Protokoll:
15028

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 15

  • date_rangeSitzungsnummer: 28

  • date_rangeDatum: 20. Dezember 2003

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 17:23 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 2127 A Zur Geschäftsordnung: Jürgen Koppelin FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2127 D Walter Schöler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2129 A Dietrich Austermann CDU/CSU . . . . . . . . . . 2129 D Anja Hajduk BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2130 D Tagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Einsetzung einer Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ (Drucksache 15/464) . . . . . . . . . . . . . . 2132 A b) Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Neue Initiative für ein internationales Verbot des Klonens menschlicher Embryonen starten (Drucksache 15/463) . . . . . . . . . . . . . . 2132 A c) Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Reproduk- tives Klonen weltweit verbieten – das Machbare schnell umsetzen (Drucksache 15/314) . . . . . . . . . . . . . . 2132 A Gudrun Schaich-Walch SPD . . . . . . . . . . . . . 2132 B Dr. Maria Böhmer CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 2133 C Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2135 D Ulrike Flach FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2137 C Christoph Matschie, Parl. Staatssekretär BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2139 A Thomas Rachel CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 2139 D Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2141 B Detlef Parr FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2142 D Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos . . . . . . . . . . 2143 D René Röspel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2144 C Hubert Hüppe CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . 2146 A Dr. Wolfgang Wodarg SPD . . . . . . . . . . . . . . 2147 B Barbara Lanzinger CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 2148 D Dr. Carola Reimann SPD . . . . . . . . . . . . . . . 2150 A Katherina Reiche CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 2151 A Helga Kühn-Mengel SPD . . . . . . . . . . . . . . . 2152 B Helmut Heiderich CDU/CSU . . . . . . . . . . . . 2153 B Jörg Tauss SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2154 C Tagesordnungspunkt 4: a) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Straßenbaubericht 2002 (Drucksache 15/265) . . . . . . . . . . . . . . 2156 A b) Unterrichtung durch die Bundesregie- rung: Bericht zum Ausbau der Schie- nenwege 2002 (Drucksache 15/280) . . . . . . . . . . . . . . 2156 A c) Erste Beratung über den von den Abge- ordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP Plenarprotokoll 15/28 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 28. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 I n h a l t : eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Verkehrs- wegeplanungsbeschleunigungsgesetzes (Drucksache 15/221) . . . . . . . . . . . . . . 2156 B in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Erste Beratung über den von den Abgeord- neten Arnold Vaatz, Dirk Fischer (Ham- burg), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent- wurf eines Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleunigungs- gesetzes (Drucksache 15/461) . . . . . . . . . . . . . . . . 2156 B Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2156 C Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 2158 C Peter Hettlich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2160 A Horst Friedrich (Bayreuth) FDP . . . . . . . . . . 2161 C Sören Bartol SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2163 C Renate Blank CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . . . 2165 B Siegfried Scheffler SPD . . . . . . . . . . . . . . 2165 D Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2168 B Renate Blank CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 2168 D Eduard Lintner CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . . 2170 A Karin Rehbock-Zureich SPD . . . . . . . . . . . . 2172 C Gerhard Wächter CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 2174 A Siegfried Scheffler SPD . . . . . . . . . . . . . . . . 2175 C Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines ... Straf- rechtsänderungsgesetzes – Graffiti- Bekämpfungsgesetz – (... StrÄndG) (Drucksache 15/404) . . . . . . . . . . . . . . 2177 B b) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Für eine Internationale Sicherheitsinitiative für Nordostasien (Drucksache 15/469) . . . . . . . . . . . . . . 2177 C Tagesordnungspunkt 12: a) – d) Beschlussempfehlungen des Petitions- ausschusses: Sammelübersicht 15, 16, 17 und 18 zu Petitionen (Drucksachen 15/424, 15/425, 15/426 und 15/427) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2177 C Zusatztagesordnungspunkt 4: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zu den Streitsachen vordem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/02 und 2 BvE 2/02 (Drucksache 15/479) . . . . . . . . . . . . . . . . 2178 A Tagesordnungspunkt 5: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Seesicherheit optimie- ren – nationaler und europäischer Handlungsbedarf nach Tankerunter- gang der „Prestige“ (Drucksachen 15/192, 15/370) . . . . . . 2178 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zur „Mariti- men Sicherheit auf der Ostsee“ (Drucksachen 14/9487, 15/345 Nr. 69, 15/488) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2178 B Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU 2178 B Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin BMVBW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2180 B Hans-Michael Goldmann FDP . . . . . . . . . . . 2181 B Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2182 B Werner Kuhn (Zingst) CDU/CSU . . . . . . . . . 2183 C Annette Faße SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2184 D Dr. Wolfgang Methling, Minister (Mecklenburg-Vorpommern) . . . . . . . . . . . . . 2186 A Eckart von Klaeden CDU/CSU . . . . . . . . 2186 C Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Dr. Christian Eberl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ökologisch sinnvolle und effiziente Alternativen zum Zwangspfand auf Getränkever- packungen (Drucksache 15/315) . . . . . . . . . . . . . . . . 2188 A Birgit Homburger FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . 2188 B Gerd Friedrich Bollmann SPD . . . . . . . . . . . 2189 B Birgit Homburger FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . 2192 B Gerd Friedrich Bollmann SPD . . . . . . . . . . . 2192 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003II Werner Wittlich CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 2192 D Dr. Antje Vogel-Sperl BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2195 C Kristina Köhler (Wiesbaden) CDU/CSU . . . 2197 A Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Peter Weiß (Em- mendingen), Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU: Neue Initiative zur Wiederbele- bung des kolumbianischen Friedenspro- zesses international unterstützen (Drucksache 15/203) . . . . . . . . . . . . . . . . 2198 B Hartwig Fischer (Göttingen) CDU/CSU . . . 2198 C Karin Kortmann SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2199 C Dr. Werner Hoyer FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . 2200 D Thilo Hoppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2201 C Klaus-Jürgen Hedrich CDU/CSU . . . . . . . . . 2202 D Anke Hartnagel SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2203 D Tagesordnungspunkt 10: Erste Beratung über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über eine einmalige Entschädigung an die Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet (Heimkehrerentschädigungsgesetz) (Drucksache 15/407) . . . . . . . . . . . . . . . . 2204 D Hartmut Büttner (Schönebeck) CDU/CSU 2205 A Gerold Reichenbach SPD . . . . . . . . . . . . . . . 2206 C Dr. Christoph Bergner CDU/CSU . . . . . . 2207 D Klaus Haupt FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2208 D Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2209 C Arnold Vaatz CDU/CSU . . . . . . . . . . . . . 2210 B Horst Rasch, Staatsminister (Sachsen) . . . . . 2210 D Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung über den von den Abgeord- neten Jörg van Essen, Rainer Funke, weite- ren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum verbesserten Schutz der Intimsphäre (Drucksache 15/361) . . . . . . . . . . . . . . . . 2211 D Jörg van Essen FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2212 A Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ 2212 C Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) CDU/CSU 2213 C Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2215 A Dirk Manzewski SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2216 A SiegfriedKauder(BadDürrheim) CDU/CSU 2217 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2217 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 2219 A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Rolf Stöckel, Kurt Bodewig, Siegmund Ehrmann, Gabriele Frechen, Kerstin Griese, Jelena Hoffmann (Chemnitz), Eike Hovermann, Eckhart Lewering, Lothar Mark, Dr. Erika Ober, Silvia Schmidt (Eisleben), Carsten Schneider, Karsten Schönfeld, Rita Streb-Hesse, Dr. Marlies Volkmer, Dr. Rainer Wend, Karin Evers-Meyer, Sören Bartol und Dr. Margit Spielmann (alle SPD) zu der Abstimmung über den Antrag: Neue Initiative für ein internationales Verbot des Klo- nens menschlicher Embryonen starten (Drucksache 15/463) (Tagesordnungspunkt 3) 2219 C Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Petra Selg, Werner Schulz (Berlin), Dr. Uschi Eid und Jerzy Montag (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) zu der Abstimmung über den Antrag: Neue Initiative für ein internationales Verbot des Klonens menschlicher Embryonen starten (Drucksache 15/463) (Tagesordnungspunkt 3) 2219 D Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn), Georg Fahrenschon, Peter Hintze und Ursula Heinen (alle CDU/CSU) zu der Abstimmung über den Antrag: Neue Initiative für ein internationales Verbot des Klonens menschlicher Embryonen starten (Drucksache 15/463) (Tagesordnungspunkt 3) 2220 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 III (A) (B) (C) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2127 28. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 Beginn: 9.00 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2219 (C) (D) (A) (B) Bahr (Münster), Daniel FDP 20.02.2003 Büttner (Ingolstadt), SPD 20.02.2003 Hans Deittert, Hubert CDU/CSU 20.02.2003* Dobrindt, Alexander CDU/CSU 20.02.2003 Ernstberger, Petra SPD 20.02.2003 Dr. Faust, Hans Georg CDU/CSU 20.02.2003 Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 20.02.2003 Göbel, Ralf CDU/CSU 20.02.2003 Götz, Peter CDU/CSU 20.02.2003* Höfer, Gerd SPD 20.02.2003** Hoffmann (Chemnitz), SPD 20.02.2003 Jelena Jäger, Renate SPD 20.02.2003* Kossendey, Thomas CDU/CSU 20.02.2003** Künast, Renate BÜNDNIS 90/ 20.02.2003 DIE GRÜNEN Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 20.02.2003 DIE GRÜNEN Nitzsche, Henry CDU/CSU 20.02.2003 Raidel, Hans CDU/CSU 20.02.2003** Rauber, Helmut CDU/CSU 20.02.2003** Schmidt (Eisleben), SPD 20.02.2003 Silvia Thiele, Carl-Ludwig FDP 20.02.2003 Volquartz, Angelika CDU/CSU 20.02.2003 Weisskirchen SPD 20.02.2003** (Wiesloch), Gert Wettig-Danielmeier, SPD 20.02.2003 Inge Widmann-Mauz, CDU/CSU 20.02.2003 Annette Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 20.02.2003** Zapf, Uta SPD 20.02.2003** * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung der OSZE entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Rolf Stöckel, Kurt Bodewig, Siegmund Ehrmann, Gabriele Frechen, Kerstin Griese, Jelena Hoffmann (Chemnitz), Eike Hovermann, Eckhart Lewering, Lothar Mark, Dr. Erika Ober, Silvia Schmidt (Eisleben), Carsten Schneider, Karsten Schönfeld, Rita Streb-Hesse, Dr. Marlies Volkmer, Dr. Rainer Wend, Karin Evers-Meyer, Sören Bartol und Dr. Margrit Spielmann (alle SPD) zu der Ab- stimmung über den Antrag: Neue Initiative für ein internationales Verbot des Klonens mensch- licher Embryonen starten (Drucksache 15/463) (Tagesordnungspunkt 3) Die oben genannten Abgeordneten können diesem An- trag nicht zustimmen und geben dazu folgende persön- liche Erklärung ab: Internationale Initiativen gegen das reproduktive Klonen mit dem Ziel, eine Konvention der Vereinten Nationen zu ethischen Fragen der Biomedizin zu erreichen, sind zu be- grüßen.Wünschenswert ist einebessereHarmonisierungder bioethischen Standards, die internationale Kontrollmecha- nismenmit forschungsfreundlichenRegelungen vereinbart. Wir sind nicht einverstanden, dass unter Begrifflich- keiten wie „umfassendes Klonverbot“ reproduktives und therapeutisches Klonen gleichgesetzt und beides damit in einen negativen Diskussionszusammenhang gebracht wird. Gerade in einer Zeit rasanter wissenschaftlicher Entwicklungen mit vielfältigen, durchaus berechtigten Hoffnungen auf eine verbesserte medizinische Versor- gung und Heilung brauchen wir einen offenen, aufklä- renden gesellschaftlichen Diskurs über Chancen und Ri- siken der Gentechnik, der Stammzellenforschung und des „therapeutischen Klonens“. Zurzeit kann noch nicht eingeschätzt werden, in welcher Art undWeise, inwelchemUmfang und inwelchenZeiträu- menErgebnisse der Forschungmit embryonalen Stammzel- len sowie des „therapeutischen Klonens“ klinisch relevant werden.MöglicheChancendürfenabernichtdurchgenerelle Verbote verbaut werden. Unter strengenAuflagen sollte die Forschung zugelassen werden. Dies ist allerdings nur dann vertretbar, wenn mit staatlichen Rahmenbedingungen und Kontrollmechanismen Forschungsprojekte sowie neue Dia- gnose- und Therapiemöglichkeiten begleitet und in einem gesellschaftlichenDialog transparent gemacht werden. Der Deutsche Bundestag wird in diesem Zusammen- hang auch in Zukunft mit wichtigen Fragestellungen und Anforderungen konfrontiert werden, denen wir uns nicht durch absolute Verbote entziehen können und sollten. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Petra Selg, Werner Schulz (Berlin), Dr. Uschi Eid und Jerzy Montag (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu der Abstim- mung über den Antrag: Neue Initiative für ein in- ternationales Verbot des Klonens menschlicher Embryonen starten (Drucksache 15/463) (Tages- ordnungspunkt 3) Die oben genannten Abgeordneten werden diesem An- trag zwar zustimmen, aber geben dazu folgende persönli- che Erklärung ab: Internationale Initiativen gegen das reproduktive Klo- nen mit dem Ziel, eine Konvention der Vereinten Natio- nen zu ethischen Fragen der Biomedizin zu erreichen, sind zu begrüßen. Wünschenswert ist eine bessere Harmonisierung der bioethischen Standards, die internationale Kontrollmecha- nismen mit forschungsfreundlichen Regelungen vereinbart. Wir finden es unangemessen, dass unter Begrifflich- keiten wie „umfassendes Klonverbot“ reproduktives und therapeutisches Klonen gleichgesetzt und beides damit in einen gleichgewichtigen negativen Diskussionszusam- menhang gebracht wird. Gerade in einer Zeit rasanter wis- senschaftlicher Entwicklungen mit vielfältigen, zum Teil auch berechtigten Hoffnungen auf eine verbesserte medi- zinische Versorgung und Heilung brauchen wir einen of- fenen, aufklärenden gesellschaftlichen Diskurs über Chancen und Risiken der Gentechnik, der Stammzellenfor- schung und des so genannten therapeutischen Klonens. Zurzeit kann noch nicht eingeschätzt werden, in welcher Art und Weise, in welchem Umfang und in welchen Zeiträumen Ergebnisse der Forschung mit embryonalen Stammzellen sowie des so genannten therapeutischen Klo- nens klinisch relevant werden. Unter strengen Auflagen sollte die Forschung zugelassen werden. Dies ist allerdings nur dann vertretbar, wenn mit staatlichen Rahmenbedin- gungen und Kontrollmechanismen Forschungsprojekte so- wie neue Diagnose- und Therapiemöglichkeiten begleitet und in einem gesellschaftlichen Dialog transparent ge- macht werden. Der Deutsche Bundestag wird in diesem Zusammen- hang auch in Zukunft mit wichtigen Fragestellungen und Anforderungen konfrontiert werden, denen wir uns nicht durch absolute Verbote entziehen können und sollten. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Martin Mayer (Siegerts- brunn), Georg Fahrenschon, Peter Hintze und Ursula Heinen (alle CDU/CSU) zu der Abstim- mung über den Antrag: Neue Initiative für ein in- ternationales Verbot des Klonens menschlicher Embryonen starten (Drucksache 15/463) (Tages- ordnungspunkt 3) Wir befürworten nachdrücklich ein weltweites Verbot des reproduktiven Klonens beim Menschen. Allerdings verlangt der Antrag ein weltweites Verbot jeglichen Klo- nens bei menschlichen Zellen. Er verlangt damit auch ein Verbot der Transplantation menschlicher Zellkerne zu Forschungszwecken. Auch wenn umstritten ist, ob dieser Weg einmal zu therapierelevanten Erkenntnissen führen kann, so sollten die möglicherweise darin liegenden Chancen nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Deshalb können wir diesem Antrag nicht zustimmen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 20032220 (C) (D) (A) (B) Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin
Gesamtes Protokol
Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502800000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene

Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:

1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU zu
den Antworten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen
in Drucksache 15/460

2. Erste Beratung des von den Abgeordneten Arnold Vaatz, Dirk
Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleuni-
gungsgesetzes (Drucksache 15/461)

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei-

nes ... Strafrechtsänderungsgesetzes – Graffiti-Bekämpfungs-
gesetz – (... StrÄndG) (Drucksache 15/404)
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP:
Für eine Internationale Sicherheitsinitiative für Nordostasien

(Drucksache 15/469)

Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

4. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache

(Ergänzung zu TOP 12)

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechts-

(6. Ausschuss zu den Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/02 und 2 BvE 2/02 (Drucksache 15/479)

Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim)


Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweit
erforderlich – abgewichen werden.

Außerdem wurde vereinbart, den Tagesordnungs-
punkt 10 – Heimkehrerentschädigungsgesetz – und den
Tagesordnungspunkt 11 – Schutz der Intimsphäre – be-
reits heute nach Tagesordnungspunkt 7 aufzurufen.

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir
einenGeschäftsordnungsantrag zu behandeln. Die Frak-
tion der FDP hat fristgerecht beantragt, die heutige Ta-
gesordnung um die Beratung ihres Antrags auf Druck-
sache 15/458 mit dem Titel „Haushaltsentwurf 2003
überarbeitet vorlegen“ zu erweitern.

Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege Jürgen
Koppelin, FDP-Fraktion.


Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1502800100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Fraktion der Freien Demokraten verlangt in ihrem Antrag,
dass der Haushalt von Bundesfinanzminister Eichel zu-
rückgezogen und überarbeitet wird.


(Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Büttenrede!)


Wir möchten diesen Antrag heute diskutieren. Die rot-
grüne Koalition lehnt die Aufsetzung des Antrags auf die
Tagesordnung und damit die Diskussion heute ab. Das
nennt man Arroganz der Macht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Wir bedauern sehr, dass wir nun mit einer Geschäftsord-
nungdebatte versuchen müssen, zu erreichen, dass dieser
Antrag auf die Tagesordnung gesetzt wird.

Heute soll der Haushaltsentwurf 2003 im Haushalts-
ausschuss des Bundestages abschließend beraten werden.
Jede Kollegin und jeder Kollege im Deutschen Bundestag
konnte in den letzten Wochen erkennen, dass der von Bun-
desfinanzminister Eichel vorgelegte Haushaltsentwurf




Jürgen Koppelin
2003 nicht den Tatsachen entspricht, sondern geschönt
und unrealistisch ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Bundesfinanzminister Eichel ist zur Haushaltswahr-

heit verpflichtet; aber auch der Deutsche Bundestag – wir
alle – ist zur Haushaltswahrheit verpflichtet. Es ist daher
völlig unverständlich, dass ein Bundeshaushalt 2003 ver-
abschiedet werden soll, von dem jeder im Bundestag
weiß, dass wichtige Daten und Zahlen nicht stimmen und
dass er höchstens noch ein Dokument einer verfehlten Ar-
beitsmarkt- und Konjunkturpolitik sowie besonders auch
einer verfehlten Steuerpolitik ist. Weder der im Haushalts-
entwurf 2003 vorgesehene Ansatz für die Arbeitslosen-
hilfe noch das Vorhaben, ohne Zuschuss für die Bundes-
anstalt für Arbeit auszukommen, ist realistisch. Die
schwache Konjunktur hat keine Berücksichtigung im
Bundeshaushalt gefunden. Die im Bundeshaushalt 2003
angenommenen Steuereinnahmen sind allein Wunsch-
denken des Bundesfinanzministers.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Heute können Sie im „Handelsblatt“ lesen: Eichel bre-
chen die Einnahmen weg, allein um 22 Prozent gegenüber
dem Vorjahr. Das sind doch Zahlen, an denen man nicht
vorbei kann.

Um den Haushalt überhaupt ausgleichen zu können,
greifen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, nun zu Me-
thoden einer Bananenrepublik.


(Widerspruch bei der SPD)

Da sollen plötzlich Milliarden aufgrund eines Steuer-
amnestiegesetzes fließen. Ein Amnestiegesetz ist richtig;
aber ob die Höhe der geschätzten Steuereinnahmen richtig
ist, wissen Sie überhaupt nicht. Ich nenne Ihnen einmal ein
paar Zahlen aus dieser Woche, immer veröffentlicht vom
Finanzministerium. Dienstagmorgen: geschätzte Einnah-
men durch die Steueramnestie: 1 Milliarde Euro. Bereits
Dienstagabend: Schätzung durch den Finanzminister:
2 Milliarden Euro. Mittwochmorgen vermelden die Me-
dien: Bundesfinanzminister hofft auf 5 Milliarden Euro
Steuereinnahmen. – Das ist peinlich; das ist unseriös; das
hat mit vernünftiger Haushaltspolitik nichts zu tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Glauben Sie doch nicht, dass Sie Einnahmen in dieser

Höhe bekommen! Wenn Sie hier in Deutschland keine
vernünftige Steuerpolitik machen, wird niemand sein Ka-
pital zurückholen. Deshalb werden Sie mit Einnahmen in
dieser Höhe nicht rechnen können.

Aufgrund der schlechten, hausgemachten Konjunktur-
entwicklung haben wir steigende Arbeitslosenzahlen:
4,6 Millionen; andere rechnen bereits mit 5 Millionen.
Der Bundesfinanzminister ignoriert diese Zahlen.

Bundesfinanzminister Eichel träumt weiter den Traum
vom Wirtschaftswachstum, ohne mit seinem Haushalts-
entwurf der falschen Daten und Zahlen überhaupt Im-
pulse dafür zu geben. Wenn dieser Haushalt, den der Bun-
destag in Kürze beschließen soll, nicht umgehend von
Bundesfinanzminister Eichel überarbeitet wird, werden

wir das gleiche Szenario wie im letzten Jahr erleben:
Maastricht-Kriterien nicht erfüllt – wie im letzten Jahr –,
ein Nachtragshaushalt ist nötig – wie im letzten Jahr –,
noch mehr Schulden – wie im letzten Jahr.

Auch im Jahr 2002 wurde von Rot-Grün ein Haushalt
beschlossen, der an der Realität vorbeiging. Die Zahlen
waren manipuliert. Da wurde getrickst und getäuscht und
die Öffentlichkeit belogen. Es war ja Bundestagswahl.
Und das alles, obwohl die Fakten und die Tatsachen jedem
Mitarbeiter im Bundesfinanzministerium bekannt und
klar waren. Die Aussagen des Staatssekretärs Overhaus
vom Bundesfinanzministerium vor dem Untersuchungs-
ausschuss haben deutlich gemacht, dass Bundesfinanz-
minister Eichel den Bezug zur Realität längst verloren hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Deswegen wagen nicht einmal die höchsten Mitarbeiter
im Finanzministerium, diesem Bundesfinanzminister die
Zahlen überhaupt noch vorzulegen: weil er sie nicht wahr-
nehmen will.

Das zeigt auch der Bundeshaushalt 2003. Bundes-
finanzminister Eichel hat dem Deutschen Bundestag ei-
nen Haushaltsentwurf zur Verfügung gestellt und zur Be-
ratung vorgelegt, zu dem man nur sagen kann: Empfänger
verweigert Annahme. Eine andere Reaktion ist da über-
haupt nicht möglich.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundesfinanzminis-
ter Eichel hat nicht mehr die Kraft, einzugestehen, dass
sein Haushaltsentwurf 2003 bereits nicht einmal mehr das
Papier wert ist, auf dem er steht.


(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Das konnten wir auch gestern im Haushaltsausschuss er-
leben. Diejenigen, die zurufen, waren nämlich dabei. Sie
wissen, dass es so ist. Daher muss der Deutsche Bundes-
tag die Kraft haben, diesen Haushaltsentwurf an den Bun-
desfinanzminister zurückzuüberweisen.

Der Bundeshaushalt ist das Schicksalsbuch der Nation.

(Zurufe von der SPD: Oh! – René Röspel [SPD]: Damit haben Sie 16 Jahre Erfahrung!)

Bundesfinanzminister Eichel macht aus diesem Schick-
salsbuch das Märchenbuch der Nation. Sie können heute
unseren Wunsch nach einer Debatte ablehnen. Dafür ha-
ben Sie voraussichtlich die Mehrheit. Die Konsequenz
wird nur sein, dass Bundesfinanzminister Eichel mit dem
Haushaltsentwurf 2003 seinen letzten Haushaltsentwurf
diesem Deutschen Bundestag vorgelegt hat. Er wird die-
ses Jahr nicht mehr als Bundesfinanzminister überstehen.


(Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Koppelin, das ist Wunschdenken!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, man hat bei Ihnen den
Eindruck, der rot-grünen Koalition und dem Bundeskanz-
ler wäre das sogar recht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Franz Müntefering [SPD]: Können Sie das alles noch einmal wiederholen?)



(A)



(B)



(C)



(D)


2128


(A)



(B)



(C)



(D)







Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502800200

Ich erteile das Wort Kollegen Walter Schöler, SPD-

Fraktion.


Walter Schöler (SPD):
Rede ID: ID1502800300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

glaube, du, Jürgen Koppelin, merkst gar nicht und die
FDP-Fraktion merkt ebenfalls nicht, dass ihr euch mit die-
sem Antrag hier nur lächerlich macht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ebendeshalb gehört dieser Antrag heute nicht auf die Ta-
gesordnung. Wir sind nicht bereit, Haushaltsberatungen,
die im März stattfinden werden, auf heute vorzuziehen.

Wer wie die FDP einen solchen Antrag stellt und – das
füge ich hinzu – wer einen solchen Antrag heute unter-
stützt, der stellt nicht nur die schwierige und ernsthafte
Arbeit des Haushaltsausschusses und seiner Mitglieder
infrage, sondern auch sich selbst. Das geschieht mit die-
sem Antrag.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie lenken nicht nur von der eigenen Konzeptlosigkeit bei
den Beratungen der letzten Wochen ab, sondern wollen
auch noch aus bestimmten Gründen die Öffentlichkeit
täuschen.

Gerade heute ist diese Koppelin-Show völlig fehl am
Platz. Denn Fakt ist doch: Der Bundeshaushalt 2003 ist
wie jeder Haushalt zuvor nach dem bewährten Verfah-
rensablauf bearbeitet und beraten worden. Das heißt, er
ist nach den aktuellen Erkenntnissen der Regierung
Ende letzten Jahres erstellt worden. Er ist – im Übrigen
mit Zustimmung der FDP-Fraktion; von wegen „An-
nahme verweigert“ – im Dezember in erster Lesung hier
behandelt worden und danach dem Haushaltsausschuss
zur Beratung überwiesen worden. Damit ist er von der
Bundesregierung in die Hand des Parlaments überge-
gangen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten zehn Wo-
chen hat der Haushaltsausschuss – das war sicherlich für
alle nicht unbedingt immer eitel Freude – diese Beratun-
gen in zahlreichen Berichterstattergesprächen und Aus-
schusssitzungen sehr konzentriert durchgeführt. Gerade
heute stehen wir vor der abschließenden Befassung mit
diesem Entwurf, der so genannten Bereinigungssitzung,
die wir jetzt wegen Ihres Antrages um eine halbe Stunde
verschoben haben.


(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist ja furchtbar! Das ist ja ein Schicksalsschlag!)


Wie alle kundigen Thebaner und zumindest einige Kolle-
gen von der FDP genau wissen, werden bei der Bereini-
gungssitzung wie in jedem Jahr auch in diesem Jahr die
aktualisierten Einschätzungen – sie liegen allen vor und
sind noch gestern morgen in einer Berichterstatterrunde
diskutiert worden, im Übrigen im Beisein Ihres Kollegen
Rexrodt – in den Haushalt eingearbeitet, mit ihren Aus-

wirkungen auf die Steuern, mit ihren Auswirkungen auf
den Arbeitsmarkt. Genau diese Aktualisierungen, die Sie
mit Ihrem Antrag ja fordern, werden heute durch den
Haushaltsausschuss vollzogen. In diesen Ausschuss
gehören sie auch.

Halten Sie uns also nicht länger mit der Posse auf, die
Sie heute Morgen veranstalten! Lassen Sie uns lieber un-
sere Arbeit tun!


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Beim Nachtragshaushalt kommen wir wieder darauf zurück!)


– Herr Gerhardt, das gehört in den Haushaltsausschuss.
Sie werden erleben, wie Ihre drei Kollegen gleich wieder
brav in diesem Ausschuss sitzen und mit entscheiden wer-
den.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir lehnen Ihren Antrag ab und sind nicht bereit, die-
sen Antrag auf die Tagesordnung der heutigen Sitzung zu
setzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502800400

Ich erteile das Wort Kollegen Dietrich Austermann,

CDU/CSU-Fraktion.


Dietrich Austermann (CDU):
Rede ID: ID1502800500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer gestern

Nachmittag den Bundesfinanzminister im Haushaltsaus-
schuss erlebt hat, der hat den Eindruck gewinnen können,
der Mann hat kapituliert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD)


Er hat kapituliert vor der Situation, die sich heute für ihn
im Untersuchungsausschuss ergibt. Das ist der Tag und
die Stunde der Wahrheit. Er hat kapituliert vor der Ver-
pflichtung, einen Haushalt vorzulegen, der mit der Rea-
lität in Einklang steht und nicht völlig von dem abgewandt
ist, was sich in Deutschland tut. Der Haushaltsentwurf,
den Sie vorgelegt haben, ist eine Addition von Zahlen
ohne jede Perspektive und ohne jeden Bezug zur Realität.
Ich will das an fünf kurzen Beispielen deutlich machen.

Erstens. Sie unterstellen nach wie vor 1 Prozent
Wachstum; im Entwurf waren es noch 1,5 Prozent, im
letzten Jahr waren es noch 2,5. Der Bundesfinanzminister
hat gestern – ich finde, dass darauf die Aufmerksamkeit
der Öffentlichkeit gelenkt werden sollte – im Haushalts-
ausschuss gesagt: Wenn das Wachstum die Marke von
1 Prozent nur geringfügig unterschreitet, werden wir die
Messlatte der Maastricht-Kriterien reißen. Da inzwischen
jeder weiß, dass dieses Wachstum von 1 Prozent kaum
noch zu erreichen ist,


(Peter Dreßen [SPD]: Woher wissen Sie das?)

es sei denn, man macht eine völlig andere Wirtschafts-,
Finanz-, Haushalts- und Sozialpolitik, kann auch jeder




Dietrich Austermann
erkennen, dass man sich von der Einhaltung der Maastricht-
Kriterien verabschiedet hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deswegen sage ich: Der Mann hat kapituliert, weil Re-
zepte, um das Steuer herumzureißen, nicht erkennbar
sind. Diese hätte er zumindest vorschlagen sollen.


(Walter Schöler [SPD]: Im Dezember war Ihre Prognose auch falsch!)


Sie, Herr Kollege Schöler, haben gesagt, Sie hätten in
den Beratungen – heute findet ja die Bereinigungssitzung
statt – das Ihrige getan, um die Entwicklung aufzufangen.
Nun sage ich einmal, was in den vier Wochen der Haus-
haltsberatungen bisher passiert ist: Sie haben die Ansätze
bis zum heutigen Stand genau um 229 Millionen verän-
dert.


(Walter Schöler [SPD]: Falsch!)

Das sind noch nicht einmal 0,1 Prozent Veränderung be-
zogen auf das Gesamtvolumen des Haushalts.


(René Röspel [SPD]: Sie haben ständig Erhöhungsanträge gestellt!)


Bei den Steuereinnahmen unterstellen Sie trotz sich ver-
mindernden Wachstums eine Zunahme. Das macht doch
deutlich, dass Sie überhaupt nicht erkennen, wie die Rea-
lität in Deutschland tatsächlich aussieht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Das Gleiche trifft auf meinen zweiten Punkt, das

Thema Arbeitsmarkt, zu. Wir haben im letzten Jahr
5,6 Milliarden Euro Zuschuss an die Bundesanstalt für
Arbeit vorgesehen. Im Haushaltsgesetz haben Sie eine
Liquiditätsreserve für die Bundesanstalt – das heißt, der
Bund darf der Bundesanstalt helfen – in einer Größenord-
nung von 7Milliarden Euro eingeplant – wobei dieser An-
satz deutlich gestiegen ist. Das heißt, Sie glauben selber
nicht, dass die Bundesanstalt ohne einen Zuschuss aus-
kommt. Im Haushaltsplan unterstellen Sie aber, dass das
so sein wird. 7 Milliarden Euro zusätzlich wären in etwa
angebracht, weil man wegen Ihrer Politik leider davon
ausgehen muss, dass die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr
steigt. Wenn Sie bei geringerer Arbeitslosigkeit im letzten
Jahr schon 5,6Milliarden Euro in die Hand nehmen muss-
ten, dann müssen es in diesem Jahr noch mehr sein. Sie
sprechen aber von einem Nullzuschuss. Das hat mit der
Realität nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn man dann noch sieht, dass die Zuständigen, Herr
Gerster und Herr Clement, wie die Kesselflicker streiten,


(Walter Schöler [SPD]: Meinen Sie Merz oder Merkel?)


ist nicht davon auszugehen, dass irgendetwas von dem,
was als Hartz-Konzept bezeichnet wird, geeignet ist, die
Arbeitslosigkeit wesentlich zu verringern.

Ich will Ihnen ein drittes Beispiel nennen: Arbeitslo-
senhilfe.


(Jörg Tauss [SPD]: Nein! Geschäftsordnung haben wir!)


– Herr Tauss, Sie als Gewerkschafter haben doch eine ge-
wisse Erfahrung. Es muss Sie doch bedrücken, wenn Sie
feststellen, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen immer
weiter steigt. Wenn die Zahl der Langzeitarbeitslosen im-
mer weiter steigt, muss man bei der Arbeitslosenhilfe von
einem höheren Betrag ausgehen. Sie dagegen senken ihn
um 2,7 Milliarden. Auch deshalb muss man sagen, das
Ganze hat mit der Realität nichts zu tun.

