dass sichUnternehmen trotz Anreiz in der Tendenz schwer damittun, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzu-stellen. Ich erhoffe mir von der Initiative „50 plus“ we-sentliche Impulse und eine stärkere öffentliche Debattedarüber. Es muss unser Ziel sein, dass es nicht nur Ein-zelbeispiele wie die Firma Sixt oder aus Pforzheim dieKramski Putter GmbH gibt, die die Leistungsfähigkeitälterer Arbeitnehmer schätzen.Deutlich wird das Gutachten bei den Sonderregelun-gen zu befristeten Einstellungen älterer Arbeitnehmer– ich zitiere wörtlich –:In einer quantitativen Analyse konnte bis Mai 2003kein Effekt auf die Zahl der Einstellungen nachge-wiesen werden.Hier sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: In derAltersgruppe der 48- bis 65-Jährigen hatten 3 Prozent ei-nen befristeten Arbeitsvertrag. Dies ist nur wenig höherals bei den angrenzenden jüngeren Altersgruppen. EinEffekt ist also nicht spürbar. Hier bin ich auf das Ab-schlussgutachten und auf die Debatte darüber gespannt,ob eine Verringerung des Kündigungsschutzes tatsäch-lich zu mehr Beschäftigung in Deutschland führt.
Unser Leitbild des aktivierenden Sozialstaates, derseine Bürgerinnen und Bürger fordert und fördert,kommt gerade in den evaluierten Hartz-Gesetzen zumAusdruck. Die Beispielinstrumente für Existenzgrün-dungen und die Förderung älterer Arbeitnehmer machendeutlich, dass wir es mit dem Fördern ernst nehmen. Dermit dieser Evaluierung angestoßene Prozess ist aus mei-ner Sicht dazu geeignet, die Hartz-Instrumente an denBedürfnissen der Menschen und den Gegebenheiten desArbeitsmarktes weiterzuentwickeln, sich von nicht effi-zienten Instrumenten zu lösen und erfolgreiche auszu-bauen.Ich freue mich auf diesen Prozess gemeinsam mit Ih-nen, werte Kolleginnen und Kollegen.
Frau Kollegin, das war auch für Sie die erste Rede in
diesem Haus. Herzlichen Glückwunsch dazu, verbunden
mit den besten Wünschen!
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aren sich darin einig, dass es diese Evaluation gebenoll. Wir waren der Meinung, dass es sinnvoll ist, dieesetze über moderne Dienstleistungen am Arbeits-arkt zu überprüfen und daraufhin zu sehen, inwieweitas eine oder andere Modell oder das eine oder anderenstrument zeitnah entsprechend modifiziert werdenollte. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag verein-art, alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf denrüfstand zu stellen und gegebenenfalls zu verändern.ierfür stellt der Bericht, auch wenn es nur ein Zwi-chenbericht ist, eine gute Basis dar.Wir wollen bis zum Jahr 2007 die aktive Arbeits-arktpolitik durch die Zusammenführung und Vereinfa-hung von Instrumenten neu ausrichten. Es geht uns ins-esondere darum, die Beitrags- und Steuermittelffizienter und effektiver einzusetzen.Wenn wir uns den Zwischenbericht einmal genauernsehen, dann stellen wir schon fest – es muss erlaubtein, das an dieser Stelle einmal vorzutragen –, dass dierwartungen, die die Hartz-Kommission seinerzeit ge-eckt hat, nicht erfüllt werden konnten. Es war Herrartz selbst, der diese Erwartungen geweckt hat; es warerr Hartz, der von der Halbierung der Arbeitslosenzahlesprochen hat. Es lohnt sich an der einen oder anderentelle durchaus, sich die Pressemeldungen von damalsoch einmal zu vergegenwärtigen. Ich muss das hiericht im Einzelnen vortragen.
err Hartz hat beispielsweise erklärt, mit dem Konzepter Kommission, beginnend heute, 11 Uhr – das war am6. August 2002 –, werde die Arbeitslosigkeit in denächsten drei Jahren um 2 Millionen gesenkt werden.as ist aus meiner Sicht mit ein Grund dafür, dass wir inukunft sehr viel genauer hinsehen müssen, inwieweits überhaupt sinnvoll ist, solche Kommissionen einzu-ichten.
ch glaube schon, dass die Erwartungen, die von solchenommissionen geweckt werden, vor allem wenn sie vonntsprechenden Zitaten flankiert werden, letztendlich eintück weit dazu beitragen, dass wir eine verhältnismäßig
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Stefan Müller
schlechte Stimmung in diesem Lande haben. Wir solltenalso mit solchen Zielvorgaben sehr vorsichtig sein.Die Zahlen selbst sind uns allen bekannt. Wir hattendamals 4 Millionen Arbeitslose; heute sind es 5 Millio-nen. Das zeigt im Übrigen, dass die Skepsis der Uniondamals durchaus angebracht war. Ich sage das überhauptnicht mit Schadenfreude. Mir wäre es lieber, wir hättennicht Recht behalten und hätten heute 2 Millionen Ar-beitslose weniger in diesem Land. Wenn wir 2 MillionenArbeitslose weniger hätten, dann hätten wir an vielen an-deren Stellen nicht die Probleme, mit denen wir es heutezu tun haben, und würden wirtschaftlich insgesamt sehrviel besser dastehen. Insofern sollten wir diesen Berichtzum Anlass nehmen, zu überprüfen, inwieweit bei denInstrumenten gegengesteuert werden muss. Zu verschie-denen Punkten ist schon einiges gesagt worden.Lassen Sie mich eines festhalten: Natürlich zeigt derBericht der Forschungsinstitute sowohl Schattenseitenals auch helle Seiten auf. Positiv ist auf jeden Fall derbegonnene und in Teilen schon durchgeführte Umbauder Bundesagentur für Arbeit zu bewerten. Auf demWeg von einer traditionellen Arbeitsverwaltung hin zueinem modernen Dienstleister ist die BA in den letztenJahren schon ein ganzes Stück weit vorwärts gekommen.
Der Bericht bestätigt im Übrigen, Herr Kollege Niebel,dass die BA in dieser Beziehung ein ganzes Stück weitergekommen ist und dass der Umbau in die richtige Rich-tung geht. Wir sind ja durchaus der gleichen Auffassung,wenn wir sagen, dass es noch nicht zu einem erfolgrei-chen Abschluss gebracht worden ist.Die Ergebnisse des Berichts sind nicht gänzlich zu-friedenstellend; das ist doch keine Frage. Das Herzstückder Organisationsreform ist die Einrichtung von Kun-denzentren. Im Bericht heißt es, dass es hier offenbarnoch Probleme bei der Umsetzung gibt. Auch die ange-strebte Verbesserung der Kundenzufriedenheit durcheine bessere Relation der Zahl der Kunden zu der Zahlder Vermittler ist noch nicht erreicht. Da ist sicherlichnoch einiges zu verbessern; auch das ist keine Frage.Nur müssen wir uns ehrlicherweise vergegenwärtigen,dass der Berichtszeitraum Anfang 2005 endet. Einiges,was danach erreicht worden ist, kann in dem Bericht alsonoch gar nicht enthalten sein. Die Institute attestierenaber, dass die BA auf ihrem Reformkurs ein ganzesStück weiter gekommen ist, dass sie sich weiterentwi-ckelt hat und dass sich auch die Kundenwahrnehmunggeändert hat. Wenn es aber um die Bewertung der Arbeitund der Reformen der BA geht, müssen wir auf den Ab-schlussbericht warten.Ich möchte trotzdem feststellen, dass die Arbeit derMitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur fürArbeit hervorragend war. Wir sollten das, was dort ge-leistet worden ist, nicht schmälern.
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Liebe Kollegin Dückert, ich möchte noch ein paarorte zum Antrag der Grünen verlieren. Ihr Antrag liestich ein Stück weit wie ein Lobgesang auf das Instru-ent der Ich-AG. Dabei berufen Sie sich auf den Be-icht. Ganz so einfach ist es meines Erachtens aber nicht;er Kollege Brauksiepe hat dazu schon das eine oder an-ere gesagt. Ich möchte aus dem Bericht vortragen:iele der Gründer haben sich offenbar weniger aus ech-er Überzeugung, sondern vor allem wegen fehlenderlternativen auf dem Arbeitsmarkt für die Selbstständig-eit entschieden.An anderer Stelle heißt es: Nur wenige der Geförder-en haben eine detaillierte Gründungsberatung von derundesagentur erhalten und hatten „kein wirklich durch-achtes und durchgerechnetes Konzept für ihre Grün-ung“.
s geht weiter: Bei der Förderung liegen zugleich auchinweise auf Mitnahme vor. „Systemimmanente Fehl-nreize der Förderung können also nicht ausgeschlossenerden.“Im Bericht wird geschlussfolgert, dass eine systemati-che Verzahnung mit anderen Förderinstrumentenbenso wie die Zusammenführung der beiden Instru-ente Ich-AG und Überbrückungsgeld sinnvoll ist. Als
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Stefan Müller
Beleg für das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, dient derBericht also nicht.Sie kommen in Ihrem Antrag weiter zu der Erkennt-nis, dass durch die Minijobs die Schwarzarbeit zwar einwenig zurückgedrängt werden konnte, sich aber gleich-wohl keine richtigen Erfolge eingestellt haben. Richtigist, dass auch wir uns hätten vorstellen können, dass sieeine Brücke in reguläre, sozialversicherungspflichtigeBeschäftigungsverhältnisse bilden. Aber, meine Kolle-ginnen und Kollegen von den Grünen, ich finde, dass al-lein die Tatsache, dass durch Minijobs die Schwarzarbeitzurückgedrängt worden ist, als großer Erfolg gewertetwerden kann; denn dem Staat gehen jedes Jahr17 Milliarden Euro durch die Schattenwirtschaft verlo-ren. Wenn wir es mit einem solchen Instrument schaffen,die Schattenwirtschaft zurückzudrängen, dann kann manmit Fug und Recht von einem Erfolg sprechen.Wir werden sicherlich weiterhin intensiv um gute Lö-sungen ringen, damit wir das, was wir uns alle vorge-nommen haben und was im Interesse des ganzen Hausesist, auch umsetzen können. Wir alle wollen die Arbeits-losigkeit in dieser Legislaturperiode signifikant senken.Die Opposition ist natürlich herzlich eingeladen, uns aufdiesem Weg konstruktiv zu begleiten.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Werner Dreibus,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär Andres,trotz aller persönlichen Wertschätzung und alter Verbun-denheit hätte ich erwartet, dass zu diesem ehemals alsHerzstück der Agenda 2010 bezeichneten Komplex derArbeitsmarktreformen heute Morgen der verantwortli-che Minister und damalige SPD-Vorsitzende selbst vordiesem Hohen Haus Verantwortung für das übernimmt,was in diesem Bericht niedergelegt ist.
Wir haben die Ankündigung des Ministers im Aus-schuss für Arbeit und Soziales, die Arbeitsmarktpolitikauf den Prüfstand zu stellen und dann das abzuschaffen,was ineffizient ist, und das beizubehalten und auszu-bauen, was sich als erfolgreich erwiesen hat, mit großerAufmerksamkeit gehört. Wenn man diesen Zwischenbe-richt als das ansähe, was er wirklich ist, nämlich als einDokument, das das Scheitern dieser Arbeitsmarktrefor-men belegt, dann wäre es notwendig und richtig, den Mi-nister heute dazu aufzufordern, seinen Worten Taten fol-gen zu lassen.
Wir erwarten von Ihnen als großer Koalition, dass ausden Erkenntnissen in diesem Bericht zügig Konsequen-zen gezogen werden. Die grundsätzliche Konsequenzmuss sein, die Förderung der Arbeitslosen zu stärkenswnwwkbAwdtrtMZplbatDmkrAmflfdwmAietcdlbzirlgw
Der Bericht der Bundesregierung sagt aber noch et-as viel Bedeutenderes aus. Er sagt aus, dass Arbeits-arktpolitik nur dafür gut ist, den Ausgleich zwischenrbeitsnachfrage und Arbeitsangebot zu verbessern. Siest nicht dafür geschaffen, die Nachfrage nach Arbeit zurhöhen. Insofern ist weiterhin Herzstück unserer Posi-ion, dass wir ein solides Beschäftigungsprogramm brau-hen, ein solides Zukunftsinvestitionsprogramm miteutlich anderen Größenordnungen, als sie bisher vorge-egt wurden. Für einen nachhaltigen Beschäftigungsauf-au brauchen wir ordentlich Wasser auf die Mühlen, undwar deutlich mehr als 6 Milliarden Euro jährlich, wie esn Ihrer Planung vorgesehen ist.
Das ist aus unserer Sicht die Quintessenz dieses Be-ichtes. Sie haben jetzt schwarz auf weiß, dass ein grund-egender Wechsel Ihrer Politik hin zu mehr Beschäfti-ung und zur Förderung von Arbeitslosen und keineeiteren Schikanen geboten sind.Vielen Dank.
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Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Meckelburg,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Für mich ist dies der erste Auftritt in Zeiten dergroßen Koalition, und zwar zu einem, wie ich glaube,nicht ganz einfachen Thema, weil wir dazu bisher sehrunterschiedliche Auffassungen hatten. Meiner Meinungnach kann man an dieser Debatte den Übergang von Rot-Grün zur großen Koalition erkennen. Denn nun müssenwir gemeinsam überlegen, was wir an der bisherigen Ar-beitsmarktpolitik, die wir sehr kritisch beurteilen, ändernkönnen, um sie in eine gute Zukunft zu führen.Da ich im Jahr 2002, als vieles von dem entstandenist, was im vorliegenden Bericht behandelt wird, dabeiwar, will ich an die Situation erinnern: Im Job-AQTIV-Gesetz wurden von Rot-Grün die Grundsätze vom För-dern und Fordern in den Vordergrund gerückt. Es kamzur Vermittlungskrise bei der Bundesagentur. Daraufhinwar bei Rot-Grün eine hektische Aktivität zu erkennen.Durch ein relativ schnelles Verfahren wurde die Einfüh-rung von Vermittlungsgutscheinen ermöglicht. Ausheutiger Sicht kann man sagen: Dass das nicht funktio-niert hat, war eine logische Konsequenz dieser Hektik.Wir haben damals den Umbau der Arbeitsverwaltungeingeleitet – hier sind wir auf einem guten Weg – undden Beschluss gefasst, eine Kommission einzusetzen,die die Ergebnisse ihrer Beratungen am 16. August 2002präsentierte.Um den Koalitionsfrieden nicht zu gefährden, werdeich nicht an all die Versprechen erinnern, die Peter Hartzdamals, am 16. August 2002, gegeben hat. Sein Haupt-versprechen lautete:Ziel des Masterplans ist es, die Zahl der Arbeitslo-sen in drei Jahren um 2 Millionen zu reduzieren.Ich glaube, ich störe den Koalitionsfrieden nicht, wennich feststelle: Ein so großer Masterplan ist das offen-sichtlich nicht gewesen. Die Hauptbotschaft, die sich ausdieser Feststellung für die große Koalition ergibt, lautet:Wir müssen den gescheiterten Masterplan von Hartz ineine erfolgreiche Politik kleiner Schritte am Arbeits-markt umwandeln.
Das ist das Interesse, das wir als große Koalition verfol-gen.
Es ist wichtig, dass wir in kleinen Schritten vorgehen,statt, wie es bisher der Fall war, in Hektik zu verfallen.–NfdcddMgAgdsaveWZusus–ImWuEanzbvgrt–wm
ürfen aber nicht – da haben Sie Recht – in eine Politiker ruhigen Hand verfallen.
Ich möchte nun auch den Abgeordneten der SPD dieöglichkeit geben, Beifall zu klatschen, und das auf-reifen, was Karl-Josef Laumann zwei Jahre nach derrbeit der Hartz-Kommission im Französischen Domesagt hat – dem können wahrscheinlich auch Sie voner FDP an vielen Stellen zustimmen –: Zu einer seriö-en Bewertung der vier Hartz-Gesetze gehört natürlichuch, zu sagen, dass sich dadurch in Deutschland in denergangenen zwei Jahren – jetzt sind es bereits drei Jahre –twas bewegt hat.
ir haben erste strukturelle Reformen, zum Beispiel dieusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfend Veränderungen bei der Bezugsdauer des Arbeitslo-engeldes, vorgenommen
nd für die Stärkung des Unternehmergedankens ge-orgt.
Ja, natürlich. Das ist ein Ergebnis der Einführung derch-AG, das ich positiv finde; ansonsten ist dieses Instru-ent sicherlich sehr kritisch zu sehen. –
ir haben mit dem Umbau der Bundesanstalt begonnennd insbesondere bei den Mini- und Midijobs durchausrfolge erzielt.Nun führen wir eine Diskussion über die Bewertungll dieser Maßnahmen und müssen zu tragfähigen Ergeb-issen kommen. Wir befinden uns mitten in diesem Pro-ess. Wir haben bereits erste Schritte auf den Weg ge-racht und die Befristung einiger Maßnahmenerlängert; manches ist schon am 1. Januar 2006 Gesetzeworden. Befristungen waren vor allem bei der Förde-ung der Weiterbildung älterer Arbeitnehmer, der Beauf-ragung von Trägern mit Eingliederungsmaßnahmendas wird im vorliegenden Bericht übrigens positiv be-ertet – und der Entgeltsicherung für ältere Arbeitneh-er zu beachten. Durch diese Maßnahmen unterstützen
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Wolfgang Meckelburgwir vor allen Dingen diejenigen, die am ersten Arbeits-markt Schwierigkeiten haben. Das bedeutet nicht, dassalles so bleibt, wie es ist. Vielmehr wollen wir Luft ge-winnen, um eine ehrliche Diskussion führen zu können.Zurzeit befinden wir uns in einem zweiten Gesetzge-bungsverfahren, das nächste Woche zum Abschluss ge-bracht werden wird. Dabei geht es um das Arbeitslosen-geld II; das hat nicht direkt mit dem vorliegendenBericht zu tun, aber schon mit dieser Problematik. Wirwerden das Ostniveau an das Westniveau anpassen undweitere Korrekturen vornehmen, was den Erstbezug vonWohnungen bei unter 25-Jährigen angeht und was dieFrage betrifft, inwieweit 25-Jährige zu den Bedarfsge-meinschaften gehören.Lassen Sie mich uns alle auffordern, die heutige De-batte über den Zwischenbericht als Einstieg in eine of-fene und ehrliche, in eine gründliche und gewissenhafteAnalyse zu nehmen. Lassen Sie uns möglichst gemein-schaftlich Konsequenzen ziehen, was die Einzelmaßnah-men angeht. Ein Weniger an Maßnahmen ist für die Be-troffenen möglicherweise ein Mehr. Wir müssen dieMaßnahmen stärker bündeln; das hat auch der Arbeits-minister erkannt.Die PSA, die Personal-Service-Agentur, ist durchdas, was wir beschlossen haben, bereits seit dem1. Januar 2006 praktisch abgeschafft; denn es bestehtnicht mehr der Zwang für jedes Arbeitsamt, jeden Ar-beitsamtsbezirk, eine Personal-Service-Agentur einzu-richten. Dies ist, wie man nachlesen kann, nicht erfolg-reich gewesen. Die Vermittlung dieser Arbeitslosenmuss die gewerbliche Zeitarbeit übernehmen, eine Bran-che, die immer Hilfestellung geleistet hat.Ich nenne ein weiteres Stichwort, die Minijobs, beidenen es eine rasante Entwicklung gegeben hat. Sie sindsicherlich keine Hilfe, um aus der Arbeitslosigkeit in denersten Arbeitsmarkt zu kommen. Es zeigt sich aber, dasses einen entsprechenden Bedarf gibt. Was kann man da-raus lernen? Offensichtlich wird Arbeit insbesonderedann interessant, wenn sie nicht zu stark mit Steuern undAbgaben belastet ist. Das heißt, wir müssen den Blickauf die Midijobs richten und dringend zu einer Entlas-tung kommen. Deswegen haben wir miteinander be-schlossen, zum 1. Januar des nächsten Jahres den Ar-beitslosenversicherungsbeitrag um 2 Prozentpunkte zusenken.Zum Abschluss möchte ich etwas sagen, was in dieserDiskussion bisher niemand gesagt hat, was aus meinerSicht aber sehr wichtig ist: Wir müssen immer im Blickbehalten, dass die Politik, auch die Arbeitsmarktpolitik,keine Arbeitsplätze schaffen kann.
Wir können nur Hilfestellung leisten, damit die Betroffe-nen in den ersten Arbeitsmarkt kommen. Was wir drin-gend brauchen, ist eine parallele Politik, die die Wirt-schaft voranbringt und die Unternehmen in die Lageversetzt, Arbeitsplätze zu schaffen.
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Das Wort hat nun der Kollege Klaus Brandner, SPD-
raktion.
Verehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Damennd Herren! Die Evaluation der arbeitsmarktpolitischenesetzgebung bietet die Gelegenheit zum Rückblick aufielsetzung und Zielerreichung.
ch habe heute gehört, dass das eine oder andere Instru-ent nicht so gewirkt hat. Das ist schnell gesagt, Herrolb.
ber ich glaube, gerade in der Arbeitsmarktpolitik brau-hen wir weniger Schlaumeier und mehr Menschen, dieereit sind, Verantwortung zu tragen.
it der Kritik an einzelnen Instrumenten ist es nicht ge-an. Die Arbeitsmarktreformen sind nämlich mehr alsie Einführung einzelner Instrumente.Wir haben heute Morgen Standardreden gehört, ange-angen mit der von Herrn Niebel,
ie wir zum 23. Mal, vielleicht auch schon öfter, gehörtaben. Natürlich kann man eine solche Rede auswendigernen; auch das ist natürlich eine Leistung, Herr Niebel.as will ich gar nicht bestreiten.
ber ich finde es beschämend, wie Sie über die stellver-retende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbun-es gesprochen haben – das kann man so nicht hinneh-en –
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Klaus Brandnerund dass Sie den Personalrat, der von der Mehrheit derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Bundesagen-tur für Arbeit gewählt worden ist, um ihre Interessenwahrzunehmen, als Blockierer und Verhinderer hinge-stellt haben.
Ausgerechnet ihn haben Sie als Übeltäter dafür ausge-macht, dass die Reformen nicht wirken.
Das spiegelt Ihr demokratisches Verständnis wider: Wegmit den Arbeitnehmerrechten, zurück zum Herrschafts-recht! Das ist Ihr Stil; das muss hier ganz offen gesagtwerden.
Die heutige Debatte ist sehr spannend. KolleginDückert hat davon gesprochen, dass man nicht auf denAbschlussbericht warten darf.
Nun haben wir gemeinsam sehr engagiert und, wie ichglaube, auch sehr erfolgreich die Gesetzgebung auf denWeg gebracht. Dabei hat sie gemerkt, dass wir gar keineLame Ducks sind, sondern diesen Evaluationsbericht aufden Weg gebracht haben.Herr Müller, mir war ganz neu, dass die CDU damalsschon mit im Boot war. Ich erinnere mich noch gut da-ran, dass wir von Rot-Grün den Antrag gestellt haben.Wir hatten den Mut, sicherzustellen, dass diese umfang-reiche Reform wissenschaftlich begleitet wird, die Er-gebnisse öffentlich präsentiert werden und dann auch dieKonsequenzen gezogen werden.
Insofern will ich hier ganz klar sagen: Im Kern setzenwir die Arbeitsmarktpolitik, die Rot-Grün mit derAgenda 2010 begonnen hat, mit Schwarz-Rot fort.Dabei haben wir einen großen strategischen Vorteil,nämlich dass die Blockadepolitik, die die wirksame Um-setzung beschäftigungspolitischer Facetten verhinderte,jetzt endlich beendet ist.
Wir haben die Chance, zum Beispiel die Gebäudesanie-rungsprogramme, die Programme für die Handwerker,die beschäftigungspolitischen Initiativen zur Verbesse-rung der Infrastruktur, aber auch die Maßnahmen zurGanztagsbetreuung umzusetzen. Zur Umsetzung dieserstrukturellen politischen Maßnahmen hatten wir inder Vergangenheit wegen der Blockade im Bundesratwenig Gelegenheit.DszMKheembmdonfDbwdnbZdtvHmsmgpWmks–
as ist ein strategischer Vorteil für die Menschen in die-em Lande. Sie haben das gemerkt. Deshalb stehen sieur großen Koalition.
Am Ende werden wir natürlich auch über einzelneaßnahmen streiten. Aber ich setze darauf, dass dieraft der Argumente siegt. Die Bereitschaft und die Fä-igkeit zum Kompromiss sind die Voraussetzungen fürin gedeihliches Zusammenwirken. Das habe ich bisherrlebt. Ich baue darauf, dass wir genau diesen Weg auchit dem Kollegen Brauksiepe und anderen, die in der ar-eitsmarktpolitischen Debatte Verantwortung überneh-en, fortsetzen werden.
Herr Meckelburg hat sehr offen darüber gesprochen,ass er aus Gründen des Koalitionsfriedens an das eineder andere in der Vergangenheit nicht unbedingt erin-ern mag. Aber darüber können wir sprechen, sogar of-ensiv.
ie Präsentation von Herrn Hartz hat große Erwartungenezüglich der Arbeitsmarktpolitik in diesem Land ge-eckt, die so nicht erfüllt werden konnten und die sichie SPD-Bundestagsfraktion auch in der Vergangenheiticht zu Eigen gemacht hat. Aber dass wir einen Auf-ruch, eine Veränderung brauchen, hat doch nie inweifel gestanden.
Wenn wir über die Vergangenheit reden – Herr Kolb,a wäre ich nicht so vollmundig –, dann werden wir na-ürlich auch über die AB-Maßnahmen reden müssen,on denen Sie – Sie sind ja lange genug dabei gewesen –underttausende organisiert haben, um die Arbeits-arktstatistik zu schönen. Wir haben am Ende gemein-am daraus gelernt. Wir haben auch aus den Erfahrungenit dem Vorruhestand gelernt, den nicht die SPD ein-eführt hat, sondern den Sie mit Ihrem alten Koalitions-artner gemacht haben.
ir haben daraus gelernt, dass nicht wirksame arbeits-arktpolitische Instrumente nicht fortgeführt werdenönnen. Dazu hat Rot-Grün die Kraft gehabt. Das müs-en Sie sich ins Stammbuch schreiben lassen.
Natürlich ist es so.
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Klaus BrandnerDeshalb will ich hier ganz deutlich sagen: Die Stig-matisierung muss beendet werden. Wir haben sie been-det. Das ist gut für die Menschen in diesem Land. Wirwerden jetzt darangehen, die weitreichendsten Refor-men am Arbeitsmarkt, die wir mit dem Ziel einerschnelleren, passgenauen Vermittlung und der Schaffungneuer Beschäftigungspotenziale, aber auch der Neu-strukturierung der Bundesagentur für Arbeit und derFörderinstrumente angegangen sind, systematisch fort-zusetzen.Wir, die Sozialdemokraten, sind stolz, dass wir dieKraft gehabt haben, dieses große Reformpaket voranzu-bringen. Alle wissenschaftlichen Institute im wirt-schaftspolitischen Bereich – national und international –bestätigen, dass wir mit diesen Reformprojekten richtigliegen. Sie haben erkannt, dass wir Arbeitslosigkeit nichtweiter verwalten wollen, sondern mehr Chancen für ar-beitslose Menschen brauchen. Daran müssen wir zielge-richtet arbeiten.Wir lassen uns den Erfolg nicht durch Kritik der Op-position am Tempo der Umsetzung nehmen.
Wir haben bisher weder von der rechten noch von derlinken Seite Schritte erleben können, die dazu beigetra-gen hätten, dass es mehr Beschäftigung in diesem Landgibt.Die Hartz-Gesetze haben die Strukturen der Ver-mittlung verändert. Sie haben neue Förderinstrumenteentstehen lassen und ein völlig neues Denken in die Ar-beitsmarktpolitik gebracht. Arbeitslose sind Kunden, umdie man sich kümmert, die man betreut, und nicht Num-mern, die man einfach nur versorgt. Das ist eine ganz we-sentliche inhaltliche Änderung. Hier sind wir auf einemguten Weg. Ich finde, eine Missachtung der Leistung derBeschäftigten der Bundesagentur, die diese Prozesse undMaßnahmen so offensiv vorangetrieben haben, ist nichthinzunehmen. Man kann ihnen nicht genügend dafürdanken, dass sie es geschafft haben, wesentliche Verän-derungen auf den Weg zu bringen. Innerhalb eines Um-bauprozesses werden die Bearbeitungsprozesse bezüg-lich der Langzeitarbeitslosigkeit im SGB II und derArbeitslosigkeit im SGB III durch Strukturreformen an-gegangen. Dabei sind wir ja erst am Anfang dieses We-ges. Dafür brauchen wir die Motivation dieser Menschenund wir können ihnen an dieser Stelle ganz herzlich dafürdanken, was sie auf diesem Gebiet bisher schon geleistethaben.
Der Grundsatz Fördern und Fordern ist das Leitmo-tiv unserer modernen Arbeitsmarktpolitik geworden:Fordern durch klare Regeln der Zumutbarkeit und För-dern durch einen Strauß von angepassten Instrumentenfür einzelne Zielgruppen. Die schnelle und passgenaueVermittlung steht dabei im Vordergrund. Ich will es ganzdFsAgcmszbMs„vHdbbnSssmettmbsndamtsaEdcKddWdAs
Ich darf sie alle um konstruktive Mitarbeit bitten;enn nur dann helfen wir den arbeitslosen Menschen iniesem Lande.
ir helfen ihnen nicht dadurch, dass wir das Schlechtre-en der Vergangenheit fortsetzen. Dadurch ist noch keinrbeitsplatz entstanden. All diejenigen, die jetzt ver-uchen, irgendwo ein Härchen in der Suppe zu finden,
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Klaus Brandnersollten sich merken: Das hilft dem Land und den Men-schen nicht weiter.
Ich fordere Sie zur Zusammenarbeit auf.
Ich erteile dem Kollegen Eckhardt Rehberg, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abge-
ordnete! Durch das Gutachten werden ja nicht nur kleine
Härchen zutage gefördert,
sondern an der einen oder anderen Stelle wird ein kleines
Büschelchen daraus. Ich glaube aber, dass man hier die
Schadenfreude beiseite packen und wirklich nach vorne
schauen sollte.
Das, was man im arbeitsmarktpolitischen Bereich tut,
sollte man auch mit Blick darauf betrachten, wie das am
Beispiel der Ich-AGs auf die kleinen und mittelständi-
schen Unternehmen gerade im Osten Deutschlands
wirkt. Dort sind die Wurzeln für sie nicht so tief wie in
den alten Ländern. Kollegin Mast, Sie haben davon ge-
sprochen, dass 80 Prozent der Existenzgründer noch im-
mer selbstständig sind. Wenn ich das richtig in Erinne-
rung habe, war der Starttermin für diese Art von
Existenzgründungen der 1. Januar 2003. Das heißt, wir
können erst jetzt prüfen, wie die Lage im Jahr 2006,
vielleicht sogar im Jahr 2007 aussieht, insbesondere vor
dem Hintergrund der Absenkung des Zuschusses um ins-
gesamt 14 400 Euro, übrigens ohne monetäres Risiko.
Schauen Sie sich einmal vor Ort um. Sie werden fest-
stellen, dass die Situation im Osten ein Stück weit anders
ist als im Westen, weil das Angebot an Arbeit und Auf-
trägen viel geringer als im Westen ist. Bei Ausschreibun-
gen gehen viele folgendermaßen vor: So mancher Maler-
meister – ich sage Ihnen, dieser gehört auch dazu –
fordert seine fünf Gesellen auf, Ich-AGs zu gründen.
Diese müssen dann als Unternehmen einschließlich Sub-
unternehmen sehen, wie sie an die Aufträge herankom-
men. Wir müssen uns fragen: Warum ist es im
Jahre 2004 bei den Ich-AGs zu einem Einbruch gekom-
men? Der Grund ist, dass Coaching und ein Business-
plan eingeführt worden sind. Jetzt einfach den Pflock
einzuschlagen und die Zuschüsse zu den Ich-AGs wei-
terhin verpflichtend zu machen, kann nicht der richtige
Ansatz sein.
Hier muss man weiter schauen, und zwar nicht nur mit
Blick auf die Arbeitsmarktstatistik. Diese mag zwar gut
aussehen, aber die Frage ist: Wie wirkt sich das auf den
wirtschaftlichen Bereich aus?
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Wir brauchen schon Existenzgründungen aus der Ar-
eitslosigkeit heraus. Deswegen müssen wir uns fragen:
arum ist das Überbrückungsgeld seit 20 Jahren rela-
iv erfolgreich?
Sehr geehrter Herr Kollege Niebel, ich habe in Erinne-
ung, dass 1986 der Bundesarbeitsminister Norbert
lüm hieß.
eiterhin habe ich in Erinnerung – ich konnte das nur
m Fernsehen erleben –, dass der Bundeskanzler Helmut
ohl hieß. Man sollte also so fair sein, festzustellen,
ass dies von Union und FDP eingeführt worden ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
ollegen Niebel?
Herzlich gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Stimmen Sie mir dem-
ach zu, dass 1986 Union und FDP gemeinsam regiert
aben und dass von daher mein Zwischenruf „Weil wir
s gemeinsam eingeführt haben!“ richtig ist?
Ich antworte Ihnen folgendermaßen: Das Über-rückungsgeld ist ein gutes Instrument und wirkt bei Hö-erqualifizierten ganz offenkundig besser, die auf dieseeise mit einem relativ hohen Einkommen aus der Ar-eitslosigkeit herauskommen. Die Ich-AG wirkt bei Ge-ingqualifizierten gut, die mit einem nicht so hohenberbrückungsgeld aus der Arbeitslosigkeit heraus einexistenz gründen wollen.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006 1087
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Eckhardt RehbergWir müssen uns überlegen, wie wir mit diesen beidenInstrumenten verbunden – möglicherweise mit einerDarlehensförderung – einen gewissen Zeitraum über-brücken können. Existenzgründer, die das Überbrückungs-geld in Anspruch genommen haben, haben nach ein oderzwei Jahren finanzielle Probleme. Wir müssen eine län-gerfristige Förderung dieser Unternehmen mit einemmonetären Risiko für den Existenzgründer einführen.
Da sind wir, Herr Kollege Niebel, gemeinsam auf demrichtigen Weg. Machen wir aus zwei interessanten In-strumenten ein richtig gutes Instrument. Dann kommenwir weiter voran.
Ein Satz zu den Mini- und Midijobs. Diese Jobs sindnie als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt gedacht gewe-sen. Aber Menschen, die fünf oder zehn Jahre lang über-haupt keine Beschäftigung hatten und dann die Möglich-keit erhalten, einen Mini- und Midijob zu bekommenund damit in einem sozialen Umfeld beschäftigt zu sein,erwächst daraus die Chance, eine unbefristete Beschäfti-gung zu erhalten. Deswegen ist dieses Instrument gutund richtig.
Besonders interessant – ich glaube, das kann wohlnicht anders sein – sind die Vorschläge, die die KolleginKipping von der Linkspartei heute vorgetragen hat, wiewir in der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland voran-kommen. Frau Kollegin, ich habe noch nie erlebt, dassmehr Verwaltung – sprich: mehr Bürokratie; es war dochIhr Vorschlag, mehr Personal in der Bundesagentur ein-zustel-len – dazu geführt hat, dass irgendein Problem inDeutschland gelöst worden ist. Notwendig sind vielmehrEffizienzkontrolle bzw. Controlling und auch politischeKontrolle, statt einen Ansatz zugunsten von mehr Ver-waltung in der Bundesagentur für Arbeit zu verfolgen.Es ist im Gegenteil noch viel mehr Druck auf demKessel notwendig, damit die Bundesagentur einschließ-lich der Argen noch viel effizienter arbeitet. Ich meine,dass nur dieser Weg nach vorne führt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Frau Kollegin Kipping?
Ja, bitte.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
men, dass ich mich nicht für mehr Verwaltung, sondern
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ind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die
ugrunde liegende Analyse, dass sich die Relation zwi-
chen Vermittler und Kunden nicht verbessert hat, auf
en Bericht Ihrer Bundesregierung zurückgeht, den Ihre
undesregierung im Kabinett verabschiedet hat?
Frau Kollegin, wenn Sie mehr Personal für eine Be-
örde fordern, dann bedeutet das auch mehr Verwaltung.
Ich glaube, dass jeder, der das Innenleben von Behör-
en ein bisschen kennt, weiß, worauf das letztendlich hi-
ausläuft.
Vielleicht haben Sie nicht zur Kenntnis genommen,
ass in der Bundesagentur und in den Argen bereits jetzt
ehr Personal vorhanden ist als vor den Hartz-Refor-
en. Das heißt, es gibt im gesamten Bereich der Arbeits-
erwaltung deutlich mehr Personal als zuvor. Die Argen,
ie allerdings auch für die Betreuung und Vermittlung
er ALG-II-Empfänger mit zuständig sind, haben näm-
ich deutlich mehr Personal eingestellt. Mehr Personal
ann aber nicht die Lösung der arbeitsmarktpolitischen
robleme in Deutschland sein.
Gestatten Sie eine Zusatzfrage?
Gerne.
Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie sich hiermit
on dem ursprünglichen Ziel, die Relation zwischen
ermittler und Kunden zu verbessern, verabschiedet ha-
en?
Nein, ich bin fest davon überzeugt, dass die Relationwischen Vermittlern und Kunden – sprich: ALG-II-mpfängern im Bereich der Bundesagentur – deutlichünstiger wird, wenn dort effizienter gearbeitet wird undehr Controlling erfolgt.
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1088 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Eckhardt Rehberg– Aber natürlich geht das, Frau Kollegin. Wenn wir dieBundesagentur von der stetig zunehmenden Verwal-tungsarbeit entlasten, wird mehr Zeit für die Vermittlungzur Verfügung stehen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Weg gegangenwerden kann.Wir werden sicherlich auch noch eine Debatte überdie Evaluierung von Hartz IV führen müssen, um zu klä-ren, inwieweit die Argen oder die 69 optierenden Kom-munen im Bereich von Hartz IV effektiver sind.Lassen Sie mich zum Schluss einen letzten Teil-bereich ansprechen: die Weiterbildung. Herr Staats-sekretär, hier wird ein Zeugnis ausgestellt, demzufolgegerade längerfristige Maßnahmen durchaus zum Erfolgführen können. Nach meiner festen Überzeugung mussgerade in den neuen Ländern gemeinsam mit den IHKsdafür gesorgt werden, sektoral ausgerichtete Weiterbil-dungsmaßnahmen voranzubringen, die die Motivationerhöhen, wieder in reguläre Beschäftigungsverhältnissezu kommen.Erlauben Sie mir eine abschließende Bemerkung:Arbeitsmarktpolitik kann Beschäftigung fördern. Dieentscheidende Komponente wird sein, dass wir mit viel-fältigen Maßnahmen dafür sorgen, dass die Wirtschafts-politik in Deutschland mehr Beschäftigung schafft. Ichbin fest davon überzeugt, dass weder Hektik noch Aktio-nismus gefragt sind. Notwendig ist vielmehr ein gewis-ses Maß Ruhe; wir sollten uns die nötige Zeit lassen.Danke schön.
Herr Kollege Rehberg, das war Ihre erste Rede in die-
sem Haus. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr herzlich, ver-
bunden mit den besten Wünschen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/505 und 16/547 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie
die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Paul K. Friedhoff, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Unternehmen statt Unterlassen – Vorfahrt für
den Mittelstand
– Drucksache 16/562 –
Überweisungsvorschlag:
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Ausschuss für Arbeit und Soziales
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Zeil, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
ERP-Vermögen ungeschmälert für Mittel-
standsförderung erhalten
– Drucksache 16/382 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
P 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Laurenz
Meyer , Ilse Aigner, Veronika Bellmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Rainer
Wend, Christian Lange , Ludwig
Stiegler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Neue Impulse für den Mittelstand
– Drucksache 16/557 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
P 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans
Josef Fell, Matthias Berninger, Anja Hajduk, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN
ERP-Sondervermögen in seiner Vermögens-
substanz erhalten
– Drucksache 16/548 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
ie Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich
öre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
en.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
ainer Brüderle von der FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!chwarz-Rot hofft auf den Aufschwung. Wirtschafts-inister Glos hofft auf den Erfolg von Jürgen Klinsmann,amit die Wachstumszahlen besser werden. Vielleicht ist
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006 1089
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Rainer Brüderledas auch Kernstück der Glosonomics, der neuen wirt-schaftspolitischen Wunderwaffe aus dem BayerischenWald. Wir alle hoffen auf besseres Wetter. Mit dem Prin-zip Hoffnung kann man ein Nonnenkloster führen undleiten, nicht aber die Wirtschaftsnation Deutschland.
Ich finde, es ist bezeichnend, dass kein einziger Minis-ter an der heutigen Mittelstandsdebatte teilnimmt. Auchder Wirtschaftsminister ist nicht anwesend, genauso we-nig wie sein Vertreter. Das zeigt, mit welchem Interessesich diese Regierung dem Mittelstand widmet. Ich haltedas für keinen guten Stil im Parlament.
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklä-rung das Motto „Mehr Freiheit wagen“ ausgegeben.Richtig, mehr Freiheit für den deutschen Mittelstand,damit er mit seiner Tüchtigkeit und seinem Engagementfür mehr Erfolg sorgen kann und wir vorankommen!„Unternehmen statt unterlassen“ rufen wir den Unter-nehmern zu. Das muss aber auch für die Politik gelten.Schwarz-Rot sind aber die Unterlassungssünder der Na-tion. Sie unterlassen es nämlich, die Wettbewerbsfähig-keit Deutschlands zu verbessern.
Die Bundeskanzlerin flüchtet in die Außenpolitik.Angie goes outside. UNO statt deutscher Mittelstand!Unsere politische Eisprinzessin für die Olympiade inTurin absolviert draußen ihre Kür, vergisst aber, zuHause ihre Pflichten zu erfüllen. Die angekündigtenkleinen Schritte sind nichts anderes als Flickschusterei:Rente mit 67 – aber nicht für Dachdecker und Kranken-schwestern! – und eine Dienstleistungsrichtlinie ohneHerkunftslandsprinzip; Monopoly als Leitbild der Wett-bewerbspolitik – das ist die Realität; denn das Brief-monopol besteht weiter – und monopolartige Strukturenauf dem Gasmarkt, ein Erbe noch der alten Regierung.Nichts ändert sich. Die Telekom bekommt ein Sonderge-setz. So wird ein wettbewerbsfreier Raum erhalten. Dasist keine Strategie zugunsten des Mittelstands.
An die Adresse unserer christdemokratischenFreunde in der Regierung sage ich: Sie haben offensicht-lich nichts aus dem rot-grünen Konkurs gelernt. Händeweg vom Kartellrecht und vom Bundeskartellamt! DieErsten faseln schon davon, wir müssten das Wettbe-werbsrecht reduzieren, um Großfusionen zuzulassen.Dieser industriepolitische Ansatz ist Steinzeitwirt-schaftspolitik. Den Wettbewerb stärken und den kleinenund mittleren Unternehmen eine Chance geben, das istder Erfolgskurs für mehr Wachstum und Beschäftigungin Deutschland. Diesen Weg müssen wir gehen.
Geben Sie dem Mittelstand doch mehr Freiheiten! Esgibt allein 160 Schwellenwerte, die Mittelständler be-achten müssen. Ein Beispiel ist die Einrichtung getrenn-ter Toiletten für Männer und Frauen in Betrieben mitmhsMtBbuMdtAnzftddtEnhbahlavtWPDiitbDmzdIhlUi3lctM
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1090 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Sie machen eine andere Politik. Sie sind auf die Groß-konzerne orientiert, wie es die SPD war. Wir werden inDeutschland von zwei sozialdemokratischen Parteien re-giert, die dem Mittelstand keine Chance geben. Deshalbkriegen wir die grundlegende Wende in Deutschlandnicht hin. Das ist die traurige Bilanz dieses Kartells vonSchwarz und Rot.
Ich erteile dem Kollegen Laurenz Meyer, CDU/CSU-
Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Brüderle, ich
habe zunächst gedacht, Ihr Antrag sollte als Unterstüt-
zung für unsere Bemühungen um den Mittelstand ge-
dacht sein. Ich glaubte, Sie wollten uns zur Seite sprin-
gen.
Aber was Sie dann anschließend gemacht haben und was
Sie auch im Antrag gemacht haben, ist zu wenig, insbe-
sondere dann, wenn man das mit dem vergleicht, was in
der Koalitionsvereinbarung steht. Wenn es einen
Schwerpunkt in dieser Legislaturperiode in der Wirt-
schaftspolitik gibt, dann ist es eine Politik zur Stärkung
des Mittelstandes in Deutschland, weil da die Arbeits-
plätze entstehen. Darin sind wir uns einig.
Wir sind uns auch darin einig – das wäre allerdings
bei einer Koalition mit Ihnen nicht anders gewesen –,
dass wir nicht alles rückgängig machen können, was in
der letzten Legislaturperiode oder vorher beschlossen
worden ist. Das betrifft etwa die Sozialversicherungsbei-
träge. Da hätten Sie sich genauso schwer getan. Wir wer-
den bei nächster Gelegenheit darüber sprechen und ha-
ben es auch schon gestern im Ausschuss getan. Das
sollten wir in aller Ruhe abhandeln. Wir sollten das so
einfach wie möglich regeln.
Damit kommen wir zum Stichwort Bürokratie, das
schon angesprochen worden ist.
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ass ich der Regierung nicht raten kann, sich mit diesem
hema in der Form zu beschäftigen, wie es die FDP ver-
ucht. Das muss ich in allem Ernst sagen.
Darf der Kollege Westerwelle noch eine Zusatzfrage
tellen?
Wenn das nicht auf meine Zeit angerechnet wird,
ann gerne.
Nein.
Sie wissen doch als langjähriger Parlamentarier, dass
as nicht auf Ihre Zeit angerechnet wird. Deswegen
reuen Sie sich auch.
Herr Kollege Meyer, sind Sie denn der Überzeugung,
ass Ihre weltbewegenden Ausführungen es nicht wert
ären, auch von Bundesministern verfolgt zu werden?
Ich bin fest davon überzeugt, dass Minister Gloserrn Schauerte deshalb hergeschickt hat, damit erchnellstmöglich erfährt, was ich hier vortrage.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006 1091
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Herr Kollege Westerwelle, im Übrigen gehen wir fest
davon aus, dass die Protokolle dieser Sitzung in den Mi-
nisterien am nächsten Tag unverzüglich nachgelesen
werden.
Ich will noch einmal in aller Klarheit sagen: Die Ko-
alitionsvereinbarung hat die Förderung des Mittelstands
zum Schwerpunkt. Die Vorwürfe, die dem Wahlkampf
geschuldet sind, können wir getrost beiseite lassen; denn
in diesem Punkt, Herr Brüderle, gebe ich Ihnen völlig
Recht: Mittelstand, also kleine und mittlere Unterneh-
men in Deutschland, ist etwas völlig anderes als große
Aktiengesellschaften. Der Unterschied zwischen großen
Aktiengesellschaften und Mittelstand ist vielleicht grö-
ßer als der zwischen Wirtschaft und Politik. Das muss
man begreifen.
Schauen Sie sich einmal an, was im Koalitionsvertrag
zur Steuerpolitik steht: rasche Änderung der Abschrei-
bungsbedingungen, damit es später zu mehr Investitio-
nen kommt. Stichwort „Umsatzsteuer“: Verlängerung
der derzeitigen Regelung der Istbesteuerung im Osten,
Verdoppelung der Umsatzgrenzen im Westen, was aus-
schließlich den kleinen und mittleren Betrieben zugute
kommt. Ich verweise auch auf das, was wir mit der Erb-
schaftsteuer vorhaben: Erleichterung des Übergangs, da-
mit keine Arbeitsplätze abgebaut werden. Auch die In-
vestitionszulage ist ein unbürokratisches Instrument,
damit der Mittelstand im Osten gefördert wird.
Sie behaupten in Ihrem Antrag, die Koalitionsverein-
barung bedeute eine Bestandsgarantie für die Gewerbe-
steuer. Das ist schlicht falsch. Ich bitte Sie, diese Verein-
barung doch wenigstens einmal zu lesen. Da heißt es,
dass wir eine „wirtschaftskraftbezogene kommunale Un-
ternehmensbesteuerung mit Hebesatzrecht“ wollen. Na-
türlich wollen wir sicherstellen, dass die Kommunen,
was ihre Ausstattung und Ähnliches angeht, möglichst
genauso gut dastehen wie heute. Dass das auch in der
Koalitionsvereinbarung steht, ist richtig.
Noch keine Koalitionsvereinbarung hat das Thema
„Unternehmens- bzw. Mittelstandsfinanzierung“ in die-
ser Intensität behandelt: angefangen bei Basel II über
Förderprogramme der KfW-Mittelstandsbank bis hin zu
Beteiligungskapital und Risikokapitalfinanzierung. Sie
behandelt also alles, was hier angesprochen wird.
In diesen Zusammenhang gehört unser Bemühen um
das ERP-Vermögen. Wir setzen damit im Grunde einen
Prozess fort, der auf die CDU/CSU-FDP-Regierung zu-
rückgeht. Die Wirtschaftspolitiker müssen dauerhaft da-
rauf achten, dass dieses Vermögen für die Förderung des
Mittelstandes in Deutschland zur Verfügung steht.
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1092 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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dass schon der Titel „Mittelstandsentlastungsgesetz“Klartext ist und man nicht wieder in eine Ausdrucks-weise verfällt, die niemand versteht.Dass wir das Standardkostenmodell einführen – dashaben wir uns vorgenommen –, ist ein großer Schrittnach vorn. Gleiches gilt für den unabhängigen Normen-kontrollrat. Auch manches von dem, was Sie früher mituns beschlossen haben, muss auf den Prüfstand. Es gilt,festzustellen, wie sich das, was an Statistiken zu führenist usw., kostenmäßig in den Unternehmen auswirkt.Nun zu einem ganz wichtigen Punkt, der bisher nochgar nicht angesprochen worden ist. Ich setze große Hoff-nung darauf, dass die Passage im Koalitionsvertrag, inder es heißt, dass strukturschwache Länder für eine be-stimmte Zeit die Möglichkeit erhalten sollen, von Bun-desgesetzen abzuweichen, umgesetzt wird und auf dieseWeise ein Teil der Bürokratie geknackt wird. Ich willganz offen sagen: Niemals hätte es in Westdeutschlanddas Wirtschaftswunder gegeben, wenn wir schon damalseine solche Bürokratie wie heute gehabt hätten. Dem Os-ten muten wir zu, unter den Bedingungen der heutigenBürokratie den Anschluss zu finden. Wir wollen dasknacken. Dieses große Vorhaben sollten Sie unterstüt-zen, statt es zu kritisieren.
Zu den Entbürokratisierungsbestrebungen gehört einzweiter Punkt. Sie behaupten in Ihrem Antrag schlichtund einfach, dass wir den Kündigungsschutz unverän-dert lassen. Lesen Sie doch wenigstens einmal den Ko-alitionsvertrag!
Wir haben doch gerade gesagt: Wir wollen Neueinstel-lungen leichter möglich machen. Wir wollen, dass dieUnternehmen leichter einstellen können und dass Men-schen in Deutschland so einen Arbeitsplatz finden, wennauch möglicherweise manchmal nur für eine begrenzteZeit. Mit 55 Jahren für zwei Jahre einen Arbeitsplatz zufinden, ist besser, als nie mehr einen zu finden.
Herr Westerwelle, an der Reaktion gerade konnten Sieen Unterschied zu früher ganz genau sehen. Dass über-aupt geklatscht worden ist, ist der Unterschied zu frü-er; das hätte es früher nicht gegeben.
Zur Umwelt- und Energiepolitik. Das Ausrichtenuf eine kostengünstige Energieversorgung ist als neuesiel zu nennen. Da muss der Blick stärker auf den Mit-elstand gerichtet werden. Wir müssen schauen, dass wirnergieintensive Betriebe in Deutschland halten könnennd dass wir den Mittelstand mit den entsprechendenrbeitsplätzen nicht weiter mit hohen Energiekosten be-asten. Das geht bis hin zur Außenwirtschaftspolitik.Wenn Sie dieses umfängliche Programm betrachtenHerr Brüderle, ich will Ihnen gern eine schöne gebun-ene Ausgabe des Koalitionsvertrags zur Verfügung stel-en –,
ann können Sie erkennen, welcher Schwerpunkt hiererade für diese Legislaturperiode gesetzt worden ist.Ich betrachte jetzt im Nachhinein Ihren Antrag ver-öhnlich als Unterstützung für dieses große Vorhaben fürie nächsten Jahre und hoffe, dass Sie daran ganz kon-ret mitarbeiten werden. Dann werden wir sicherlich zuuten Ergebnissen kommen.
Das Wort hat nun die Kollegin Sabine Zimmermann,
raktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!eine Damen und Herren! Zuerst zu Herrn Brüderle:err Brüderle, wenn Sie den Mittelstand an der Anzahler Toiletten festmachen wollen, dann ist das etwas sehrurz gegriffen.
ch denke, dass der Mittelstand doch etwas mehr ist.Die in dem Antrag der FDP „Vorfahrt für den Mittel-tand“ enthaltenen Forderungen sind aus unserer Sichtenig geeignet, vor allem die hohe Arbeitslosigkeit zuekämpfen, was ja eine zentrale politische Aufgabe ist,nd die Lage des Mittelstandes zu verbessern. Man
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006 1093
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Sabine Zimmermannkönnte diesen Antrag überschreiben mit „Alter Wein inneuen Schläuchen“. So würde ich das formulieren.Wir, die Linke, sind für eine gezielte Förderung vonMittel- und Kleinbetrieben, damit diese in die Lage ver-setzt werden, bestehende Arbeitsplätze zu sichern undvor allen Dingen neue zu schaffen. Aber dieses Zielkann nur erreicht werden, wenn in der Wirtschaftspolitikder Grundsatz beachtet wird: Ohne verstärkte Nachfragekein Wachstum und ohne stärkeres Wachstum keineneuen Arbeitsplätze.