Dann schauen wir uns das Thema Steuern an – mein
vierter Punkt –: Sie gehen davon aus, dass Sie Steuer-
mehreinnahmen haben werden, trotz sich vermindernden
Wachstums und höherer Arbeitslosigkeit. Sie begründen
das, wie der Kollege Koppelin schon gesagt hat, mit die-
sem neuen so genannten Steuerehrlichkeitsgesetz. In ei-
nem halben Jahr wollen Sie 20 Milliarden Euro nach
Deutschland zurückholen und daraus 5 Milliarden Euro
für die öffentliche Hand abschöpfen. Was sollte eigentlich
die Menschen dazu veranlassen, 25 Prozent Steuern auf
einen bestimmten Betrag für die gesamte Zeit, in der sie
ihr Geld im Ausland hatten, zu zahlen?

Ich glaube, das spricht für sich selbst und zeigt, dass
das mit Realität nichts zu tun hat. Weil Sie selber nicht da-
ran glauben, versehen Sie das Ganze mit Kontrollmittei-
lungen und möglicherweise dem Versuch, das Bank-
geheimnis aufzubrechen.


(Walter Schöler [SPD]: Sie schützen die Steuerhinterzieher, Herr Austermann!)


So kann man das nicht betreiben.
Der Bundesfinanzminister hat einen Lieblingsspruch.

Er sagt immer, der Haushalt sei auf Kante genäht. Wir sa-
gen, der Haushalt ist auf Sand gebaut. Weil er auf Sand ge-
baut ist, muss er weg. Das gilt in gleicher Weise für den
Bundesfinanzminister.


(Walter Schöler [SPD]: Keine Argumente!)

– Doch, ich habe es Ihnen genau vorgerechnet, Herr
Schöler.

Wer in schamloser Weise wie vor der Bundestagswahl
mit dem ersten Entwurf für diesen Haushalt und nach der
Bundestagswahl mit dem zweiten Entwurf die Öffentlich-
keit und den Souverän belogen und betrogen hat, der hat
dieses Amt nicht länger verdient. Er muss die Konse-
quenzen ziehen und kann seinen Haushaltsentwurf gleich
mitnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502800600

Ich erteile das Wort Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/

Die Grünen.

(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt wird es wieder seriös!)



Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502800700

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Der haushaltspolitische Sprecher der großen Opposi-
tionsfraktion, der hier gerade lautstarke Worte gefunden


(A)



(B)



(C)



(D)


2130


(A)



(B)



(C)



(D)






hat, der sich zwei Wochen vor Abschluss des Haus-
halts 2002 um 8 Milliarden Euro vertan hat, als er sagte,
dass dieser Haushalt noch einmal 8 Milliarden Euro drauf-
satteln müsse – was erwiesenermaßen falsch war und nur
Sprücheklopferei in diesem Hause bedeutete –, der hat
seine Seriosität doch schon vor zwei Monaten verspielt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zu dem Antrag der FDP – „Haushaltsentwurf 2003
überarbeitet vorlegen“ –, über den wir hier beraten, kann
ich nur sagen, sehr geehrter Kollege Koppelin: Wir sitzen
seit acht Wochen intensiv zusammen und beraten diesen
Haushalt.


(Jürgen Koppelin [FDP]: Aber ihr bewegt ja nichts! – Lachen bei der SPD)


Jetzt diesen Antrag vorzulegen ist eine Sonderinszenie-
rung Ihrer Partei.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Sie zwingen uns mit gespieltem Ernst eine Debatte auf. Im
Grunde zeigt das nur, dass Sie zur Spaß- und Gagfraktion
Ihrer Partei gehören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Können Sie mal was zum Haushalt sagen?)


Das passt aber eigentlich nicht zu der schwierigen
Lage, in der wir uns befinden. In diesem Punkt haben wir
keine Differenz. Wir haben eine schwierige wirtschaft-
liche und finanzpolitische Lage.


(Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und eine schlechte Regierung!)


Dazu passt nicht, dass man nach acht Wochen Beratungen
sagt, es sei alles so schwierig und man wolle noch einmal
von vorne anfangen. Das ist schlicht und ergreifend
lächerlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was sich eigentlich zeigt – ich will durchaus auf die Sa-
che eingehen, denn das Thema ist es wert, in der Sache zu
streiten –, ist, dass Sie vor diesen wirtschaftlichen und fi-
nanzpolitischen Schwierigkeiten kapitulieren oder ange-
sichts dessen zumindest unentschlossen sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich kann das auch belegen, und zwar anhand Ihrer vier
Punkte; Sie haben sich ja Mühe gegeben, das aufzu-
schreiben. Sie schreiben, der Haushalt sei unter der An-
nahme eines Wirtschaftswachstums von 1,5 Prozent auf-
gestellt worden. Richtig! Wir haben in diesem Hause
öffentlich diskutiert, dass wir mittlerweile ein Wirt-
schaftswachstum von 1 Prozent erwarten. Daraus haben
wir Konsequenzen gezogen. Sie waren doch dabei! Wir
werden nach der alten Kalkulation Steuermindereinnah-
men von 1 Milliarde Euro haben. Dazu gibt es mittler-
weile den Haushaltsabschluss 2002, in dem man erkennen

kann, dass wir positive Basiseffekte aus den Steuerein-
nahmen haben. Das wird sich fortsetzen. Darüber hinaus
bekommen wir eine Zinsabgeltungsteuer, über die Sie
gerade sogar einen positiven Nebensatz verloren haben.
Das Thema wurde aufgegriffen, vielleicht nicht so, wie
Sie es wünschen; aber das Argument, dass das Thema
Steuereinnahme nicht aktualisiert sei, stimmt nicht.

Zweitens: Steuervergünstigungsabbaugesetz. Es ist
schlicht falsch, was in Ihrem Antrag steht. In dem Antrag
der Bundesregierung ist genau das gleiche Volumen wie
im Haushalt enthalten. Haben Sie Ihren Antrag zu früh ge-
schrieben? Das Risiko besteht darin, dass im Bundesrat
viele unionsgeführte Länder vertreten sind. Deshalb ha-
ben wir ein Problem. Man muss sich den Realitäten an-
passen, meine Damen und Herren, und überlegen, ob man
nicht in einem gewissen Maße die Einnahmebasis der
Länder und Kommunen stabilisieren muss und dafür
selber Verantwortung trägt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Johannes Singhammer [CDU/ CSU]: Mehr Wachstum ist nötig!)


Zum dritten und vierten Punkt. Das ist mein Hauptan-
liegen; in diesem Zusammenhang möchte ich auf den
Kollegen Austermann eingehen. Kernpunkt der Haus-
haltsberatungen und im Grunde auch der politischen De-
batte der letzten Monate ist doch, dass wir Strukturrefor-
men und Änderungen auf dem Arbeitsmarkt brauchen. Sie
scheinen zu kapitulieren, weil Sie davon sprechen, dass
die Arbeitslosenhilfezahlungen höher liegen werden und
dass die Bundesanstalt für Arbeit einen Zuschuss braucht.

Ich fordere Sie daher auf: Stellen Sie Anträge, die kon-
sumptiven Ausgaben im Haushalt 2003 zu erhöhen! Wir
werden Ihnen dabei aber nicht folgen; denn wir sind be-
reit, Strukturreformen auf den Weg zu bringen und Ein-
sparungen vorzunehmen. Sie müssten einmal selber er-
kennen, welche Hilflosigkeit Sie zeigen, indem Sie immer
nur Pessimismus ausstrahlen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich komme abschließend zum Fazit. Eine solide Politik,
auch Finanzpolitik, muss sich auch unter schwierigen
wirtschaftlichen Bedingungen bewähren.


(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])

Sie muss Orientierung geben. Man darf aber nicht die
Hände in den Schoß legen und sagen, es werde alles viel
schlimmer. Ich fordere Sie auf, bei den Strukturmaßnah-
men in einen Wettbewerb mit uns zu treten, aber nicht mit
Bitterkeit auf die Ergebnisse des Jahres 2002 zurückzu-
blicken. Das hilft uns nicht weiter. Wir packen an. Unsere
Pläne sind nach vorne gerichtet. Eine ausführliche De-
batte darüber führen wir bei den abschließenden Haus-
haltsberatungen im März.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502800800

Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den

Aufsetzungsantrag der Fraktion der FDP? – Wer stimmt

Anja Hajduk




Präsident Wolfgang Thierse
dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Der Aufset-
zungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP
bei Stimmenthaltung der beiden fraktionslosen Abgeord-
neten abgelehnt.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,

der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Einsetzung einer Enquete-Kommission „Ethik
und Recht der modernen Medizin“
– Drucksache 15/464 –

b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Neue Initiative für ein internationales Verbot
des Klonens menschlicher Embryonen starten
– Drucksache 15/463 –

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann

(Homburg), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der FDP
Reproduktives Klonen weltweit verbieten – das
Machbare schnell umsetzen
– Drucksache 15/314 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Gudrun Schaich-Walch.


Gudrun Schaich-Walch (SPD):
Rede ID: ID1502800900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben heute die Möglichkeit, in verbunde-
ner Debatte sowohl über die Einsetzung der Enquete-
Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ als
auch über den Antrag „Klonverbot“ zu beschließen. Der
letztgenannte Antrag basiert auf der Diskussion und den
Ergebnissen der Enquete-Kommission „Recht und Ethik
der modernen Medizin“ der letzten Legislaturperiode.

Ich möchte dies als ein positives Omen für die Arbeit
der kommenden Kommission bewerten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich möchte mich aber auch bei den Kolleginnen und Kol-
legen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und der
CDU/CSU sowie der eigenen Fraktion dafür bedanken,
dass es uns gelungen ist, diese von drei Fraktionen getra-
genen Anträge schnell und trotz des heiklen Themas in ei-
nem, wie ich finde, sehr pfleglichen Umgang miteinander
zu erarbeiten. Dafür ganz herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In meinem folgenden Beitrag werde ich mich auf die
Wiedereinsetzung der Enquete-Kommission konzentrie-
ren. Alle diesen Antrag tragenden Fraktionen waren sich
in der Diskussion sehr bald einig, dass die Arbeit der En-
quete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Me-
dizin“ fortgesetzt werden sollte. In diesem Wunsch
drücken sich meiner Meinung nach zwei Dinge aus.

Zum einen ist es gelungen, das verfassungsrechtlich
geschützte ganzheitliche Menschenbild und die Wahrung
der Menschenwürde gemäß Art. 1 des Grundgesetzes in
Bezug zur heutigen biomedizinischen Entwicklung zu
setzen. Es ist auch gelungen, zukunftsweisende Antwor-
ten zu entwickeln. Die fachlich herausragenden Stellung-
nahmen und Berichte der Kommission waren Basis der
Diskussion im Bundestag. Sie ermöglichten die fundierte
Auseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen Ethik
und Forschung und führten letztlich zu Normensetzun-
gen, die mit breiter Mehrheit getroffen werden konnten.
Zum anderen müssen wir aber auch feststellen: Es sind
Fragen offen geblieben und neue hinzugekommen.

Die Enquete-Kommission der letzten Legislaturperi-
ode hat sich zugunsten der Qualität ihrer Arbeit Beschei-
denheit auferlegt. Sie hat sich für einige Fragestellungen
entschieden, diese in die Tiefe gehend behandelt und be-
rechtigt gehofft, in dieser Legislaturperiode weiterarbei-
ten zu können.

In Zeiten, in denen sich Forschung und moderne Tech-
nologie in geradezu explosionsartiger Geschwindigkeit
entwickeln, laufen wir Gefahr, von der Entwicklung über-
rollt zu werden, wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, die
Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu ergründen und
zu bewerten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Parlament hat gerade bei diesen Fragestellungen eine
herausgehobene Führungsrolle. Es muss Anstoß zu einer
tief gehenden öffentlichen Diskussion geben. Dafür
braucht die Kommission fundierte Grundlagen.

Die im Deutschen Bundestag zu diesen grundlegenden
Fragestellungen jenseits von Fraktionsgrenzen vertretene
Meinungsvielfalt spiegelt die Situation in unserer Gesell-
schaft wider. Die einen stehen den sich aus der modernen
Forschung ergebenden Möglichkeiten fasziniert, die an-
deren vorsichtig bis ablehnend gegenüber. Beide Positio-
nen und alle dazwischenliegenden Facetten sind in der
Regel wohl begründbar und damit respektabel. Deshalb
wäre es falsch, hierauf mit einer Kommission zu reagie-
ren, die diese verschiedenen Haltungen oberflächlich zu-
sammenbringt, indem sie möglichst vage formulierte Ant-
worten anbietet, die zwar alle Positionen einschließen,
aber schlussendlich nichts mehr wirklich deutlich ma-
chen. Deshalb ist es für unsere Arbeit wichtig, nicht nur
den Willen zum Konsens, sondern auch zutage getretene
Konflikte deutlich zu machen.

Unser Mandat verpflichtet jeden Einzelnen von uns,
sich am Ende der Debatte seiner Verantwortung zu stel-
len, dort, wo es einer rechtlichen Regulierung bedarf, um
eine gemeinverträgliche Lösung zu ringen und schließlich
Entscheidungen zu treffen – und dies auch dann, wenn


(A)



(B)



(C)



(D)


2132


(A)



(B)



(C)



(D)






diese von einer Tragweite sind, die an unseren Grund-
überzeugungen und manchmal auch an unseren Möglich-
keiten rühren.

Den bisher geschilderten Aufgaben und der Kultur, mit
der in der letzten Legislaturperiode gearbeitet wurde,
sollte sich eine neu zu bildende Kommission verpflichtet
fühlen. Als inhaltlicher Leitfaden werden die im Ab-
schlussbericht der letzten Kommission dargestellten, offen
gebliebenen und neu hinzukommenden Fragen dienen.

Die neue Kommission wird sich mit einer Reihe von
Problemen beschäftigen. Zwei Punkte möchte ich heraus-
greifen: Wie können wir therapeutische Angebote für
Menschen entwickeln, die nicht in der Lage sind, ihre per-
sönliche Einwilligung im Forschungsprozess zu geben?
Wir werden Antworten auf die Fragen derer finden müs-
sen, die sich wünschen, dass mehr transplantiert wird, die
aber meiner Meinung nach in diesem Wunsch weit über
das Ziel hinausschießen, wenn sie glauben, es gebe in die-
ser Gesellschaft einen berechtigten Anspruch darauf, dass
lebenden Menschen Organe abgekauft werden könnten.
Wir werden uns damit auseinander setzen müssen, ob es
auch andere Möglichkeiten der Organgewinnung gibt.
Ich hoffe, wir werden für die Beantwortung auch dieser
Fragen zu einer guten Entscheidungsgrundlage kommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns heute
dafür entscheiden, diese enormen Herausforderungen
nicht in unserem normalen Alltagsgeschäft abzuwickeln,
sondern im Rahmen einer Enquete-Kommission, dann tun
wir dies, weil wir die sich aus der biomedizinischen For-
schung ergebenden Herausforderungen annehmen und
deren Auswirkungen in ihrer ganzen Tragweite gerecht
werden wollen.

Die einzusetzende Kommission ist deshalb gut beraten,
nicht nur ihre Zielsetzungen und den abzuhandelnden
Fragenkatalog zu definieren, sondern auch hinsichtlich
ihrer Grenzen Klarheit zu schaffen.

Jeder Parlamentarier ebenso wie jedes Mitglied der
Kommission hat persönliche Wertvorstellungen, Ideale
oder Grundüberzeugungen einzubringen, die die Diskus-
sion bereichern, aber nicht dominieren sollen. Denn auch
wenn der Einzelne das Menschenwürdeprinzip aus seiner
christlichen Grundüberzeugung ableitet und verteidigt,
muss uns die Einsicht einen, dass das Institut der Men-
schenwürde ebenso aus anderen Grundüberzeugungen
abgeleitet werden kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Diese Einsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, mag
sie uns heute noch manchmal banal erscheinen, sollten
wir nie aus dem Blick verlieren, auch und insbesondere
dann nicht, wenn die einen oder die anderen glauben, die
Wahrheit auf ihrer Seite zu haben. Letztlich wird auch
diese Kommission nichts daran ändern, dass es oftmals
die letzte Wahrheit nicht gibt und dass es oftmals auch, je
nachdem, auf welcher Seite man steht, für den Einzelnen
mehrere Wahrheiten geben kann. Sie wird aber neben Er-
kenntnisgewinn einen wichtigen Beitrag zur Weiterent-
wicklung unserer Streitkultur im Bundestag leisten können,
wenn die in der Diskussion zutage getretenen Konflikte in

wechselseitiger Achtung ausgetragen werden. Ich bin
überzeugt, dass wir, wenn bei uns allen die Bereitschaft be-
steht, abweichende Meinungen zu respektieren, uns mit
den anderen Argumenten sachlich auseinander zu setzen,
politisch überzeugende Lösungen finden werden, die den
Ansprüchen der Menschen gerecht werden und die letzt-
endlich auf einer breiten Basis beruhen und eine Binde-
kraft in unserem Volk entwickeln können.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie bitten,
dem vorliegenden Antrag zur Einsetzung einer Enquete-
Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“
zuzustimmen, die Arbeit dieser Kommission ebenso be-
herzt wie kritisch zu begleiten und sie für die von Ihnen
künftig zu fällenden Entscheidungen als ernst zu neh-
mende Hilfestellung in Anspruch zu nehmen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502801000

Ich erteile das Wort Kollegin Maria Böhmer, CDU/

CSU-Fraktion.


Dr. Maria Böhmer (CDU):
Rede ID: ID1502801100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es ist angebracht, einen Moment innezuhalten,
denn wir legen heute zwei gemeinsame Anträge vor: ei-
nen Antrag zur Wiedereinsetzung der Enquete-Kommis-
sion „Ethik und Recht der modernen Medizin“ und einen
Antrag für ein internationales generelles Klonverbot. Die
Tatsache, dass wir uns zu einem solchen gemeinsamen
Vorgehen zusammengefunden haben, veranlasst mich,
herzlichen Dank zu sagen an alle Kolleginnen und Kolle-
gen, die beteiligt waren und die es möglich gemacht ha-
ben, dass wir mit diesen Anträgen heute im Deutschen
Bundestag ein so klares Signal setzen können.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Signal bedeutet, dass wir in diesem Hohen Hause
eine breite und nachdrückliche Übereinstimmung für den
Schutz des menschlichen Lebens und für die unbedingte
Wahrung der Menschenwürde haben. Darum geht es
und das gilt es heute wieder zum Klingen zu bringen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir zeigen auch, dass wir den Weg, den wir in der ver-
gangenen Legislaturperiode und auch davor eingeschla-
gen haben, weiter gehen wollen. Der Deutsche Bundestag
war, ist und bleibt der Ort der Beratung, der Diskussion
und der Entscheidung in diesen wesentlichen Fragen des
menschlichen Lebens. Das kann nicht durch Kommissio-
nen oder Gremien außerhalb ersetzt werden. Hier müssen
die Entscheidungen gefällt werden und dessen sind wir
uns als Abgeordnete sehr wohl bewusst.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gudrun Schaich-Walch




Dr. Maria Böhmer

Wir sind uns auch bewusst: Der Mensch muss seine
Grenzen sehen und er muss sie achten. Wir sind Ge-
schöpfe und nicht Schöpfer. Wir stehen in der Verantwor-
tung, die Schöpfung zu bewahren. Davon ausgehend ha-
ben wir vor 13 Jahren mit dem Embryonenschutzgesetz
eine klare Grenzziehung vorgenommen, die wir mit dem
Stammzellgesetz bekräftigt haben.

Wir sind von einer Grundposition ausgegangen, und
diese Grundposition ist auch heute für die Frage „Wie
verhalten wir uns beim internationalen umfassenden
Klonverbot?“ von entscheidender Bedeutung. Menschli-
ches Leben ist von Anfang an, das heißt schon ab dem
frühen Stadium der Totipotenz, zu schützen. Menschli-
ches Leben steht nicht in der Verfügung anderer. Mensch-
lichem Leben kommt in jeder Phase, vom Beginn bis zum
Ende, die volle Menschenwürde zu. Das ist Ausdruck von
Art. 1 und Art. 2 des Grundgesetzes. Das ist die Richt-
schnur für unsere Entscheidung und für unser Handeln in
diesem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nicht nur national, sondern global werden wir mit
Schlüsselfragen der Menschheit konfrontiert wie nie zu-
vor. Eine dieser Schlüsselfragen lautet, wie wir als Men-
schen in Zukunft existieren wollen. Diese Frage betrifft
jeden Einzelnen, also das Individuum, sie betrifft aber
auch unsere gesamte Gattung. Sie ist nicht nur für unsere
Gesellschaft wichtig, sondern für die globale Gesellschaft
der Menschen. Es geht um die Klärung, wie wir mit dem
immer weiter anwachsenden biomedizinischen Wissen
umgehen sollen. Es geht darum, zu klären, in welchen Be-
reichen wir bereit sind, dieses Wissen auf unsere eigene
Gattung anzuwenden, und wo wir sagen, hier sind Gren-
zen zu beachten und zu respektieren. Diese Grenzen wol-
len wir nicht nur national, sondern auch international ge-
würdigt sehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bei der Diskussion um ein internationales umfassen-

des Klonverbot – ich will mich darauf konzentrieren,
weil die Kollegin Schaich-Walch schon sehr ausführlich
zur Enquete-Kommission gesprochen hat – wird die
ganze Wucht und Brisanz dieser Frage deutlich. Die
Empörung war einmütig, als in der Weihnachtszeit die
Raelianersekte behauptete, es sei das erste Klonbaby ge-
boren. Unabhängig davon, ob diese Behauptung wirklich
wahr ist – das bezweifle ich wie viele andere –, gilt es
trotzdem, ein deutliches Signal zu setzen. Wir müssen
festhalten: Das Klonen von Menschen ist in jeder Hinsicht
verantwortungslos und verwerflich.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Meinungen zu dem so genannten therapeutischen
Klonen sind dagegen gespalten. Das erleben wir heute
auch im Deutschen Bundestag. Es liegt ein Antrag der
FDP vor, der im Grunde genommen das Bemühen wider-
spiegelt, die Tür offen zu halten. Aber was Not tut, ist,
Klarheit in der Sache und in der Entscheidung zu schaf-
fen. Darum muss es gehen. Wir zielen mit unserem ge-

meinsamen Antrag auf ein weltweites generelles Klon-
verbot. Wir folgen damit der Position, die wir im letzten
Juni im Deutschen Bundestag beschlossen haben und von
der wir wissen, dass sie zur Richtschnur für die Bundes-
regierung in den Verhandlungen bei den Vereinten Natio-
nen werden muss.

Viele werden natürlich fragen, warum wir ein umfas-
sendes Klonverbot erreichen wollen. Reicht es denn nicht,
nur das reproduktive Klonen zu ächten? Muss es denn
auch das so genannte therapeutische Klonen sein? Liegen
darin denn nicht Heilungschancen für Menschen? Könnte
das denn nicht vielen Menschen helfen, die heute nicht
wissen, ob die Medizin jemals einen Weg findet, um sie
von einer schweren Krankheit zu heilen?

Hier ist es wichtig, zu verdeutlichen, was das so ge-
nannte therapeutische Klonen überhaupt ist und was die
Forscher hierzu sagen. Das haben wir in unserem Antrag
sehr deutlich gefasst. Wir haben niedergelegt – das ent-
spricht der Wissenschaft –, dass der Weg bis hin zum Ent-
stehen des Embryos beim reproduktiven und beim so ge-
nannten therapeutischen Klonen identisch ist: Es wird
eine Eizelle entnommen; sie wird entkernt; in sie wird der
Kern zum Beispiel einer Hautzelle eingesetzt; dann findet
Teilung statt; das Ergebnis ist ein Embryo. Ein Embryo
ist aber doch ein Mensch und nichts anderes. Er ist kein
Zellhaufen und auch nicht – wie die FDP schreibt – ein
unvollständiger Mensch. Ich frage mich, was denn ein un-
vollständiger Mensch ist. Ab wann ist denn ein Mensch
vollständig? Ist er das ab dem dritten Tag, ab dem 14. Tag
oder erst ab Geburt? Ich glaube, eine solche Festsetzung
wäre Willkür. Deshalb müssen wir ganz klar und deutlich
sagen: Dort, wo ein menschlicher Embryo ist, ist mensch-
liches Leben. Das haben wir als Gesetzgeber im Stamm-
zellgesetz auch so definiert. Ich rate allen, dort § 3 Abs. 4
nachzulesen. Dort haben wir festgeschrieben – die FDP
hat übrigens zugestimmt –:

Im Sinne dieses Gesetzes ... ist Embryo bereits jede
menschliche totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen
der dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungen
zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln
vermag.

Das ist die Grundlage, von der wir ausgehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich finde es höchst bedenklich, wenn uns mit dem Be-
griff therapeutisches Klonen etwas suggeriert wird, von
dem uns die Wissenschaftler sagen, dass es nicht einlösbar
ist. Therapeutisches Klonen, das suggeriert in der Tat, Hei-
lung könnte morgen greifbar sein. Professor Winnacker
hat aber in seiner Neujahrsansprache bei der Deutschen
Forschungsgemeinschaft klar erklärt: Therapeutisches
Klonen ist ein Irrweg. Er begründet das in dreierlei Hin-
sicht. Ich will hier nur einen Aspekt nennen. Er sagt: Aus
den Stammzellen, die dem Embryo entnommen werden,
können sich genauso gut auch Tumorzellen entwickeln.

Was bedeutet das? Wir haben es bei der Gentherapie
in der Klinik Necker in Paris gerade erlebt. Dort bestand
die Hoffnung, dass Kindern, die eine große Immun-


(A)



(B)



(C)



(D)


2134


(A)



(B)



(C)



(D)






schwäche haben, durch die Gentherapie geholfen werden
könnte. Das Ergebnis ist erschreckend: Viele dieser Kin-
der sind heute leukämiekrank. Ich halte es für nicht ver-
antwortbar, zu Möglichkeiten zu greifen, die nicht über-
schaubar sind und die den Menschen statt Heilung neues
Leid bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man mit Wissenschaftlern, die wahrlich nicht
aus der zweiten oder dritten Reihe kommen, spricht, stellt
sich ein Zweites heraus. Die Nobelpreisträgerin Nüsslein-
Vollhard sagt – ich möchte es mit meinen Worten wieder-
geben –, dass es von den Methoden und vom Verfahren
her fast utopisch ist, zu einem therapeutischen Klonen zu
kommen, weil schon das Entwickeln einer Blastozyste na-
hezu unmöglich ist. Daraus Stammzellen zu gewinnen ist
mit erheblichen Schwierigkeiten behaftet. Sie spricht da-
von, dass wahrscheinlich selbst die verbissensten For-
scher von dieser Methode Abstand nehmen und zu viel-
versprechenderen Methoden überwechseln werden.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Dann können wir es doch abwarten! Warten wir es doch einmal ab!)


– Herr Gerhardt, als Antwort auf Ihren Zwischenruf sage
ich: Wir dürfen keinen Weg beschreiten, der Utopien und
falsche Heilungserwartungen bedient.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Richtig! Einverstanden!)


Wir müssen Wege beschreiten, die ethisch verantwortbar
sind und zum medizinisch Machbaren führen, damit Men-
schen wirklich Hilfe zuteil wird und damit wir die Kräfte
dort konzentrieren können, wo es einen Sinn macht, wo
wir also nicht in die falsche Richtung laufen. Deshalb ist
unsere Position an dieser Stelle so klar.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will noch einen weiteren Aspekt zur Sprache brin-
gen. Ich frage Sie: Was würde es bedeuten, wenn das so
genannte therapeutische Klonen entgegen allen Erwar-
tungen tatsächlich gelingen könnte, wir also Therapien er-
halten könnten? Der Nobelpreisträger Jaenisch hat uns
auf einen Punkt aufmerksam gemacht:Wir bräuchten eine
Vielzahl von Eizellen. Um für 17 Millionen Diabetespati-
enten allein in den USA Therapien bereitstellen zu kön-
nen, bräuchte man hochgerechnet 850Millionen Eizellen.
Jetzt frage ich Sie: Wo wollen Sie 850 Millionen Eizellen
herbekommen? Jaenisch sprach hier von einer sich ab-
zeichnenden neuen Form der Prostitution von Frauen.
Das würde besonders Frauen in der Dritten Welt betref-
fen, die in einer neuenArt undWeise ausgebeutet werden
würden.

Ich muss Sie fragen: Ist es von uns wirklich verant-
wortbar, einen solchen Weg auch nur zu erwägen? Wir
müssen sowohl das, was ethisch geboten ist, als auch das,
was von der Forschung her überlegenswert ist, sowie die
Tatsache, dass Frauen nicht als neue Rohstofflieferantin-
nen missbraucht werden dürfen, berücksichtigen. Das ist
ein zweiter Grund dafür, zu sagen: Diesen Weg wollen wir

nicht beschreiten. Deshalb sind wir für ein internationales
Klonverbot.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin sehr froh, dass wir diese Einigung im Deut-
schen Bundestag erzielen, auch wenn immer wieder an-
gezweifelt wurde, dass der Weg richtig ist. Wir leiten hier
eine Strategieveränderung ein, sodass bei der UN nicht
auf zwei Stufen verhandelt wird. Wir wollen stattdessen,
dass auf einer Stufe verhandelt und beides zugleich er-
reicht wird. Weil es ansonsten schwer erreichbar wäre, ha-
ben wir uns sehr intensiv darüber verständigt. Ich habe die
Signale der Bundesregierung aufgenommen, dass sie be-
reit ist, diesen Weg mitzugehen.

Angesichts der neuen Entwicklungen im amerikani-
schen Senat und angesichts der Entwicklungen bei der
französischen Regierung – ganz in unserem Sinne ist man
dort im Bereich der Gesetzgebung für Bioethik und Gen-
technologie vorangeschritten – schätze ich es so ein, dass
es eine gute Chance gibt, diesen Weg gemeinsam mit
Frankreich weiterzuentwickeln und auf UN-Ebene zu ei-
ner internationalen Konvention zu kommen, die es
möglich macht, beides zugleich zu ächten. Das muss alle
Kraftanstrengung wert sein. Ich hoffe, dass die Bundesre-
gierung diese Kraft aufbringen und einsetzen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Lassen Sie mich zum Schluss sagen – dies bedeutet die

Einbettung in die neue Enquete-Kommission –: Wir wer-
den nicht nur mit einer Schlüsselfrage konfrontiert sein,
sondern wir haben eine Vielzahl von Fragen zu beantwor-
ten; denn die Entwicklung führt uns in immer neue Grenz-
bereiche. Ich will an einen Satz aus Faust II erinnern.
Mephisto ist im Laboratorium und fragt Wagner: Was gibt
es denn? – Wagner antwortet ihm: Es wird ein Mensch ge-
macht. Ein großer Vorsatz scheint im Anfang toll.

Wir werden in der Tat mehr können, als wir dürfen.
Aber es kommt jedes Mal unvermeidbar die Frage auf uns
zu, die Dieter Grimm aufgeworfen hat: Man muss immer
fragen, ob man das, was möglich ist, auch wollen soll. Wir
können diese Frage nur auf der Grundlage unser Verfas-
sung und unseres Menschenbildes beantworten: Die
Würde des Menschen ist unantastbar.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502801200

Ich erteile dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/

Die Grünen, das Wort.


Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502801300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nachdem sich der Deutsche Bundestag in der letzten Le-
gislaturperiode ausgiebig mit der Frage der Stammzellen-
forschung befasst hat, stehen in dieser Legislaturperiode
nicht minder schwierige biopolitische Fragen an. Ich

Dr. Maria Böhmer




Dr. Reinhard Loske
nenne nur einige: die Frage der Biopatentierung, Fragen
der Fortpflanzungsmedizin, wie der Präimplantationsdia-
gnostik, die internationale Regulierung des Klonens und
andere Fragen der roten und der grünen Gentechnik.

Man kann wohl sagen: Es ist der gemeinsame Wille des
Hauses, die anstehenden Debatten auf der Grundlage
möglichst umfassender Informationen und im Geiste
wechselseitigen Respekts zu führen. Diese gute Tradition,
die wir in der letzten Legislaturperiode begonnen haben,
sollten wir fortsetzen. Wir sollten das auf der Basis der Ar-
beit der Enquete-Kommission tun, deren Einrichtung wir
heute beschließen. Sie hat in der letzten Legislaturperiode
sehr gute Arbeit geleistet. Ich bin davon überzeugt, dass
sie das auch in dieser Legislaturperiode tun wird.

Heute befassen wir uns mit der Frage einer interna-
tionalen Regelung des Klonens, des reproduktiven Klo-
nens und des so genannten therapeutischen oder auch
Forschungsklonens. Beide Techniken sind in Deutsch-
land durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Das
reproduktive Klonen – sollte es beim Menschen jemals
gelingen – zielt darauf ab, die Kopie eines existierenden
Menschen zu erzeugen, also ein genetisches Duplikat.
Eine weibliche Eizelle wird entkernt – das wurde gerade
von Frau Böhmer beschrieben –, die Erbinformationen
eines existierenden Menschen werden injiziert und der
so entstandene Embryo wird in den Mutterleib einge-
pflanzt.

Ein solches Verfahren – ich glaube, das kann ich im
Namen des ganzen Hauses sagen – ist moralisch voll-
kommen unverantwortbar. Es verletzt elementar die Men-
schenwürde und macht den Menschen vom Subjekt zum
Objekt, vom gezeugten zum produzierten Wesen. Dem
geklonten Menschen würde eine sehr schwere Bürde hin-
sichtlich seiner Identität und seiner Individualität auf-
geladen. Der Schweizer Ethikrat hat dazu festgestellt: Wer
als Kopie erzeugt wird, dürfte es sehr schwer haben, zum
Original zu werden. Die französische Regierung will das
reproduktive Klonen als Verbrechen nicht nur gegen die
Menschlichkeit, sondern auch gegen die Menschheit ahn-
den und dafür drakonische Strafen verhängen. Dieser Weg
weist in die richtige Richtung. Wir sollten uns überlegen,
ob wir ihm folgen.