Deshalb muss vor allem die Kaufkraft der Bevölkerungin diesem Land erhöht werden. Das geschieht überhauptnicht, schon gar nicht mit Hartz IV.Niedriglohnstrategien, meine lieben Kollegen von derFDP, und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistun-gen stehen diesem Ziel entgegen, ebenso die von derBundesregierung geplante Erhöhung der Mehrwert-steuer, die wir ebenfalls konsequent ablehnen.
Die Nachfrage muss vor allem durch verstärkte öffentli-che Investitionen erhöht werden; öffentliche Daseinsvor-sorge und Dienstleistungen sind zu verbessern. SehenSie sich doch einmal den miserablen Zustand mancheröffentlicher Einrichtungen wie Kindergärten, Schulenoder Krankenhäuser an! Deshalb sind wir entschiedengegen die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvor-sorge.Insgesamt sind die meisten Ihrer Forderungen für unsinakzeptabel, so die Heraufsetzung des Kündigungs-schutzes von zehn auf 20 Beschäftigte. Nach einer Un-tersuchung des Nürnberger Instituts haben Veränderun-gen des gesetzlichen Kündigungsschutzes auf dieBeschäftigung keinen messbaren positiven Effekt. Siewürden aber den sozialen Schutz der Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer wesentlich verschlechtern.Meine Damen und Herren von der FDP, wir glaubeneben nicht, dass die Probleme des Mittelstandes dadurchgelöst werden, dass man sie auf den Rücken der dort Be-schäftigten abwälzt. Die jüngsten sozialen Unruhen inFrankreich zeigen, dass die Menschen nicht mehr bereitsind, sich immer weiter in soziale Unsicherheit abschie-ben zu lassen.
Auch die Forderung nach gesetzlichen Öffnungsklau-seln für betriebliche Bündnisse ist doch ein alter Hut,den Sie immer wieder herauskramen. Zum einen gehtaus der Untersuchung hervor, dass die Zahl der Ab-schlüsse von betrieblichen Bündnissen für ArbeitEnde 2003 ein Rekordniveau erreicht hat. Zum anderengibt es in zahlreichen Tarifverträgen Öffnungsklauseln,Härtefallregelungen usw. Wir haben den begründetenVerdacht, dass es Ihnen bei dieser Forderung vor allemum die Durchsetzung von Lohnsenkungen auf der be-trieblichen Ebene geht. Dafür stehen wir als Linke nichtzur Verfügung.
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Diese Dienstleistungsrichtlinie dürfe so nicht ver-bschiedet werden, so die Handwerkskammer Dresden.ie meint, diese Richtlinie sei akut eine der größten
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1094 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Sabine ZimmermannBedrohungen für die kleinen Handwerks- und Dienst-leistungsunternehmen und für die dort beschäftigten Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer.Nein, wir brauchen eine grundsätzlich andere Mittel-standspolitik in diesem Land. In kleineren und mittlerenUnternehmen arbeiten etwa 70 Prozent aller Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer. Die Tatsache, dass wir imletzten Jahr fast 38 000 Insolvenzen zu verzeichnen hat-ten und eine halbe Million Arbeitsplätze verloren gin-gen, zeigt doch die Dramatik dieser Lage.Wegen zahlreicher Steuererleichterungen, von denenin der Vergangenheit vor allem größere Unternehmenprofitiert haben, liegen die öffentlichen Haushalte amBoden. Es gibt kaum noch Aufträge für die KMUs, In-solvenzen sind die Folge.Ich komme zum Schluss. Wir fordern ein Zukunfts-programm, das diesen Namen wirklich verdient. Die da-mit verbundenen Investitionen können auch dem Mittel-stand nützen. Dafür werden wir in den nächsten Wochenund Monaten streiten. Gegen einen ruinösen Wettbe-werb, der vor allem kleinen Unternehmen schadet, wer-den wir am Samstag vor dem Bundesministerium de-monstrieren. Wer es mit dem Mittelstand in diesemHause wirklich ehrlich meint, der müsste dort am Sonn-abend zu finden sein.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Zimmermann, ich gratuliere Ihnen zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden
mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentari-
sche Arbeit.
Ich erteile nun dem Kollegen Christian Lange das
Wort für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Lieber Kollege Brüderle, der Mittelstand ist in derTat das Rückgrat unserer Wirtschaft. Aber ich sage Ih-nen auch klar und deutlich: Der Mittelstand hat Besseresverdient als Ihr Zehn-Pünktchen-Programm, das Sie unsheute Mittag hier vorlegen.
Der Mittelstand hat auch mehr verdient als manche IhrerStammtischparolen, Herr Kollege Brüderle. GestattenSie mir deshalb, auf den einen oder anderen Punkt IhresAntrages etwas näher einzugehen.Es wundert nicht, dass gleich zu Beginn Ihres Antra-ges Ihr Lieblingsthema Kündigungsschutz wieder ein-mal aufgegriffen wird. Der Kollege Meyer hat zu Rechtauf das hingewiesen, was sich die Koalition vorgenom-men hat. Ich will Ihnen aber auch sagen, worauf die Ko-alition aufbauen kann. Bereits die alte Bundesregierunghatte den Mittelstand bei der Frage, wie wir den Kündi-gtenskHulmDAchmBwmrrdmi3g–AdwrdiIdusDAcdgDlkmktau„3dGs
Was macht die neue Bundesregierung darüber hinaus?iesen Mut zu stärken, ist ein ganz wichtiger Ansatz.ls Gesellschaft sind wir auf die Gewährleistung ausrei-hender Spielräume zur Umsetzung Erfolg versprechen-er Geschäftsideen ebenso angewiesen wie die Existenz-ründer selbst, die sich noch im Wartestand befinden.enn nur wenn es uns in den kommenden Jahren ge-ingt, eine höhere wirtschaftliche Dynamik zu entfalten,önnen wir unser Wohlstandsniveau auch in Zeiten im-er schärfer werdenden Wettbewerbs aufrechterhalten.Wir haben also keine Wahl. Denn so abgedroschen eslingt: Ohne dass wir in die Köpfe der Menschen inves-ieren und zugleich sicherstellen, dass sie ihre Ideenuch umsetzen können, geht es nicht. Deshalb macht esns auch besorgt, dass Deutschland im Rahmen desGlobal Entrepreneurship Monitor“ nur auf Platz 23 von5 untersuchten Ländern kommt. Dabei ist es richtig,ass es einen direkten Zusammenhang zwischen derründungsaktivität in einem Land und dessen wirt-chaftlichem Wachstum gibt.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006 1095
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Christian Lange
Genau deshalb setzen wir auf die Stärkung desGründergeistes und entsprechende Rahmenbedingun-gen. Ich meine, dies sind zum Ersten die Finanzierungvon Gründungsunternehmen, zum Zweiten angemessenesteuerliche und abgaberechtliche Rahmenbedingungenund zum Dritten die Schaffung entsprechender Werteund der Mentalität innerhalb der Gesellschaft dahin ge-hend, dass es sich lohnt, sich selbstständig zu machen.Dies sollte nicht als Ausweg verstanden werden. Viel-mehr sollte es ein Grundwert in unserer Gesellschaftsein, Eigeninitiative zu zeigen und den entsprechendenMut aufzubringen.
Deshalb ist es auch kein Wunder, dass wir uns bei denöffentlichen Förderinfrastrukturen in den vergangenensieben Jahren sehr gut positioniert haben. Die Politik hatihre Hausaufgaben in diesem Bereich gemacht. Bei derprivaten Finanzierung hingegen besteht nach wie vor er-heblicher Nachholbedarf, wie jeder von uns aus vielenGesprächen in seinen Wahlkreisen weiß.Ich meine, wir dürfen gerade die Geschäftsbankennicht aus der Verantwortung entlassen und die Verant-wortung allein den Gründern, dem Handwerk und demMittelstand, den Volksbanken und den Sparkassen auf-halsen. Hier stehen auch die großen Geschäftsbanken inder Verantwortung. Es ist die Aufgabe der Politik, daraufhinzuweisen und darauf zu drängen.Was heißt das konkret? Wir werden für Existenzgrün-der beispielsweise One-Stop-Anlaufstellen schaffen unddie Statistikpflichten gerade am Anfang der Gründungs-phase erleichtern, in der sie meist Chefsache sind undwertvolle Kapazitäten binden. Außerdem werden wir da-für sorgen, dass die Buchführungsgrenze von 350 000auf 500 000 Euro Umsatz erhöht wird.Die Sozialversicherungsbeiträge, die Handwerk undMittelstand immer wieder belasten – das wissen wir –,sind ein großes Thema. Sie fordern, auf die in diesemJahr vorgesehene 13-malige Einziehung zu verzichten.Wir haben gestern darüber im Ausschuss diskutiert. Siewissen, dass die Bundesregierung zugesagt hat, dass dieAusgestaltung der Einziehung der Sozialversicherungs-beiträge unbürokratischer gestaltet wird. Dies ist einrichtiger Weg. Denn wir alle sind uns darin einig, dasswir die Lohnnebenkosten senken wollen. Von daherkann der Verzicht auf unser Vorhaben, so wie Sie ihnfordern, nicht der richtige Weg sein. Dies würde nur dasGegenteil bewirken, nämlich die weitere Erhöhung derLohnnebenkosten. Das kann nicht unser Ziel sein.Meine Damen und Herren, dazu gehört auch, dass wirangesichts der guten Aussichten, die im Jahreswirt-schaftsbericht prognostiziert wurden, die Verbesserungder Finanzierungsbedingungen im Auge haben. Dennnach wie vor haben vor allem kleine und mittelständi-sche Unternehmen, aber auch Unternehmerpersönlich-keiten, die den Schritt in die Selbstständigkeit wagen,ein zu geringes Eigenkapitalpolster oder Probleme beider Fremdfinanzierung.lmsntgMghgvtzZddsbtDddglwwVdbevsmbdnmkVl3AZsmbdvldSzVsr
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1096 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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konkret getan wird.Wenn ich mit Unternehmerinnen und Unternehmerngerade auch über Gründungen von Unternehmen spre-che, dann sagen sie mir: Das zentrale Problem ist dieFinanzierung. Dazu finden sich in dem FDP-Antrag dreidürre Sätze zum ERP-Sondervermögen. Die Sätze sindrichtig – unsere Anträge weisen in die gleiche Richtung,mein Kollege Hans Josef Fell wird das später noch ge-nauer vorstellen –, aber lediglich ein Förderprogrammkann doch nicht alles sein. Ich habe mehr von der FDPbeim Thema Finanzierung erwartet.Wir haben in den letzten Jahren einiges in Angriff ge-nommen – Stichwort: Verbriefung –, damit auch kleineUnternehmen an den Kapitalmarkt kommen. Natürlichmuss hierzu noch Weiteres in der Seed-Phase, der An-fmstbnscimIkgikJgpeSrcsgkdPrwmZnhnWdSArEEgwrmWfm
Ich möchte auf den Antrag der großen Koalition ein-ehen. Auch er hat eine schöne Überschrift: Neue Im-ulse für den Mittelstand. Dass er einige gute Punktenthält, will ich gar nicht in Abrede stellen.
o beinhaltet er zum Beispiel das CO2-Gebäude-Sanie-ungsprogramm, ein grüner Impuls, den Sie weiterentwi-keln. Dieses Programm muss aber solide finanziertein. Wenn Sie nicht auf das, was wir als rot-grüne Re-ierung gemeinsam vorgelegt haben, zurückgreifenönnten, stünden Sie im Moment mit völlig leeren Hän-en da.Material- und Energieeffizienz sind weitere richtigeunkte in Ihrem Programm, die auf grüne Impulse zu-ückgehen. Aber kommen Sie doch zum Kern dessen,as eine Wirtschaft ausmacht, die sich auf kleine undittlere Unternehmen stützen muss: den Wettbewerb.um Wettbewerb steht im Antrag der großen Koalitionichts. Dabei muss man gar nicht die Freiburger Schuleeranziehen, denn entscheidend ist doch, dass die klei-en und mittleren Unternehmen das Herzstück unsererirtschaft sind. In diesem Bereich weisen Ihre Entschei-ungen in die völlig falsche Richtung. Deswegen habenie auch ganz bewusst nichts zu diesem Thema in Ihremntrag geschrieben.Weitere Stichworte für Ihre Schwäche in diesem Be-eich sind Breitband, Medienfusion und Energiemarkt.s ist interessant, dass sich im Bereich erneuerbarernergien eine unwahrscheinliche Wettbewerbsdynamikerade bei den kleinen und mittleren Unternehmen ent-ickelt hat. Ich denke, Herr Meyer, auch bei den größe-en Unternehmen, bei den Oligopolisten im Energie-arkt müsste angekommen sein, dass durch mehrettbewerb interessante Sachen entstanden sind. Grei-en Sie das auf und legen Sie ein klares Bekenntnis zuehr Wettbewerb in diesem Bereich ab.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006 1097
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Dr. Gerhard Schick
Meine Damen und Herren von der FDP, dazu gehörtauch, Zugänge zu neuen Märkten zu eröffnen. Wir hättenuns bezüglich des Handwerks eine deutlichere Unterstüt-zung der FDP gewünscht. Ich nenne das Stichwort„Meisterbrief“, bei ihm haben Sie sich nicht für mehrWettbewerb ins Zeug gelegt.
Ich möchte noch einmal auf die Wettbewerbsdefizitein der großen Koalition zurückkommen. Es gibt jetzt diespannende Debatte darüber, ob es nicht doch besserwäre, nationale Champions zu fördern. Die gestrigeDiskussion im Wirtschaftsausschuss hat Ihren Stand-punkt nicht klar erkennen lassen. Deshalb hätte ich gernheute in der Debatte über die Mittelstandsförderung einklares Bekenntnis der großen Koalition dazu gehört.Denn es kann nicht darum gehen, den Wettbewerb zu be-schränken, vielmehr muss es darum gehen, durch Wett-bewerb neue Märkte zu erschließen und auf den Welt-märkten präsent zu sein. Dass das möglich ist, ist imBereich Umwelttechnik und erneuerbarer Energien deut-lich geworden. Ich würde mich daher freuen, wenn Siebei einer klaren Wettbewerbsorientierung bleiben wür-den.
Wir sind für mehr Wettbewerb. Wir wollen das Kar-tellamt stärken und deshalb die Ministererlaubnis ab-schaffen. Wir stützen die Europäische Kommission inihrer Eigenschaft als Wettbewerbsbehörde, damit siesich klar für mehr Wettbewerb engagieren kann. KlärenSie das noch einmal mit Ihrem Kollegen Söder: Ist eswirklich der richtige Weg, nationale Champions zu för-dern? Dazu möchte ich gern noch etwas mehr in den fol-genden Redebeiträgen hören.Hier wohlfeile Mittelstandsrhetorik zu pflegen undanschließend am Kartellrecht herumzufingern, passtnicht zusammen, wenn wir uns für die kleinen und mitt-leren Unternehmen in unserem Land engagieren wollen.Danke schön.
Das Wort hat nun der Kollege Otto Bernhardt für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Botschaft unseres Antrages lautet: Der Mit-telstand kann sich auf die große Koalition verlassen.WDhRbVDddlAdWdibsGdIsgEwLiidzEtrUbrhus
ir wissen, dass für die wirtschaftliche Entwicklungeutschlands der Mittelstand eine besondere Bedeutungat. Vor diesem Hintergrund sind wir entschlossen, dieahmenbedingungen für den Mittelstand weiter zu ver-essern. Sie haben völlig Recht, Herr Kollege Brüderle:ertrauen schafft Arbeitsplätze.
eshalb sind wir von der großen Koalition so froh, dassiese Regierung inzwischen ein so breites Vertrauen iner Bevölkerung hat und dass sich die Stimmung in denetzten Wochen und Monaten deutlich verbessert hat.
ls Christdemokrat freue ich mich natürlich besonders,ass unsere Kanzlerin inzwischen so hervorragendeerte bei allen Meinungsumfragen hat.
Ich habe gesagt, dass die Rahmenbedingungen füren Mittelstand verbessert werden müssen. Ich möchten aller Kürze zwei Punkte herausstellen:Erstens die Steuern. Mit nominell 39 Prozent Steuernei Kapitalgesellschaften und bis zu 45 Prozent bei Per-onengesellschaften haben wir inzwischen die höchsteewinnbesteuerung in Europa; das wissen wir. Aberas liegt nicht daran, dass wir die Steuern erhöht haben.m Gegenteil, die Steuern sind bei uns sogar laufend ge-enkt worden. Aber die anderen Länder haben stärkeresenkt. Wir müssen heute feststellen, dass in den altenU-Ländern die durchschnittliche Belastung für Ge-inne im Bereich von 30 Prozent und in den neuen EU-ändern im Bereich von 20 Prozent liegt.
Da es ein entscheidendes Ziel der großen Koalitionst, den Haushalt zu sanieren, können wir natürlich nichtn Richtung 20 Prozent gehen. Aber wir wollen eineneutlichen Schritt von 39 Prozent in Richtung 30 Pro-ent machen. Dafür haben wir unsere Ziele formuliert.in ganz wichtiges Ziel für uns ist – das, was die Stif-ung „Marktwirtschaft“ vorgelegt hat, zeigt, wie schwie-ig es ist, dieses Ziel zu verwirklichen –, dass in Zukunftnternehmensgewinne unabhängig von der Rechtsformesteuert werden.Wir haben in der Tat ein weiteres Ziel: Wir wollen er-eichen, dass die Gewerbesteuer durch andere ähnlichohe Ertragsteuern ersetzt wird. Nur so können wir dasnseren Kommunen zumuten. Auch dies ist eine sehrchwierige Operation.
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Otto BernhardtLetztlich wollen wir für eine begrenzte Zeit die Ab-schreibungssätze reduzieren, um den wirtschaftlichenAufschwung zu verfestigen.
Herr Kollege Bernhardt, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dr. Otto Solms?
Aber gerne.
Herr Kollege Bernhardt, wenn Sie eine Unterneh-
mensteuerreform für so dringend erforderlich halten
– das tun im Übrigen auch wir –: Warum hat dann die
große Koalition die Anstrengungen auf das nächste Jahr
verschoben? Die Diskussion hat nicht erst mit der Bil-
dung der großen Koalition begonnen, sondern seit Jah-
ren diskutieren wir – die Fachleute genauso wie die
breite Öffentlichkeit – über die Notwendigkeit einer Un-
ternehmensteuerreform, insbesondere um internationale
Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen. Nun beginnt die
große Koalition damit, diese zentrale, wichtige Aufgabe
für den deutschen Mittelstand erst einmal auf die lange
Bank zu schieben.
Herr Dr. Solms, wir haben uns – ich habe gerade einpaar Ziele genannt – eine große Unternehmensteuerre-form vorgenommen. Die Probleme in diesem Zusam-menhang sind sehr groß; Sie als Fachmann wissen das.Wir wollen nicht den Fehler machen, den wir in der Ver-gangenheit häufig gemacht haben, mit zu heißer Nadelso wichtige Gesetze zu machen, um sie dann anschlie-ßend wieder ändern zu müssen. Daher brauchen wir denZeitraum bis Ende 2007. Wir werden sicherstellen, dassdas neue Unternehmensteuerrecht am 1. Januar 2008 inKraft tritt.
Bezogen auf den Mittelstand wollen wir, die großeKoalition, noch in einem anderen Bereich etwas verän-dern, und zwar wollen wir den Übergang von mittel-ständischen Betrieben auf die nächste Generation er-leichtern, indem wir für diese Fälle die Steuern senkenwollen. Auch das ist eine schwierige und umfangreicheAufgabe. Wir müssen sie aber lösen. Denn jeder weißaus Einzelfällen, dass mancher Betrieb nicht fortgeführtwird, weil die Steuerlast, die im Erbfall auf die Nachfol-ger zukommt, so hoch ist, dass sie einfach nicht getragenwerden kann. Deshalb sagen wir: Diese Steuerlast müs-sen wir reduzieren, um die Arbeitsplätze im Mittelstandzu erhalten.Der zweite Aspekt, den ich ansprechen möchte,wurde schon von einigen meiner Vorredner genannt: dieMittelstandsfinanzierung und Basel II. Brüssel hat seineAufgaben gemacht. Die entsprechende Richtlinie liegtvor. Jetzt stehen wir vor der schwierigen Aufgabe, dieseRichtlinie in nationales Recht umzusetzen. An dieserStelle sage ich: An etwa 100 Punkten haben wir nationa-len Spielraum. Die große Koalition wird sicherstellen,dlIkelsdfalczmgVMmRds1FidWhldNltsEndEvadmIS1nß
enn ein Finanzminister, der gezwungen ist, den Haus-alt zu sanieren, von einem Betrag in Höhe von 12 Mil-iarden Euro hört,
ann muss man aufpassen.
ach all dem, was ich in den vorliegenden Anträgen ge-esen habe – mit diesem Thema setzen sich ja alle Frak-ionen auseinander –, kann ich nur sagen: Unser gemein-ames Ziel muss sein, dass sich die Erträge aus demRP-Vermögen – denn nur diese können wir einsetzen –icht verringern. Des Weiteren müssen wir sicherstellen,ass wir als Parlament – in welcher Form auch immer –influss darauf haben, wofür diese Erträge in Zukunfterwendet werden. Nur so kann aus meiner Sicht undus Sicht der großen Koalition gewährleistet werden,ass das ERP-Vermögen auf Dauer ein wichtiges Instru-ent der Mittelstandsförderung bleibt.
ch sage mit aller Deutlichkeit: Hier liegt ein hartestück Arbeit vor uns. Allerdings betone ich auch:2 Milliarden Euro sind eine verlockende Größenord-ung.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschlie-end Folgendes feststellen: Die große Koalition ist ent-
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Otto Bernhardtschlossen, die Rahmenbedingungen für den Mittel-stand weiter zu verbessern.
In diesem Sinne ist unser Antrag zu verstehen. Viel Ar-beit liegt vor uns. Aber ich glaube, es macht Spaß, sichfür die Verbesserung der Rahmenbedingungen für denMittelstand aktiv einzusetzen.
Herr Kollege Bernhard, der Kollege Brüderle würde
Sie gerne noch etwas fragen. Würden Sie diese Zugabe
trotz Ihrer eindrucksvollen Schlusspassage noch gestat-
ten?
Gerne, selbstverständlich.
Herr Kollege, Sie haben zu Recht betont, dass das
Marshallplan- bzw. ERP-Vermögen einen besonderen
Charakter hat, auch mit Blick auf unsere amerikanischen
Freunde. Diese Auffassung teile ich voll und ganz. Aber
Ihre Aussage, dass es uns darum gehen muss, die Erträge
aus dem ERP-Vermögen zu erhalten, ist ein bisschen
verräterisch. Sind Sie im Zusammenhang mit dieser ent-
scheidenden Hilfe, die Deutschland nach dem Krieg er-
fahren hat und die nach all dem, was geschehen war,
wahrlich nicht selbstverständlich war, rückblickend
nicht auch der Auffassung, dass es zum Anstand gehört,
dieses Vermögen des deutschen Mittelstands in seiner
gesamten Substanz zu erhalten, statt durch Hilfs-
konstruktionen einen Teil dieses Vermögens zu plün-
dern?
Politik, Herr Kollege Brüderle, ist bekanntlich die
Kunst des Möglichen. Als große Koalition haben wir na-
türlich mehrere Ziele gleichzeitig zu erreichen. Ein
wichtiges Ziel ist die Mittelstandsförderung. Deshalb
sage ich: Die Erträge aus dem ERP-Vermögen dürfen
nicht geschmälert werden. Ich sage aber genauso deut-
lich: Wenn es uns nicht gelingt, den Haushalt zu sanie-
ren, werden wir kein nachhaltiges Wirtschaftswachstum
in Deutschland bekommen.
Alle Länder der Welt, die die Haushaltssanierung nicht
in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt haben,
mussten feststellen, dass ein Konjunkturaufschwung bei
maroden Staatsfinanzen nicht möglich ist. Wir müssen
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Herr Kollege Bernhardt, das Bedürfnis, mit Ihnen in
inen Dialog einzutreten, ist auf allen Seiten des Hauses
orhanden und nur noch schwer zu überbieten.
Das vertiefen wir bei anderer Gelegenheit.
Ich will jetzt zur Geschäftsordnungslage nur darauf
inweisen, dass ich Zwischenfragen naturgemäß dann
icht zulassen kann, wenn sie nach Ablauf der verein-
arten Redezeit angezeigt werden. Da der Kollege
ernhardt mit seinem Beitrag erfreulicherweise unter-
alb der gemeldeten Redezeit geblieben ist, ist es, glaube
ch, nur fair, die eine wie die andere Zusatzfrage zuzu-
assen, sofern er selber das gestattet. –
as ist so. Bitte schön, Herr Kollege Dehm.
Wenn Ihr Blick rechtzeitig auch zur Linken ge-
chweift wäre, hätten Sie gesehen, dass ich mich zuvor
u Wort gemeldet habe.
Meine Frage an Sie, Kollege Bernhardt: Können Sie
ich vorstellen, dass ein hessischer Bäckerbetrieb in den
etzten zwei Jahrzehnten mehr Körperschaftsteuer be-
ahlt hat als die Deutsche Bank?
Wenn das so ist, ist die Frage: Warum haben alle Par-
eien außer der Linkspartei daran mitgewirkt: auf der
bene der Bundesregierung, auf der Ebene der Landes-
egierungen und auch, was die Aufsicht über die Finanz-
mter, die für Großbetriebsprüfungen zuständig sind, an-
etrifft?
Ich kann von hier natürlich nicht auf Einzelfälle ein-ehen. Ich weiß nur so viel: dass im Zusammenhang mitestimmten Veränderungen der Körperschaftsteuer einaar Probleme entstanden sind, die beim Staat zu
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Otto Bernhardterheblichen Einbußen geführt haben; wir haben hier wie-derholt darüber diskutiert. Diese Zeit ist aber vorbei. Wirwerden jetzt als große Koalition sicherstellen – wir ha-ben gemeinsam schon viele Schlupflöcher gestopft –,dass ab 1. Januar 2008 alle Firmen in Deutschland unab-hängig von ihrer Rechtsform die gleiche Steuer zahlen.
Ich habe schon darauf hingewiesen: Diese kann, auchwenn das wünschenswert wäre, nicht bei 20 Prozent lie-gen, das schaffen wir nicht. Sie muss aber deutlich nied-riger liegen als heute. Dafür werden wir uns einsetzen.
Das Wort hat nun der Kollege Paul Friedhoff für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Nach einer freiwilligen dreijährigen Pause vomParlamentsbetrieb bin ich sehr stolz darauf, dass ichheute wieder in diesem Hohen Hause reden darf.
Mit dem Antrag „Unternehmen statt Unterlassen – Vor-fahrt für den Mittelstand“ wollen wir Liberalen dazu bei-tragen, dass die Situation des Mittelstands in Deutsch-land auf die Tagesordnung kommt. In den sieben Jahrenvon Rot-Grün wurde den Unternehmern das Arbeiten inunserem Land erschwert: durch höhere Steuern, höhereAbgaben, viel mehr Bürokratie. Aber, Herr Meyer, hierhat auch die Koalition von Schwarz-Rot außer Hoffnungzurzeit nicht viel zu bieten; ich komm nachher noch da-rauf.
Ich habe meine Parlamentspause genutzt und wäh-rend dieser Zeit erneut einen mittelständischen Betriebmit aufgebaut. Dies konnte ich mir nicht etwa deswegenleisten, weil sich die Rahmenbedingungen in der letztenZeit so verbessert hätten, sondern weil ich dafür die Er-löse aus meinem ersten Betrieb, den ich vor meiner Par-lamentszeit in den 80er-Jahren aufgebaut habe, verwen-det habe. Ich kann also aus eigener Anschauungvergleichen, was sich in diesen 20 Jahren bei Unterneh-mensgründungen, aber auch bei der Schaffung von Ar-beitsplätzen in diesem Land verändert hat. Ich möchtedas an vier Stellen festmachen.Erstens. Vor 20 Jahren waren Banken und Sparkas-sen an Erfolg versprechenden Unternehmensgründungendurchaus interessiert. Die Banker vor Ort hatten Ent-scheidungsbefugnisse. Unternehmerpersönlichkeit, Pro-dukt und Marktchancen standen im Vordergrund. An de-ren Stelle ist heute ein fast umfassendes, ganzkompliziertes, computergetriebenes Ratingsystem getre-tMrBhrMmUmküddWdiedndvTnknssbZmDsKwi–jd„iSWMSktrKS
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Grundsätzlich gilt – ich glaube, darin sind wir uns alleeinig –, dass die Zeit der Gießkannenförderung ein füralle Mal vorbei ist. Es muss darum gehen, die vorhande-nen Mittel in den ostdeutschen Bundesländern gezieltund effizient einzusetzen. Mit konkreten Förderprogram-men wie Inno-Watt, NEMO und Pro Inno hat die alteBundesregierung den besonderen Bedürfnissen der ost-deutschen Unternehmen bereits Rechnung getragen.Diese Programme gleichen die vorhandenen Defizite imManagement, beim Technologietransfer, bei der Markt-einführung und bei der Vernetzung aus.Dass der hier eingeschlagene Weg richtig ist, zeigendie begleitenden Untersuchungen. So haben sich derUmsatz, die Beschäftigung und die Produktivität derdurch Inno-Watt geförderten Unternehmen weit besserentwickelt als der Durchschnitt der gewerblichen Wirt-schaft. Mit jedem Euro Zuschuss konnte ein wirtschaftli-cher Effekt von 14 Euro bewirkt werden. Von 2000 bis2004 hat sich der Export bei den geförderten Unterneh-men fast verdreifacht.Alles in allem zeigt sich: Die gezielte Innovations-und Technologieförderung ist erfolgreich. Deshalbmüssen wir diese Programme zur Förderung der kleine-ren und mittleren Unternehmen fortsetzen.
Das zweite Standbein der mittelstandsorientiertenFörderpolitik für die neuen Bundesländer ist die Investi-tputWznDstrmrdBtnddsBhzGgPaligehmndliSS
Außerdem werden wir die Gemeinschaftsaufgabe aufohem Niveau fortsetzen. Sie ist und bleibt ein unver-ichtbares Instrument für die Investitionsförderung. Dieemeinschaftsaufgabe hat die nötige Flexibilität, um re-ionale Potenziale sehr gezielt zu fördern.Lassen Sie mich zum Schluss noch einen anderenunkt herausgreifen. Bekanntlich reicht ein Instrumentllein nicht aus, um ein Orchesterstück zu spielen. Ähn-ich verhält es sich in der Mittelstandsförderung. Wichtigst es, die verschiedenen Instrumente, die uns zur Verfü-ung stehen, zusammen und vor allem auch koordiniertinzusetzen. Innovations- und Investitionsförderung ge-ören zusammen.Es ist deshalb gut, dass die wichtigsten Förderinstru-ente auch von einem Ministerium begleitet und koordi-iert werden. Bekanntlich machen mehrere Dirigentenas Musizieren nicht leichter. In diesem Sinne tun wir al-es für die weitere Entwicklung des Mittelstandes auchm Osten.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Dr. Herbert
chui, Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ERP-ondervermögen muss dort bleiben, wo es zurzeit ist.
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Dr. Herbert SchuiDieses Sondervermögen ist ein Mittel allgemeiner Wirt-schaftsförderung, und zwar nicht nur für das Klein-gewerbe – den Begriff Mittelstand möchte ich ehervermeiden; denn er umfasst vieles –, sondern auch zurFörderung von Innovation. Ich erinnere daran, dass auchdas Airbus-Konsortium auf der Grundlage des ERP-Son-dervermögens erhebliche Kredite bekommen hat.Statt öffentliches Eigentum zu erhalten, zu nutzen undfür eine umfassendere Wirtschaftspolitik einzusetzen,wird von den Regierungen seit vielen Wahlperioden eineandere Tradition begründet, nämlich die Senkung vonUnternehmen- und Gewinnsteuern im Allgemeinen – da-durch sinken die Einnahmen – und die Kürzung von öf-fentlichen Dienstleistungen und Sozialleistungen. Den-noch bleibt ein Defizit. Wie soll es angesichts derMaastricht-Kriterien ausgeglichen werden? Also wirdöffentliches Eigentum verkauft – und so weiter und sofort.Dabei müssen wir uns aber das Problem vor Augenführen, dass in vielen Fällen das öffentliche Eigentum,das aus Gründen eines ungefähren Ausgleichs des öf-fentlichen Haushalts nun verkauft werden soll, von de-nen erworben wird, die reicher geworden sind, weil sieweniger Steuern zahlen müssen. Alles in allem ist daseine geniale Politik.
In diese Tradition des Verkaufs öffentlichen Eigen-tums gehört auch, dass von den insgesamt 12 Milliardendes ERP-Sondervermögens 2 Milliarden zur Finanzie-rung des Bundeshaushalts eingesetzt werden sollen undim Rahmen der so genannten Neuordnung des ERP-Son-dervermögens offensichtlich weitere 10 Milliarden Euroals Eigenkapital der Kreditanstalt für Wiederaufbauzugeführt werden sollen. Diese Neuordnung wird abernicht das Ende eines Prozesses sein, in dem sich derStaat zum armen Mann macht, sein Vermögen veräußertund damit bedeutende Möglichkeiten aufgibt, eine er-folgreiche Wirtschaftspolitik zu betreiben.
10 Milliarden Euro sollen also dafür verwendet wer-den, das Eigenkapital der Kreditanstalt für Wiederaufbauzu erhöhen. Wie zweckmäßig auch immer, für sich ge-nommen, mehr Eigenkapital ist für ein staatliches Spe-zialkreditinstitut –und das ist die Kreditanstalt für Wie-deraufbau, so bedenklich ist es, wenn das vermehrteEigenkapital für die Kreditanstalt für Wiederaufbau nunaus dem ERP-Sondervermögen herausgenommen wer-den soll, um Telekomanteile oder Bahnaktien rascher zu-gunsten des Bundeshaushaltes zu liquidieren. Mit demERP-Sondervermögen als zusätzlichem Eigenkapital derKfW soll also die Privatisierung von Bundeseigentumfinanztechnisch reibungslos gestaltet werden. Die KfWwird damit – das ist nicht ihre Aufgabe – zur Privatisie-rungsagentur des Bundes.Was ist zu erwarten, wenn alles bedeutende Bundes-vermögen verkauft ist, wenn also die KfW ihren Dienstgetan hat? Es ist wahrscheinlich, dass sie dann ebenfallsverkauft wird und damit auch dasjenige zusätzliche Ei-genkapital, das aus dem ERP-Sondervermögen stammt.MztgKadmdMtddGSEsgDFeüswmtnHsdJ3nbtsF
Meine Damen und Herren von der FDP, damit es so
eitergeht, werden Sie in Zukunft sicherlich gemeinsam
it uns die Privatisierung von allem öffentlichen Eigen-
um nach Kräften zu verhindern versuchen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Hans Josef Fell, Bünd-
is 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen underren! Das ERP-Sondervermögen ist das wichtigste In-trument der Innovationsförderung, der Mittelstandsför-erung und der Umwelttechnologieförderung. Allein imahre 2005 wurden mit dem ERP-Wirtschaftsplan,8 Milliarden Euro bereitgestellt. Frau Wicklein, in deneuen Bundesländern sind mittlerweile 169 000 Vorha-en in den Bereichen Gründung und Festigung von Un-ernehmen gefördert worden. Der Aufbau dieser mittel-tändischen Unternehmen wäre ohne die gezielteninanzierungshilfen häufig nicht möglich gewesen, wie
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Hans Josef Felles im Subventionsbericht der Bundesregierung heraus-gestellt wird. Wir alle wissen, dass die Mittelstands-kreditförderung nie wichtiger war als heute, da sich vorallem die großen Banken leider zunehmend vom Mittel-stand entfernt haben.Der Deutsche Bundestag war sich der besonderen Be-deutung dieses Finanzierungsinstruments immer be-wusst und hat es über viele Jahrzehnte verteidigt. Auchjetzt ist wieder der Mut des ganzen Hauses gefragt, dadas Finanzministerium das ERP-Sondervermögen kür-zen und an die KfW schlicht verschenken will. Wirfreuen uns, dass auch die FDP mit ihrem Antrag die Tra-dition der Vermögenserhaltung und die parlamentarischeKontrolle verteidigt.Ich würde mich auch freuen, wenn die Union und dieSPD dieser Tradition folgen würden. Herr KollegeLange, Herr Kollege Bernhardt, ich habe mich gefreut,dass Sie die Aufrechterhaltung der demokratischenKontrolle betont haben. Aber Sie müssen auch wissen:Entweder gibt es diese demokratische Kontrolle oder dieEigenkapitalübertragung an die KfW. Beides zusammenist nicht machbar und dies müssen wir ganz klar wissen.
Ich befasse mich seit zwei Jahren mit dem Ansinnendes Finanzministeriums. Mir wurde bis heute kein stich-haltiger Grund genannt, der für eine Übertragung an dieKfW spricht. Die genannten Effizienzgewinne sind sehrumstritten und wären bei anderen Anlageformen vermut-lich sogar höher. Erst gestern hat mir die Parlamentari-sche Staatssekretärin des BMF Barbara Hendricks in derFragestunde bestätigt, dass die KfW keine ERP-Mittelbenötigt, um die Platzhaltergeschäfte im Rahmen derPrivatisierung realisieren zu können.Das ERP-Sondervermögen ist vor allem ein Innova-tionsprogramm. Es ist das wichtigste Instrument, wel-ches der Bundesregierung für ihre Innovationsoffensivezur Verfügung steht; denn es stellt genau dort Kapital zurVerfügung, wo andere das Risiko scheuen. Ohne dasERP-Sondervermögen mit Mut zu Investitionen wärejede Innovationsoffensive zum Scheitern verurteilt. Ichwill das anhand der jüngsten Innovationsbausteine dar-stellen. Ohne das ERP-Sondervermögen gäbe es keinenDachfonds für Venture Capital. Ohne diesen Dachfondswürde das Eigenkapital des European Investment Fundnicht in Deutschland investiert werden. Ohne die Beteili-gung des ERP-Sondervermögens gäbe es auch keineChance, das Venture Capital in Deutschland wieder zubeleben.
Den Dachfonds wollte übrigens die KfW nicht mit-finanzieren, da ihr das Risiko zu hoch erschien. Das istdas gute Recht der KfW. Umgekehrt ist es aber auch dasgute Recht des Bundestages, andere Prioritäten zu ver-folgen. Die Verfolgung dieser Prioritäten ist aber nur solange möglich, wie über das ERP-Sondervermögen vomBundestag und nicht von der KfW entschieden wird.
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Das Wort hat nun der Kollege Franz Obermeier,
DU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!s ist schon amüsant, welche Allianzen sich in dieserebatte ergeben. Man muss einmal schauen, wie sich die
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Franz ObermeierDinge in den nächsten Tagen und Wochen weiterentwi-ckeln.Was die Zielsetzungen angeht, besteht in diesemHause eigentlich Einigkeit: Mittelstandsförderung hatPriorität. Sie steht nicht zuletzt in unserem Koalitions-vertrag ganz oben. Gleichzeitig wird fast täglich der Ab-bau von Arbeitsplätzen in unserem Land, insbesonderein der Industrie, gemeldet.
Das bringt mich dazu, zu fragen: Wie fangen wir dieseArbeitsplatzverluste auf? Im vergangenen Jahr sollen400 000 Arbeitsplätze im sozialversicherungspflichti-gen Bereich abgebaut worden sein. Das muss unsäußerst nachdenklich machen.Lassen Sie mich versuchen, eine Bilanz zu ziehen.Wir werden im Dienstleistungsbereich weiterhin sozial-versicherungspflichtige Arbeitsplätze bekommen. Ichbin allerdings der Auffassung, dass die Verluste imindustriellen Bereich dadurch bei weitem nicht ausge-glichen werden. Insofern haben wir die Aufgabe, allesdafür zu tun, dass im produktiven Bereich Arbeitsplätzeentstehen. Dieses Ziel können wir nur erreichen, wennwir die mittelständische Wirtschaft entsprechend för-dern.
Dafür haben wir zu arbeiten.Nun möchte ich ein Wort zu Herrn Brüderle sagen,nachdem er sich hier über unsere Arbeit und unsere Ab-sichten so deutlich ausgelassen hat. Herr Brüderle, Siekönnen die Besteuerung im mittelständischen Bereichgern anprangern. Auch wir haben da einige Defizite fest-zustellen. Wenn Sie sich aber über die Gewerbesteuerin dieser Form auslassen, dann erwarte ich von Ihnen alserfahrenem Politiker, dass Sie den Kommunen einSignal geben, wie sie einen adäquaten Ausgleich für dieAbschaffung der Gewerbesteuer bekommen.
Ein solcher Ausgleich ist für meine Begriffe für dieKommunen deswegen wichtig, weil wir den Kommunenin der Zukunft weitere Aufgaben übertragen werden.Wir müssen den Kommunen sagen, wie sie die Dinge zufinanzieren haben. Wir stellen bei den Kommunen einenInvestitionsstau von erheblichem Ausmaß fest. DiesesThema dürfen wir nicht hintanstellen.Ich bin froh, dass sich die neue Regierung die Zeitnimmt, um in diesem und im nächsten Jahr ein vernünf-tiges, umfassendes Steuerrecht zu entwickeln. Wir Poli-tiker im Allgemeinen und die alte und die neue Bundes-regierung im Besonderen werden gerade vomgewerblichen Bereich mit einiger Skepsis gesehen: Manist sich noch nicht so ganz sicher, ob diese Konstruktiondas notwendige Vertrauen verdient. Wir dürfen uns des-halb in der Steuerpolitik nichts leisten, was dazu führt,dass nachgebessert werden muss. Wir müssen gute Ar-bdSVnbeHenims–IsgbpnsfGw„hfzDstcSdvdDdEg
Dieser Tage gab es eine Veranstaltung des Deutschenerkehrsforums. Hier im Parlament werden wir dem-ächst das Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetzehandeln. Der Investitionsstau im Verkehrsbereich hatine Größenordnung von 160 Milliarden Euro. Über denaushalt werden wir die notwendigen Investitionen ininer angemessenen und überschaubaren Frist nicht vor-ehmen können. Deswegen ist es wichtig, dass wir unsn absehbarer Zeit mit alternativen Finanzierungs-ethoden, insbesondere was den Verkehr angeht, befas-en.
Nein, ich rede nicht der Maut das Wort.
ch rede von Finanzierungsmethoden im Privatkapital-ektor. Dem müssen wir näher treten, weil wir, was denesamten Verkehrsbereich betrifft, von der Substanz le-en. Das ist alles andere als vertretbar.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einaar Punkte benennen, die neben den Verkehrsinvestitio-en – im Bahnbereich finden überwiegend mittelständi-che Unternehmen Aufträge – tatsächlich mittelstands-ördernd sind. Zum Gebäudesanierungsprogramm:erade für das Handwerk ist es äußerst vorteilhaft, wennir diese 1,4 Milliarden Euro jetzt sinnvoll einsetzen.
CO2-Gebäudesanierungsprogramm“ ist vom Begriffer vielleicht ein bisschen einfach. Es geht darum, dassür den Bereich Wärme 1,4 Milliarden Euro jährlichielgerichtet für den Mittelstand zur Verfügung stehen.amit geben wir gerade den kleinen und mittelständi-chen Unternehmern das Signal, dass wir etwas für sieun.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich die restli-hen Minuten noch zu einer Bemerkung über das ERP-ondervermögen nutzen. Wir sind uns in diesem Hausearüber einig – das ergibt sich, wenn man die Debatteerfolgt –, dass es sich dabei eigentlich um ein Juwel iner bundesdeutschen Geschichte handelt.
ie Frage ist: Welche Zielsetzung steckt dahinter, wennie Übertragung an die KfW betrieben wird? Dieigenkapitalausstattung ist ein Aspekt. Wir haben abererade gehört, dass es darum eigentlich gar nicht gehen
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1106 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Franz Obermeierkann. Wenn die Effizienz der Bewirtschaftung diesesKapitals der Punkt ist, dann muss uns jemand hier imParlament erklären, wo denn Defizite liegen. Ist das Ka-pital in der Vergangenheit nicht effizient angelegt wor-den? Wo können Effizienzgewinne liegen? Oder geht esetwa um die Forderungsabtretung? Auch das könnte eininteressanter Aspekt sein. Wer sich damit befasst, sollteaber gleichzeitig sagen, dass das für das ERP-Sonderver-mögen langfristig auf alle Fälle zu einem Verlust führt.
Auch diese Variante ist für meine Begriffe also höchstfragwürdig.
Insgesamt können wir uns über die Thematik unter-halten. Auch wir – da spreche ich schon für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion – sind für das Substanzerhal-tungsgebot. Das darf unter gar keinen Umständen aus-gehöhlt werden. Dagegen werden wir uns mit Händenund Füßen wehren. Auch sollte man darüber reden, wiedie Finanzierung des deutschen Anteils bei Airbus durchdas ERP weitergeht. Immerhin hat man dem Bund da-durch im Prinzip 1,1 Milliarden Euro gespart.Als Letztes möchte ich sagen, dass wir unsere Außen-beziehungen zu den Vereinigten Staaten mit Bedacht ge-stalten sollten.Wir sollten uns also sehr wohl über den weiteren Fort-gang der Dinge unterhalten – das aber mit Bedacht, mitVernunft und letztlich mit dem Ziel, das ERP-Sonderver-mögen für unsere mittelständische Wirtschaft zu erhal-ten, wenn nicht sogar zu vermehren.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Reinhard Schultz,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! In der Geschichte der Bundesrepublik hat esselten eine Koalitionsvereinbarung gegeben, in der sichdiejenigen, die sich anschicken, zu regieren, dermaßenbreit dem Thema Mittelstandspolitik zugewandt haben.Das gilt für alle Facetten des Themas: ordnungspoliti-sche Fragen, Fragen der Förderung und der Finanzie-rung, steuerrechtliche Kulisse, bürokratische Hürdenund vieles andere mehr. Es ist ein sehr systematischerAnsatz. Wenn es der großen Koalition und der Regie-rung gelingt, diese Themen innerhalb der nächsten Jahreabzuarbeiten, dann verbessern sich die Möglichkeitenfür mittelständische Unternehmen und Existenzgründerdrastisch. Das ist unser gemeinsames Ziel.
Es wird zwar immer sehr technisch über den Mittel-stand geredet; aber in der Wirklichkeit verbirgt sich hin-ter diesem Begriff eine ungeheure Vielfalt. Es sind sehrunterschiedliche Größenordnungen von Unternehmen,üsngKPGkBDmssdIzFguaWSRbtEfailGDgsunhwhsdttunupzsGuoLase
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006 1107
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Dann würde nur noch dem gegeben, der schon hat; dannwürde nicht Risikofreudigkeit belohnt, sondern imGrunde genommen der Status quo erhalten werden. Da-rin liegt das Problem bei der Mittelstandsfinanzierung.Wir müssen uns ganz schnell daranmachen, Basel II um-zusetzen und die Regeln für die Aufsicht über die kredit-vergebenden Bankinstitute im Rahmen der wirtschaftli-chen Erfordernisse auszugestalten.Ich sehe aber auch die Notwendigkeit, dass das, wasbesser gestellte Mittelständler schon nutzen können,auch kleineren Unternehmen zugute kommt. Ich meinedas Zur-Verfügung-Stellen privaten Kapitals Dritter.Das muss sicher steuerrechtliche Konsequenzen haben,weil natürlich nicht jedes Engagement beispielsweise imBereich Private Equity immer mit der Erzielung einesGewinns belohnt werden kann. Es besteht natürlich auchdas Risiko, dass ein Engagement einmal sozusagen indie Hose geht. Unter dem Strich gesehen muss auch fürdie privaten Kapitalgeber das Nettobesteuerungsprinzipgelten, das in anderen Zusammenhängen ebenfalls gilt.Darüber müssen wir im Rahmen der Unternehmensteu-erreform dringend nachdenken.Wir müssen auch darüber nachdenken – ich sage dasganz bewusst, weil wir in der vergangenen Legislatur-periode darüber schon kritische Diskussionen hatten –,wie wir eigentlich mit der Tatsache umgehen, dass immittelständischen Bereich ein großer Teil der Finanzie-rung der Investitionsgüter inzwischen über Leasing er-folgt. Das ist zwar grundsätzlich nicht schlecht, aberman muss sich schon darüber unterhalten, welche Impli-kationen sich daraus ergeben und wie die Leasingkostensteuerlich behandelt werden sollen.
Zur Unternehmensteuerreform selbst. HerrBernhardt hat es klar auf den Punkt gebracht. Wir wollenalle Unternehmen – unabhängig von ihrer Rechtsform –gleich besteuern.
Damit heben wir die einzelnen Rechtsformen nicht auf.Wir erreichen damit aber eine systematische Trennungzwischen der unternehmerischen Sphäre und der steuer-lrwrncwdpsBukshissugsslSmDZmdsAmdrnBrdekblnGsugstkG
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1108 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Zu einer Kurzintervention erhält das Wort der Kollege
Westerwelle.
Herr Kollege Schultz, ich möchte zunächst einmal
ausdrücklich feststellen, dass Sie in weiten Teilen – das
betrifft insbesondere das, was Sie zur Bankenpolitik und
zu der Frage gesagt haben, ob Unternehmen überhaupt
noch in der Lage sind, für ihre Unternehmensstrategien
entsprechendes Risikokapital zu bekommen – unsere
Zustimmung haben.
Erst während Sie, Herr Kollege Schultz, gesprochen
haben, hat der erste Bundesminister dieser Regierung
– es war um 12.29 Uhr – den Weg in den Deutschen
Bundestag gefunden. Es war der erste Bundesminister
während der gesamten Debatte. Ich halte es für eine
Missachtung des Deutschen Bundestages, dass ein Bun-
desminister meint, bis 12.30 Uhr fernbleiben zu können.
Keiner der Minister ist hier gewesen.
Ich möchte für die Opposition ausdrücklich sagen
– das betrifft auch künftige Fragen –: Frau Bundeskanz-
lerin, als Sie selbst vor wenigen Monaten noch in der
Opposition gewesen sind, hätten Sie es sich nicht bieten
lassen, dass kein Bundesminister an einer solchen De-
batte teilnimmt. So viel Respekt, wie Sie damals für die
Opposition verlangt haben, erwarten auch wir heute für
die Opposition.
An dieser Stelle muss klar gesagt werden: Kein Bun-
desminister nimmt an einer solchen Debatte teil. Es han-
delt sich um eine Kernzeitdebatte. Wir alle haben andere
Aufgaben zu erfüllen; wir alle haben viel zu tun. Wenn
einzelne Abgeordnete und Minister sich entschuldigen,
ist das selbstverständlich in Ordnung. Aber dass kein
Bundesminister teilnimmt, wollen wir in keiner Weise
durchgehen lassen. Das kann auch nicht im Sinne der
Parlamentarier der Regierungsparteien sein.
Zur Erwiderung Kollegin Krogmann.
Sehr geehrter Kollege Westerwelle, die Regierung
war während der gesamten Debatte durch den zuständi-
gen Parlamentarischen Staatssekretär vertreten, der den
gesamten Geschäftsbereich Mittelstand im Bundeswirt-
schaftsministerium vertritt. Die Bundesregierung war
außerdem während der gesamten Debatte durch die zu-
ständige Staatsministerin im Bundeskanzleramt vertre-
ten.
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uch der Bundesarbeitsminister anwesend war und jetzt
ie Bundeskanzlerin da ist. Sie sollten zur Kenntnis neh-
en, dass die Präsenz der Bundesregierung während der
ebatte sehr gut war.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
laube, dass man über alle spontane Aufregung hinaus
emeinsam festhalten darf, dass wir uns bei den damali-
en Vereinbarungen über die Gestaltung der Kernzeit
echselseitig besondere Präsenzerwartungen auferlegt
aben.
as muss dann auch von allen Seiten mit gleicher Ernst-
aftigkeit betrieben werden.
Nun erteile ich als letztem Redner zu diesem Tages-
rdnungspunkt das Wort dem Kollegen Andreas
ämmel für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-en Abgeordneten! Schade, dass die Debatte, die kurzor ihrem Abschluss stand, ein solches Ende gefundenat! Herr Westerwelle, ich kann Ihre Argumente durch-us nachvollziehen. Aber vielleicht wollten Sie mit Ihrerortmeldung nur darüber hinwegtäuschen, dass Ihr An-rag, den wir heute debattieren mussten, doch nicht sout gewesen ist.
Meine Damen und Herren, die Debatte hat klar ge-eigt: Die CDU und die CSU sind die Parteien der sozia-en Marktwirtschaft. Die soziale Marktwirtschaft isthne einen starken, innovativen und wirtschaftlich ge-unden Mittelstand überhaupt nicht denkbar. Unser En-agement für den Mittelstand in den letzten Jahren wareine allgemeine politische Phrase. Wir mussten heuteeststellen, dass in diesem Saal nur Freunde des Mittel-tandes sitzen. Nur frage ich mich, warum in den letztenahren so wenig dafür getan wurde, dass der deutscheittelstand vorankommt.Kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland be-chäftigen durchschnittlich 70 Prozent der Beschäftig-en. Wenn Sie in Richtung Ostdeutschland schauen, dann
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006 1109
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Andreas G. Lämmelstellen Sie fest, dass dort im Mittelstand sogar über90 Prozent der Beschäftigten tätig sind. Deswegen istder Mittelstand das Rückgrat der deutschen Wirtschaft.