Das Forschungsklonen, das so genannte therapeuti-
sche Klonen, so es denn jemals gelingen sollte – diese
Einschränkung muss man immer wieder machen; Frau
Böhmer hat die Ursachen dafür beschrieben –, ist von der
Technik her mit dem reproduktiven Klonen identisch. Das
dürfen wir nicht vergessen. Auch hier wird das gleiche
Verfahren angewandt: Eine Eizelle wird entkernt, in sie
wird die DNAeines existierenden Menschen injiziert. Der
Unterschied besteht technisch gesehen darin, dass der so
geklonte Embryo nach einem bestimmten Stadium der
Zellteilung mit dem Ziel „verbraucht“ wird, embryonale
Stammzellen für die Forschung zu gewinnen. Für diese
Methode wird von den Befürwortern mit dem Argument
geworben, dass damit in Zukunft vielleicht einmal Ge-
webe und Organe gezüchtet werden, die dann vom Emp-
fänger nicht abgestoßen würden.

Es ist sicherlich nachvollziehbar, dass die moralische
Beurteilung des Forschungsklonens den meisten Men-

schen wesentlich schwerer fällt als die des reproduktiven
Klonens, weil für diese Technologie auch mit den Argu-
menten des Heilsversprechens und der Forschungsfreiheit
geworben wird. Ich meine aber, dass die Einwände – ich
werde sie kurz vortragen – im Abwägungsprozess letzt-
lich wesentlich schwerer wiegen.

Das erste Argument ist am schwerwiegendsten:
Menschliches Leben oder Vorformen desselben werden
für bestimmte Zwecke verfügbar gemacht. Es wird pro-
duziert und dann als medizinischer Rohstoff benutzt.
Hans-Jochen Vogel hat es folgendermaßen formuliert:
Der Embryo erhält Warencharakter.

Sicherlich wird nicht jeder schon dem Mehrzeller in
der Petrischale die Menschenwürde zusprechen wollen.
Wer das aber nicht will, muss glaubhaft begründen, an
welcher Stelle das menschliche Leben stattdessen be-
ginnt: mit der Einnistung im Mutterleib, dem Abschluss
der Organentwicklung oder erst mit der Geburt. Jürgen
Habermas hat vor etwa einem Jahr dafür plädiert – dem
Grundgesetz folgend –, den Embryo in Antizipation wie
eine Person zu behandeln, die sich verhalten könnte. Er
warnte vor einer Denkweise, die alles außerhalb des eige-
nen Subjekts nur noch als Ding betrachtet. Dieser Sicht-
weise können sich sicherlich viele Menschen anschließen.
Ich jedenfalls kann das.

Als zweites wesentliches Argument aus einer gesell-
schaftspolitischen Perspektive sind vor allem die Ökono-
misierungstendenzen in der Biomedizin anzuführen.
Wer wirklich ernsthaft in das so genannte therapeutische
Klonen einsteigen will, der benötigt dafür Hunderttau-
sende – eben war sogar von Millionen die Rede – Eizel-
len. Das würde die Frau praktisch auf die Rolle einer
Rohstofflieferantin reduzieren. Ich meine, dass diese
Vorstellung nicht akzeptabel ist. Es gehört nicht viel Fan-
tasie dazu, sich vorzustellen, dass der schwunghafte Han-
del mit der Ware Eizelle vor allem in den Entwicklungs-
ländern stattfinden würde. Das wäre eine sehr fragwürdige
Praxis, die wir auf keinen Fall unterstützen sollten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ CSU)


Es muss immer wieder gefragt werden, ob es nicht bes-
sere Heilverfahren gibt, die ethisch und gesellschafts-
politisch weniger fragwürdig sind, etwa die Forschung an
adulten Stammzellen. Vonseiten der Politik sollten wir al-
les tun, damit diese Forschung angemessen unterstützt
wird.

Was die Wissenschaftsfreiheit betrifft, so ist die For-
schungsfreiheit – das sage ich als jemand, der selber
lange in der Forschung tätig gewesen ist – zwar ein wich-
tiges Argument, das durchaus ernst zu nehmen ist. Es geht
aber nicht an, den gesamten Bereich der Biomedizin im
Wesentlichen der wissenschaftlichen Selbstkontrolle zu
überlassen, wie es beispielsweise der Genforscher Detlef
Ganten vorschlägt. Ich meine vielmehr, dass die Gesell-
schaft insgesamt und die Politik im Besonderen Verant-
wortung trägt, und zwar sowohl für das Schaffen von
Handlungsräumen als auch für das Ziehen von Grenzli-
nien. Aus dieser Verantwortung kann uns niemand entlas-


(A)



(B)



(C)



(D)


2136


(A)



(B)



(C)



(D)






sen. Wir müssen und wir wollen diese Verantwortung
wahrnehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ CSU)


Das gilt nicht nur auf nationaler, sondern auch auf in-
ternationaler Ebene. Ich meine sogar, es gilt besonders auf
internationaler Ebene. Denn ebenso wie die Nichtverbrei-
tung von Atomwaffen, die Menschenrechte oder der Kli-
maschutz bedarf auch die Ziehung von bioethischen
Grenzen der internationalen Regelung. Deshalb halte
ich es für ein großes Verdienst der deutschen wie auch der
französischen Regierung, dass sie das Verbot des Klonens
auf die internationale Tagesordnung gesetzt haben; denn
das Thema wurde dort vorher nicht berücksichtigt. Dafür
möchte ich der Bundesregierung meinen Dank ausspre-
chen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Richtig ist aber auch, dass im November 2002 die
Bemühungen auf internationaler Ebene zumindest vor-
läufig gescheitert sind. Es gab eine Konstellation, in der
auf der einen Seite unter Führung der USA die Staaten
standen, die sofort beide Formen des Klonens verbieten
wollten; auf der anderen Seite stand mit Großbritannien,
Israel, China und Singapur eine Gruppe von Staaten, die
das therapeutische Klonen zulassen wollten. Die deutsch-
französische Initiative vertrat eine Position in der Mitte
und hat zunächst für ein zweistufiges Verfahren plädiert,
nämlich erst das reproduktive Klonen zu ächten und dann
das therapeutische Klonen zu regeln. Dieser Weg führte
wie auch alle anderen Wege nicht zum Ziel. Jetzt stehen
wir vor einer neuen Situation und müssen in den vor uns
liegenden acht oder neun Monaten bis zur nächsten UN-
Vollversammlung das Fenster der Möglichkeiten nutzen.
Kern des Antrages ist, dass der Deutsche Bundestag die
Bundesregierung und die französische Regierung darin
unterstützt, international für eine möglichst weit gehende
Ächtung des Klonens zu werben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ CSU)


Ganz kurz zur Situation in anderen Ländern: In Frank-
reich hat der Senat beschlossen, dass beide Formen des
Klonens verboten werden sollen. Damit wäre die Rechts-
lage in Deutschland und Frankreich gleich, sodass wir
international sehr glaubwürdig agieren könnten. In den
Vereinigten Staaten gibt es bislang eine Glaubwürdig-
keitslücke; das muss man ganz klar sagen. Die US-Regie-
rung tritt international für eine sehr weit gehende Rege-
lung, nämlich ein vollständiges Verbot beider Formen des
Klonens, ein, regelt aber auf nationaler Ebene praktisch
gar nichts. Bischof Fürst aus Rottenburg hat vor wenigen
Tagen, als er von einer USA-Reise zurückkam, gesagt,
Präsident Bush sei zwar gegen das Klonen, um seine reli-
giös-konservativen Anhänger zu beruhigen, lasse aber un-
ter dem Deckmantel dieser Rhetorik die Fruchtbarkeits-
industrie gewähren. Daher erwarten wir, dass die
US-Regierung ihre Glaubwürdigkeitslücke schließt; denn

nur so können wir international zu einer überzeugenden
Regelung kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir unterstützen die Bundesregierung bei einem ein-

stufigen Verfahren, um auf UN-Ebene zu einer möglichst
umfassenden Regelung zum Verbot des Klonens zu kom-
men. Das Hohe Haus gibt der Bundesregierung für diese
Verhandlungen breite Unterstützung.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502801400

Das Wort hat nun Kollegin Ulrike Flach, FDP-Frak-

tion.


Ulrike Flach (FDP):
Rede ID: ID1502801500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde

mich jetzt nicht zur Enquete-Kommission äußern – das
wird gleich mein Kollege Parr tun –, sondern mich auf das
Thema konzentrieren, das die Menschen in unserem
Lande umtreibt: das Klonen von Menschen. An den An-
fang stelle ich, dass niemand in diesem Hause, am aller-
wenigsten die FDP, gegen ein Verbot des reproduktiven
Klonens ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Klonen von Menschen, wie es dubiose Wissenschaft-
ler und Sekten vorhaben oder bereits durchgeführt haben,
muss weltweit geächtet und verboten werden. Diese For-
derung, meine Damen und Herren, hat in diesem Hause
die FDP als erste Fraktion erhoben.


(Beifall bei der FDP)

Aus diesem Grunde können Sie sicherlich nachemp-

finden, dass ich die Auffassung vertrete, dass ein Verbot
des Klonens schnell erreicht werden muss. Deutschland
und Frankreich hatten im Oktober vergangenen Jahres ei-
nen, wie wir meinen, sehr guten Antrag bei den Vereinten
Nationen eingebracht. Seine Grundaussage lautete, das
reproduktive Klonen sofort zu verbieten und andere For-
men des Klonens, das therapeutische Klonen, später und
differenzierter anzugehen. Dieser Antrag – das haben wir
eben gehört – fand ebenso wie der Antrag der USA, Spa-
niens und Italiens, alle Formen des Klonens zu verbieten,
keine Mehrheit.

Jetzt haben sich einige Kollegen von SPD, Grünen und
CDU/CSU – aber eben nicht die Fraktionen; das ist eine
falsche Darstellung –


(Zuruf von der SPD: Aber überwiegend!)

eines anderen besonnen und einen Antrag eingebracht, der
die deutsch-französische Regierungsposition aufgibt und
die amerikanische Position übernimmt.

Da es für uns das entscheidende Kriterium ist, wie wir
möglichst schnell zu einem weltweiten Verbot des Klonens

Dr. Reinhard Loske




Ulrike Flach
von Menschen kommen, muss man sich die Erfolgs-
chancen dieser Anträge ansehen. Ministerin Bulmahn
– ich mache mir jetzt natürlich Gedanken darüber, warum
sie heute ebenso wie Kollege Fischer, der bei dieser An-
gelegenheit federführend ist, nicht anwesend ist –


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


hat noch im Januar erklärt, es gehe darum, „das zurzeit
Mögliche zu erreichen“; eine „rechtliche und ethische Be-
wertung ist noch nicht abgeschlossen“. Ich erinnere auch
an die erstaunliche Einschätzung des Staatssekretärs
Chrobog vom Auswärtigen Amt in der letzten Woche im
Ausschuss für Bildung und Forschung, dass Ihr Antrag in-
ternational keine Chance auf Durchsetzbarkeit habe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1502801600
Die
Maximalisten seien die USA, Spanien, der Vatikan und,
sofern Ihr Antrag beschlossen wird, auch Deutschland.
Dann gebe es die Minimalisten, die nach Möglichkeit kein
Verbot wollen. Schließlich gebe es die Realisten; das
seien bis zum heutigen Tage Deutschland und Frankreich
mit der damaligen Initiative, die Sie jetzt verlassen und
die wir, die FDP, in unserem Antrag unterstützen.

Ähnlich hat sich übrigens auch der Vorsitzende des
Nationalen Ethikrates, Simitis, geäußert. Auch er hält
offensichtlich nichts davon, den Kernpunkt der Debatte,
das Klonen von Menschen, durch weitere Forderungen zu
überfrachten.


(Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!)

Es macht keinen Sinn, das therapeutische Klonen in den
Forderungskatalog einzubeziehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das therapeutische Klonen soll helfen, Zellgewebe
zum Beispiel für Herz-, Leber- oder Muskelzellen zu ge-
winnen. Das Verfahren beginnt zwar ähnlich wie das des
reproduktiven Klonens,


(Jörg Tauss [SPD]: Völlig identisch!)

aber es dient ausdrücklich nicht dazu, einen Menschen zu
reproduzieren, und das ist es doch, wovor die Menschen
Angst haben. Simitis fordert deshalb eine differenzierte
Bewertung und damit hat er vollkommen Recht.

In Deutschland gibt es zurzeit keinen einzigen seriösen
Wissenschaftler, der auf die Idee käme, ein Forschungs-
vorhaben zum reproduktiven Klonen zu beantragen.


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist ja auch verboten!)


Ich bin sehr froh, dass es hierüber in der Wissenschafts-
community einen breiten Konsens gibt.

Beim therapeutischen Klonen allerdings sehen viele
Wissenschaftler zwar kurzfristig keinen Durchbruch hin-
sichtlich der Entwicklung neuer Therapien – hier bin ich
mit ihnen absolut einer Meinung –, aber sie wollen diese
Option langfristig nicht ausschließen. Denn es geht doch
darum, kranken Menschen zu helfen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn die Forschung an embryonalen Stammzellen ei-
nes Tages zum Erfolg und damit zu Therapiemöglich-
keiten führen sollte – wir alle wissen nicht, was dann sein
wird –, dann wollen die meisten Länder dieser Welt frei
über deren Einsatz entscheiden können. Genau das will
auch die FDP.


(Beifall bei der FDP)

Das verbieten Sie in Ihrem Antrag. Sie müssen sich des-
halb zu Recht fragen lassen, warum Sie glauben, mit
höheren Forderungen schneller ans Ziel zu kommen. Das
ist ungefähr so, als packten Sie einem Läufer noch viele
Steine in seinen Rucksack, damit er schneller ans Ziel
kommt.

Offenbar sehen das auch viele Kolleginnen und Kolle-
gen in der SPD-Fraktion und, wie ich höre, auch in der
Fraktion der Grünen so, denn uns liegen eine Reihe von
Erklärungen vor, die besagen, sie könnten nicht für den ge-
meinsamen Antrag von Rot-Grün und Union stimmen. Ich
würde mich freuen, liebe Kollegen, wenn Sie die Tradition
in der Debatte über das Stammzellgesetz beibehalten und
in diesem Falle unseren Antrag unterstützen würden.


(Beifall bei der FDP)

Lassen Sie mich noch ein Argument vertiefen: Mich

hat etwas erstaunt, wie kritiklos einige der Antragsteller
aus der SPD und von den Grünen die Position der USA
hinsichtlich des internationalen Klonverbots überneh-
men. Fakt ist, dass die USA auf nationaler Ebene keine
Regelungen betreffend das Verbot des Klonens haben,
sich aber international zum Vorreiter von Maximalforde-
rungen machen. Diese Position ist aus meiner Sicht alles
andere als moralisch überzeugend.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zumindest ist es seltsam, dass die Kolleginnen und Kol-
legen von Rot-Grün, die den USA sonst immer sehr skep-
tisch gegenübertreten,


(Widerspruch bei der SPD)

nun gerade beim Verbot des Klonens diese Position of-
fensichtlich vorbehaltlos übernehmen.


(René Röspel [SPD]: Aber wir handeln auf Basis der Gesetzeslage!)


– Wir auch, liebe Kollegen.
Wir fordern die Bundesregierung auf: Bleiben Sie bei

der Position, die einen schnelleren Abschluss einer welt-
weiten Konvention gegen das Klonen von Menschen er-
möglicht.


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist doch gerade gescheitert!)


Belasten Sie diese Verhandlungen nicht übermäßig. Hal-
ten Sie Kurs. Ich will es ganz direkt sagen: Es geht hier
um die Hilfe für Menschen, die an sehr schwer zu thera-
pierenden Krankheiten leiden. Es geht nicht darum, die
deutsche Debattenkultur noch weiter zu erhöhen.


(A)



(B)



(C)



(D)


2138


(A)



(B)



(C)



(D)






Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502801700

Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatsse-

kretär Christoph Matschie.

C
Christoph Matschie (SPD):
Rede ID: ID1502801800


Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir
setzen heute in diesem Haus eine Debatte fort, die sich mit
den ethischen und rechtlichen Grenzziehungen im Zu-
sammenhang mit den Möglichkeiten moderner Medizin
und Forschung beschäftigt. Es ist gut, dass sich dieses
Haus mit diesen Fragen immer wieder in einer breiten und
intensiven Debatte auseinander setzt, denn die Erfahrun-
gen der vergangenen Jahre haben gezeigt: Dieses Parla-
ment muss die Entscheidungen im Hinblick auf diese Fra-
gen fällen, niemand sonst.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben in den Debatten der vergangenen Jahre – ich
erinnere nur an die Auseinandersetzungen um die For-
schung mit embryonalen Stammzellen – erlebt, dass
dieses Parlament über diese Fragen in großer Verantwor-
tung und großem gegenseitigen Respekt für die unter-
schiedlichen Positionen diskutiert hat und zu überzeu-
genden Antworten gekommen ist. Wir alle haben in diesen
Diskussionen erlebt, dass die Fortschritte der modernen
Forschung und der modernen Medizin immer auf der ei-
nen Seite zu neuen Hoffnungen auf Heilungschancen ge-
führt, auf der anderen Seite aber natürlich auch die Sorge,
dass der Mensch zur Verfügungsmasse werden könnte,
geweckt haben. In dieser Diskussion müssen wir uns mit
beidem, mit den Hoffnungen und Chancen auf Heilung
und mit der Sorge, dass Menschen zur Verfügungsmasse
gemacht werden könnten, auseinander setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin überzeugt, dass die allermeisten Forscher und
Mediziner ihrer Arbeit in sehr großer Verantwortung nach-
gehen. Aber klar ist auch, dass die Meldungen der letzten
Wochen über Versuche, Menschen zu klonen, alle alar-
mieren müssen. Nicht allein die Tatsache, dass ein solcher
Versuch gelungen sein könnte, sondern schon die Tatsa-
che, dass solche Versuche mit menschlichen Embryonen
durchgeführt werden, muss uns alle aufrütteln und dazu
bringen, möglichst schnell zu einem internationalen Ver-
bot des Klonens von Menschen zu kommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gitta Connemann [CDU/CSU])


Deshalb bin ich froh, dass uns heute ein Antrag vor-
liegt, der von einer breiten Mehrheit dieses Hauses unter-
stützt wird. Der Antrag baut auf dem auf, was in der letz-
ten Legislaturperiode als Ziel für die internationalen
Verhandlungen formuliert worden ist, nämlich ein mög-

lichst umfassendes internationales Klonverbot zu errei-
chen.

Wir wissen, dass die Auffassungen über diese Fragen
international nicht einheitlich sind und der Versuch, in ei-
nem ersten Verhandlungsgang zu einem solchen Verbot zu
kommen, gescheitert ist. Wir wissen, dass es eine relativ
breite Mehrheit für ein Verbot des reproduktiven Klonens
gibt und die Frage des therapeutischen Klonens sowohl in
diesem Haus als auch international unterschiedlich beur-
teilt wird. Deshalb wird der Erfolg einer neuen deutsch-
französischen Initiative nicht nur von einer möglichst
breiten Unterstützung in den beiden Parlamenten, sondern
auch von der Qualität und der Überzeugungskraft unserer
Argumente abhängen.

Die Bundesministerin für Bildung und Forschung,
Edelgard Bulmahn, hat daher zu einer internationalen
Konferenz vom 14. bis 16. Mai eingeladen. Diese inter-
nationale Konferenz soll sich mit dem gegenwärtigen
Stand der Forschung und ihre ethischen Bewertungen so-
wie den daraus zu ziehenden rechtlichen Konsequenzen
auseinander setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es wird eine Konferenz mit Teilnehmern aus Forschung,
Politik, Wirtschaft und Verbänden sein, weil wir glauben,
dass es nur unter der Voraussetzung eines weltweiten Pro-
zesses der interdisziplinären Verständigung letztendlich
zu überzeugenden Grenzziehungen und einem gemeinsa-
men internationalen Vorgehen kommen kann.

Wir stehen in der Bundesrepublik Deutschland mit
dem Embryonenschutzgesetz, das ganz klar beide For-
men des Klonens ausschließt, in dieser Frage rechtlich auf
einer sehr klaren Basis.

Wir diskutieren heute auch über die Einsetzung einer
neuen Enquete-Kommission, die sich mit Fragen von
Ethik und Recht in der modernen Medizin beschäftigt;
denn es gibt in anderen Bereichen offene Fragen, bei de-
nen wir noch nicht zu einer solch klaren Entscheidung ge-
kommen sind, wie uns das beim Embryonenschutzgesetz
oder beim Stammzellgesetz gelungen ist. Die neue En-
quete-Kommission wird sich mit der Ziehung ethischer
Grenzen und der Schaffung rechtlicher Regelungen aus-
einander setzen müssen. Ich bin überzeugt, dass diese En-
quete-Kommission eine gute Voraussetzung dafür ist,
dass dieses Parlament auch auf neue Fragen und Heraus-
forderungen moderner Medizin und Forschung überzeu-
gende Antworten finden wird.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502801900

Das Wort hat nun Kollege Thomas Rachel, CDU/CSU-

Fraktion.


Thomas Rachel (CDU):
Rede ID: ID1502802000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die biomedizinische Forschung ist eine der

Ulrike Flach




Thomas Rachel
großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Mit ihr
verbinden sich große Hoffnungen, Menschen besser hel-
fen zu können. Zugleich stellt sie uns vor die Frage, wo
die ethischen Grenzen menschlichen Forschens und Han-
delns liegen. Als Gesetzgeber haben wir die besondere
Verantwortung, diese Entwicklung zu begleiten.

Als Christ bin ich dem Schutz der Menschenwürde
verpflichtet, zu der für mich auch eine Ethik des Heilens
gehört. Der Wille zu heilen, entspricht dem humanitären
Auftrag, Alten, Schwachen und Kranken zu helfen. In der
letzten Legislaturperiode haben wir gesehen, dass große
Fortschritte in Medizin und Biotechnologie der ethischen
Begleitung bedürfen. Dieser Aufgabe wollen wir uns auch
mit der neuen Enquete-Kommission stellen. Dabei müs-
sen sich naturwissenschaftliche Erkenntnisse und neue
medizinische Möglichkeiten an dem Bild vom Menschen
messen lassen, wie es in der Verfassung verankert ist und
der christlichen Anthropologie entspricht.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir brauchen Entwicklungsmöglichkeiten für die Bio-

und Gentechnologie vor allem, weil diese Forschung es
uns ermöglichen kann, menschliches Leben zu bewahren
und Leiden zu lindern. Aber dieser Freiraum findet seine
Grenze am absoluten Wert des Menschen, an der Men-
schenwürde. Manche der sich abzeichnenden Möglich-
keiten der Biomedizin haben eine völlig neue Qualität. So
scheint die Möglichkeit auf, den Menschen in seiner bio-
logischen Ausstattung selber zu verändern. Manche wol-
len ihn sogar genetisch neu entwerfen. Dies wäre eine ab-
schreckende Vision.

Für uns Christdemokraten ist in Übereinstimmung mit
den beiden großen Kirchen klar, dass mit der Verschmel-
zung von Ei und Samenzelle menschliches Leben ent-
steht. Diese Auffassung kann nur eine Konsequenz haben:
Wir müssen ein weltweites Klonverbot erreichen. Hier
ist die Bundesregierung gefordert, entschieden zu han-
deln. Mit dem heute eingebrachten interfraktionellen An-
trag fordern wir ein Verbot des reproduktiven und des the-
rapeutischen Klonens. Die Position der deutschen
Bundesregierung muss dabei kristallklar sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Deshalb irritiert das Interview der Forschungsministe-
rin Bulmahn in der „Berliner Zeitung“ vom 10. Januar
2003. Wörtlich antwortet sie dort:

Im Bereich des therapeutischen Klonens sind ver-
schiedene Verfahren denkbar, einige davon könnten
sich als ethisch unbedenklich erweisen. Damit hätte
ich dann keine Probleme.

Frau Bulmahn, wir wollen wissen, was Sie dabei für
ethisch unbedenklich halten.


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Das ist längst klargestellt!)


Bereits im Mai 2001 hat die Deutsche Forschungsge-
meinschaft erklärt, dass „sowohl das reproduktive als
auch das therapeutische Klonen ... weder naturwissen-
schaftlich zu begründen noch ethisch zu verantworten
sind und daher nicht statthaft sein können“. Die Auffas-
sung des DFG-Präsidenten Winnacker, dass therapeuti-

sches Klonen „Sackgasse und Irrweg“ sei, teile ich. The-
rapeutisches und reproduktives Klonen führen zu einem
Embryo, der einmal verworfen und das andere Mal zur
Herstellung eines identischen Menschen genutzt wird.
Die beim therapeutischen Klonen entstehenden Zellen
können Tumorzellen sein und vorzeitig altern. Für dieses
Verfahren ist eine enorme Zahl von Eizellspenden erfor-
derlich. Dies lehne ich aus moralischen Gründen ab.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. René Röspel [SPD] und des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD] und der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Professor Winnacker hat als Alternative für therapeuti-
sche Zwecke so genannte Stammzellbanken in die Dis-
kussion gebracht. Dies wäre eine Sammlung von Zelllinien
mit jeweils unterschiedlicher Gewebeverträglichkeit. Da-
mit würde das Problem der immunologischen Abwehr für
viele Patienten entfallen. Die Enquete-Kommission könnte
die rechtlichen, die wissenschaftlichen und die ethischen
Chancen von Stammzellbanken kritisch überprüfen.

Die Errungenschaften der modernen Lebenswissen-
schaften haben Einzug in unser Leben gehalten. Mit der
Gendiagnostik kann man frühzeitig Krankheitsrisiken er-
kennen, sodass der Krankheit mit geeigneten Maßnahmen
entgegengewirkt werden kann.


(René Röspel [SPD]: Wenn es sie gibt!)

Dies ist eines von vielen Beispielen, die zeigen: Ethisch
begleiteter Fortschritt dient der Menschenwürde.

Mit der vollständigen Entschlüsselung des menschli-
chen Genoms verbindet sich die Hoffnung, mit den Mit-
teln der Gentherapie schwere Krankheiten zu besiegen.
Aber auch in diesem Bereich liegen Chancen und Risiken
nah beieinander. Hoffnungsvolle Ansätze müssen immer
auch auf die unbeherrschbaren Nebenwirkungen unter-
sucht werden. Wir haben in der Enquete-Kommission da-
rauf zu achten, welche Aufgaben die Politik und welche
die Medizin hat.

Jedes Jahr sterben in Deutschland Menschen, weil ihr
dringender Wunsch nach einem Organ mangels Verfüg-
barkeit nicht erfüllt werden kann. Lange Wartelisten und
illegaler Organhandel sind bedrückend. Seit einigen Jah-
ren forscht die Wissenschaft, ob auf diesem Gebiet durch
die Übertragung von Gewebe und Organen von Tieren
Abhilfe geschaffen werden kann; das Stichwort lautet
„Xenotransplantation“. Drei zentrale Fragen stellen
sich bei dieser Forschung: die Überwindung der Ab-
stoßung; die Gewährleistung der physiologischen Funk-
tionalität und die Beherrschung der Infektionsrisiken.

Ist dieser Weg aber ethisch verantwortbar? Problema-
tisch ist nicht nur, dass noch ungeklärt ist, ob durch solche
Verpflanzungen bislang unbekannte Infektionen von Tie-
ren auf den Menschen übertragen werden können. Wel-
chen Stellenwert hat eigentlich das Tier, dessen besonde-
ren Schutz durch das Grundgesetz wir im letzten Jahr im
Bundestag beschlossen haben? Andererseits dient das
Tier dem Menschen seit der Urzeit als Nahrungsquelle, ja,
im Wortsinne als Lebensmittel. Als Mittel zum Leben
wäre auch ein Xenotransplantat zu verstehen.


(A)



(B)



(C)



(D)


2140


(A)



(B)



(C)



(D)






John F. Kennedy verdanken wir den wertvollen Ge-
danken: Eine medizinische Revolution hat die Lebenser-
wartung unserer Alten verlängert, ohne ihnen die Würde
und die Sicherheit zu geben, die sie in ihren letzten Jah-
ren verdienen. Damit sind wir bei dem ernsten Thema
„Sterbebegleitung und Sterbehilfe“. Viele Menschen
fürchten sich vor einem schmerzhaften, einsamen und oft
würdelosen Sterben.

Unser christlich abendländisches Menschenbild ver-
pflichtet, die Menschenwürde am Anfang, im Verlauf
und am Ende des Lebens sicherzustellen. Diesem Ziele
weiß sich auch die Palliativmedizin verpflichtet, deren
Möglichkeiten wir mit der Enquete-Kommission neben
dem Ausbau der Hospizarbeit stärken müssen. Etwa
3 000 Patienten in den Niederlanden bekommen jedes
Jahr aktive Sterbehilfe – auf ausdrückliches Verlangen der
Patienten. Zusätzlich werden bei etwa 1 000 Patienten
lebensverlängernde Maßnahmen ohne deren Einverständ-
nis abgebrochen. Dies sind alarmierende Zahlen.

Sterbende Menschen haben nach Erkenntnis der Kir-
che vor allem vier Grundbedürfnisse, an denen sich Ster-
bebegleitung orientieren muss: im Sterben nicht allein ge-
lassen zu werden; die letzten Dinge regeln zu können; die
Frage nach einer über den Tod hinausgehenden Hoffnung
stellen zu können; vor allem nicht unter Schmerzen leiden
zu müssen.

Deutschland liegt aber auf dem Gebiet der Palliativ-
medizin ziemlich weit hinten. Es hat im Bereich der
Schmerztherapie im Vergleich zu anderen europäischen
Ländern noch einiges aufzuholen. In Deutschland haben
wir für 1 Million Menschen ganze drei Palliativbetten.
Der Stärkung der Palliativmedizin sollte sich die neue En-
quete-Kommission deshalb als einer wichtigen Aufgabe
stellen. Ethisch begleiteter Fortschritt dient der Men-
schenwürde.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502802100

Ich erteile der Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/

Die Grünen, das Wort.


Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502802200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die

ganze Geschichte der Medizin ist eine Geschichte des
Machbarkeitswahns“, erklärte Professor Kentenich, ein
hoch angesehener Fortpflanzungsmediziner, auf einer
Bioethikveranstaltung unserer Fraktion Anfang Februar.


(Jörg Tauss [SPD]: Ohne den lebten wir noch auf Bäumen!)


Ja, richtig: Ohne das Sich-nicht-Abfinden-Können und
das Sich-nicht-Abfinden-Wollen mit den Leiden der
Menschheit, ohne die Revolte gegen den Fatalismus, ohne
das Streben nach Glück und Erkenntnis gäbe es viele der
technischen und medizinischen Errungenschaften nicht,
die den Menschen in den entwickelten Industriestaaten
ein gutes Leben bis ins hohe Alter ermöglichen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Das ist aber nur die halbe Wahrheit; denn diese Him-
melsstürmerei kann zum Absturz führen und sich sogar in
ihr Gegenteil, in Barbarei, verkehren. Fortschritt, der
nicht über sich selbst reflektiert und sich nicht selbst be-
grenzt, verkehrt sich in sein Gegenteil. Das hat nichts,
aber auch gar nichts mit religiösem Fundamentalismus zu
tun, sondern genau das ist der Grundgedanke der Dialek-
tik der Aufklärung.

Die Erfolgsgeschichte sämtlicher demokratischer Zi-
vilgesellschaften beruht darauf, dass sie gelernt haben, ei-
nem ungezügelten Machbarkeitswahn Zügel anzulegen
und Grenzen zu setzen. Die Entwicklung der universa-
len Menschenrechte hätte es nicht gegeben ohne die Ein-
sicht darin, dass sich die Gesellschaft und der Staat selbst
Grenzen setzen müssen und dass der Einzelne Abwehr-
rechte gegen den Zugriff von Staat und Gesellschaft so-
wie gegen kollektive Begehrlichkeiten hat. Diese Einsicht
verdanken wir Art. 1 unseres Grundgesetzes:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu ach-
ten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat-
lichen Gewalt.

Entscheidend ist dabei, dass diese Menschenwürde je-
dem menschlichen Leben zukommt. Sie muss weder ver-
dient werden noch kann sie verloren werden.

Aber wann sind die Grenzen dessen erreicht, was wir
tun dürfen? Wo finden wir die Kriterien für die nötige
Grenzziehung? Die Grenze ist da erreicht, wo getötet
wird, um zu heilen, oder wo Töten sogar als Heilen aus-
gegeben wird. Bei der Präimplantationsdiagnostik wird
ein kranker Embryo nicht geheilt, sondern er wird selek-
tiert und getötet. Beim therapeutischen Klonen werden
Embryonen hergestellt und anschließend getötet – in der
Hoffnung, damit Heilmittel für andere Menschen zu ge-
winnen. Menschliches Leben wird hierbei instrumentali-
siert und für fremde Zwecke vernutzt. Damit ist die Men-
schenwürde in ihrem Kern angetastet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ CSU)


In der Präambel unseres neuen Grundsatzprogramms
verpflichten wir Bündnisgrünen uns zur Parteinahme für
die Schwächsten. Das ist keine weltfremde Gefühlsduse-
lei, sondern das gibt einen ganz konkreten Maßstab für un-
sere Politik vor. Machen wir uns doch nichts vor! Wir alle
sind nicht nur am frühesten Beginn unseres Lebens, son-
dern in gleicher Weise am Ende unseres Lebens, wenn es
ans Sterben geht, existenziell ausgeliefert. Auch im Laufe
unseres Lebens wird es keinem von uns erspart bleiben,
solche Phasen des Ausgeliefert-Seins durchstehen zu müs-
sen. Daher ist es gut, wenn man in einer Gesellschaft leben
kann, die an den Schwächsten Maß nimmt. Davon werden
wir alle, jeder einzelne von uns, egal wie die Konstitution
ist, wie es einem geht, nur profitieren können. Es ist ein
Garant für ein gutes Leben für alle.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Thomas Rachel




Christa Nickels

Morgen wird in Magdeburg dasEuropäische Jahr der
Menschen mit Behinderung eröffnet. Diese Gelegenheit
sollten wir nutzen, um uns erneut mit der Frage auseinan-
der zu setzen, worum und um wen es denn eigentlich geht,
wenn wir davon sprechen, Leid vermeiden zu wollen.
Geht es dabei wirklich um das Wohl der Behinderten? Be-
hinderte verwahren sich vehement dagegen, dass man sie
um anderer Interessen willen instrumentalisiert. Der eme-
ritierte Mikrobiologe Professor Zähner, Parkinsonpatient,
sagt: Wenn die Parkinsonpatienten als konkrete Nutz-
nießer der Stammzellforschung ins Gespräch gebracht
oder in den Medien sogar vorgeführt werden, sehe ich
darin einen erniedrigenden Missbrauch.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Professor Zähner wehrt sich dagegen, dass Patienten in-
strumentalisiert werden, um andere Interessen zu legiti-
mieren oder Widerstände, die sich dagegen erheben, aus-
zuhebeln.

Behinderte fordern ganz klar ein, dass die Gesell-
schaft – wir leben in einer reichen Gesellschaft – alle Res-
sourcen zur Verfügung stellt, damit sie die Lebensfreude
und die Lebensqualität, die jedem Leben Eigen sind, auch
umsetzen können. Darum frage ich: Worum und um wen
geht es eigentlich, wenn wir davon sprechen, Leid ver-
meiden zu wollen, wenn die Ethik des Heilens immer wie-
der als Nonplusultra beschworen wird? Es wird davon ab-
gesehen, dass manches Leiden eben nicht mehr geheilt
werden kann, aber gelindert werden muss, dass die Men-
schen begleitet werden müssen, dass alles getan werden
muss, damit sie ein gutes Leben haben – auch im Leid und
ebenfalls dann, wenn sie in die Sterbephase eintreten. Hier
ist es meiner Meinung nach ganz wichtig zu erwähnen,
dass wir als Gesellschaft Sterben und nicht heilbares Leid
kollektiv verdrängen und uns damit nicht mehr auseinan-
der setzen wollen. Es ist kein Wunder, dass das Sterben in
Krankenhäuser verlagert worden ist.

Täuschen wir uns nicht! Das ist keine rein ethisch-mo-
ralische Frage, sondern eine ganz handfeste Frage, die uns
noch oft, zum Beispiel an vielen einzelnen Punkten in der
Debatte um die Gesundheitsreform, einholen wird. Ohne
klare Grundsätze werden wir als Gesellschaft diese De-
batte nicht unbeschadet überstehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ CSU)


Deshalb bin ich froh und stolz, dass wir als Parlament
es gleich zu Beginn einer neuen Legislaturperiode und
trotz der international schwierigen Lage schaffen, erneut
eine Enquete-Kommission „Ethik und Recht der moder-
nen Medizin“ einzusetzen. Diese Enquete-Kommission
wird zwei wesentliche Aufgaben haben:

Zum einen geht es darum, den Fundus an Wissen und
Unterscheidungskriterien weiterzugeben, den sich der
Deutsche Bundestag zu diesen grundlegenden Fragen in
den letzten 20 Jahren erarbeitet hat. Die Enquete-Kom-
mission der 14. Wahlperiode hat sich dieser Unterschei-
dungskriterien auf dem modernsten Stand der Möglich-
keiten der Technik noch einmal vergewissert und hat sie

im Wesentlichen bestätigt. Darum glaube ich, dass es in
dieser Legislaturperiode, in der wir einen riesengroßen
Wechsel der Mitglieder haben, auch darum geht, das zu
tradieren, was das Koordinatensystem unserer gewachse-
nen Auffassung von Menschenwürde ist; ob es Bestand
haben kann und soll oder ob sich dieses Koordinatensys-
tem grundlegend verschieben soll. Diejenigen, die diese
langen Prozesse miterlebt und mitgestaltet haben, können
sich nicht einfach auf den Standpunkt zurückziehen, dass
es für das gewachsene Menschenwürdeverständnis gute
Gründe gibt. Den neuen Mitgliedern dieses Parlamentes
und der nächsten Generation der Parlamentarier werden
wir es nicht ersparen können, sich dieser komplizierten
und schwierigen Debatte in allen Einzelungen und Facet-
ten zu stellen.

Zum anderen haben wir rechtliche Regelungen vor
uns. Das Fortpflanzungsmedizingesetz ist spätestens seit
1994 überfällig. Es geht hier um eine grundlegende, we-
sentliche Herausforderung für die Art unseres Zusammen-
lebens, für die Grundkoordinaten unseres Menschenwür-
dekonzeptes. Im Sinne des Wesentlichkeitsgebots können
wir diese Aufgabe weder der Regierung noch Kommis-
sionen überlassen. Hier müssen wir schon als Parlamen-
tarier selbst handeln.

Ich bin sehr froh, dass wir jetzt die Voraussetzungen
geschaffen haben, und hoffe, dass das ganze Parlament
engagiert daran teilnimmt. Dabei geht es nicht um die De-
battenkultur im Sinne von „Kunst für die Kunst“. Es geht
hier um wichtige und grundlegende Fragen. Das Parla-
ment wird hier ganz dringend gebraucht.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502802300

Ich erteile das Wort Kollegen Detlef Parr, FDP-Frak-

tion.


Detlef Parr (FDP):
Rede ID: ID1502802400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich

ist die Fortsetzung der Arbeit der Enquete-Kommission
„Recht und Ethik der modernen Medizin“ nur folgerich-
tig.

Auch in der 15. Legislaturperiode
– so bringt es der vorliegende Antrag treffend zum Aus-
druck –

steht der Gesetzgeber vor der Herausforderung, auf
die ... rasante Entwicklung in der modernen Biome-
dizin vorausschauend reagieren zu müssen.

Das steht außer Zweifel.
Der Bundestag braucht also ein Gremium zur Vorbe-

reitung und Begleitung von Gesetzesverfahren, von par-
lamentarischen Diskussionen in bioethischen Streitfra-
gen. Er braucht dieses Gremium umso mehr, als mit dem
Nationalen Ethikrat durch den Kanzler eine Institution


(A)



(B)



(C)



(D)


2142


(A)



(B)



(C)



(D)






geschaffen worden ist, die in keiner Weise demokratisch
legitimiert ist. Wir Abgeordneten dürfen es nicht zulassen,
dass dem Nationalen Ethikrat eine Alleinstellung zu-
kommt. Wir sind es, die über die Enquete-Kommission
dazu beitragen müssen, dass es zu gesetzgeberischem und
adminstrativem Handeln in Bezug auf bioethische Zu-
kunftsfragen kommt und der öffentliche Diskurs darüber
in Gang gesetzt wird. So weit sind wir uns einig.


(Beifall bei der FDP)

Umso überraschter waren wir, als der Einsetzungsan-

trag, der heute vorliegt, ohne Beteilung der FDP formu-
liert worden war. Frau Flach und ich haben noch Ände-
rungsvorschläge eingebracht, leider ohne Erfolg. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, das empfinden wir als
schlechten demokratischen Stil.


(Beifall bei der FDP)

Schauen Sie den vorliegenden Text sehr genau durch!

Er lässt mehr als die Vermutung aufkommen, dass die
Kommission einer Verschiebepolitik Vorschub leisten
soll. Denn es heißt in dem Antrag: Themen, die in der letz-
ten Legislaturperiode „nicht in befriedigender Weise“ un-
tersucht werden konnten, sollen neu aufgerollt werden.
Meine Damen und Herren, was heißt denn „in befriedi-
gender Weise“? Sollen wir Themen so lange diskutieren,
bis wir zu dem Ergebnis kommen, das sich die Mehrheit
hier wünscht? Das wollen wir nicht.


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Das ist doch genau aufgeführt!)


– Herr Wodarg, manche Bereiche der modernen Medizin
sind längst entscheidungsreif. Der Bundestag darf sich
nicht davor drücken, bald die notwendigen Beschlüsse zu
fassen.


(Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Tut er doch nicht!)


– Doch, das tut er sehr wohl. – Es macht zum Beispiel we-
nig Sinn, wenn bereits abgehandelte Themen wie die
Präimplantationsdiagnostikwieder Gegenstand der Be-
ratungen werden sollen, wie zu erahnen ist, Herr Wodarg.


(Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Will ja keiner!)

– Ich bin gespannt. – Hierzu liegt der ausführliche Ab-
schlussbericht der Enquete-Kommission der letzten Le-
gislaturperiode vor; die Stellungnahme des Nationalen
Ethikrates haben wir vorliegen. Die Argumente des Für
und Wider sind sorgfältig erarbeitet worden. Die Vorbe-
reitung einer Entscheidung ist damit abgeschlossen. Jetzt
muss jeder von uns den Mut haben, darüber abzustimmen.
Wir werden einen entsprechenden Antrag einbringen.


(Beifall bei der FDP)

Es ist einfach falsch, wenn die Kommission Grenzen

medizinischen Handelns bei Forschung, Diagnostik und
Therapie definieren soll. Meine Damen und Herren, so
einseitig und einschränkend darf die Aufgabenstellung
doch wohl nicht sein.


(Beifall bei der FDP)

Die FDP will offen und tabulos die Chancen und Risiken
zur Sprache bringen, die mit den neu auftauchenden Fra-

gestellungen verbunden sind. Auf eine Enquete-Kommis-
sion mit Maulkorb können wir gerne verzichten.


(Beifall bei der FDP)

Wenn sich auch viele Menschen durch neue biotech-

nologische Möglichkeiten in ihren moralischen oder reli-
giösen Überzeugungen verletzt sehen: Ein wesentlicher
Freiheitsgehalt des demokratischen Verfassungsstaates
liegt doch darin – ich zitiere aus der Stellungnahme des
Nationalen Ethikrats zur PID –: Staatliches Recht

lässt im Übrigen jedem die Freiheit, seinen eigenen
und über den staatlich garantierten Standard weit
hinausreichenden sittlich-moralischen Überzeugun-
gen gemäß … zu leben und seine Lebenspraxis ent-
sprechend zu gestalten.

Gerade im Bereich der persönlichen Lebensgestaltung
bedürfen regulative staatliche Eingriffe besonderer
Rechtfertigung. Das gilt auch für die Freiheit der Wis-
senschaft.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine der wesentlichen Aufgaben der Enquete-Kommis-
sion muss nach unserer Auffassung die Erarbeitung von
Vorschlägen sein, die auf einem Ausgleich des individu-
ellen Freiheitsanspruchs auf der einen und dem Schutz
allgemeiner Rechtsgüter durch den Staat auf der anderen
Seite basieren. Davon müssen wir Handlungsvorgaben
ableiten, die auch international den Anschluss an die Ent-
wicklung der modernen Medizin möglich machen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Diesem Abwägungsprozess wollen und müssen wir

uns stellen. Das wird auch und gerade die FDP tun; nicht
aber auf der Grundlage einer Aufgabenbeschreibung, die,
wie sie uns heute vorliegt, einen solchen Prozess nur ein-
geschränkt und unter Bedingungen zulässt. Puristische
Verhinderungsstrategien tragen wir nicht mit. Wir sind für
eine Enquete-Kommission als Stätte des offenen Dialogs
und eines ergebnisorientierten Prozesses, aber gegen die-
sen Antrag.


(Beifall bei der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502802500

Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.


Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1502802600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir als

PDS begrüßen die Initiative des Bundestages für ein in-
ternationales Verbot des Klonens menschlicher Embryo-
nen. In dieser Frage gibt es einen breiten gesellschaftli-
chen Konsens. In der Bundesrepublik ist das Klonen
bereits seit 1990 verboten. Wie Sie wissen, hat der Euro-
päische Gerichtshof die Herstellung von Menschen, die
genetisch identisch mit anderen Menschen sind, 1998
verboten.

Jetzt ist die Frage, ob es wirklich gelingt, ein interna-
tionales Verbot durchzusetzen. Da bin ich eher skeptisch.
Der Antrag von SPD, CDU/CSU und Grünen verlangt,

Detlef Parr




Dr. Gesine Lötzsch
das reproduktive und therapeutische Klonen zu verbieten.
Das ist zwar gut und richtig, aber es scheint mir, meine
Kolleginnen und Kollegen, international nicht durchsetz-
bar zu sein. Ich finde, gerade diese Frage der internatio-
nalen Durchsetzbarkeit hätte hier in dieser Debatte mehr
Raum verdient.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] sowie der Abg. Ulrike Flach [FDP])


Ansonsten müssen Sie sich schon die Frage gefallen las-
sen, ob diese resolute Forderung nicht nur als Beruhigung
für einige gedacht ist.

Meine Damen und Herren, wir müssen zwischen re-
produktivem und therapeutischem Klonen unterschei-
den. Beim reproduktiven Klonen soll ein vollständiger
Organismus entstehen; das wird von allen in diesem
Hause abgelehnt. Beim therapeutischen Klonen geht es
um die Herstellung körpereigener Ersatzgewebe wie zum
Beispiel Herzmuskelzellen oder Nervengewebe. Diese
Entwicklung ist, wenn wir es realistisch betrachten, wohl
nicht aufzuhalten.


(René Röspel [SPD]: Hätte Herr Seifert aber wohl anders gesehen!)


– Es mag sein, dass das andere anders beurteilen. Ich ver-
trete hier meine Meinung. – Ich denke auch, dass For-
schungsministerin Bulmahn diesem Antrag nur mit
Bauchschmerzen zugestimmt hat, da sie die internationa-
len Forschungsrealitäten kennt.

Die inhaltliche Fortsetzung der Arbeit der Enquete-
Kommission in der letzten Wahlperiode durch eine neue
Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“
halten wir für sinnvoll und unterstützen wir. Die Bundes-
regierung hat einen Nationalen Ethikrat berufen. Es ist das
Recht und die Pflicht der Bundestagsabgeordneten, ihre
Möglichkeiten zu nutzen, um sich auf diesem sehr kom-
plizierten Gebiet sachkundig zu machen und verantwor-
tungsvolle Entscheidungen zu treffen.

Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist die
Einführung der Präimplantationsdiagnostik, abgekürzt
PID. Der Ethikrat hat sich dafür, die Enquete-Kommis-
sion dagegen ausgesprochen. Ich habe – das muss ich Ih-
nen ganz ehrlich sagen – den Eindruck, dass hier in einem
großen Konsens das internationale Klonverbot propagiert
wird – in dem Bewusstsein, dass das sowieso nicht durch-
zusetzen ist –, um dann unterhalb dieser Frage dafür zu
sorgen, dass sich die Enquete-Kommission langsam in
Richtung Ethikrat bewegt.


(Jörg Tauss [SPD]: Das ist PDS-Logik!)

Aber das werden wir dann im Ergebnis sehen. Ich will die
Ergebnisse nicht vorwegnehmen, ich möchte jedoch auf
diesen Fakt hinweisen.

Allerdings bin ich schon etwas über die ungewöhnliche
Einmütigkeit der Diskussionsredner – bis auf die FDP –
irritiert. Es wurde in getragenem Ton viel von der Würde
des Menschen gesprochen. Ich wünschte mir, dass wir in
diesem Hause häufiger über die Würde des Menschen
sprächen, beispielsweise auch wenn es um lebende, kon-
krete Menschen geht, zum Beispiel in Bezug auf die Si-

tuation in den Pflegeheimen, auf die Behandlung von psy-
chisch Gehandikapten oder auf gesundheitsschädigende
Arbeitsbedingungen.

Das oberste Gebot der Menschenwürde, meine Damen
und Herren, ist allerdings, dass es keinen Krieg gibt. Da-
rüber müssen wir uns hier so einig sein wie in der letzten
Woche: kein Krieg nirgends, kein Krieg gegen den Irak.


(Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502802700

Ich erteile das Wort Kollegen René Röspel, SPD-Frak-

tion.


René Röspel (SPD):
Rede ID: ID1502802800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! In den letzten Wochen werde ich sehr häufig gefragt:
Was ist denn eigentlich so schlimm am so genannten the-
rapeutischen Klonen? Warum sollen wir das nicht zulas-
sen?

Ja, was ist denn eigentlich so schlimm oder unethisch
daran, einer Frau eine hohe Hormondosis zu geben, damit
sie möglichst viele Eizellen produziert, ihr die Eizellen zu
entnehmen, den weiblichen Zellkern zu entfernen und zu
ersetzen, zum Beispiel durch einen Zellkern, der aus einer
meiner Hautzellen gewonnen werden könnte? Geschaffen
würde auf diesem Wege eine genetische Kopie, ein Klon,
eine neue „Eizelle“, mit meiner Erbinformation versehen.
Sie könnte sich unter geeigneten Bedingungen zu passen-
dem Zellersatzgewebe entwickeln oder, nach Einpflanzung
in eine Gebärmutter, in einen kompletten Menschen –
mein Jahrzehnte nach mir geborener Zwillingsbruder!

Diese neue „Eizelle“ wäre ein Embryo. Ich gebe zu, ich
habe mich, auch zu Beginn der Arbeit der letzten Enquete-
Kommission, gefragt: Ist das eigentlich ein Embryo, der
auf diesem Weg geschaffen wird? Ist Embryo nicht das,
was auf normalem Weg, nämlich durch Verschmelzung
von Ei und Samenzelle, entsteht? Ich habe während der Ar-
beit der letzten Enquete-Kommission sehr schnell gelernt:
Es ist ein Embryo. Es hat alle Veranlagung, zu einem Le-
bewesen zu werden; es ist ein Lebewesen.

Oder anders ausgedrückt: So wie ich hier vor Ihnen
stehe, sehen Sie mir nicht an, ob ich auf dem Weg des
„therapeutischen“ Klonens oder auf dem üblichen, kon-
ventionellen Weg entstanden bin.


(Jörg Tauss [SPD]: Wir vermuten mal!)

Um Sie zu beruhigen: Meine Eltern haben mir noch ges-
tern das Letztgenannte bestätigt.

Auch wenn ich das Klonschaf Dolly heute hätte mit-
bringen können, hätten Sie nicht sehen können, ob es auf
dem Weg des „therapeutischen“ Klonens oder auf natürli-
chem Weg entstanden ist. In jedem Fall muss das Em-
bryostadium durchlaufen werden und in jedem Fall, beim
so genannten therapeutischen und beim reproduktiven
Klonen, wird ein Embryo hergestellt.

In Deutschland würden wir mit dieser Methode nicht
nur eine juristische Grenze überschreiten. Aus meiner


(A)



(B)



(C)



(D)


2144


(A)



(B)



(C)



(D)






Sicht würden wir auch die Grenze des ethisch Verant-
wortbaren überschreiten.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hubert Hüppe [CDU/CSU])


Ein Embryo zu Forschungszwecken oder auch nur in der
Hoffnung, ihn zur Heilung einsetzen zu können, ist für
mich nicht akzeptabel.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Aber ist diese Methode nicht wissenschaftlich interes-
sant?, wird gefragt. Der Präsident der Deutschen For-
schungsgemeinschaft, Professor Winnacker, hält das
„therapeutische“ Klonen für einen „Irrweg“. Ich bin
überzeugt, er hat Recht. Es gibt in der Zellbiologie die
These, dass Zellen nach etwa 50 Teilungen zugrunde ge-
hen. Das ist der natürliche Prozess des Alterns und Ster-
bens, aufgehoben nur bei Krebszellen. Die Hautzelle aus
meinem Anfangsbeispiel war 38 Jahre lang meine Haut-
zelle. Sie hat sich 38 Jahre lang damit beschäftigt, Haut-
zelle zu sein, sich unzählige Male in andere Hautzellen zu
teilen. Die Chromosomen sind irreversibel verkürzt und
geschädigt. Nach einem Zellkerntransfer allerdings
müsste dieser Hautzellkern als Embryo funktionieren,
und zwar sehr rasch. Dass damit eine Vielzahl nicht über-
schaubarer Probleme, auch wissenschaftlicher Probleme,
entstehen, liegt auf der Hand. Das Klonschaf Dolly ist im
Alter von sechs Jahren gestorben. Schafe haben norma-
lerweise eine Lebenserwartung von zehn bis zwölf Jah-
ren. Das zeigt, dass diese Probleme sehr ernst genommen
– sie kann man auch nicht durch Beschluss eines FDP-
Parteitages aus der Welt schaffen –


(Ulrike Flach [FDP]: Jetzt nehmen Sie mir alle Hoffnung!)


und wissenschaftlich berücksichtigt werden müssen.
Bedeutet der Verzicht auf das „therapeutische“ Klonen

automatisch Verzicht auf Therapie? Ich sage: Nein. Der
einzige Vorteil der durch Klonen hergestellten Zellen ge-
genüber anderen embryonalen Stammzellen, zum Beispiel
die fehlende Abstoßungsreaktion – das ist das einzige Ar-
gument, das das Klonen rechtfertigen würde –, wird in na-
her Zukunft vielleicht durch gentechnische Manipulation
reduziert – dazu gibt es neuere Arbeiten, die allerdings
auch auf adulte Stammzellen zutreffen – oder aber, wie
Professor Winnacker es vorschlug und Frau Böhmer schon
erwähnte, durch die simple Schaffung von Stammzell-
banken ausgeglichen. Wer an „therapeutisches“ Klonen
zur Heilung von Krankheiten glaubt, muss heute schon
darlegen, welche Frauen denn die Hunderttausenden von
Eizellen spenden sollen, die dafür unabweisbar benötigt
werden. Auch dazu wurde schon genug gesagt.

Das Wichtigste in Bezug auf Therapie und Hei-
lungschancen ist: Alle bereits heute vorliegenden erfolg-
versprechenden Therapie- oder Heilungsversuche beim
Menschen sind mit adulten Stammzellen durchgeführt
worden,


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


im Bereich der Leukämie bereits vor 40 Jahren mit Kno-
chenmarkzellen. Die adulten Stammzellen werden die
Zellen sein, denen die Zukunft gehört und die zur Heilung
beitragen werden. Der Umweg des therapeutischen Klo-
nens würde mehr schaden als nutzen. Wer das reproduk-
tive Klonen verhindern will, muss auch das „therapeuti-
sche“ verbieten; denn es ist ein und dieselbe Technologie.
Das Ergebnis ist nicht unterscheidbar. Nur die Intention
derer, die die Zellen aus der Petrischale nehmen und in die
Gebärmutter einpflanzen, ist eine andere.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es ist gut, dass wir heute einen interfraktionellen An-
trag für ein umfassendes internationales Verbot des
Klonens verabschieden. Es ist gut, dass diesem Antrag so
viele Abgeordnete der meisten Fraktionen zustimmen
werden. Dass das so ist, hat sicherlich auch damit zu tun,
dass die beratende Arbeit der Enquete-Kommission
„Recht und Ethik der modernen Medizin“ aus der letzten
Legislaturperiode viel an Aufklärung und Information ge-
leistet hat. Sie hat ihre Aufgabe, das Parlament in schwie-
rigen Fragen zu beraten und Entscheidungsgrundlagen für
die Abgeordneten bereitzustellen, gut erfüllt. Sie hat die
Basis bereitet für Debatten über „therapeutisches“ Klo-
nen, Stammzellforschung und Präimplantationsdiagnos-
tik auf hohem Niveau und in gegenseitigem Respekt.

Deshalb ist es gut, dass wir auch heute für die noch of-
fenen und für die neuen Fragestellungen wieder eine
Enquete-Kommission mit breitem Konsens einsetzen
werden. Ihre Themen werden vielleicht nicht mehr so
spektakulär sein wie die der letzten Enquete-Kommission
wie beispielsweise mit der Stammzellforschung. Aber sie
werden auch nicht mehr so spekulativ sein.

Die Fragen bezogen auf die Forschung an nicht einwilli-
gungsfähigen Menschen, die Frage, wer es sich künftig leis-
ten kann, von moderner Medizin profitieren zu können, die
medizinischen Perspektiven der Nanobiotechnologie oder
die Selbstbestimmung des Menschen an seinem Leben-
sende werden für viel mehr Menschen Bedeutung haben,
als es embryonale Stammzellen jemals werden haben kön-
nen. Die Themen werden wechseln; die Aufgabe der
Kommission wird bleiben: parlamentarisch und demokra-
tisch legitimiert, schwierige Fragestellungen ethisch,
rechtlich und wissenschaftlich fundiert aufzuarbeiten und
dem Parlament und der Gesellschaft zur Verfügung zu
stellen.

Ich persönlich habe in der letzten Enquete-Kommis-
sion viel dazu gelernt, übrigens auch über mich selbst. Ich
freue mich, mit Ihnen zusammen wieder mitarbeiten zu
dürfen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502802900

Ich erteile das Wort Kollegen Hubert Hüppe, CDU/

CSU-Fraktion.

René Röspel






Hubert Hüppe (CDU):
Rede ID: ID1502803000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue

mich darüber, dass wir heute beschließen werden, die
Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen
Medizin“ wieder einzusetzen. Ich freue mich vor allen
Dingen auch deswegen, weil man sich diesmal sehr
schnell zwischen den verschiedenen Fraktionen hat eini-
gen können. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen dafür,
dass die Arbeit dort so weitergeführt wird, wie es in der
letzten Legislaturperiode der Fall gewesen ist: ohne
Rücksicht auf Fraktionsgrenzen. Das ist bei diesem
Thema, bei dem es um die Ethik geht, sehr wichtig.

Für die Dringlichkeit dieser Enquete-Kommission
spricht sicherlich, dass sie die erste ist, die in dieser Le-
gislaturperiode eingesetzt wird. Das war nicht immer so.
Denn in der letzten Legislaturperiode hat es immerhin an-
derthalb Jahre gedauert, bis die Enquete-Kommission
eingesetzt werden konnte, und es bestand nicht überall Ei-
nigkeit im Hinblick auf die Notwendigkeit einer solchen
Enquete-Kommission. Aus diesem Grunde war in der
letzten Legislaturperiode der Zeitdruck so groß, dass viele
Themen nicht behandelt oder nur angerissen werden
konnten. Dennoch haben wir in der Gesellschaft viel An-
erkennung für unsere Arbeit und unseren Abschlussbe-
richt erhalten. Vielleicht haben sich auch deswegen sehr
viele gesellschaftliche Gruppen, zum Beispiel die Kir-
chen sowie Frauen- und Wohlfahrtsverbände, vor allen
Dingen aber auch Behindertenverbände, dafür stark ge-
macht, dass diese Enquete-Kommission wieder eingesetzt
wird.

In dem vorliegenden Einsetzungsantrag wird deutlich
gemacht, wie umfassend unser Themenspektrum sein
wird: neue Aspekte der Organtransplantation, Fragen der
Fortpflanzungstechniken, Forschung an nicht Einwilli-
gungsfähigen und Biobanken; um nur einige Themen zu
nennen. Dabei bin ich allerdings sicher, dass im Laufe un-
serer Kommissionsarbeit neue Themen, die sich bereits
aus der Weiterentwicklung der Forschung ergeben, hinzu-
kommen werden.

Allerdings sollten wir nicht nur hinterfragen, was neu
auf uns zukommt, sondern auch – das ist mir sehr wich-
tig –, ob es nicht schon in der Vergangenheit zu Fehlent-
wicklungen gekommen ist. Ich denke zum Beispiel an das
Thema Pränataldiagnostik. Wenn wir über die Forschung
und den medizinischen Fortschritt sprechen, dürfen wir
nicht nur die Risiken sehen, sondern in Hinsicht auf
kranke Menschen gerade auch die Chancen der For-
schung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Welche Grenze wir aber auf jeden Fall zu beachten ha-
ben, ist in unserem Antrag festgelegt: die Wahrung der
Menschenwürde.Hier kann und darf es keine Ausnahme
geben, und zwar unabhängig davon, ob in anderen Län-
dern andere Bestimmungen gelten. Dazu verpflichtet uns
unser Grundgesetz. Das sollten wir auch nicht verbergen,
wenn es zum Beispiel um internationale Abkommen geht.
Im Gegenteil: Für die unteilbare Menschenwürde, die kei-
ner Abwägung zugänglich ist, dürfen und müssen wir
auch international eintreten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auf jedes einzelne Mitglied der Enquete-Kommission
wird damit eine enorme Arbeit zukommen. Wir werden
uns dieser Aufgabe stellen, weil wir wissen, dass wir die
Norm- und Regelsetzung an niemanden delegieren kön-
nen. Die entsprechenden Entscheidungen muss und kann
letztlich nur ein Gremium treffen: das Parlament – und
nicht Ethikräte, wobei man sich fragen muss, warum in
Ethikräten häufig mehr Forscher als Ethiker sitzen. Ich
sage dies auch in Hinsicht auf den so genannten Nationa-
len Ethikrat. Da ich auch für die Belange behinderter
Menschen zuständig bin und wir in diesem Jahr unter dem
Motto „Nichts über uns ohne uns“ das Europäische Jahr
der Menschen mit Behinderungen haben, halte ich es im-
mer noch für einen Skandal, dass nicht ein einziger Be-
hinderter Mitglied im Nationalen Ethikrat ist; das darf
man an dieser Stelle vielleicht einmal erwähnen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir darüber sprechen, dass das Parlament Ver-
antwortung übernehmen muss, dann gilt das auch für den
zweiten Antrag, den wir heute behandeln. Es geht dort da-
rum, auf UN-Ebene eine neue Initiative zu starten mit dem
Ziel, jegliches Klonen von Embryonen – es geht nicht
um Zellen – international zu verbieten. Ich hoffe, dass wir
heute mit deutlicher Mehrheit beschließen, dass das Klo-
nen menschlicher Embryonen – egal zu welchem Zweck –
mit der Menschenwürde unvereinbar ist.

Frau Flach, zur Ehrlichkeit der Diskussion darf ich an
dieser Stelle anfügen – Sie wissen das; denn Sie beschäf-
tigen sich mit diesem Thema –: Hier geht es nicht um ein
ähnliches Verfahren der Herstellung. Embryonen werden
– egal zu welchem Zweck, ob zu Forschungszwecken, ob
zur Reproduktion; einen therapeutischen Zweck gibt es ja
gar nicht – immer auf die gleiche Art hergestellt. Ent-
scheidend ist: Lässt man diesen Embryo leben oder tötet
man ihn?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich denke, es ist ein deutliches Zeichen, wenn jetzt

Deutschland, möglicherweise gemeinsam mit Frankreich,
diese Initiative, die andere Staaten schon gestartet haben,
mit unterstützt. Herr Loske, Sie sagten, in den Vereinigten
Staaten sei es wahrscheinlich gar nicht so, dass man es
verbieten wolle. Es gibt aber schon genügend Initiativen
im Parlament. Wenn wir uns jetzt auf die Seite der vielen
anderen Länder stellen würden, die das völlige Verbot des
Klonens menschlicher Embryonen wollen, würden wir
auch die Situation dort mit beeinflussen, schon gar, wenn
Frankreich mitmacht. Die Chancen stehen übrigens nicht
schlecht; denn in Frankreich gibt es inzwischen auch par-
lamentarische Initiativen, die das Klonen ganz strikt ver-
bieten wollen. Dagegen ist unser Embryonenschutzgesetz
noch liberal.

Meine Damen und Herren, man muss sich auch vor Au-
gen halten: Was würde eigentlich passieren, wenn man
tatsächlich nur das reproduktive Klonen verbieten


(A)



(B)



(C)



(D)


2146


(A)



(B)



(C)



(D)






würde, also nur das Klonen mit dem Ziel, dieses Kind
auch auszutragen? Das würde bedeuten, dass man das
Klonen von Embryonen zwar zulässt, dass der Forscher
sich aber nur dann gesetzestreu verhält, wenn er auf jeden
Fall diesen Embryo vor seiner Geburt tötet. Ein Tötungs-
gebot ist meiner Meinung nach mit unserer Verfassung
überhaupt nicht in Gleichklang zu bringen. Auch das muss
man an dieser Stelle sagen.

Was würde denn passieren, meine Damen und Herren,
wenn es bei tatsächlich vorhandenen Klonembryonen
– das wäre ja die Folge – bald einen internationalen
Markt gibt? Wer will kontrollieren, wer auf dem interna-
tionalen Markt geklonte Forschungsembryonen in Auf-
trag gibt? Wer will kontrollieren, wer Embryonen dann
importiert, kauft oder verkauft? Wer will überwachen, ob
mit solchen Embryonen, wenn sie erst einmal vorhanden
sind, nicht auch Schwangerschaften herbeigeführt wer-
den? Diese Kontrolle ist doch gar nicht möglich. Was
würde passieren, wenn eine Frau dann wirklich mit einem
solchen Embryo schwanger ist? Wollen Sie dann das Ver-
bot des reproduktiven Klonens durchsetzen, indem Sie die
Frau zu einer Abtreibung zwingen? Das kann doch nicht
gewollt sein.

Meine Damen und Herren, meine Redezeit ist leider
vorbei. Ich möchte Sie noch einmal aufrufen: Lassen Sie
uns heute ein deutliches Zeichen setzen. Lassen Sie uns
schnell und rechtzeitig handeln. Stimmen Sie dem inter-
fraktionellen Antrag zu

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502803100

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Wodarg,

SPD-Fraktion.


Dr. Wolfgang Wodarg (SPD):
Rede ID: ID1502803200

Herr Präsident! „Was neu ist, wird alt, und was gestern

noch galt, stimmt schon heut’ oder morgen nicht mehr“,
singt Hannes Wader. Sehr geehrte Kolleginnen, sehr ge-
ehrte Kollegen, das stimmt natürlich in besonderem Maße
für den Bereich der molekularen Biologie. Das, was die
Enquete-Kommission noch vor einem Jahr über Stamm-
zellen diskutiert hat, ist heute zum Teil schon technolo-
gisch auf dem Abstellgleis. Da gibt es neue Entwicklun-
gen.