Herr Kollege Lämmel, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Wend?
Ja, bitte.
Herr Kollege Lämmel, Sie meinten feststellen zu
müssen, dass in den letzten Jahren nichts für den Mittel-
stand getan worden sei. Darf ich Sie dann fragen, wie Sie
sich erklären, dass sich die Gewinne der Unternehmen in
den Jahren 2000 bis 2004 von 133 Milliarden Euro auf
156 Milliarden Euro erhöht haben und die Zahl der Exis-
tenzgründungen in diesem Zeitraum von 3,91 Millionen
auf 4,23 Millionen gestiegen ist? Können Sie mir erklä-
ren, wie Sie die Behauptung aufrechterhalten wollen,
dass für den Mittelstand nichts getan worden sei?
Wir wollen ja eigentlich nach vorn schauen und nicht
zurück. Die Antwort wäre aber: Das kann man damit er-
klären, dass die Unternehmer eben findig sind. Trotz der
schlechten Politik haben sie dieses gute Ergebnis erzielt.
Von daher kann man der Unternehmerschaft in Deutsch-
land nur hohe Kompetenz zuschreiben.
Ich möchte auf zwei Aspekte des Antrags der Koaliti-
onsfraktionen eingehen und mich dabei erstens auf das
Thema Forschung und Technologie beziehen, das bis-
her nur am Rande eine Rolle gespielt hat. Wenn man
sich die Investitionsquote in Deutschland anschaut, dann
erkennt man, dass im Jahre 2004 die Nettoanlageinvesti-
tionen den niedrigsten Stand seit 1970 erreicht haben. Es
gibt einen Zusammenhang zwischen einer teilweise fest-
zustellenden Investitionsschwäche des deutschen Mittel-
stands und der Innovationsquote. Das Anliegen der
Koalition – das ist aus dem Koalitionsvertrag, dem Jah-
reswirtschaftsbericht und dem vorliegenden Antrag der
Koalitionsfraktionen zu ersehen – ist es, den Mittelstand
von den zusätzlichen Mitteln für die Forschung überpro-
portional profitieren zu lassen. Es ist ein wichtiger As-
pekt in diesem Paket, neben steuerlichen Fragen und den
Fragen des Bürokratieabbaus: Es soll gerade die Innova-
tionskraft der Wirtschaft gestärkt werden.
Lassen Sie mich zweitens den Blick nach Ost-
deutschland werfen. Letzte Woche flatterte uns eine in-
teressante Untersuchung der Sparkassen-Finanzgruppe
unter dem Titel „Diagnose Mittelstand 2006“ auf den
Tisch. Dort wurden fast 200 000 Bilanzen kleiner und
mittlerer deutscher Unternehmen ausgewertet. Es lässt
sich sehr wohl feststellen: In Ostdeutschland ist mehr
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Es konnten erst 1990 Unternehmen gegründet werden,
rau Kollegin.
Demgegenüber sind Unternehmen in den alten Bun-
esländern teilweise 50 oder 60 Jahre alt; sie sind also
ut situiert. Ich will damit nur sagen, dass man sich,
enn man die Wirtschaft Ostdeutschlands betrachtet,
mmer wieder vor Augen halten muss, dass es sich dabei
m eine junge Wirtschaft handelt und dass die Kapital-
usstattung der ostdeutschen Wirtschaft erst 73 Prozent
es Kapitalstocks der Unternehmen in Westdeutschland
rreicht hat. Die mit den bisher eingesetzten Instrumen-
en wie Wirtschaftsförderung, Technologieförderung
nd anderen in Gang gesetzte Entwicklung zeigt, dass
as Wort von den „blühenden Landschaften“ eben doch
icht verkehrt war.
Im überregionalen Vergleich wird deutlich, dass die
-und-E-Potenziale in Ostdeutschland zu sehr im öffent-
ichen Sektor konzentriert sind und dass die private
irtschaft über zu geringe eigene Entwicklungskapazi-
äten verfügt. Hier muss man ansetzen. Das Programm
Inno-Watt“ der letzten Regierung hat hervorragend ge-
irkt;
rau Wicklein hat ja schon darauf hingewiesen. Wenn
it dem Einsatz geringer Fördermittel der Umsatz und
er Export erhöht werden können und die Beschäftigung
teigt, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Mit dem
ntrag der Koalitionsfraktionen gehen wir genau diesen
eg weiter.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Lämmel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrerrsten Rede hier im Deutschen Bundestag und wünschehnen alles Gute für die weitere Arbeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf derrucksache 16/562 zur Federführung an den Ausschussür Wirtschaft und Technologie und zur Mitberatung anen Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen.
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1110 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Präsident Dr. Norbert LammertDie Vorlagen auf den Drucksachen 16/382, 16/557 und16/548 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse überwiesen werden. Die Fraktion der Grü-nen hat darum gebeten, dass ihr Antrag auf der Drucksa-che 16/548 wie auch die anderen zwei Anträge an denHaushaltsausschuss überwiesen werden. Ich vermute,darüber wird es Einvernehmen geben. Darf ich das förm-lich feststellen? – Das ist offenkundig der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 5 abis 5 c, Wahlen zu Gremien. Ich weise darauf hin, dasswir diese Wahlen mittels Handzeichen durchführen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 a auf:Beirat für Fragen des Zugangs zur Eisenbahn-infrastruktur
– Drucksache 16/538 –Dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf derDrucksache 16/538 vor. Wer stimmt für diese Wahlvor-schläge? – Wer stimmt dagegen? – Möchte sich jemandder Stimme enthalten? – Damit sind die Wahlvorschlägeeinstimmig angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 b auf:Beirat bei der Bundesnetzagentur für Elektri-zität, Gas, Telekommunikation, Post und Ei-senbahnen– Drucksache 16/539 –Hierzu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen derCDU/CSU und Die Linke auf Drucksache 16/539 vor.Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Auch diese Wahlvorschlägesind einstimmig angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 c auf:Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Ver-antwortung und Zukunft“– Drucksache 16/540 –Hierzu gibt es Wahlvorschläge der Fraktionen derSPD und Die Linke auf Drucksache 16/540. Wer stimmtfür diese Wahlvorschläge? – Stimmt jemand dagegen? –Möchte sich jemand der Stimme enthalten? – Die Wahl-vorschläge sind einstimmig angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Jürgen Gehb, Dr. Günter Krings, GünterBaumann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenJoachim Stünker, Dr. Peter Danckert, Klaus UweBenneter, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDSpeicherung mit Augenmaß – Effektive Straf-verfolgung und Grundrechtswahrung– Drucksache 16/545 –tdgesEztD1ssiwrudsjesFn
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– Aber letzte denkbare Zweifel, Frau KolleginEnkelmann, sind mit dieser Mitteilung nun ein für alle-mal ausgeräumt, was uns demnächst noch schlanker for-mulierte Themen der Aktuellen Stunden in Aussichtstellt.Nun hat der Kollege Oskar Lafontaine das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die Bundesregierung hat beschlossen, das Renten-eintrittsalter anzuheben. Viele Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer stellen sich die Frage, welches Ansinnendie Bundesrepublik damit verfolgt und ob die Bundesre-gierung noch weiß, was in Wirklichkeit im Land pas-siert.
Während die Bundesregierung beschließt, das Ren-teneintrittsalter anzuheben, werden immer mehr ältereArbeitnehmer arbeitslos und finden keine neue Beschäf-tigung. Daraus schließen sie logischerweise, dass dieskein Beschluss ist, das Renteneintrittsalter anzuheben,sondern lediglich ein Beschluss ist, die Renten zu kür-zen.
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Sie setzen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerit dieser Entscheidung einer doppelten Angst aus. Zu-ächst einmal sind sie mit der Tatsache konfrontiert,ass sie, wenn sie arbeitslos werden, nur noch zwölf Mo-ate lang Arbeitslosengeld bekommen und dann aufartz IV zurückfallen. Diese unglaubliche Enteignunger Arbeitnehmerschaft, insbesondere der älteren Ar-eitnehmerschaft, ist bis zum heutigen Tage nicht zu-ückgenommen. Abgesehen davon, dass Arbeitnehmer,enn sie älter geworden sind, keinen Arbeitsplatz mehrekommen, konfrontieren Sie sie jetzt auch noch mit deratsache, dass sie aber gleichzeitig qua Gesetz länger ar-eiten sollen, was kräftige Abschläge bei den Renten zurolge hat. Diese Entwicklung haben wir uns nicht soorgestellt, Ihre Wählerinnen und Wähler auch nicht.
Hier offenbart sich ein fundamental anderes Verständ-is von Freiheit im Vergleich zu dem, was die Bundes-anzlerin in ihrer ersten Regierungserklärung vorgetra-en hat. Sie wandelte das Wort Willy Brandts „Lasst unsehr Demokratie wagen“ in „Lasst uns mehr Freiheitagen“ um. Aber Freiheit von Kündigungsschutz, Frei-eit von Tarifverträgen, Freiheit von sozialer Sicher-eit – das ist nicht die Freiheit, die wir wollen. Wir wol-en eine Freiheit von Existenzangst und sozialer Not.
illy Brandts Verständnis von Demokratie verband sichicht mit dem erstgenannten Freiheitsbegriff, sondernit einem Freiheitsbegriff, der besagt, dass die Men-chen von sozialer Not und von Existenzangst befreiterden sollen. Denn nur dann können sie frei sein undhr Leben selbst gestalten.
Die Entscheidung, das Renteneintrittsalter zu erhö-en, ist auch deshalb falsch, weil Sie von Voraussetzun-en ausgehen, die nicht haltbar sind. Über die Entwick-ung der Rente entscheidet nicht die Zahl der Kinder under Älteren, auch wenn das pausenlos immer wieder ver-ündet wird.
ber die Entwicklung der Rente entscheidet in erster Li-ie die Produktivität einer Volkswirtschaft.
hre ganze Entscheidung ist dadurch gekennzeichnet,ass Sie dieser Schlüsselgröße nicht den Stellenwert bei-essen, der ihr zukommen sollte.
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Oskar LafontaineIch erläutere das am Beispiel der Landwirtschaft. Frü-her, vor 100 Jahren, hat der Landwirt sich selbst ernäh-ren können. Es mussten alle mitarbeiten: die Älteren, solange sie konnten, und die Kinder. 50 Jahre später stiegdie Produktivität so stark an, dass die Älteren den Le-bensabend genießen und die Kinder zu Schule gehenkonnten. Heute kann ein Landwirt Hunderte andereMenschen ernähren.In dieser Zeit kommen Sie mit einem schwarz-rotenSchal und sagen: Du musst wieder länger arbeiten, wirsind nicht mehr wettbewerbsfähig und deine Rente istnicht mehr gesichert. – Das ist ein fundamentales Miss-verständnis von Produktivitätsentwicklung und Reich-tumsverteilung in unserer Volkswirtschaft.
Dieses fundamentale Missverständnis haben Sie auchauf die Entwicklung der Löhne übertragen, die inDeutschland so katastrophal wie in keinem anderen In-dustriestaat verlaufen ist. Man kann es nicht oft genugsagen: Während die Reallöhne in mit Deutschland kon-kurrierenden Staaten in den letzten zehn Jahren um20 Prozent, teilweise sogar um 25 Prozent, gestiegensind, ist bei uns seit über zehn Jahren aufgrund einer völ-lig verfehlten Politik eine Stagnation der Reallöhne zuverzeichnen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerkönnten viel freier über die Rentenentwicklung diskutie-ren, wenn sich die Einkommen auch bei uns so wie inden anderen Industriestaaten entwickelt hätten. Das istder zweite Fehler, den Sie gemacht haben.
Der dritte Fehler betrifft die Entwicklung der Arbeits-zeit. Auch darüber entscheidet die Produktivität einerVolkswirtschaft. Ich muss Ihnen schon sagen: Wer aufeinen Anstieg der Produktivität mit einer Verlängerungder Wochen- und Lebensarbeitszeit antwortet, istschlicht schwachsinnig.
Ich muss dieses Wort in aller Klarheit gebrauchen. Denndie Beschäftigten im öffentlichen Dienst in den Ländernhaben Recht, wenn sie sagen, dass die Forderung nacheiner Verlängerung der Arbeitszeit nicht nachzuvollzie-hen ist. In unserem Land suchen 5 Millionen MenschenArbeit. Aber die einzige Antwort, die Sie geben, ist, dassdiejenigen, die einen Arbeitsplatz haben – zum Beispielim öffentlichen Dienst, der bekanntlich in gewaltiger in-ternationaler Konkurrenz steht –, länger arbeiten müs-sen,
weil sonst unsere internationale Wettbewerbsfähigkeitdahin ist. Das kann so nicht weitergehen; denn so rui-niert und zerstört man das Vertrauen des Volkes in diestaatlichen Systeme und Organe.
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Aus gegebenem Anlass weise ich darauf hin, dass der
roßzügigkeit des amtierenden Präsidenten hinsichtlich
er Bewirtschaftung der Redezeit in Aktuellen Stunden
ngere Grenzen gesetzt sind als bei vereinbarten Debat-
en, weil in der von Ihnen allen gemeinsam beschlosse-
en Geschäftsordnung festgelegt ist, dass die Beiträge in
iner Aktuellen Stunde nicht länger als fünf Minuten
ein dürfen.
Nun hat die Kollegin Ilse Falk das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Icherstehe die Aufgeregtheit aufseiten der Antragstellericht. Statt die Sorgen und Ängste der Menschen in un-erem Land wirklich ernst zu nehmen, führen sie eineirtuelle Debatte, die an der Lebenswirklichkeit vorbei-eht.
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Ilse FalkMir ist klar, dass auch außerhalb des Parlaments einigedieser Versuchung nicht widerstehen können und diesesThema emotionalisieren und Ängste schüren. Das machtdie Sache aber nicht besser, sondern schlimmer.
An dieser Stelle ist es hilfreich und erforderlich, dieSorgen der Bürger ernst zu nehmen und ihnen Lösungenanzubieten. Genau das hat die Koalition mit ihrem Vor-stoß getan. Nun weiß der Bürger frühzeitig, was die Re-gierung vorhat, und kann sich daran orientieren. Deswe-gen bin ich Ihnen, Herr Minister Müntefering, dankbar,dass Sie dieses Thema beherzt angegangen sind und andieser Stelle für Klarheit gesorgt haben.
Ich gebe zu: Der eingeschlagene Lösungsweg ist mitBelastungen verbunden. Gleichwohl ist er notwendig,und zwar aus den allseits bekannten Gründen der demo-grafischen und gesellschaftlichen Entwicklung.Die Klaviatur unserer Möglichkeiten ist aber nun ein-mal nicht so groß, dass wir jedem seine Lieblingsmelo-die spielen können. Angesichts der extrem schwierigenfinanziellen Lage, in der sich die Rentenkasse befindet,halte ich die Form für unverantwortlich, in der die Dis-kussion geführt wird. Diese extrem schwierige Lageliegt an der demografischen Entwicklung und wird in ab-sehbarer Zeit nicht einfacher werden.
Dass Sie jetzt hier mit einem Kuschelsozialismus kom-men und meinen, man könnte es allen recht machen,ohne jemandem etwas zuzumuten, kann man wirklichnur verurteilen!
Wir haben nur wenige Stellschrauben. Zu diesen we-nigen Stellschrauben gehört: Wollen wir höhere Bei-träge? Dann haben wir zwar höhere Einnahmen in derRentenkasse, aber auch hohe Lohnzusatzkosten, die denArbeitsmarkt belasten. Genau das können wir nicht ge-brauchen. Wollen wir niedrigere Renten? Dann hättenwir weniger Ausgaben. Aber das wollen Sie so mit Si-cherheit ebenfalls nicht. Oder wollen wir noch mehrStaat, wollen wir den Bundeszuschuss immer weiter an-heben und die Belastung für die zukünftigen Generatio-nen immer weiter steigern? Ich denke, da haben wir ei-nen Feldversuch hinter uns; denn irgendwie hat dassozialistische Modell ja nicht so ganz geklappt. Dafürzahlen wir noch heute, das belastet unsere Kassen nochheute.
Wir müssen auch darüber diskutieren, inwiefern dielängere Lebensarbeitszeit zumutbar ist. Wir erleben– und das ist schön –, dass die Menschen immer älterwerden, und sie werden immer älter bei guter Gesund-heit. Viele – auch das sollte man hier vielleicht einmalbetonen – arbeiten sogar gerne und es fällt ihnen schwer,mit 65 in den Ruhestand zu gehen; auch das sollte mannicht vergessen. Dass man dabei diejenigen im Auge be-hahsdetrbdäwdh4fdbDEaAbuHSnamtEäedreFWTD
In Wirklichkeit müssen wir die Diskussion darüberühren, wie die Rahmenbedingungen aussehen müssen,amit die Wirtschaft sozialversicherungspflichtige Ar-eitsplätze schafft; das ist der Dreh- und Angelpunkt.abei wird der Staat helfen müssen: mit Maßnahmen zuringliederung in den Arbeitsmarkt, um die Menschenus der Arbeitslosigkeit zu holen. Wir müssen die älterenrbeitnehmer im Blick haben und sollten ihnen Ange-ote machen, dass sie tatsächlich bis 67 arbeiten könnennd nicht vorher arbeitslos werden und unzumutbareärten erfahren müssen.
Daneben dürfen wir nicht vergessen, die ergänzendenäulen, die neben der gesetzlichen Rentenversicherungötig sind, zu stärken: betriebliche Alterssicherung – nurls Stichwort – und Eigenvorsorge. Wir wollen die Fa-ilien fördern, damit sie diese Eigenvorsorge besserreffen können. Wir suchen nach Lösungen zur bessereninbeziehung selbst genutzten Wohneigentums und fürhnliche Fragen. Wir werden uns die Zeit dafür nehmen,ine intensive Debatte über dieses Thema zu führen, undie Fragen, die berechtigterweise gestellt werden, zu klä-en. Ich fordere alle auf, diese Debatte gut und nicht somotional miteinander zu führen.Danke schön.
Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDP-
raktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!enn ich mir die Diskussion ansehe, die in den letztenagen in und zwischen den Koalitionsparteien, vor alleningen aber in der SPD über das Thema Rente mit 67
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Dr. Heinrich L. Kolbgeführt worden ist, bekomme ich den Eindruck, dasseine neue Variante der Echternacher Springprozessionzur Vorführung gebracht werden soll. Nur ging es inEchternach damals nach dem Muster „Zwei Schritte vor,einer zurück“. Bei Ihrer Variante folgen auf zweiSchritte in die eine Richtung gleich zwei in die Gegen-richtung. Auch das ist vielleicht eine Form von Bewe-gung. Aber richtig von der Stelle kommt man damitnicht.
Genauso ohne Konzept und ohne Ziel ist die Renten-politik dieser Bundesregierung. Wenn Sie, HerrMüntefering, ehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass esnicht die Einsicht ist, die Sie und die Koalition beimThema Rente mit 67 jetzt zum Handeln treibt, sonderndie blanke Not. Bei der Aufstellung des seit Monatenüberfälligen Rentenversicherungsberichts haben Siefestgestellt, dass alles nicht mehr zusammenpasst, dassoffensichtlich eine große Lücke zwischen den im Ren-tenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz vorgesehenenBeitragsniveauzielen und der rentenpolitischen Realitätklafft.Die rentenpolitische Realität sieht so aus, dass zu Be-ginn des nächsten Jahres bereits eine Anhebung der Bei-träge auf 19,9 Prozent eintritt, obwohl nach der Planungbei der Verabschiedung des Rentenversicherungs-Nach-haltigkeitsgesetzes eigentlich bis 2010 die Beiträge auf18,5 Prozent hätten sinken sollen. Herr Müntefering, da-mit ist bereits zu Beginn des nächsten Jahres der Ziel-wert von 20 Prozent erreicht, der eigentlich erst 2020hätte eintreten sollen. Das lässt bei Ihnen die Alarmglo-cken klingen.
Diese Entwicklung ist am kurzen Ende durch dierückläufige Zahl von sozialversicherungspflichtig Be-schäftigten, also Beitragszahlern, geprägt. Aber die de-mografische Herausforderung, die ab 2010 beitragstrei-bend wirkt, kommt noch unausweichlich auf uns zu.Deswegen dieser Aktionismus in der Bundesregierung,der dazu geführt hat, dass unter TOP „Verschiedenes“der Kabinettssitzung den Jahrgängen ab 1964 mal ebenmitgeteilt wird, dass sie sich auf eine Rente mit 67 ein-zustellen haben.In diesem Zusammenhang kritisiere ich an der Politikder großen Koalition, dass – das haben wir auch bei Rot-Grün oft genug erlebt – die langfristigen Ziele zwar hochgesteckt sind – die Beitragszahler sollen um bis zu0,5 Beitragssatzpunkte entlastet werden, je nachdem,wie viele Ausnahmen man durch Berufslisten im Sinnevon Herrn Beck zulässt –, aber kurzfristig genau entge-gengesetzt gehandelt wird. Herr Müntefering, Ihre Re-formen wirken sich ganz unmittelbar belastend aus: DieVerlängerung der teuren Frühverrentung, die Absenkungder Beitragszahlungen für die Empfänger von Arbeitslo-sengeld II um rund 2 Milliarden Euro, der Ausschlussvon Rentenkürzungen selbst bei negativer Entwicklungder Einkommen von Erwerbstätigen, das Einfrieren desBundeszuschusses zur Rentenversicherung, also seineEntdynamisierung, das alles sind Maßnahmen, die dieotNtkbfICznakWmzmmvWbhgdfkdndWndZDwztbs
o sind aber die notwendigen begleitenden Arbeits-arktreformen, mit denen überhaupt erst die Vorausset-ungen für die längere Beschäftigung älterer Arbeitneh-er geschaffen werden müssten? Warum trauen Sie sichit Ihrer breiten Mehrheit nicht, entsprechende Struktur-eränderungen vorzunehmen?
arum kommen Sie – um das Reizthema zu nennen –eim Kündigungsschutz über eine Placeboreform nichtinaus? Es ist doch anscheinend nur Herr Pofalla, derlaubt, dass man mit einer vertraglichen Verlängerunger Probezeit bei gleichzeitiger Einschränkung der Be-ristungsmöglichkeiten Unternehmen dazu bewegenönnte, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.
Das alles trauen Sie sich nicht. Solange das so ist, istie Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsaltersichts anderes als eine verdeckte Rentenkürzung. Das istie Wahrheit.
enn gerade einmal 39 Prozent der über 55-Jährigenoch in einem Unternehmen beschäftigt sind, dann läuftie längere Lebensarbeitszeit für die allermeisten aufwangsruhestand mit hohen Rentenabschlägen hinaus.
ann droht verbreitet Altersarmut in unserem Land,enn nicht jetzt, wie die FDP im Übrigen fordert, unver-üglich damit begonnen wird, die private und die be-riebliche Säule der Altersversorgung verstärkt auszu-auen.Isolierte Reformansätze und großkoalitionäre Flick-chusterei bringen uns nicht voran. Wir brauchen ein Ge-
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006 1115
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Dr. Heinrich L. Kolbsamtkonzept zur Lösung der Probleme. Dies vorzulegenfordere ich Sie hiermit nachdrücklich auf.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort Bundesminister FranzMüntefering.
Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit undSoziales:Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn sich Oskar Lafontaine, eine der größtenIch-AGs, die ich in meinem Leben je kennen gelernthabe,
hier über Ich-AGs mokiert, dann bekomme ich eigent-lich Lust, über etwas ganz anderes zu reden. Ich konzen-triere mich aber mal auf das Thema, das hier aufgerufenwurde.Die Bundesregierung und die Koalition haben sichvorgenommen, große Aufgaben anzupacken. Zu dengroßen Aufgaben gehört: Arbeit und Alterssicherung füreine älter werdende Gesellschaft. Das ist ein ganz zen-traler Punkt. Dazu gehören die beiden Kapitel Arbeit für50 plus und Stabilität der sozialen Sicherungssysteme, indiesem Fall der Rentenversicherung.
Diese beiden großen Dinge stehen in unserem Koali-tionsvertrag. Beide werden in diesem Jahr mit allemNachdruck vorangetrieben werden. Wir wollen mehr Ar-beit für diejenigen, die 50, 55 und älter sind, wir wollendafür sorgen, dass sie nicht so früh herausgeschobenwerden, wie das derzeit geschieht, und wir wollen, dasssie wieder hinein können, wenn sie draußen sind.
– Ihre Frage „Wie denn?“ zeigt Ihr Resignieren. Sie vonder PDS und Co. können nichts anderes, als sich darüberzu mokieren, dass wir eine schwere Situation haben. Daswissen wir auch. Wir bereiten uns darauf vor, dafür zusorgen, dass die 50-, die 55- und die 60-Jährigen in die-ser Gesellschaft wieder eine Chance haben. Das, wassich in dieser Gesellschaft aufgebaut hat, muss ein Endehaben.
Wir werden diese Debatte in diesem Jahr 2006 zu führenund im Verlauf des Jahres Entscheidungen zu treffen ha-ben.Die Lebenszeit hat sich verändert. Wir leben sechs bissieben Jahre länger als die, die 1960 vergleichbar alt wa-ren; aber wir arbeiten im Schnitt nicht sechs oder siebenJahre länger, sondern fünf Jahre kürzer. Es ist eine ganzeinfache Rechnung: Das kann nicht aufgehen, wenn manhier nicht eingreift und das systematisch verändert.g6jleG8fsfZvlEsDbgdvdAkzafumtDdWdc–dETlfsDhrRmgJ1K
as ist eine vernünftige Entscheidung. Diese Koalitionat entschieden, dass wir bei allen vorhandenen Schwie-igkeiten und unter Würdigung dessen, was wir denentnerinnen und Rentnern in den letzten Jahren zuge-utet haben, dafür sorgen, dass die Renten in dieser Le-islaturperiode nicht sinken. Das werden wir für diesesahr 2006 mit diesem Gesetz festschreiben.Wir werden die Rentenversicherungsbeiträge von9,5 Prozent auf 19,9 Prozent erhöhen. Das hat Herrolb richtig gesagt. Er hat aber vergessen, dazuzusagen,
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1116 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Bundesminister Franz Münteferingdass wir gleichzeitig die Beiträge zur Arbeitslosenversi-cherung von 6,5 auf 4,5 Prozent senken. Das heißt, dassim Ergebnis im nächsten Jahr die Beiträge zur Sozialver-sicherung um 1,6 Prozentpunkte sinken: 0,8 Prozent-punkte für die eine und 0,8 Prozentpunkte für die andereSeite. Das ist die Wahrheit. Das machen wir, weil wireine stabile Situation herbeiführen wollen.
Nun wird in diesen Tagen der Rentenversicherungs-bericht mit den anderen Ministerien und den Sozialver-bänden, die das alles schon kennen, abgestimmt. Des-halb musste ich mich an dieser Stelle entscheiden undmusste sich das Kabinett entscheiden. Die Frage war:Schreiben wir in den Rentenversicherungsbericht etwashinein, was wir in zwei oder drei Monaten wieder korri-gieren müssen, oder schreiben wir das hinein, was in un-serem Koalitionsvertrag steht? Gemeint ist, dass wir dasRenteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre erhöhen unddies über einen längeren Zeitraum, aber bis spätestens2035 machen.Wir im Kabinett haben entschieden, dass in denJahren 2007 bis einschließlich 2011 nichts passiert. ImJahre 2012 beginnt der Anstieg um einen Monat proJahr. Wer dann 65 Jahre alt ist, bekommt seine Rente mit65 Jahren und einem Monat. Das wird so über 12 Jahregehen. Dann ist das erste Jahr aufgearbeitet. Anschlie-ßend geht es in einem schnelleren Tempo mit zwei Mo-naten pro Jahr weiter. Das haben wir vereinbart.Dabei haben wir deutlich gemacht: Diejenigen, dielange berufstätig sind und deshalb lange in die Sozial-versicherung eingezahlt haben, sollen auch in Zukunftmit 45 Versichertenjahren im Alter von 65 die Renteohne Abschlag bekommen. Das heißt, der Maurer, dermit 18, 19 oder 20 Jahren seine Lehre oder, wie es heuteheißt, Ausbildung beginnt und anschließend arbeitet, hatmit 63, 64 oder 65 Jahren seine 45 Versicherungsjahreerreicht und bekommt jetzt und in Zukunft mit 65 Jahrenseine unreduzierte Rente. Das war eine wichtige Ent-scheidung. Das betrifft etwa 40 bis 45 Prozent all derer,die in diese Situation kommen.
Ich empfehle all denen, die eben schon gesprochenhaben, sich einfach einmal sachkundig darüber zu ma-chen, worüber sie reden. Die üblichen Propagandaredenaußerhalb dieses Hauses helfen überhaupt nicht. Wirmüssen uns anschauen: Wie ist die Situation und waskönnen wir an dieser Stelle tun? Ich bin sicher, dass wirdie Situation hinsichtlich der Feststellung der Erwerbs-minderung genau unter die Lupe nehmen müssen. Wirwollen das nicht zulasten derer machen, die aus objekti-ven Gründen in ihrer Arbeitsfähigkeit im Alter vielleichtgehemmt sind. Aber dazu gehören auch Arbeitsschutz,Weiterbildung und Qualifizierung für die älteren Arbeit-nehmer.
Dazu gehört auch, dass wir dann, wenn uns die Verbändeerklären, dass 10 000 oder 20 000 Ingenieure fehlen undwdghWklwfsAhgsfvbsrnwiMsBGMlNbnhabtamtwRaKEz
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herrinister Müntefering, Gratulation, anders als Ihr Exkol-ege Lafontaine sind Sie in der Realität angekommen.och vor drei Jahren haben Sie behauptet, in der Renteedürfe es keiner weiteren Reform. Auf Druck der Grü-en wurde dann die Rürup-Kommission eingesetzt. Sieat vorgerechnet, dass eine Verlängerung der Lebens-rbeitszeit um zwei Jahre bis zum Jahre 2035 unabding-ar ist. Die Rentner protestierten, obwohl nicht sie be-roffen waren, sondern die heute 40-Jährigen, die sichber noch ganz schön still verhalten. Sie erwarten nichtehr viel.Die Erhöhung des Renteneintrittsalters ist eine Reak-ion darauf, dass die Menschen inzwischen erfreulicher-eise älter werden und durchschnittlich 16 Jahre langente beziehen. Früher waren es nur sechs Jahre.Heute kommen zwei Erwerbstätige für einen Rentneruf. Würden wir keine Veränderungen durchführen, Herrollege Lafontaine, wären wir im Jahr 2050 bei einemrwerbstätigen pro Rentner. Damit würde das Systemusammenbrechen.
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Irmingard Schewe-Gerigk
Insofern unterstützen wir ausdrücklich das Vorhabendes Ministers. Allerdings enden damit unsere Gemein-samkeiten. In den vergangenen Tagen hat sich in derSPD und der großen Koalition das blanke Chaos abge-spielt.
Alles gackert durcheinander. Ein Hühnerhof ist dagegenein Ort der Stille.Erst verzögern Sie den Rentenversicherungsbericht.Dann treffen Sie im Koalitionsvertrag Vereinbarungen,die der Quadratur des Kreises entsprechen: Sie wollendie Rente nicht kürzen, den Beitragssatz stabil halten,aber den Bundeszuschuss einfrieren. Die versammelteWissenschaft hat Ihnen bescheinigt, dass das alles nichtzusammenpasst.
Wenn Sie den Bundeszuschuss einfrieren und dieRente nicht kürzen, werden die Beiträge schon bald über20 Prozent steigen. Das wissen Sie genau. Darum gibt esnämlich bei Ihnen auch schon erste Absetzbewegungenvom Koalitionsvertrag.
Das Absurdeste allerdings ist, dass Sie den zweitenSchritt vor dem ersten tun. Wer bis 67 arbeiten soll,braucht auch einen Arbeitsplatz. Den haben aber heutenur 40 Prozent der über 55-Jährigen. Wir haben uns imLissabonprozess darauf verständigt, dass es bis 202050 Prozent sein sollen. Haben Sie, Herr Minister, sichdenn klar gemacht, welches Signal Sie aussenden, wennSie den Menschen sagen, sie sollen künftig länger arbei-ten, während Sie gleichzeitig die 58-Jährigen mit demArbeitslosengeld I dazu bringen, dem Arbeitsmarkt end-gültig Ade zu sagen, damit sie aus der Statistik heraus-fallen? Haben Sie die Auswirkungen berücksichtigt,wenn Sie die Weiterbildung für Ältere bei der Agenturfür Arbeit zum Jahresende auslaufen lassen? Wie wollenSie damit bei den Menschen Vertrauen schaffen?
Ich wundere mich nicht, dass bei einer solchen Politiküber drei Viertel der Menschen gegen die Heraufsetzungdes Renteneintrittsalters auf 67 Jahre sind. Eine Verlän-gerung der Lebensarbeitszeit setzt die Integration Ältererauf dem Arbeitsmarkt voraus. Anderenfalls entsprächesie einer gigantischen Rentenkürzung.Wer wie Sie den zweiten Schritt vor dem erstenmacht, kann dabei ganz schön ins Stolpern kommen;denn die Rentenfrage gehört zu den wichtigsten Zu-kunftsfragen. Eine Fortsetzung des bisherigen Hin undHer
trägt zur Verunsicherung bei und führt zu einer sinken-den Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung.WguAD4srbwsnSfnasvhnsnrSrrs6whWDrdfbCeSk
ie haben nämlich so gut wie keine Chance, abschlags-rei in Rente zu gehen, müssen aber ihrerseits alle Aus-ahmeregelungen mitfinanzieren.Nach meinem Eindruck dient die Regelung in Bezuguf 45 Pflichtbeitragsjahre eher zur Beruhigung deschlechten Gewissens. Denn diejenigen, die diese Politikertreten, wissen genau, wie wenig glaubwürdig die Er-öhung des Renteneintrittsalters ohne flankierende Maß-ahmen in anderen Politikfeldern ist.Ausnahmeregelungen für verschiedene Berufe, wieie der Wahlkämpfer Kurt Beck derzeit verlangt, sindicht geeignet, Benachteiligungen individuell und ge-echt aufzulösen.
tattdessen sollten wir darüber nachdenken, wie das be-eits vorhandene Instrument der Erwerbsminderungs-ente weiterzuentwickeln ist.Ich kann mir vorstellen, dass Menschen nach 45 Ver-icherungsjahren über eine Erwerbsminderungsrente mit5 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen, wenn ihr Er-erbsleben belastend war und sie deshalb unter gesund-eitlichen Einschränkungen leiden. Das wäre ein anderereg. Dringend notwendig ist allerdings eine fundierteebatte auf der Grundlage des Rentenversicherungsbe-ichts.Im Interesse der Menschen fordere ich Sie auf, daserzeitige Chaos alsbald zu beenden. Wir Grüne jeden-alls werden unseren Beitrag zur Versachlichung der De-atte leisten.Recht herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Ralf Brauksiepe, CDU/
SU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nurin Wort zum Antragsteller: Herr Kollege Lafontaine,ie haben uns vorgeworfen, gegen die Mehrheit des Vol-es anzuregieren. Ich meine nicht Sie persönlich, aber
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Dr. Ralf Brauksiepeich finde, es ist schon ein starkes Stück, wenn Sie das alsVertreter einer Partei sagen, die die Nachfolgerin einerPartei ist, die 40 Jahre lang in brutaler Weise gegen dieMehrheit des Volkes anregiert und ein Land ruiniert hat.
Nun zu dem Problem, mit dem wir es zu tun haben.Im Koalitionsvertrag haben CDU/CSU und SPD festge-legt, dass das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre steigensoll, und zwar bis spätestens 2035. Der zuständige Mi-nister hat eine Konkretisierung der Formulierung „bisspätestens 2035“ vorgenommen und den Vorschlag indie Diskussion eingebracht, bis 2029 das Renteneintritts-alter auf 67 Jahre zu erhöhen. Wenn eine solche Diskus-sion aufkommt, macht es sicherlich Sinn, sich schnell zuverständigen und für Klarheit zu sorgen. Das hat dasBundeskabinett klugerweise getan, indem es sich auf dievon Minister Müntefering vorgeschlagene Konkretisie-rung verständigt hat. Darum geht es nun.Gerade ist der Bericht der Rürup-Kommission ange-sprochen worden. Dieser Bericht hat uns schon im Jahr2003 deutlich gemacht, dass die Lebenserwartung von65-jährigen Frauen und Männer bis zum Jahr 2030 umfast drei Jahre steigen wird. Das heißt, wenn wir dasRenteneintrittsalter bis dahin um zwei Jahre erhöhen,dann haben wir den erwarteten Anstieg der Lebenser-wartung noch nicht einmal ganz kompensiert. Wir wer-den auch dann eine im Durchschnitt etwas längere Ren-tenlaufzeit zu verkraften haben. Das macht deutlich, dasswir angesichts der demografischen Entwicklung, desgünstigen Umstandes, dass die Menschen immer älterwerden, keine Alternative dazu haben, dass diejenigen,die dazu in der Lage sind, länger arbeiten müssen. DerVorschlag von Herrn Müntefering ist alternativlos unddeswegen unterstützen wir ihn.
Selbstverständlich darf eine Anhebung des gesetzli-chen Renteneintrittsalters nur mit verbesserten Beschäf-tigungschancen älterer Arbeitnehmer einhergehen; dasist völlig klar. Wenn wir es uns aber nicht zutrauten, ineinem Zeitraum von 23 Jahren die Beschäftigungschan-cen älterer Arbeitnehmer massiv zu verbessern, dannhätten wir als Politiker versagt.
Ich bin sicher, dass diese Regierung die notwendigenRahmenbedingungen für eine bessere Erwerbsbeteili-gung älterer Menschen in diesem Land schaffen wird.Wir haben die ersten Weichen in diese Richtung gestellt.Die Tendenz geht bereits nach oben. Diesen Weg werdenwir weitergehen, weil wir keine Rentenkürzungen vor-nehmen wollen. Jetzt, wo eigentlich welche anstünden,schließen wir Rentenkürzungen gesetzlich aus. Wie ge-sagt, wir werden die Rahmenbedingungen für ältere Ar-bnfbPswddWblDgsdkb4ksrJpcd4dhmihdrnssdtndrdSRiah
as bereits im Koalitionsvertrag klar geregelt ist, ist nunekräftigt worden.Angesichts der Diskussion über Sonderregelungenohnt ein Blick in den Bericht der Rürup-Kommission.ort ist festgestellt worden, dass eine gerechte und zu-leich missbrauchsichere Abgrenzung bestimmter Per-onenkreise nicht möglich ist. Ich bedanke mich aus-rücklich beim Minister, dass er das noch einmallargestellt hat. Wir brauchen andere Regelungen. So ha-en wir festgelegt – das ist ganz wichtig –, dass man mit5 Pflichtbeitragsjahren abschlagsfrei in Rente gehenann. Das heißt, für die Personengruppen, die klassi-cherweise nicht erst mit 20 beginnen, Sozialversiche-ungsbeiträge zu entrichten, sondern bereits nach zehnahren Schule in die Systeme einzahlen, ändert sichraktisch nichts. Wer den normalen Weg eines Dachde-kers oder anderer gesundheitsbelastender Berufe geht,er hat, wenn er mit 16 Jahren zu arbeiten beginnt, etwa9 Jahre Zeit, um 45 Pflichtbeitragsjahre zu erreichen.Für alle, die dies gesundheitlich nicht schaffen, gibt esas Instrument der Erwerbsminderungsrente. Schoneute kann jemand, der aufgrund von Erwerbsminderungit 63 aus dem Arbeitsprozess ausscheidet, abschlagsfrein Rente gehen. Jeder, der mit 60 oder früher ausscheidet,at keine höheren Abschläge als 10,8 Prozent, also fürrei Jahre, hinzunehmen. Das heißt, wir haben solida-isch finanzierte Systeme und Möglichkeiten, um denje-igen zu helfen, die es gesundheitlich nicht schaffen.Es gehört aber auch zur Wahrheit: Wenn die Men-chen immer älter werden und wenn alle Sozialsystemeolidarisch beitragsfinanziert sind, dann bedeutet das,ass die Renten derjenigen, die Erwerbsminderungsren-en erhalten und die mit 65 Jahren ausscheiden, von de-en finanziert werden müssen, die zu diesem Zeitpunktie Arbeitsleistung erbringen und die Sozialversiche-ungsbeiträge bezahlen. Deswegen müssen diejenigen,ie es können, im Interesse der Solidarität in diesemystem bis 67 arbeiten.Wir sind gefordert, die entsprechenden politischenahmenbedingungen zu setzen. Daran arbeiten wir. Esst eine langfristige Zielsetzung, die richtig und sozialusgewogen ist. Diesen Weg werden wir gemeinsam ge-en.Vielen Dank.
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Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Ernst, Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Eben wurde uns von Herrn Müntefering derVorschlag gemacht, man solle sich doch sachkundig ma-chen.
– Bei euch vielleicht.
Ich lese heute im „Tagesspiegel“:Das Vorziehen der Rente mit 67 ist zum jetzigenZeitpunkt entweder überflüssig oder nicht beson-ders sozial.Ich zitiere weiter:Wenn es uns nicht gelingt, Ältere in Arbeit zu brin-gen, ist das für Arbeitslose eine Rentenkürzung.Und für Einkommensschwache, die früher sterben,verkürzt sich die Rentenbezugsdauer.Das ist von eurem Experten, nicht von unserem Exper-ten.
Vielleicht machen Sie sich, Herr Müntefering, einfacheinmal die Mühe, sich mit Ihren eigenen Experten zu un-terhalten. Dann werden Sie nicht solche Vorschläge ma-chen, wie Sie sie gegenwärtig auf die Tagesordnungbringen.
Wir haben als Ergebnis der Politik der letzten siebenJahre die Situation in diesem Lande – das nehmen Sieoffenbar nicht zur Kenntnis –, dass die Bürger dann,wenn sie das Wort Reform hören, die Geldbörse zuhal-ten. Sie haben Recht und sie haben Anlass dazu.
Denn alles, was Sie ihnen zumuten, sind Belastungen,die nicht für Sie selber, aber immer für die anderen wirk-sam werden. Die Renteneingriffe der letzten Jahre warenenorm: Kürzung von anrechenbaren Zeiten, zusätzlicheAbgaben auf Renten, Nullrunden über mehrere Jahreund jetzt das Heraufsetzen des Rentenalters. Ich kenneall diese Vorschläge und Sie auch, Herr Müntefering.Alle können Sie in den Konzepten des Bundesverbandsder Deutschen Industrie nachlesen. Genau in dessen In-teresse machen Sie Politik, aber nicht für das Volk. Dasmit aller Klarheit.
Eins zu eins haben Sie die Forderungen des Bundesver-bands der Deutschen Industrie in Ihren Koalitionsvertragübernommen.dIJwDwdDvAsg5dAukAdnet
Millionen Arbeitslose stellen wohl eine tolle Lage aufem Arbeitsmarkt dar. Die haben wir nämlich gerade.
ber jetzt beschließen Sie es. Sind Sie so prophetisch,m jetzt schon zu wissen, was in zehn Jahren los ist? Ichann nur sagen: Wenn man so Politik macht und dieussagen von vor zwei Jahren, vor einem Jahr und sogarrei Monaten nicht mehr ernst nimmt, dann kann ich nuroch sagen: Furchtbar.
Im Koalitionsvertrag heißt es, nachdem ein Renten-intrittsalter von 67 Jahren angekündigt wird:Dies gibt sowohl den Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern als auch den Unternehmen Planungssi-cherheit.Diese Planungssicherheit haben Sie in Ihrem Koali-ionsvertrag vom 11. November 2005 versprochen.
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Klaus ErnstMittlerweile sind drei Monate vergangen und schon giltdas nicht mehr, weil sich das neue Traumpaar Merkel/Müntefering verständigt hat, die Erhöhung des Renten-eintrittsalters um sechs Jahre vorzuziehen. Das ist diePlanungssicherheit, die Sie diesem Volk zumuten.
Die Wirkungen, die Sie erzielen, sind doch ganz ein-fach – jeder weiß es –: Nur 39 Prozent der über 55-Jähri-gen haben einen Job; von den über 60-Jährigen habennur 20 Prozent einen Job. Wenn Sie das Renteneintritts-alter jetzt heraufsetzen, dann heißt das nichts anderes, alsdass Sie die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes II ver-längern. Jeder weiß, dass ein über 55-Jähriger in diesemLand heutzutage eher das Bundesverdienstkreuz be-kommt, als dass er einen Job findet.
Das liegt übrigens nicht daran, dass der Kündigungs-schutz nicht schwach genug ist. Die allermeisten über55-jährigen Arbeitslosen haben früher gearbeitet und ha-ben ihren Arbeitsplatz irgendwann verloren, offensicht-lich deshalb, weil der Kündigungsschutz nicht ausreicht.Das sage ich auch Ihnen von der FDP. Was Sie vorhaben– Rente mit 67 –, heißt nichts anderes als Kürzung derEinkommen eines großen Teils der Bevölkerung.Viele halten längere Arbeitszeiten nicht aus. Siemüssten sich vielleicht wieder einmal in die Betriebe zuden Nacht- und Schichtarbeitern begeben. Ich habe ge-dacht, dass es in der SPD noch den einen oder anderengeben müsste, der das tut. Leider ist das nicht so.Ich komme zum Schluss. Was Sie machen, ist keineGenerationengerechtigkeit. Ich halte Ihr Vorhaben fürsehr schwierig. Ein Kirchenlehrer im vierten Jahrhun-dert, der heilige Augustinus
– das freut euch, nicht wahr; es täte euch gut, einmalnachzulesen –, hat folgenden Satz geprägt:Ein Staat, der nicht durch die Gerechtigkeit defi-niert wäre, wäre nur eine große Räuberbande.Wir müssen aufpassen, dass unser Staat dazu nicht ver-kommt.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Kollege Ernst, dies war Ihre erste Rede in diesem
Hause. Herzliche Gratulation und alles Gute für Ihre
politische Arbeit.
Ich erteile das Wort Kollegin Elke Ferner, SPD-Frak-
tion.
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Der Kollege Ernst sollte sich einmal ein paar Zahlenu Gemüte führen. Ich habe mir heute Morgen die Müheemacht, die Zahlen des Statistischen Bundesamtes he-auszusuchen: Im Jahr 2004 war die Beschäftigungsquoteer Älteren höher, als Sie eben angegeben haben. Die derber 60-jährigen Männer lag nämlich bei 37,7 Prozentnd die der über 60-jährigen Frauen bei 19,7 Prozent.
an sollte keine Zahlen in die Welt setzen, die mit derealität nichts zu tun haben.Das Thema, über das wir heute diskutieren, ist sicher-ich nicht einfach. Das braucht man überhaupt nicht zuestreiten. Dabei geht es aber um mehr als um die Erhö-ung des Renteneintrittsalters um zwei Jahre. Dazu ge-ört auch, dass das Bundeskabinett gestern beschlossenat, keine Rentenkürzungen – sie wären nach der jetzi-en Rechtslage wahrscheinlich notwendig – vorzuneh-en. Wenn ich Herrn Kolb eben richtig verstanden habe Herr Kolb, Sie haben genau das kritisiert –, muss ichohl annehmen, dass die FDP der Meinung ist, manüsse jetzt Rentenkürzungen durchführen.
Sie können das gern richtig stellen. Sie haben ebenanz deutlich gesagt, dass Sie diesen Punkt kritisieren.igentlich vertreten Sie doch eher die Auffassung, dassie Renten gekürzt werden müssen.
Natürlich müssen die Beschäftigungschancen ältererrbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen verbessert wer-en. Das ist überhaupt keine Frage. In den 70er-Jahrenar die Beschäftigungsquote der Älteren deutlich höherls heute. Sie ist heute allerdings etwas besser als vorier oder fünf Jahren. Diesen Prozess müssen wir forcie-en.Ich füge hinzu: Es bedarf besonderer Maßnahmen,m die Beschäftigungsquote über 50-jähriger Frauen zurhöhen. Wegen Kindererziehungszeiten und wegenäufiger Teilzeitbeschäftigung haben viele aus dieserruppe besondere Schwierigkeiten, wieder in eine Voll-rwerbstätigkeit hineinzukommen.Ich glaube, dass wir auch bei der Verbesserung derrbeitsbedingungen in den Betrieben weiter vorankom-en müssen;
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Elke Fernerdenn die Probleme, die einige Arbeitnehmer und Arbeit-nehmerinnen aufgrund besonders schwerer Arbeitsbe-dingungen in den Betrieben haben, ließen sich auchdurch besseren Arbeitsschutz – Stichwort: Humanisie-rung der Arbeitswelt – abstellen. Daran müssen wir zu-sätzlich arbeiten.
Wenn man sich ansieht, wie die Beschäftigungsquo-ten in den anderen europäischen Ländern sind, insbeson-dere in den skandinavischen Ländern, stellt man fest,dass es da mit einer Erwerbsquote der über 55-Jährigenvon knapp 70 Prozent deutlich besser ist als bei uns. Dassind nun nicht Länder, denen man ein schlechtes sozialesSchutzniveau nachsagen könnte oder in denen es höhereArbeitslosenquoten gibt; im Gegenteil: Die Arbeitslo-senquoten dort sind niedriger. Deshalb ist es notwendig,insbesondere mit dem Programm „Perspektive 50 plus“voranzukommen und das zeitgleich zu machen.
Der Kollege Ernst hat eben gesagt: Und jetzt wird dieRente mit 67 eingeführt. Wir reden heute über dasJahr 2029, nicht über morgen, nicht über übermorgenund eben nicht über das Jahr 2006.
– Im Jahr 2012 beginnt die Erhöhung um jeweils einenMonat.
Frau Kollegin Schewe-Gerigk hat eben gesagt, die45 Versicherungsjahre seien für Frauen nur schwer zuerreichen. Das ist richtig. Aber wir sollten jetzt nicht sotun, als ob das erst dann zum Problem wird.
Das ist nämlich bereits heute ein Problem. Der Skandalist eigentlich, dass sich niemand anschaut, wie die Versi-cherungszeiten der Frauen heute,
auch die der heutigen Rentnerinnen, im Vergleich zu denMännern sind. Das sind natürlich Generationen, die einedeutlich niedrigere Frauenerwerbsquote haben, als siedie künftigen Generationen haben werden. Es kommtaber auch nicht nur auf die Anzahl der Versicherungs-jahre, sondern natürlich auch auf die Entgeltpunkte an.
In dem Zusammenhang müssen wir auch noch einmalschauen, dass wir bei der eigenständigen Alterssiche-rung der Frauen besser vorankommen,
indem wir eine durchgängigere Erwerbstätigkeit ermög-lichen, indem wir die Lohndiskriminierung beseitigen,indem wir den Frauen vor allem eine Vollzeit- statt Teil-zchdoBoRkaChtmMAvrBTmdfde3uwrv7MdvbEehk
Die Antragsteller dieser Aktuellen Stunde habeneute nur gesagt, was sie nicht wollen. Ich habe nichtsazu gehört, was denn die Alternative ist,
b man stattdessen die Rente kürzen will, ob man deneitragssatz oder den Bundeszuschuss erhöhen will oderb man das Rentenniveau für künftige Rentner undentnerinnen weiter nach unten fahren will. Wer hierritisiert – das mag ja alles so sein –, sollte bitte schönuch sagen, wie es anders gemacht werden soll.
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger, CDU/
SU-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Dieeutige Aktuelle Stunde befasst sich mit den rentenpoli-ischen Beschlüssen der Koalition und vor allem auchit dem Vorschlag von Herrn Bundesminister Franzüntefering. Wir bringen hier in der Gesamtheit zumusdruck, dass wir eine verantwortungsbewusste undor allem eine zielorientierte und den Generationen ge-echt werdende Rentenpolitik betreiben. Ich danke demundesminister sehr herzlich dafür, dass er dieseshema ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt und dieseittlerweile intensive Diskussion herbeigeführt hat.
Es schadet nicht, etwas zurückzuschauen und sicharüber klar zu werden, warum diese Beschlüsse so ge-asst worden sind. Sie sind Ausdruck einer großartigenemographischen Entwicklung. 1871 betrug die Lebens-rwartung der Männer 35,6 Jahre und die der Frauen8,4 Jahre. 1926 war sie bei den Männern auf 56 Jahrend bei den Frauen auf 58,8 Jahre gestiegen. Erst 1970urde eine Lebenserwartung von über 65 Jahren er-eicht, nämlich bei den Männern eine Lebenserwartungon 67,4 Jahren und bei den Frauen eine von3,8 Jahren. Heute beträgt die Lebenserwartung deränner 75,9 Jahre und die der Frauen 81,6 Jahre. Füras Jahr 2030 rechnen wir mit einer Lebenserwartungon 83,4 Jahren bei den Männern und von 87,6 Jahrenei den Frauen.Diese Zahlen zeigen sehr deutlich, dass wir auf dientwicklung, die ja für die Menschen großartig ist, auchine generationengerechte Antwort finden müssen. Ichabe heute bei den Antragstellern jedoch nicht erkennenönnen, dass sie bereit wären, hier eine positive
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1122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Max StraubingerMitarbeit zu leisten. Mehr als Polemik war von den Lin-ken in diesem Haus nicht zu hören.