Seit einigen Jahren wird uns vor Augen geführt, wie
durch die Technik des Klonierens genetisch weitgehend
identische Kopien von Lebewesen hergestellt werden
können. Das jetzt vorzeitig gestorbene Schaf Dolly oder
das Bild von der Pipette voller Wunschgene, die in eine
entkernte Eizelle injiziert werden, sind, genau wie die
DNS-Spirale, moderne Ikonen der Biotechnologie, mit
denen Hoffnungen und Spekulationen verbunden werden,
die oft schon fast einen religiösen Charakter anzunehmen
scheinen.

Wie schnell sich die Erkenntnisse zum Beispiel in der
Stammzellforschung ändern, haben uns Forscherteams
aus Wisconsin und Köln erst kürzlich gezeigt. Während

wir unser Gesetz zum Import von Stammzellen noch un-
ter der Prämisse verabschiedet haben, dass embryonale
Stammzellen zwar pluripotent, aber nicht totipotent sind,
zeigten sie, dass das nicht mehr stimmt. Sie stellen ganze
identische Mäuselinien oder Mäuseserien aus Stammzell-
kulturen her, die auch genetisch verändert werden kön-
nen, die auf Blastozysten wachsen und dann sogar als
weibliche und männliche Mäuse miteinander wieder neue
Mäuse zeugen können, alle mit gleicher genetischer Aus-
stattung. Hier kann man sagen: Dolly ist tot, Klonen ist
out. Denn es gibt inzwischen neue Technologien. Das
meinte Herr Winnacker vermutlich, als er von Stamm-
zellbanken sprach und in diesem Zusammenhang neue
Technologien in den Vordergrund stellte.

Was bleibt, was wir bei alledem nicht vergessen dürfen
und was Angehörigen, Pflegekräften und Ärzten in den
Wohnungen, in den Praxen, in den Heimen und in den Kli-
niken täglich vor Augen steht, sind Schweiß, Kot, Blut,
Schmerz und die Angst derer, die unsere Sorge und Hilfe
brauchen, jetzt und ganz konkret. Ihnen müssen wir hel-
fend und aufrichtig gegenübertreten. Sie sind diejenigen,
die die Qualität unserer Medizin letztlich am besten beur-
teilen können. Ihnen dürfen wir keine falschen Illusionen
über die Vergänglichkeit menschlichen Lebens, über das
zum Leben gehörende Sterben machen, auch wenn uns
die eigene Angst vor diesem Schicksal nur allzu oft dazu
verleitet.

Visionen, Wagemut und Forschung sind trotzdem not-
wendig, auch wenn dies den heute Kranken und Sterben-
den nur noch wenig nützt. Wir wollen in der neuen En-
quete-Kommission „Ethik und Recht der modernen
Medizin“ den praktischen Nutzen von Innovationen meh-
ren, wir wollen dem Gesetzgeber Instrumente und Regeln
vorschlagen, um Wirkung und Nebenwirkung genauer zu
unterscheiden und wir wollen, dass Irrwege und Risiken
in der Forschung und Entwicklung minimiert werden und
die bedarfsgerechte Nutzung des medizinischen Fort-
schritts erleichtert wird.

Welche konkreten Aufgaben stehen uns ins Haus? Es
gilt, zum Beispiel folgende Frage zu beantworten. Dürfen
an nicht einwilligungsfähigen Menschen Forschungen
oder klinische Erprobungen durchgeführt werden, auch
wenn diese selbst davon keinen direkten Nutzen haben?
Wie gehen wir mit jenen um, die uns Ergebnisse von Stu-
dien präsentieren, die im Ausland unter bei uns verbote-
nen Bedingungen durchgeführt wurden? Welcher interna-
tionale Regelungsbedarf ist erforderlich, damit wir in
Deutschland, wenn wir die Lücken der Bioethik-Konven-
tion geschlossen haben, gemeinsame Richtlinien und
Grenzen für die Forschung in Europa oder Forschungs-
felder – wenn man es positiv ausdrückt – definieren kön-
nen?

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es gibt ein weiteres
Thema, das drängt. Die Kinderärzte sagen uns, sie brauch-
ten mehr Erfahrungen mit den Medikamenten, die bei
Kindern angewendet werden. In diesem Bereich müssen,
und zwar durch klinischen Studien, Erfahrungen gesam-
melt werden. Kinder können dem, was mit ihnen gemacht
werden soll, nicht zustimmen. Deswegen müssen wir Re-
geln entwickeln, mit denen Erfahrungen gesammelt wer-
den können, damit wirksame Medikamente für Kinder

Hubert Hüppe




Dr. Wolfgang Wodarg
hergestellt werden können, die nicht über- oder unterdo-
siert sind, sondern die ihnen wirklich effizient helfen.

Wir haben weitere wichtige Themen in den Antrag auf-
genommen. Eines dieser Themen, das noch etwas fremd
anmutet, ist die Nanobiotechnologie. Die Nanobiotechno-
logie verwischt in einer bisher unbekannten Weise die
Grenzen zwischen Physik und Biologie, zwischen Tech-
nik und Natur sowie zwischen Maschine und menschli-
chem Körper. So waren kürzlich beispielsweise Berichte
über ein US-amerikanisches Forschungsprojekt zu lesen,
in dem es darum geht, die Funktionsweise von Nerven-
zellen durch Nanochips zu simulieren. Diese Chips könn-
ten, so die Überlegung, später ins Gehirn implantiert wer-
den, um ausgefallene Hirnzellen, zum Beispiel bei einer
Alzheimererkrankung etwa in der Region des Gedächt-
nisses, zu ersetzen. Man könnte so, wenn man das weiter-
spinnt, sozusagen eine externe Festplatte entwickeln, die
an das Gehirn angedockt werden kann.

Ich denke, dieses Beispiel zeigt jedem deutlich, wie
viel versprechend die medizinischen Perspektiven dieser
neuen Technologie einerseits sind, wie andererseits aber
ganz neue ethische Fragen auftauchen, wenn wir in die
Lage kommen, mit Maschinen und Schaltkreisen auf der
Nanoebene in die Strukturen und Prozesse des menschli-
chen Lebens einzugreifen.


(Beifall des Abg. René Röspel [SPD] und der Abg. Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Nanotechnologie ist daher, wie ich denke, ein sehr
gutes Beispiel dafür, wie die neue Enquete-Kommission
ihre Verantwortung wahrnehmen könnte, nämlich ethisch
relevante Themen vorausschauend anstatt reaktiv zu
durchdenken.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen dabei versuchen, dass wir die anstehenden
Themen nicht doppelt behandeln. Wir müssen uns mit
dem Nationalen Ethikrat und mit anderen Gremien, die
sich über Ethik und Recht in der Medizin Gedanken ma-
chen, abstimmen und können so Synergieeffekte errei-
chen. Das Thema Biobanken ist ein Thema, dessen sich
bereits der Nationale Ethikrat angenommen hat, das wir
aber auch in der Enquete-Kommission behandeln müs-
sen; denn es gibt eine Richtlinie aus Brüssel, die versucht,
Maßstäbe für die Gewinnung, Lagerung, Behandlung und
Verteilung von Zellen, von menschlichen Geweben zu
entwickeln, die wir ins nationale Recht umsetzen müssen.
Hier gilt es ganz konkret etwas zu tun. Genauso müssen
wir in Deutschland die Umsetzung der Richtlinie zur
Good Clinical Practice in nationales Recht vorbereiten.
Hierbei geht es um Nichteinwilligungsfähige und um die
Bedingungen, unter denen klinische Versuche mit ihnen
durchgeführt werden dürfen.

Die neue Enquete-Kommission stellt auch im Namen
die Ethik vor das Recht und lädt die Öffentlichkeit in
Deutschland und auch unsere Nachbarn zur Diskussion
über diese Themen ein. Es gibt ethisch und rechtlich sehr
unterschiedliche Regelungen in Europa. Was darf die
Forschung mit Embryonen tun? Was ist am Lebensanfang

insgesamt erlaubt? Was darf man am Lebensende? Was
soll verboten bleiben? Hier gibt es einen Streit und einen
Wettbewerb in der Diskussion in Europa.

Man schaut mit großen Erwartungen auf Deutschland.
In Deutschland hat es in der vergangenen Legislaturpe-
riode einen sehr fruchtbaren Streit über diese Themen ge-
geben. Wir haben gezeigt, dass es gut ist, wenn sich die
Bundesregierung einerseits und das Parlament anderer-
seits für diese Debatte wappnen. Wir haben gesehen, dass
das Interesse der Öffentlichkeit gerade dann steigt, wenn
nicht nur ein einziges Spezialistengremium arbeitet, son-
dern wenn es auch zu Spannungen und unterschiedlichen
Meinungen kommt. Das ist nichts Schlechtes.

Ich muss meinem Kollegen Hüppe widersprechen. Ich
finde es gut, dass der Kanzler den Nationalen Ethikrat
hat und dass das Parlament die Ethik-Enquete-Kommis-
sion hat. Wir in Deutschland werden uns streiten. Das tun
wir fair und nach demokratischen Regeln. Dabei sollen
Kompromisse herauskommen, hinter denen wir alle ste-
hen können und die für die Menschen in unserem Lande
gut sind.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1502803300

Ich erteile der Kollegin Barbara Lanzinger, CDU/

CSU-Fraktion, das Wort.


Barbara Lanzinger (CSU):
Rede ID: ID1502803400

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Ich bedanke mich bei den Abgeordneten
der Fraktionen – für meine Fraktion nenne ich stellvertre-
tend Frau Dr. Böhmer –, die die beiden Anträge „Einset-
zung der Enquete-Kommission ‚Ethik und Recht der
modernen Medizin‘“ und „Neue Initiative für ein interna-
tionales Verbot des Klonens menschlicher Embryonen
starten“ ganz entscheidend mit auf den Weg gebracht ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir befinden uns in einem ungeheuren Spannungs-

und Konfliktverhältnis: einerseits eine immens rasante
und immer schnellere Machbarkeits- und Selektions-
medizin und andererseits klare ethische Wertvorstellun-
gen, die auf einem christlichen Menschenbild, dem Men-
schenbild der christlich-europäischen Wertetradition,
basieren. Die Forschung an embryonalen Stammzellen,
die Präimplantationsdiagnostik, die Pränataldiagnostik,
Abtreibungen, Spätabtreibungen, Euthanasie und Sterbe-
hilfe berühren die elementaren Grundwerte unserer Ge-
sellschaft. Sie berühren aber auch die Fragen nach dem
Inhalt und der Reichweite elementarer Verfassungsprinzi-
pien wie die Menschenwürde, den Lebensschutz oder die
Wissenschaftsfreiheit.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in vielen Begeg-

nungen, Begleitungen und Gesprächen mit schwerstkran-


(A)



(B)



(C)



(D)


2148


(A)



(B)



(C)



(D)






ken und sterbenden Menschen wird uns in der Hospiz-
bewegung Tätigen immer wieder sehr bewusst und deut-
lich vor Augen geführt, was es heißt zu leben und wie
wichtig es ist, gerade am Lebensende über sein Leben, sei-
nen Wert, seine unendlichen Zufälligkeiten, das Warum
und Wieso und darüber, was es bedeutet, noch oder trotz-
dem da zu sein, nachzudenken.

Ich sehe es als eine der zentralen politischen und ge-
samtgesellschaftlichen Aufgaben an, Werteorientierung
zu schaffen und zu leben: vom Beginn des Lebens an, für
die Art des Individuums und für das Lebensende. Nicht
nur als Landesvorsitzende des Bayerischen Hospiz-Ver-
bandes ist es mir ungeheuer wichtig, im Namen der
schwerstkranken und sterbenden Menschen für ein men-
schenwürdiges Leben bis zuletzt einzutreten und dazu
klare Vorstellungen in die heute zu beschließende En-
quete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Me-
dizin“ einzubringen.

Gerade in einer Zeit von Kostendruck und Wirtschaft-
lichkeit besteht die Gefahr, dass die Menschlichkeit und
die Zeit im Umgang mit schwerstkranken, hilfsbedürf-
tigen, alten, behinderten und sterbenden Menschen auf
der Strecke bleibt. Ich denke, wir alle gemeinsam tragen
die Sorge und das Bemühen, der Gefahr vorzubeugen, Ge-
danken an bezahlbar oder nicht bezahlbar, wert oder un-
wert gar nicht erst aufkommen zu lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich meine schon, dass es in der heutigen Debatte er-
laubt sein muss, laut zu formulieren, dass nicht alles, was
auch wissenschaftlich mach- und planbar ist, alles, was
erstrebenswert erscheint und ist, in der Konsequenz auf
Dauer richtig ist. Nicht alles Mögliche darf machbar sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich meine auch, dass wir für heute und für die Zukunft
klar Stellung beziehen müssen, was Menschsein letztend-
lich für uns bedeutet, was wir selbst wert sind, was wir uns
wert sind, was der Mensch überhaupt und uns noch wert
ist. Was sind wir für Menschen in einer Gesellschaft, de-
ren aktuelle Trends sind: perfekt, maßgeschneidert, frei
von Belastungen, be- und verurteilt nach Nützlichkeit
und Leistungsfähigkeit, nach die Gesellschaft und die
Allgemeinheit belastenden Erkrankungen?

Auch in der Politik müssen wir den Mut haben, unsere
Angst zu formulieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nicht die Angst davor, welche Perspektiven, welche Vor-
und Nachteile die medizinische Forschung eröffnet, son-
dern die Angst davor, ob wir es uns zutrauen, politisch und
rechtlich all das abzusichern und in den Griff zu bekom-
men, was unwägbar ist und deshalb Angst macht. Ich
möchte klar und deutlich formulieren und dafür einstehen,
was wir am Ende für uns und die nachfolgenden Genera-
tionen wollen.

Ich halte es für enorm wichtig, wie Kant im Imperativ
zu sprechen: Achte die Menschheit in jedem Menschen!
Es darf kein „lebenswert“ oder „lebensunwert“ geben.
Der Wunsch nach einem Kind darf nicht das Kind nach
Wunsch und Maß sein. Wie soll sich ein Mensch ange-
nommen fühlen, wenn er von Anfang an weiß, dass er für
bestimmte Wünsche instrumentalisiert wurde oder dass er
nicht existieren würde, wenn er die „Endauswahl“ nicht
überstanden hätte?

Ich habe in meiner Beratungstätigkeit viele Frauen und
Familien erlebt, die die Möglichkeiten der modernen Me-
dizin oftmals verwünschten, nämlich dann, wenn die
Diagnose stand: Ihr ungeborenes Kind ist behindert. Die
Entscheidung, ein behindertes Kind zu wollen oder nicht,
müssen die Frauen letztendlich alleine treffen. Der psy-
chosoziale Druck, die tiefen Emotionen und Gedanken
müssen größtenteils ebenso wie die daraus vielfach ent-
stehenden Beziehungskonflikte alleine getragen werden.
Eine Pflichtberatung nicht nur bei der Pränataldiagnostik
wäre hier dringend anzudenken, wenn nicht sogar zu for-
dern.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg [SPD])


Ich sehe es als wichtige Aufgabe der Enquete-Kom-
mission an, sich unter dem Gebot der Achtung der unter-
schiedlichen Persönlichkeiten, der Meinungen, Fragen,
Argumente, Erfahrungen und Standpunkte die Zeit zum
Zuhören und zum Austausch zu nehmen. Wir haben mit
dem Embryonenschutzgesetz, mit einer fraktions- und
parteiübergreifenden Bereitschaft im Bundestag für ein
internationales Verbot des reproduktiven und therapeu-
tischen Klonens menschlicher Embryonen einzutreten,
eine gute und wichtige Basis für unsere Entscheidungs-
findungen.

Es ist dringend erforderlich, auf diesen Grundlagen in
einen breiten öffentlichen und gesellschaftlichen Dialog
zu den vielen noch offenen und neuen Fragestellungen
zum Beispiel zu Biobanken, Gentests, zur Gentechnik bei
Menschen und Pflanzen, zur Sterbebegleitung und Pallia-
tivmedizin, zu Tod und Sterben, einzutreten und, wenn
möglich, auch bei aller Unterschiedlichkeit einen Kon-
sens und gemeinsame Antworten zu finden.

Ich möchte mit dem Gedicht einer behinderten Frau
schließen, die sich in der politischen und gesellschaft-
lichen Diskussion zu Ethik und Biomedizin mit allen da-
mit zusammenhängenden Themen als betroffen bezeich-
net.

Lebenswert
„im“ Fernsehen, wieder Diskussion,
ob ich es wert wäre zu leben.
Eugenik, Vorgeburtliche Diagnostik, Euthanasie.
Und ich denke mir, mit 15 wäre ich gestorben ohne
den medizinischen Fortschritt.
Vor 60 Jahren wäre ich vergast worden aufgrund
des ideologischen Fortschritts.
In ein paar Jahren würde ich wegen beidem nicht
geboren werden.
Wie soll ich leben mit dieser Vergangenheit in
Zukunft?

Barbara Lanzinger




Barbara Lanzinger

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502803500

Ich erteile Frau Dr. Reimann, SPD-Fraktion, das Wort.


Dr. Carola Reimann (SPD):
Rede ID: ID1502803600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte Sie bitten, den Antrag zur Einsetzung der En-
quete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Me-
dizin“ zu unterstützen. Viele der neuen Erkenntnisse in
der modernen Medizin können einen erheblichen Einfluss
auch auf die Lebenswirklichkeit jedes Einzelnen entfal-
ten. Damit ist auch die Politik gefordert. Wir als Parla-
mentarierinnen und Parlamentarier im Bundestag müssen
uns damit auseinander setzen, um das, was wir wollen,
können oder dürfen, gegebenenfalls neu zu justieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU])


Häufig wird der Politik vorgeworfen, der dynamischen
Entwicklung hinterher zu hinken. Die Enquete-Kommis-
sion eröffnet die Chance, die Entwicklung auf Augenhöhe
zu verfolgen und zu begleiten. Deshalb kann der Bundes-
tag als das gesetzgebende Organ unseres Landes nicht da-
rauf verzichten, ein solches Expertengremium einzuset-
zen. Denn hier werden die Entscheidungen fallen. Das
haben auch schon viele meiner Vorrednerinnen und Vor-
redner betont. Die Enquete-Kommission soll rechtliche,
ethische, soziale und politische Aspekte der Entwicklung
bewerten und Handlungsvorschläge für uns, den Gesetz-
geber, erarbeiten.

Das Feld, auf dem diese Diskussion innerhalb der En-
quete-Kommission stattfinden wird, ist durch das Grund-
gesetz bereitet. In Amerika gibt es das so genannte Pursuit
of Happiness, das Recht eines jeden Menschen auf ein
glückliches und erfülltes Leben. In unserer Verfassung ist
ein solches Recht nicht direkt als staatliche Garantie ver-
ankert. Dennoch enthält unser Grundgesetz eine Reihe
von Regelungen, die allen Bürgerinnen und Bürgern un-
seres Landes die gleichen Chancen zur Führung eines
glücklichen Lebens garantieren sollen. Ich meine damit
die allgemeinen Menschenrechte und die Schutzrechte,
die die Bürgerinnen und Bürger vor gesellschaftlichen
Fehlentwicklungen bewahren sollen mit dem Ziel, dass
jeder und jede die gleichen Möglichkeiten erhält, seine
bzw. ihre Lebenschancen zu realisieren.

Für unsere Diskussion leitet sich daraus zum einen die
Pflicht ab, uns schützend vor den Menschen zu stellen,
wenn ihm die Gefahr droht, zu einem rein ökonomischen
oder materiellen Faktor reduziert zu werden. Lebens-
chancen dürfen überdies nicht von vermeintlichen Leit-
bildern biologischer Superiorität abhängig sein. Wir sind
auf der Basis unseres Grundgesetzes verpflichtet, die
Menschenwürde des Individuums gegen den optimierten
Menschen zu verteidigen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Helmut Heiderich [CDU/CSU])


Zum anderen beschränkt sich die grundgesetzliche For-
derung von Chancengleichheit aber nicht auf die Abwehr
von Fehlentwicklungen. Wir sind darüber hinaus auch ge-
halten, aktiv an der Schaffung von gleichen Vo-
raussetzungen und gleichen Chancen für alle mitzuwirken.

Was hat moderne Medizin nun mit Chancengleichheit
zu tun? Noch immer ringen wir mit einer Vielzahl von
Krankheiten, die die Betroffenen aus der Mitte des Lebens
reißen und für die es bislang kein anderes Rezept gibt, als
sie als Schicksal zu akzeptieren. Das Risiko unheilbarer
Krankheiten – ich will keine nennen, um keine auszu-
grenzen – ist nur in wenigen Fällen wirklich beeinfluss-
bar. Es kann jeden und jede treffen, weil der blinde Zufall
das einzige Prinzip ist.

Meine Damen und Herren, es ist ein Menschheits-
traum, die Macht solcher Schicksalsschläge zu mindern
oder gar gänzlich aus der Welt zu schaffen. Es gibt wohl
keine größere Ungerechtigkeit als die Unausweichlich-
keit einer Erkrankung, die jeden ohne eigenes Ver-
schulden treffen kann. Wir werden immer mit Krank-
heiten leben müssen. Aber dort, wo sich aus der
medizinischen Forschung Optionen zur Behandlung von
Krankheiten ergeben, sind wir verpflichtet, das Mögliche
zu tun, um den Erkrankten die gleichen Chancen zu eröff-
nen, die für die Gesunden selbstverständlich sind.


(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Heilungschancen sind Lebenschancen, die wir den Be-
troffenen nicht ohne weiteres verweigern dürfen. Dazu
verpflichtet uns auch der Gedanke der Chancengleichheit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind die Koor-
dinaten sichtbar, innerhalb deren wir die Diskussion in der
Enquete-Kommission zu führen haben. Wir begeben uns
in ein Spannungsfeld, in dem sich die Teilziele unserer
Verfassung nicht selten in Widerspruch zueinander befin-
den. Hier werden wir sicherlich schwierige Debatten zu
führen haben, denn einfache Antworten gibt es auf die
komplexen Fragen der Biopolitik nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Helmut Heiderich [CDU/CSU])


Eine intensive Auseinandersetzung, die von Akzeptanz
und Respekt aller Standpunkte getragen sein muss, ist not-
wendig, um in Bezug auf eine Fortentwicklung biomedi-
zinischer Forschung unsere Koordinaten zu bestimmen
und diese Diskussion in die breite Öffentlichkeit zu tragen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dafür ist die Enquete-Kommission meiner Ansicht nach
das geeignete Instrument; deshalb bitte ich Sie, ihrer Ein-
setzung zuzustimmen.

Des Weiteren bitte ich Sie, dem interfraktionellen An-
trag „Neue Initiative für ein internationales Verbot des


(A)



(B)



(C)



(D)


2150


(A)



(B)



(C)



(D)






Klonens menschlicher Embryonen starten“ zuzustimmen.
Niemand will das Klonen von Menschen, ich auch nicht.
Deshalb habe ich von Anfang an an diesem interfraktio-
nellen Antrag mitgearbeitet.

Das Entsetzen und das Unverständnis über die Ankün-
digung der Geburten angeblicher Klonkinder, die in der
letzten Woche wieder die Runde machte, ziehen sich
durch alle gesellschaftlichen Gruppen und alle Fraktio-
nen in diesem Haus. Ich begrüße es deshalb, dass wir
diese gemeinsame Ablehnung durch einen gemeinsa-
men interfraktionellen Antrag betonen und die Bundes-
regierung unterstützen, sich auf der Grundlage unserer
nationalen Gesetzgebung bei den internationalen Ver-
handlungen für ein möglichst umfassendes Klonverbot
einzusetzen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502803700

Nächste Rednerin in der Aussprache ist die Kollegin

Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion.


Katherina Reiche (CDU):
Rede ID: ID1502803800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ent-

wicklung der biomedizinischen Forschung vollzieht sich
sehr rasant. Die Fortschritte in der Intensiv- und Trans-
plantationsmedizin, in der Humangenetik und in der
Embryologie brachten die Medizin immer näher an die
Grenzen der Ethik und der Menschenrechte heran oder
überschritten sie gar. Gerade hatten wir das Klonschaf
Dolly verdaut, entschlüsselte Craig Venter das humane
Genom. Im letzten Jahr wollten verbrecherische Scharla-
tane gar ein Kind geklont haben.

Gleichwohl leisten Forschung und Technologie einen
bedeutenden Beitrag zur Bewältigung der gesellschaft-
lichen, ökonomischen und ökologischen Herausforderun-
gen im 21. Jahrhundert. Sie bieten die Chance, zur Lösung
zahlreicher globaler Probleme im Zusammenhang mit
Gesundheit, Alter, Ernährung, Bevölkerungswachstum,
Welternährung, Umwelt und nachhaltiger Entwicklung
beizutragen. Die Reichweite des wissenschaftlich-techni-
schen Fortschrittes wirft jedoch dort, wo neue Optionen
des Eingriffs in Mensch und Natur geschaffen werden,
Fragen an die Verantwortung der Wissenschaft und der
Gesellschaft auf. Es geht um unsere Verantwortung für die
eine Umwelt ebenso wie für den Schutz der Würde des
Menschen und die Wahrung der Grundrechte und Grund-
freiheiten, die im Grundgesetz und in der Konvention des
Europarates verankert sind.

Die Enquete-Kommission der vergangenen Legislatur-
periode hat mit ihrer Arbeit zu einer breiten öffentlichen
Debatte über die Chancen und Risiken der Gentechnik
in der Gesellschaft beigetragen. Sie hat zudem verdeut-
licht, dass solche wichtigen Entscheidungen in den Deut-
schen Bundestag und nicht in außerparlamentarische
Kommissionen, Räte oder Runden gehören. Die neue

Enquete-Kommission wird sich ebenfalls mit den Fragen
des Rechts und der Ethik der modernen Medizin befassen.

Von rund 30 000 Krankheitsbildern können wir unge-
fähr 10 000 mehr oder weniger gut behandeln. Die Ge-
nomforschung und die Molekularbiologie werden die
Medizin revolutionieren. Trotzdem wird es immer ein Le-
ben mit Krankheiten geben. Technologieentwicklung und
-anwendung auch im Bereich der Medizin sind konkrete
menschliche Handlungen. Sie sind in unser historisches,
kulturelles und rechtliches Umfeld eingebettet, das wir
gestalten. Technik kommt also nicht von außen über uns;
sie ist deshalb nicht als solche gut oder schlecht.

Auch die Annahme, Wissenschaft und Technik seien
voneinander zu trennen, man solle sich mit dem reinen
Verstehen begnügen, das gewonnene Wissen jedoch nicht
anwenden, führt in die Irre.


(Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD])

Eine Gesellschaft, die das Wissen über komplexe Vor-
gänge unseres Lebens als Problem und nicht als Chance
für die Zukunft begreift, geht in eine Sackgasse.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


DieBiotechnologie ist für die erste Hälfte des 21. Jahr-
hunderts wohl das, was der Computer für die letzte Häl-
fte des 20. Jahrhunderts war. Die Folgen sind ungeheuer,
ihr potenzieller Nutzen ist riesig. Es gibt Zweifler, die sa-
gen, Aspekte dieser wissenschaftlichen Forschung seien
grundsätzlich unerwünscht, und es gibt Apologeten der
Machbarkeit um jeden Preis. Ich sage Ihnen: Lassen wir
unsere Wissenschaft doch erst einmal Fakten herausfin-
den und urteilen wir danach. Unsere verantwortlich han-
delnden Wissenschaftler haben es verdient, dass wir ihnen
und ihrer Arbeit das nötige Vertrauen entgegenbringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die Menschen wissen, dass ihr Leben immer umfas-
sender von Wissenschaft und Technik abhängt. Sie wissen
aber auch: Die moderne Wissenschaft und die moderne
Technik haben sich in einem ungeheuren Ausmaß als dem
Leben dienlich, lebenserhaltend und lebenserleichternd
erwiesen.

Wissenschaftliche Erkenntnis und Ethik gehören zu-
sammen. Sie bestimmen gemeinsam den Fortschritt der
Menschheit. Die wissenschaftliche Innovation ist der Mo-
tor und die Ethik der Fahrer. So haben die gentechnische
Revolution und neue Wege in der medizinischen Grund-
lagenforschung die Frage nach der Würde des Menschen
sowie nach dem Verhältnis zwischen elementaren Men-
schenrechten und der Freiheit von Wissenschaft und For-
schung in den Mittelpunkt der öffentliche Debatte ge-
rückt.

Viele wissenschaftliche und ethische Fragen der Bio-
medizin konnten in der Enquete-Kommission der vergan-
genen Wahlperiode nicht angesprochen werden, wie zum
Beispiel Gene Farming, Nanobiotechnologie, Pharmako-
genomik, Nahrungsmittel, Nahrungsmittelsicherung. Aber
auch Fragen im Zusammenhang mit dem Ende des
menschlichen Lebens wurden nicht untersucht. Es geht

Dr. Carola Reimann




Katherina Reiche
um den Umgang unserer Gesellschaft mit neuen Erkennt-
nissen und Möglichkeiten, aber auch um die Frage, wie
sie mit ihren grundlegenden Werten umgehen will. Diese
Entwicklungen haben erst begonnen, unser Leben zu be-
einflussen, und stellen künftig in noch höherem Maße
eine Herausforderung an die Gesellschaft dar.

Dies alles geschieht in einem internationalen Rah-
men. Wer internationale Vereinbarungen daran misst, ob
sie die eigenen sittlichen Überzeugungen hinlänglich zum
Ausdruck bringen, verwechselt Recht und Ethik. Wer völ-
kerrechtliche Vereinbarungen über Mindestnormen als
Bedrohung nationaler Rechtsregeln betrachtet, verkennt
den Sinn dieses Rechts und traut zudem dem Rechtsbe-
wusstsein im eigenen Land wenig zu.


(Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD])

Immer dort, wo unterschiedliche Traditionen in Recht

und Ethik berücksichtigt werden müssen, sind Verein-
barungen ganz besonders schwierig zu erreichen. Die
Durchsetzung eigener Maximalforderungen gelingt leider
selten, während Kompromisse der Normalfall sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir sind aufgefordert, verbindliche und unseren ethi-
schen Überzeugungen entsprechende rechtliche Standards
zu entwickeln, die zugleich eine Weiterentwicklung, eine
praktische Anwendung der wissenschaftlichen Erkennt-
nisse zugunsten von Mensch, Natur und Umwelt ermög-
lichen. Die Forscher wiederum sind aufgefordert, an der
Erarbeitung dieser Standards mitzuwirken. Es geht um
unsere gemeinsame Verantwortung gegenüber der Würde
des Menschen, gegenüber der natürlichen Umwelt und
ebenso gegenüber dem hohen Gut der unabdingbaren
Freiheit von Wissenschaft und Forschung. In Bezug auf
die ethischen Prinzipien und Werte, die für einzelne bio-
medizinische Felder relevant sind, muss ein angemesse-
ner Ausgleich angestrebt werden. Eine Verengung auf ein
einziges Prinzip ist wenig hilfreich. Es ist die Pflicht von
Staat und Wissenschaft, die Forschung für Prävention,
Diagnostik und Therapie zu unterstützen. Die moralische
Verpflichtung zu gesundheitsbezogener Forschung
muss stärker als in der Vergangenheit Eingang in den Dis-
kurs finden. In diesem Sinne wünsche ich mir die Arbeit
der Enquete-Kommission.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502803900

Das Wort hat nun die Kollegin Kühn-Mengel, SPD-

Fraktion.


Helga Kühn-Mengel (SPD):
Rede ID: ID1502804000

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kollegin-

nen! Es ist vornehmste und originäre Aufgabe einer
Enquete-Kommission, Raum zu geben für die ethischen,
rechtlichen, wissenschaftlichen, ökonomischen und For-
schungsfragen, die mit dem Tempo fortschreitender Ent-
wicklungen in Biologie und Medizin zusammenhängen
und die auch das im Grundgesetz verankerte Konzept der

Menschenwürde berühren. Diesen Diskussionen Raum zu
schaffen, daraus auch gesetzgeberische Initiativen zu ent-
wickeln, das ist Aufgabe der Enquete-Kommission, die
jetzt fortgeführt werden soll, was wir alle begrüßen.

Zwischen Ablehnung und Akzeptanz, zwischen Furcht
vor dem Machbaren und Hoffnung auf therapeutische
Möglichkeiten entsteht das gesellschaftliche Konflikt-
potenzial, über das hier diskutiert werden muss. Dem Wis-
senschaftler unterstellen wir eine wichtiges Forschungs-
ziel, wenn er Stammzellen verwendet, um Therapien
gegen Diabetes zu entwickeln. Wenn aber Geschwister-
kinder als lebende Organspender geplant werden, sehen
wir, wo die Grenzen der Möglichkeiten – sie bringen viele
ethische Fragen mit sich – entstehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Wir Abgeordnete sind in der Pflicht, dem Deutschen
Bundestag ein Instrument in die Hand zu geben, mit dem
dem Parlament die Ergebnisse einer breit geführten Dis-
kussion zur Verfügung gestellt werden. Die letzte Kom-
mission hat genau diesen Diskurs in – so meine ich – vor-
bildlicher Weise initiiert, sie hat das Spannungsfeld
zwischen Ethik und moderner Medizintechnologie aufge-
griffen, widergespiegelt und eine vertiefende Diskussion
geleistet. Sie hat alle betroffenen Gruppen, Institutionen
und Verbände, viele Wissenschaftler und Wissenschaftle-
rinnen berücksichtigt und damit unter Beweis gestellt,
dass man diese schwierigen Fragen aufbereiten und in die
parlamentarische Diskussion einbringen kann.

Die Kommission war dabei sehr erfolgreich. Ich erin-
nere an wichtige Themen, die aufgegriffen wurden und in
gesetzgeberische Initiativen mündeten. Ich erinnere an
die Europäische Grundrechte-Charta – das Europä-
ische Jahr der Menschen mit Behinderung ist angespro-
chen worden –; die Enquete-Kommission hat dafür ge-
sorgt, dass der Artikel gegen die Diskriminierung
verankert wurde. Er bezieht sich nicht nur auf die Diskri-
minierung wegen des Geschlechts oder der Zugehörigkeit
zu einer ethnischen Gruppe, sondern das Diskriminie-
rungsverbot bezieht sich auch auf die genetische Ausstat-
tung. Diese ganz wichtige Ergänzung wurde zu Beginn
der Arbeit der letzten Enquete-Kommission geleistet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir haben zum Stammzellenimport, zur Biopatent-

richtlinie, zur Präimplantationsdiagnostik, zur Stammzel-
lenforschung und zu den genetischen Daten wichtige Dis-
kussionen geführt. Dank der engagierten Debatte mit
Sachverständigen und Verbänden haben wir die Gesetz-
gebungsverfahren begleitet. Die Arbeit der Kommission
hat entscheidend dazu beigetragen, für einen zugespitzten
bioethischen Konflikt in kürzester Zeit eine weithin ak-
zeptierte Kompromisslösung zu finden. Denken Sie an den
Bereich der Forschung mit embryonalen Stammzellen.

Bei all dem haben wir größten Wert darauf gelegt, dass
Transparenz und Beteiligung der Öffentlichkeit gewähr-
leistet waren. Nur selten hat eine Kommission so viel Be-
achtung in der Bevölkerung und den gesellschaftlichen
Gruppen gefunden; das war gewollt und muss auch dieses


(A)



(B)



(C)



(D)


2152


(A)



(B)



(C)



(D)






Mal Ziel sein. Ich möchte nur an die große Veranstaltung
in Bethel erinnern, bei der wir mit den Betroffenen und
ihren Familien und mit den Verbänden über unsere Arbeit
diskutiert haben.

Auch die Themen, die jetzt noch zu behandeln sind,
sind hoch brisant. Darauf haben wir auch im Abschluss-
bericht hingewiesen. Sie reichen von Gentests über Ein-
griffe in das menschliche Erbgut, reproduktives und
therapeutisches Klonen, Forschung an nicht einwilli-
gungsfähigen Menschen bis hin zur Übertragung tieri-
scher Organe auf Menschen und den damit verbundenen
ethischen Fragen. Dazu gehört auch all das, was sich zu
Beginn und am Ende des Lebens abspielt, auch das ist
schon einige Male angesprochen worden. Bitte vergessen
Sie auch nicht die Auswirkungen auf die gesellschaft-
lichen Gruppen, so sind beispielsweise die frauenpoliti-
schen Aspekte bei vielen Diskussionen zu kurz gekommen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Pluralität der Weltanschauungen in unserer Gesell-

schaft bringt Wertevielfalt, aber auch Werteunsicherheit
mit sich. Ich glaube, dass die Enquete-Kommission dazu
beitragen kann, eine geordnete und gleichzeitig breite
Diskussion zu führen und gute Grundlagen für gesetzliche
Regelungen zu schaffen. Insofern wünsche ich der neuen
Enquete-Kommission, die jetzt „Ethik und Recht“ statt
„Recht und Ethik“ heißt, für ihre Arbeit guten Erfolg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502804100

Ich erteile das Wort dem Kollegen Helmut Heiderich,

CDU/CSU-Fraktion.


Helmut Heiderich (CDU):
Rede ID: ID1502804200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

einem Bereich herrscht international – ich denke, auch un-
ter uns – nahezu Einmütigkeit: Das Klonen zur Erzeugung
menschlicher Duplikate wird fast unisono abgelehnt.
Selbst die Chinesen, denen häufig eher ein lockerer Um-
gang mit bioethischen Fragen nachgesagt wird, haben
letzte Woche öffentlich und entrüstet die Meldung zurück-
gewiesen, in China sei möglicherweise ein geklontes
Menschenkind geboren worden.

Anders ist die Situation bei dem, was man hierzulande
üblicherweise „therapeutisches Klonen“ nennt, ein, wie
ich meine, völlig irreführender Begriff.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Deswegen setze ich mich sehr dafür ein, dass diese Form
des Klonens anders, nämlich so genannt wird, wie sie
tatsächlich ist: „destruktives Klonen“. Wir sollten begin-
nen, diese Begriffe gegeneinander auszutauschen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Ich habe oft den Eindruck, dass in der Debatte über die-
sen Punkt doch manches durcheinander geht. Deswegen

möchte ich mich ausschließlich mit dieser Frage ausei-
nander setzen.

Warum haben wir uns nach unserem Besuch mit einer
kleinen Gruppe beim deutschen UN-Botschafter für ein
Verbot dieser Technologie so stark gemacht? Gibt es doch
noch immer die Argumentation, dieser sei ein Weg zur
Heilung chronischer oder degenerativer Krankheiten und
deswegen dürfe man diesen Weg nicht verbauen.


(Ulrike Flach [FDP]: Das ist doch noch unklar, Herr Heiderich!)


Welches sind die Versprechungen, die immer wieder
vorgetragen werden, Frau Flach? Ich möchte sie einmal
auflisten: Erstens. Man hofft, durch Übertragung eines er-
wachsenen Zellkerns in eine menschliche Eizelle Zellma-
terial zu gewinnen, das keine Immunabwehr auslöst,
wenn es in den Körper des Patienten rückübertragen wird.
Dieser Effekt erscheint zwar theoretisch möglich, ist aber
bisher völlig unbewiesen.


(Ulrike Flach [FDP]: Das sagen Sie!)

Überhaupt beinhalten alle Argumente, die von den Befür-
wortern dieser Technologie angeführt werden, mehr Hoff-
nung als Heilung. Sie sind mehr Science-Fiction als
Science. Bei den Versuchen, die bisher unternommen
worden sind – es gibt ja einige Hinweise –, hat sich eher
gezeigt, dass es doch zu einer Immunreaktion kommt, of-
fenbar weil die verbliebene mitochondriale DNA der Ei-
zelle nicht ohne Auswirkung auf den Klon bleibt.

Zweitens. Die nächste Hoffnung, die verbreitet wird,
besteht darin, schwere genetische Erkrankungen durch
Klonen von Zellkernen sozusagen in der Petrischale ab-
bilden, den Patienten also auf seinen Klon reduzieren zu
können. Am geklonten Zellmaterial sollen dann die mu-
tierten Gene aufgespürt und soll die krankheitsverursa-
chende Expression herausgefunden werden. An diesen
Invitro-Modellen menschlicher Krankheiten könne man
die molekularen Zellmechanismen unabhängig vom Pati-
enten erforschen. Hätte man sozusagen die Modelle ein-
zelner Patienten, könnte man daran auch weitergehende
pharmazeutische und chemische Behandlungsmethoden
testen, ohne den Kranken selbst belasten zu müssen. So
weit die Versprechungen.

Wie aber sind die Fakten? Mitte vergangenen Jahres
hat die Firma ACT in Wisconsin einen solchen Klonver-
such unternommen. Von 19 Eizellen mit ausgetauschtem
Zellkern ließen sich 16 nicht zum Leben erwecken. Die
drei verbliebenen stellten im Sechszellstadium jede wei-
tere Entwicklung ein. Andere Spitzenwissenschaftler ha-
ben uns berichtet, dass nach ihren Forschungen prinzi-
pielle biologische Barrieren bestünden – man muss wohl
sagen: glücklicherweise –, die solche Klonvorgänge viel-
leicht dauerhaft verhinderten.

Nehmen wir aber einmal an, dass es wirklich gelänge,
solches Klonen möglich zu machen. Was würde das be-
deuten? Man bräuchte – darauf ist schon vorhin hinge-
wiesen worden – Tausende menschlicher Eizellen, um die
Behandlung eines einzigen Menschen zu ermöglichen.
Das heißt doch, in den Petrischalen der Labors müsste
tausendfach junges Leben heranwachsen, um dann zer-
stört und zu medizinischem Rohstoff für einen einzigen

Helga Kühn-Mengel




Helmut Heiderich
Kranken verarbeitet zu werden. Das ist der Hintergrund
dessen, was man so euphemistisch als therapeutisches
Klonen bezeichnet.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ist das wirklich die Hoffnung, für die wir dieses For-
schungsfeld offen halten sollten?

Ich meine, es gibt längst andere und langfristig bessere
Wege. Vor kurzem hat zum Beispiel die Gruppe von
Francis Thomson in Wisconsin mit dem deutschen Kolle-
gen Thomas Zwaka das Ein- und Ausschalten einzelner
Gene im menschlichen Zellkern möglich gemacht. Damit
könnte man zukünftig Krankheitsbilder in der Petrischale
simulieren, ohne Menschen klonen zu müssen. Anderen
Forschern ist es im Tierversuch gelungen, schon ausdiffe-
renzierte Zellen über zwei Stufen zurückzuentwickeln.
Die damit verbundenen Erkenntnisse könnten der For-
schung mit adulten Stammzellen ein völlig neues Poten-
zial geben.

Es gibt also nach meiner Auffassung – es ist mir ganz
wichtig, darauf hinzuweisen, weil immer wieder Gegen-
teiliges behauptet wird – auch keinen wissenschaftlichen
Grund, Klonen, gleich welcher Art, als Hoffnungsstrate-
gie zu betrachten. Auch deswegen fordere ich dazu auf,
nicht länger von therapeutischem, sondern von destrukti-
vem Klonen zu sprechen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich meine, dass wir auch der Biowissenschaft insge-

samt einen Dienst erweisen, wenn wir diese zweifelhafte
und unakzeptable Art und Weise wissenschaftlicher For-
schung von vornherein ausschließen und damit die Bio-
wissenschaften von dem Ruch befreien, ethisch und mo-
ralisch fragliche Technologien anzuwenden. Meiner
Meinung nach gibt es für uns eine moralische und ethi-
sche Verpflichtung, den Weg zur breiten Anwendung ei-
ner solchen menschenverachtenden Technologie rechtzei-
tig zu verbarrikadieren. Deswegen muss unser Antrag von
nun an auch international umgesetzt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Dafür zu sorgen ist unser Auftrag und ist unsere morali-
sche Pflicht. Dem müssen wir gemeinsam nachkommen.

Auch in den USA – das ist vorhin hier angesprochen
worden – gibt es längst vergleichbare Initiativen. Mir liegt
ein Antrag vor, der vor wenigen Wochen im amerikani-
schen Senat eingebracht worden ist. Auch in diesem An-
trag wird dazu aufgefordert, alle Verfahren des Klonens
zu verbieten. Der ganze Antrag umfasst – den Amerika-
nern gelingt das manchmal sehr schön – nicht mehr als
eine Seite. Vielleicht können wir uns daran ein Beispiel
nehmen. Man spricht sich in diesem Antrag sehr deutlich,
sehr einfach und sehr klar gegen diese Form der Entwick-
lung, die ich destruktives Klonen nenne, aus.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502804300

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jörg

Tauss, SPD-Fraktion.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1502804400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Gestatten Sie mir, zusammenfassend einige Aspekte
anzusprechen. Ich begrüße es sehr, dass der gemeinsame
Antrag für ein internationales Verbot des Klonens zu-
stande gekommen ist. Hierzu gab es bereits im letzten Jahr
eine klare rot-grüne Position. Es wäre meines Erachtens
nicht unbedingt notwendig gewesen, dem etwas folgen zu
lassen. Aber nachdem es über Weihnachten eine reichlich
unseriöse Pressekampagne einer, was das Klonen anbe-
langt, wesentlich unseriöseren Sekte gab, ist die politische
Diskussion über dieses Thema neu aufgeflammt. Das Er-
gebnis, das uns vorliegt, ist gut, auch wenn sein Zustan-
dekommen auf einer, wie gesagt, weniger seriösen Grund-
lage beruht.

Allerdings führte und führt dieser Ausgangspunkt bei
einigen Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause – auch
bei solchen aus unserer Fraktion – durchaus zu Unwohl-
sein. Ich verstehe diese Empfindungen durchaus. Sie resul-
tieren aus der Sorge, dass durch ein striktes Nein seriöse
Forschung zum Wohle der Menschen möglicherweise ge-
fährdet wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Ich sage deutlich: Ich teile diese Sorge nicht. Auch die
Deutsche Forschungsgemeinschaft hat klar zum Aus-
druck gebracht, dass das therapeutische Klonen aus wis-
senschaftlicher Sicht kein Thema ist. Frau Flach, wir
brauchen wirklich nicht wissenschaftlicher als die Wis-
senschaft selbst zu sein. Das ist nicht unsere Aufgabe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


An dieser Stelle können wir auf die Wissenschaft hören.
Aus diesem Grunde spricht auch nichts dagegen,

diese Position, die wir hier gemeinsam haben, in die in-
ternationalen Verhandlungen einzubringen. Ich kann
nur nochmals betonen: Dieser Bundesregierung gebührt
das Verdienst, in diesem Bereich als erste international
tätig geworden zu sein. Das ist ein Erfolg deutscher
Außenpolitik. Wir werden diesen Weg weiter beschrei-
ten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Alle diese Argumente sind seriös genug, um hier keine
Horrorszenarien frankensteinscher Art entwerfen zu müs-
sen. Herr Hüppe, Sie haben immer wieder eine paar fran-
kensteinsche Ansätze gehabt. Ich teile Ihre Kritik, dass in
der Ethikkommission mehr Forscher als Ethiker seien, in
keiner Weise. Wer dies so formuliert, impliziert damit,
dass Forschung als solche nicht ethisch sei und dass die
Forscher nicht ethisch arbeiteten. Dies müssen wir
zurückweisen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



(A)



(B)



(C)



(D)


2154


(A)



(B)



(C)



(D)






Ich habe großen Respekt vor der Arbeit des Nationa-
len Ethikrats. Ich weiß überhaupt nicht, wie man dazu
kommen kann, dieses Gremium einer demokratisch ge-
wählten Regierung als undemokratisch zu bezeichnen.
Ich danke Herrn Simitis und den Mitgliedern des Ethik-
rats ausdrücklich für die Arbeit, die sie in der Vergangen-
heit geleistet haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Auch wenn ich einer derjenigen bin, die gern Schärfe

in die Debatte bringen und in Diskussionen kein Kind von
Traurigkeit sind – ich räume dies durchaus ein; Sie setzen
sich damit ja gelegentlich auch fröhlich auseinander –,
muss ich doch eines sagen, Kollegin Nickels. Ich emp-
fehle, bei Themen wie PID und Behinderte sprachlich et-
was abzurüsten. Viel von dem, was Sie hier gesagt haben,
kann ich absolut nicht akzeptieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sie haben davon gesprochen, dass als Nonplusultra die
Ethik des Heilens beschworen wird. Niemand hat hier
eine Ethik des Heilens beschworen. Die Ethik des Heilens
ist aber durchaus ein Wert.

Frau Böhmer, die Interpretation dessen, was in Art. 1 des
Grundgesetzes zum Thema Menschenwürde steht, würde
ich schon ganz gern weiterhin dem Bundesverfassungsge-
richt überlassen. Es kann hierbei nicht um Positionen von
Personen gehen, die ich persönlich sehr respektiere,


(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Das ist geltendes Verfassungsrecht!)


die aber – auch dies sollte klar gesagt werden – in vielen
Punkten mit der Rechtsprechung zu Art. 1 nicht im Ein-
klang stehen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Mit diesen Fragen und mit den Grenzen des medizini-

schen Fortschritts wird sich die Enquete-Kommission aus-
einander zu setzen haben. Sie wird sich viele neue span-
nende Themen auf die Tagesordnung setzen. Ich war am
Anfang sehr skeptisch, ob es Sinn macht, eine solche En-
quete-Kommission wieder einzurichten, möglicherweise
auch zu Themen, die bereits in der letzten Legislaturperi-
ode abgehandelt worden sind. Es sind wichtige neue Fra-
gen, beispielsweise zum Sterben, aufgeworfen worden.
Ich hoffe, dass die Enquete-Kommission diese Fragen auf-
greift. Ich hoffe auch sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen
– das geht an diejenigen, die Mitglied der Enquete-Kom-
mission sein werden –, dass diese Enquete-Kommission in
der Lage sein wird, jenseits von Vorfestlegungen unvor-
eingenommen an ihre Aufgaben heranzugehen.

Ich freue mich auf spannende Diskussionen zur For-
schungspolitik zwischen Ihnen und mit Ihnen.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502804500

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Frak-
tionen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/ Die
Grünen auf Drucksache 15/464 mit dem Titel: „Einset-
zung einer Enquete-Kommission ‚Ethik und Recht der
modernen Medizin‘“. Wer stimmt für diesen Antrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist
mit den Stimmen der SPD-Fraktion, der CDU/CSU-Frak-
tion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ge-
gen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Damit
ist die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der mo-
dernen Medizin“ eingesetzt.

Ich darf hinzufügen, dass die von den Fraktionen zu be-
nennenden Mitglieder die guten Wünsche des ganzen
Hauses bei der Erledigung dieser ebenso wichtigen wie
schwierigen Aufgabe begleiten.


(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir stimmen nun ab über den Antrag der Fraktionen der

SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 15/463 mit dem Titel: „Neue Initiative für
ein internationales Verbot des Klonens menschlicher Em-
bryonen starten“. Dazu liegen mir drei Erklärungen zur
Abstimmung vor, die jeweils von mehreren Abgeordneten
unterschrieben sind.

Es gibt eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung
der Abgeordneten Rolf Stöckel, Kurt Bodewig, Siegmund
Ehrmann und anderer1) – ich muss die Namen nicht im Ein-
zelnen verlesen; das wird ja im Protokoll festgehalten –, mit
der diese Kollegen begründen, warum sie dem Antrag
nicht zustimmen können.

Es gibt eine weitere Erklärung zur Abstimmung der
Kollegen Petra Selg, Werner Schulz, Dr. Uschi Eid und
Jerzy Montag, die diesem Antrag zwar zustimmen wollen,
für ihr Abstimmungsverhalten aber eine persönliche Er-
klärung abgeben möchten.2)

Drittens schließlich gibt es eine Erklärung zur Abstim-
mung der Kollegen Dr. Martin Mayer, Georg
Fahrenschon, Peter Hintze und Ursula Heinen, die diesem
Antrag nicht zustimmen wollen.3)

Ich stelle nun den Antrag auf Drucksache 15/463 zur
Abstimmung. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Der
Antrag ist mit den Stimmen der großen Mehrheit der Mit-
glieder der SPD-Fraktion, der CDU/CSU-Fraktion und
der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim-
men der FDP-Fraktion bei einigen Enthaltungen aus der
CDU/CSU-Fraktion angenommen.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und Gegenstimmen aus der SPD!)


– Es gab einige Gegenstimmen bei der SPD-Fraktion.

(Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Zahlreiche, Herr Präsident! – Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Fast die Mehrheit!)


Jörg Tauss

1) Anlage 2
2) Anlage 3
3) Anlage 4




Vizepräsident Dr. Norbert Lammert
– Davon kann sicher keine Rede sein, Herr Kollege. Über
das Mehrheitsverhältnis gibt es ganz offenkundig keine
Meinungsverschiedenheit.

Damit ist dieser Antrag angenommen.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion der FDP auf

Drucksache 15/314 mit dem Titel „Reproduktives Klonen
weltweit verbieten – das Machbare schnell umsetzen“.
Abweichend von der Tagesordnung soll über den Antrag
heute abgestimmt werden. Wer stimmt für diesen Antrag
der FDP-Fraktion? – Wer stimmt gegen den Antrag? –
Wer enthält sich der Stimme? – Dieser Antrag ist mit der
großen Mehrheit der Stimmen aus allen anderen Fraktio-
nen bei einigen Enthaltungen sowohl aus der SPD-Frak-
tion als auch aus der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 sowie den Zu-
satztagesordnungspunkt 2 auf:
4. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-

gierung
Straßenbaubericht 2002
– Drucksache 15/265 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
Bericht zum Ausbau der Schienenwege 2002
– Drucksache 15/280 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Horst
Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen),
Daniel Bahr (Münster), weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs
eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Ver-
kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes
– Drucksache 15/221 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Arnold
Vaatz, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Änderung des Verkehrswegeplanungs-
beschleunigungsgesetzes
– Drucksache 15/461 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Bundesminister Manfred Stolpe.

Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-
kehr, Bau- und Wohnungswesen:

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Ihnen liegen Berichte zum Straßenbau und zum Aus-
bau der Schienenwege im Jahr 2001 vor. Das sind zwei
Dokumente, die in die Hand zu nehmen sich lohnt. Sie alle
sind nämlich irgendwo davon betroffen und, wie ich
hoffe, damit auch weithin zufrieden.

Wir haben die gute Erfahrung gemacht, dass dieses
Parlament für dieses Jahr 8,5 Milliarden Euro für die Aus-
baumaßnahmen bei Straße und Schiene bereitgestellt hat.
Wir haben dankbar erleben können, dass Planungsbehör-
den der Länder und des Bundes in enger, intensiver Zu-
sammenarbeit dazu beigetragen haben, dass die zum Teil
schwierigen Projekte bewegt werden konnten. Wir haben
erlebt, dass Projektanten, Architekten, Ingenieure, leis-
tungsstarke Unternehmen und nicht zuletzt Tausende von
Fachleuten dazu beigetragen haben, dass sich die Ver-
kehrsinfrastruktur in Deutschland ein Stück weit verbes-
sern konnte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, diese Maßnahmen halfen
dabei, Staus abzubauen; so wurden – das brauchen wir
dringend – Brücken über Rhein und Main gebaut. Die A 2
von Hannover bis Berlin ist fertig geworden. Vom Kame-
ner Kreuz wurde die A 1 in Richtung Wuppertal weiter
ausgebaut. Nicht zuletzt ist auch der Bau der Bahnstrecke
von Köln in die Region Rhein-Main schon in jenem Jahr
erheblich vorangekommen. Ähnliches gilt für Strecken in
Bayern, so von Nürnberg über Ingolstadt nach München.
Dabei sind aber auch Verkehrsbauten, die benachteiligte
Regionen besser an das Wirtschaftsleben in Deutschland
insgesamt anbinden; hier ist speziell im Schienenbereich
eine Menge im Osten Deutschlands getan worden. Auch
der Bau der A20 ist in jenem Jahr, aber auch im letzten Jahr
erheblich vorangetrieben worden. Hier ist viel bewegt wor-
den; sie wird insgesamt eine große Bedeutung gewinnen.

Lassen Sie mich bei einer solchen Gelegenheit auch sa-
gen: Da wurden Verkehrsbauten errichtet, die Architektur-
und Ingenieurgeschichte schreiben und auf die wir stolz
sein können.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich kann nur raten, sich gewisse Brückenbauten einmal in
Ruhe anzusehen, zum Beispiel die, die in Thüringen er-
richtet wurden. Darauf können wir durchaus mit Freude
schauen.

Aber nicht nur das schnellere Vorankommen des Ein-
zelnen im Verkehrsgetriebe, auf das wir stolz sind und
worüber wir uns freuen, ist die Aufgabe von mobilitäts-
verbessernden Maßnahmen und Verkehrsbauten. Nein,
Mobilität ist mehr: Mobilität ermöglicht modernes Le-


(A)



(B)



(C)



(D)


2156


(A)



(B)



(C)



(D)






ben. Mobilität ermöglicht Produktivitätssteigerung. Wir
müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass ungefähr die
Hälfte der gesamten Produktivitätsleistung in Deutsch-
land abhängig von den Verkehrsleistungen des Systems
ist. Nicht zuletzt schafft Mobilität auch Arbeit. Mehr als
10 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutschland sind unmit-
telbar mit dem Erbringen von Verkehrsleistungen verbun-
den; indirekt hängen davon weitaus mehr ab.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Sehr gut, dass das einmal erkannt wird!)


Ich möchte dafür werben, dass Verkehrsinfrastruktur
eine Vorrangaufgabe bleibt. Zu dem jetzigen Verkehrsvo-
lumen, das auf dem derzeitigen Netz zu bewältigen ist,
kommt noch der zu erwartende Anstieg des Verkehrs-
aufkommens. Wir können auch bei behutsamen Schät-
zungen davon ausgehen, dass etwa 20 Prozent mehr Per-
sonenverkehr und rund 65 Prozent mehr Güterverkehr
bewältigt werden müssen. Die Erweiterung der Europä-
ischen Union wird den Druck auf das Transitland
Deutschland, das es aufgrund seiner zentraleuropäischen
geographischen Lage ist, noch vergrößern. Hier sind wir
gefordert und hier müssen wir uns noch ganz erheblich
mehr Mühe geben, um diese große Aufgabe zu bewälti-
gen. Wenn wir nicht versuchen, das stärker zu beeinflus-
sen, wird der Zuwachs allein auf den Straßen stattfinden
und wir werden massive Belastungen von Autobahnen
und anderen Straßen erleben und wichtige Bereiche – das
sind in der Regel die Wachstumsbereiche – werden im
Verkehr ersticken, wenn wir nicht dagegen angehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich sehe es als allererste Aufgabe für Verkehrspolitik in
Deutschland an, ein integriertes, leistungsfähiges, ökolo-
gisch verantwortbares Verkehrssystem zu schaffen. Nach
meiner Überzeugung müssen wir dafür unsere Bemühun-
gen um den kombinierten Verkehr vergrößern. Das
heißt, stärker die Leistungspotenziale von Straße, Schiene
sowie Binnen- und Hochseeschifffahrt zu verbinden. Wir
brauchen insbesondere in den Häfen Terminals, die die
Verbindungen zwischen Hochseeverkehr und Kurz-
streckenverkehr sicherstellen. Wir brauchen aber auch
Strategien, um den kombinierten Verkehr zu fördern. Wir
müssen ihn gezielt unterstützen. Ich freue mich, dass wir
in der Zwischenzeit auch schon mehrere Trimodal Termi-
nals haben, die die Verbindung von Wasserstraßen, Schie-
nenwegen und Straßen ermöglichen. Auch da wird noch
mehr geschehen können.

Nicht zufrieden – das will ich Ihnen offen sagen – bin
ich mit der Situation der „rollenden Landstraße“. Da
könnte eigentlich noch mehr geschehen. Dem steht aber
offenbar die Marktsituation entgegen. Hier für ein Um-
schwenken zu sorgen ist eine Aufgabe, der wir uns stärker
stellen müssen; immer vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass die Bahn auf dem Schienenweg noch mehr zur Be-
wältigung der riesigen Güterverkehrsströme, die auf uns
zukommen, beitragen kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, die Verkehrspolitik in
Deutschland muss weiterhin Schwerpunkte setzen. Ganz

vorne sehe ich die Notwendigkeit der Staubeseitigung.
Das betrifft Wachstumsregionen. Darauf werden wir uns
noch stärker zu konzentrieren haben.

Ich sehe zum Zweiten die Notwendigkeit, dass wir uns
auf den noch immer vorhandenen Nachholbedarf kon-
zentrieren. Das betrifft zum einen Strecken im Osten, die
geschaffen werden müssen, die Autobahnen A 14 und
A 72, zum anderen aber auch die zwingend erforderliche
Schließung von Lücken etwa bei der A1 oder auch bei der
A 31, wo wir in bestimmten Regionen unerträgliche Si-
tuationen haben.

Wir haben drittens im Berichtsjahr 2001 70 Ortsum-
gehungen fertigstellen können. Nach meiner Schätzung
und nach Auskunft der Experten brauchen wir in Deutsch-
land noch rund 300 Ortsumgehungen, die wir vordring-
lich angehen sollten.

Wir müssen – das darf ich als vierten Schwerpunkt un-
serer Verkehrspolitik einbringen – die technischen Errun-
genschaften, die wir haben, die Möglichkeiten der Infor-
mations- und Kommunikationstechnologie stärker
nutzen und stärker erschließen,


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

um über Telematik,


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Keine Autobahn ohne Telematik!)


über Verkehrssteuerung eine bessere Verteilung des Ver-
kehrsaufkommens zu erreichen.

In diese Überlegung, moderne Technologie für die Be-
wältigung des Verkehrsaufkommens zu erschließen,
gehört für mich auch die Notwendigkeit, die Bemühungen
um eine Magnetbahntechnik zu verstärken und vonsei-
ten des Bundes zu unterstützen. Wir müssen auch Zu-
kunftswege erschließen. Wir dürfen nicht nur in Zeiträu-
men von wenigen Jahren denken, sondern müssen gerade
in diesem Bereich weit über Legislaturperioden hinaus-
denken.


(Beifall bei allen Fraktionen)

Auch der Umweltschutz muss bei unserer Verkehrs-

politik ein strategisches Ziel sein. Wir müssen uns weiter-
hin um alternative Antriebe bemühen. Wir müssen aber
auch die Maßnahmen des Lärmschutzes verstärken, nicht
nur bei Neubauvorhaben, sondern auch beim Bestand, so-
wohl bei der Schiene als auch bei der Straße. Das sollte
ebenfalls ein Schwerpunkt unserer Bemühungen sein.

Lassen Sie mich als einen weiteren Punkt nennen, dass
die Fragen der Sicherheit im Verkehr weiterhin große Be-
deutung haben müssen. Aufgrund der internationalen Ka-
tastrophen, die in diesem Bereich eingetreten sind, haben
wir unlängst die Bemühungen um die Tunnelsicherheit
verstärkt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nicht zuletzt werden wir auch alles tun müssen, um
Verfahrensbeschleunigungen zu erreichen.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das nützt natürlich nichts, wenn das Geld nicht da ist!)


Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe




Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe
Ich kann hier nur noch einmal von den guten Erfahrungen
berichten, die wir mit dem Bundesverkehrswegepla-
nungsbeschleunigungsrecht in Ostdeutschland gemacht
haben. Wir werden den Bericht zum Jahresende 2003 vor-
legen. Ich freue mich auf die Diskussion, die wir dann alle
miteinander haben werden, auch vor dem Hintergrund
von Anträgen, die ich heute gelesen haben.

Meine Damen und Herren, alles in allem sind das ge-
waltige Aufgaben, die angegangen werden müssen. Wir
sehen zugleich, dass das, was wir für Verkehrsinfrastruk-
tur an Geld zur Verfügung stellen – im Jahr 2003 werden
das 11,5Milliarden Euro sein –, nicht ausreichen wird, um
die Aufgaben zu bewältigen. Wir brauchen zusätzliche Fi-
nanzierungswege. Wir brauchen die Maut. Bitte unter-
stützen Sie uns, damit wir die Maut rechtzeitig einführen
können. Wir brauchen Betreibermodelle, wie sie schon
angedacht sind, wie wir sie zum Beispiel beim Warnow-
tunnel oder auch beim Wesertunnel haben werden.

Wir sollten auch miteinander darüber nachdenken, wel-
che weiteren Möglichkeiten privater Beteiligung an Ver-
kehrsbauten erschlossen werden können. Denn wir stehen
in einem Wettlauf: Auf der einen Seite steht der Aufwuchs
des Verkehrsaufkommens, bei dem schon jetzt messbar ist,
was auf uns zukommen wird; auf der anderen Seite stehen
die Verbesserungen der Infrastruktur. Nach meiner Über-
zeugung müsste unser gemeinsames Ziel sein, diesen Wett-
lauf zu gewinnen, um nicht im Stau zu ersticken.


(Beifall bei der SPD)

Wir haben für den künftigen Bundesverkehrswegeplan

bereits jetzt 1 800 Anmeldungen. Wir wollen einen Bun-
desverkehrswegeplan entwickeln, der bis 2015 gilt. Den
Entwurf dazu wollen wir im ersten Halbjahr erstellen. Ich
hoffe, dass er rechtzeitig fertig wird und dann diskutiert
werden kann. Dazu werden wir mit Ihnen und gerade mit
denen, die regionale Erfahrungen mitbringen, das Ge-
spräch führen. Außerdem werden wir mit den Ländern in
sehr engem Kontakt stehen.

Wir werden allerdings – das zeigt schon die Zahl 1800 –
um eine Prioritätensetzung nicht herumkommen. Das
bedeutet, dass wir die Kosten-Nutzen-Frage und die
Raumentwicklungsmöglichkeiten, die sich durch die Ver-
kehrsbauten ergeben, prüfen müssen. Das bedeutet nicht
zuletzt, dass wir Fragen der Umweltverträglichkeit zu
berücksichtigen haben. Diese drei Kriterien wollen wir
mit Ihnen diskutieren. Ich hoffe sehr, dass wir vor dem
Sommer einvernehmlich einen Bundesverkehrswegeplan
aufstellen können.

Intensive Gespräche sind nötig. Ich bin bereit, sie zu
führen, und bitte Sie alle, dass wir diese große Aufgabe in
Bezug auf Mobilität und Zukunftsentwicklung gemein-
sam bewältigen.

Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502804600

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Lippold,

CDU/CSU-Fraktion.


Dr. Klaus W. Lippold (CDU):
Rede ID: ID1502804700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister,
nach Ihrer Rede muss ich feststellen, dass sie eine Konse-
quenz der Politik der Bundesregierung ist: Sie sprechen
davon, dass Sie eigentlich etwas tun müssen und tun sol-
len. Aber Sie sagen nie konkret, wann Sie etwas tun wol-
len.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn Sie schon einen Termin nennen, Herr Minister,

dann ist dies immer mit dem Hinweis verbunden, dass Sie
schon wieder etwas verschoben haben. Der Bundesver-
kehrswegeplan ist überfällig; er sollte schon längst vor-
liegen. Ein entsprechender Kabinettsbeschluss sollte in
diesem Monat erfolgen; das ist nicht geschehen. Jetzt set-
zen Sie wieder ein späteres Datum. Herr Bundesver-
kehrsminister, das macht deutlich: Es gibt viele schöne
Sprüche, aber bei der Umsetzung gibt es ein Manko nach
dem anderen.