Auffallend ist, dass auf der einen Seite zwar kritisiertwird, dass ab dem Jahr 2029 ein Renteneintrittsalter von67 Jahren gelten soll, auf der anderen Seite aber der Kol-lege Lafontaine für sich bereits jetzt entschieden hat,über das 65. Lebensjahr hinaus zu arbeiten. HerrLafontaine ist ja Geburtsjahrgang 1943 und ich nehmean, dass er den Wählerinnen und Wählern versprochenhat, uns die ganze Legislaturperiode erhalten zu bleiben;am Ende dieser Zeit hätte er dann das 66. Lebensjahr er-reicht.
Das zeigt sehr deutlich, dass aufgrund der neuen Mög-lichkeiten der Gesunderhaltung und der Fitness bis insAlter durchaus eine längere Lebensarbeitszeit ins Augegefasst werden kann. Das wird heute auch dargelegt.
Verehrte Damen und Herren, ausdrücklich zurückwei-sen möchte ich, dass wir im Koalitionsvertrag und in denWahlaussagen Wählertäuschung betrieben hätten. ImRegierungsprogramm der CDU/CSU steht wörtlich – ichzitiere –:Zur langfristigen Stabilisierung der Rentenversi-cherung ist eine Verlängerung der Lebensarbeitszeitnotwendig.Dies macht deutlich, dass wir den Wählerinnen undWählern schon vor der Wahl schwierige Entscheidungenangekündigt haben, die in dieser Regierungskoalitionzum Tragen kommen.
Die Linke stellt hier die soziale Ausgewogenheit in-frage. Bereits einige Vorredner, auch der Herr Bundes-minister, haben darauf hingewiesen, dass wir verstärkteAnstrengungen unternehmen werden, um ältere Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer in Arbeit zu bringen.Ein entscheidender Gesichtspunkt dazu ist auch im Ko-alitionsvertrag niedergelegt, und zwar ab Zeile 4 057– ich zitiere –:Zu Beginn des nächsten Jahrzehnts wird der Ge-setzgeber darüber zu befinden haben, ob die Anhe-bung der Regelaltersgrenze unter Berücksichtigungder Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichenund sozialen Situation älterer Arbeitnehmer vertret-bar ist und die getroffenen gesetzlichen Regelungenbestehen bleiben können.Das zeigt sehr deutlich die sozialpolitische Verant-wortung dieser Koalition. Vor allen Dingen bringt eszum Ausdruck, dass wir für eine verlässliche Renten-politik stehen, die auch den Generationenausgleichsucht. Das funktioniert nicht so, wie es die Linken wol-len: möglichst eine hohe Rente, aber wer das bezahlt, istIhnen völlig egal. Das müssen dann alle ErwerbstätigenizAtFHVlDrtzsTddaKDrnDWcsntDNdhnKdHFSsD
Ich erteile das Wort Kollegen Anton Schaaf, SPD-
raktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!err Lafontaine, Sie haben von Vertrauen gesprochen.ertrauen bedingt für meine Begriffe Seriosität und Ehr-ichkeit, allerdings nicht nur in den rückwärts gewandtenebatten, sondern vor allen Dingen heute.
Das gilt besonders, wenn wir über das Thema Renteeden, wenn wir darüber reden, dass zukünftige Genera-ionen höhere Belastungen haben werden, jeder Ein-elne, aber auch die Gesellschaft. Deshalb müssen wirie anders in die Verantwortung nehmen. Nur wer beimhema Rente die neuen Herausforderungen, nämlichen veränderten demografischen Aufbau – der Aufbauer Gesellschaft ist völlig anders als noch vor 30 Jahren,ls der eine oder andere in der PDS seine politischenonzepte kennen gelernt hat – und den wirtschaftlichenruck durch Europäisierung und Globalisierung, igno-iert, kann über Rentenpolitik so diskutieren wie Sie,ämlich als wären wir völlig isoliert, als stünde um ganzeutschland eine Mauer.Wir, diese Koalition, tun das nicht.
ir analysieren den bestehenden Zustand und versu-hen, zu gestalten und auch zu verändern. Wir tun nichto, als sähe die Welt anders aus, als sie ist, sondern wirehmen sie so, wie sie ist. Daraus leiten wir unser Poli-ikverständnis ab. Das ist bei Ihnen etwas anders.Herr Kollege Ernst, auch wenn Sie Ihre erste Rede imeutschen Bundestag gehalten haben, hätten Sie Ihremamen alle Ehre machen und dieses Thema ernst behan-eln können und nicht so populistisch, wie Sie es getanaben. Das hilft niemandem weiter und ist der Sacheicht dienlich.
Lassen Sie mich auf einen Punkt eingehen, den Herrolb angeführt hat. Sie haben gesagt, das, was wir anieser Stelle machen, sei eine Bankrotterklärung. Nein,err Kolb, das sehe ich völlig anders. Ich kann für meineraktion sehr deutlich sagen: Wir wollen die sozialenicherungssysteme, wie wir sie heute kennen – nämlicholidarisch aufgebaut und paritätisch finanziert –, aufauer erhalten.
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Anton Schaaf
Das bedingt, dass wir grundsätzlich bereit sind, struktu-relle Veränderungen vorzunehmen. Die rot-grüne Koali-tion hat es getan. Wir haben in den vergangenen Tagenschon über die private Säule, über die Riesterrente, dis-kutiert. Jetzt gehen wir einen Schritt weiter.Ich will etwas zur Verlässlichkeit sagen. Wenn wirstrukturelle Veränderungen, wie sie die Koalition verein-bart hat, vornehmen müssen, dann ist es doch seriös,schon jetzt zu sagen, was auf die Menschen ab 2012 zu-kommt und wie lange dieser Prozess dauern wird. ImKoalitionsvertrag steht: bis maximal 2035. Wir habenuns darauf verständigt – den entsprechenden Vorschlaghat der Minister gemacht –, dass wir diesen Zeitraumverkürzen. Es ist also verlässlich, wenn wir jetzt der jün-geren Generation sagen, bis wann welche Prozesse abge-schlossen sind.Lassen Sie mich auch etwas zur Verantwortung sagen.Ich glaube, die Politik muss nicht jede Verantwortungübernehmen. Inwieweit die Beschäftigungsquote ältererArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tatsächlich erhöhtwerden kann, ist keine Frage, deren Beantwortung manausschließlich auf die Politik abwälzen kann.
Es ist aber auch keine Frage, deren Beantwortung manausschließlich auf das Individuum abwälzen kann.
Dieser Frage müssen sich auch die Unternehmerinnenund Unternehmer in diesem Lande stellen. Die schlechteBeschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer hat unmittel-bar mit der Vorruhestandsregelung zu tun, die damalsvon der schwarz-gelben Koalition – von uns allen ge-meinsam getragen – eingeführt worden ist. Wir haben äl-tere Arbeitnehmer aus dem Arbeitsprozess herausge-nommen, um jüngere verstärkt hineinzubringen. DasPrinzip hat nie funktioniert.
Herr Lafontaine, es ist übrigens eine ökonomischwichtige Frage, wie hoch die Beschäftigungsquote derälteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist. Wirwissen schon jetzt, dass qualifizierte Facharbeiterinnenund Facharbeiter in vielen Branchen fehlen. Es ist dochvöllig klar, dass es vor dem Hintergrund der demogra-phischen Entwicklung so nicht weitergehen kann. Daherist Weiterbildung, die übrigens auch in der Verantwortungder Unternehmen in diesem Lande liegt, ganz wichtig.
Der Minister hat sehr deutlich auf das Problem beiden Ingenieuren hingewiesen. Es ist geradezu grotesk,das Wissen der Ingenieure 20 Jahre zu nutzen, aber siedann zu entlassen, wenn ihr Wissen nicht mehr aus-reicht, und anschließend nach neuen Ingenieuren ausdem Ausland zu rufen. Auch die Unternehmen tragen,was die Qualifizierung und Weiterbildung angeht, Ver-antwortung.VdwäuRqktmhmsfdgdrdadSktWkCTktgtATagar
erantwortung muss man richtig zuordnen. Man kanner Politik nicht für alles die Verantwortung zuschieben.Zum Schluss möchte ich sagen: Ökonomische Ent-icklung hat, wie gesagt, mit der Beschäftigungsquotelterer Arbeitnehmer zu tun. Sie hat mit Qualifizierungnd Weiterbildung und auch – da gebe ich Ihnen völligecht, Frau Schewe-Gerigk – mit der Frauenerwerbs-uote zu tun. Wer an welcher Stelle auch immer die Dis-ussion darüber führt, dass die Lebenserwartung ein Kri-erium für das Renteneintrittsalter sein könnte, derüsste gleichzeitig sagen, dass Frauen aufgrund ihreröheren Lebenserwartung höhere Rentenbeiträge zahlenüssten. Um es ganz deutlich zu sagen: Ich halte eineolche Diskussion für absoluten Unfug und nicht ziel-ührend.
Zur Frage, ob man das Renteneintrittsalter nicht nacher Arbeitsbelastung und damit branchenspezifisch re-eln sollte, sage ich – Herr Brauksiepe hat schon sehreutliche Worte dafür gefunden –: Die Erwerbsminde-ungsrente ist ein gutes Instrument. Wir sollten aller-ings angesichts dessen, dass wir den Menschen mehrbverlangen müssen, darüber nachdenken, ob wir beiiesem Instrument nicht noch an der einen oder anderentelle nachsteuern sollten. Darum würde ich in der Dis-ussion, die jetzt ansteht, werben.Die Initiative „50 plus“ geht mit einem höheren Ren-eneintrittsalter einher; das ist deutlich gesagt worden.ir sollten das kommunizieren, damit die Menscheneine Angst bekommen.Ich danke.
Das Wort hat nun Kollege Marco Wanderwitz, CDU/
SU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deritel dieser von der PDS beantragten Aktuellen Stundeommt zwar recht harmlos um die Ecke. Er lautet: „Hal-ung der Bundesregierung zu den sozialen Auswirkun-en der Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsal-ers“. Wenn man sich diesen Titel aber im Kontext derussagen von der linken Seite dieses Hauses zu diesemhema anschaut – ähnliche Aussagen wurden leideruch heute wieder gemacht –, stellt man fest: Es siehtanz anders aus. Ihnen geht es nicht darum, konstruktivn der seit Jahrzehnten überfälligen Debatte zur Siche-ung der sozialen Systeme mitzuarbeiten. Ihnen geht es
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1124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Marco Wanderwitzum eines: Sie wollen den sozialen Unfrieden und denNeid in unserem Land schüren, um Ihr politisches Über-leben zu sichern.
Sie schaden damit unserem Land und mittelfristig nützenSie nicht einmal Ihrer eigenen Klientel.Die Debatte über die Zukunft der sozialen Siche-rungssysteme ist seit Jahrzehnten überfällig. Lange Jahrewurde sie tabuisiert. Verantwortungsbewusste Politikerwurden von allen Seiten, von der Politik und von Lobby-gruppen, die Besitzstände wahren wollen, angefeindet.Es gab sie, die Rufer im Walde. Niemand darf sich heutebeschweren, dass wir, wenn alles viel früher gemachtworden wäre, heute nicht diese Auswirkungen hätten. Esgab eben lange Jahre keine Mehrheiten dafür in diesemLand. Auch ein Kartell der Desinformation der Men-schen stand zusammen.Nun endlich wird in unserem Land breit darüber dis-kutiert, dass die sozialen Sicherungssysteme kollabie-ren – und der gesamte Staatshaushalt gleich mit. Auslö-ser der Debatte ist wohl der aktuelle Handlungsdruckdurch die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit und derenFolgen für die Umlagesysteme.Mir ist aber an dieser Stelle genauso wichtig, auf dieanstehenden demografischen Probleme hinzuweisen.Wenn die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge ver-stärkt das Rentenalter erreichen, wird das derzeitige Pro-blem uns allen wie ein laues Sommerlüftchen vorkom-men. Man kann über dieses Thema sachlich diskutieren,obgleich es großes Verhetzungspotenzial hat. Das erfor-dert aber Verantwortungsbewusstsein für das Gemein-wesen. Genau das erwarte ich hier im Deutschen Bun-destag von jedem Einzelnen.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, einige Worte zurDarstellung des Ernstes der Lage zu verwenden. Dazumöchte ich aus dem Bericht des Bundesrechnungshofszur Wirtschaftsführung des Bundes für 2004 und 2005,uns im Dezember 2005 zugegangen, zitieren:Erstmals in der Geschichte des Bundeshaushaltsentfällt mehr als die Hälfte des veranschlagtenHaushaltsvolumens auf den Sozialbereich.Weiter heißt es:Fast 31 % der Gesamtausgaben des Bundeshaus-halts entfallen auf den Rentenbereich. Die Renten-leistungen des Bundes haben sich damit innerhalbvon zehn Jahren verdoppelt.
Zudem ist zu lesen:Im Haushaltsjahr 2005 verschlingen die Gesamt-ausgaben für die Alterssicherung mit rund93 Mrd. Euro etwa die Hälfte der Steuereinnahmendes Bundes.UIinsecnddvuCnSnksStgnngekadhuZcdhHMddInd
tattdessen machen wir exzessiv Schulden, die dieeuen Belastungen von morgen sind, und betreibenurzfristige Haushaltsschönung mit Privatisierungserlö-en. Stattdessen erhöhen wir ständig die konsumtivenozialausgaben der gegenwärtigen Generationen zulas-en der Zukunftsfähigkeit des Landes und der zukünfti-en Generationen.
So geht das nicht mehr weiter. Wir brauchen eineeue Definition von Gerechtigkeit, die sich nicht mehrur eindimensional auf die Ihnen bekannte Verteilungs-erechtigkeit ausrichtet, sondern auch andere Elementeinbezieht, insbesondere das der Generationengerechtig-eit.
Die neue Bundesregierung hat die Herausforderungenngenommen und ist auf dem richtigen Weg. Wir dürfenabei aber nicht jede ausgetretene Wegschleife mitge-en, sondern müssen auch einmal Schneisen schlagennd direkte Wege gehen; ansonsten läuft uns nämlich dieeit davon und wir können das Ziel nicht mehr errei-hen. Das kann dann eben auch einmal wehtun.Die notwendige Ausweitung der Lebensarbeitszeiturch die Verschiebung des Renteneintrittsalters nachinten ist eine richtige Stellschraube, mit der man diesererausforderung begegnen kann. Bundesministerüntefering hat für seinen Ansatz nicht nur die Rücken-eckung der Kanzlerin, sondern auch die Unterstützunger jungen Abgeordneten der CDU/CSU.
ch füge an dieser Stelle gleich hinzu: Das ist eine derotwendigen Maßnahmen auf diesem Weg, aber nichtie einzige.
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Marco Wanderwitz
Ich erteile das Wort nun Kollegin Gabriele Hiller-
Ohm, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Koalitionsvertrag steht, dass wir das Renteneintrittsalter
auf 67 Jahre heraufsetzen wollen.
Jetzt macht der Arbeits- und Sozialminister Ernst und
alle sind überrascht. Mir ging es übrigens genauso, ob-
wohl ich den Koalitionsvertrag natürlich genau kenne.
Woran liegt das? Bisher war es doch so, dass viel über
die Notwendigkeit der Rentenreform lamentiert wurde
– wie auch heute hier von der Opposition –, sich aber
letztlich keiner tatsächlich an tief greifende Reformen
herangetraut hat. Franz Müntefering hat jetzt einen Para-
digmenwechsel eingeleitet. Das ist mutig; denn eines ist
klar: Mit der Heraufsetzung der Lebensarbeitszeit wird
man keine Begeisterungsstürme in der Bevölkerung aus-
lösen.
Ich glaube nicht, dass wir um eine Verlängerung der
Lebensarbeitszeit herumkommen, wenn wir unser soli-
darisches Rentensystem langfristig absichern wollen.
Natürlich gibt es Alternativen. Sie führen uns aber ent-
weder in Zielkonflikte – zwei Stichworte sind hier die
Entwicklung der Lohnnebenkosten und die Generatio-
nengerechtigkeit – oder sie sind politisch nicht durch-
setzbar.
Es ist richtig, dass wir das Thema jetzt, zu Beginn der
Legislaturperiode, anpacken und den Menschen an die-
ser wichtigen Stelle die nötige Sicherheit für ihre Le-
bensplanung geben.
Noch einmal: Die Rente mit 67 gilt nicht ab morgen; sie
wird stufenweise, von 2012 bis 2029, eingeführt. Die
Menschen können sich also sehr langfristig auf die neue
Situation einstellen.
Alles deutet darauf hin, dass sich die Arbeitsmarktsi-
tuation in den kommenden Jahren entspannen wird und
wir gute Chancen haben, von der hohen Arbeitslosigkeit
herunterzukommen. Das ist ganz wichtig. Denn wenn es
uns nicht gelingt, die Perspektive gerade für ältere Men-
schen am Arbeitsmarkt zu verbessern, wird die Erhöhung
des Rentenalters wenig Akzeptanz in der Bevölkerung
finden, und das zu Recht. Es ist doch nachvollziehbar,
wenn die Menschen sagen: Wenn ich heute über 50 bin
und arbeitslos werde, dann bin ich weg vom Arbeits-
markt. Wenn ich nun auch noch zwei Jahre länger arbei-
ten soll, dann bin ich ja zwei Jahre länger arbeitslos und
werde eine noch kleinere Rente erhalten. – Eine Politik
nach dem Motto „Rentenalter rauf und das war es dann“
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Es muss uns darum gehen, die Qualität der Arbeit zuerbessern und die Belastungen zu reduzieren. Eine in-elligente Zielrichtung kann doch nur sein, die Bedin-ungen jetzt zu verbessern, statt gesundheitliche Ein-chränkungen später durch Zulagen auszugleichen. Esollte nicht so sein, dass finanzielle Zulagen – sei es imarifgeschehen, sei es im Arbeitsmarktprozess – für Er-chwernisse geleistet werden. Wir müssen die Arbeits-eit verkürzen, damit die Belastungen geringer werden,amit die Zahl der Erwerbsunfähigkeitsrenten sinkt undamit man gesund und in Würde das Renteneintrittsalterrreicht.
eshalb unterstützen wir Programme, die genau diesenrozess organisieren. Eines ist die Initiative „Neue Qua-ität der Arbeit“.Ich finde, es wäre des Schweißes der Edlen wert, da-an zu arbeiten, gleitende Übergänge aus dem Arbeits-erhältnis wieder zu einem Thema zu machen und zuermeiden, dass – im Jahr 2029 – inklusive Überstundenis zu einem Alter von 67 Jahren gepowert wird, umann auf null zu fahren. 2012 soll der erste Schritt dererlängerung der Arbeitszeit um einen Monat stattfin-en. Wir haben also Zeit, eine inhaltliche Debatte da-über zu führen und die Voraussetzungen zu schaffen,amit die Humanität im Arbeitsleben an Bedeutung ge-innt. Das wünsche ich mir statt einer Debatte, mit deren Menschen Angst gemacht wird, ab 2012 langsamänger arbeiten zu müssen, damit ein soziales Rentenver-icherungssystem erhalten werden kann.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 duf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G.Fritz, Laurenz Meyer , Dr. ChristianRuck, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder CDU/CSU sowie der AbgeordnetenDr. Ditmar Staffelt, Dr. Sascha Raabe, Dr. RainerWend, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDErfolgreichen Abschluss der laufenden Doha-Welthandelsrunde bis Ende 2006 sicherstellen– Drucksache 16/556 –
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Vizepräsident Wolfgang Thierseb) Beratung des Antrags der Abgeordneten GudrunKopp, Hellmut Königshaus, Hans-MichaelGoldmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDPMultilaterales Handelssystem retten – WTOstärken– Drucksache 16/564 –c) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaLötzer, Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derLINKENWTO-Liberalisierungsrunde stoppen– Drucksache 16/449 –d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu dem Antrag der Abge-ordneten Cornelia Behm, Dr. Thea Dückert,Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und derFraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENHongkong als Zwischenschritt einer fairenund entwicklungsorientierten Welthandels-runde– Drucksachen 16/86, 16/572 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Ditmar StaffeltNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Erich Fritz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Das Ergebnis der 6. WTO-Ministerkonfe-renz in Hongkong ist aus Sicht der CDU/CSU-Fraktionsicherlich nicht ein Gipfel des multilateralen Prozesses,aber ein zufrieden stellendes Ergebnis. Der WTO-Pro-zess geht weiter; er ist nicht ins Stocken geraten. Es gibtdie Chance, im Jahr 2006 zu einem Abschluss zu kom-men. Das ist eine gute Meldung.Der Anspruch, die Doharunde abzuschließen und da-raus eine Entwicklungsrunde zu machen – sie heißt jaschließlich Doha-Entwicklungsrunde –, ist in Hongkongzu einem guten Stück eingelöst worden. Es ist gelungen,für die ärmsten Entwicklungsländer zoll- und quoten-freien Zugang zu den Märkten der Industrieländer zuvereinbaren; das ist jedoch noch nicht beschlossen. Esgibt Zusagen für „Aid for Trade“ und den geplanten Ab-bau der Baumwollsubventionen. Diese Forderungen sindin dem Entwicklungspaket zusammengefasst und brin-gen erhebliche Erleichterungen, sowohl im Verhältniszwischen den Industrieländern und den Entwicklungs-ländern als auch im Rahmen des südlichen Handels, alsozwischen den Entwicklungsländern. Wenn die Schwel-lenländer in vergleichbarer Weise mitziehen, ist das fürdie Entwicklungsländer ein wichtiger Schritt.AduehVJwlipwtunmgthnnsdgzdrsrwRthDmsndhLswpwgzgtdsznVr
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Die Entwicklungsländer und die Schwellenländersind ohne Zweifel die Gewinner der Konferenz. DasWTO-Entwicklungspaket mit seinen Zusagen im Agrar-bereich ist ein deutliches Signal dafür. Man hätte sichauch ein anderes Ergebnis vorstellen können, aber das istbei solchen Verhandlungen immer so. Ich denke, dassDeutschland bzw. Europa einen wirklich wichtigen Bei-trag zur Fortsetzung dieses multilateralen Prozesses ge-leistet hat. Auf diesen multilateralen Prozess werdengroße Hoffnungen gesetzt; denn viele meinen, im Rah-men der WTO in mehrere Themen gleichzeitig Bewe-gung bringen zu können. Machen wir uns also nichtsvor: Die Frage, ob ein Abschluss dieser Runde erreichtwird oder nicht, hat ganz wesentlichen Einfluss darauf,ob die Fortsetzung dieses Prozesses gefährdet ist und ervielleicht sogar zum Stillstand kommt.Die Konsequenzen hätten übrigens nicht nur die star-ken Industrieländer, sondern in zunehmendem Maße– man muss nur nach Asien schauen – auch die Schwel-lenländer zu tragen, da ihr Vorgehen bilateral und regio-nal geprägt ist und sie ihr Heil dort suchen, wo sie imRahmen von Einzelvereinbarungen Vorteile für sich er-zielen können. Dabei handelt es sich um Regelungen,von denen immer der Stärkere profitiert, weil dort andersentschieden wird als im multilateralen Bereich und einSchutz kleinerer Länder nicht existiert.Deutschland muss auch weiterhin substanzielleMarktöffnungen der Schwellenländer und weitereLiberalisierungen im Bereich der Industriegüter undDienstleistungsmärkte einfordern; denn diese Themenberühren ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland,in dem der Anteil des Exports am Bruttoinlandsprodukt40 Prozent beträgt, existenziell. Bei allen Neigungenund allen Bestrebungen, alles zu unterstützen, wodurchdie Entwicklungsländer in den multilateralen Handels-prozess sinnvoll integriert werden, dürfen wir diese Inte-ressen nicht vergessen.
Ich erteile nun das Wort Kollegin Gudrun Kopp,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Da-men! Ich finde, wir sollten das Ergebnis der letztenWTO-Konferenz in Hongkong realistisch einschätzen.Lieber Kollege Fritz, nach meiner Einschätzung steht dieDoha-Entwicklungsrunde unter keinem guten Stern.Wenn wir realistisch auf das Ergebnis blicken, könnenwir eigentlich nur feststellen, dass das zustande ge-brachte Ergebnis ein Minimalergebnis ist. Es ist so ebengelungen, dass diese Konferenz nicht geplatzt ist, wiedie zuvor in Cancún. Das muss uns alle mit Sorge erfül-len.Dieser große Tanker WTO mit seinen 150 Mitglied-staaten und dem Konsensprinzip ist anscheinend nurnsdnrszwlePmetusrEzDtfuKNaRrkrEtgmügDtlWDgnKsGthass
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ies müssen wir meines Erachtens respektieren. Ichage das auch aus einer ökonomischen Vernunft heraus,eil nur der dauerhaft ein guter Partner sein kann, derigene ökonomische Ressourcen entwickelt und der da-it ein wirklicher Handelspartner unseres Landes oderer Europäischen Union wird.
Sie haben Recht: Das, was erreicht worden ist, istoch nicht das, was wir uns alle vorstellen, aber es istoch ein wichtiger weiterer Schritt in die Richtung getanorden, den Entwicklungsländern den Zugang zu denuropäischen Märkten zu verschaffen. Insbesondere be-ogen auf landwirtschaftliche Produkte sei hier ange-erkt: Deutschland hat sich bei den Partnern in Frank-eich, in Italien und in Spanien, also den Ländern, dieber große landwirtschaftliche Kapazitäten verfügen,afür stark gemacht, dass in Europa die Toleranz gegen-ber der Einführung der Produkte aus den Entwicklungs-ändern nach Europa größer wird.Wann immer wir in der vergangenen Wahlperiode inen Ländern unterwegs waren, habe ich selbst darauferwiesen, dass sie mit Deutschland einen Partner ha-en, der ihr Interesse respektiert, eigene Produkte in dieuropäische Union einzubringen, was insbesondere fürie Ärmeren auch zugangs- und zollfrei geschehen soll.ch finde, hier spielt Deutschland eine wichtige Rolle.
Ich werde Ihnen sagen, was wir dafür bekommen. Dasst auch das Anliegen, das ich eingangs ansprach: Selbst-erständlich wollen wir damit auch erreichen, dass diechwellen bzw. Hürden in den genannten Bereichen In-ustrieproduktionen und Dienstleistungen weiter ge-enkt werden. Ich habe es so verstanden, dass darumicht nur in den letzten Jahren, sondern auch bei letzterelegenheit in Hongkong gestritten worden ist.Ich finde jedenfalls, dass dieser Weg, hier eine ge-isse Balance zu finden, richtig ist, wobei ich noch
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Dr. Ditmar Staffelteinmal betone: Es stellt sich die Frage, wer ebenso be-lastbar ist, wie wir es sein könnten, und wer es nicht ist.Deshalb geht es hier immer auch um ein sehr differen-ziertes Bild, das sich je nach dem Entwicklungsstandeinzelner Länder, mit denen wir innerhalb der WTO überVorzugskonditionen – so nenne ich es einmal – wegenihrer noch nicht entsprechenden strukturellen Entwick-lung reden, ständig ändern muss.Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesemZusammenhang will ich auch noch einmal ein Wort zuIhrem Ausdruck „der große Tanker WTO“ sagen. DieAlternative wäre ein Sammelsurium bilateraler Abkom-men, bei dem jeder in dieser Welt täte, was er wollte,ohne dass es die entsprechenden Auflagen gäbe, Büro-kratie abzubauen, in die Richtung von Good Governancezu gehen und insbesondere auch gegen Korruption undfür Transparenz einzutreten. Wenn ich sehe, was alleineim Bereich der deutschen Entwicklungshilfe auf diesemWege getan wird, dann muss ich sagen, dass das eineganz hervorragende Arbeit ist, die nur denkbar ist, weilwir den Fuß auch über die WTO und nicht nur über bila-terale Abkommen der Bundesrepublik Deutschland mitdiesen Ländern in der Tür haben.Die internationale Staatengemeinschaft spielt auch imBereich der Weltwirtschaft eine ganz wichtige und, wiewir alle hoffen, auf Dauer auch demokratisierende Rolle:Soziale Marktwirtschaft und Demokratie gemeinsammüssen dazu führen, dass auch in diesen Ländern Pros-perität möglich wird. Dazu wollen wir allesamt einenwichtigen Beitrag leisten.Ich betone an dieser Stelle noch einmal ganz aus-drücklich: Wir wünschten uns, dass sich auch unsereamerikanischen Freunde mal ein bisschen stärker aufden Weg machen würden. Das, was wir bei der Baum-wolle erleben, ist eben auch wieder nur ein kleinerSchritt in die richtige Richtung. Man muss ein befreun-detes Land mit einer solchen Verantwortung, wie es dieVereinigten Staaten von Amerika darstellen, immerwieder beim Portepee fassen und sagen: Leute, ihr könntDritten nicht immer die ganz hohen Standards abfordernund selbst minimalistisch nur das tun, was in eurem Inte-resse liegt. – Das kann nicht die Politik eines so großenLandes in dieser Welt bleiben. Hier brauchen wir Bewe-gung.
Reden wir mal gar nicht über die Vorbildfunktion derAmerikaner in Sachen Klimaschutz. Wenn ich mir dasansehe, frage ich mich, wie ich einem kleineren Ent-wicklungsland eigentlich vermitteln soll, dass es vongroßer Bedeutung ist, etwas für das Klima und den Um-weltschutz zu tun, während sich der große Vorzeige-meister in allen Bereichen an nichts hält und das genaueGegenteil dessen tut, was von den übrigen großen Staa-ten und Industrienationen dieser Welt getan wird.
as muss klar gesagt werden. Unter Freunden lässt sichieles noch klarer aussprechen als gegenüber Staaten, zuenen wir ein schwierigeres Verhältnis haben.
laus Uwe Benneter meint, wenn ich das als Kind desmerikanischen Sektors von Berlin sage, dann will dastwas heißen.In jedem Fall sind das Schritte in die richtige Rich-ung gewesen. Wir alle freuen uns, dass wir schon imetzten Jahr beim TRIPS-Abkommen zu Ergebnissenekommen sind. Auch das ist ein entscheidender Punkt.ie Orientierung auf „Everything but arms“ ist ein ge-auso wichtiger Fixpunkt in der weiteren Entwicklung.ir haben also schon Pflöcke eingeschlagen, wenn wiruch noch nicht die Ziele erreicht haben, die wir uns alleünschen.Aus der Sicht der Wirtschaftspolitiker unserer Frak-ion sage ich: Wir dürfen bei aller Verantwortung für dietaaten der Dritten Welt nicht vergessen, dass bei allem,as mit WTO und Export zu tun hat, unsere Arbeits-lätze und unsere Interessen betroffen sind. Dafür müs-en wir in einer geeigneten Weise offensiv eintreten. Ichlaube, dafür hat jeder in der Welt Verständnis. Jeden-alls sollten wir die WTO nicht schlechtreden, sondernir müssen all unseren Verstand, unser Geschick unduch all unsere Anerkennung in der Welt einbringen,ier als eine treibende Kraft in die richtige Richtung wei-erzumachen.Schönen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Hüseyin Aydin, Frak-
ion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebeollegen und Kolleginnen! Nach den Zahlen der UN-rganisation für Landwirtschaft und Ernährung, FAO,eiden in der Welt mehr als 850 Millionen Menschen anhronischer Unterernährung. Jährlich sterben bis zu0 Millionen Menschen an Hunger und dessen Folgen.inter diesen Zahlen verbirgt sich unbeschreiblicheseid; darin sind wir uns hoffentlich einig. Doch worinindet es seine Ursachen? Fallen die Hungernden Miss-rnten und Heuschreckenplagen zum Opfer? Die Ant-ort lautet in aller Regel: Nein!Tatsache ist, dass heute nicht einmal 10 Prozent derungernden in so genannten Katastrophengebieten le-en. Es ist die Armut, die tötet. Über die Hälfte dereltbevölkerung lebt von weniger als 1,72 Euro proag. Es gibt genug Nahrungsmittel auf der Welt. Aber zuiele Menschen haben schlichtweg nicht das Geld, umie sich kaufen zu können. Nein, die Hungertoten fallen
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Hüseyin-Kenan Aydinnicht Naturkatastrophen zum Opfer. Ihr Elend hat einenNamen: Kapitalismus.
Nehmen wir das Beispiel Niger, wo im vergangenenJahr der Hunger grassierte. Uns wurde erzählt, eine Heu-schreckenplage sei daran schuld gewesen. In Wirklich-keit betrug der Ernteausfall gerade einmal 11 Prozent.Doch diese Verknappung reichte aus, um die Preise fürdas Getreide in die Höhe zu treiben. Die Grundnah-rungsmittel wurden für viele Einwohner unerschwing-lich. Folge: Das Getreide wurde in das benachbarte Ni-geria exportiert, wo die Kunden die höheren Preisezahlen konnten. Das ist die Logik des freien Marktes.Diese Logik hat eine Kehrseite. Dem unbeschreibli-chen Elend steht ebenso unbeschreiblicher Reichtum ge-genüber. Die drei reichsten Personen verfügen über mehrReichtum als alle afrikanischen Länder südlich der Sa-hara zusammen. Ein Ölmulti wie BP macht einen Jahres-umsatz, der hundertmal höher ist als der Staatshaushaltdes Ölförderlandes Tschad. Die neoliberale Globalisie-rung treibt den Gegensatz zwischen Arm und Reich aufder Welt in immer obszönere Dimensionen.Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung hat die so genannten Mil-lenniumsziele zu seinem Leitmotiv erklärt. Das ist gutso. Dafür werden sie unsere Unterstützung bekommen.Ein Millenniumsziel ist die Halbierung von Hungerund extremer Armut bis zum Jahr 2015. Leider sind wiraber zehn Jahre, nachdem die FAO dieses Ziel zum ers-ten Mal formuliert hat, nicht weitergekommen. Im Ge-genteil: Seit 1995 hat sich nach Angaben der FAO dieZahl der Hungernden um weitere 28 Millionen Men-schen erhöht. Diese Tatsache wirft einen dunklen Schat-ten auf die bestehende Welthandelsordnung. Die WTObesteht seit zehn Jahren, aber der Hunger nimmt weiterzu. Dieser Zusammenhang ergibt sich aus der Rolle, diedie WTO bislang spielt. Die WTO ist ein System, in demLänder gezwungen werden, Mechanismen zum Schutzder heimischen Wirtschaft abzubauen. Die Wirkungensind verheerend.Nehmen wir etwa das Beispiel Burkina Faso. Bur-kina Faso hat seine Zölle auf Milchprodukte auf5 Prozent gesenkt. Das hat zu dem Ergebnis geführt,dass die einheimische Landwirtschaft gegenüber demexportsubventionierten Milchpulver aus Europa nichtmehr konkurrenzfähig ist. Obwohl 10 Prozent der Be-völkerung von Burkina Faso Milchviehhirten sind, trinktdie Bevölkerung in der Hauptstadt Ouagadougou nurnoch Milch aus dem Pulver von Nestlé, Cowbell oderanderen Multis.Das ist gut für die Profite der großen Konzerne, aberes vernichtet die Existenzgrundlage der afrikanischenViehhirten. Die einzige Lösung besteht darin, den Zollauf Milchprodukte dort wieder anzuheben.In Kenia etwa werden auf Milcheinfuhren und andereagrarische Produkte Zölle in Höhe von 60 Prozent erho-ben. Doch was fordert die laufende WTO-Runde? Ent-wicklungsländer wie Kenia haben bei landwirtschaftli-cZvF–nrndpIdGkwRuggItZdrrddbtzsEdWwdwsAgdd
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Ich weiß nicht, ob das eine Kunst ist. – Auch hier wirdinfach eine Behauptung in die Diskussion geworfen.ür die Wirtschaftspolitiker steht in dem Antrag, dassie Interessen Deutschlands als Exportweltmeister – wiraben erst gestern vernommen, dass Deutschland wiederinen neuen Exportrekord aufgestellt hat; die Exporteollen noch weiter gesteigert werden – ohne Problemeit den Millenniumszielen, mit der Bekämpfung vonrmut und Hunger, in Einklang zu bringen seien. Dasasse alles zusammen und da würden sich überhaupteine Widersprüche ergeben. Das ist Schönfärberei, dasst die Soße der Harmonisierung. Das ist eine sehr guteorderung, aber das passt nicht wirklich zusammen.Es ist ehrlich – das tun wir auch –, über deutschenteressen zu sprechen, etwa über die Vereinfachungehr bürokratischer und sehr kostspieliger Zollverfahren.as ist für alle Seiten von Vorteil. Aber wenn wir esirklich mit den Millenniumszielen ernst meinen undiese nicht nur in Sonntagsreden betonen – Halbierunger Zahl der extrem Armen und der Hungernden –, dannüssen wir auch über aufholende Entwicklung reden.ann kann der Exportweltmeister nicht auf allen Gebie-en Ehrgeiz entfalten und in alle Gebiete expandieren.ann darf man auch nicht der Schweizer allgemeinen
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Thilo HoppeZollreduzierungsformel das Wort reden, laut der über-all radikal die Zölle gesenkt werden sollen. Man räumtzwar Ausnahmen für die LDCs, die allerärmsten Länder,ein. Aber gerade bei Ländern wie zum Beispiel Kenia,die gerade nicht mehr zu diesen allerärmsten Länderngehören, würde es zur Deindustrialisierung führen, wennman die radikale Schweizer Zollsenkungsformel anwen-den würde. Ich bitte daher um eine differenzierte Sicht-weise und warne vor der Soße der Harmonie.Im Gegensatz zu den radikalen Gegnern der WTO,die den ganzen Prozess stoppen und die WTO zerschla-gen wollen, und zwar in einem Moment, in dem sich dieEntwicklungsländer zur G 110 zusammenschließen unddieses Forum nutzen, um mehr Einfluss zu gewinnen,wollen wir, dass die WTO grundlegend reformiertwird. Sie muss sich von dem viel zu einseitigen Liberali-sierungsdogma und dem Freihandelsprinzip, das nichtdifferenziert, befreien. Sie sollte sich viel stärker mitdem UN-System verzahnen, mit den Institutionen, diedie soziale und ökologische Dimension der Globalisie-rung regeln wollen. Sie muss dem Leitbild – da könnteman sich treffen – einer ökologischen und sozialenMarktwirtschaft folgen. Dazu brauchen wir aber einenviel stärkeren Ordnungsrahmen. Den setzt die WTO zur-zeit nicht. Sie folgt einseitig einem Liberalisierungs-dogma.
Sie müsste stärker mit den anderen UN-Organisationenverzahnt werden, mit der UNCTAD, der ILO und mitden internationalen Umweltabkommen. Dann würdeman nicht einer Liberalisierung per se folgen, sonderneiner sozialen und ökologischen Marktwirtschaft, einerGlobalisierung mit menschlichem Antlitz. In diese Rich-tung geht unser Antrag. Ich bitte Sie um Zustimmung.
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Tatsache, dass die Medien nach den WTO-Verhandlungen in Hongkong insbesondere in den Vor-dergrund gestellt haben, dass diese Verhandlungen nichtgescheitert sind, zeigt, wie schwierig das Ganze ist. Eshandelt sich in der Tat um eine Politik der kleinenSchritte.
Das ist etwas, was bei uns in der großen Koalition nichtsNeues ist.Wir haben auf diese Art und Weise die Chance auf ei-nen erfolgreichen Abschluss der Doha-Welthandels-runde gewahrt. Wir bewegen uns in einem Spannungs-verhältnis – das ist heute schon dargestellt worden –zwischen Entwicklungspolitik, Landwirtschaft, IndustrieuiidwzDzMMhgugÜswnSlppsdLshDwFhuUbdsfbdqAvlidgvPl
as ist der Ansatzpunkt, um das strikte do ut des zurück-ustellen und das Ganze vielleicht etwas zu befördern.Nun sage ich aber auch in Richtung der Opposition:an macht es sich zu einfach, wenn man die Präsenz derinister und das Auftreten der Deutschen kritisiert.Wir könnten gern auch eine Debatte über unsere Ver-andlungskompetenz führen oder darüber, wie wir auf-estellt sind: an dieser Stelle europäisch. Vielleicht hatnsere Nation schon viel zu viele Themen aus der Handegeben. Aber das wäre eine andere Debatte. Ich bin derberzeugung, dass sich die EU an diesem Punkt ent-cheidend bewegt hat. Was sich im Bereich der Land-irtschaft getan hat – der Abbau von Exportsubventio-en bis zum Jahr 2013 –, ist ebenfalls kein einfacherchritt. Man muss sehen, dass unsere Landwirte natür-ich einen Anspruch auf Planungssicherheit haben.Ich komme auf das Thema „Exportinteressen und Ex-ortnation Deutschland“ zu sprechen. Als Entwicklungs-olitiker bitte ich, primär nach der entwicklungspoliti-chen Weiterentwicklung zu fragen. Es geht nichtarum, dass die armen Länder ärmer und die reichenänder reicher werden; vielmehr müssen wir das Wohl-tandsgefälle, das auf dieser Welt besteht, im Auge be-alten. Das muss auch ein Anliegen der WTO sein.
ieses Wohlstandsgefälle gefährdet den Frieden. Ent-icklungspolitik ist in diesem Zusammenhang einerage der politischen Vernunft, eine Frage der Sicher-eitspolitik und ein Thema für jeden Christen.Ich war vor kurzem mit Kollegen in Washingtonnd habe dort den Eindruck gewonnen, dass sich dieS-Entwicklungspolitik tatsächlich in unserem Sinneewegt. „Staaten statt Brunnen“, „Samen statt Brot“, mitiesen Schlagworten kann man das umschreiben, wasich da tut. Ich hoffe, dass den Worten dann auch Tatenolgen: dass auf bloße Lebensmittelhilfen, die dem Ab-au von Überschüssen dienen, verzichtet wird. Ich hoffe,ass auch im Rahmen der US-Baumwollpolitik konse-uent gehandelt wird, sodass Exportsubventionen undnbausubventionen abgebaut werden. Dieses Thema iston zentraler Bedeutung für Afrika und für Schwellen-änder wie Brasilien und Indien.Natürlich müssen die Schwellenländer im Gegenzughre Märkte öffnen. Dabei tragen sie Verantwortung fürie Entwicklung anderer. Was die ärmsten Länder an-eht, so muss man bei der Liberalisierung differenziertorgehen. Man muss aufpassen, dass man die zartenflänzchen, die sich entwickeln, nicht durch eine Libera-isierung des Marktes zerstört, und darauf achten, dass
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Dr. Georg Nüßleinsich die wirtschaftliche Entwicklung in den LDCs sinn-voll vollzieht. Das muss das zentrale Anliegen der Ent-wicklungspolitik sein, der eine wohl überlegte und aus-gewogene Marktliberalisierung durchaus gut tut.Mit dem, was man gewinnt, muss man einen Beitragzur Reduzierung von Armut leisten. Das gelingt nurdann, wenn man darauf dringt, dass Sozial- und Umwelt-standards eingeführt werden und dass so etwas wie länd-liche Entwicklung stattfindet. Dabei geht es um die sogenannte Stadt-Land-Verteilung: In den entsprechendenLändern tut sich in den Städten, was Armutsbekämpfungangeht, leider mehr als auf dem Land. Good Gover-nance, so lässt sich zusammenfassen, ist der entschei-dende Ansatzpunkt für die Entwicklungspolitik der Zu-kunft.Noch einen Satz zum Kollegen Aydin von der linkenSeite, den ich vorhin zwar gehört, aber nicht vollständigverstanden habe. – Mir hat vor kurzem jemand die reich-lich naive Frage gestellt: Sind Sie eigentlich für oder ge-gen die Globalisierung? – Ich habe ihm mit einer Gegen-frage geantwortet: Sind Sie eigentlich dafür oderdagegen, dass die Zeit voranschreitet?
Die Realitätsverweigerung, die da links stattfindet,schlägt sich auch in Ihrem Antrag „WTO-Liberalisie-rungsrunde stoppen“ nieder. Es gibt an der Stelle keineAlternativen. Die wirtschaftspolitischen Ansätze und dieKompetenz dieser Seite kennen wir zur Genüge; wir ha-ben sie beim Scheitern der DDR am Schluss erlebt.
– Nein, nein, hier geht es um etwas anderes.
– Ja, gut. „SED-Nachfahren“ sage ich an der Stelle.Wenn man sich vor Augen führt, was von dort geradezum Thema Weltwirtschaft vorgetragen worden ist, kannman auch nichts anderes sagen als: Das ist der Rück-schritt in den Sozialismus, nichts anderes.
Den haben Sie hier heute gefordert. Offenbar meinen Siees auch wirklich so.Im Übrigen würde die Kolleginnen und Kollegenauch interessieren, Herr Aydin, was auf Ihrem Schalsteht. Wir wissen nicht, ob das eine Provokation seinsoll.Wir müssen einen Weg suchen, mit der Globalisie-rung umzugehen, sodass möglichst viele davon profitie-ren und damit leben können. Dafür ist die WTO ein ent-sgFKgdmoKkSttrdbdtrwShlELDdVpDiWuEAg
Nächster Redner ist der Kollege Hellmut Königshaus,
DP-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undollegen! Schon gestern Abend hat uns der Antrag derroßen Koalition zur Doha-Runde erreicht. Diejenigen,ie so Anträge stellen, würde man in der Kirche – um esit dem Kollegen Hoppe zu sagen, der das auf eine the-logische Ebene gehoben hat – „Spätberufene“ nennen.Die inhaltliche Bewertung hat uns heute Morgen derollege Meyer gegeben. Er hat gesagt, gute Anträge er-enne man daran, dass der zuständige Minister da sei.ie können daran also die Bewertung Ihres eigenen An-rags erkennen. Auch der Kollege Meyer, der in dem An-rag als Zweiter genannt ist, ist nicht da. Sie können da-an sehen, wie tief Sie das Thema auch inhaltlich schonurchdrungen haben.
Zur Sache selbst steht auch nichts Neues darin. Einisschen findet sich zur Agrarwirtschaft. Es ist positiv,ass auch Sie das erkennen. Das unterscheidet Ihren An-rag von den Anträgen der anderen Fraktionen.Die Grünen schreiben in ihrem Antrag, Handelslibe-alisierung sei kein Selbstzweck. Jawohl! „Heureka!“ill man rufen; endlich haben sie begriffen, dass es keinelbstzweck ist. Aber sie haben es nicht begriffen. Sieaben insbesondere nicht begriffen, dass Handelslibera-isierung die Voraussetzung für jeden Fortschritt, für dientwicklung und auch für Wohlstand ist.
Was war die Grundlage dafür, dass wir, nachdem dasand am Boden lag, wieder Wohlstand errungen haben?as war die damalige Welthandelsliberalisierung, voner wir ganz besonders profitiert haben, indem wir dieolkswagen exportieren konnten usw. Davon leben undrofitieren wir bis heute.
as Gegenteil dieser globalisierungskritischen Thesenst also richtig. Die Öffnung eigener Märkte führt zuohlstand, Bildung, Gesundheit und Rechtssicherheit,nd zwar überall auf der Welt, auch und gerade in denntwicklungsländern.Wenn ich das richtig verstanden habe, Herr Kollegeydin, möchte die Linke offenkundig den Welthandelleich ganz einstellen,
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Hellmut Königshaus
um, wenn ich das einmal zitieren darf, „Importfluten“ zuverhindern. Entwicklungsländer, so sagen Sie, bräuchtendie Zölle, um sich durch die Einnahmen zu finanzieren.Dazu kann ich nur sagen: Heilige Einfalt! Um wie vielhöher wären denn die Einnahmen dieser Länder, wennsie auf solche Zölle verzichteten und sich endlich demfreien Handel öffneten, und zwar auch zwischen denEntwicklungsländern? Alles dies sagen Sie nicht.
Interessant ist auch, dass nach Ihrer Analyse vomWelthandel offenbar überhaupt niemand mehr profitiert,sondern langfristig alle verarmen. Da fehlen einemschon die Worte. Früher hatten Sie in Ihrem Weltbildwenigstens noch Schurken. Jetzt haben Sie nur nochDeppen. Das ist wirklich unter Ihrem ideologischen Ni-veau, meine Damen und Herren.
Auch die Grünen sind sehr apart. Sie fordern, Han-delshemmnisse abzuschaffen – das finde ich sehr nett –,aber nur für Umwelttechnologie und Umweltdienstleis-tungen. Warum eigentlich nur dort? Überall – das ist dasGebot der Stunde – müssen wir den Freihandel verstär-ken.Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Wir mei-nen, dass für den Handel freie Bahn geschaffen werdensoll. Damit ermöglichen wir Wohlstand und Prosperität,nicht durch Gängelei und kleinlichen Aufbau von Han-delshemmnissen.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Sascha Raabe, SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Lieber Kollege Königshaus, Sie haben geradegesagt, gute Anträge erkenne man daran, dass ein Minis-ter anwesend sei. Unsere Ministerin HeidemarieWieczorek-Zeul ist anwesend. Das zeigt Ihnen, dass un-ser Antrag und unsere Ministerin gut sind.
Es geht hier nicht – daran sollten wir uns erinnern –um einen rein wirtschaftspolitischen Antrag, für den nurdie Wirtschaftspolitik zuständig wäre. Ein wichtiges Zei-chen dafür ist, dass auch unsere Ministerin für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung anwesendist. Die Doha-Handelsrunde ist eine Entwicklungsrunde.Dieser Anspruch ist bei den Wirtschaftsmächten imSeptember 2001, nach den Anschlägen auf das WorldTrade Center, entstanden – zu Recht, hatte man doch dasGmbMlsgdpidtuwdAuDhDÜaKaDdvwDRdwgemIsnihaWvvLEaEAre
Während fast die Hälfte der Menschheit von wenigerls 2 US-Dollar pro Tag leben muss, wird jede Kuh inuropa mit mehr als 2 US-Dollar pro Tag subventioniert.ber – auch das muss man sagen – nachdem die Konfe-enz in Cancún im Jahr 2003 noch an diesen Agrar-xportsubventionsfragen gescheitert ist, hat die
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1136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Dr. Sascha RaabeEuropäische Union aus ihren Fehlern ein Stück weit ge-lernt. Mit Unterstützung des Deutschen Bundestagesdurch die Beschlüsse in der letzten Legislaturperiode,aber auch durch das Engagement unserer Bundesregie-rung, nicht zuletzt in Genf im Juli 2004, hat man sicherstmals darauf geeinigt, die Exportsubventionen auslau-fen zu lassen. langes Ringen. Schließlich hat man einDatum für das Ende der Agrarexportsubventionen fest-gelegt.Frau Kopp, Sie haben den Einsatz der Minister be-mängelt. Ich will Ihnen sagen, dass Frau Wieczorek-Zeul vor Ort war und dass sie für das Ende der Baum-woll- und Agrarexportsubventionen gekämpft hat. Ichbin froh, dass die Bundesregierung ihr Ziel erreicht hatund man übereingekommen ist, die Agrarexportsubven-tionen bis 2013 endgültig abzuschaffen.Ich mache keinen Hehl daraus, dass dieser Zeitpunktaus entwicklungspolitischer Sicht natürlich etwas frühereintreten könnte. Auf der anderen Seite haben wir jahr-zehntelang diese Forderung erhoben. Man sollte daherdas, was erreicht worden ist, würdigen. Die Baumwoll-exportsubventionen sollen bereits ab diesem Jahr gestri-chen werden. Leider sind die internen Baumwollstützun-gen davon nicht betroffen, die ein Vielfaches ausmachenund für die wir jetzt noch Regelungen finden müssen.Ebenso positiv ist es, dass wir die USA und Schwel-lenländer wie Brasilien dazu gebracht haben, den ärms-ten Entwicklungsländern im Rahmen der Initiative„Alles außer Waffen“ den quoten- und zollfreienMarktzugang einzuräumen. Hier gibt es noch eine 3-Pro-zent-Ausnahmeregelung. Diese Lücke hätten wir gernegeschlossen, damit davon am Ende nicht gerade die Pro-dukte betroffen sind, die für Entwicklungsländer beson-ders wichtig sind. Es ist trotzdem ein Fortschritt, dasswir diese Regelungen haben.Vor Hongkong haben wir auch noch eine Einigungbei TRIPS erreicht, nach der die ärmeren Länder einenverbesserten Zugang zu Generika haben. Die Idee, Pa-tienten und nicht Patente zu schützen, hat sich durchge-setzt. Das ist ein Meilenstein im Kampf gegen die Aids-Pandemie. Diesen Fortschritt können wir gar nicht hochgenug einschätzen.
Wir haben es in Hongkong mit dem „Aid for Trade“-Paket geschafft, die Handelsinfrastruktur der Entwick-lungsländer zu stärken. Auch wenn ein Kollege vorhinmeinte, dass die Handelskapazitäten der Entwicklungs-länder schon ausreichen, muss ich sagen: Es gibt nochviele Entwicklungsländer, die zusätzliches Know-howbrauchen, um bei den Verhandlungen mitreden zu kön-nen. Die Bundesregierung leistet hier eine der höchstenBeitragszahlungen im internationalen Bereich. Auch dasist ein wichtiger Schritt.
Was ist jetzt noch zu tun? Beim Marktzugang habenwir – das betrifft nicht nur Deutschland – in Bezug aufdnlAtvwMaAgeitatbvlvtEesAdEsddwmdmNuwnHcddhEhfSdzD
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zum Antrager FDP sagen. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass Sieie Umwelt- und Sozialstandards nicht festgeschriebenaben wollen. Zum einen gibt es sicherlich die Angst derntwicklungsländer vor Protektionismus. Zum anderenalten wir als Sozialdemokraten – da spreche ich auchür die Christdemokraten – es für ganz wichtig, dass esozialstandards gibt. Denn wir wollen, dass nicht nuren Eliten in den Entwicklungsländern Handelsgewinneugute kommen, sondern auch den ärmsten Menschen.eswegen und damit es auf der ganzen Welt keine Skla-
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Dr. Sascha Raabeven- und keine Kinderarbeit mehr gibt, brauchen wir So-zialstandards.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme jetzt zum Ende. – Folgendes möchte ich
noch sagen: Herr Hoppe hat mit Blick auf unseren An-
trag ausgeführt, dass die Interessen Deutschlands nur
schwer mit den Interessen der Entwicklungsländer zu
verbinden seien.