Herr Minister, Ihre Darstellung war beschönigend. Sie
haben nicht deutlich gemacht, vor welchen Engpässen wir
stehen. Die Zahl der Staus hat zugenommen; die Zahl der
Verspätungen bei der Bahn nimmt ebenfalls zu. Insgesamt
ist festzuhalten – Sie können das jetzt als kleinlich ab-
tun –, dass die Verspätungen bei der Bahn zu immer mehr
Verärgerung bei den Menschen führen, die morgens
20, 30 Minuten bis zu einer Stunde warten müssen. Diese
Menschen erhalten keine Antwort auf ihre Klagen und
können Ihren Äußerungen auch nicht entnehmen, wann es
zu Verbesserungen kommen wird. Das sind die Punkte, an
denen Sie konkret ansetzen müssen. „Sollen“ und „wol-
len“ reichen nicht aus, sondern Sie müssen ganz konkret
etwas tun.

Ich vermisse ebenfalls ein wesentlich konkreteres Vor-
gehen und Vordenken im Zusammenhang mit der EU-Ost-
erweiterung.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie wissen, dass wir gewaltige zusätzliche Verkehrs-
ströme zu erwarten haben. Herr Minister, um diese Ver-
kehrsströme aufzufangen, müssen die Planungen jetzt
erfolgen und die Umsetzungsmaßnahmen eingeleitet wer-
den. Bei der Schnelligkeit der Osterweiterung bestünde
ansonsten die Gefahr, mit diesen Maßnahmen völlig in
Verzug zu geraten. Eine Antwort darauf habe ich Ihrer
Rede nicht entnehmen können. Sie haben lediglich mit ei-
nem Satz auf die EU-Osterweiterung hingewiesen. Aber
es fehlen Angaben, wie wir die Probleme in diesem Zu-
sammenhang bewältigen können, welche Projekte es gibt
und wie sie in den Verkehrswegeplan eingebunden wer-
den. Deshalb müssen Sie Ihre Position in der Zukunft
deutlicher machen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie haben von der LKW-Maut gesprochen. Herr

Minister, Sie haben in diesem Punkt völlig Recht. Wir
werden Sie darin unterstützen. Aber ich sage Ihnen auch
ganz offen: Wir werden Ihren Ansatz, wie er sich jetzt dar-
stellt, nicht unterstützen. Sie selbst haben von mehr Mit-
teln gesprochen, die wir dringend brauchen, um Straße


(A)



(B)



(C)



(D)


2158


(A)



(B)



(C)



(D)






und Schiene zu bauen. Wenn aber über die Maut in erster
Linie der Haushalt von Herrn Eichel finanziert wird, die
Einnahmen aber nicht für Maßnahmen zur Verbesserung
der Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung gestellt werden,
dann ist das, was Sie sagen, beschönigend und entspricht
nicht der Realität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir fordern, dass die Mittel, die über die Maut einge-

nommen werden, nicht in den Haushalt eingestellt wer-
den, sondern dass sie in vollem Umfang für Verkehrspro-
jekte zur Verfügung stehen. Dabei müssen wir auch den
Sachverhalt berücksichtigen, dass wir für das deutsche
Güterverkehrsgewerbe in Bezug auf die Harmonisierung
eine Verdoppelung der Mittel brauchen. Ich gehe davon
aus, dass auch Sie, Herr Minister, das Güterverkehrs-
gewerbe in der Bundesrepublik Deutschland halten und
nicht zum Abzug zwingen wollen. Wenn wir keine Har-
monisierung durchführen, werden die Belastungen für das
mittelständische Güterverkehrsgewerbe in Deutschland
unerträglich.

Falls Sie entgegnen sollten: „Diese Belastungen ent-
stehen in gleicher Weise für das Gewerbe in anderen Län-
dern“, dann antworte ich Ihnen darauf: Derjenige, dem
das Wasser bis zur Oberlippe steht, wird bei einer weite-
ren Erhöhung der Belastung absaufen und diejenigen,
denen das Wasser nur bis zur Brust steht, können weiter
konkurrieren. Das kann nicht sein. Ich meine deshalb,
dass die Einnahmen aus der Erhebung der Maut – es gibt
ja Hinweise, dass mit wesentlich höheren Einnahmen ge-
rechnet wird; ich möchte Sie bitten, das gelegentlich klar-
zustellen – voll in die Verkehrsinfrastruktur, in erster Li-
nie in den Bereich der Straße, zu investieren sind. Dabei
sollte es keine Quersubventionierung geben, wie sie sich
immer wieder abzeichnet.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich bin auf der einen Seite selbstverständlich der Mei-

nung, den Umweltschutz in diesem Zusammenhang zu
integrieren. Herr Minister, auch hier werden Sie uns an
Ihrer Seite haben; das ist überhaupt keine Frage. Wir
brauchen aber auf der anderen Seite eine weitere Be-
schleunigung der Planungs- und Genehmigungsverfah-
ren. Dies muss einhergehen mit der Sicherung der Fi-
nanzierung. Denn nur eine Verfahrensbeschleunigung
vorzusehen, wenn wir hinterher nicht auch Straßen
bauen, tut es nicht. Diese Beschleunigung ist dringend
erforderlich. Aus Gründen der EU-Osterweiterung soll-
ten wir auch überlegen, wie wir eine solche Beschleuni-
gung effizient auf den Gesamtbereich der Bundesrepu-
blik erstrecken können. Es muss darüber nachgedacht
werden, wie wir dies ermöglichen, ohne dass wir uns im
gerichtlich-bürokratischen Gestrüpp der Bundesrepu-
blik Deutschland verlieren. Die Rahmenbedingungen
müssen also geklärt und insgesamt muss hier etwas ge-
tan werden.

Herr Minister, lassen Sie mich kurz zusammenfassen:
Wir brauchen ein konkretes Gesamtverkehrskonzept; dies
erwarten wir von Ihnen. Wir erwarten von Ihnen die um-
gehende Vorlage des Bundesverkehrswegeplans und ein
Konzept zur EU-Osterweiterung – und dies nicht erst in

zwei Jahren, wenn die EU-Osterweiterung erfolgt ist, son-
dern zu einem früheren Zeitpunkt, sodass wir uns recht-
zeitig darauf vorbereiten können.

Herr Minister, wir wollen auch – das habe ich bislang
nicht angesprochen –, dass Sie als Anteilseigner der Bahn
Ihre Verantwortung wahrnehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich kann die Ankündigungen, dass der Verkehr von der
Straße auf die Schiene verlagert werden soll, nicht mehr
hören. Die Bahn zieht sich immer mehr aus der Fläche
zurück und schließt Annahmestellen für den Güterkraft-
verkehr, spricht aber weiterhin davon, dass alles beim Al-
ten bleiben soll. Wenn sie sich schon zurückzieht, dann
sollten Sie zumindest daran mitarbeiten, dass die Wettbe-
werber die Strecken, aus denen sich die Bahn zurückzieht,
betreiben können und hier keine Blockade erfolgt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dies sollten Sie tun, damit wirklich Verkehr von der
Straße auf die Schiene verlagert werden kann. So wie es
jetzt angelegt ist, läuft es nicht.

Ihr Vorgänger, Minister Bodewig, war nicht in der
Lage, sich in dieser Frage gegen Herrn Mehdorn durch-
zusetzen. Diese Bewährungsprobe müssen Sie, Herr
Minister, noch bestehen. Ich hoffe, dass Sie dabei Erfolg
haben und Sie sich nicht so überrumpeln lassen wie Ihr
Vorgänger. Das würde nämlich nicht den Erhalt der Bahn
in der Fläche bedeuten und würde nicht zu der Verkehrs-
verlagerung führen, wie wir alle sie uns vorstellen. Also,
mehr Wettbewerb auf der Schiene! Ich erwarte, dass Sie
auch dazu ein klares Wort sagen.

Dass wir Straßenlücken schließen müssen und dafür
sorgen müssen, dass insbesondere auf den Autobahnen im
Ost-West-Bereich der Verkehr flüssig läuft, darin unter-
stützen wir Sie. Wir unterstützen Sie auch darin, dass der
Infrastrukturausbau in den neuen Bundesländern schnell
und zügig erfolgt. Er ist eine Voraussetzung dafür, die
schwierige Situation in den neuen Bundesländern besser
bewältigen zu können. Ich meine, das sollten wir durch
konkrete Taten untermauern.

Noch einmal: Die Mittel, die aus dem Bereich der
Straße im Rahmen der Maut aufgebracht werden, sollten
schlussendlich auch für diesen Bereich verwendet wer-
den. Das deutsche Mautsystem muss kompatibel sein mit
dem, was auf EU-Ebene geplant wird. Wir brauchen im
Zuge der EU-Osterweiterung – ich sage es einmal so –
Verkehrsprojekte „Europäische Einigung“. Darauf sollten
wir uns gemeinschaftlich verständigen, damit es hier
schneller vorangeht als bei den Verkehrsprojekten „Deut-
sche Einheit“, die es früher einmal gab bzw. jetzt noch
gibt. Das sind sinnvolle Instrumente, um die Situation in
unserem Lande besser zu bewältigen.

Dies sind Ihre Aufgaben. Ich wäre dankbar, wenn Sie
dazu gelegentlich etwas sagen würden. Wenn es um die
Umsetzung geht, finden Sie uns an Ihrer Seite. Aber Sie
sollten umsetzen und nicht nur ankündigen!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach)







Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502804800

Nun hat das Wort der Kollege Peter Hettlich, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502804900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es ist gerade einmal ein Monat vergangen, seit-
dem wir den Straßenbaubericht 2001 in diesem Hause dis-
kutiert haben. Insofern war ich als Neuling überrascht, als
ich den Straßenbaubericht 2002 bereits in dieser Woche
auf der Tagesordnung vorfand. Er wurde am 16. Dezem-
ber dem Deutschen Bundestag zugeleitet, also deutlich
früher als die bisherigen Straßenbauberichte. Da sich der
Berichtszeitraum, zum Teil jedenfalls, bis zum 31. Juli des
Vorjahres erstreckt, ist es wichtig, diesen Bericht zeitnah
zu betrachten und zu diskutieren. Daher möchte an dieser
Stelle den Zuständigen im Bundesverkehrsministerium
ausdrücklich für die schnelle Erstellung und Zuleitung
danken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch im Berichtsjahr
2001 hat sich die Gesamtfahrleistung um 0,4 Prozent
leicht verringert. Damit wird ein Trend bestätigt, der sich
bereits im letzten Straßenbaubericht angedeutet hatte: Die
Verkehrsleistung auf Deutschlands Straßen sinkt bzw.
stagniert und widerlegt damit die bisherigen Prognosen
eines stetigen Verkehrswachstums.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Aber nur auf den Bundesstraßen, Herr Kollege!)


– Diese Zahlen können wir uns näher angucken. Dazu
kommen wir heute gar nicht.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Darüber brauchen wir nicht zu streiten! Die Zahlen stehen im Bericht!)


Auch wenn manche in diesem Haus es nicht gern
hören: Die seit 1998 vorgenommenen Veränderungen der
verkehrspolitischen Rahmenbedingungen – dazu gehört
auch die Ökosteuer – zeigen Wirkung. Diese Zahlen bele-
gen, dass die rot-grüne Koalition hinsichtlich der Ziele der
Verkehrsvermeidung und der Verkehrsverlagerung den
richtigen Weg eingeschlagen hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zu einer vorausschauenden und umweltverträglichen
Verkehrspolitik gehören nicht nur Erneuerungen, Mo-
dernisierungen und Bestandserhaltung, sondern auch der
Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor den Schatten-
seiten des Verkehrs, zum Beispiel Abgasemissionen und
Lärm. Dafür wird sich die rot-grüne Koalition auch in Zu-
kunft einsetzen.

Allein im Berichtsjahr 2001 wurden für Umwelt- und
Lärmschutzmaßnahmen 122Millionen Euro aufgewendet.
Nicht zu vergessen sind die Aufwendungen für Land-
schafts- und Biotoppflege und für Naturschutzmaß-
nahmen im Rahmen von Straßenbaumaßnahmen in einer
Größenordnung von rund 200 Millionen Euro.

Der Bau von Ortsumgehungen – der Minister hat eben
gesagt, dass im letzten Berichtsjahr 70 Ortsumgehungen
für insgesamt 480 Millionen Euro gebaut wurden – dient
in vielen Fällen der Entlastung von Ortskernen und damit
natürlich auch der dort lebenden Bürgerinnen und Bürger.

Für die Beseitigung von Bahnübergängen und damit
für eine deutliche Verbesserung der Verkehrssicherheit
und des Verkehrsablaufs wurden insgesamt rund 90 Mil-
lionen Euro aufgewendet. Und last but not least: Im Rad-
wegebau an Bundesstraßen konnten im Berichtsjahr wei-
tere 360 Kilometer fertig gestellt werden.

Bevor ich zu den Anträgen zum Verkehrswegepla-
nungsbeschleunigungsgesetz komme, möchte ich Ihre
Aufmerksamkeit noch kurz auf die Situation im Bereich
der Unterhaltsmaßnahmen für Fahrbahnbefestigungen
und Ingenieurbauwerke lenken. Insbesondere der Zustand
der Brückenbauwerke sollte uns allen Anlass zur Beunru-
higung geben; denn für zwei Drittel der Brücken stehen
kurz- und mittelfristig Instandsetzungsmaßnahmen an.
Die Hochrechnungen haben sich gegenüber dem letzten
Straßenbaubericht nochmals deutlich verschlechtert. Nur
noch 30 Prozent unserer Brücken befinden sich in einem
guten bzw. sehr guten Zustand.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So ist es!)

Auch der aktuelle Gebrauchswert der Bundesstraßen

macht deutlich, dass uns in Zukunft und über einen län-
geren Zeitraum erhebliche Aufwendungen ins Haus ste-
hen werden. Dieser Tatsache werden wir auch im neuen
Bundesverkehrswegeplan Tribut zollen; denn schließlich
steht der Bestandserhalt an erster Stelle und die zur Ver-
fügung stehenden Mittel sind nun einmal beschränkt. Wir
werden nur die Projekte in den Bundesverkehrswegeplan
aufnehmen können, die wir letztendlich auch solide fi-
nanzieren können. Das sind wir unseren Bürgerinnen und
Bürgern schuldig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Mit dem aktuellen Verkehrswegeplanungsbeschleuni-
gungsgesetz, welches zum 31. Dezember 2004 ausläuft,
sollten in den neuen Bundesländern durch strenge Frist-
setzungen für Behörden, vereinfachte Enteignungsver-
fahren und Einschränkungen des Rechtsweges zügige
Planungsverfahren ermöglicht werden, um den Rück-
stand bei Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen aufzuholen.
Die FDP-Fraktion hat am 18. Dezember 2002 den Ent-
wurf eines Gesetzes eingereicht, mit dem die Geltungs-
dauer bis zum 31. Dezember 2010 verlängert werden
soll. Darüber hinaus sollen die Vorschriften auch in den
alten Bundesländern erprobt werden. Die CDU/CSU
wollte dem nicht nachstehen und hat zum 18. Februar die-
ses Jahres einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sogar eine
Verlängerung bis zum Jahr 2019 vorsieht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das würde bedeuten,
dass noch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine Aus-
nahmeregelung die Regel ist und damit insbesondere die
Bürgerrechte bei der Überprüfung von Planungsbeschlüs-
sen in unangemessener Weise beeinträchtigt werden. Dem
können und werden wir so nicht zustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



(A)



(B)



(C)



(D)


2160


(A)



(B)



(C)



(D)






Bereits jetzt beschwert sich das Bundesverwaltungs-
gericht offen darüber, dass es als einzige Instanz mit der
Überprüfung von Planungsbeschlüssen beschäftigt wird
und dementsprechend überlastet ist.

Wenn ich mir die Fakten anschaue, dann frage ich
mich, welche Infrastrukturprojekte wir eigentlich noch
beschleunigen wollen. Der Stand bei der Realisierung der
Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ ist bereits so hoch,
dass aus meiner Sicht eine Planungsbeschleunigung nicht
mehr notwendig ist. Auch die wenigen großen Projekte,
die möglicherweise im neuen Bundesverkehrswegeplan
stehen werden, rechtfertigen eine derart lange Ausnahme-
regelung nicht.

Bei den meisten neuen Projekten, die vermutlich in den
Bundesverkehrswegeplan aufgenommen werden, handelt
es sich um Ortsumfahrungen. Dabei können, weil eine
Verkehrsverlagerung stattfindet, Konflikte mit Bürgerin-
nen und Bürgern auftreten. Wenn Sie der Meinung sind,
dass solche kleineren Maßnahmen eine Fristverlängerung
im Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz recht-
fertigen, dann müssen Sie mich davon erst überzeugen.
Ich sehe allerdings nicht, dass Ihnen das gelingen könnte.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Offenbar haben Sie den Straßenbaubericht nicht gelesen, Herr Kollege!)


– Herr Friedrich, Sie müssen noch erhebliche Überzeu-
gungsarbeit leisten.

Wenn es um die strengen Fristsetzungen für Behör-
den geht, dann haben Sie mich auf Ihrer Seite. Aber dafür
brauchen wir dieses Gesetz nicht. Ich will ein positives
Beispiel aus der Vergangenheit nennen: Die Landesbau-
ordnungen haben in den letzten zehn Jahren zu einer er-
heblichen Beschleunigung bei der Erteilung von Bauge-
nehmigungen geführt. In meiner Heimatstadt Oschatz in
Sachsen werden Baugenehmigungen innerhalb von sechs
bis acht Wochen erteilt.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Für ein Wohnhaus!)


– Das gilt auch für andere Bereiche. Sie können gerne ein-
mal zu uns kommen. Ich stelle Ihnen dann unseren Bür-
germeister vor. Sie können sich das dann ansehen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Sie können auch zu mir kommen! Das geht in drei Wochen!)


– Herr Friedrich, ich werde Sie gerne auf den neuesten
Sachstand bringen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502805000

Meine Herren, die Vorstellung der Bürgermeister er-

folgt aber bitte außerhalb dieser Debatte. Herr Hettlich,
achten Sie bitte auf die verbleibende Zeit.


Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502805100

Ich komme zum Schluss.
Die CDU/CSU-Fraktion hat die Vereinfachung von

Enteignungen thematisiert. In diesem Bereich sehe ich

keinen Handlungsbedarf mehr. Die meisten Eigentums-
verhältnisse sind geklärt. Die geringe Zahl der Fälle, die
noch nicht geklärt sind, rechtfertigt keine Verlängerung
der Geltungsdauer bis zum Jahr 2019. Aus diesem Grund
können und werden wir Ihren Gesetzentwürfen nicht zu-
stimmen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502805200

Das Wort hat nun der Kollege Horst Friedrich, FDP-

Fraktion.


Horst Friedrich (FDP):
Rede ID: ID1502805300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr

verehrter Herr Minister, Sie haben in zugegebenermaßen
sehr schönen Bildern den Straßenbaubericht und den
Schienenwegeausbaubericht erläutert. Aber immer dann,
wenn es spannend wurde, nämlich dann, wenn Sie hätten
konkret werden müssen, haben Sie geschwiegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

In Ihrem Bericht haben Sie heute dargestellt – das war

der eigentliche Punkt –, dass Kombiverkehr die Lösung
des Problems beim Güterverkehr sei. Und tatsächlich, in
Ihrem Bericht ist zu lesen, dass im Kombiverkehr im
Jahr 2001 36,3 Millionen Tonnen Güter befördert worden
sind. Im Verhältnis zu der Gesamtgütermenge von 4 Mil-
liarden Tonnen, die in Deutschland befördert wird, ist
diese Menge allerdings zu vernachlässigen. Das heißt
nicht, dass man den Kombiverkehr abschaffen sollte.
Aber setzen Sie endlich auf das richtige Pferd und reden
Sie nicht nur über Randerscheinungen, die das Problem
angeblich lösen können!

Sie drücken sich vor der Beantwortung der wirklich
entscheidenden Fragen, nämlich wie die von Ihnen pro-
gnostizierten 64 Prozent Zuwachs im Güterverkehr
tatsächlich bewältigt werden können, und das gerade vor
dem Hintergrund der EU-Osterweiterung. Sie und Ihre
Fraktionen haben unsere Anträge auf besondere Finanzie-
rung und Planung hinsichtlich der Osterweiterung immer
abgelehnt. Ich frage mich, wie Sie bis Mai 2004, wenn die
EU-Osterweiterung ansteht, Antworten auf die Fragen bei
der Infrastruktur geben wollen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Renate Blank [CDU/CSU]: Darauf gibt es keine Antworten!)


In diesem Zusammenhang wäre es auch interessant, zu
erfahren, wie Sie sich beim Finanzminister durchsetzen
wollen, der vor dem Hintergrund der Beschlüsse von Rot-
Grün die Belastungen für Autofahrer seit 1. April 1999 in
Deutschland gewaltig angehoben hat. Die Investitions-
quote, also das, was in die Straße zurückfließt, ist dagegen
bestenfalls gleich geblieben. Wenn Sie die Investitions-
quote um den Prozentsatz anheben würden, um den Sie
die Belastung für den Autofahrer gesteigert haben, hätten
wir ein paar Probleme weniger. Herr Minister, auch dazu

Peter Hettlich




Horst Friedrich (Bayreuth)

sind Sie, zumindest bis jetzt, die Antwort schuldig geblie-
ben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Kollege Hettlich, den wesentlichen Punkt im
Straßenbaubericht haben Sie nicht dargestellt, nämlich
dass die Fahrleistungen auf der Autobahn nicht abge-
nommen, sondern zugenommen haben. Die Regierung
hat festgestellt – das ist bemerkenswert –, dass durch die
überdurchschnittliche Auslastung der Fahrzeuge im Fern-
verkehr die Anteile der Verkehrsleistungen auf den Bun-
desfernstraßen deutlich über denen der Fahrleistungen
liegen. Das steht aber genau im Gegensatz zu dem Argu-
ment, warum Sie die Maut einführen wollen. Sie sagen
doch, dass die Maut dazu dient, die Leerfahrten auf Auto-
bahnen zu reduzieren. Was denn nun? Entweder sind auf
den Autobahnen die Güterleistung und die Auslastung der
LKW überproportional gestiegen – das ist Ihre Aussage –
oder es stimmt Ihr Argument für die Einführung der Maut.
Irgendetwas ist hier nicht schlüssig.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Deswegen wäre es ganz interessant, Sie dazu zu hören.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das müssen wir aufklären!)


Noch etwas wurde im Straßenbaubericht festgestellt:
Die Mittel, die für den Bereich der Straße zur Verfügung
gestellt wurden, wurden auch tatsächlich ausgegeben.
Das ist ein Unterschied zum Schienenwegeausbaube-
richt. Dort wurde sinnigerweise nicht der Vergleich zwi-
schen den zur Verfügung gestellten Mitteln und den aus-
gegebenen Mitteln gezogen. Es wurde nur aufgeführt,
was ausgegeben worden ist.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Viel zu wenig!)

Im Bereich der Schiene ist man seit 2000 – das setzt

sich also fort – offensichtlich nicht in der Lage, die für In-
vestitionen zur Verfügung gestellten Mittel auch tatsäch-
lich abzurufen. Vielleicht wäre es interessant, im nächsten
Ausbaubericht für Schienenwege einen reellen Soll-Ist-
Vergleich anzustellen. In ihm muss stehen, welche Inves-
titionen tatsächlich getätigt wurden. Es geht nicht um die
Mittel, die als Sonderleistungen vorher schon weggenom-
men wurden, sodass die Bahn mit kleineren Zahlen arbei-
ten konnte. Es wäre schon interessant, zu erfahren, wie
das funktioniert.

Es ist auch hochinteressant, dass Sie sagen, dass die
Schiene gestärkt werden muss. Gleichzeitig höre ich näm-
lich, dass bezüglich der so bedeutsamen Schienenstrecke
München–Mühldorf–Freilassing erklärt wird, dass es im
Jahre 2001 keine Bauleistungen gegeben hat. Wenn die
Schienenwege wirklich zur Ertüchtigung der Transit-
strecken dienen sollen, muss man auch einmal über diese
Schienenstrecke nachdenken. Sie befindet sich seit Jahr-
zehnten im Ausbau, aber für das Jahr 2001 wurde für diese
Strecke kein Euro angesetzt.

Herr Minister, viel interessanter sind allerdings Ihre
Haltung und Ihre Aussagen zu den vorliegenden Gesetz-
entwürfen zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungs-

gesetz. Wenn ich alles richtig verstanden habe, haben
Sie in Ihrer Regierungserklärung an dieser Stelle er-
klärt, dass es durchaus angebracht wäre, die positiven
Erfahrungen mit dem Verkehrswegeplanungsbeschleu-
nigungsgesetz, die in den neuen Ländern gemacht wor-
den sind, auf die alten Länder zu übertragen. Ich habe
Ihnen damals schon gesagt, dass Sie das gerne tun kön-
nen. Einen entsprechenden Gesetzentwurf gab es be-
reits in der letzten Legislaturperiode. Sie haben das in
einem Interview in der „Berliner Zeitung“ am 1. Fe-
bruar nochmals bekräftigt und das bis heute nicht
zurückgenommen.

Heute blieben Sie wiederum sehr nebulös; denn genau
ein solcher Antrag liegt Ihnen nun vor. Die FDP hat einen
Antrag vorgelegt, wonach die Geltungsdauer des Ver-
kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes bis zum
31. Dezember 2010 verlängert und gleichzeitig der Gel-
tungsbereich auf die alten Bundesländer ausgedehnt wer-
den soll.


(Zuruf von der FDP: Das ist auch vernünftig!)

Das ginge relativ einfach. In der Überschrift über das Ge-
samtgesetz müsste man nur die Wörter „in den neuen Län-
dern sowie im Land Berlin“ streichen und in § 1 die Gel-
tungsdauer verlängern. Das ist alles, was Sie machen
müssen. Sie müssen es nur wollen.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das können wir heute noch tun!)


Aber nach dem, was ich höre, glaube ich, dass Sie bei
Ihren eigenen Fraktionen auf Granit beißen werden.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Warten wir einmal ab!)


Wie will man denn erklären, dass die EU-Osterweite-
rung ein Problem ist – das haben Sie selbst festgestellt –
und dass die Verkehrswege in Deutschland, insbesondere
in Ost-West-Richtung, erkennbar nicht ausreichend sind,
um die Verkehrsleistungen aller Verkehrsträger, also nicht
nur der Straße, sondern auch der Schiene, auszugleichen,
wenn man sich gleichzeitig weigert, bei den entscheiden-
den Punkten, nämlich dem Planungsrecht, das sich in den
neuen Ländern am Anfang einem harten Widerstand von
Rot-Grün ausgesetzt sah – das muss man auch einmal do-
kumentieren; Sie hätten das Planungsrecht der alten
Bundesrepublik gerne auf die neuen Länder übertragen –,
etwas zu tun?

Wie hätten wir die deutsche Einheit infrastrukturmäßig
bewältigen sollen, wenn man für große Verkehrsprojekte
eine Planungs- und Realisierungszeit von im Schnitt zwi-
schen 25 und 33 Jahren benötigt hätte, wie es im Westen
vor der deutschen Einheit üblich gewesen ist? Nein, durch
das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, das
von uns mitinitiiert wurde, haben wir es geschafft, dass in
den zehn Jahren nicht nur Verkehrsmaßnahmen geplant,
sondern auch Schienen und Straßen gebaut werden konn-
ten. Mittlerweile fahren sogar schon Züge und Autos da-
rauf.

Das alles hätte es mit dem alten Planungsrecht in die-
ser Form nicht gegeben. Deswegen verstehe ich nicht,
warum Sie sich heute angesichts der Vorlage dieser Ge-


(A)



(B)



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2162


(A)



(B)



(C)



(D)






setzentwürfe nicht etwas intensiver und deutlicher zu dem
Thema geäußert haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum Gesetzentwurf der Union kann ich nur sagen:
Liebe Freunde, ihr seid mal wieder auf dem halben Wege
stehen geblieben;


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das geht jetzt zu weit, Herr Friedrich! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Politisches Zerwürfnis!)


denn es ist zwar sehr probat, einfach nur die Geltungs-
dauer zu verlängern, es löst aber keine Probleme. Hier
gebe ich dem Kollegen Hettlich ausnahmsweise Recht.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Du willst auch bloß bis 2010!)


– Man kann das Sonderrecht nicht für eine Seite bis 2019
verlängern. Damals lautete die Begründung, dass es die
Planungsinstitute, die Einrichtungen und vor allem die
Oberverwaltungsgerichte noch nicht gegeben hat. Es ist
zu einfach, das einfach fortzuschreiben. Wir wollen etwas
anderes. Wir wollen, dass in ganz Deutschland die Bedin-
gungen gemäß dem Verkehrswegeplanungsbeschleuni-
gungsgesetz gelten. Ein erster Test soll bis 2010 durchge-
führt werden. Wenn die Ergebnisse positiv sind, was ich
erwarte, dann kann man es unbefristet übernehmen.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Dann fehlt allerdings das Geld!)


Herr Minister Stolpe, wenn Sie nicht dafür sorgen, dass
Rot-Grün wenigstens einen dieser Gesetzentwürfe zum
Planungsrecht tatsächlich übernimmt und verabschiedet,


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Vielleicht dürfen wir auch etwas Eigenes machen!)


dann sind Sie in Zukunft nicht mehr nur der Minister für
Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, sondern wahrschein-
lich auch der zuständige Minister für das Zünden riesen-
großer Luftballons ohne Inhalt, gewissermaßen der Car-
golifter der Bundesregierung.


(Beifall bei der FDP)

Sie haben angekündigt, zusätzlich 1 Milliarde Euro für

die neuen Ländern bereitzustellen. Dies wurde dann
schamhaft auf die alten Länder ausgeweitet, ohne bisher
konkret zu sagen, woher Sie das Geld nehmen wollen. Die
Goldschätze der Bundesbank sind offensichtlich verschlos-
sen. Sie kündigen ein neues und modernes Planungsrecht
an – das ist zugegebenermaßen richtig –, aber haben offen-
sichtlich nicht die Kraft, um dies tatsächlich umzusetzen.
Wir werden Sie an Ihren Aussagen messen, und zwar so-
wohl bei der Gesetzesberatung im Ausschuss als auch bei
der zweiten und dritten Lesung hier im Bundestag.

Danke sehr.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502805400

Ich erteile dem Kollegen Sören Bartol, SPD-Fraktion,

das Wort.


Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1502805500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der heute vor-
liegende Bericht bestätigt, was meine Kollegin Petra Weis
zum Straßenbaubericht 2001 gesagt hat: Der Bundesfern-
straßenbau ist kein Stiefkind der Verkehrspolitik dieser Ko-
alition. Die Behauptung von Herrn Lippold und der gesam-
ten Opposition, die Bundesregierung würde den Straßenbau
vernachlässigen, wird durch Wiederholung nicht richtiger.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Gegenteil: Wurden im Jahr 2000 für die Bundes-
fernstraßen noch 5 Milliarden Euro verausgabt, so waren
es 2001 5,58 Milliarden Euro.


(Siegfried Scheffler [SPD]: So ist es!)

Damit erreichen wir eine Rekordhöhe. Nur 1992 lagen die
Mittel für den Straßenbau aufgrund von Sondermitteln für
den Aufbau Ost höher, sonst immer niedriger. 70 Ver-
kehrsfreigaben bei Ortsumgehungen, insgesamt 150 Ki-
lometer neue und erweiterte Bundesstraßen, 78 Kilometer
erweiterte Autobahnstrecken und zusätzlich 77 Kilometer
an Autobahn zeigen, dass die Bundesregierung 2001 viel
erreicht hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir tragen damit der Tatsache Rechnung, dass ein mo-
dernes, gut ausgebautes und leistungsfähiges Verkehrssys-
tem Voraussetzung und Motor für Wachstum und Be-
schäftigung ist. Ohne Zweifel werden die Straßen und
insbesondere die Bundesfernstraßen auch in Zukunft eine
herausragende Rolle bei den Verkehrsleistungen spielen.
Auch für 2001 bestätigt der Verkehrsbericht: Die Bedeu-
tung der Bundesfernstraßen bleibt mit 51 Prozent der Jah-
resfahrleistungen hoch. Die Bedeutung der Autobahnen
hat sogar weiter zugenommen. Die Autobahnen mussten
2001 56 Prozent der Autofahrten und 72 Prozent der
LKW-Fahrten bewältigen. Die seit längerem beobachtete
Konzentration des Straßenverkehrs auf den Autobahnen
setzt sich somit ungebrochen fort.

Die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition lie-
gen falsch mit der Annahme, die gegenwärtigen Probleme
ließen sich nur durch weiteren Straßenbau lösen. Ihre wie-
derholte Forderung, die Einnahmen aus der LKW-Maut
in erster Linie für die Straße zu nutzen, zeigt deutlich ihre
einseitige, ideologisch begründete Orientierung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] [CDU/CSU]: Er hat es immer noch nicht begriffen!)


Uns stellen sich angesichts des zu erwartenden weite-
ren Verkehrswachstums zwei große Herausforderungen:
Erstens. Wir müssen die Leistungsfähigkeit der Fern-
straßen durch eine hohe Qualität ihres Ausbaus sicher-
stellen. Zweitens. Wir müssen den Weg weiter beschrei-
ten, Verkehr auf Schiene und Wasserstraße zu verlagern
und die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Ver-
kehrsträgern zu optimieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Horst Friedrich (Bayreuth)





Sören Bartol

Nicht nur die begrenzten finanziellen Ressourcen, son-
dern auch die begrenzte Verfügbarkeit von Flächen setzen
einem Ausbau des Straßennetzes Grenzen. In der EU wer-
den 1,2 Prozent aller Flächen vom Verkehr benutzt, davon
90 Prozent von der Straße. Die Sicherstellung von Leis-
tungsfähigkeit und Qualität der Fernstraßen verlangt in
zunehmendem Maße, in den Erhalt des bestehenden
Netzes zu investieren. Diese Notwendigkeit muss bereits
heute gesehen werden, selbst wenn erst im Straßenbaube-
richt 2003 die Ergebnisse der Untersuchungsperiode
2001/2002 zur Bewertung der Fahrbahnbefestigungen der
Bundesautobahnen vorliegen werden. Auf dieser Grund-
lage werden dann die sich ergebenden angemessenen In-
vestitionsentscheidungen getroffen werden.