Herr Kollege, Sie können nur noch einen Schlusssatz
sagen.
Kollege Staffelt hat genau das Richtige gesagt: Wenn
wir Hunger und Armut in aller Welt überwinden, dann
hilft das uns als Exportnation, weil die Menschen nicht
mehr arm sind und sich endlich mehr als nur das tägliche
Brot, also auch unsere Produkte, kaufen können. So kön-
nen sie fair am Handel teilhaben und einen besseren Le-
bensstandard erreichen. Deswegen: Gerechter Handel
nutzt allen!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Erich
Fritz, CDU/CSU-Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Ich habe mich extra deshalbein zweites Mal gemeldet, weil Sie jetzt präsidieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass ich zum zweitenMal in dieser Debatte am Rednerpult stehe, hat eineneinfachen Grund: Man muss auf das reagieren, was HerrAydin vorgetragen hat.Was den Vorwurf angeht, den Sie, Herr Königshaus,mit Blick auf den Minister vorgebracht haben: Es gehtuns mit unseren Anträgen gerade darum, die Debatte insParlament und damit in die Öffentlichkeit zu tragen. In-ternationale Verhandlungen sind nämlich per defini-tionem gouvernementale Prozesse. Dass wir zu einersolchen Konferenz mitfahren, hat damit zu tun, dass wirdeutlich erklären wollen, dass dieses Parlament an die-sen Prozessen beteiligt ist. Denn wir wissen: Daraus ent-steht eine internationale Rechtsetzung. Wir haben sie zuverantworten und die Folgen gegenüber den Bürgern zuvertreten. Deshalb müssen wir hier diskutieren und da-hdphMtedDaSklidkSUdfdzgFdzMtEEDmhWdtwvbslVsAd
rst dann hängt es vom Regelsystem ab.Natürlich wissen wir, dass wir Raum für die eigenentwicklung geben müssen, dass es dafür Special andifferential Treatments, also angepasste Regeln, gebenuss. Natürlich haben wir die Beispiele der Länder, dieeute Schwellenländer sind oder bereits einen gewissenohlstand erreicht haben, vor Augen. Natürlich habenie Koreaner erst Schutzmauern gebaut und sich dahin-er entwickelt. Aber sie haben dann auch gemerkt: Ent-icklung vollzieht sich nur, wenn man in Menschen in-estiert. Das koreanische Wunder – wenn man es soezeichnen will – ist nur deshalb möglich, weil Men-chen durch Bildung, Wissenschaft, Forschung, Techno-ogie, ein besseres Gesundheitssystem und Freiheit dieoraussetzungen dafür bekommen haben, dass sie sichelbst entwickeln konnten.
ls sie wirtschaftlich frei wurden, haben sie sich auchie politische Freiheit erstritten.
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Erich G. FritzWeltmarktfähig sind die Produkte Koreas erst in demAugenblick geworden, als sich Korea dem internationa-len Wettbewerb geöffnet hat. Deshalb geht es um dierichtige Balance zwischen den einzelnen Aspekten. DieWTO ist dabei nur ein Aspekt. Der Nachteil für uns da-bei ist, dass die internationalen Organisationen mit Blickauf eine soziale Marktwirtschaft, wie sie von HerrnHoppe angesprochen wurde, oder auf eine Politik derNachhaltigkeit zu unterschiedlich aufgestellt sind.
Die WTO kann Gott sei Dank Vorgaben durchsetzen; dieILO kann Sozialstandards nicht durchsetzen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten.
Entschuldigung, Frau Präsidentin. – Die UN-Umwelt-
organisation ist gespalten. Das heißt, die für die ange-
sprochenen Aspekte zuständigen internationalen Organi-
sationen sind nicht gleichwertig. Deshalb muss das
international zusammengeführt werden. Daran lassen
Sie uns arbeiten, anstatt solche populistischen Reden zu
halten, wie Sie es getan haben!
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/556
mit dem Titel „Erfolgreichen Abschluss der laufenden
Doha-Welthandelsrunde bis Ende 2006 sicherstellen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von
SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/564 mit dem Titel „Multilaterales
Handelssystem retten – WTO stärken“. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU,
des Bündnisses 90/Die Grünen, der SPD und der Frak-
tion Die Linke abgelehnt.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/449 mit dem Titel „WTO-Liberali-
sierungsrunde stoppen“. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der An-
trag ist mit den Stimmen von SPD, des Bündnisses 90/
Die Grünen, von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 16 d: Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie auf Drucksache 16/572 zu dem Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Hongkong als Zwischenschritt einer fairen und ent-
wicklungsorientierten Welthandelsrunde“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, den
Antrag auf Drucksache 16/86 abzulehnen. Wer stimmt
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Zweiter Punkt. Wir müssen die Mobilitätsfrage sehrviel stärker in die Raumordnung, in die Siedlungspolitikintegrieren. Vieles ist eine Frage der intelligenten Pla-nung und der intelligenten Vernetzung. Das ist derzweite wichtige Punkt.Drittens. Ich glaube, dass die Informations- und Kom-munikationstechnologien viele Chancen für eine intelli-gente Ressourcenwirtschaft, also für eine Umweltver-träglichkeit eröffnen. Auch hier kann man mehr tun. Ichsehe hier übrigens einen der größten Märkte in der Welt.Eine ökologisch ausgerichtete Industrieproduktion inEuropa hat gewaltige Chancen in der Globalisierung, diewir nutzen sollten. Es ist kein Gegensatz, es ist eineChance.
Viertens und letztens sollten wir immer darüber nach-denken, ob nicht all die Mechanismen, die Anreize zurVerkehrserzeugung, korrigiert werden können. Einenersten Schritt haben wir in der Koalitionsvereinbarungmit der Streichung der Eigenheimzulage getan. Es gibthier weitere Punkte, über die wir nachdenken sollten.Meine Damen und Herren, ich glaube, die wichtigsteBotschaft ist: Wir sind nicht gegen Mobilität. Mobilitätist ein ganz wichtiges Merkmal einer modernen Gesell-schaft. Aber die eigentliche Frage ist: Welche MobilitätirawFUsdisettkgvwkSndgdWGfErhrkgtamwsudMnr
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Aber die Antwort sollte nicht lauten – da bieten wir alsFDP einen anderen Ansatz –, dass wir die Steuern erhö-hen oder die Bemessungsgrundlage ändern, wie im Falleiner vorgeschlagenen CO2-bezogenen Kfz-Steuer. Wirsollten uns vielmehr ganz grundlegende Gedanken ma-chen. Die Kfz-Steuer wirft grundsätzlich Fragen auf. Siestellt zurzeit nur darauf ab, ob man ein Auto besitzt odernicht. Aber sie stellt nicht darauf ab, wie sehr man diesesAuto nutzt. Es macht keinen Unterschied, ob es sich umein Rentnerehepaar handelt, das das Auto in der Garagestehen hat, oder ob das Auto zum Fahren von100 000 Kilometern im Jahr genutzt wird.
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– Vor allem die bayerischen natürlich; genau. – Dadurchkönnte der CO2-Ausstoß deutlich reduziert werden.Selbstverpflichtungen müssen auch weiterhin genutztwerden. Wir haben hier nicht die Ängste, die die Bun-desregierung und der Sachverständigenrat haben.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt Ihren Schlusssatz sa-
gen.
– Ich bin dabei, Frau Präsidentin.
Marktwirtschaftliche Anreize und Innovationen, nicht
Dirigismus und staatliche Vorgaben werden die Mittel
sein, die uns im Sinne einer ökologischen und nachhalti-
gen Entwicklung voranbringen.
Herzlichen Dank und Entschuldigung dafür, dass ich
meine Redezeit überzogen habe.
Herr Kollege Meierhofer, auch wenn Sie Ihre Rede-
zeit weidlich ausgenutzt haben, sage ich Ihnen herzli-
chen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede, die Sie heute in
diesem Hohen Hause gehalten haben. Ich wünsche Ihnen
alles, alles Gute!
Nächster Redner ist der Kollege Jens Koeppen, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal darf ich mich ganz herzlich bei Profes-
sor Koch und dem Sachverständigenrat für Umweltfra-
gen bedanken, der das Sondergutachten „Umwelt und
Straßenverkehr“ vorgelegt hat. Das Thema „Umwelt und
Straßenverkehr“ ist in der Tat eines der spannendsten
Themen im Bereich der Umweltpolitik und auch das
Thema, bei dem die meisten Spannungen bestehen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Be-reits im Titel „Hohe Mobilität – UmweltverträglicherVerkehr“ ist ein viel versprechender Ansatz formuliert,sozusagen ein Dauerbrenner jeder verkehrs- und um-weltpolitischen Debatte, der für jede Regierung eineechte Herausforderung darstellt. Es geht um die Frage,wie wir es schaffen, die Mobilität zu stärken und dieUmweltverträglichkeit dabei nicht nur auf dem gleichenNiveau zu halten, sondern sie sogar zu verbessern.Meine Damen und Herren, Straßenverkehr resultiertaus dem Mobilitätsbedürfnis der Menschen wie auch auswirtschaftlichem Wachstum. Er leistet somit einen wich-tigen Beitrag zu unserem hohen Lebensstandard inDgssasgbmgoudpiWpuklfnrwvZasZnzBDcKuebntwe
ir müssen uns ernsthaft fragen, inwieweit die Umwelt-olitik zur Überwindung der wirtschaftlichen Problemenseres Landes beitragen kann. Denn Umweltpolitikann das leisten, vor allen Dingen dann, wenn es uns ge-ingt, sie effektiv und unbürokratisch zu gestalten.Der eine oder andere von Ihnen wird sich vielleichtragen, was ich als Abgeordneter der CDU wohl zu ei-em Gutachten sage, das unter Führung der Vorgänger-egierung bzw. unter Umweltminister Trittin erarbeiteturde und nun von einem SPD-geführten Ministeriumorgestellt wird.
u diesem Thema zu sprechen, ist in der Tat eine sehrnspruchsvolle Aufgabe. Aber grundsätzlich kann ichagen: Die CDU/CSU hat die Umweltpolitik zu keinereit als ideologischen Spielball verstanden, was bei Ih-en leider allzu oft der Fall war.
Darüber wundern wir uns zwar nicht, aber kompli-iert wird es dann, wenn Ihre ideologischen Forderungenestandteil eines Regierungsprogramms werden sollen.enn statt die unterschiedlichen Interessen auszuglei-hen, wurden in den vergangenen sieben Jahren laufendonflikte zwischen Ökologie und Ökonomie geschürtnd Umweltschutz und Wirtschaftspolitik gegen-inander ausgespielt. Wer glaubt, damit Umweltschutzetreiben zu können, der irrt sich. Denn deutsche Unter-ehmen und Wissenschaftler haben sich große Kompe-enzen erworben. Sie sind in der Umwelttechnik welt-eit führend. Das sollte an dieser Stelle auch von Ihneninmal ganz deutlich gewürdigt werden.
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1142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Jens KoeppenDer Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagenund ein hohes Niveau des Umweltschutzes gehören inDeutschland und übrigens auch für die CDU/CSU seitlangem zum gesellschaftlichen Selbstverständnis. Es istnur so, dass die Umweltpolitik in Deutschland in denvergangenen Jahren oftmals als Wachstums- und Inno-vationshemmnis wahrgenommen wurde. Für viele Bür-ger und Unternehmen ist die Umweltpolitik einfach zukompliziert, zu teuer und zu bürokratisch geworden.Umweltpolitik muss aber effektiv und vor allen Dingenbürgerfreundlich sein.
Wenn wie im vorliegenden Gutachten Empfehlungenausgesprochen werden wie ein generelles Tempolimitvon 120 km/h auf Autobahnen und 30 km/h innerhalbvon Städten, wenn die Forderung nach einer weiterenErhöhung der Ökosteuer erhoben wird und auch diePKW-Maut salonfähig gemacht wird, dann muss es er-laubt sein, den wirtschaftlichen, aber auch den umwelt-politischen Nutzen solcher Ideen zu hinterfragen.
Die Umweltpolitik war konfrontativ ausgerichtet.Worauf es dagegen ankommt, hat der neue Bundesum-weltminister gesagt:Man kann aus der Atomenergie aussteigen, abereben nicht aus der Industriegesellschaft und demglobalen Wettbewerb.Das kann ich nur unterstreichen. Tatsache ist erstens,dass ein wichtiger Standortvorteil Deutschlands in ei-ner gut ausgebauten und funktionierenden Infrastrukturbesteht. Tatsache ist zweitens, dass wir – ob wir es nunwollen oder nicht – mit einer stetigen Zunahme des Ver-kehrsaufkommens konfrontiert sind. Tatsache ist drit-tens, dass jede Milliarde Euro, die für den Verkehrswege-bau eingesetzt wird, rund 24 000 Arbeitsplätze schafft.Hier und heute geht es vorrangig um die Umwelt. Dochselbst der Bau einer Autobahn kann einen Umweltaspekthaben, wenn dadurch Stauschwerpunkte aufgelöst wer-den.
Nehmen Sie als Beispiel die A 20, die vielen Städten undGemeinden in Mecklenburg-Vorpommern und Branden-burg erhebliche Verbesserungen in Bezug auf Lärm undAbgase gebracht hat.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass die neue Bundesre-gierung verkehrspolitisch die richtigen Weichenstellun-gen vorgenommen hat. Nur ein paar Beispiele: das Ge-setz zur Beschleunigung von Planungsverfahren fürInfrastrukturvorhaben, die Einführung hocheffizienterAntriebe, eine am Schadstoffausstoß orientierte Kfz-Steuer, die Förderung der Entwicklung alternativerKraftstoffe und nicht zuletzt das Programm zur Minde-rung von Lärm entlang von Bundesfernstraßen undSchienen.MKtuldsmwGWetwhRßizsFDlublHgnmWg
Auch Ihnen, Herr Kollege, herzlichen Glückwunsch
u Ihrer ersten Rede hier in diesem Hohen Hause! Per-
önlich und politisch alles Gute!
Nächster Redner ist der Kollege Lutz Heilmann,
raktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!as Gutachten des Sachverständigenrates benennt sämt-iche Probleme, die durch den Straßenverkehr entstehennd die zum Teil eine massive Einschränkung der Le-ensqualität der Menschen zur Folge haben. Ich appel-iere an die Bundesregierung, sich diese Probleme zuerzen zu nehmen und sich deren Lösung zu einem urei-enen Anliegen zu machen. Die Menschen werden es Ih-en danken.Leider verkümmert die Verkehrspolitik aber immerehr zu einem Wurmfortsatz der Wirtschaftspolitik.ichtige Probleme werden im Verkehrsministeriumanz ausgeblendet oder nur halbherzig angegangen.
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Lutz HeilmannLassen Sie mich zwei Themen des Gutachtens he-rausgreifen.Über den Klimawandel wurde in diesem Hohen Hausbereits viel gesprochen. Wo allerdings ist der Beitrag desStraßenverkehrs zur Senkung der Kohlendioxidemis-sionen? Hier geht es nicht um Peanuts, sondern um im-merhin 20 Prozent der deutschen Emissionen. Derleichte Rückgang der letzten Jahre ist mehr auf denTanktourismus und die hohe Arbeitslosigkeit als auf dieÖkosteuer zurückzuführen. Diese wurde gerade nicht ineine Gesamtstrategie mit einer Vielzahl sich ergänzenderMaßnahmen eingebettet, was für eine wirksame Vermei-dung der Probleme erforderlich wäre, wie der Sachver-ständigenrat feststellt.Die Liste der Versäumnisse von Rot-Grün ist entspre-chend lang. Einige Beispiele:Erstens. Beim Bundesverkehrswegeplan 2003 wirdfröhlich dem Verkehrsbedarf hinterhergebaut. Anhaltendhohe CO2-Emissionen werden billigend in Kauf genom-men.Zweitens. Die EU-Richtlinie zur Verbrauchskenn-zeichnung bei PKW wurde so unverständlich wie nurmöglich umgesetzt, sodass es so gut wie keine Auswir-kung auf die Kaufentscheidung der Bürgerinnen undBürger für sparsame Fahrzeuge gibt.Drittens. Besonders blamabel für die Grünen ist es,wenn nun ausgerechnet die neue schwarz-rote Regierungdie längst überfällige Kfz-Steuerreform durchsetzt undden CO2-Ausstoß als Bemessungsgrundlage einführt.
Werte Kolleginnen und Kollegen, ein erschreckender-weise in der Öffentlichkeit fast völlig vergessenes Pro-blem ist die Verkehrssicherheit. Zu Recht beklagen wirdie Opfer von Katastrophen wie kürzlich beim Fährun-glück im Roten Meer. Aber ich frage Sie: Wer tut etwasgegen die Umstände, die fast 6 000 Menschen in derBundesrepublik Deutschland jährlich im Straßenverkehrdas Leben kosten? Nicht zu vergessen sind ebenso die450 000 Verletzten, darunter 80 000 Schwerverletzte, de-ren Leben teilweise dauerhaft beeinträchtigt wird.So begrüßenswert es auch ist, dass diese Zahlen rück-läufig sind: Jeder Verkehrstote ist einer zu viel! Deshalbfordere ich die Bundesregierung auf, sich ein Beispiel anStaaten wie Schweden und der Schweiz zu nehmen, diemit Erfolg das anspruchsvolle Konzept einer Vision Zeroverfolgen. Eine solche Vision von null Toten undSchwerverletzten im Straßenverkehr müsste eigentlicheine Selbstverständlichkeit sein. Alle politischen Ent-scheidungen und bestehenden Gesetze müssen im Hin-blick auf den Schutz des menschlichen Lebens geprüftund angepasst werden.
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1144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006 1145
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Dies bedeutet weniger Verkehr, weniger Belastung fürUmwelt und Gesundheit und weniger Mobilitätshinder-nisse, etwa in Form von Staus.Wir sind uns bewusst: Es gibt keinen Königsweg, deruns zu dem Ziel eines umweltverträglichen Straßenver-kehrs führt. Verkehrsvermeidung, Verkehrsverlage-rskFlizl–gulwsbsVkrößslnnuujmwwzl
Frau Präsidentin, ich möchte noch kurz auf die Mög-ichkeiten von Verkehrsverlagerungen, zum Beispielwen wundert es – von der Straße auf die Schiene, ein-ehen. In dem Gutachten wird hier insgesamt wenigermweltentlastende Wirkung bescheinigt, aber ausdrück-ich auf die Bedeutung in bestimmten Bereichen hinge-iesen, zum Beispiel durch den Ausbau des europäi-chen Eisenbahnhochgeschwindigkeitsnetzes. Er kannis zum Jahr 2020 im Personenfernverkehr einen Um-tieg von sage und schreibe 67 Prozent bewirken. Derizepräsident der EU-Kommission, Herr Barrot, hat sichürzlich im Europasaal erneut für die Verbindung Pa-is–München–Budapest ausgesprochen.Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der Bahn- und derffentliche Personennahverkehr gegenüber dem Stra-enverkehr wesentliche Vorteile für die Umwelt aufwei-en. Eine Verlagerung ist nicht nur grundsätzlich mög-ich, sondern auch anzustreben. Wirksam wird sie aberur im Zusammenspiel mit den anderen Instrumenten ei-er Verkehrspolitik, die an Umweltzielen orientiert ist.Der wichtigste Faktor ist nach wie vor der Bürger,nd zwar jeder einzelne.
Herr Kollege!
Dies beginnt bei der Wahl des mobilen Fortkommens
nd endet beim umweltpolitischen Denken hinsichtlich
eglicher Fortbewegung.
Zum Schluss –
Danke, Herr Kollege.
– meiner ersten Rede vor diesem Hohen Hauseöchte ich anmerken, dass ich sehr optimistisch bin,as die künftige Verträglichkeit von Verkehrs- und Um-eltpolitik angeht. Beide Ministerien werden nun in so-ialdemokratischer Verantwortung geführt, was sicher-ich zu erheblichen Synergieeffekten führen wird.Herzlichen Dank.
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1146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Herr Kollege, Sie haben schon darauf hingewiesen:
Es war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Herzli-
chen Glückwunsch und alles Gute!
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5900 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der LINKEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
– Drucksache 16/451 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Frank Spieth, Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir wollen mit dem vorliegenden Antrag eine
Debatte über Fehlsteuerungen im Gesundheitswesen er-
öffnen und mit der Eintrittsgebühr, der so genannten
Praxisgebühr, beginnen. Die Gebühr für die Inan-
spruchnahme eines an der ambulanten ärztlichen, zahn-
ärztlichen oder psychotherapeutischen Versorgung teil-
nehmenden Leistungserbringers, also die Praxisgebühr,
verursacht nach unserer Auffassung eine vom Gesetzge-
ber nicht beabsichtigte Fehlsteuerung im Gesundheits-
wesen.
Insbesondere die Nichtinanspruchnahme von notwen-
digen medizinischen Leistungen durch sozial schwä-
chere Bürgerinnen und Bürger – dies wird durch eine
Reihe von Studien belegt – erscheint als problematisch,
weil in dieser Bevölkerungsgruppe die Todes- und die
Erkrankungsraten überproportional hoch sind. Zwar
werden – in absoluten Zahlen – die notwendigen Arztbe-
suche weiterhin gemacht; die Arztkontakte zur Präven-
tion und bei so genannten Bagatellerkrankungen sind je-
doch bei den unteren Einkommensklassen stark
zurückgegangen. Dies führt allen Untersuchungen zu-
folge zu einer unzureichenden Früherkennung und zur
Verschleppung von Krankheiten, was wiederum lang-
fristig zu deutlich erhöhten Kosten im Gesundheitssys-
tem führen wird. Darüber hinaus wird nach unserer Auf-
fassung durch die Praxisgebühr der Gleichheitsgrundsatz
zum Nachteil von Bürgern in niedrigen Einkommens-
klassen verletzt.
Das Prinzip der solidarischen Krankenversiche-
rung, wonach junge für alte, gesunde für kranke und rei-
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hre Politik basiert auf fehlerhaften Annahmen. Sie zie-
en völlig falsche Schlüsse. Mir graust schon etwas vor
em, was auf uns in den nächsten Tagen und Wochen zu-
ommt. Die Hauptprobleme der sozialstaatlichen Siche-
ungssysteme bestehen nicht in der Leistungsinan-
pruchnahme, sondern in der Finanzierung und in der
atsache, dass die Arbeitslöhne zunehmend sinken, wäh-
end gleichzeitig die Vermögenseinkommen steigen.
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit deutlich über-
chritten.
Ich komme zum Ende. – Wir meinen, dass die Ab-chaffung der „Eintrittsgebühr“ ein erster Schritt zurücku einer sozialen und solidarischen Krankenversiche-ung ist. Wir bitten Sie deshalb um Zustimmung zu unse-em Gesetzentwurf.Besten Dank.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Koschorrek, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen! MeineHerren! Die Linken stellen hier einen Antrag, der wiedereinmal ihre erhebliche Distanz zu Wirklichkeit undMachbarkeit unterstreicht,
und das noch nicht einmal konsequent. Warum nichtgleich alle Zuzahlungen auf einmal abschaffen? DasGeld dafür druckt sich ja bekanntlich von allein.Die Fraktion der Linken fordert in dem vorliegendenAntrag die Streichung der Praxisgebühr in Höhe von10 Euro pro Quartal für gesetzlich versicherte Patienten.Sie fordert dies mit der Behauptung, dass die Praxisge-bühr Patienten mit schlechtem Gesundheitszustand undmit besonders geringem Einkommen von der medizini-schen Versorgung ausgrenze. Dies ist in meinen Augenflachster Populismus in postsozialistischer Reinkultur.
Die Realität ist: Niemand braucht in Deutschland aufden Arztbesuch und die Inanspruchnahme qualifiziertermedizinischer Hilfe zu verzichten, weil er das Geld fürdie Praxisgebühr nicht aufbringen kann.
Im Jahre 2004 waren 6 643 362 erwachsene Patientenvon der Praxisgebühr und den Zuzahlungen, die über diegesetzlich festgelegte Belastungsgrenze hinausgingen,befreit.
Hinzu kommen über 12 Millionen Kinder, die gänzlichvon Gebühren und Zuzahlungen befreit sind.Die Linken beziehen sich zur Begründung ihres An-trags auf Abschaffung der Praxisgebühr auf den so ge-nannten Gesundheitsmonitor der Bertelsmann-Stiftungvon September 2005. Die Ergebnisse lauten: In den un-tersten Einkommensgruppen ist der Anteil der Menschenam größten, die sich ohne ärztliche Hilfe selbst kurieren.Befragte mit den höchsten Einkommen zeigten die Ten-denz, Arztbesuche zeitlich aufzuschieben. Vor allem diesehr große Gruppe der Befragten mit entzündlichen Ge-lenkerkrankungen reduzierten die Zahl ihrer Arztbesu-che seit dem Frühjahr 2004 um 16 Prozent. Es wird dasFazit gezogen:Das Ziel, die Wirkung der Praxisgebühr weitgehendvom Einkommen unabhängig zu gestalten, scheintnicht vollständig erreicht worden zu sein.Zu einem ganz anderen Ergebnis kommt allerdingsdie Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK, dasbrUövddPvsüHfnptdsnmhngdfWlFrxkrSUwBWdguBbattlhlaB
nter Umständen müssen wir auch darüber nachdenken,elche weiteren Hilfestellungen die Krankenkassen denetroffenen geben können. Eines ist aber unbestreitbar:ir haben im GMG dafür gesorgt, dass niemand durchie Zahlung von Praxisgebühr oder anderen Zuzahlun-en für die medizinische Versorgung überfordert wird.
Ich will noch einmal in Erinnerung rufen: Vorsorge-ntersuchungen sind ebenso wie Untersuchungen undehandlungen von Kindern gänzlich von der Praxisge-ühr ausgenommen. Es ist daher kein Grund gegeben,uch nicht für Geringverdiener, den Arztbesuch zu un-erlassen oder auch nur hinauszuzögern. Die Belas-ungsgrenzen für die Praxisgebühr und Zuzahlungeniegen pro Jahr bei 2 Prozent des jährlichen Bruttohaus-altseinkommens. Für chronisch Kranke beträgt die Be-astungsgrenze – auch für alle mitversicherten Familien-ngehörigen – lediglich 1 Prozent des jährlichenruttohaushaltseinkommens abzüglich aller Freibeträge.
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Dr. Rolf KoschorrekWie die Fraktion der Linken in ihrem Vorschlag zurStreichung der Praxisgebühr feststellt, betrugen die Ein-nahmen durch die Praxisgebühr im Jahr 2005 1,68 Mil-liarden Euro. Das sind 1,68 Milliarden Euro Entlastungfür die Krankenkassen. Das heißt auch: Eine Abschaf-fung der Praxisgebühr würde eine Finanzierungslückein der Höhe ebendieser 1,68 Milliarden Euro reißen. Dagreifen Sie zu dem verantwortungslosen und immer wie-der gern gehörten Patentrezept: Sie wollen das Geld ein-fach aus dem Bundeshaushalt nehmen. Der Steuersäckelist ja bekanntlich unerschöpflich.
– Tabaksteuer. – Neue und erhöhte Abgaben sind sichernicht das, was unser Land am dringendsten benötigt. Einwesentliches und wichtiges Ziel unserer Bundesregie-rung ist es, den hoch verschuldeten Bundeshaushalt inOrdnung zu bringen. Die Linken wollen erneut ein Lochaufreißen, neue Schuldenaufnahmen oder neue Steuerer-höhungen notwendig machen. Es interessiert sie wie ge-habt nicht, woher das Geld letztlich kommt. Um hiernicht durchdachte, populistische Forderungen vorzubrin-gen, ignorieren sie, was jedem Verantwortungsbewuss-ten in diesem Land klar ist. Wir müssen die Staatsschul-den, vor allem im Interesse unserer Kinder, reduzieren.
Wieder einmal zeigt sich deutlich, dass Sozialismusüberhaupt nichts mit sozialer Politik zu tun hat.
Die Praxisgebühr ist auch zwei Jahre nach ihrer Ein-führung weder bei Patienten noch bei Ärzten beliebt.
Sie ist eine Gebühr, die niemand gerne zahlt und dieauch kein Arzt gerne von seinen Patienten einzieht.Nach anfänglichen Schwierigkeiten, Widerständen undorganisatorischen Problemen haben sich aber die Ab-läufe inzwischen sehr gut eingespielt. In der Anlauf-phase gab es eine ganze Reihe von schwierigen Fällen,für die im Laufe weniger Wochen praktikable und ak-zeptable Lösungen gefunden wurden. Die Kassenärztli-che Bundesvereinigung hat festgestellt, dass die Zahlder Arztbesuche nach Einführung der Praxisgebühr um10 Prozent gesunken ist. Da die Patientinnen und Patien-ten in Deutschland eine sehr hohe, im internationalenVergleich überdurchschnittlich hohe Kontaktfrequenz zuden Ärzten haben, muss diese Entwicklung für unsdurchaus kein Anlass zur Sorge sein.
Festgestellt wurde auch, dass die Versicherten zuneh-mend den Hausarzt als zentrale Anlaufstelle aufsuchenund die Zahl derjenigen, die direkt einen Facharzt aufsu-chen, geringer wurde.
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Herr Kollege Koschorrek, auch Ihnen herzlichen
lückwunsch zu Ihrer ersten Rede hier in diesem Hohen
ause. Alles Gute!
Das Wort hat der Kollege Detlef Parr, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auchch möchte dem Kollegen Koschorrek noch gratulieren.ch hätte meinen Zwischenruf nicht gemacht, wenn ichewusst hätte, dass es Ihre Jungfernrede ist.
Heute haben wieder Tausende von Arztpraxen hier inerlin und bundesweit geschlossen. Die Ärzteschaft hatie Nase voll. Sie hat die Nase voll, im Krankenhauseiter unbezahlte Überstunden zu machen, sie hat diease voll, in den Praxen zeitweise zum Nulltarif zu ar-eiten, und sie hat die Nase voll, zunehmend mehr Zeitor dem Computer als mit ihren Patienten zu verbringen.
as verstehen mittlerweile alle Betroffenen. Die Pro-este finden in der Öffentlichkeit breite Zustimmung.Manche von Ihnen erinnern sich an den Sommer 2003
ja, ich war auch dabei, Annette –, an die Allparteien-onsensrunde für eine nachhaltige Gesundheits-eform. Horst Seehofer und Ministerin Schmidt forder-en damals vehement zum einen soziale Balance; zumnderen sollte jede gesetzliche Maßnahme auf ihre büro-ratischen Auswirkungen hin überprüft werden. Verein-
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Detlef Parrbartes Ziel: weniger Bürokratie, weniger Reglementie-rung. Herausgekommen ist aus den für Horst Seehoferund Ulla Schmidt erklärtermaßen schönsten Nächstenihres Lebens ein Kind: die Praxisgebühr.
Damit wir uns nicht falsch verstehen, Herr Spahn:Zuzahlungsregelungen in der gesetzlichen Krankenver-sicherung sind notwendig, um Kostenbewusstsein zuschaffen, um Anreize zu setzen, sich möglichst wirt-schaftlich und sparsam zu verhalten. Doch muss das aufdem Rücken der Ärzteschaft ausgetragen werden? Darfeine Praxis zu einem Inkassounternehmen der Kranken-kassen missbraucht werden?Die FDP hat diese Fragen mit ihrem Antrag schon vorzwei Jahren mit einem klaren Nein beantwortet. Wir ha-ben uns in der Konsensrunde – wir tun das bis heute –für eine praktikable, unbürokratische Zuzahlungsrege-lung im ambulanten Bereich im Rahmen der Kostener-stattung eingesetzt.
Wenn wir unser Gesundheitssystem transparenter ma-chen wollen, wenn wir Verhaltensänderungen in Gangsetzen wollen, dann müssen wir von der anonymenChipkarte, vom Sachleistungsprinzip Abschied nehmen.
Es muss endlich Schluss sein mit einer Vollkaskomenta-lität, die Finanzierungsströme in falsche Richtungenlenkt.
Herr Spahn, Ärzte müssen, wie alle anderen Berufsspar-ten auch, ihre Leistungen in Euro und Cent ausweisendürfen – ich denke, da sind wir einer Meinung – undVersicherte müssen präzise wissen, welche Kosten durchInanspruchnahme ärztlicher Leistungen entstehen.Ich wiederhole heute gern unsere Forderung, mit so-zial angemessenen Härtefallregelungen – Herr KollegeKoschorrek hat darauf hingewiesen, in welcher Weisedas schon genutzt wird – im Rahmen der Kostenerstat-tung – hier unterscheiden wir uns – ein wirkungsvollesSteuerungselement zu etablieren, zum Beispiel über pro-zentuale Zuzahlungen, die einen Bezug zu den in An-spruch genommenen Leistungen haben.
Auch die Linke fordert jetzt die Streichung des Arzt-praxeneintrittsgeldes, wie wir vor zwei Jahren. Ziehenunsere beiden Fraktionen nun etwa am gleichen Strang?
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nd wie sehr haben wir mit unserem Misstrauen Rechtehalten! Gesundheitsversorgung nach Haushaltslagearf es nach unserer Überzeugung nicht geben.Nun aber ein Wort an die Linke: Wer Zuzahlungen alsorangetriebene Teilprivatisierung diskreditiert und da-it das Prinzip der Eigenverantwortung völlig aus-lendet, kann nicht mit der Zustimmung der Liberalenechnen.
o richtig der Einsatz für ärmere Bevölkerungsgruppenst – wir dürfen darüber nicht vergessen, dass sich eineesundheitsreform nicht in gleichmachender Sozialro-antik verlieren darf. Gezielte Hilfen für bedürftigeenschen – ja, aber nicht ohne angemessene Eigenbe-eiligung der stärkeren Schultern unserer Gesellschaft.
Herr Spieth, Bismarck ist tot. Wir brauchen dringendndere Vorstellungen zur Gesundheitsreform als die bis-arckschen Grundsätze.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carolaeimann, SPD-Fraktion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben mit der letzten Gesundheitsreformeinen umfassenden Erneuerungsprozess für unser Ge-sundheitssystem eingeleitet. Unser Ziel war und ist, dassolidarische Gesundheitssystem zukunftsfähig zu ma-chen. Die Praxisgebühr war Teil dieser Reform. Sieträgt nicht nur dazu bei, die Gesundheitskosten und dieKassenbeiträge stabil zu halten, sondern sie entfaltetauch wichtige steuernde Wirkungen, die ein gesund-heits- und kostenbewusstes Verhalten der Versichertenfördern.
Leider scheint das Prinzip der Praxisgebühr im Detailnicht überall so bekannt zu sein, wie wir uns das wün-schen. Das legt zumindest der in Teilen sehr populistischformulierte Antrag der Linken zur Abschaffung der Pra-xisgebühr nahe. Deswegen möchte ich noch einmal kurzskizzieren, worum es eigentlich geht.Alle gesetzlich Versicherten haben seit dem 1. Januar2004 pro Quartal beim Erstbesuch eines Arztes, einesZahnarztes oder in der ambulanten Versorgung jeweils10 Euro Praxisgebühr zu entrichten. Ich möchte an die-ser Stelle kurz daran erinnern, dass diese Regelung einKompromiss zwischen den Vorstellungen der Union undder SPD ist; sie ist kein Kind, sondern ein Kompromiss.Die Union wollte seinerzeit eine 10-prozentige Betei-ligung der Patienten für alles.
Wir dagegen wollten ursprünglich den Hausarztbesuchgebührenfrei stellen, um die Lotsenfunktion des Haus-arztes zu stärken. Herausgekommen ist die derzeitigeRegelung zur Praxisgebühr mit den schon angesproche-nen Sozialklauseln. So sind Kinder bis zu 18 Jahren, dieSchwangerenvorsorge und alle Vorsorgeuntersuchungenvon der Praxisgebühr ausgenommen. Es existiert außer-dem eine Zuzahlungsgrenze, die dafür sorgt, dass dieSumme der Zuzahlungen nicht mehr als 2 Prozent desjährlichen Bruttoeinkommens beträgt. Für chronischkranke Menschen liegt die Belastungsgrenze bei 1 Pro-zent.Zudem gab es für die Krankenkassen die Option, ih-ren Versicherten Bonusprogramme oder eine Ermäßi-gung der Praxisgebühr anzubieten, wenn die Versicher-ten an integrierten Versorgungsprogrammen – Stichwort:Disease-Management-Programme, DMP – oder an derhausarztzentrierten Versorgung teilnehmen. Die Kran-kenkassen haben diese Programme angeboten und siewerden von den Versicherten angenommen. Damit wirdbei den Versicherten verstärkt gesundheitsbewusstesVerhalten gefördert. Liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Linken, das sind schon gewünschte Steuerungs-wirkungen der Praxisgebühr, die Sie in Ihrem Antrag be-wusst unterschlagen.
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ie Regelung hat an dieser Stelle eine positive Steue-ungswirkung.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, Sieegründen Ihren Gesetzentwurf damit, dass durch dieraxisgebühr die gesundheitliche Versorgung ärmererevölkerungsgruppen gefährdet sei. Dafür gibt es je-och keine wissenschaftlichen Belege. Richtig ist zwar,ass Anfang 2004, kurz nach Einführung der neuen Re-elung, Geringverdiener infolge der teils heftigen, auchffentlich geführten Debatten in Befragungen angaben,uf den Arztbesuch zu verzichten. Aber inzwischen hatich die Aufregung gelegt und die Zahlen derer, die aufen Arztbesuch verzichten wollen, sind wieder zurück-egangen, wie sich ebenfalls in Befragungen herausge-tellt hat. Diese Entwicklung belegt auch die von Ihnenitierte Bertelsmann-Studie. Leider zitieren Sie nur un-ollständig aus diesem Werk und berücksichtigen das inhrer Begründung nicht. Es hat in den letzten zwei Jah-en folgende Entwicklung gegeben: Die Versicherten ge-en zuerst zum Hausarzt. Sie versuchen, Arztbesucheezielter quartalsweise zu organisieren und die Behand-ung, wenn das möglich ist, in dem jeweiligen Quartalum Abschluss zu bringen. Das ist der gewünschte Ef-ekt, der letztlich geblieben ist.
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Dr. Carola ReimannLassen Sie mich abschließend noch ein Wort zu denKosten sagen, die der Gesetzentwurf verursachenwürde, wenn er umgesetzt würde. Das Streichen derPraxisgebühr würde für die gesetzliche Krankenversi-cherung zu Einnahmeausfällen in Höhe von 2 Milliar-den Euro führen. Wie gesagt, Ihre 1,68 Milliarden Euroliegen deutlich zu niedrig. Da Sie aber auch keine höhe-ren Beiträge wünschen, muss das Geld also aus demBundeshaushalt kommen. Nun ist es aber so, dass mandem Bundeshaushalt bei der momentanen Finanzlagenicht einfach 2 Milliarden Euro entnehmen kann, wennman eine solide und seriöse Haushaltspolitik fortsetzenmöchte. Aber diese Frage scheint bei Ihrem Entwurfnicht so sehr im Vordergrund gestanden zu haben.Kolleginnen und Kollegen, für uns gibt es keinenGrund, die Praxisgebühr zu streichen und ein wichtigesSteuerungselement aus der Hand zu geben. Die Praxis-gebühr wirkt, und zwar anders, als Sie es beschreiben.Ihr Vorschlag, die Praxisgebühr ersatzlos zu streichen,ignoriert nicht nur konsequent die sinnvollen Funktionender Praxisgebühr; er offenbart meiner Ansicht nachebenso ein sehr eindimensionales Verständnis von Ge-sundheitspolitik, denn er dient letztlich lediglich als Ve-hikel für eine populistische Einzelforderung.
Eine Ausgrenzung von Menschen mit geringem Ein-kommen, die Sie hier attestieren, können Sie nicht bele-gen.Vielmehr haben wir mit der Gesundheitsreform dieVoraussetzungen geschaffen, dass unser solidarischesGesundheitssystem weiterhin zuverlässig funktioniert.Denn nur – auch das muss man sagen – ein solidarischesGesundheitssystem garantiert allen, auch den wenigerWohlhabenden, den Zugang zu medizinischen Leistun-gen, und zwar auf dem neuesten Stand der medizini-schen Forschung.Ich danke.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrSpieth, ich könnte es mir einfach machen und sagen,dass der Antrag Ihrer Fraktion billiger Populismus ist;dafür gibt es Hinweise. Ich denke da beispielsweise anIhre Vorschläge zur Gegenfinanzierung.
Sie schlagen vor, Zuzahlungen abzuschaffen, die füreinen Einnahmezufluss im Gesundheitswesen in Höhevon 1,7 Milliarden Euro sorgen. Was schlagen Sie alsGegenfinanzierung vor? Die von der Koalition beabsich-tigte Streichung des Steuerzuschusses zurückzunehmen.Ich teile zwar die Kritik, dass es der nackte Wahnsinn ist,4 Milliarden Euro Steuergelder, die wir einmal gemein-snAfeUBSdahgmAEJarehWebzkdhglwedUJweBSJcvzwdhkkzk
Ich will mich mit Ihrem Gesetzentwurf aber weiterhinrnsthaft befassen. Sie sagen, die Praxisgebühr führe zurnterversorgung ärmerer Bevölkerungsschichten. Dieertelsmann-Studie, auf die Sie sich berufen, legt diesenchluss in der Tat nahe. Aber es gibt auch andere Stu-ien. Herr Koschorrek und Frau Reimann haben bereitsuf die Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOKingewiesen. Ich will kurz ausführen, was dabei heraus-ekommen ist.Zu Beginn des Jahres 2004 haben tatsächlich vielehr Menschen mit einem Einkommen unter 1 000 Eurorztbesuche unterlassen als etwa Menschen mit eineminkommen über 3 000 Euro. Die Befragung wurde einahr später, Anfang 2005, wiederholt. Siehe da: Es gabnnähernd die gleiche Anzahl von Menschen mit höhe-em wie mit niedrigerem Einkommen – es waren nochtwas mehr bei den höheren Einkommen –, die gesagtaben, dass sie Arztbesuche unterlassen haben. DasIdO schließt daraus, dass die soziale Verzerrung, dies in der Tat zu Beginn der Gesundheitsreform gab – daseruhte wahrscheinlich auf Informationsmängeln –, in-wischen beseitigt ist. Zu einem ähnlichen Ergebnisommt eine Studie von DIW und TU Berlin. Diese Stu-ie zeigt, dass die Zahl der Arztbesuche abgenommenat und dass dieses Verhalten über alle Einkommens-ruppen hinweg einheitlich ist.Wenn wir seriös über dieses Thema diskutieren wol-en, müssen wir doch eines beachten: Ob tatsächlich not-endige Arztbesuche unterlassen werden, können wirrst einschätzen, wenn Längsschnittuntersuchungenurchgeführt worden sind. Die Ergebnisse von solchenntersuchungen können aber erst nach sieben bis achtahren vorliegen.
Ich weiß gar nicht, ob Sie an diesen Ergebnissenirklich interessiert sind, Herr Spieth. Schauen Sie sichinmal genau an, was die Menschen, die im Rahmen derertelsmann-Studie befragt wurden, geantwortet haben.ie haben gesagt, dass sie vor der Reform 23-mal imahr zum Arzt gegangen sind, also fast jede zweite Wo-he. Das ist auch für chronisch kranke Menschen sehriel. Wenn diese Menschen nach der Reform 16-malum Arzt gehen, ist das immer noch nicht wenig. Wirissen, dass Menschen in Frankreich, in den Niederlan-en und in Dänemark viel weniger häufig zum Arzt ge-en als Menschen in Deutschland, dass sie aber nichtränker sind. Man könnte also einmal darüber nachden-en, ob nicht die Menschen, die in Deutschland so oftum Arzt gehen, Ressourcen blockieren, die für andereranke Menschen dann nicht zur Verfügung stehen.
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Birgitt BenderAuch die Frage der Ressourcenverteilung im Gesund-heitswesen unter den Kranken, Herr Spieth, ist eineFrage sozialer Gerechtigkeit.
Für die Grünen kann ich nur sagen: Wir wollen, dasses keine Unterversorgung gibt. Wir wollen aber auchÜberversorgung im Gesundheitswesen abbauen. Wirwollen, dass das Geld im Gesundheitswesen an der rich-tigen Stelle ausgegeben wird. Auch das gehört zur sozia-len Gerechtigkeit. Wenn wir da Ihre Partei an unsererSeite hätten, dann würde das den kranken Menschen indiesem Land vielleicht mehr dienen als Ihre Vorschläge.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/451 an den Ausschuss für Ge-
sundheit vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlus-
ses über den Europäischen Haftbefehl und die
Übergabeverfahren zwischen den Mitglied-
– Drucksache 16/544 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Parla-
mentarischer Staatssekretär Alfred Hartenbach.
A
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Wir wollen einen europäischen Raum der Freiheit,der Sicherheit und des Rechts schaffen. Dazu gehört,dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zumSchutz vor Terrorismus und Kriminalität und zur Sicher-heit ihrer Bürgerinnen und Bürger enger bei der Strafver-folgung zusammenarbeiten. Der Europäische Haftbe-fehl bringt hier ganz wichtige Fortschritte.Neu beim Europäischen Haftbefehl ist die grundsätz-liche Verpflichtung, auch eigene Staatsangehörige aus-zwbtdsdbmApvsrGcEidIgbidmsdunssNzmügbBwZngVDrnd
n Karlsruhe ein Gang nach Canossa. Sie demonstrierenas heute noch, manchmal im härenen Gewand. Fürich ist dies eine Entscheidung des obersten Verfas-ungsorgans gewesen wie viele andere vorher auch, miter wir nicht übereinstimmten, die wir aber respektierennd umsetzen werden. Deswegen brauchen wir abericht im Büßerhemd aufzutreten.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Ent-cheidung das europarechtliche Instrument des Europäi-chen Haftbefehls nicht beanstandet. Es hat aber eineeuregelung des Europäischen Haftbefehlgesetzes inwei Punkten gefordert:Erstens. Die Entscheidung der Bewilligungsbehördeuss künftig justiziabel sein, also von einem Gerichtberprüft werden können. Diese Forderung ist im vorlie-enden Gesetzentwurf so gelöst, dass die Bewilligungs-ehörde vorab mitteilen muss, ob und warum sie denetroffenen ausliefern wird. Die Entscheidung der Be-illigungsbehörde wird dann vom Oberlandesgericht imuge des Zulässigkeitsverfahrens überprüft. Damit isticht nur dem Auftrag des Verfassungsgerichts Genügeetan.
ielmehr vermeiden wir auch Verfahrensverzögerungen.ie Auslieferungsentscheidung muss nämlich beim Eu-opäischen Haftbefehl spätestens 60 Tage nach der Fest-ahme des Betroffenen erfolgen.Zweitens hat das Bundesverfassungsgericht gefor-ert: Die Auslieferung deutscher Staatsangehöriger ist
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Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbachnur zulässig, wenn die Tat, deretwegen um Auslieferungersucht wird, einen maßgeblichen Auslandsbezug auf-weist. Mit anderen Worten: Tatort und Erfolgseintrittmüssen im Wesentlichen im Ausland liegen.Dieser Forderung wird mit der Neuregelung in § 80des Entwurfs entsprochen. Danach ist die Auslieferungunzulässig, wenn die Tat einen maßgeblichen Inlandsbe-zug hat. Wenn also ein deutscher Staatsangehöriger seinmöglicherweise strafbares Verhalten im Wesentlichennur hier, in Deutschland, begeht und es sich im Wesentli-chen auch nur hier auswirkt, dann soll er nicht damitrechnen müssen, dass er deswegen an einen anderenStaat ausgeliefert wird.In so genannten Mischfällen, also in solchen Fällen,in denen weder der Inlands- noch der Auslandsbezugüberwiegt, muss eine Abwägung stattfinden. Bei dieserAbwägung sind den Vorgaben aus Karlsruhe entspre-chend – ich zitiere –… die praktischen Erfordernisse und Möglichkeiteneiner effektiven Strafverfolgung und die grund-rechtlich geschützten Interessen des Verfolgten un-ter Berücksichtigung der mit der Schaffung einesEuropäischen Rechtsraums verbundenen Ziele zugewichten und zueinander ins Verhältnis zusetzen …Weiter ist zu berücksichtigen, ob es ein Straf- oder Er-mittlungsverfahren in Deutschland gibt oder gegebenhat. Wenn also hier zum Beispiel ein Verfahren anhängigwar und wenn es eingestellt wurde, ist völlig klar, dasseine Auslieferung in der Regel nicht mehr in Betrachtkommen kann.Mit dieser Neuregelung genügen wir auch dem Prü-fungsauftrag des Bundesverfassungsgerichtes, das ver-langt hat, dass die staatsanwaltschaftliche Einstellungs-entscheidung durch die Justiz überprüfbar sein müsse,soweit es um die Auslieferung von eigenen Staatsange-hörigen geht. Die Entscheidung darüber, ob die Tat einenIn- oder Auslandsbezug hat oder ob es sich um einenMischfall handelt und wie dieser Mischfall zu lösen ist,trifft das zuständige Oberlandesgericht.Weitere Nachbesserungen hat Karlsruhe trotz der Er-klärung der Gesamtnichtigkeit nicht gefordert. Insbeson-dere ist es, verehrte Kolleginnen und Kollegen der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, nicht erforder-lich, die in Ihrer heutigen Pressemitteilung erhobeneForderung, deutsche Staatsangehörige nicht wegenBagatellen auszuliefern, explizit in den Gesetzestextaufzunehmen. Das Verfassungsgericht hat in seiner Ent-scheidung – dies völlig zu Recht – betont, dass die Ver-hältnismäßigkeit ohnehin und selbstverständlich zu be-achten ist. Diese Selbstverständlichkeit ist übrigens auchin der Gesetzesbegründung mehrfach betont worden. Siefinden im Gesetzestext ihre Stütze unter anderem in dembereits von mir erwähnten Ordre public des § 73 IRG.Dieser wird von einem Oberlandesgericht, also von dreiBerufsrichtern, geprüft. Seien Sie also versichert: KeinDeutscher wird künftig wegen Nichtigkeiten an das Aus-land ausgeliefert werden. Diese Selbstverständlichkeitim Gesetz klar zu stellen, ist unnötig. Wenn wir nichtFfugSitEEDaCebStsSldnGp–ezutrmlsggwssnfsSV
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Daher verwundert es, dass die Bewilligungsentschei-dung auch weiterhin nachträglich nicht anfechtbar seinsoll. Dadurch, dass die Bewilligungsentscheidung fak-tisch vor die Zulässigkeitsentscheidung durch das OLGvdRDpdhßanDkrwBpVFwtdnmznCCILfdngtsrMGdgr
eshalb muss das noch einmal in den Beratungen über-rüft und hinterfragt werden. Denn eines kann sich we-er das Ministerium noch das Parlament leisten: dass wirier wieder einen Gesetzentwurf mit Mehrheit beschlie-en, der dann wiederum in einigen Punkten, die jetzt klarngesprochen werden, beim Bundesverfassungsgerichticht Bestand hat.
as wäre die größte Blamage, die überhaupt passierenann. Dann bestünde zu Recht eine große Verunsiche-ung in anderen europäischen Mitgliedstaaten über das,as hier im Rahmen der deutschen Gesetzgebung imereich Innen- und Justizzusammenarbeit in der Euro-äischen Union passiert.Ich hoffe, dass in den Beratungen gerade auch dieertreter des Ministeriums ernsthaft aufnehmen, wasachleute zu vielen anderen Aspekten in dem Gesetzent-urf sagen. Ich glaube auch nicht, dass alle Länderjus-izminister schon in allen Punkten sehr glücklich mitem Gesetzentwurf sind. Manches ist schwammig, isticht korrekt abgegrenzt und viel zu unklar. Dazu gehörtit Sicherheit § 80 zum Inlandsbezug und Auslandsbe-ug von Taten. Auch da muss noch einmal deutlichachgebessert werden.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder,DU/CSU-Fraktion.Siegfried Kauder (CDU/SU):Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!ch korrigiere ungern eine Kollegin. Frau Kollegineutheusser-Schnarrenberger, erlauben Sie mir dennochestzuhalten, dass wir zwar alle aus dem Urteil des Bun-esverfassungsgerichts gelernt haben, aber wohl nochicht genug. Denn das Europäische Haftbefehlsgesetzibt Anlass zu grundlegenden Erwägungen. Der Bundes-agspräsident hat es bei seiner Antrittsrede zutreffend ge-agt: Wir sind nicht Befehlsempfänger der Bundesregie-ung, sondern umgekehrt deren Auftraggeber. Wir, dieitglieder des Deutschen Bundestages, verabschiedenesetze und sind der Gesetzgeber. So steht es in Art. 77es Grundgesetzes. Aber, liebe Kolleginnen und Kolle-en, gilt dies uneingeschränkt und insbesondere bei eu-opäischen Rechtsetzungsakten?
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006 1155
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Siegfried Kauder
Schauen Sie sich einmal Art. 23 Abs. 3 des Grundge-setzes an, dann wissen Sie, welche Mitwirkungsmög-lichkeiten der Deutsche Bundestag bei europäischenRechtsetzungsakten hat. Wir haben das Recht, angehörtzu werden, und die Bundesregierung hat unsere Erwä-gungen zu berücksichtigen. Die Qualität, wie das, waswir vortragen, zu berücksichtigen ist, ergibt sich sehrschnell aus Art. 23 Abs. 5 des Grundgesetzes. Hat näm-lich ein europäischer Rechtsetzungsakt föderale Bezüge,sind die Erwägungen des Bundesrates maßgeblich zu be-rücksichtigen. Was föderalen Bezug hat, ist also maß-geblich zu berücksichtigen, was nur Bundesbezug hat,ist Makulatur.
– Herr Kollege Stünker, ich bin Ihnen sehr dankbar. Dasind wir, die Mitglieder des Deutschen Bundestages,aufgerufen. Wie gesagt, wir sind der Gesetzgeber. NachArt. 23 Abs. 3 Satz 3 des Grundgesetzes kann die Frage,wie unsere Erwägungen zu berücksichtigen sind, durchein Gesetz geregelt werden. Das heißt, der DeutscheBundestag kann die Bundesregierung viel mehr, als esjetzt der Fall ist, binden.Ein Ansatz hierzu wurde in der letzten Legislatur-periode mit einem Vorschlag der CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion gemacht: ein Gesetzentwurf zur Besserstel-lung der Rechte der Abgeordneten bei europäischenBezügen. Dieser Gesetzentwurf ist gescheitert. Er kannaber jederzeit wieder aufgerufen werden.Es genügt nicht, unsere Rechte bei Rechtsakten miteuropäischen Bezügen zu wahren. Es gilt, sie deutlich zuverbessern. Dazu sind alle aufgerufen.
Die Rechte zu verbessern, ist auch dringend geboten,wenn man die Entwicklung des europäischen Rechts be-trachtet. Es gibt eine Entscheidung des EuropäischenGerichtshofs vom 16. Juni 2005, unter Juristen als die sogenannte Pupino-Entscheidung bekannt. Es geht um dieGeltung eines Rahmenbeschlusses über die Stellung derOpfer im Strafverfahren. Der Europäische Gerichtshofhat – das lassen Sie mich bitte zitieren – im letzten Satzdieser Entscheidung festgehalten:Das nationale Gericht muss sämtliche Vorschriftendes nationalen Rechts berücksichtigen und ihreAuslegung so weit wie möglich an Wortlaut undZweck des genannten Rahmenbeschlusses ausrich-ten.Es geht hier um einen Rahmenbeschluss, den Italiennoch nicht in nationales Recht umgesetzt hatte. Wirktauf einmal nicht umgesetztes Recht aus einem Rahmen-beschluss wie nationales Recht?Aber das ist nur eine der Leitentscheidungen desEuropäischen Gerichtshofes zur Wirkung europäischenRechts auf nationales Recht. Es gibt eine weitere Ent-scheidung vom 13. September 2005 zum Umweltstraf-recht. Die Kommission hatte zum Umweltstrafrecht eineRRsjdlRKfzrkkmDdsddagwA–MAesbwgnjrLsIIzKRGnzse
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wären nicht diersten und auch nicht die einzigen. Denn in fünf europäi-chen Ländern gibt es den so genannten Parlamentsvor-ehalt: Die Minister ziehen in den Rat, hören sich an,elche Empfehlungen für einen Rahmenbeschluss dortegeben werden, und reisen nach Hause. Dann muss ihrationales Parlament darüber abstimmen, ob man demeweiligen Rahmenbeschluss zustimmt oder nicht. Wa-um funktioniert das eigentlich in nur fünf europäischenändern und warum nicht auch in Deutschland, im Deut-chen Bundestag?
ch möchte Sie bitten: Helfen Sie dabei, diese Lücke imnteresse unserer nationalen Demokratie zu schließen.
Es ist nun einmal so, dass wir den Rahmenbeschlussum Europäischen Haftbefehl umzusetzen haben. Dieommission hat ganz eindeutig erklärt, dass sie denahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl auf derrundlage der Entscheidung zum Umweltstrafrechticht wird kassieren lassen. Wir müssen ihn also umset-en. Für diese Umsetzung hat uns das Bundesverfas-ungsgericht in seiner Entscheidung vom 18. Juli 2005in Gerüst an die Hand gegeben.
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Siegfried Kauder
Professor Dr. Schünemann aus München hat in seinerBesprechung dieses Urteils in der Fachzeitschrift „Straf-verteidiger“, Heft 12 aus 2005 auf Seite 681 die Über-schrift „Markiges Ergebnis, enttäuschende Begründung“gewählt. Meine Damen und Herren, auch das darf maneinmal sagen; denn wir sind nicht der Büttel des Bundes-verfassungsgerichts, sondern selbst aufgerufen, das Ver-fassungsrecht auszufüllen.Warum spricht Schünemann von einer enttäuschen-den Begründung? Das Bundesverfassungsgericht hateine dogmatische Erfindung präsentiert, die bisher inder Rechtstheorie unbekannt war: Die Richter haben unsvorgegeben, zwischen Fällen mit Auslandsbezug, Fällenmit Inlandsbezug und Mischfällen zu differenzieren.Wenn ein dominierender Inlandsbezug vorliegt, bestehtder Auslieferungsschutz des Art. 16 Abs. 2 Grundgesetz.Wenn ein dominierender Auslandsbezug besteht, sollausgeliefert werden können. Bei den Mischfällen bedarfes einer besonderen Prüfung. Schünemann hat zu Rechtdarüber sinniert, wie man die Fälle, in denen der Aus-landsbezug dominiert, von den Fällen abgrenzt, in denender Inlandsbezug dominiert, und er hat darüber nachge-dacht, was eigentlich ein Mischfall ist.Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht inKenntnis der Gefahrenlage nicht einmal seine eigeneDogmatik konsequent durchgehalten hat. Denn hinsicht-lich der Differenzierung zwischen Inlandsbezug, Aus-landsbezug und Mischfällen hat man bei der organisier-ten Kriminalität – ich frage mich: warum eigentlich? –einen Ausnahmefall konstruiert. Das bedeutet, dass unsdas Bundesverfassungsgericht einen dürren Rahmenvorgegeben hat, den wir normativ ausfüllen müssen. Dasist die Schwäche, die auch der vorliegende Gesetzent-wurf aufweist. Allerdings weiß ich nicht, wie wir dieAufgabe anders hätten lösen können; denn die Vorgabedes Bundesverfassungsgerichts müssen wir ja erfüllen.Das Bundesverfassungsgericht hat uns eine weitereVorgabe gemacht – das ist schon erwähnt worden –: DieBewilligungsentscheidung muss dem Rechtsweg zu-gänglich sein. Auch hierzu darf man sagen, dass dieFrage, ob die Bewilligungsentscheidung dem Rechtswegzugänglich sein muss, in der Rechtslehre schon sattsamdebattiert worden ist. Die überwiegende Mehrheit derRechtslehrer ist zu dem Ergebnis gekommen: Es ist nichtnotwendig, dass die Bewilligungsentscheidung einer ge-richtlichen Überprüfung zugeführt werden kann.Aber es ist nun einmal, wie es ist. Der Gesetzgebermusste also einen Weg suchen, um dieser Anforderunggerecht zu werden. Die im vorliegenden Gesetzentwurfgefundene Konstruktion, die Bewilligungsentscheidungder Zulässigkeitsentscheidung vorzuschalten, ist zugege-benermaßen nicht besonders elegant.Denn logische Voraussetzung ist, dass zuerst der Aus-lieferung zugestimmt wird und die Bewilligung danndurch die Justizbehörde geprüft wird; also einmal um dieEcke herum nach hinten gedacht. Aber wenn Sie, liebeDamen und Herren von der Opposition, eine elegantereLösung finden – um die auch ich ringe –, sind wir Ihnenaußerordentlich dankbar.wvsaadbzegDKhDRlsrgWrrDDWkEBwnbmstrdDgnUtBmdn
Sie sehen, man hat uns Steine statt Brot gegeben, aberir sind aufgerufen, auf diese Entscheidung des Bundes-erfassungsgerichts zu reagieren. Wenn wir allerdingschon die Chance haben, nachzubessern, sollten wiruch kritische Stimmen aus der Rechtsanwaltschaft undus den Ländern aufnehmen. Es gibt zwei Kritikpunkte,ie ich aufgreifen möchte und die ich in der Regierungs-efragung schon erwähnt habe. Ein Kritikpunkt kommtu Recht aus der Anwaltschaft: Bei Mischfällen muss fürine Auslieferung die Gegenseitigkeit der Strafbarkeitegeben sein – warum bei klarem Auslandsbezug nicht?arüber sollten wir noch einmal nachdenken. Der zweiteritikpunkt kommt aus Bayern. Es wird zu Recht daraufingewiesen, dass ein Ausländer, der einen Bezug nacheutschland hat, zur Strafvollstreckung leichter nachussland ausgeliefert werden kann als in das EU-Aus-and. Auch da ist noch nachzubessern.Deswegen ist es richtig, dass wir uns im Rechtsaus-chuss entschieden haben, eine Sachverständigenanhö-ung durchzuführen. Aber, liebe Kolleginnen und Kolle-en, auch da sollten wir aus der Vergangenheit lernen:ir brauchen nicht nur Praktiker des Auslieferungs-echts, wir benötigen auch Sachverständige aus dem Be-eich des Europarechts und aus dem Verfassungsrecht.arum würde ich Sie bitten.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau von der Fraktion
ie Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!ir reden heute über ein Gesetz, das vom Bundestag vornapp zwei Jahren beschlossen wurde. Es geht um denuropäischen Haftbefehl, der jede Bürgerin und jedenürger betreffen oder auch treffen kann. Dieses Gesetzurde vom Bundesverfassungsgericht für null undichtig erklärt: Es sei mit dem Grundgesetz nicht verein-ar, so das Urteil.Ich merke an: Es gibt – was ich schlimm finde – im-er mehr solcher Gesetze, die uns vom Bundesverfas-ungsgericht zurückgegeben werden. Heribert Prantlitelte damals in der „Süddeutschen Zeitung“: „Aufklä-ung per Ohrfeige“. Mit der Ohrfeige meinte er den Bun-estag und mit der Aufklärung meinte er das Urteil.enn das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Be-ründung zugleich festgestellt: Der Bundestag muss mit-ichten nachvollziehen, was die Regierung ihm über denmweg EU auf den Tisch legt. Ich finde, das war ein gu-er Spruch, den wir uns zu Herzen nehmen sollten.Interessant waren allerdings die Reaktionen darauf:undesjustizministerin Zypries kommentierte das Urteilit dem Satz: Das ist ein Rückschlag im Kampf gegenen internationalen Terrorismus. – Ich finde das bezeich-end: Eine Justizministerin kritisiert das Bundesverfas-
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Petra Pausungsgericht dafür, dass es das tut, wofür es da ist, näm-lich das Grundgesetz und die Rechte der Bürgerinnenund Bürger zu schützen. Sie hätte dem Bundesverfas-sungsgericht besser danken sollen!
Ebenso interessant war der Kommentar des KollegenBosbach von der Union. Er meinte, wenn das Gesetzüber den Europäischen Haftbefehl nicht zum Grundge-setz passe, müsse man halt das Grundgesetz ändern. Ichfürchte, gemessen am dieser Tage viel zitierten und dis-kutierten Fragebogen für Muslime in Baden-Württem-berg hätten beide – die Ministerin wie der Kollege – beiGrundrechtsfragen sehr schlechte Karten.Im Kern geht es darum: Unter welchen Bedingungenmüssen bzw. dürfen Bürger in ein anderes EU-Land aus-geliefert werden, wenn sie dort einer Straftat verdächtigtwerden. Das Bundesverfassungsgericht sah hierfür en-gere Grenzen als die Mehrheit des Bundestages, es hatsich also schützend vor seine Bürgerinnen und Bürgerund deren Rechte als Staatsbürger gestellt.Nun liegt der überarbeitete Entwurf zum Europäi-schen Haftbefehl vor und die einzige Frage, die wir be-antworten müssen, lautet: Erfüllt der neue Gesetzent-wurf die Kriterien, die das Bundesverfassungsgerichtvorgegeben hat? Ich meine: Nein. Und Sie wissen, mitdieser Auffassung steht die Linksfraktion nicht allein.Der Deutsche Anwaltverein und die Bundesrechtsan-waltskammer haben schon prophezeit: Wird dieses Ge-setz eins zu eins beschlossen, wird es wieder vor demBundesverfassungsgericht landen und wohl verworfenwerden. Die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger hatja noch einmal einen ganzen Katalog von Fragen vorge-stellt, die weder in der Regierungsbefragung vor14 Tagen aufgelöst werden konnten noch jetzt im Ge-setzentwurf beantwortet sind.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten beach-ten: Es gibt nicht nur hierzulande mahnende Stimmen.Belgien hat den Europäischen Gerichtshof angerufen,weil es grundlegende Zweifel hegt, ob der EuropäischeHaftbefehl überhaupt mit EU-Rechten vereinbar ist. DasUrteil steht noch aus. Auch insofern sollten wir nichtaufs Tempo, sondern auf Nachhaltigkeit achten. Daswäre jedenfalls souveräner als der Weg, das Gesetz jetztmöglichst schnell umzusetzen.Ich möchte noch zwei grundsätzliche Schlussgedan-ken vorstellen.Erstens. Der Europäische Haftbefehl dient angeblicheinem neuen, EU-weiten Recht. Genau dieses Recht aberwird im Moment ausgeblendet; es wird nicht definiert,was wir damit meinen. Stattdessen soll künftig allesstrafbar sein, was irgendwo zwischen Spanien, Estlandund der Türkei strafbar ist. Das ist jedenfalls die inne-wohnende Tendenz. Genau diese lehnen wir ab.
Zweitens. Beim Europäischen Haftbefehl geht es umeine politische Abwägung zwischen Sicherheitsbelangenund Bürgerrechten. Seit Jahren verlieren leider in allerRgGvEtfmznFAnEuKdSdEVnzAhD„sDOBgtEIds
Ein letztes Wort: Ich finde, der Kollege Kauder hatöllig Recht, dass wir als nationales Parlament in deruropäischen Union uns nicht nur aus Anlass der Bera-ungen zum Europäischen Haftbefehl mit der Frage be-assen sollten, wie es nicht nur zu einer Verständigungit den Kolleginnen und Kollegen in Europa, sondernu einem Gesetzgebungsverfahren, das weder die eineoch die andere Seite überfährt, kommen kann. Meineraktion wird sich gern an dieser Debatte und an derusgestaltung dieser Regeln beteiligen.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland, Bünd-
is 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dientscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, diens hier nun zum zweiten Anlauf zwingt und die derollege Kauder sehr kritisch kommentiert hat, verdient,enke ich, eine andere Bewertung.
ie ist weder, wie seinerzeit in der Presse zu lesen war,eutschenfixiert noch europafeindlich. Für mich ist diesentscheidung ein Hohes Lied auf Rechtssicherheit, aufertrauensschutz oder, wie es das Gericht selber in ei-em Leitsatz formuliert hat, die „Beziehung des Bürgersu einem freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen“.us dem soll er eben nicht einfach so – hopplahopp! –erausgerissen werden können.
as Gericht spricht sogar von einem „Grundrecht“ aufden Verbleib in der eigenen Rechtsordnung“.Da kann man sagen, das sei alles neu vom Gericht ge-trickt worden, das hätten wir nicht voraussehen können.as mag ja sein. Dennoch muss man diese ziemlichehrfeige ernst nehmen, die das Gericht weniger derundesregierung als dem Gesetzgeber, dem Parlament,egeben hat und in einer, wie ich zugebe, sehr süffisan-en Formulierung zusammengefasst hat – Zitat aus denntscheidungsgründen –:… die Abgeordneten des Deutschen Bundestages,an Aufträge und Weisungen nicht gebunden undnur ihrem Gewissen unterworfen …, nun-mehr … Gelegenheit haben, ihrer Verfassungs-pflicht … zu genügen …ch denke nicht, dass man aufgrund dieser Worte belei-igt sein sollte. Vielmehr denke ich, dass wir verpflichtetind, nunmehr ein europäisches Auslieferungsrecht zu
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Wolfgang Wielandschaffen, das uns nicht wieder blamiert, das uns nichtwieder nach Karlsruhe führt,
sondern von dem wir guten Gewissens sagen können,dass die Abwägung zwischen dem Schutz des Einzelnenund den Notwendigkeiten einer Beschleunigung undVereinfachung des Auslieferverkehrs gelungen ist.
– Ja. Die sind auch nötig, lieber Kollege Kauder.Dieser Gesetzentwurf ist, das hat Frau Leutheusser-Schnarrenberger völlig richtig gesagt, schwammig. Erhat einfach einen Teil der Entscheidungsgründe des Ge-richtes sozusagen in den Gesetzestext fotokopiert.Die Bundesrechtsanwaltskammer hat zu § 80 Abs. 2des Gesetzentwurfes, der sich wie Realsatire liest, völ-lig zu Recht gesagt, dass so etwas nicht in einen Geset-zestext, sondern bestenfalls in die Richtlinien für dasStraf- und Bußgeldverfahren gehört. Wenn mich bei-spielsweise ein Mandant als Anwalt fragt, was eine In-landstat ist, dann muss ich nachlesen und ihm sagen: Naja, das hängt von einer Gesamtabwägung ab. In dieseGesamtabwägung fließt unter anderem die Effizienz unddie Möglichkeit der Strafverfolgung ein. Dann wird manirgendwann einmal sehen.Das alles bliebe, wenn es so Gesetzestext würde, derAuslegung durch die Gerichte überlassen. Das kann es jawohl nicht sein. Das ist zum Teil Wortnebel und esherrscht keine Normenklarheit. Das muss vom Parla-ment wirklich gründlich verändert und nachgebessertwerden.
Ein Wort auch zur Integration. Die einzige Stelle, ander dieser Gesetzentwurf von den Voraussetzungen, diedas Bundesverfassungsgericht genannt hat, abgewichenist, ohne dass ein Grund dafür erkennbar ist, ist dieFrage, wie der rechtliche Status der so genannten fakti-schen Inländer ausgestaltet wird. Hier hat das Bundes-verfassungsgericht einen Rückfall hin zu dem Gesetz ge-macht, das damals hier beschlossen wurde. Ausländer,die mit Deutschen zusammenleben – und sei es auch nurkurz –, sollen geschützt werden, aber nicht diejenigen,die seit Jahrzehnten hier leben. Das ist nach dem Rah-menbeschluss nicht notwendig. Hier wäre eine viel grö-ßere Umfassung der Personengruppe möglich. Wir wer-den sie einfordern und Änderungsanträge dazu vorlegen.Dieser Entwurf darf integrationspolitisch kein Rückfallsein.
Frau Präsidentin, abschließend und möglicherweiseunter Ausnutzung meines Überziehungskredites, denhier auch andere erhalten haben,nt–wBEbgsiwRsSBkinMszdsmvskgIzSDtdm
och ein sehr persönliches Wort zur rechtlichen Anfech-ungsmöglichkeit der Bewilligungsentscheidung.
Nein, noch nicht, Herr Kollege. Ich habe vorgebeugt,ie man das immer tun sollte.
Ich habe in der Entscheidungsbegründung von einerezugnahme des Bundesverfassungsgerichtes auf einentscheidung vom 16. März 1983 gelesen, die mir sehrekannt vorkam, weil ich sie seinerzeit erwirkt hatte. Esing um einen Nichtannahmebeschluss in Sachen desehr jungen, 23-jährigen Türken Kemal Altun, der hiern Berlin aus dem sechsten Stock des Gebäudes des Ver-altungsgerichtes in den Freitod sprang, weil er keineechtsweggarantie hatte, weil er also weder die Zuläs-igkeitsentscheidung des Kammergerichtes als Berlinerache noch den Bewilligungsbescheid, der dann von derundesregierung ergangen war, in Karlsruhe anfechtenonnte. Er sah für sich nur noch den Weg in den Freitod.Ich gebe zu, dass das ein äußerst zugespitztes Beispielst. Ich hoffe, so etwas wird sich nicht wiederholen. Den-och muss ich sagen: Das, was hier jetzt als scheinbareöglichkeit vorgelegt wurde, den Rechtsweg zu be-chreiten, indem man die Bewilligung irgendwie vor-ieht, kann nicht überzeugen. Herr Kauder, Sie habenen Wunsch geäußert, die Opposition solle hier eine bes-ere Lösung anbieten. Wir werden Ihrem Wunsch dies-al entsprechen.Es muss eine volle Rechtsweggarantie geben. Daserlangt das Bundesverfassungsgericht in seiner Ent-cheidung und es sollte unter Demokratinnen und Demo-raten auch eine Selbstverständlichkeit sein, dass es sieibt.
Herr Kollege Wieland, in diesem Parlament war das
hre erste Rede. Nur deswegen gibt es auch einen Über-
iehungskredit. Wir alle gratulieren Ihnen herzlich dazu.
Als Nächstes hat der Kollege Axel Schäfer von der
PD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!er vorliegende Gesetzentwurf muss von uns in doppel-er Hinsicht beurteilt werden. Zum einen geht es darum,ass die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts ge-achten Umsetzungsvorgaben erfüllt werden. Sie wis-
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Axel Schäfer
sen, dass die Regelung zur Auslieferung deutscherStaatsbürger so gestaltet werden muss, dass die Ein-schränkung des Grundrechts nach Art. 16 Abs. 2 demPrinzip der Verhältnismäßigkeit entspricht. Hier geht esinsbesondere um Rechtssicherheit und Vertrauensschutz.Zum anderen muss die Bewilligungsentscheidung ge-richtlich nachprüfbar sein, Stichwort Art. 19 Abs. 4 desGrundgesetzes; darüber haben wir gesprochen.Es ist gut, dass wir hier in der Diskussion, währendder Ausschussberatungen und dann auch in der abschlie-ßenden Gesetzgebung Zeit haben, darüber zu debattie-ren, um sicherlich zu der einen oder anderen Erkenntniszu kommen. Es wäre schlecht, wenn wir am Anfang desProzesses meinten, es sei schon alles entschieden.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmalausdrücklich darauf hinweisen, dass es beim Thema Eu-ropäischer Haftbefehl aus deutscher Sicht nicht nur umdas neuere Problem von Terrorismusverdächtigen geht,sondern auch um viel ältere Menschenrechtsverletzun-gen aus der Zeit des Dritten Reiches, nämlich Naziver-brecher. Das wird leider oft vergessen.
Wir kommen mit diesem Gesetzentwurf der Schaffungeines europäischen Raums für Freiheit, Sicherheitund Recht ein Stück näher. Das ist nach den Europäi-schen Verträgen von 1992 bzw. 1998 eben nicht nur eingemeinsames politisches Ziel, sondern für uns rechtlichbindend.Ich möchte an dieser Stelle sehr bewusst meine Erfah-rungen als Parlamentarier bei der mündlichen Verhand-lung des Bundesverfassungsgerichts einbringen. Dorthatte ich ebenso wie die Kollegen Kauder, Leutheusser-Schnarrenberger und Ströbele überraschend die Gele-genheit, Position zu beziehen. Der Vorsitzende Richterdes Zweiten Senats, Professor Hassemer, hat unter ande-rem sinngemäß ausgeführt, dass das oberste Gerichtauch nicht alle Details der europäischen Rechtsetzungüberblickt. Da es zu unseren Gepflogenheiten als Ge-setzgeber gehört, Entscheidungen des Bundesverfas-sungsgerichts nicht zu kritisieren, nehme ich die Selbst-kritik des Zweiten Senats zum Anlass, etwas zumVerhältnis von europäischer und nationaler Rechtset-zung zu sagen.Wenn Rahmenbeschlüsse oder Richtlinien in der EUverabschiedet werden, sind wir als Parlamentarier nichterst bei der Umsetzung gefordert. Lassen Sie uns des-halb selbstkritisch feststellen: Wir haben uns in derPhase der Willensbildung im Europäischen Parlamentnicht rechtzeitig eingeklinkt. Wir müssen eben nicht nurfragen, ob wir die Bundesregierung konkreter hättenfestlegen müssen. Wir alle wissen doch: Es geht darum,dass die Bundesregierung bei Entscheidungen in Europahandlungsfähig sein muss. Vielmehr haben wir die Mei-nungsbildung im Europäischen Parlament zu wenig be-einflusst. Es zeigt sich, dass wir das jetzt gelernt haben;das sollten wir hier durchaus darlegen.DwRdpunrEedkUzsdrPdtiJtkDtdbiomBStzRfggD2E
Wenn wir über unsere Europäisierung reden, möchtech ein bisschen was zum Thema Europäisierung derudikative sagen. Es reicht eben nicht, wenn viele Rich-er dieses Europa eher als Touristen denn als Juristenennen.
eshalb sollte Weiterbildung von Staatsanwälten, Rich-ern und anderen künftig gefördert werden, damit wir beier europäischen Zusammenarbeit in Strafrechtssachenesser werden. So steht es auch im Verfassungsentwurf.Das Problem dieses Themas ist, dass für viele Europammer noch zu sehr eine Wirtschaftsgemeinschaft ist,bwohl wir uns Gott sei Dank auch zu einer Rechtsge-einschaft entwickelt haben. Deshalb müssen wir dieegrifflichkeiten ein Stück ändern. Die anderen EU-taaten sind eben für uns vor allem ein Teil einer Staa-engemeinschaft, eines Staatenverbundes und erst inweiter Linie Ausland.Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit imechtsstaat muss bekanntlich immer wieder konkret de-iniert und – wie wir aus jüngeren leidvollen Erfahrun-en wissen – auch aktualisiert werden. Eines sollte dabeierade für uns unumstritten sein: Den Rechtsstaat ineutschland zu erhalten und zu gestalten ist im1. Jahrhundert nur dann möglich, wenn wir auch mehruropa wagen.Vielen Dank.
Damit schließe ich die Aussprache.
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Vizepräsidentin Katrin Göring-EckardtInterfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/544 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazugibt es offensichtlich keine weiteren Vorschläge. Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 10 a sowieZusatzpunkt 5:10 a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenWolfgang Wieland, Volker Beck , JerzyMontag, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENKeine Bundeswehr vor öffentlichen Gebäudenund Stadien für die Fußballweltmeisterschaft2006– Drucksache 16/359 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussSportausschussRechtsausschussVerteidigungsausschussZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten GiselaPiltz, Dr. Max Stadler, Birgit Homburger, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDPKein zusätzlicher Bundeswehreinsatz im Inne-ren – die Polizei kann durch die Bundeswehrnicht ersetzt werden– Drucksache 16/563 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussRechtsausschussVerteidigungsausschussHierfür ist interfraktionell eine Aussprache von einerhalben Stunde vorgesehen. – Dazu sehe ich keinen Wi-derspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe zu seiner zwei-ten Rede das Wort dem Kollegen Wolfgang Wieland,Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Es ist zwar sehr nett, dass Sie meineReden mitzählen. Es war allerdings nicht ganz richtig:Ich hatte schon als Justizsenator des Landes Berlin dieEhre, vor diesem Hohen Haus zu sprechen.
Wir werden sehen, wie sich das weiterentwickelt.„Die Welt zu Gast bei Freunden“ prangt als freundli-ches Motto auf vielen Plakatsäulen. Was allerdings dieDiskussion über die innere Sicherheit betrifft, ent-spricht die Werbung wie so oft wenig der Realität. DieFreunde, um die es dabei geht, führen eine Diskussionüber die Sicherheit, als ständen nicht Gäste, sondern eineArt neuer Mongolensturm ins Haus.IKsBtdnKeaBMtbblbsdibs–nswss–dBfdi–dHdWwcSFzsb
Wir wollten doch einen heiteren Start ins WM-Jahrrleben. Stattdessen wurde die Eröffnungsfeier in Berlinbgesagt. Stattdessen reagierte ebenjener Franzeckenbauer mit der ihm eigenen Arroganz auf denängelbericht der Stiftung Warentest und meinte, Stif-ung Warentest sollte – nach dem Motto „Schuster, bleibei deinem Leisten“– lieber weiter Olivenöl testen. Da-ei ist es auch kein Trost, dass man wie immer feststel-en muss: Bei Franz Beckenbauer sind die Pässe deutlichesser als seine Kommentare.Ihm ist aber mildernd zugute zu halten, dass der Vor-toß zum Militäreinsatz bei der Weltmeisterschaft ausiesem Hause, nämlich von Herrn Schäuble, gekommenst, der – wie der Kollege Edathy festgestellt hat – offen-ar einer Obsession folgt und dies als eine Art Dauerlut-cher seit gut 15 Jahren – –
Gut. Trennen wir die beiden Bilder: Sie haben von ei-er Obsession gesprochen. Ich meine, dass sein Vor-chlag seit gut 15 Jahren – seit er, damals angesichts derachsenden Zahl der Asylbewerber den kuriosen Vor-chlag machte, Feldwebel als Entscheider einzusetzen –ozusagen eine Art Dauerlutscher ist. Nun schlägt er vor er bleibt aber wenig konkret, wenn es darum geht, wasie Bundeswehrsoldaten tun sollen –, man könne zumeispiel Feldjäger bei der Verkehrsregelung einsetzen.Wir halten das alles für wenig durchdacht. Es soll of-enbar nur der Langfriststrategie folgen, dass die Bun-eswehr irgendwann als vollwertiger Ersatz der Polizeim Inneren eingesetzt werden kann. Dies lehnen wirweil aus historischen Gründen die innere Sicherheit inen Händen der Polizei und die äußere Sicherheit in denänden des Militärs liegen muss – eindeutig ab.
Wir freuen uns, dass der Bundesverteidigungsministeras genauso sieht. Ihm geben wir nicht gerne Recht.enn er aber sagt – ein Zitat aus der „Welt“ –, „icherde Soldaten nicht in Kämpfe mit Hooligans schi-ken“, dann hat er natürlich Recht. Das Berufsbild desoldaten ist völlig anders. Der Soldat muss im Fall derälle, also im Ernstfall, den Feind vernichten. Der Poli-ist hingegen soll festnehmen und, wenn es möglich ist,ein ganzes Berufsleben keinen einzigen Schuss abge-en. Das ist der grundsätzliche Unterschied zwischen
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Wolfgang Wielanddiesen beiden Uniformträgern. Das ist gute Tradition inunserem Lande.Die Polizeien der Bundesländer haben – bedauer-licherweise – jahrzehntelange Erfahrungen mit Hooliga-nismus. Sie sind in der Lage, ihn zu bewältigen. Bei derAbwehr terroristischer Gefahren helfen doch nicht ernst-haft Bundeswehrsoldaten vor den Stadien. Was soll dasalles? Wir, die Grünen, unterstützen sinnvolle Maßnah-men. So kann die Bundeswehr technische Hilfe leistenund AWACS-Flüge durchführen. Das kann die Polizeinicht. Niemand will eine Luftwaffe der Polizei aufbauen.Das kann die Bundeswehr im Wege der Amtshilfe schonjetzt leisten und das soll sie auch machen. Mehr ist nichtnötig. Was soll ein Bundeswehrsoldat denn tun, wenneine Horde Hooligans auf ihn einstürmt?Beenden wir diese Debatte! Folgen Sie unserem An-trag! Fangen wir an, uns auf die Fußballweltmeister-schaft zu freuen!
– Sie schildern ständig nur apokalyptische Szenarien unddas, was über unser Land hereinbrechen wird.
Ich befürchte, für die Apokalypse ist keine Zeit mehr.
Man bekommt beinahe Angst, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU, wenn man Ihnen zuhört.
Daher noch einmal mein Appell: Nehmen wir die Fuß-
ballweltmeisterschaft als ein freudiges und spannendes
Ereignis! Aber Spannung sollte es bitte nur auf dem
Spielfeld geben.
Als Nächster hat das Wort der Kollege Binninger,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! In wenigen Monaten sind wir Gastgeber des welt-weit größten Sportereignisses im Jahr 2006. Ich glaube,es besteht Konsens zwischen allen Fraktionen im HohenHause, dass wir die Sicherheit aller, die zu uns kommenwerden, der Sportler und der anderen Gäste, aber auchder Menschen, die hier leben, gewährleisten wollen.Darüber darf es keinen Streit geben.Das Bundesinnenministerium und alle nachgeordne-ten Behörden arbeiten bereits seit vielen Jahren – imPrinzip seit der Vergabeentscheidung zugunstenDeutschlands – daran, die Sicherheit während der Fuß-baweAsGTbmdzlSndaBsRd2gSgasSotOLsOgrtRggßdgd
ie sollten von Ihren Klischees wegkommen. Dann kön-en wir eine sachliche Diskussion führen. Angesichtsessen, was Sie in Ihrem Antrag fordern, scheint dasber nicht möglich zu sein.
Sie von den Grünen tun so, als ob der Einsatz derundeswehr im Innern etwas ganz Exotisches und fastchon Unanständiges wäre. Dabei verkennen Sie dieealität. Sie haben heute sicherlich in der „Welt“ oderer „FAZ“ gelesen, dass nach derzeitigem Stand etwa000 Soldaten für die Erfüllung unterschiedlicher Auf-aben bei der Fußballweltmeisterschaft eingeplant sind.
chon bei der Olympiade in Athen und beim Weltju-endtag in Köln wurden Soldaten eingesetzt. Das wirduch bei der Olympiade in Turin der Fall sein. Der Ein-atz von Soldaten im Innern ist also durchaus etwaselbstverständliches. Sie sollten deshalb nicht so tun, alsb wir hier in rechtswidrige Bereiche vordringen woll-en.Sie heben ständig in ganz starkem Maße auf denbjektschutz ab. Wer wie die Grünen aufgrund desuftsicherheitsgesetzes den Abschuss eines zivilen Pas-agierflugzeuges durch die Luftwaffe zulässt, aber beimbjektschutz Probleme hat, der argumentiert nichtlaubwürdig. Das tun Sie in diesem Fall.
Wenn wir über den Einsatz der Bundeswehr im Innerneden, dann sollten wir uns die Szenarien vor Augen hal-en, die denkbar sind. Es gibt die Amtshilfe, in derenahmen die Bundeswehr Gerät oder Personal in einemanz eng begrenzten Bereich zur Verfügung stellt. Esibt die Hilfe bei Naturkatastrophen oder bei einem gro-en Unglücksfall, bei denen die Bundeswehr eigenstän-ig gewisse Maßnahmen durchführen kann. Schließlichibt es die Bedrohungslage, die alleine zu bewältigenie Polizei, sei es personell oder technisch, nicht mehr in
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Clemens Binningerder Lage ist. Sie haben versucht, das im Luftsicherheits-gesetz zu regeln.Die Amtshilfe ist durch Art. 35 Abs. 1 GG gedeckt,die Katastrophenhilfe durch Art. 35 Abs. 2 und 3.
Aber ob die Bewältigung der Bedrohungslage, die Sieim Luftsicherheitsgesetz geregelt haben, durch denArt. 35 Abs. 2 gedeckt ist, ist strittig. Das wissen Sie.Das hat eine Sachverständigenanhörung zutage geför-dert. Es wird darum gehen, ob man für Bedrohungsla-gen, die alleine zu bewältigen die Polizei personell odertechnisch nicht in der Lage ist, eine Verfassungsergän-zung braucht.
Darum geht es im Kern und um nicht mehr. Deshalbsollten Sie mit Ihren Horrorgeschichten von Soldaten,die alles Mögliche machen, aufhören. Sie sollten zu ei-ner sachlichen Diskussion zurückkommen. Das würdeder Sache deutlich mehr dienen.
Heute war von Herrn Beck von den Grünen, der leidernicht da ist – er ist offensichtlich auch ein großer Polizei-und Sicherheitsexperte –,
zu hören, dass die Polizei schon über viele Mittel ver-füge und alles könne. Ich will daran erinnern, wie sichder Art. 35 GG entwickelt hat. Art. 35 bestand ur-sprünglich nur aus einem Absatz, der Amtshilfe. 1962kam es zur Flutkatastrophe in Hamburg. Bis dahin warnicht vorgesehen, die Bundeswehr bei Naturkatastro-phen einzusetzen. Der Innensenator Helmut Schmidt hatgehandelt,
weil er gesehen hat, dass die Polizei bei der Sicherheits-lage am Ende ihrer Möglichkeiten war, die Menschenaber in Gefahr waren. Da kann niemand ernsthaft be-haupten, man könne die Menschen in der Gefahr alleinelassen. Er hat die Bundeswehr ohne verfassungsrechtli-che Grundlage eingesetzt. In der Folge hat man dannArt. 35 um zwei Absätze ergänzt.
Vor genau der gleichen Situation stehen wir jetzt.Auch jetzt sagen viele, die Polizei könne alles tun. Aberwas machen wir, wenn wir eine große Bedrohungslagebekommen, wir die Polizei überall dort einsetzen, wowir sie brauchen, aber sie irgendwann personell nichtmehr in der Lage ist, ihren Auftrag zu erfüllen? Wir soll-ten darüber nachdenken, ob wir die Verfassung für die-ssiwfWrhMSduBdcSWvetnadieAedkWWgethi–sh
Ich will Ihnen die Alternative nennen, vor der Sie of-ensichtlich stehen.
enn wir eine Bedrohungslage haben, die die Bevölke-ung in diesem Land gefährdet, und die Polizei zugeste-en muss, dass sie weder technisch noch personell dieöglichkeit hat, diese Lage zu bewältigen, dann könnenie nicht einfach sagen, wir machen nichts. Das wäreoch Ihre Alternative. Deshalb sagen wir: Lassen Siens darüber nachdenken, ob wir in diesem Bereich dieundeswehr im Interesse der Sicherheit der Menschenieses Landes einsetzen! Das ist verantwortungsvolle Si-herheitspolitik und nicht Polemik und Klischees, wieie sie pflegen.
Um beim Thema Luftsicherheitsgesetz zu bleiben:ir werden nächste Woche hören, was uns das Bundes-erfassungsgericht ins Stammbuch schreibt. Wir solltenntlang dieses Urteils ganz vorurteilsfrei diese Frage be-rachten. Ich glaube, dass wir unserer Bevölkerung einesicht vermitteln können: dass wir die Bundeswehr fürlle möglichen Sicherheitsaufgaben in allen Krisenher-en auf der ganzen Welt einsetzen – Sie haben als Grünemmer daran mitgewirkt –, dass das aber zum Schutz derigenen Bevölkerung im eigenen Land nicht möglich ist.n dieser Stelle müssen wir darüber nachdenken, ob wirine Ergänzung des Grundgesetzes brauchen, weil wirie Menschen in der Unsicherheit nicht alleine lassenönnen.
enn Sie das wollen, müssen Sie es sagen.
ir sind nicht dafür. Deshalb sagen wir: Im eng be-renzten Rahmen muss es möglich sein, die Bundeswehrinzusetzen.Die ganze Diskussion krankt an Folgendem: Sie strei-en nur über einzelne Maßnahmen, was ich für falschalte. Es geht nicht um die Frage, was die Bundeswehrm konkreten Einzelfall macht.
Nein. – Es geht um die Frage: Unter welchen Voraus-etzungen soll und darf die Bundeswehr bei Bedro-ungslagen eingesetzt werden? Welche Maßnahmen
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Clemens Binningerdann notwendig sind, ergibt sich aus dem konkreten Ein-zelfall.
Das kann man vorher nicht sagen. Insofern hat es HerrGertz vom Bundeswehr-Verband heute treffend be-schrieben. Er sagt, er sei zwar nicht für den Einsatz derBundeswehr vor Stadien – das will auch keiner –, aber erselber behauptet sinngemäß: Wir sind dann da, wenn diePolizei aus personellen Gründen oder wegen fehlenderGerätschaften – Stichwort: Bedrohung aus der Luft odervon der See – dazu nicht mehr in der Lage ist. Um genaudiese Fälle geht es.Wir sollten nicht über Objektschutz streiten. Wir soll-ten streiten, unter welchen Voraussetzungen die Bundes-wehr bei einer Bedrohungslage zum Schutz derMenschen in unserem Land während der Fußballwelt-meisterschaft eingesetzt werden kann.Herr Wieland, Sicherheitspolitik macht man ganzoder gar nicht. Die Grünen haben sich offensichtlich für„gar nicht“ entschieden.
Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Ich möchte zunächst einmal festhalten, was in deröffentlichen Diskussion vielfach untergeht: Dass dieFußballweltmeisterschaft in Deutschland stattfindet, istein Glücksfall für dieses Land und kein Katastrophen-fall, wie einige Innenpolitiker meinen.
Ich sage auch ganz klar: Die Sicherheit bei der Fuß-ball-WM soll und muss in vollem Umfang gewährleistetwerden. Deshalb gibt es auch ein nationales Sicherheits-konzept, das von der Innenministerkonferenz im Mailetzten Jahres beschlossen worden ist. Dieses Konzeptsah keinen Bundeswehreinsatz im Innern vor. Ich fragemich, was sich seither eigentlich verändert hat.
Ich sage Ihnen ganz klar: Die FDP unterstützt alleMaßnahmen, die zur Gewährleistung der Sicherheit nö-tig sind. Aber wir vertreten dabei den Grundsatz: DiePolizei gewährleistet die innere Sicherheit und die Bun-deswehr ist für die äußere Sicherheit zuständig. Folgtman diesem Grundsatz, ist der im Augenblick geplanteEinsatz der Bundeswehr im Rahmen der WM – techni-sche Unterstützungsmaßnahmen, Unterstützung imSbtdLDmlPswnbFcOhAsDsaitdsBdweDaWw
Dies alles, Herr Kollege Binninger, ist schon im Rah-en der Amtshilfe möglich, im Übrigen bisher auch üb-ich. Bei allen Großveranstaltungen, beispielsweise beimapstbesuch, ist es so gemacht worden. Es erschließtich überhaupt nicht, warum Sie der Meinung sind, dassir jetzt eine Grundgesetzänderung brauchen.
Die FDP ist allerdings der Meinung, dass es einen ge-erellen Einsatz der Bundeswehr im Innern nichtraucht, und wir lehnen ihn auch ab.
ür uns ist die Grenze da, wo es um originäre polizeili-he Aufgaben geht, beispielsweise dort, wo es umbjektschutz geht. Herr Kollege Binninger, Sie habenier gerade eine Vernebelungstaktik gefahren.
uch der Objektschutz ist nämlich sehr wohl im Ge-präch.
as, was Sie zitiert haben, hat nicht irgendjemand ge-agt, sondern Ihr eigener Verteidigungsminister, der sichblehnend geäußert hat. Vor diesem Hintergrund mussch Ihnen sagen: Die FDP-Fraktion bleibt bei ihrer Hal-ung. Die Trennung der Aufgaben von Polizei und Bun-eswehr hat gute Gründe und muss bestehen bleiben.
Es ist im Übrigen absurd, die Bundeswehr für Objekt-chutzaufgaben heranziehen zu wollen. Immer mehrundeswehrliegenschaften werden aus Kapazitätsgrün-en von privaten Wachdiensten bewacht.Ein Polizeieinsatz ist etwas anderes als ein Bundes-ehreinsatz; deswegen kann man keinen Vergleich mitinem Auslandseinsatz der Bundeswehr ziehen.
eswegen ist die Ausbildung der Polizei zu Recht einendere als die der Bundeswehr.
as bei der Polizei zur Ausbildung gehört, beispiels-eise Deeskalationsstrategien, ist bei der Bundeswehr
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1164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Birgit Homburgernicht im Ausbildungskonzept enthalten. Deswegen kön-nen Sie das nicht vergleichen. Deswegen sagen wir: Wirsollten die Bundeswehr nicht zu Aufgaben heranziehen,für die sie nicht ausgebildet ist.
Es macht die Sache im Übrigen nicht besser, dassHerr Schäuble, Herr Beckstein und andere ihre Forde-rung jahrelang wiederholen. Man fragt sich geradezu:Wie haben wir eigentlich all die letzten Jahre die Groß-ereignisse überstanden, ohne dass sie diese Forderungdurchgesetzt hatten?
Es werden Ängste geschürt in der Hoffnung, dass manöffentlich Druck erzeugt. Das ist genau das, was Sie tun.Das ist unverantwortlich. Das ist der Versuch, die Welt-meisterschaft zur Durchsetzung Asbach-uralter ideologi-scher Forderungen zu missbrauchen. Das ist inakzepta-bel.
Uns ist gestern im Verteidigungsausschuss ein Kon-zept zu der Frage vorgelegt worden, zu welchen Aufga-ben die Bundeswehr herangezogen werden soll, undzwar im Rahmen der Verfassung. Das tragen wir auchmit. Demgegenüber bietet die Bundesregierung ein pein-liches öffentliches Schauspiel. Der eine sagt hü, der an-dere hott.
Der Bundesinnenminister ist für einen Einsatz der Bun-deswehr im Innern. Der Bundesverteidigungsminister
hat gerade heute noch einmal ausdrücklich erklärt, erlehne das ab. Vor dem Hintergrund sagen wir: 120 Tagevor Beginn der Weltmeisterschaft sollte man sich überdas Sicherheitskonzept einmal im Klaren sein. SorgenSie für Klarheit und nicht weiter für Verunsicherung!
Ich möchte eine letzte Bemerkung machen. Wenn wirim Rahmen der Amtshilfe hierfür die Bundeswehr ein-setzen und das mitgetragen wird, dann sollten der Bun-deswehr auch die Kosten erstattet werden. Es sollenAufwendungen in Höhe von 5 Millionen Euro entstehen.Der Bundeswehr sollen aber nur 1,4 Millionen Euro er-stattet werden. Vor dem Hintergrund dessen, dass wir umjeden Euro zur Verbesserung der Ausrüstung der Bun-deswehr kämpfen müssen,
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Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gunkel von der
PD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-egen! Die Behandlung dieses Themas, das von denraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDPn den Bundestag eingebracht worden ist, ist deshalbotwendig, weil der Herr Bundesinnenminister nichtüde wird, immer wieder festzustellen, dass die Einsatz-räfte der Länderpolizeien und der Bundespolizei nichtusreichen, um insbesondere bei terroristischen Angrif-en die Sicherheit unseres Landes während der Fußball-eltmeisterschaft zu gewährleisten. Dies sagt Herrchäuble bei jeder Gelegenheit, die wir im Innenaus-chuss oder andernorts zur Diskussion haben.Man kann natürlich verstehen, dass die mit der inne-en Sicherheit befassten Innenminister der Länder unduch der Bundesinnenminister ein Höchstmaß an Absi-herung anstreben, weil sie bei sicherheitsrelevantenorkommnissen die politische Verantwortung überneh-en müssen. Aber Stühle von Innenministern sind nuninmal härter als vielleicht andere. Das ist ihr politischesisiko.Gleichwohl scheint die immer wieder vorgetrageneefahrenprognose bezüglich der Sicherheit in den Sta-ien sowie des Public-Viewing-Bereichs – auch das istin Hobby von Herrn Dr. Schäuble – etwas überzogen zuein. Ich will die Sache einmal von der praktischen Seitengehen.Wenn man die zwölf Spielorte betrachtet, so stelltan fest, dass sechs Bundesländer überhaupt nicht be-roffen sind; sie können ihre Polizeikräfte zunächst aus-chließlich für die Bereiche öffentlicher Veranstaltungenereitstellen. Die anderen Bundesländer, die sich immfeld der Stadien höchstwahrscheinlich mit dem Hoo-igan-Problem befassen müssen – dazu liegen jahre-ange umfangreiche Erfahrungen vor –, werden jedochicht bei allen Fußballspielen mit dem höchstmöglicheninsatz fahren müssen. Mir kann niemand glaubhaft dar-egen, dass bei einem Spiel wie Togo gegen Südkoreaassenhaft Fans und Konfliktpotenzial speziell im öf-entlichen Straßenraum vorhanden sein werden. Von den8 Spielen der Vorrunde benötigen vielleicht zwölf dieöchste Sicherheitsstufe. Beim Einsatz von 250 000 Be-mten der Länderpolizeien und 30 000 Beamten der
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Wolfgang GunkelBundespolizei muss es doch möglich sein, eine solcheLage zu bewältigen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass man dort zusätzlichmassenhaft Soldaten oder Ähnliches benötigt.Aber bei dem Einsatz der übrig bleibenden Kräfte hatHerr Dr. Schäuble Schwierigkeiten mit dem so genann-ten Public-Viewing-Bereich. Das sind öffentliche Orte,an denen Großbildleinwände aufgestellt werden, die zuabgeschlossenen Veranstaltungsräumen gehören, wo derVeranstalter finanziellen Gewinn erzielen möchte. Des-halb wird die Polizei diese Veranstalter in die Pflichtnehmen, einen hervorragend funktionierenden Ordner-dienst einzurichten, der in Zusammenarbeit mit den ein-gesetzten Beamten dafür sorgen wird, Störpotenzial vonvornherein auszuschließen. Auch hier ist ein ausufernderKräfteeinsatz der Länderpolizeien nicht erforderlich.Durch die Vielzahl der öffentlichen Übertragungenwerden höchstwahrscheinlich viele Orte in allen Bun-desländern betroffen sein; aber ein unlösbares Problemstellt das nicht dar, weil die Sondernutzung von öffentli-chem Straßenland bei den Kommunalbehörden angemel-det werden muss und man mit Sicherheitsauflagen vor-weg einen großen Teil des Problems in den Griffbekommen kann.Kurz zusammengefasst, kommt man zu dem Ergeb-nis, dass ein polizeilicher Notstand auf keinen Fall vor-liegt.
– Herr Binninger, Sie sind selber einmal mit der Sachebefasst gewesen. Ich glaube, man kann mir das schon ab-nehmen, wenn ich das sage.Nun zu den erwarteten terroristischen Angriffen. Esist natürlich nicht wegzudiskutieren, dass die allgemeineGefahrenlage schwierig ist. Aber derartige Angriffewehrt man nicht ab, indem man Soldaten zum Objekt-schutz von öffentlichen Behörden, Stadien oder Bot-schaften einsetzt.
Vielmehr sind im Rahmen der Prävention intensive Auf-klärung, Observation und Fahndungen erforderlich. InZusammenarbeit aller Länderpolizeien, der Bundespoli-zei und auch der Nachrichtendienste können ein umfas-sendes Lagebild erstellt und unter Umständen im Vorfeldterroristische Aktivitäten erkannt und somit Anschlägeverhindert werden.Aber selbst wenn man Derartiges nicht verhindernkann, ist die Polizei immer noch in der Lage, ihren Auf-trag zu erfüllen. Es würde wenig bringen, das Land miteinem uniformierten Schleier zu überziehen. Das müssteman als Alibismus bezeichnen, weil es nicht der Sicher-heit dient.pkkdldzDwdsFlbgddgsuEdTulb
Erforderlich wird sein, alle möglichen Ermittlungska-azitäten beim Bundeskriminalamt und bei den Landes-riminalämtern bereitzustellen, um größtmögliche Auf-lärung und Umfeldermittlung zu betreiben.Zusammenfassend komme ich zu dem Ergebnis, dassie Polizei – das muss man den Polizeiführern der jewei-igen Länder durchaus zutrauen dürfen – sehr wohl iner Lage ist, das Großereignis Fußballweltmeisterschaftu bewältigen.
ie Ausnahmen bezüglich eines Einsatzes der Bundes-ehr nach dem gegenwärtigen Stand des Grundgesetzes,ie hier schon von meinen Vorrednern genannt wordenind, will ich nicht wiederholen. Auch dazu steht meineraktion. Luftüberwachung und Ähnliches muss natür-ich durch die Bundeswehr erfolgen dürfen. Aber dazuedarf es keiner Grundgesetzänderung; das ist im Grund-esetz bereits so vorgesehen.Abschließend noch ein Satz zum Koalitionsvertrag,a wir unseren Koalitionspartner ja einbeziehen müssen.
Die Lacher gehen auf Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schlusssatz. – Ich weise darauf hin,ass dem Koalitionsvertrag zu entnehmen ist, dass wiremeinsam abwarten wollen, wie das Bundesverfas-ungsgericht sich zum Luftsicherheitsgesetz stellt
nd in welchem verfassungsrechtlichen Rahmen es deninsatz der Bundeswehr sieht. Dann wird darüber neu zuiskutieren sein.Die SPD-Fraktion hält jedenfalls an der bewährtenrennung von Landesverteidigung durch die Streitkräftend Gewährleistung der inneren Sicherheit durch die Po-izei fest. Das möchte ich zum Abschluss ausdrücklichetonen.Schönen Dank.
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Herr Gunkel, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Deswegen war sie auch etwas länger. Wir
gratulieren Ihnen herzlich und wünschen Ihnen viel Er-
folg.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Paul Schäfer von der
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es bei dem
Großereignis Fußball-WM? Es geht um fairen Wettstreit,
es geht um Spaß am Spiel und es geht um Völkerver-
ständigung. Wir, die Linke, wollen, dass der schöne Slo-
gan „Die Welt zu Gast bei Freunden“ mit Leben erfüllt
wird.
Gerade deshalb sind wir nicht nur kritisch gegenüber der
überbordenden Kommerzialisierung, sondern wir wollen
auch nicht, dass dieses Ereignis zu einer Militarisierung
im Innern missbraucht wird.
Wir erleben doch seit einiger Zeit eine merkwürdige
Situation. Der Verteidigungsminister möchte nicht, dass
die Bevölkerung verunsichert wird. Der Innenminister
wird nicht müde, ständig neue Katastrophengefahren zu
wittern und daran seine Uraltforderung zu knüpfen, das
Einsatzspektrum der Bundeswehr im Innern müsse er-
weitert werden und notfalls müsse dazu das Grundgesetz
verändert werden.
Das Thema Objektschutz – da hilft auch alle Nebel-
kerzenwerferei nichts – ist weiterhin in der Debatte. Man
hört von abstrusen Ideen – heute von Herrn Beckstein –,
die Bundeswehr könne vorübergehend auch Bundes-
grenzschutzaufgaben übertragen bekommen. Gegen die
Gefahr eines Terrorangriffs mit ABC-Waffen müsse
die Bundeswehr gerufen werden. Ich entnehme der letz-
ten Ausgabe der Sonntagszeitung der „Frankfurter All-
gemeinen Zeitung“ Folgendes:
Beim Bundesnachrichtendienst gibt es im Jahr der
Fußball-WM keine alarmistische Einschätzung be-
züglich eines Terrorangriffs mit ABC-Waffen.
Man merkt einfach, dieses Sportereignis soll politisch
instrumentalisiert werden, und man ist verstimmt.
Herr Binninger, Ihr Vergleich sprach Bände: Weil die
Bundeswehr im Ausland für Sicherheit sorge, müsse sie
das auch im Inland tun. Wenn ich es richtig sehe, ge-
schieht dies im Ausland in einem hochgradig gewalttäti-
gen und militarisierten Umfeld. Wenn Sie das auf die
Bundesrepublik übertragen wollen, dann gute Nacht.
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die bayerische Polizei sei bereits strategisch und konzep-
tionell sehr gut vorbereitet, um die mit der Fußball-WM
verbundenen Herausforderungen bewältigen zu können.
Dies gilt natürlich auch für die Polizeien der anderen
Länder.
Einbezogen in dieses Sicherheitskonzept ist auch die
Bundeswehr. Man sollte deutlich darstellen, dass die
Bundes- und Landesbehörden über 100 Anträge auf
Unterstützung im Rahmen der Amtshilfe gestellt und
genehmigt bekommen haben. 2 000 Soldaten werden im
Einsatz sein. Der Schwerpunkt der Arbeit wird im Sani-
tätsbereich liegen. Weitere Einsatzbereiche sind zum
Beispiel die ABC-Abwehr und die Bereitstellung von
Unterkünften. Zusätzlich werden AWACS-Aufklärungs-
flugzeuge den Luftraum sichern. Es ist auch möglich,
Transportflugzeuge zur Erhöhung der Mobilität von Per-
sonal und Material anzufordern. All diese Unterstüt-
zungsleistungen im Rahmen der technischen Amtshilfe
sind auf Basis der derzeitigen Regelung des Art. 35
Grundgesetz möglich. Darüber hinaus gibt es aus der
Vergangenheit zahlreiche Beispiele, bei denen die Bun-
deswehr im Innern im Rahmen der Nothilfe und des
Katastrophenschutzes hervorragende Hilfe und Unter-
stützung geleistet hat. Dazu zählen Einsätze bei Flutka-
tastrophen oder bei dem erst kürzlich geschehenen
Dacheinsturz in Bad Reichenhall.
Selbstverständlich wird die Bundeswehr auch wäh-
rend der Weltmeisterschaft zur Verhinderung oder Be-
kämpfung von Katastrophen oder zur Abwehr möglicher
terroristischer Angriffe in Bereitschaft sein, also für
Aufgaben, die die Polizei nicht leisten kann. Die Solda-
tinnen und Soldaten haben sich in derartigen Einsätzen
bewährt. Sie sind dafür ausgebildet und haben die not-
wendige Ausrüstung. Damit leistet die Bundeswehr
einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung des nationalen
Sicherheitskonzepts. Auf diese Verwendungsmöglich-
keiten der Bundeswehr haben wir uns im Koalitionsver-
trag verständigt. Ich zitiere:
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Wir wollen interessante und spannende Fußballspiele
ehen.
ir wollen Sicherheit sowohl in den Stadien als auch bei
ffentlichen Veranstaltungen. Wir wollen die Weltmeis-
erschaft aber nicht zum Anlass nehmen, das Grundge-
etz zu ändern. Die Trennung von polizeilichen und
ilitärischen Aufgaben hat sich bewährt. Größtmögli-
he Sicherheit bei der WM zu gewährleisten, ist auch
hne Verfassungsänderung möglich.
Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ein letzter Punkt. – Ich meine, wir sollten den Men-
chen vermitteln, dass alles Menschenmögliche getan
ird, um Sicherheit zu gewährleisten. Wir sollten nicht
eiterhin den Eindruck erwecken, als gäbe es Sicher-
eitslücken, die nur mit einer Grundgesetzänderung oder
em Einsatz der Bundeswehr im Innern geschlossen
erden könnten.
Vielen Dank.
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tages-rdnungspunkt.Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlagenuf den Drucksachen 16/359 und 16/563 an die in der
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Vizepräsidentin Katrin Göring-EckardtTagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überwei-sen. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie dieZusatzpunkte 6 und 7 auf:11 Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungTierschutzbericht 2005– Drucksache 15/5405 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten UndineKurth , Bärbel Höhn, UlrikeHöfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENTierschutzpolitik energisch fortführen undweiterentwickeln– Drucksache 16/550 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten UndineKurth , Bärbel Höhn, UlrikeHöfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktiondes BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNENEU-Kommission muss nationale Tierschutz-bemühungen respektieren– Drucksache 16/549 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionFür diese Debatte ist eine halbe Stunde verabredet. –Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so be-schlossen.Vielleicht können Sie die freundlichen Begrüßungenund Verabschiedungen beschleunigen. – Danke schön.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort demParlamentarischen Staatssekretär Dr. Gerd Müller.Dr
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Men-schen und Tiere sind Geschöpfe Gottes. Auch Tiere ha-ben eine Würde. Beim Tierschutz leitet uns der Grund-satz der Ehrfurcht vor dem Leben. Bei den Tieren sindSgWtTslssbdWehdTIFsdhsDdtvMhvodmrmn
Wir gehen den Weg einer aktiven Politik für den Tier-chutz weiter. Wir diskutieren ja heute über den Tier-chutzbericht, der sich mit den vergangenen zwei Jahrenefasst, auf dem quasi noch das Bild von Frau Künast,er ehemaligen Ministerin, prangt.
ir gehen diesen Weg allerdings ideologiefrei und ori-ntiert an praktischer Vernunft weiter.
Es gibt jedoch weiteren Handlungsbedarf, den ichier nur ganz kurz skizzieren kann. Hohe deutsche Stan-ards dürfen nicht aus dem Ausland unterlaufen werden.
ierschutz muss ein Thema auch für die WTO werden.
ch habe die WTO-Debatte vorhin verfolgt. Bei denortsetzungsverhandlungen im Rahmen der WTO müs-en die Fragen des Tierschutzes und der Tierhaltung aufie Tagesordnung. Die Nutztierhaltung bei uns stehteute international unter einem dramatischen ökonomi-chen Druck. Deshalb ist es nicht möglich, nur ineutschland oder in der Europäischen Union mit Son-erstandards zu arbeiten, die dann natürlich auch Belas-ungen für die Erzeuger bewirken. Was nutzt ein Käfig-erbot in Deutschland, wenn die Betriebe dann nachazedonien oder in andere Staaten Mittelosteuropas ge-en? Was nutzt die Umsetzung der Schweinehaltungs-erordnung, die wir jetzt ebenso wie die Legehennenver-rdnung miteinander auf den Weg bringen, wenn wir aufen internationalen Märkten mit industrieller Schweine-ast – ich denke in diesem Zusammenhang an die ame-ikanischen Standards – konkurrieren müssen? Deshalbüssen wir dieses Thema international auf die Tagesord-ung setzen.
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Parl. Staatssekretär Dr. Gerd MüllerIch sage an dieser Stelle ebenfalls: Tierhaltung muss imEinklang mit der Natur erfolgen.Tierschutz ist auch Verbraucherschutz. Gesundheitund Wohlbefinden der Tiere finden sich auch ein Stückweit in der Qualität der Produkte wieder. Tierschutz imRahmen der Nutztierhaltung ist seit dem 1. Januar– auch das sage ich an die Adresse der Verbraucher –Gegenstand der Cross-Compliance-Kontrollen gewor-den. Das ist ein deutliches Zeichen hin zu mehr prakti-scher Vernunft beim Tierschutz. Das soll genug der Bü-rokratie sein. Nicht hinter jedem Küken kann einKontrolleur stehen.Ich greife ein Beispiel aus dem aktuellen Tierschutz-bericht heraus, das zeigt, wie differenziert die Vorschrif-ten heute bereits sind: die Anforderungen an die Haltungvon Enten oder Gänsen. Ich zitiere:Der Stall muss so beschaffen sein, dass den Tierenein Auslauf und jederzeit zugängliche, ausreichendbemessene Bademöglichkeiten zur Verfügung ste-hen.
Die Bademöglichkeiten müssen … so gestaltet sein,dass die Enten oder Gänse den Kopf bis mindestenshinter das Auge ins Wasser stecken können.
Es müssen Einrichtungen vorhanden sein, die dieBereitstellung von klarem Wasser für das Baden ge-währleisten.An diesem Beispiel sehen Sie: Bürokratie darf nicht dieoberste Maxime für den Tierschutz der Zukunft sein.
Wir sind dagegen, dass jeder Kälberstrick definiertwird. Es gibt natürlich Themen, mit denen wir uns kri-tisch und aus der Sicht der praktischen Vernunft ausei-nander setzen müssen; ich nenne als Beispiel das ThemaMilchkuhrichtlinie. Aber Frau Künast hat in der Vergan-genheit den Tierschutz häufig zur Eigenprofilierung be-nutzt. Das soll nicht die Zukunft sein. Im Mittelpunktunserer Tierschutzpolitik steht der Eigenwert der Tiereals Maßstab für einen verantwortbaren Tierschutz.Herzlichen Dank.
Das Wort hat für die FDP der Kollege Michael
Goldmann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich will es gleich vorweg sagen: Ich werde
mir die Rede, die Sie gerade gehalten haben, Herr Staats-
sekretär, noch einmal sehr genau zu Gemüte führen.
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hren Schluss habe ich nicht ganz verstanden. Am An-
ang haben Sie gesagt, dass Tiere zu schützen sind. Sie
agen zu Recht, Tiere seien Mitgeschöpfe. Sie beziehen
ich sogar auf eine religiöse Position, was in dem Wort
eschöpf bzw. Schöpfungsakt zum Ausdruck kommt.
m Schluss aber haben Sie gesagt, es handele sich um
ürokratie, wenn Rahmenbedingungen für die ord-
ungsgemäße, tierschutzgerechte Haltung von Tieren
estgelegt werden. Ich wäre da etwas vorsichtiger.
ch meine, das sollten wir zur Maxime unseres gemein-
amen Handelns machen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Alsppositionsfraktion werden wir Sie ganz konkret an Ih-en Taten messen. Wir werden uns nicht damit zufriedeneben, dass hier schöne Postulate in den Raum gestellterden. Wir wollen, dass Sie etwas tun und dass Sie auf-reifen, was im Tierschutzbericht 2005 angemahnt wird.Der Tierschutzbericht 2005 ist eigentlich ein guterericht. Er belegt, dass im Jahr 2005 an vielen Stellentwas für die Tiere erreicht worden. Es ist an manchentellen überzogen worden – Sie haben das angespro-hen –; das eine oder andere ist unter ideologischen Ge-ichtspunkten zu sehen. In der Substanz aber ist für Tiereine ganze Menge auf den Weg gebracht worden. Ichenke zum Beispiel an die Exporterstattung, die nochum Ende des Jahres gekippt wurde, oder an die Rah-enbedingungen, die in der Ernährungswirtschaft insge-amt, auch in der Fischwirtschaft, zum Tragen gekom-en sind.Im Tierschutzbericht ist uns ein Auftrag erteilt wor-en. Was ist unsere zukünftige Aufgabe? Wir sind stolzarauf, dass auch wir als FDP – das traut uns der eineder andere manchmal gar nicht zu – sehr konkrete Vor-tellungen entwickelt haben. Wir haben Anfragen ge-tellt, zum Beispiel zur Tierhaltung in Zirkussen. Wirerden von der Entwicklung bestätigt, die die Österrei-her jetzt auf den Weg zu bringen versuchen, woran sieus europäischer Unklugheit von einigen gehindert wer-en. Darüber werden wir im Ausschuss gemeinsam re-en können. Wir werden uns Ihrem Antrag anschließen.ir hätten das schon früher getan, wenn er denn gekom-en wäre. Dass der Antrag auf den letzten Drücker kam,at uns nicht gefallen.
Wir haben uns mit den Heimtieren und mit Schweins-alen befasst. Ich habe mich sehr konkret mit Rodeo-eranstaltungen befasst und habe dabei keine Unter-tützung durch die große Koalition erfahren. Ich bin dereinung, dass das, was heute zum Teil bei Rodeoveran-taltungen passiert, mit Tierschutz überhaupt nicht ininklang zu bringen ist. Ich habe mich mit Pelztier-mporten sehr genau befasst. Ich bin froh darüber, dassn Deutschland nicht so ein Lapsus passiert wie bei der
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Hans-Michael Goldmannnorwegischen Olympiamannschaft. Auf deren Kleidungwaren nämlich Pelze aufgenäht, die Tieren in Situatio-nen abgezogen wurden, wo man sich schon fragen muss,ob sie nicht noch gelebt haben.Herr Staatssekretär, wir müssen auch über das ThemaVogelgrippe reden. Ist es nicht klug, wenn wir sagen,dass wir impfen wollen statt töten? Ist es nicht auch imSinne des Tierschutzes klug, wenn wir hier – natürlichunter internationaler Einbindung – einen gemeinsamenWeg gehen? Die Bilder, die wir zum Beispiel aus derTürkei gesehen haben, haben uns doch hoffentlich alleerschreckt.Wir sind in besonderer Weise gefordert, auch durchdie neuen Vorgaben, die von europäischer Ebene kom-men. Ich finde das, was dort auf den Weg gebracht wird,sehr klug, jedoch nicht, wenn die Überschrift lautet:„Noch mehr Tierschutz“; denn darum geht es nicht. Esgeht darum, den Tierschutz in die Ökonomie einzubin-den. Ich finde es gut, dass auf europäischer Ebene da-rüber nachgedacht wird, ein Tierschutzlabel auf denWeg zu bringen. Ich bin davon überzeugt, dass der Tier-schutz in Deutschland dem in anderen europäischenLändern haushoch überlegen ist. Ich glaube daher, dasses gut ist, wenn in dem Aktionsplan die Schaffung einesSachverhalts – ein Überwachungsinstrument wäre im-mer mit Bürokratie verbunden – zur Feststellung derMarktauswirkungen vorgesehen ist, die zum Beispieldurch Tierschutznormen ausgelöst werden, die wir ein-halten. Andere Länder, die nach Deutschland exportie-ren, verschaffen sich nämlich Vorteile; Herr Staatssekre-tär, Sie haben das angesprochen. Einer nationalen undideologischen Überhöhung erteilen wir eine klare Ab-sage. Wir werden uns ansehen, was Sie bei der Legehen-nen- und bei der Schweinehaltungsverordnung auf denWeg gebracht haben.Ich finde, heute haben wir Grund, ein Stück weit zu-frieden zu sein, zum Beispiel aufgrund des Beschlussesder Agrarministerkonferenz unter Begleitung der neuenBundesregierung, das Testalter der Tiere bei BSE-Ver-dacht auf 30 Monate anzuheben. Aber wie lange muss-ten wir um diesen Sachverhalt kämpfen? Dabei sprechendie Fakten dafür, das Testalter heraufzusetzen. Jetzt müs-sen weitere Schritte folgen, zum Beispiel wenn es umdie Verfütterung von Tiermehl geht. Denn der restriktiveUmgang auf europäischer Ebene führt auf deutscherEbene dazu, dass wir im europäischen Vergleich Nach-teile haben und dass wir Ländern gerade im Entwick-lungsbereich enorme Kosten zumuten, weil sie unter sol-chen Regelungen leiden.
Herr Goldmann, kommen Sie bitte zum Ende.
Ja, ich komme zum letzten Satz. – Ich glaube, es ist in
der Summe ein guter Tierschutzbericht, über den wir
hier beraten. Es bleibt noch viel zu tun. Wir werden er-
folgreich sein, wenn wir die Dinge gemeinsam angehen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier,
PD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebeolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die heutige De-atte kann beweisen, dass Tierschutz nicht nur trennt,ondern auch verbindet. Ich finde schon ganz beachtlich,as im Tierschutzbericht steht. Das sind natürlich zumeil die Erfolge einer längst vergangenen Koalition.ber ich glaube, die neue Koalition wird diese Tier-chutzintention in der Gesellschaft weiter voranbringen.
ierschutz ist ein hohes Gut. Wir alle gemeinsam habenhn in diesem Parlament zum Staatsziel gemacht. Daranuss sich die Gesetzgebung orientieren.Drei Jahre lang hat es zwischen der Bundes- und deränderebene in einem großen Bereich – in Deutschlandibt es etwa 28,6 Millionen Schweine – Stillstand gege-en, weil man sich nicht auf neue Tierschutzstandardsinigen konnte. Das haben wir von der SPD immer be-lagt. Wir waren aber nicht in der Lage, diesen Konfliktufzubrechen. Jetzt scheint die Gelegenheit gegeben,uch in diesem Bereich endlich zu Regelungen zu kom-en, die den an sich unbefriedigenden Zustand ablösen,ich auf Standards beziehen zu müssen, die zum Teil äl-er als 15 Jahre sind. Das bringt Fortschritt und mehrierschutz sowie Sicherheit für diejenigen, die in diesemereich investieren. Von den verbesserten Standards haticht nur unsere Wirtschaft etwas, auch der Verbraucherrofitiert davon. Denn jegliche Verbesserung im Tier-chutz hat zwangsläufig eine Verbesserung der Lebens-ittelqualität zur Folge. Das findet sich auch in denberlegungen der EU wieder.Aus diesem Grunde begrüße auch ich den neuen Ak-ionsplan der EU zum Tierschutz. Ich hoffe, dass er ineiner Ausgestaltung das bringt, was wir alle erwarten,ämlich dass die Tierschutzstandards in Europa angegli-hen werden und dass es keine Wettbewerbsverzerrun-en gibt, sodass derjenige, der bereit ist, schon im Vor-eld in solche Standards zu investieren, sich hinterhericht in einer Wettbewerbssituation wiederfindet, in derr nicht sein möchte.
Wir haben uns, nachdem wir auch innerhalb deroalition lange Debatten darüber geführt haben, auf eineernünftige Ausgestaltung der Schweinehaltungsver-rdnung verständigt,
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006 1171
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Dr. Wilhelm Priesmeierund zwar auf der Basis des Kompromisses, den wirschon im Jahr 2004 auf Länderebene erzielt hatten, er-gänzt um einige nachvollziehbare Veränderungen.
Ich denke, mit diesem Kompromiss bringen wir denNutztierschutz in Deutschland voran. Wie der HerrStaatssekretär soeben angekündigt hat, soll auch eineVerordnung zur Hennenhaltung vorgelegt werden;denn die Situation in diesem Bereich ist ebenfalls nochnicht geklärt. Nun lautet die Frage: In welche Richtungmöchte man sich bewegen?
Auf EU-Ebene gibt es bereits eine Studie, aus der her-vorgeht, dass Kleingruppenhaltung durchaus eine Alter-native sein kann. Jegliche Haltungsform, die in irgendei-ner Weise mit Käfighaltung zu tun hat – das geht auchaus dem Koalitionsvertrag klar hervor –, wird abgelehnt.
Das ist ein Fortschritt, der erkämpft worden ist und nichtwieder aufgegeben werden darf. Vor diesem Hintergrundmuss natürlich die Hennenhaltung so ausgestaltet wer-den, dass die Hennen haltenden Betriebe in Deutschlandin der Lage sind, tierschutzgerecht zu produzieren undletztlich auch dem Wettbewerb standzuhalten.
Andere Haltungssysteme in diesem Bereich sind eben-falls verbesserungsfähig und verbesserungswürdig.Auch in den Haushaltsansätzen wird sich widerspie-geln, dass der Tierschutz nicht unter dem Gesichtspunkt„Einsparpotenzial“ behandelt wird. Ich plädiere als Tier-schutzbeauftragter meiner Fraktion dafür, dass er seinenStellenwert sowohl in unserer Gesellschaft als auch inunserem Haushalt behält. Aus diesem Grunde darf erkeinen Kürzungen zum Opfer fallen.Ich bin frohen Mutes, dass wir diesen Bereich auch inZukunft angemessen ausgestalten können. Ich setze da-rauf, dass wir auch in Zusammenarbeit mit den Tier-schutzorganisationen in der Lage sein werden, eine ent-sprechende Agenda zu entwickeln. Das, was dieKoalition in den nächsten vier Jahren im Hinblick aufden Tierschutz durchsetzen will, geht nur im Miteinan-der und nicht im Gegeneinander. Gestalten wir unserePolitik also im Interesse Deutschlands und im Sinne desTierschutzes!Danke schön.
Ich gebe das Wort der Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke.
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uch im Bundestag haben wir bereits des Öfteren da-über diskutiert. Das ist also ein positives Beispiel.Jetzt zum Negativen. Für uns ist es völlig unverständ-ich, dass die EU ein Vertragsverletzungsverfahren ge-en Österreich anstrengt,
eil das Land Gesetze im Sinne des Tierschutzes erlässt.
ie Österreicher haben ein Verbot erlassen, das ineutschland noch ansteht: Die Haltung und Mitwirkungon Wildtieren in Zirkussen ist dort nicht mehr erlaubt.
as ist, wie ich meine, ein gutes und vernünftiges Ge-etz. Es kann nicht sein, dass derlei über das Dogma deso genannten freien Dienstleistungsverkehrs wieder aus-ehebelt werden soll. Deshalb unterstützen wir den An-rag der Grünen und fordern die Bundesregierung auf,ier tätig zu werden.
Wer den Tierschutzbericht liest, kommt an einer Zahlicht vorbei: Es werden noch immer mehr als 2 Millio-en Wirbeltiere in Tierversuchen verbraucht. Das sindMillionen zu viel.
ie Förderung von tierversuchsfreien Methoden mussorciert werden, und zwar zügig. Ich denke, hier sind wirns einig. Dafür braucht man Geld, nicht aber für dieierversuche.Nach wie vor vegetieren fast 39 Millionen Hennen inegebatterien. Wir gehen davon aus, dass sich die großeoalition an den Beschluss halten wird, die Haltung vonennen in Käfigbatterien zum Jahr 2007 zu beenden.as Bundesverfassungsgericht hat ja klar definiert, was
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Eva Bulling-Schröterunter artgerechter Haltung von Hühnern zu verstehen ist.Dies darf nicht dem Druck bestimmter Lobbyisten zumOpfer fallen. Diese Gefahr besteht, Herr Müller.Neben den Hennen leiden aber auch andere Vögel.Sie alle kennen die Bilder von in Netzen gefangenen Pa-pageien, von Transportkisten, in die Hunderte Vögel aufdem langen Transport aus den Wäldern Afrikas, Süd-amerikas oder Asiens nach Europa halbtot eingepferchtsind. Schätzungsweise 3,5 Millionen Wildvögel werdenjedes Jahr für den Heimtiermarkt in der EuropäischenUnion eingefangen. Mindestens die Hälfte der Tiere er-stickt, verhungert oder verdurstet, bevor der Endabneh-mer überhaupt erreicht ist. Die massenhafte Einfuhr vonWildvögeln ist nicht nur grausam, sie ist auch völligüberflüssig. Hiesige Vogelzüchter züchten die exoti-schen Arten seit langem, doch die Zuchttiere können mitden billigen Wildfängen preislich nicht konkurrieren.Während Fang und Haltung einheimischer Wildvögel inder EU streng verboten sind, gelten exotische Vögelnach wie vor als „vogelfrei“. Wir halten das für absurd.So stammen neun von zehn importierten Papageien ausfreier Wildbahn. Die Bestände zahlreicher Arten sind in-folge des wildwüchsigen Handels bereits zusammenge-brochen. Es ist also höchste Zeit, dass die Bundesregie-rung und die gesamte EU endlich dem Beispiel andererLänder folgen, zum Beispiel den USA, und diesen Han-del verbieten.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, esgibt noch viel zu tun; darüber sind wir uns einig. Unteranderem steht die Verbandsklage im Tierschutz nach wievor auf der Agenda. Zeigen Sie, dass eine große Koali-tion auch eine große Koalition für den Tierschutz seinkann! Sie haben die Mehrheit – und auch unsere Unter-stützung, wenn Sie es denn Ernst damit meinen. Dazugehören natürlich auch Kälberstricke, Herr Staatssekre-tär Müller.
Für das Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt UndineKurth.Undine Kurth (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist gut, dass wir heute über den vorliegen-den Tierschutzbericht debattieren, weil wir damit zeigen,dass Tierschutz ein politisches Thema ist. Es wäre aller-dings besser, wenn mehr Abgeordnete anwesend wärenund mitbekämen, dass es ein politisches Thema ist, dasuns alle fordert.
– Wenn Sie meinen, dass wir die Wichtigsten sind,
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Herr Dr. Priesmeier, Sie haben die Hennenhaltungo geschildert, als wäre sie nicht geregelt. Das verstehech nicht. Für die geltende Gesetzeslage hat Rot-Grün er-olgreich gestritten; darauf können wir stolz sein. Warumollten wir das zur Disposition stellen?
ch hoffe, dass Sie zu Ihren Worten stehen. Wenn Sie eschon nicht der Tiere wegen schaffen, dann denken Siearan, dass ein verbesserter Tierschutz uns allen nutzt.ir belasten die Böden nicht so stark wie mit der Mas-entierhaltung. Wir tun etwas für das Wasser und dieuft.
Es hat etwas mit der Massentierhaltung zu tun. – Wirun etwas für unsere Umwelt und damit letztendlich fürns selber.
lasse statt Masse ist nicht Ideologie, sondern ein ver-ünftiger Grundsatz, der immer noch stimmt.
In Brandenburg und Sachsen-Anhalt wird versucht,ie industrielle Massentierhaltung zu forcieren. Es gibtlanungen für Schweinemastanlagen mit Platz für bis zu5 000 Tiere. Diese Form der Tierhaltung ist nicht artge-echt; das wissen wir alle. Ferner ist dies in keiner Weiserbeitsplatzfördernd. Mit Schweinefabriken dieser Artdavon sind wir überzeugt – schafft man keine Arbeits-lätze, man vernichtet sie vielmehr. Kleine Betriebe wer-en wohl eher darunter leiden.
Artgerechte Tierhaltung ist in Massenhaltung nun ein-al nicht möglich.
o entstehen auch keine gesunden Lebensmittel. – Wirind da unterschiedlicher Meinung. Sie sagen: Dastimmt nicht. Wir sagen: Nein, diese Aussage kann soicht stehen bleiben.
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Undine Kurth
Die Zukunft liegt mit Sicherheit nicht in einer Tier-haltung, die die Rechte der Tiere nicht akzeptiert, die un-sere Umwelt extrem belastet, die zu Lärm, zu Luftverun-reinigung führt, die Grund- und Trinkwasser mit Nitrat,Kupfer oder Zink belastet.
Es gibt genug Berichte dazu. Ich empfehle Ihnen den„Spiegel“ dieser Woche, wo über die Schweinemastanla-gen in Sachsen-Anhalt berichtet wird.
– Das Protokoll mag das streichen. Trotz allem steht esin dieser Zeitschrift.Mit unserem Antrag „Tierschutzpolitik energischfortführen und weiterentwickeln“ umreißen wir Grünendie tierschutzpolitische Agenda der nächsten Jahre. Dasind wir sicher an vielen Punkten wieder näher beieinan-der. In der Pelztierhaltung muss unbedingt etwas passie-ren. Die Haltungsbedingungen müssen verändert wer-den. In der Masttierhaltung muss etwas passieren. Wirmüssen uns für den Ersatz von Tierversuchen stark ma-chen. Wir müssen das Jagdrecht novellieren und denTierschutzverbänden ein Klagerecht analog zu der Situa-tion im Naturschutz einräumen.Ausgesprochen beunruhigt sind wir angesichts desVorhabens der Bundesregierung, im Rahmen der Födera-lismusreform zugunsten der Länder ein Abweichungs-recht in Bezug auf die Nutztierhaltung freizugeben.Wir sind davon überzeugt, dass wir, wenn wir das tun,Tierschutzdumping erleben werden. Herr Staatssekretär,das ist kein Zeichen praktischer Vernunft, sondern einVabanquespiel auf dem Rücken der Tiere. Das solltenwir bitte lassen.
– Doch, die vier Minuten sind gleich um, wie ich sehe.Demzufolge verweise ich auf die beiden Anträge, die zurDebatte stehen, auch auf den, der die Maßnahmen derEuropäischen Kommission betrifft.Wir hoffen auf eine konstruktive Debatte über dieseAnträge und dass wir zusammen im Sinne des Tierschut-zes keinen Rückschritt, sondern weiteren Fortschritt er-reichen.Vielen Dank.
Für die Fraktion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege
Dr. Peter Jahr das Wort.
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Es gibt gute Zitate dazu.Ob man es nun als Respekt vor der Natur oder, so wiech, als Respekt vor der Schöpfung definiert, sei dahin-estellt. Wohltuend ist, dass in diesem Hohen Hauseirklich keiner die Bedeutung des Tierschutzes in Ab-ede stellt. Nachweise für die Verantwortung des Men-chen für die Schöpfung sind so alt wie die Schöpfungelbst. Schon in der Bibel wird in der Schöpfungsge-chichte der sechste Tag folgendermaßen beschriebenich hoffe, ich kann das zitieren –:Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, einBild, das uns gleich sei, die da herrschen über dieFische im Meer und über die Vögel unter dem Him-mel und über das Vieh und über alle Tiere des Fel-des und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.Wenn man derart gestimmt an die Sache herangeht,ann scheint es ziemlich einfach. Tiergesundheit, Quali-ät der Produkte, Wirtschaftlichkeit und Tierschutz –iese Begriffe korrelieren positiv miteinander, wird oftehauptet. Wie Sie wissen, ist die Welt allerdings leidericht so einfach strukturiert. Tierschutz, wirtschaftlicherrfolg, Tiergesundheit, hohe Leistung, artgerechte Tier-altung und gesunde Nahrungsmittel verhalten sichanchmal widersprüchlich zueinander. Politisches Ge-talten tut also Not.Beim Studieren des Tierschutzberichtes 2005 derundesregierung bin ich zu folgenden Schlussfolgerun-en gelangt:Nulltens. Der Bericht datiert vom April 2005. Ichenke, den nächsten Bericht sollten wir zeitnäher disku-ieren.Erstens. Tierschutz mündet letztendlich in Vorschrif-en und Standards. Nationale Alleingänge sind wenigilfreich und nicht zielführend,
s sei denn, nationale Gebote sind auch bei Importen innser Land durchsetzbar. Das Problem dabei ist, dassan den Produkten, abgesehen von einer Kennzeich-ung, die Qualität des Tierschutzes nicht immer ansieht.Zweitens. Gemeinsame, international abgestimmtechritte bringen den Schutz des Tieres besser voran alsroße Sprünge im nationalen Alleingang; denn Tier-chutz ist international.
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Dr. Peter JahrDazu nenne ich drei Beispiele, nämlich den Lebend-export von Nutztieren, den Transport von Nutztierenund die Legehennenhaltung. Es gibt keinen vernünftigenGrund, Schlachttiere tagelang quer durch Europa unddann noch über das Mittelmeer zu schippern. Dieser Un-sinn fand nur deshalb statt, weil die Europäische Uniondiese Geschichte auch noch finanziell unterstützte. Es istschon mehrfach erwähnt worden: Seit dem vergangenenJahr ist zumindest mit dieser Unterstützung auch im In-teresse des Tierschutzes Schluss.
Beim Transport von Nutztieren ist eine Begrenzungder Transportzeiten sinnvoll. Sie würde zusätzlich zu ei-ner Stärkung der regionalen Wirtschaftskreisläufe füh-ren. Allerdings muss diese Frage europäisch beantwortetwerden.
Ähnlich muss man auch bei der Haltung von Legehen-nen argumentieren.
Drittens. Wer aus dem Halten von Tieren einen unter-nehmerischen Nutzen zieht, wird vom Gesetzgeber in-tensiver beobachtet als derjenige, der dies ohne direkt er-kennbaren finanziellen Hintergrund tut.
Im Tierschutzbericht der Bundesregierung ist eine rie-sige Imbalance zwischen den Tierschutzmaßnahmen fürNutztiere und denen im Bereich der Heimtierhaltung zuerkennen. Es werden im Tierschutzbericht keine Anga-ben dazu gemacht, welche Tiere in welcher Anzahl undunter welchen Bedingungen im Haushalt gehalten wer-den. Hier sollten wir das eine tun, aber das andere nichtlassen.
Tierschutz ist unteilbar. Was für Legehennen gilt, mussgenauso für den Kanarienvogel oder die Schildkröte inder Wohnstube gelten. In diesem Zusammenhang mahneich zumindest ein Forschungsprojekt zur Heimtierhal-tung unter Tierschutzaspekten an.
Viertens. Die Anzahl der Tierversuche ist maximalzu reduzieren. Tierversuchersetzende Methoden sind da-für verstärkt weiterzuentwickeln.
Die weitere wissenschaftliche Erforschung dieser Pro-blematik ist wichtig.
Wir werden darüber sprechen müssen, Frau Kollegin;ie haben völlig Recht. – Die Umsetzung der neuen eu-opäischen Chemikalienpolitik darf nicht mit einer stei-enden Zahl von Tierversuchen einhergehen.
Ich fasse zusammen: Der Schutz der Tiere ist einichtiges gesellschaftliches Erfordernis. Tierschutz istnteilbar und international, das heißt, Tierschutzmaß-ahmen müssen zunehmend international abgestimmterden. Es gibt kein unterschiedliches Schutzbedürfnison Nutztieren und Heimtieren.
n diesem Zusammenhang ist ein Arbeitsdokument derU-Kommission vom 23. Januar 2006, nämlich der Ak-ionsplan der Gemeinschaft für den Schutz und dasohlbefinden von Tieren 2006 – 2010, Mut machend.Frau Präsidentin, ich komme zu meinem letzten Satz.amit ist der Tierschutz nun endgültig in der Europäi-chen Union angekommen, was für die Größe Europasprechen könnte, wenn man an Gandhi denkt.Danke schön.
Jetzt erteile ich dem Kollegen Dr. Gerhard Botz von
er SPD-Fraktion besonders gerne das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!n Deutschland wird Tierschutz groß geschrieben. Dasird auch im Tierschutzbericht 2005 wieder deutlich.er Tierschutz ist gesetzlich verankert. Millionen vonenschen engagieren sich für ihn. Und das ist auch guto.Es ist ein gewaltiger Irrtum, zu glauben, dass Tier-chutz eine Erfindung der Neuzeit ist. Da einige Vorred-er hier auf die christliche Schöpfungsgeschichte zu-ückgegriffen haben, möchte ich an dieser Stelle inrinnerung rufen, wie groß selbst in jener Zeit, als un-ere Vorfahren anderen Kreaturen noch als Jäger gegen-bertraten – das war also weit vor unserer Zeit –, ihrespekt vor ihnen war. Noch enger, ja, existenziell ver-nüpft, wurde die Mensch-Tier-Beziehung später, alss unseren Vorfahren gelang, Tiere zu domestizieren.ie guten und vernünftigen Wurzeln dieses Verhältnis-es stammen aus jenen Tagen.Sicherlich – das darf man hier einmal mit einem Au-enzwinkern anmerken – war der bürokratische Auf-and in jenen Zeiten Gott sei Dank deutlich geringer.ber die Kraft der Gesetze, die vor mehreren tausendahren, obwohl sie zu dieser Zeit nicht aufgeschriebenaren, gegolten haben, war beachtlich. Man kann alsohne Übertreibung sagen, dass wir im Augenblick auf
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Dr. Gerhard Botzdem Wege sind, Verhältnisse zu korrigieren, die wir ins-besondere in den letzten Jahrzehnten an der einen oderanderen Stelle kaputtgemacht haben. Ich sage aber auch,dass wir diese notwendigen Korrekturen nicht ohneRücksicht auf die tatsächlichen gegenwärtigen ökonomi-schen Verhältnisse unserer landwirtschaftlichen Unter-nehmen vornehmen können.
Stärker als das vielen von uns noch bewusst ist, bewe-gen wir uns bei diesem Thema innerhalb eines europäi-schen Handlungsrahmens. Deshalb möchte ich in allerKürze auf das Papier eingehen, auf das einer meinerVorredner auch schon eingegangen ist, nämlich den„Aktionsplan der Gemeinschaft für den Schutz unddas Wohlbefinden von Tieren 2006–2010“ vom 23. Ja-nuar 2006. Es handelt sich hierbei um einen sehr ambi-tionierten Aktionsplan, in dem die Kommission ge-genüber den Bürgern, den Interessengruppen, demEuropäischen Parlament und dem Rat ihre Tierschutzini-tiativen für die kommenden Jahre klar und umfassenddarlegt.Dabei geht es um Folgendes: erstens, Verbesserungder Mindestnormen für den Schutz und das Wohlbefin-den von Tieren; zweitens, Förderung von Forschung undAlternativen zu Tierversuchen; drittens, Einführung ein-heitlicher Tierschutzindikatoren; viertens, bessere Infor-mation der Tierhalter sowie der allgemeinen Öffentlich-keit über Fragen des Tierschutzes und, fünftens, dieUnterstützung internationaler Tierschutzinitiativen.Zwei dieser Aktionsbereiche erscheinen mir beson-ders wichtig. Das ist zunächst einmal die Einführungeinheitlicher Tierschutzindikatoren, um angewandteTierschutznormen einzuordnen und vergleichen zu kön-nen. Sie bilden die Voraussetzung für die Durchsetzungvon einheitlichen Mindestnormen, ohne die eine etwaigeEtikettenregelung und ein fairer Wettbewerb zwischenden Produktions- und Zuchtbetrieben innerhalb der EUnicht möglich sind.Deshalb betone ich an dieser Stelle ausdrücklich: Werunter Einhaltung von Tierschutzanforderungen erhebli-che Investitionen vorgenommen hat, braucht ausrei-chende Sicherheit, mit diesen Anlagen entsprechendlange produzieren zu können. Ich fordere deshalb dieBundesregierung auf, sich für genau diese Harmonisie-rung noch stärker als bisher mit dem Ziel der Schaffungeinheitlicher Mindestnormen innerhalb Europas stark zumachen.Ich komme zum Abschluss. Eine Umfrage, die auchzu diesem Papier gehört, kommt zu dem Ergebnis, dass90 Prozent der Bürger innerhalb der Europäischen Unionbeim Kauf mehr Informationen über die Tierschutzbe-dingungen im Verlauf der Produktion erhalten wollen.Darin liegt eine gewaltige Chance für diejenigen, die indiesem europäischen Binnenmarkt weiterhin mit Erfolgproduzieren wollen. Lassen Sie uns gemeinsam für ge-setzliche Grundlagen sorgen, um all denen, die das tunwollen, insbesondere unseren deutschen Produzenten,entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen.dwDSKsrKmnElgKcdgndlrS
Damit schließe ich die Aussprache.
Die Vorlagen 15/5405, 16/549 und 16/550 sollen an
ie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über-
iesen werden. – Dazu gibt es keinen Widerspruch.
ann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Klimaschutz-Offensive 2006
– Drucksache 16/242 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell ist für die Aussprache eine halbe
tunde vorgesehen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
ollegen Michael Kauch von der FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Klima-chutz ist eine der Kernaufgaben einer generationenge-echten Politik. Deutschland ist bei der Umsetzung deriotoverpflichtungen auf einem besseren Weg alsanch anderes Land. Aber auch wir können sicherlichoch besser werden.
s ist also Zeit für eine Klimaschutzoffensive.
Doch dazu steht im schwarz-roten Koalitionsvertrageider nicht viel mehr als allgemeine Absichtserklärun-en. Sie wollen sich für ein Nachfolgeabkommen fürioto einsetzen. Aber auf welcher Grundlage, nach wel-her Grundphilosophie und auf welche Art und Weiseies erfolgen soll, schreiben Sie nicht.Sie stellen eine Exportinitiative für erneuerbare Ener-ien in Aussicht. Im Koalitionsvertrag findet sich abericht einmal eine Andeutung dazu, was das konkret be-eutet. Die FDP meint, das ist zu wenig. Deshalb hat dieiberale Opposition in diesem Haus die Absicht, mit ih-em Antrag heute die Debatte zu eröffnen. Wir möchtenie zur Klärung der offenen Fragen bewegen.
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Michael KauchWirksamer Klimaschutz ist nur global zu erreichen.Deshalb ist das wichtigste Ziel ein neues Kiotoproto-koll, in das ab 2012 möglichst alle CO2-Verursacher mitverbindlichen Zielen einbezogen werden. Ein ersterSchritt mit Blick auf die Vereinigten Staaten könnte da-rin bestehen, einzelnen US-Bundesstaaten die Teilnahmeam Emissionshandel zu ermöglichen. Diese Anregungder kanadischen Regierung ist in unserem ureigenendeutschen Interesse und sollte deshalb von der Bundes-regierung mit Nachdruck verfolgt werden.
Doch auch auf nationaler und europäischer Ebenegibt es Handlungsbedarf. Die FDP will mehr Klima-schutz zu geringeren Kosten für Unternehmen und Ver-braucher. Ein Schlüssel hierzu ist die Ausweitung desEmissionshandels.Konkret schlagen wir in unserem Antrag Folgendesvor: Wie im Kiotoprotokoll soll die Aufforstung auch inden europäischen Emissionshandel einbezogen werden,um Zertifikate generieren zu können. Der Mechanismusder gemeinsamen Implementierung sollte auch auf natio-naler Ebene möglich werden. Es ist beispielsweise mitBlick auf meine Heimatregion nicht einzusehen, warumein niederländisches Unternehmen mit der klimascho-nenden Nutzung von Grubengas aus dem RuhrgebietZertifikate erwirtschaften kann, für einen deutschen In-vestor aber nicht die gleichen Rahmenbedingungen gel-ten sollen.
Die Joint Implementation auf nationaler Ebenekönnte genutzt werden, um den Gebäudesektor in denEmissionshandel einzubinden. Hier könnten wir mehrprivates Kapital generieren, als es durch das geplanteSubventionsprogramm zur Gebäudesanierung möglichist. Das würde zugleich der Nutzung erneuerbarer Ener-gien im Wärmebereich – etwa der Solar- und Geo-thermie – neue Impulse geben.Des Weiteren müssen wir die Zusammenarbeit mitden Entwicklungsländern verbessern. Notwendig sindmehr bilaterale Abkommen wie das, das letztens mitMexiko vereinbart wurde. Denn gerade die sonnenrei-chen Länder des Südens bieten massive ungenutztePotenziale zur CO2-Einsparung durch erneuerbare Ener-gien.Für die FDP bedeutet Klimaschutz aber mehr als nurZertifikatehandel. Mit Blick auf die gegenwärtigen Be-mühungen insbesondere in den USA ist festzuhalten,dass es nicht um ein Entweder-oder von technologie-orientierter Klimapolitik auf der einen Seite und kioto-basierter Klimapolitik auf der anderen Seite geht.Vielmehr liegt die besondere Stärke kiotobasierter Kli-mapolitik darin, dem technischen Fortschritt – gleichsamals zusätzliche Prämie und als Orientierungsmarke – einzusätzliches Renditeelement zu verschaffen.ZlDbpFsDfgEAPzCgkhrwbFrDudngtKfgnwaruBsw
Nicht jeder Technologiebereich profitiert aber vomertifikatehandel. Dies betrifft insbesondere die Techno-ogien, die der Anpassung an den Klimawandel dienen.ieser Technologiebereich ist unverständlicherweiseisher ein Stiefkind der klimarelevanten Technologie-olitik. Dies will die FDP ändern. Initiativen, die auforschung und modernste Technologien für den Klima-chutz setzen, wären in der Tat ein Aufbruchsignal, daseutschland gerade nach den Jahren der Technologie-eindlichkeit unter Rot-Grün gut zu Gesicht stünde.
Wir fordern Sie auf, konstruktiv auf die Länder zuzu-ehen, die die Asien-Pazifik-Partnerschaft für sauberentwicklung und Klima unterzeichnet haben – die USA,ustralien, Indien, Korea, China und Japan –, und dieseartnerschaft nicht als Alternative zu Kioto, sondern alsusätzliche Chance für alle Beteiligten zu sehen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Jung von der
DU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-en! Es mag politische Bereiche geben, in denen Fehlerorrigiert werden können. Die Klimaschutzpolitik ge-ört ganz sicher nicht dazu. Was wir heute in diesem Be-eich versäumen oder zulassen, wird dramatische Aus-irkungen haben, wird unseren Planeten insgesamtetreffen, wird das Leben von Mensch und Tier, vonlora und Fauna beeinträchtigen und wird nicht mehrückholbar sein.
eshalb gibt es nur eines: Es muss schnell, entschlossennd konsequent gehandelt werden. Insofern nehme ichas, was Kollege Kauch gesagt hat, gerne auf.Ich füge aber hinzu: Deutschland ist unter verschiede-en Bundesregierungen Vorreiter beim Klimaschutzewesen. Das hat vor langer Zeit begonnen. Ein Kernda-um ist die Konferenz von Rio, auf der Deutschland mitlaus Töpfer hervorragend vertreten war. Auf der dannolgenden Konferenz von Kioto war es – mit der heuti-en Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Spitze –icht anders. Diese Tradition muss und wird fortgeführterden.
Es war richtig, schon zu einem Zeitpunkt zu handeln,ls sich die Wissenschaftler noch uneins waren und da-über stritten, ob es überhaupt einen vom Menschen ver-rsachten Klimawandel gibt. Man wollte aber nicht aufeweise warten, sondern hat nach dem Vorsorgegrund-atz gehandelt und ist die Probleme angegangen. Dasar richtig. So sollte man auch in Zukunft verfahren.
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Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006 1177
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Andreas Jung
Heute ist der Klimawandel nicht mehr umstritten. DieErsten, die wussten, dass es einen Klimawandel gibt,waren nicht die wissenschaftlichen Experten, sonderndie Landwirte, die gesagt haben: Auch früher hat es hinund wieder Naturkatastrophen gegeben; aber in einemJahr Hagel, im nächsten Hochwasser und im drittenDürre, das alles macht uns sicher, dass es einen Klima-wandel gibt. Ich finde, das ist ein besonders gutes Bei-spiel, um zu zeigen, dass der Klimawandel nichts Ab-straktes ist, das weit weg, an irgendwelchen entlegenenFlecken der Erde, stattfindet, sondern dass er schon beiuns angekommen ist. Es geht darum, ihn einzudämmen.Dabei darf es – darauf hat der Kollege Kauch ange-spielt – keinen Gegensatz zwischen Maßnahmen für dieUmwelt auf der einen Seite und Maßnahmen für dieWirtschaft auf der anderen Seite geben; denn wenn wirhier nicht handeln, werden die Kosten für alle, die Land-wirtschaft, die Wirtschaft und die Allgemeinheit, nochviel höher sein.
Es stellt sich die Frage, was wir 14 Jahre nach Riound neun Jahre nach Kioto erreicht haben. Positiv ist,dass die EU-Kommission in ihrem Bericht vom Dezem-ber letzten Jahres, in dem sie Bilanz zieht, feststellt:Nach jetzigem Stand kann die Europäische Union dasgesetzte Ziel einer Reduktion der Treibhausgase um8 Prozent im Vergleich zu 1990 erreichen. Ich betone:Sie kann. Das heißt aber auch, dass es noch nicht sicherist. Es gibt einige Punkte, die uns Sorge bereiten. So sinddie Emissionen innerhalb der EU zwischen 2002 und2003 entgegen der langfristigen Tendenz gestiegen. Au-ßerdem gibt es ein Ungleichgewicht in der EuropäischenUnion. Manche Staaten sind beim Klimaschutz weit vo-rangeschritten. Andere hinken hinterher. Deutschlandgehört zum Glück zur ersten Gruppe.Ich möchte in aller Deutlichkeit einen weiteren Punktansprechen, der Sorge bereitet. Das ist der Flugverkehr.Dort haben wir entgegen der allgemeinen Entwicklungeinen immensen Anstieg der Emissionen zu verzeich-nen, obwohl es über Jahre hinweg gelungen ist, die Wir-kungskraft des Flugtreibstoffes zu verbessern. Zwischen1990 und 2003 sind die Emissionen insgesamt um73 Prozent gestiegen. Wenn sich dieser Trend nicht um-gekehrt, dann liegt der Anstieg im Jahr 2012 bei150 Prozent. Deshalb glaube ich, dass es keine Alterna-tive dazu gibt, dass die EU Anstrengungen unternimmt,auch den Flugverkehr in das Emissionshandelssystemeinzubeziehen.
Es ist richtig, dass sich auch die Wirtschaft selbst an-strengt. Und wir wissen: Das ist ein Bereich, der sensibelist, weil davon auch die Wettbewerbsfähigkeit deutscherUnternehmen betroffen ist. Wahr ist, dass Warteschleifenverhindert werden und dass es technische Innovationengibt. Aber gerade dieser Bereich, von dem Wissenschaft-ler sagen, die Klimaauswirkungen seien dort bei weitemhöher als bei Emissionen am Boden, muss einbezogenwerden.DnecbkVSÜrwrsgmwasmnsmndwddÖeMRbwMEdDgivg4DVpßmlw
ie Koalition wird auf das, was die Vorgängerregierungemacht hat, noch einmal draufsatteln. Die FDP fordertn ihrem Antrag, die Zielrichtung müsse immer sein: Soiel Klimaschutz wie möglich für 1 Euro. – Genau daselingt hier. Das Programm hat ein Volumen von überMilliarden Euro. Es kommen Steuererleichterungen,arlehensförderung usw. hinzu. Insgesamt beträgt dasolumen weit über 10 Milliarden Euro. Dadurch werdenrivate Investitionen in noch größerem Umfang angesto-en. Das ist ein ganz hervorragendes Beispiel dafür, wiean mit möglichst geringen finanziellen Mitteln mög-ichst viel erreichen kann.
Das zweite Beispiel, das ich abschließend nennenill, ist das, was wir jetzt im Rahmen des Nationalen
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Andreas Jung
Allokationsplans II anstreben. Wir sagen, dass derEmissionshandel effizienter werden muss. Wir gehen derFrage nach, wie das marktwirtschaftliche InstrumentEmissionshandel mit der Ökologie versöhnt werdenkann.Insgesamt verfolgt die große Koalition eine Doppel-strategie: auf der einen Seite mehr Effizienz bei Energieund Ressourcen, auf der anderen Seite Ausbau von rege-nerativen Energien und nachwachsenden Rohstoffen.Mit allem gemeinsam, international, in Europa und inDeutschland, wird es uns gelingen, weiterhin einen we-sentlichen Beitrag zur Klimaschutzpolitik zu leisten.Wenn ich Ihren Antrag im Detail durchgehe, dann stelleich fest, dass wir bei vielen Dingen nicht weit auseinan-der sind. Es ist auch gut, wenn die Parteien im Deut-schen Bundestag bei dem wichtigen Thema Klimaschutzeng zusammenarbeiten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Darüber, dass wir mehr Klimaschutz wollen, sind wir
uns sicherlich alle einig. Strittig bleiben aber die Instru-
mente. Wir denken, dass der FDP in ihrem Antrag das
elegante Modell wichtiger ist als dessen Wirksamkeit in
der Realität.
In einigen Punkten könnten wir das Anliegen unter-
stützen: im Bestreben, den Luftverkehr in den Emis-
sionshandel einzubeziehen oder die Energieverluste im
Wärmebereich, insbesondere bei Gebäuden, deutlich zu
verringern. Der überwiegende Rest Ihres Antrags, Herr
Kauch, folgt jedoch im Kern einem unerschütterlichen
Glauben an die Allmacht marktwirtschaftlicher Instru-
mente im Klimaschutz,
ein Glaube, in dem die Komplexität der Wirklichkeit we-
nig Platz findet. Schön formuliert, oder?
Sie wollen aus jedem eingesetzten Euro so viel Kli-
maschutz wie möglich erwirtschaften. Das wollen auch
wir. Allerdings leben wir nicht im luftleeren Raum und
darum haben die flexiblen Instrumente des Kiotoproto-
kolls, mit denen der Klimaschutz preiswerter gemacht
werden soll, neben unbestreitbaren Vorzügen auch Gren-
zen und Nachteile.
Nehmen wir die Nutzung von Waldsenken im euro-
päischen Emissionshandel, die Sie fordern: Die wissen-
schaftliche Diskussion um solche Senken zeigt, dass nie-
mand mit Sicherheit sagen kann, wie viel Kohlendioxid
welche Art Wald auf Dauer bindet. Darum ist es sehr
schwer, zu sagen, für 1 Hektar Nettozuwachs gebe es so-
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Das erhöht unsere Glaubwürdigkeit. Das spornt andereLänder an. Wenn man notwendige Anpassungsprozesseberücksichtigt, ist das – das hat sich in der Vergangen-heit schon gezeigt – auch zum wirtschaftlichen Vorteilunseres Landes und unserer Unternehmen.Das Europäische Parlament hat sich im November2005 für eine EU-weite Reduktion der CO2-Emissio-nen um 30 Prozent ausgesprochen. Das ist das, wasCDU/CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag, was wirin unserem Koalitionsvertrag gefordert haben. Wir müs-sen jetzt dafür sorgen, dass die Reduktion um 30 Prozentzum verpflichtenden Ziel der EU wird, und für Deutsch-land eine ebenfalls bereits im Koalitionsvertrag ange-kündigte darüber hinausgehende Reduktion vereinbaren.
Dabei sollte die von der Enquete-Kommission „Energie“in der letzten Legislaturperiode geforderte Reduzierungum 40 Prozent bis 2020 und um 80 Prozent bis 2050Richtschnur sein.Mit der Übernahme eines Anteils von 21 Prozent anden europäischen Verpflichtungen im Rahmen des Kio-tnz–lgvEjlbgpMnwenDjtgDfwlwdUlKulgngaRdnefnaSvvg
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erst recht im weltweiten Maßstab, weil angesichts desminimalen Anteils der Atomenergie klar ist, dass dieAtomenergie jedenfalls die weltweite Klimaproblematiknicht einmal im Ansatz lösen kann.Verehrte Damen und Herren, bei der Nutzung erneu-erbarer Energien ist Deutschland weltweit führend. Dasmuss in Zukunft auch für den Bereich Energiesparen undEnergieeffizienz gelten. Ernst Ulrich von Weizsäcker hatunter dem Titel „Faktor vier“ schon vor einigen Jahrenden Weg dazu gewiesen.Auch für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirt-schaft werden die Energieeffizienz und die Nutzung vonEnergieeinsparpotenzialen zukünftig mitentscheidendsein. Es ist gut, dass es mittlerweile das sehr ambitio-nierte CO2-Gebäudesanierungsprogramm gibt, das vonHerrn Jung gerade angesprochen wurde. Weitere Schrittemüssen allerdings folgen.
Für einen langfristig wirksamen Klimaschutz sind ge-rade im Bereich Energieeffizienz jedoch mehr Anstren-gungen erforderlich. Auch auf europäischer Ebene mussDeutschland zeigen, dass es sich in Fragen der Energie-effizienz ebenfalls als Motor versteht und sich zum Bei-spiel für ein europäisches Top-Runner-Programm nachjapanischem Vorbild – Herr Kelber und ich haben geradenoch einmal darüber geredet – einsetzt, um Innovations-schübe für die heimische Wirtschaft zu erzielen.
Was steht 2006 sonst noch an? Erstens. Die Bundesre-gierung muss das Nationale Klimaschutzprogramm2006 in der zweiten Jahreshälfte verabschieden, das ins-besondere die Bereiche Bauen und Verkehr, welche Sor-genkinder sind, was gerade schon erwähnt worden ist,effektiver regeln soll.Zweitens. Ein zentraler Punkt – der zentrale Punkt –dieses Jahres wird der Emissionshandel sein. Auch dasist schon angesprochen worden. Dazu wird genügendGelegenheit zur Debatte bestehen. Deshalb nur kurz: Eswird darum gehen müssen, sowohl den Straßenverkehrwie auch die Luft- und Schifffahrt einzubeziehen. Vor al-lem wird es darum gehen, die Lehren aus Unzulänglich-keiten beim NAP 1 zu ziehen und die schon viel disku-tierten Windfall-Profits zu vermeiden.Drittens. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Entwick-lung und Nutzung erneuerbarer Energien. Die große Ko-alition will den Anteil der erneuerbaren Energien ander Stromerzeugung bis 2020 auf 20 Prozent – auch dassteht in der Koalitionsvereinbarung – erhöhen und hieralso für Kontinuität sorgen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz bleibt.Verehrte Damen und Herren, ein kleines Fazit: DerKlimaschutz ist bei der neuen Koalition gut aufgehoben.Ich denke, das ist deutlich geworden, und hoffe, das wirdauch in der konkreten Umsetzung deutlich werden. WirsuvvslDwAsmdvNTBtaFDzA11ruighd
Herr Präsident! Herr Kollege Schwabe, es war in derat eine gute Rede. Aber was will man von einemUND- und Schalke-04-Mitglied auch anderes erwar-en?
In dem FDP-Antrag steht viel Richtiges, Herr Kauch,uch wenn die Aussage etwas übertrieben ist, dass dieDP damit die klimapolitische Debatte eröffnen will.
a kann ich nur fragen: Wo waren Sie in all den Jahrenuvor? Ganz so ist es nicht.
ber sei’s drum.Auf die Aussage des Kollegen Jung, dass im Jahre992 der geschätzte Kollege Klaus Töpfer und im Jahre997 in Kioto die Kollegin Angela Merkel die Dinge vo-angebracht haben
nd dass man daran jetzt wieder anknüpfen könne, mussch erwidern, dass in der Zwischenzeit ein paar Dingeeschehen sind. Ich nenne beispielsweise: Emissions-andel, Ökosteuer, Erneuerbare-Energien-Gesetz undie ökologische Förderung von Bioenergien.
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Dr. Reinhard LoskeAber lassen wir das mal. Es war immer gut, dass in die-sem Hause weitgehendes Einvernehmen über die Zielein Sachen Klimapolitik bestand. An diese Tradition kön-nen wir anknüpfen. Das ist gut so.Ich möchte jetzt einige Punkte herausarbeiten, an de-nen man sieht, dass in der Sache Unterschiede bestehen.Erster Punkt. Sosehr es richtig ist, die ökonomischeDimension des Klimaschutzes wie in Ihrem Antrag zubetonen – also zu sagen, dass aus einem Euro so viel Kli-maschutz wie möglich herausgeholt werden soll –, sosehr atmet dieser Antrag doch einen bestimmten Geist.Denn in diesem Antrag wird Klimaschutz nur als Bürdeund als Kostenfaktor und eben nicht als Chance und Zu-kunftspotenzial gesehen. Das unterscheidet uns funda-mental.Zweiter Punkt. Sie betonen, dass bereits jetzt die sogenannte CCS-Technologie – das heißt die Kohle-abscheidung und -speicherung – in das System des euro-päischen Emissionshandels einbezogen werden soll. Dashalten wir für vollkommen falsch. Zum einen ist das eineklassische End-of-pipe-Technologie, also eine nachge-schaltete und keine integrierte Technologie, wie sie beider Energieeinsparung und bei den erneuerbaren Ener-gien zu finden ist, und zum anderen gibt es in diesemBereich noch so viele offene Fragen, dass es wirklichfalsch und verfrüht wäre, diese Technologie schon jetztin den europäischen Emissionshandel einzubeziehen.Das können wir nicht tun.
Dritter Punkt. Ich bin durchaus der Meinung, dassman erwägen sollte, den Flugverkehr in das europäi-sche System des Emissionshandels einzubeziehen. Den-noch bleibt die krasse Wettbewerbsverzerrung, die wirheute zwischen dem Luftverkehr auf der einen Seite unddem schienengebundenen Verkehr und dem Straßenver-kehr auf der anderen Seite haben. Im Schienenverkehrmüssen Energiesteuern und Mehrwertsteuer auf Ticketsgezahlt werden, während im Luftverkehr weder Kerosin-steuer noch Mehrwertsteuer auf Tickets im innereuropäi-schen Verkehr gezahlt werden müssen. Diese krasseWettbewerbsverzerrung zwischen den Verkehrsträgernmüssen wir abbauen. Sie bleibt auf der Tagesordnung.Man kann nicht alles unter Emissionshandel abbuchen.Nein, wir müssen beim Luftverkehr auch das Steuer-instrumentarium nutzen.
Vierter Punkt. Auch die Einbeziehung der Senkensehen wir sehr problematisch. Wir halten sie zu diesemZeitpunkt für falsch. Es gibt tausenderlei gute Gründe,warum man die Aufforstung fördern sollte: angefangenbei der biologischen Vielfalt über das Kleinklima bis hinzu globalen klimatischen Fragen. Aber es wäre falsch,dieses jetzt als Ausweichstrategie in den Emissionshan-del einzubeziehen. Da müssen erst noch methodischeFragen geklärt werden. Deswegen sind wir der Meinung,dass wir dies nicht tun sollten.ßsd2GIsgbWdmfKsduSSaZdlDfvsAk
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufrucksache 16/242 an die in der Tagesordnung aufge-ührten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-erstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungo beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Änderung von Vorschriften desSozialen Entschädigungsrechts und des Geset-zes über einen Ausgleich von Dienstbeschädi-gungen im Beitrittsgebiet– Drucksache 16/444 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höreeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsIch eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Parlamentarischen StaatssekretärFranz Thönnes.F
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es
ist gut, dass wir heute im Deutschen Bundestag über den
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften
des Sozialen Entschädigungsrechts und des Gesetzes
über einen Ausgleich von Dienstbeschädigungen im Bei-
trittsgebiet, also in der ehemaligen DDR, debattieren.
Mit diesem Gesetz werden die notwendigen Konsequen-
zen aus höchstrichterlicher Rechtsprechung gezogen.
Mit der Änderung des § 84 a des Bundesversorgungs-
gesetzes wird eine Grundsatzentscheidung des Bundes-
sozialgerichtes vom Juli 2005 umgesetzt. Danach ist
vorgesehen, dass neben der Beschädigtengrundrente und
der Schwerstbeschädigtenzulage für Kriegsbeschädigte
und SED-Opfer in den neuen Ländern rückwirkend zum
1. Januar 1999 auch die Alterszulage zur Beschädig-
tengrundrente in voller Höhe gewährt wird. Dies
kommt gut 32 000 Betroffenen hauptsächlich in den
neuen Ländern zugute. Sie erhalten von diesem Stichtag
an, frühestens jedoch vom Zeitpunkt der Vollendung des
65. Lebensjahres an die jeweilige Differenz nachgezahlt.
Um diese Auszahlungen im Interesse der Betroffenen
– insbesondere auch aufgrund des relativ hohen Alters –
möglichst bald vornehmen zu können, werden alle Fälle
auch ohne förmliche Antragstellung aufgegriffen und
überprüft. Dazu konnte inzwischen eine entsprechende
Verabredung mit den Ländern im Einvernehmen erzielt
werden. Um die gesetzliche Grundlage dafür zeitnah zu
schaffen, sollte der Gesetzentwurf so rasch wie möglich
vom Deutschen Bundestag verabschiedet werden.
Auch der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts
hat im November 2004 eine wichtige Entscheidung ge-
troffen. Das Gesetz nimmt darauf gleichzeitig Bezug. Aus
dieser Entscheidung, die allerdings erst im März 2005
veröffentlicht wurde, ergibt sich ebenfalls die Notwen-
digkeit, zügig zu handeln. So soll bis zum 31. März die-
ses Jahres im Opferentschädigungsgesetz eine Versor-
gungsleistung auch für den Partner einer nicht
ehelichen Lebensgemeinschaft geschaffen werden, der
nach dem gewaltsamen Tod des anderen Lebenspartners
die Betreuung der gemeinsamen Kinder unter Verzicht
auf eine Erwerbstätigkeit ausübt bzw. übernimmt. Zu-
mindest in den ersten drei Lebensjahren eines Kindes, in
denen der nicht eheliche Partner auch Kinderbetreuungs-
unterhaltsansprüche nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch
geltend machen kann, ist der unverheiratete Elternteil
beim Tod des Partners genauso auf staatliche Unterstüt-
zung angewiesen wie der verheiratete. Die vorgesehene
Änderung des Opferentschädigungsgesetzes berücksich-
tigt dies und orientiert sich deshalb entsprechend der
Begründung des Bundesverfassungsgerichts an den tat-
sächlichen und zeitlichen Voraussetzungen, die im Bür-
gerlichen Gesetzbuch für den nicht ehelichen Betreu-
ungsunterhalt vorgesehen sind. Vergleichbare
Fallkonstellationen sind auch beim Soldatenversor-
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Heinz-Peter HausteinZwei der drei Regelungskomplexe betreffen dieFrage, ob Entschädigungsleistungen in den neuen Län-dern vergleichbar denen in den alten Bundesländern aus-gestaltet werden müssen. In diesem Zusammenhang sindmeines Erachtens einige Anmerkungen zu dem betref-fenden Urteil des Bundessozialgerichts und dem Gesetz-entwurf zu machen.Das Bundesverfassungsgericht hat hinsichtlich derÄnderung des Bundesversorgungs- und Opferentschädi-gungsgesetzes einen Beschluss bis zum 31. März diesesJahres angemahnt. Danach soll nun auch der Partner ineiner nicht ehelichen Lebensgemeinschaft nach demgewaltsamen Tod des anderen Lebenspartners eine Ver-sorgungsleistung erhalten, wenn er unter Verzicht aufeine eigene Erwerbstätigkeit die Betreuung der gemein-samen Kinder übernimmt. Das ist konsequent, da dernicht eheliche Lebenspartner für diesen ZeitraumKinderbetreuungsunterhaltsansprüche nach dem Bürger-lichen Gesetzbuch geltend machen kann und insoweitbereits dem Ehepartner gleichgestellt ist.
Der zweite Regelungskomplex ist schon etwas schwie-riger zu beurteilen; im Endeffekt ist dem Gesetzentwurfaber auch diesbezüglich zuzustimmen. Er betrifft dieÄnderung des § 84 a Satz 3 Bundesversorgungsgesetzund sieht gemäß einem Urteil des Bundessozialgerichtsvom Juli 2005 vor, dass die Alterszulage zur Beschä-digtengrundrente für Kriegsbeschädigte und SED-Op-fer mit Wirkung zum 1. Januar 1999 in den neuen Län-dern in voller Höhe, das heißt auf Westniveau, gewährtwerden soll.Hierbei handelt es sich um einen durch Rechtspre-chung besonders geprägten Bereich. Nachdem die Be-schädigtengrundrente und die Schwerstbehindertenzu-lage aufgrund eines Verfassungsgerichtsurteils bereitsseit dem 1. Januar 1999 in den neuen Ländern in vollerHöhe gewährt werden, soll nun auch für die Alterszulageeine Angleichung an das Westniveau erfolgen. Aller-dings erscheint mir die Ansicht des Bundessozialgerichtsan dieser Stelle nicht unbedingt überzeugend: Das Ge-richt konstatiert für die Alterszulage vor allem eine „im-materielle Genugtuungsfunktion“ und nicht vorrangigdie Funktion der Deckung des Mehrbedarfs im Alter.Tatsächlich aber sollten auch in Fragen des Entschädi-gungsrechts zwischen Ost und West keine Unterschiedemehr gemacht werden.
Der dritte Regelungsbereich, um den es hier geht, be-trifft das besonders rechtsprechungsfreudige Anspruchs-und Anwartschaftsüberführungsgesetz. Hierbei wirdallerdings – wie ich es sehe – noch zu klären sein, ob dieEntscheidungsspielräume des Gesetzgebers in richtigerWeise ausgenutzt wurden. Es geht um die Dienstbeschä-digungsausgleichsregelungen für ehemalige Staatsbe-amte der DDR. Nach dem Gesetzentwurf sollen dienst-beschädigte ehemalige Staatsbedienstete umfassend seit1991 einen Dienstbeschädigungsausgleich erhalten, derihnen bisher nicht gezahlt wurde, wenn sie Renten we-gen Alters- oder Erwerbsunfähigkeit erhielten. Aller-dbtd1DuSarsszDgnsKwMhzbgnsDENsdgiinrhSgtd
Herr Kollege Haustein, auch Ihnen gratuliere ich im
amen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut-
chen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von
er CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-en! Wir müssen, auch wenn uns das im Einzelnen wohlmmer wieder schwer fällt, zur Kenntnis nehmen, dass esn diesem Leben keine Einzelfallgerechtigkeit gibt. Den-och ist es die Pflicht des Gesetzgebers, sich das Ge-echtigkeitsprinzip bei jeder Entscheidung vor Augen zualten. Unsere unabhängigen Gerichte wachen darüber.o liegt es in der Natur der Sache, dass wir als Gesetz-eber in konkreten Sachverhalten immer wieder Korrek-uren oder Nachbesserungen vornehmen müssen.Mit solchen Nachbesserungen haben wir es auch beiem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung der
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Maria MichalkVorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts undüber einen Ausgleich von Dienstbeschädigungen im Bei-trittsgebiet zu tun. Es handelt sich faktisch um vier Ein-zelgesetze, die einen Bezug zum Bundesversorgungsge-setz haben. Da es sich vielleicht um etwas verwirrendeZusammenhänge handelt, wenn immer wieder auf daseine oder andere Bezug genommen wird – das gebe ichzu –, will ich noch einmal zum allgemeinen Verständnisfeststellen, dass unser Bundesversorgungsgesetz von sei-ner Struktur her ein Gesetz ist, auf das viele andere Ge-setze verweisen. Es ist quasi die Basis.
Um Gerechtigkeitslücken zu schließen, haben wiralso die Frage zu beantworten, ob die Einzelregelungverändert wird oder die Bezugsbasis. Um in der Geset-zessystematik zu bleiben, entschlossen wir uns für dasErstgenannte. Das aber wirft durchaus neue Fragen auf;da bin ich mir mit meinem Vorredner, dem auch ich zuseiner ersten Rede herzlich gratuliere, einig. Daraufkomme ich noch zurück.Zunächst aber geht es darum, eine Entscheidung desBundesverfassungsgerichts vom 9. November 2004 um-zusetzen. Das Opferentschädigungsgesetz, das auf dieAnwendung des Bundesversorgungsgesetzes verweist,gewährt bislang einem hinterbliebenen Partner einernicht ehelichen Lebensgemeinschaft keine Versorgungs-leistung, die so genannte Hinterbliebenenrente, auchdann nicht, wenn er nach dem gewaltsamen Tod desPartners unter Verzicht auf eigene Erwerbstätigkeit diegemeinsamen Kinder betreut. Dass diese Regelung kei-nesfalls familienfreundlich ist, ist wohl unstrittig. Weilnach geltendem Recht zum Beispiel ein Vater der Mutterdes gemeinsamen unehelichen Kindes in den ersten dreiJahren Lebensunterhalt zahlen muss, ist es nur konse-quent, dass dies auch nach dem Opferentschädigungsge-setz für Kinder bis zu drei Jahren zutrifft und einzufüh-ren ist. Einbezogen in die Regelung werden auch anderemögliche Versorgungsfälle, wie nach dem Soldatenver-sorgungs- oder Zivildienstgesetz. Für diese Gesetzes-änderung ist uns eine Frist vorgegeben, deren Rahmenwir einhalten.Weitere Regelungen sind notwendig durch denBeschluss des Bundesverfassungsgerichts – daraufwurde schon hingewiesen – vom November 2001. DerGesetzentwurf sieht vor:Erstens. Das seit dem 1. Januar 1997 geltende Gesetzüber einen Ausgleich für Dienstbeschädigungen im Bei-trittsgebiet ist auf die Zeit von August 1991 bis zum De-zember 1996 zu erstrecken.Zweitens. Die Angehörigen des Sonderversorgungs-systems des MfS sind in den Geltungsbereich desDienstbeschädigungsausgleichsgesetzes rückwirkend abAugust 1991 und für die Zukunft einzubeziehen.Drittens. Die ehemaligen Angehörigen des MfS, de-ren Bescheide noch nicht bestandskräftig geworden sind,sind zu begünstigen.giAssowedggüwM1rgrTBdtdzDsgngh1gdDfvveSdwmbknlg5nsgf
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Frau Kollegin Michalk, Sie brauchen, wenn Sie zitie-
ren wollen, nicht die Genehmigung des Präsidenten.
Diese Regelung ist – ich erinnere mich zwar nicht genau,
aber ich schätze: schon vor 25 Jahren – abgeschafft wor-
den.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Martina
Bunge von der Fraktion Die Linke das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einwesentlicher Aspekt des vorliegenden Gesetzentwurfesist der Ausgleich von Dienstbeschädigungen. ErlaubenSie mir, mich zu dieser Stunde vor allen Dingen daraufzu konzentrieren. Die Überleitung der DDR-Renten und-Versorgungsansprüche in bundesdeutsches Recht ist,denke ich, eine fast unendliche Geschichte. Heute gehtes nun um den Ausgleich von Dienstbeschädigungen.Wieder, wie so oft in den letzten 15 Jahren, reagiert dieBundesregierung bzw. die sie tragenden Fraktionen nur,weil sich die Betroffenen auf dem langen Weg der So-zng2üU1rznuaDdvVsctdwgsgpWDlbsDtrtÜlbshSaPbWu
Wieder wird den Menschen aus dem Osten deutlichemacht: Ihr seid anders. Als es um die Hartz-IV-Regel-ätze ging, mussten Sie, verehrte Kolleginnen und Kolle-en von der Koalition, klein beigeben und ihre Höhe an-assen. Können Sie nicht endlich aufhören, Ost gegenest auszuspielen?
ie Linke macht das nicht mit. Wir fordern, diese Rege-ung des vorliegenden Gesetzentwurfs zu ändern.Heute wird nur das erste Kapitel der Korrekturen desei der Rentenüberleitung geschehenen Unrechts in die-er Legislatur aufgeschlagen; weitere werden folgen.ie Fraktion Die Linke sieht noch erheblichen Korrek-urbedarf. Der Missbrauch von Sozialrecht als Straf-echt muss endlich vollends beseitigt und Wertneutrali-ät wieder hergestellt werden.
berführungslücken, die sich aus DDR-typischen, recht-ich geschützten, bei der Rentenüberleitung aber nichteachteten Tatbeständen ergeben haben, müssen ge-chlossen werden. Ich erinnere nur an Themen wie: mit-elfende Familienangehörige von Handwerkern undelbstständigen, geschiedene Frauen ohne Versorgungs-usgleich, Aspiranturzeiten usw. usf. – alles ungelösterobleme. Auf die Dauer ist für uns der Fakt nicht halt-ar, dass Versorgungsansprüche, beispielsweise vonissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Lehrerinnennd Lehrern, Ingenieuren, Technikern, Beschäftigten
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1186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Dr. Martina Bungevon Eisenbahn, Post und Gesundheitswesen, nicht über-führt werden. Wir werden für die Betroffenen kämpfen.Verlassen Sie sich darauf!
Ich denke, hier sind nicht die Gerichte, sondern hierist die Politik gefragt, hier sind wir alle gefragt, um dieEinheit sozial tatsächlich zu vollenden.Ich danke.
Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkterteile ich das Wort der Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitdem Gesetzentwurf wurden Vorgaben des Bundesverfas-sungsgerichts und des Bundessozialgerichts umgesetzt.Eigentlich gibt es darüber nicht viel zu debattieren, auchder Herr Staatssekretär Thönnes hat dies eben gesagt.Frau Michalk, Sie haben gerade darauf hingewiesen,dass Mitarbeiter der Stasi jetzt zusätzliche Entschädi-gung bekommen. Auch ich finde das ärgerlich, aber dasSozialrecht eignet sich nun einmal nicht als politischesBestrafungsinstrument. Deshalb muss man schauen, wieman es ausgestaltet.
Wegen der knappen Redezeit möchte ich mich auf ei-nen anderen Schwerpunkt konzentrieren, nämlich die Si-tuation der nicht ehelichen Lebensgemeinschaften.Karlsruhe hat dem Gesetzgeber ja aufgetragen, nichteheliche Lebensgemeinschaften mit gemeinschaftlichenKindern im Opferentschädigungsgesetz mit ehelichenLebensgemeinschaften gleichzustellen. Das ist eine guteund wichtige Entscheidung. Bei nicht ehelichen Lebens-gemeinschaften gibt es ohnehin grundlegenden Reform-bedarf: Wenn es um Transferleistungen geht, werden sieals zusammengehörig eingestuft und das Partnereinkom-men wird angerechnet. In anderen Bereichen dagegen,zum Beispiel im Staatsangehörigkeitsrecht oder im Erb-recht, fehlt diese Anerkennung. Ich finde – ich sage dasauch für meine Fraktion –: Hier müssen wir Rechte undPflichten endlich in ein ausgewogenes Verhältnis brin-gen; denn die heutige Schieflage ist ungerecht.
Besonders krass wird es, wenn Kinder mit betroffensind. In dem vorliegenden Fall ging es um den nicht ehe-lichen Vater von Zwillingen, deren Mutter einem Mordzum Opfer fiel. Er hat unter Verzicht auf Erwerbsarbeitdie Betreuung der gemeinsamen Kinder übernommen,ihm wurde aber eine Hinterbliebenenversorgung nachdem Opferentschädigungsgesetz verweigert, weil einesDddsGtdUaswtmsnsgTsDbcsDeedpAastldmGgDidI
enn was das Verfassungsgericht für eheähnliche Le-ensgemeinschaften ausgeführt hat, gilt natürlich in glei-her Weise für gleichgeschlechtliche Lebenspartner-chaften mit einem rechtlich gemeinschaftlichen Kind.eshalb muss im Soldatenversorgungsgesetz wenigstensine Gleichstellung der Lebenspartnerschaft mit Kindernrfolgen. Hier darf es keine Ausgrenzung geben; dennem Staat müssen alle Kinder gleich viel wert sein. Ichlädiere deshalb dringend dafür, diesen Punkt in denusschüssen sachlich zu besprechen; wir können dasuch schnell machen, damit die Änderung schnell umge-etzt wird. Ich hoffe, dass wir den Gesetzentwurf im In-eresse potenziell betroffener Kinder gemeinsam unideo-ogisch nachbessern können.Ich frage jetzt nicht, ob ich zitieren darf, Herr Präsi-ent, weil Sie gerade gesagt haben, dass man das nichtuss. – Bundespräsident Horst Köhler hat in seinerrundsatzrede die heutige Vielfalt der Familienformenewürdigt.Kinder auf das Leben vorzubereiten, partnerschaft-liche Lebensentwürfe zu verwirklichen, das kann inganz unterschiedlichen Strukturen gelingen: in derEhe, in nicht ehelichen und auch gleichgeschlecht-lichen Familien, in Patchwork- oder Einelternfami-lien.em Bundespräsidenten ist hier voll zuzustimmen.
Benachteiligungen bestimmter Familienformen gehenmmer auch zulasten der Kinder. Der Gesetzgeber hateshalb die Pflicht, für Chancengerechtigkeit zu sorgen.ch glaube, wir sind da auf einem guten Wege.Vielen Dank.
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Irmingard Schewe-Gerigk
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 16/444 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esandere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten JosefPhilip Winkler, Volker Beck , WolfgangWieland, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge-brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesse-rung der sozialen Situation vonAusländerinnen und Ausländern, die ohneAufenthaltsstatus in Deutschland leben– Drucksache 16/445 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache wiederum eine halbe Stunde vorgesehen. –Es gibt keinen Widerspruch dagegen. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Josef Winkler vom Bündnis 90/DieGrünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit demnun vorliegenden Gesetzentwurf möchten wir dasThema „Illegale“ aus der politischen Tabuzone holen. Esgeht uns darum, die Realität anzuerkennen, dass es Aus-länder ohne jeglichen Behördenkontakt und ohne gültigeAufenthaltsgenehmigung in Deutschland gibt. Unserefeste Überzeugung ist, dass den Problemen dieser Men-schen nicht mehr allein ordnungs- und polizeirechtlichbegegnet werden darf.Ich möchte deshalb vorweg ausdrücklich betonen,dass unser Vorschlag nicht etwa eine reine Legalisie-rungskampagne oder Amnestie, wie es sie zum Beispielin Spanien in den letzten Jahren gab, darstellt, sonderneinen konkreteren und deutlich niederschwelligeren An-satz wählt.Die Kirchen, die Gewerkschaften und andere Nichtre-gierungsorganisationen haben sich dieser Problematik inden letzten Jahren bereits verstärkt angenommen. InDeutschland leben nach inoffiziellen Schätzungen bis zu1 Million Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. EsgdhtaCnWaGl–scdrdgldBtiuieNudfdMdZBmNtdhemgMtm
ir haben gesagt: Nicht nur in der Gesellschaft, sondernuch hier im Bundestag soll das angesprochen werden.Diese Menschen leben in einer Art Schattenreich.leichzeitig stehen diejenigen, die Menschen ohne lega-en Aufenthaltsstatus aus humanitären Gründen helfenErzieherinnen und Erzieher, Ärzte, Priester, Gewerk-chaftler –, ständig in der Gefahr, sich strafbar zu ma-hen. Die derzeitige Rechtslage in Deutschland schränktie Inanspruchnahme der grundlegenden Menschen-echte und Grundrechte für diese Bevölkerungsgruppe,ie sich illegal hier aufhält, ein und macht ihnen den Zu-ang nicht möglich. Das muss geändert werden.
Das größte Problem dabei ist sicherlich die Pflicht al-er öffentlichen Stellen zu Meldungen an die Auslän-erbehörden. Diese Meldepflicht führt dazu, dass dieetroffenen jeglichen Kontakt mit staatlichen Einrich-ungen vermeiden, weil sie natürlich nicht wollen, dasshr Aufenthalt in Deutschland bekannt wird. Deshalb hatnser Gesetzentwurf fünf wesentliche Teile – das schaffech in eineinhalb Minuten –:Er sieht für diese Menschen ohne Aufenthaltsrechtrstens den Zugang zu einer medizinischen Grund- bzw.otfallversorgung vor. Zweitens bekommen die Kindernd Jugendlichen einen Anspruch auf Schul- und Kin-ergartenbesuch. Drittens. Ansprüche auf Lohnzahlungür geleistete Arbeit sollen vor Gericht eingeklagt wer-en können. Viertens. Um das zu erreichen, muss dieeldepflicht deutlich eingeschränkt und deshalb ausem Aufenthaltsgesetz herausgenommen werden.
uallerletzt muss deshalb fünftens die Strafbarkeit voneihilfehandlungen – aus humanitären Gründen wohlge-erkt – wie zum Beispiel bei Ärzten, die medizinischeotfallbehandlungen gewähren, oder Lehrern, die Un-erricht geben, eingeschränkt werden.
Das alles steht nicht im Widerspruch zu der Pflichtes Staates, illegale Einwanderung und illegalen Aufent-alt zu bekämpfen. Wir definieren in unserem Gesetz-ntwurf die Grenzen, die der Staat hier ziehen muss. Eruss nämlich einerseits die illegale Einwanderung be-renzen und abwehren und andererseits humanitäreindeststandards in Deutschland einhalten. Das ist na-ürlich ein Vorschlag, der von Ihrer Seite auch noch ein-al in anderer Weise dargestellt werden kann.
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1188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 16. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 9. Februar 2006
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Josef Philip WinklerIch begrüße es ausdrücklich, dass in der Koalitions-vereinbarung der großen Koalition hierzu nicht eineNichtbefassung vorgesehen ist, sondern ein Prüfauftragerteilt wurde. Wir haben gesagt, dass aus unserer Sichthier nicht mehr allzu viel zu prüfen ist, sondern dass dieFakten klar auf dem Tisch liegen. Es gibt in Deutschlandbis zu eine Million Menschen, die keinen Zugang zu dengrundlegenden Menschen- und Bürgerrechten haben.Das muss geändert werden.Ich würde mich sehr freuen, wenn vonseiten derUnion jetzt nicht wie bei der letzten Debatte zu einemähnlichen Thema ein krasser Rundumschlag gegen dieGrünen nach dem Motto folgen würde, dass wir ja nurkriminelle Ausländer ins Land holen wollen oder so et-was. Ich habe mich bewusst bemüht, sachlich vorzutra-gen, und würde mich zum einen zwar verwundert, zumanderen aber auch erfreut zeigen, wenn das so erwidertwürde.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Grindel von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerKollege Montag, den ich aus vielen nächtlichen Sitzun-gen gut kenne und von wenigen Ausnahmen abgesehenauch schätze, hat gesagt, dass wir alle eine große Verant-wortung haben. Das stimmt. Ich finde aber, dass wir dieWelt nicht so aufteilen dürfen, dass nur derjenige sichmenschlich verhält, der die Anliegen der Grünen unter-stützt, während die anderen inhuman handeln.
Es mag mehrere Wege geben, auf denen wir zu sachli-chen Lösungen kommen können. Denn in der Tat: Inte-gration setzt auch eine Steuerung der Zuwanderung vo-raus. Man würde die Integrationsbereitschaft in unsererBevölkerung gefährden, wenn man unbegrenzt illegalenAufenthalt akzeptieren würde. Ich erwarte auch von denGrünen, dass sie respektieren, dass man einerseits sehrwohl für ein gutes Miteinander von Deutschen und Aus-ländern sorgen und für eine gute humanitäre Behandlungvon Ausreisepflichtigen eintreten und andererseits die-sen Antrag der Grünen aus sehr wohl erwogenen sachli-chen Gründen ablehnen kann. Lieber Josef Winkler, dasist moralisch kein minderwertiger Standpunkt.
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s stellt sich bei diesem Antrag natürlich schon dierage, warum Sie mit Ihren Vorschlägen nicht früher ge-ommen sind, wenn das alles doch so nötig und zweck-äßig ist.
Wenn Sie sich einmal mit der Praxis und den Leutenn den Ausländerbehörden beschäftigen würden, dannürden Sie wissen, dass die Lage in der Tat nicht so dra-atisch ist, wie Sie sie schildern; denn die meisten Ille-alen nehmen sehr wohl soziale Leistungen in An-pruch. Sie können das auch ohne Angst tun. Warumönnen sie das?Erstens können sie das, weil die Behörden noch garicht im Besitz der notwendigen Papiere sind, um einebschiebung vollziehen zu können, weshalb sich dasroblem aus diesem Grunde gar nicht stellt. Viele Ille-ale wissen deshalb, dass sie wegen der ungeklärtenerkunft und Identität vor einer Abschiebung vorläufigicher sind.
Zweitens können sie das, weil den Meldepflichten,ie mir von verschiedenen Ausländerbehörden berichteturde, so spät nachgekommen wird, dass die Betroffe-en in aller Regel schon längst wieder untergetauchtind.Die Initiative der Grünen ist nur für die Ausreise-flichtigen relevant, bei denen die Abschiebung unmit-elbar bevorsteht und alle dafür erforderlichen Papiereorhanden sind. Das ist also nur ein sehr kleiner Kreis,ei dem das Interesse des Staates an der Rückführungber besonders groß ist. Es wäre fair, wenn Sie gesagtätten, dass sich darunter natürlich auch Straftäter befin-en.
Insofern muss man schon fragen: Wie wirkt das dennuf die Mitarbeiter der Ausländerbehörden, die unterchwierigsten Bedingungen zum Teil jahrelang versu-hen, Ausländer in ihre Heimat zurückzuführen? Wieüssen sie sich vorkommen, wenn sie erfahren, dass einntergetauchter Ausreisepflichtiger auf Kosten derommune ärztlich behandelt wurde, was ihnen vomrankenhaus nicht mitgeteilt werden darf, und nach er-
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Reinhard Grindelfolgter Behandlung wieder untergetaucht ist? Das ist– mit Verlaub – eine Verhöhnung von Mitarbeitern derAusländerbehörden, die einen sehr schweren Job zu ma-chen haben.
Sie haben gesagt, dass in unserer Koalitionsvereinba-rung ein Prüfauftrag enthalten ist. In der Tat wird demAnliegen der Grünen durch die Koalition in einem Be-reich entsprochen werden. Wie Sie wissen, werden wirin einem Gesetz, das elf EU-Richtlinien zum Ausländer-recht in deutsches Recht umsetzt, eine Vorschrift aufneh-men, wonach Opfer von Menschenhandel eine Aufent-haltserlaubnis bekommen werden, wenn sie in einemProzess aussagen wollen. Das ist sinnvoll, weil wir wis-sen, dass Täter aus dem Bereich der organisierten Krimi-nalität oftmals nur mit Zeugenaussagen von Opfernüberführt werden können. Eine Ausweitung auf weitereStraftaten lehnen wir aus Missbrauchsgründen ab.
Die Frage der Verteilung der Opfer von Menschen-handel auf die einzelnen Bundesländer – auch das wirdin Ihrem Gesetzentwurf angesprochen –, zeigt, dass dieGrünen offenbar nicht wissen, dass sich alle Bundeslän-der bereits darauf verständigt haben, Opfer von Men-schenhandel von der länderübergreifenden Verteilungauszunehmen. Aber dieses Nichtwissen ist den Grünennachzusehen, weil sie ja an keiner Landesregierungmehr beteiligt sind.
Es ist dementsprechend wichtig, dass wir präzise he-rausarbeiten, worum es in dem Gesetzentwurf der Grü-nen geht.
Es geht nicht darum, dass Illegalen etwa medizinischeVersorgung vorenthalten würde. In Deutschland bestehtein Recht auf medizinische Gesundheitsversorgung. Esbesteht auch ein Recht auf Schulbesuch und auf die Ein-klagbarkeit des Lohns unabhängig vom Aufenthalts-recht. Es ist nur so, dass selbstverständlich die Behör-den, weil eine Ausreisepflicht besteht und wir es durchden Aufenthalt mit illegalem Verhalten zu tun haben,verpflichtet sind, den Ausländerbehörden die Illegalenzu melden.Was Sie vorschlagen, ist in einem Rechtsstaat nachmeiner Auffassung nicht möglich; denn Sie wollen imSozial- und Arbeitsrecht einen unerlaubten Aufenthaltmateriell absichern und damit verfestigen, der im Aus-länderrecht zur Beendigung des Aufenthalts und zurRückführung des Ausländers zwingend führen müsste.EGnGgBsuseDnSgsdpwh–hewmrHwrdA–ntAmg
ine solche Aufspaltung des Rechts ist innerhalb unsererrundrechtsordnung völlig undenkbar. Das machen wiricht mit, Herr Kollege.
Es ist auch keine Frage, dass der von Ihnen vorgelegteesetzentwurf gegen einen Grundsatz der in Aussichtenommenen Föderalismusreform verstößt, weil hier derund ideologisch motivierte Rechtsänderungen be-chließen soll, die den Kommunen enorme Kosten ver-rsachen würden. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Es istchon ein bisschen zynisch, wenn Sie in Ihrem Gesetz-ntwurf schreiben:Der Kostenumfang ist aufgrund der unbekanntenAnzahl der Betroffenen derzeit nicht zu prognosti-zieren.as kann nur eine Partei formulieren, die keine kommu-ale Basis hat. Ich halte das für nicht verantwortlich.
Ihr Gesetzentwurf würde auch die Verfolgung vonchwarzarbeit erheblich erschweren.Weil Sie die Frage der Strafbarkeit von Helfern an-esprochen haben, die aus humanitären Gründen ausrei-epflichtige Personen unterstützen, sage ich Ihnen: Aucha wird dramatisiert. Es gibt bisher – ich habe das über-rüfen lassen – keine einzige Verurteilung von Helfern,eil das strafrechtliche Instrumentarium ausreicht, umumanitäres Handeln angemessen zu berücksichtigen.
Lieber Herr Montag, da Sie den Zwischenruf gemachtaben: Wir können uns doch darauf verständigen, dasss keinen einzigen Fall gibt, wo ein Helfer verurteiltorden ist. Insofern bieten offenbar – das sagen Sie da-it – sowohl das Strafrecht als auch das Strafprozess-echt genügend Möglichkeiten, schon heute humanitäresandeln angemessen zu berücksichtigen. Ihr Vorschlagürde jedoch dazu führen, dass sich Täter aus dem Be-eich der organisierten Kriminalität humanitärer Legen-en bedienen und sich so der Strafe entziehen könnten.uch das wollen wir nicht.
Herr Montag, da gibt es nichts zu lachen. Ich weißicht, mit welchen Kreisen Sie als Rechtsanwalt in Kon-akt kommen.
ber es gibt die Fälle, dass Täter aus der organisierten Kri-inalität jede gesetzliche Möglichkeit nutzen, die ihneneboten wird, um sie für ihre Zwecke zu missbrauchen.
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Reinhard GrindelDas sollten wir ihnen nicht geben; denn eine Lehre ausdem Visa-Untersuchungsausschuss war ja, alle Formenvon Menschenhandel entschieden zu bekämpfen undnicht neue Möglichkeiten zu eröffnen.
Ich stelle fest: Es gibt in unserem Land kein men-schenrechtliches Problem im staatlichen Umgang mit Il-legalen. Es gibt erhebliche Probleme bei der Rückfüh-rung von Illegalen in ihre Heimat. Denen werden wir unsbei der Überarbeitung des Zuwanderungsgesetzes zu-wenden. Zur Begrenzung der Zuwanderung gehört auch,dass diejenigen, die kein Recht auf den Aufenthalt in un-serem Land haben, dieses wieder verlassen müssen. Dasliegt im Interesse von Integration und auch im Interesseeines friedlichen Zusammenlebens von Deutschen undAusländern.Ich sage Ihnen im Interesse einer humanitären Be-handlung von Illegalen zu: Was wir jetzt hinsichtlich derOpfer von Menschenhandel nicht vereinbaren, werdenwir im Rahmen der Prüfung – gerade auch im Kontaktmit Praktikern – diskutieren. Es besteht kein Anlass, des-halb den anderen einer inhumanen Politik zu verdächti-gen. Wir wollen, dass Deutsche und Ausländer – auchdie Illegalen – anständig behandelt werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wenn man über die Situation von illegalen Auslän-dern in Deutschland spricht, dann ist dies von vornhereinheikel. Denn bei einem solchen Thema kann es leicht zuMissverständnissen kommen. Deswegen möchte ich be-wusst mit der eigentlich völlig selbstverständlichen Aus-sage beginnen, dass illegale Migration in einem Rechts-staat nicht akzeptiert werden kann und dass der Staat dasRecht und die Pflicht hat, sich dagegen zur Wehr zu set-zen.
Ich übernehme daher auch nicht ganz die Formulie-rung des Kollegen Winkler, man müsse die Realität derSituation von Illegalen in Deutschland anerkennen. Ichbevorzuge vielmehr die Formulierung: Wir müssen unsdieser Realität stellen. Dass die Realität des Aufenthaltseiner unbekannt hohen Zahl von Illegalen in Deutsch-land einige Probleme aufwirft, die den Deutschen Bun-destag sehr wohl interessieren müssen, scheint klar zusein. Das ist nicht etwa ein Anliegen der Grünen, wie SieewghiulGwdwaSdgolllcnKdiRsgmtDdenflcdvgßsSlw
Alle Fraktionen dieses Bundestags waren oft zu Gastm Forum „Leben in der Illegalität“, das von Pater Altnd Schwester Bührle geleitet wurde. Wir haben dort ge-ernt, dass entgegen Ihren Ausführungen, Herr Kollegerindel, sehr wohl praktische Probleme bestehen, für dieir als Bundestag eine Lösung anbieten müssen, ohneass wir uns gegenseitig verdächtigen sollten, hierürde irgendjemand einen rechtsstaatlichen Grundsatzufgeben oder gar illegale Migration fördern oder eineogwirkung herbeiführen wollen.Worin bestehen die Probleme, die insbesondere voner katholischen Kirche so nachdrücklich an uns heran-etragen werden? Es besteht eine Rechtsunsicherheit,b sich diejenigen, die aus humanitären Gründen Hilfeeisten – beispielsweise Ärzte, die einem kranken Illega-en medizinische Versorgung zukommen lassen –, mög-icherweise der Beihilfe zu einer Straftat schuldig ma-hen. Ich meine, dass es eine solche Rechtsunsicherheiticht geben darf. Insofern ist der Bundestag verpflichtet,larstellungen vorzunehmen.
Auch ein weiterer Punkt ist bedenkenswert. Die Kin-er von Illegalen können doch am allerwenigsten fürhre Situation. Deshalb muss man bei allem, was Sie zuecht über Abschiebungen gesagt haben, die durchge-etzt werden müssen, darüber nachdenken, wie dennochewährleistet werden kann, dass diesen Kindern ein ele-entares Recht – nämlich der Zugang zum Bildungssys-em – nicht vorenthalten wird.
as berührt das Problem der Meldepflichten.Ihnen ist das Manifest vom 2. März 2005 bekannt,as sich mit diesen Fragen befasst. Kollege Winkler hats bereits erwähnt. Aus Anlass der Debatte habe ichachgesehen, welche honorigen Personen dieses Mani-est unterzeichnet haben. Es sind Mitglieder aller dama-igen vier Bundestagsfraktionen. Drei von ihnen spre-hen übrigens in der heutigen Debatte. Für mich istabei besonders interessant, dass das Manifest, mit demon uns als Gesetzgeber verlangt wird, dass wir die Au-en vor diesen Problemen wenigstens nicht verschlie-en, auch von Vertretern von Berufsverbänden der deut-chen Kriminalbeamten, der Polizeigewerkschaft, vonicherheitsbehörden, Kirchen, einem Kardinal und vie-en anderen respektablen Persönlichkeiten unterzeichnetorden ist.
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Dr. Max StadlerWenn dies nicht Beweis genug ist, darf ich daran erin-nern, dass uns die Unabhängige Kommission „Zuwande-rung“ unter der Leitung von Frau Professor Dr. RitaSüssmuth und dem ebenfalls allseits anerkannten frühe-ren SPD-Vorsitzenden Dr. Hans-Jochen Vogel, der beider Trauerfeier für Johannes Rau eine sehr bewegendeRede gehalten hat, klare Ratschläge gegeben hat. Dieseunabhängige Kommission hat uns ganz klare Ratschlägegegeben. Die Kommission empfiehlt,… in den allgemeinen Verwaltungsvorschriftenzum Ausländergesetz– so hieß es damals –eindeutig klarzustellen, dass Schulen und Lehrernicht verpflichtet sind, den Behörden ausländischeSchüler zu melden, die sich illegal in Deutschlandaufhalten.Die Süssmuth/Vogel-Kommission, an der zum Beispielauch Cornelia Schmalz-Jacobsen, die ehemalige Auslän-derbeauftragte, mitgearbeitet hat, empfiehlt uns des Wei-teren, klarzustellen, dass Personen, die sich aus humani-tären Gründen um Illegale kümmern, nicht wegenBeihilfe in Strafverfahren gezogen werden dürfen.Wir sollten diese Ratschläge beherzigen und im Aus-schuss über die Einzelheiten – genauso wie Sie, HerrGrindel, es in dem versöhnlichen Schlussteil Ihrer Redegesagt haben – sachlich und ergebnisoffen debattieren.Es ist seit langem ein Anliegen der FDP, dass diese De-batte im Hohen Haus geführt wird. Ich bin froh, dass wirnun an dieser Stelle angelangt sind.
Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Veit von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe es mir zwar nicht ausgesucht, an dieser Stelle derDebatte vielleicht das eine oder andere wieder zusam-menzuführen, was ansatzweise den erreichten Konsensgefährdet. Aber ich bin schon von der Rednerabfolge heroffenkundig in dieser Rolle.Was die Grünen mit ihrem Antrag bezwecken, istvom Grundsatz her ein ebenso wichtiges wie berechtig-tes Anliegen.
Ich glaube, dass das Gebot unserer Verfassung „DieWürde des Menschen ist unantastbar“ mit der Lebens-wirklichkeit vieler in Deutschland illegal lebender Men-schen nicht in Einklang zu bringen ist, genauso wenigwie mit unser aller Verständnis von einem menschen-würdigen Leben. Ich sehe hier die Dinge etwas proble-matischer als Sie, Herr Grindel.DJhgRAgDmswghsdtuvASgGMAdvlttzrhmGtpsHgHMsqazjbg
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Ärzte und Krankenschwestern, die den Betreffenden hel-fen können oder helfen wollen, sollen nicht befürchtenmüssen, dass sie sich strafrechtlicher Verfolgung ausset-zen.Herr Grindel und Herr Winkler, ich unterbreche un-gern Ihren Dialog, aber ich komme genau zu den hand-lungsleitenden Notwendigkeiten, die daraus für uns er-wachsen. Wer sich in der Situation befindet, dass erillegal hier arbeitet und dass ihm sein Arbeitgeber ausniederträchtigen Gründen oder Unfähigkeit den Lohnvorenthält,
der muss vor das Arbeitsgericht gehen können, um dortseinen Lohnanspruch einzuklagen,
ohne dass er Angst haben muss, das Arbeitsgerichtwerde die Tatsache seines Aufenthalts und seiner Arbeitden Ausländerbehörden vortragen. So ähnlich ist es mitSozialarbeitern, die sich sinnvollerweise um Familienkümmern sollten, in denen Frauen, Kinder oder Jugend-liche von Gewalt bedroht sind. Man könnte die Beispielefortführen.Wir haben das – jetzt komme ich zu dem vielleichtentscheidenden Punkt, an dem ich von dem abweiche,was uns die Grünen vorschlagen – in der Tat sehr langeJahre, wie ich finde, verkürzt nur unter dem Gesichts-punkt von Mitteilungspflichten und Strafbarkeit disku-tiert. Es gehört aber mehr dazu. Ich komme gleich dazu.Insoweit – das darf ich freundschaftlich und kollegial sa-gen – ist der Antrag der Grünen ein Stück weit nach demMotto zu bewerten: Gut gemeint – das eint uns ja viel-leicht alle – ist noch lange nicht gut gemacht bzw. nichtgut genug gemacht.
Was die Frage der Strafbarkeit angeht, so ist in derTat nach den Recherchen, die der wissenschaftlicheDienst auf mein Betreiben hin angestellt hat, noch nie-mand wegen Beihilfe zu illegalem Aufenthalt hier inDeutschland verurteilt worden, wenn er nur aus humani-tären Gründen geholfen hat. Ich erinnere daran, dass dasStrafverfahren, das in Bonn anhängig gewesen ist, einenganz anderen rechtlichen Hintergrund hatte, nämlich dender Veruntreuung öffentlicher Gelder. Was hindert unsdenn daran, zum Beispiel in den vorläufigen Anwen-dungshinweisen und dann später in den Verwaltungsvor-schriften zum Aufenthaltsgesetz ausdrücklich klarzustel-len, dass sich solche Personen nicht strafbar machen?Dafür brauchen wir keine Gesetzesänderung. Das kannasEdWliostamgWinwmpKltpSz§dnEtinsdiedsldmsfIelwgwPmd
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Ich bin froh, dass auch unser neuer Koalitionspartnerdiese Notwendigkeit ausdrücklich anerkannt hat. Wirsollten uns auf den Weg machen.Danke schön.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort der Kollegin Sevim Dagdelen von
der Fraktion Die Linke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen undKollegen! Wenn es um die Situation von Menschen ohneAufenthalt geht, befindet sich Deutschland weitab vonden Entwicklungen in anderen europäischen Ländern,wie auch hier bereits ausgeführt wurde. In keinem ande-ren europäischen Land schweigen Politiker derart hart-näckig über das Faktum, dass in ihrer Gesellschaft einehalbe bis 1 Million Menschen illegal leben und arbeiten.Und in keinem anderen europäischen Land begegnet diePolitik diesem Problem ausschließlich mit polizeilichenund aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen.Deutschland ist meines Erachtens dazu verpflichtet,die in internationalen Konventionen verbrieften sozialenMenschenrechte auch für Menschen ohne Aufenthaltfaktisch durchsetzbar zu machen.
Das Argument, man könne den verbotenen Aufenthaltvon Illegalisierten nicht materiell absichern, leugnetmeines Erachtens den Charakter der Menschenrechte;diese gelten nämlich immer noch voraussetzungslos. DieEVdühftwksrmSgArglibdnadikspdssüisdeglsVoOlvÄnhv(C(Dinhaltung von Menschenrechten kann also nicht an dasorhandensein eines Aufenthaltstitels geknüpft sein.Das Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfs isteswegen ausdrücklich zu begrüßen. Richtig und längstberfällig ist es, die Beihilfe zum humanitären Aufent-alt zu entkriminalisieren und die Meldepflicht für öf-entliche Stellen abzuschaffen. Sie ist eine Denunzia-ionsverpflichtung für Schuldirektoren und für Richter.Anders als die Vorredner deutlich gemacht haben,eist der Entwurf allerdings erhebliche Mängel auf. Ernüpft eine Aufenthaltserlaubnis für Opfer von Men-chenhandel, Zwangsprostitution und Zwangsarbeit da-an, dass die betroffene Person für die strafrechtliche Er-ittlung nützliche Aussagen liefern kann. Hier wird daschicksal der Menschen von der Beweislage abhängigemacht.Ferner wird nicht sichergestellt, dass Betroffene ihrenufenthaltstitel nach Beendigung des Gerichtsverfah-ens nicht wieder verlieren. Im Falle einer Aussage ge-en ihre Misshandler befürchten die Betroffenen näm-ich oftmals Repressalien, wenn sie nach einem Prozessn ihre Herkunftsländer zurückkehren. Auch deshalb ha-en sie Angst vor der Zusammenarbeit mit den Behör-en hier. So eröffnet der Entwurf für die Betroffenenicht die Möglichkeiten, die er ihnen verspricht: die In-nspruchnahme ihrer Rechte.In der Begründung ist von der „Pflicht des Staates“ie Rede – das ist auch hier deutlich gemacht worden –,llegale Einwanderung und illegalen Aufenthalt zu be-ämpfen. Eine solche Pflicht gibt es nicht. Man findetie auch nicht im Grundgesetz. Allenfalls gilt die Ver-flichtung des Staates nach Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz,ie Menschenrechte zu achten, zu schützen und auch dieozialen Menschenrechte in Verbindung mit dem Sozial-taatsprinzip durchsetzbar zu machen.Die Bundestagsfraktion Die Linke hält es für längstberfällig, dass Menschen ohne Aufenthalt endlich diehnen zustehenden sozialen Menschenrechte in An-pruch nehmen können. Wir sehen es ebenfalls als unab-ingbar an, diesen Menschen auch eine Perspektive aufine Legalisierung ihrer Existenz zu eröffnen. Für michilt der Grundsatz: Kein Mensch ist illegal.
Von Politikern heißt es oft, die Menschen in Deutsch-and seien für Legalisierungen wie in anderen europäi-chen Ländern nicht reif. Aber da täuschen sie sich.iele Menschen ohne Aufenthalt leben seit drei, fünfder sogar zehn Jahren mitten in unserer Gesellschaft.hne die vielfältige Unterstützung, die sie meist heim-ich von weiten Teilen der Gesellschaft – von Kirchen-erbänden, Migrantencommunities, Nachbarn oder auchrzten – erfahren, wäre ein Leben in dieser Illegalitäticht möglich.Diese Unterstützung ist aber nicht nur Ausdruck einerumanitären Solidarität. Diese Menschen und mit ihneniele Kommunen und Städte in Deutschland haben
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Sevim Dagdelenbegriffen, dass man problembezogen und auch realitäts-nah handeln muss, statt vor der Situation von Illegali-sierten die Augen zu verschließen.Ich bedanke mich.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/445 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 10. Februar 2006,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.