Gefragt sind bei begrenzten Ressourcen intelligente
Lösungen, die eine effiziente und sichere Nutzung des
Straßennetzes ermöglichen. Ein hervorragender Ansatz ist
das Programm zur Verkehrsbeeinflussung auf Bundes-
autobahnen, das im letzten Jahr gestartet wurde und die
Förderung von Telematiklösungen fortsetzt. Für die Jahre
2002 bis 2007 stehen dafür insgesamt 200Millionen Euro
bereit. Damit sollen auf 350 Kilometern Streckenbeein-
flussungsanlagen – zusätzlich zu den bestehenden auf
850 Kilometern Länge – installiert werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bis zu 30 Prozent weniger Unfälle auf unfallträchtigen
Strecken sind ein beachtlicher Erfolg.

Von einer weiteren Idee zur Verbesserung des Ver-
kehrsflusses, die der Bericht darstellt, kann man sich in
Hessen auf der A 5 zwischen dem Bad Homburger Kreuz
und der Abfahrt Friedberg in Richtung Norden überzeu-
gen. Durch die Nutzung des Seitenstreifens ist der Ver-
kehrsfluss auf diesem überlasteten und staugefährdeten
Abschnitt wieder besser geworden.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wer hat denn den Bau betrieben?)


Die Verkehrsbeeinflussungsanlage auf der A 5, die bereits
seit 1989 in Betrieb ist, wurde damit um eine weitere
Komponente ergänzt.

Die Seitenstreifennutzung, die seit Anfang 2002 mög-
lich ist, ist sicherlich nur eine temporäre, aber sehr intel-
ligente Lösung für Zeiten mit Spitzenbelastungen. Klar
ist, dass die Nutzung des Seitenstreifens nicht auf Kosten
der Verkehrssicherheit gehen darf. Aber das Risiko von
Auffahrunfällen ist bei stockendem Verkehr und Stau be-
sonders hoch, sodass die Vorteile der Kapazitätserhöhung
die Nachteile des entfallenden Seitenstreifens aufwiegen,
da sich dadurch dieses Risiko vermeiden lässt.

Es lässt sich auch ein anderes Risiko verringern, indem
die Sicherheit in Straßentunneln durch Ergänzung der be-
triebstechnischen Ausstattung erhöht wird. Hierfür sind in
den kommenden Jahren entsprechende Mittel vorgese-
hen. Diese eigenen Maßnahmen zusammen mit den
Bemühungen der Bundesregierung um eine Erhöhung der
Sicherheitsstandards in Tunneln im Bereich der Europä-
ischen Union sind ein sinnvoller Ansatz zur Erhöhung der
Sicherheit der Verkehrsteilnehmer.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Bericht macht insgesamt den großen Stellenwert
deutlich, den die Verkehrssicherheit für die Bundesregie-
rung einnimmt. Dies wird auch durch das neue Instrument
der Sicherheitsaudits bei der Straßenplanung unterstrichen,
die den Ländern aufgrund der Forschungen des Bundes
empfohlen werden und mit denen schon bei der Straßen-
planung Sicherheitsbelange berücksichtigt werden.

Ganz oben auf der Tagesordnung der nächsten Monate
steht der neue Bundesverkehrswegeplan, Herr Lippold.


(Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] [CDU/CSU]: Das sagen Sie schon seit drei Jahren! – Renate Blank [CDU/CSU]: Seit November 1998!)


Der Bericht stellt den Stand der Überarbeitung des Plans
bis 2002 dar und macht damit noch einmal deutlich, dass
die Bundesregierung ein modernisiertes, wissenschaftlich
fundiertes Vorgehen gewählt hat, das Umwelt, Raumord-
nung und Städtebau und deren Wechselwirkungen und
Wechselbeziehungen stärker als bisher schon bei der Pro-
jektbewertung berücksichtigt und fachlich integriert.

Der Entwurf für den Bundesverkehrswegeplan wird
bald vorliegen und die Ausbaugesetze werden vom Parla-
ment beschlossen.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Der Entwurf liegt doch schon längst vor! Er muss vom Kabinett beschlossen werden!)


Anders als der von der CDU verantwortete Plan von
1992 wird es kein ungedeckter Scheck sein, sondern eine
verlässliche Planungsgrundlage.


(Beifall bei der SPD)

Wir werden sicherlich noch ausreichend Gelegenheit ha-
ben, das in den Ausschüssen und auch im Plenum zu dis-
kutieren.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Da bin ich gespannt! – Gegenruf des Abg. Siegfried Scheffler [SPD]: Ihr werdet euch noch wundern!)


Wir haben dabei das Verkehrssystem als Ganzes im Blick.
Es ist falsch, nur auf einen Verkehrsträger zu setzen, wenn
wir das zu erwartende Mobilitätswachstum bewältigen
wollen.

Der Bericht bestätigt den Handlungsbedarf: Den
Löwenanteil der zurückgelegten Personenkilometer macht
nach wie vor mit fast 83 Prozent der motorisierte Indivi-
dualverkehr aus. Schiene und öffentlicher Straßenver-
kehr erreichen bei leicht gesteigerten Personenkilometer-
zahlen nur einen Anteil von unter 9 Prozent.

BeimGüterverkehr hat sich die Zahl der Tonnenkilo-
meter sogar zuungunsten von Schiene und Schifffahrt ent-
wickelt. Ihr Leistungsanteil nahm um 2,2 bzw. 2,6 Prozent
ab. Die Zunahme der Güterverkehrsleistung wurde im
Wesentlichen von der Straße getragen, wobei entgegen
der vielfach geäußerten Vermutung die Steigerung durch
inländische Lastkraftwagen erfolgte.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So ist es!)



(A)



(B)



(C)



(D)


2164


(A)



(B)



(C)



(D)






Dem können wir nicht durch eine einseitige Orientie-
rung auf die Straße begegnen, wie sie CDU/CSU und FDP
propagieren. Vielmehr brauchen wir eine integrierte Ver-
kehrspolitik, die auf die unterschiedlichen Stärken der
einzelnen Verkehrsträger setzt.


(Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wie wollen Sie Güterverkehr unter 100 Kilometern auf die Schiene bringen? Haben Sie darüber schon mal nachgedacht?)


Wir haben dies finanzpolitisch in Angriff genommen,
indem wir nicht nur die Investitionen in den Straßenbau
auf ein hohes Niveau angehoben haben, sondern auch
Schritt für Schritt die Investitionen für den Schienenver-
kehr erhöht haben,


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ich habe ganz konkret nach Güterverkehr unter 100 Kilometern gefragt! Wie wollen Sie diesen auf die Schiene bringen?)


sodass sie mit den Straßeninvestitionen mithalten können,
Herr Friedrich. Wir brauchen, wie es in dem Bericht ver-
deutlicht wird – vielleicht lesen Sie ihn einfach noch ein-
mal –,


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Im Unterschied zu Ihnen haben wir ihn gelesen!)


eine Verkehrsplanung, die alle Ansprüche an eine mobile
Zukunft integriert,


(Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] [CDU/CSU]: Dann macht sie doch! Nicht immer nur: „Wir brauchen“!)


die neben ökonomischen auch ökologische Anforderun-
gen akzeptiert, ebenso wie sie gesellschaftliche und so-
ziale Notwendigkeiten und Bedürfnisse einbezieht. Auf
dieser Basis wird ein Verkehrssystem entstehen, das zu-
kunftsfähig und nachhaltig zugleich ist und das zuvor-
derst dem dient, wozu es geschaffen ist: dem Menschen
das Leben zu erleichtern.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502805600

Herr Kollege Bartol, das war Ihre erste Rede im Deut-

schen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere. Das
verbinde ich mit allen guten Wünschen für die weitere
parlamentarische Arbeit.


(Beifall – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ganz schön mutig für den Anfang!)


Nun hat die Kollegin Renate Blank, CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1502805700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege

Bartol, Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede! Im Hinblick

auf die Konkretisierung der Verkehrspolitik wollen wir
Ihnen Ihre Träume nicht nehmen. Ich bin gespannt, ob die
Bundesregierung und Sie, der Sie von allen Verkehrsträ-
gern sprachen, bereit sind, auch den Transrapid in den
Bundesverkehrswegeplan aufzunehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Immer dieselbe Leier! Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Nahverkehrsprojekte kommen nicht in den Bundesverkehrswegeplan!)


Meine Damen und Herren, vor vier Wochen haben wir
den Straßenbaubericht 2001 diskutiert, der die geringsten
Investitionen in die Infrastruktur aufwies, solange Sie
dafür zuständig sind. Jetzt reden wir über den Straßen-
baubericht 2002. Wir tun dies wahrscheinlich deshalb so
schnell, um von den schlechten Zahlen des Berichts 2001
abzulenken.

Die Ausgaben für Investitionen – nicht die Gesamtaus-
gaben – sind wichtig. Sie betrugen für die alten Bundes-
länder rund 2,7 Milliarden Euro und für die neuen Bun-
desländer 2 Milliarden Euro. In D-Mark gerechnet sind es
insgesamt rund 9 Milliarden DM.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502805800

Frau Kollegin Blank, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Scheffler?

(Zuruf von der CDU/CSU: Sie hat doch noch gar nicht angefangen!)



Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1502805900

Ja.


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1502806000

Doch, Sie hatte schon angefangen. – Vielen Dank,

liebe Kollegin Blank. Sie haben darauf abgehoben, ob
der Transrapid – ich gehe davon aus, dass Sie den Me-
trorapid und das bayerische Projekt vom Flughafen nach
München Hauptbahnhof meinen – in den Bundesver-
kehrswegeplan aufgenommen wird. Da Sie dem Hohen
Hause schon sehr lange angehören, müssten Sie wissen,
dass diese Projekte keine Bundesprojekte sind und dass
wir Nahverkehrsprojekte nicht in den Bundesverkehrs-
wegeplan aufnehmen.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Warum gibt der Bund so viel Geld aus, wenn es nicht seine Projekte sind?)


– Es ist ein Zuschuss des Bundes.


Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1502806100

Kollege Scheffler, es ist schon etwas seltsam. Man

muss nur an die Verpflichtungsermächtigungen für Pla-
nungskosten in Nordrhein-Westfalen denken.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Zuschüsse!)


Sören Bartol




Renate Blank
– Es sind Zuschüsse, aber es ist auch Bundesgeld. Im
Übrigen weise ich darauf hin, dass wir damals die Strecke
Hamburg–Berlin in den Bundesverkehrswegeplan aufge-
nommen haben.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das war ja auch ein Fernverkehrsprojekt! – Siegfried Scheffler [SPD]: Berlin–Hamburg war wohl eindeutig ein Fernverkehrsprojekt!)


Sie können das nachmachen, indem Sie den Metrorapid
und den bayerischen Transrapid in den Bundesverkehrs-
wegeplan aufnehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann können wir auch die S-Bahn in Wuppertal aufnehmen! Ich hätte auch noch eine Straßenbahn in Augsburg!)


Herr Minister Stolpe, die vorhin genannten Zahlen ma-
chen deutlich, dass wir neben dem Aufbau Ost dringend
auch den Ausbau West brauchen. Diese Aussage haben
Sie vor dem Verkehrsausschuss getroffen. An dieser wirk-
lich wichtigen Aussage werden wir Ihr Handeln in den
nächsten Wochen und Monaten messen. Erstmals – man
muss ja auch einmal die Bundesregierung loben – seit
Ihrer Übernahme der Regierungsverantwortung


(Beifall bei der SPD – Eduard Oswald [CDU/ CSU]: Ihr wisst noch gar nicht, was kommt! Dankbar seid ihr!)


– warten Sie es ab – wurde im Berichtszeitraum wieder
mehr Geld für Straßenbauinvestitionen zur Verfügung
gestellt. Dieses Geld kommt allerdings aus dem Zukunfts-
investitionsprogramm 2001 bis 2003. Dass Sie damit die
Straßenbaumittel nach einer Kürzung – ich rechne jetzt
noch in D-Mark – von rund 5 Milliarden DM um 2,7 Mil-
liarden DM erhöhen konnten, war nicht Ihr Verdienst,
sondern ist auf unsere Vorarbeit zu den UMTS-Lizenz-
erlösen zurückzuführen. Meine Damen und Herren von
Rot-Grün, ich erinnere daran, dass damals die Minister-
präsidenten Schröder und Eichel der Liberalisierung des
Telekommunikationsmarktes nicht zugestimmt haben.
Die Einnahmen daraus nimmt man aber sehr gerne und
selbstverständlich entgegen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber wofür man sie verwendet, ist die Frage!)


Zurück zum Straßenbaubericht 2002: Interessant ist,
dass erstmals die Abbildung zum Gebrauchswert der
Fahrbahnen der Bundesstraßen nicht mehr im Bericht
enthalten ist; das betrifft Seite 9, wenn Sie es nachschla-
gen wollen. Es gibt nur eine Beschreibung der drei Ge-
brauchsfähigkeitsklassen, aber keine Grafik, aus der
leicht ersichtlich wäre, dass die Zahl der Straßen mit ein-
geschränkter Gebrauchsfähigkeit in allen Bundesländern
immer mehr zunimmt. Mit anderen Worten: Der Zustand
der Bundesfernstraßen wird immer schlechter.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Deswegen haben wir im Bundesverkehrswegeplan die Bestandserhaltung verstärkt!)


Die Bundesregierung muss endlich einsehen, dass der
Erhaltung einer gebrauchsfähigen Verkehrsinfrastruktur
große Bedeutung zukommt.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Richtig! Das haben Sie jahrelang vernachlässigt!)


Die in die Straßen investierten Vermögenswerte müssen
in ihrer Substanz und ihrem Nutzwert nachhaltig bewahrt
werden.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es! Sehr wahr!)


Es handelt sich immerhin um ein Bruttoanlagevermögen
von rund 176 Milliarden Euro, das von den Steuerzahlern
im Laufe der Jahre aufgebracht wurde.

Im Übrigen verschlechtert sich auch der Zustand der
Brückenbauwerke im Zuge von Bundesfernstraßen ra-
pide; denn die Bereiche mit kritischem Bauwerkszustand,
also mit Zustandsnoten zwischen drei und vier, machen
bereits 15 Prozent des Gesamtbestandes an Brückenbau-
werken aus.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Unglaublich!)

Hier ist eine Instandsetzung bzw. Erneuerung zur Auf-
rechterhaltung der Verkehrssicherheit dringend erforder-
lich.

Wir haben im Jahr 1992 richtig gehandelt, als wir
den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ Vorrang
einräumten, denn sie dienen dem Zusammenwachsen
Deutschlands und der Mobilität unserer Bürgerinnen und
Bürger. Außerdem gehören Standortpolitik und Wirt-
schaftswachstum zusammen; sie benötigen jedoch eine
gut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur.


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)

Allerdings reduzierten Sie die Plafondierung für die Ver-

kehrsprojekte „Deutsche Einheit“ von 1,2 Milliarden Euro
im Jahr 2001 auf 1,1 Milliarden Euro im Jahr 2002. Sie
sollten aber Ihr besonderes Augenmerk zum Beispiel auf
den Ausbau der A 9 in Thüringen, Sachsen und Sachsen-
Anhalt lenken. Auf dieser wichtigen Nord-Süd-Verbin-
dung gibt es zunehmend Staus, sehr zum Ärger der be-
troffenen Bürger, zumal ein Ausweichen auf die Bahn von
Berlin nach Nürnberg nicht möglich ist, da die Bahnfahrt
zu lange dauert.

Ich bin schon gespannt, Herr Minister Stolpe, wann
endlich die Finanzierungsvereinbarung zwischen Bund
und Bahn für die Verbindung Nürnberg–Erfurt–Berlin un-
terzeichnet wird.


(Siegfried Scheffler [SPD]: Die hätte doch schon der Wissmann unterschreiben können! Das hat er auch nicht getan!)


Der Bahnchef Mehdorn hat seine Vorliebe für dieses Pro-
jekt entdeckt. Im Grunde genommen müsste man diese
Strecke doch unter Verwendung der nicht verbauten
Schieneninvestitionsmittel in Angriff nehmen können,
denn für die Schienenprojekte wurde im Berichtszeitraum
nur ein Betrag von 4,5 Milliarden DM für Investitionen
zur Verfügung gestellt.


(A)



(B)



(C)



(D)


2166


(A)



(B)



(C)



(D)







(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! – Karin Rehbock-Zureich [SPD]: Euro!)


– Kollege Schmidt, eigentlich müssten die Grünen bei
diesem Thema doch fürchterlich aufheulen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Warten Sie einmal ab! Ich bin ja gleich dran!)


Sie wollten doch immer die Investitionen in die Schiene
erhöhen. Im Berichtszeitraum gaben Sie jedoch nur die
Hälfte des Geldes, das für die Straße eingesetzt wurde,
aus.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht!)


– Aber natürlich! Lesen Sie es doch nach. Im Übrigen
konnten seit Beginn der Bahnreform 12 Milliarden DM
von der Bahn nicht verbaut werden. Das müssten Sie als
ehemaliges Aufsichtsratsmitglied doch auf jeden Fall bes-
ser wissen als wir.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige An-
merkungen zur Freigabe von Standstreifen für den
fließenden Verkehr machen. Bayern als Transitland Num-
mer eins in Deutschland wurde von Rot-Grün in den letz-
ten Jahren im Hinblick auf Straßenbaumittel stiefmütter-
lich behandelt,


(Widerspruch bei der SPD)

nach dem Motto des Kanzlers: Für die Bayern Steine statt
Brot.

Das können Sie nachlesen. Die A3 als die am höchsten
belastete Straße mit täglich über 90 000 Fahrzeugen ist in
keinem Ihrer vielfältigen Programme enthalten. Für die
Autofahrer entstehen tagtäglich unerträgliche Staus. Des-
halb hat die Bayerische Staatsregierung sich mit dem
Verkehrsministerium in Verbindung gesetzt und eine
zeitweise Inanspruchnahme von Standstreifen für den
fließenden Verkehr vorgeschlagen. Nach umfangreichen
Untersuchungen zur Verkehrssicherheit und zum Ver-
kehrsablauf kann nun auf staugefährdeten Autobahnen in
Zeiten hoher Verkehrsbelastung der Standstreifen zum
Befahren freigegeben werden. Diese kurzfristige Lösung
ist aus unserer Sicht nur eine Übergangslösung; tatsäch-
lich brauchen wir nämlich mehr Geld für den Straßenbau.

Der Ausbau der Bundesverkehrswege gerät weiter ins
Abseits, wenn der riesige Betrag, der durch die Ein-
führung der LKW-Maut abgezockt wird, hauptsächlich
dem allgemeinen Haushalt zufließt. Das ist ein Skandal.
Schon wieder muss der Straßenverkehr herhalten, um die
Löcher im rot-grünen Haushalt zu stopfen, statt dass
Lücken im alten Fernstraßennetz geschlossen werden.
Von der Mineralölsteuer über die Ökosteuer bis zur KFZ-
Steuer werden die Autofahrer jährlich mit weit über
60 Milliarden Euro belastet; trotz dieser Summe stehen
sie weiter im Stau, denn nur rund 4,7Milliarden Euro wer-
den in den Ausbau der Straßen investiert. Der Autofahrer
ist die Melkkuh der Nation.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und Sie sind der Daniel Küblböck der deutschen Verkehrspolitik!)


Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, dass das Auto das
Verkehrsmittel Nummer eins in Deutschland bleibt. Wir
brauchen ein gut ausgebautes Straßennetz, damit die Mo-
bilität für alle Bürgerinnen und Bürger gewährleistet ist.
Der Straßenbaubericht zeigt, dass Sie viel zu wenig Geld
sowohl für den Neubau als auch für den Unterhalt aus-
geben. Durch diese erheblichen Engpässe im Bundesfern-
straßennetz sind Staus, die volkswirtschaftliche Verluste
zur Folge haben, vorprogrammiert, von der Umweltbelas-
tung ganz zu schweigen.

Meine Damen und Herren, es muss sich doch herum-
gesprochen haben, dass Verkehrsinvestitionen in Höhe
von 1 Milliarde Euro rund 20 000 Arbeitsplätze schaffen.
Sie sollten etwas für die Schaffung der dringend benötig-
ten Arbeitsplätze tun.

Nun noch einige Anmerkungen zum Trauerspiel Bun-
desverkehrswegeplan. Vom ersten Verkehrsminister Ih-
rer Regierung – vielleicht erinnern Sie sich noch, dass
er Müntefering hieß – war im November 1998 für das
Jahr 1999 versprochen worden, man wolle einen völlig
neuen Bundesverkehrswegeplan vorlegen. Man hat dann
ganz schnell gemerkt, dass es nicht ganz so einfach ist, ei-
nen neuen Bundesverkehrswegeplan vorzulegen. Seitdem
schiebt man dieses Vorhaben ständig vor sich hin.


(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das müsste Ihnen doch passen! Sie waren doch dagegen!)


Im letzten Jahr wurde uns versprochen, im Februar
würde ein vom Bundeskabinett beschlossener Bundesver-
kehrswegeplan vorgestellt. Er liegt immer noch nicht vor
und heute hören wir, dass er auf jeden Fall in der zweiten
Jahreshälfte vorgelegt werden soll. Ich bin gespannt,
wann uns endlich ein vom Bundeskabinett beschlossener
Bundesverkehrswegeplan vorliegen wird. Das, was uns
im letzten Jahr präsentiert wurde, war nur ein Sammelsu-
rium von Rohdaten. Es sollte nur darüber hinwegtäuschen,
dass ein Bundesverkehrswegeplan fehlt.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das waren Daten, die die Länder eingereicht haben! Von wegen „Sammelsurium“!)


Frau Staatssekretärin Mertens sprach in der vergange-
nen Woche davon, dass Rot-Grün eine mutige Verkehrs-
politik mache. Ich sage Ihnen: Sie haben den Mut, unser
Transportgewerbe zu ruinieren und die Infrastruktur ka-
puttzumachen; Sie sind aber nicht in der Lage, eine zu-
kunftsweisende Verkehrspolitik zu gestalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das Wetter ist auch schlechter, seit wir regieren!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502806200

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ich könnte ihr noch stundenlang zuhören, Herr Präsident!)


Renate Blank






Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1502806300

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Herr Minis-

ter Stolpe, Sie haben nun eine gute Chance, von allen ver-
wirrenden Programmen, die sich als untaugliche Finan-
zierungsinstrumente erwiesen haben und nie mit den
Ländern abgestimmt waren, Abstand zu nehmen. Mit ei-
nem stimmigen Bundesverkehrswegeplan, in dem auch
das Thema EU-Osterweiterung berücksichtigt wird, kön-
nen Sie wieder zur Klarheit und Wahrheit in der Ver-
kehrspolitik zurückkehren und mehr Geld für den
Straßenbau zur Verfügung stellen; denn die Straße ist seit
Jahrtausenden die wichtigste Verbindung zwischen Men-
schen und Regionen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Seit Jahrtausenden? Seit der Steinzeit! Zurück in die Steinzeit!)


Wenn Sie eine zukunftsweisende Verkehrspolitik ma-
chen, Herr Minister Stolpe, haben Sie uns an Ihrer Seite.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502806400

Bevor ich dem Kollegen Albert Schmidt für das Bünd-

nis 90/Die Grünen das Wort gebe, nehme ich den Zwi-
schenruf des Kollegen Oswald, er könne der Kollegin
Blank noch stundenlang zuhören, zum Anlass, darauf hin-
zuweisen, dass die Begeisterung über die gehaltenen Re-
den im Präsidium nicht geringer ist als in den jeweiligen
Fraktionen, dass wir dennoch gehalten sind, die Abwick-
lung der Tagesordnung in dem Zeitrahmen vorzunehmen,
den die Fraktionen untereinander vereinbart haben.


(Heiterkeit – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Herr Präsident, Sie haben leider Recht!)


Nun hat der Kollege Schmidt das Wort.

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
„Wahrheit und Klarheit“ waren ein gutes Stichwort, Frau
Kollegin Blank. Wollen wir also zu den Fakten zurück-
kehren: Als wir 1998 die Regierungsverantwortung über-
nommen haben, hatten die Investitionen in die Schiene
in Deutschland einen historischen Tiefstand von nur noch
2,9 Milliarden Euro erreicht. Allein in diesem einen Jahr
– unter Waigels und Wissmanns Verantwortung – wurden
sie um 1 Milliarde DM, also um ungefähr eine halbe Mil-
liarde Euro, gekürzt.

Das Ergebnis: Das Bestandsnetz war verrottet, man
fuhr auf Verschleiß, es hat geholpert und gerumpelt und
die Fahrpläne wurden nicht mehr eingehalten.


(Lachen bei der CDU/CSU)

Das war Ihre Hinterlassenschaft im deutschen Schienen-
netz; das sind die Fakten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Kommen wir zu den Fakten, jetzt ist Schluss mit der Mär-
chenstunde. Wir haben bereits in den Bundeshaushalt 1999

– Sie können jede einzelne Zahl nachlesen; es sind Istzah-
len, keine Sollzahlen – 3,6 Milliarden Euro, also 700 Milli-
onen mehr, für den Schienenbau eingestellt. Die gleiche
Größenordnung gilt für das Haushaltsjahr 2000. Der Mittel-
abruf, Herr Kollege Friedrich, betrug 105 Prozent im Jahr
1999 und 102 Prozent im Jahr 2000; das heißt, es wurde so-
gar mehr abgerufen, als im Plan vorgesehen war.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502806500

Herr Kollege Schmidt, sind Sie geneigt, eine Zwi-

schenfrage der Kollegin Blank zuzulassen?

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Ich möchte diesen Gedankengang noch zu Ende
führen. Dann darf Frau Blank gerne eine Zwischenfrage
stellen. – Als im Jahr 2001, Frau Kollegin Blank, nach
dem Verkauf der UMTS-Funklizenzen das Zukunftsinves-
titionsprogramm aufgelegt wurde, war es das Verdienst
dieser Koalition – darauf bin ich noch heute stolz; ich
danke von dieser Stelle aus Reinhard Klimmt, der hier
auch ein Wörtchen mitgeredet hat –,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


nicht einmalig, sondern für drei Jahre jeweils 2 Milliar-
den DM – ich betone: drei mal zwei; das ist eine Steige-
rung der Mittel im Schienenbautitel um rund 50 Prozent –
zu mobilisieren. Dass die Bahn im Jahr 2001 Mühe hatte,
das viele Geld umzusetzen, ist richtig. Deshalb hat in die-
sem Jahr der Mittelabfluss nur 87 Prozent betragen. Aber
bereits 2002 lag der Mittelabfluss bei 97 Prozent. Wir ha-
ben bei den Schieneninvestitionen ein Rekordniveau er-
reicht, von dem Sie, als Sie regiert haben, nicht einmal
träumen konnten. Das sind die Fakten. Alles andere ist
Märchenstunde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Bitte, Frau Blank, jetzt sind Sie dran.


Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1502806600

Kollege Schmidt, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-

men, dass im Jahre 1998 – dies war also noch während un-
serer Regierungsverantwortung – die Investitionen für
Neu- und Ausbaumaßnahmen – nur davon spreche ich –

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Ich auch.


Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1502806700

– 5,4 Milliarden DM betragen haben –

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

D-Mark!


(A)



(B)



(C)



(D)


2168


(A)



(B)



(C)



(D)







Renate Blank (CSU):
Rede ID: ID1502806800

– richtig, D-Mark –, während im Bericht „Schienenwege-
ausbau 2000“ nur 4,5 Milliarden DM für Neu- und Aus-
baumaßnahmen ausgewiesen wurden? Das ist von der
Bundesregierung schriftlich vorgelegt worden. Nehmen
Sie das bitte zur Kenntnis. Es mag zwar sein, dass in an-
deren Bereichen der Bahn weitere Mittel ausgegeben
wurden. Aber ich habe nur von den Investitionen für Neu-
und Ausbaumaßnahmen gesprochen.

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Es ist wunderbar, dass Sie mir Gelegenheit geben,
meine Redezeit zu verlängern. Ich antworte Ihnen – das
tue ich gerne – Folgendes: Es trifft zu, dass im Haushalts-
jahr 1998 exakt 2,9 Milliarden Euro – das ist ein histori-
scher Tiefststand – an Schienenbaumitteln geflossen sind.
Das waren 500 Millionen Euro weniger, als im Plan ei-
gentlich vorgesehen waren; denn es hat eine Anweisung
gegeben, im laufenden Haushaltsjahr eine entsprechende
Kürzung vorzunehmen. Es trifft weiterhin zu, dass in dem
Berichtszeitraum – das ist das Haushaltsjahr 2001 –, den
Sie ansprechen und über den wir heute diskutieren, exakt
2,3 Milliarden Euro für Investitionen im Sinne der Be-
darfsplanmaßnahmen verausgabt wurden. Zugleich sind
aber im selben Zeitraum – Frau Blank, wenn Sie schon
nachlesen, dann müssen Sie die entsprechende Seite im
Bericht auch zu Ende lesen – zusätzlich 1,5 Milliarden Euro
an Investivmitteln für die Erneuerung des Bestandsnetzes
geflossen. Das macht nach Adam Riese zusammen
4,3 Milliarden Euro, also circa 8,6 Milliarden DM. Das
sind 50 Prozent mehr als in Ihrem letzten Regierungsjahr.
Das sind die Fakten. Nehmen Sie sie zur Kenntnis!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben 2001 aber nicht nur die Schienenbaumittel
erhöht. Wir haben vielmehr auch zinslose Darlehen, die
nach alter Rechtspraxis der Bahn für Bestandsnetzinves-
titionen gewährt wurden, in Baukostenzuschüsse umge-
wandelt. Jeder, der schon einmal Bauplanung gemacht
hat, weiß, was das bedeutet. Das heißt nämlich, dass Maß-
nahmen, die vorher unwirtschaftlich waren, plötzlich
wirtschaftlich waren und angepackt werden konnten. Wir
haben allein auf diese Weise eine ganze Reihe von Maß-
nahmen auf den Weg gebracht, die auf Darlehensbasis
nach der alten Rechtspraxis niemals hätten verwirklicht
werden können. Auch das ist eine großartige Leistung, auf
die ich stolz bin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zuletzt möchte ich noch einen Blick in die Zukunft
werfen. Wir stehen vor schwierigen Aufgaben. Die Sanie-
rung des Netzes ist noch nicht beendet. Wir müssen die
Modernisierung des Netzes buchstäblich Kilometer für
Kilometer vervollständigen. Das bedeutet, dass wir das
erreichte Investitionsniveau auf vier Säulen verstetigen
müssen:

Erstens. Das betrifft im Bundesschienenwegeausbau-
gesetz die Bedarfsplanmaßnahmen, die Bestands- und Er-
neuerungsmaßnahmen.

Zweitens. Wir müssen das Ganze mit Mitteln aus den
mautfinanzierten Projekten im Sinne des Anti-Stau-Pro-
gramms ergänzen. Auch darüber sind wir uns, hoffe ich,
einig. Eigentlich wollen Sie ja die Mittel nur für die Straße
ausgeben.

Drittens. Wir müssen – das haben wir bereits getan –
dafür Sorge tragen, dass auch Investitionen aus dem Re-
gionalisierungsgesetz ins Netz fließen. Wir haben mit
dem Regionalisierungsgesetz bis zum Jahr 2007 eine ver-
lässliche, wachsende Finanzgrundlage für die Länder
geschaffen, wodurch allein jedes Jahr etwa 850 Mil-
lionen Euro zusätzlich zu den Ländermaßnahmen auch in
die Verbesserung der Infrastruktur fließen. Das muss man
zu den Kosten für die Schieneninvestitionen addieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Des Weiteren haben wir dafür gesorgt, dass das Gemein-
deverkehrsfinanzierungsgesetz fortentwickelt wurde. Auch
dadurch kann die Infrastruktur des Bahnnetzes verbessert
werden.

Das heißt im Klartext: Wir müssen gemeinsam dafür
Sorge tragen, dass das Erreichte erhalten bleibt und fort-
entwickelt wird. Das ist eine Garantie dafür, dass die
Schiene gegenüber der Straße weiterhin gleichberechtigt
ist und dementsprechend behandelt wird.

Wir werden außerdem darauf dringen müssen, dass die
Bundesförderung in einem sinnvollen Umfang erweitert
wird. Ich möchte dazu zwei Punkte nennen:

Erstens: Gleisanschlussprogramm im Güterverkehr.
Ein solches Programm brauchen wir. Wir benötigen eine
Förderrichtlinie, um zusätzliche Potenziale für den Schie-
nengüterverkehr – und zwar vom Werkstor an – zu er-
schließen.

Zweitens. Auch die Lärmschutzmaßnahmen am Fahr-
zeug müssen gefördert werden. Die Ersetzung der alten
Graugussbremsen durch Kunststoffbremsen schafft we-
sentlich mehr Lärmschutz als jeder Lärmwall, der für viel
Geld errichtet wird und nur dort eine Wirkung entfaltet,
wo er nun einmal steht. Ein modernisierter Güterwaggon
verursacht überall, wo er fährt, viel weniger Lärm als ein
Güterwaggon, der mit der alten Technologie ausgestattet
ist.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502806900

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Ein letzter Punkt. Im Hinblick auf den neuen Bundes-
verkehrswegeplan werden wir bei den Ausbau- und Neu-
bauprojekten insbesondere die Erweiterung der Europä-
ischen Union nach Osten im Auge haben müssen.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Um Jahre zu spät!)


Wir müssen die Verbindungen nach Osten im Sinne des
vordringlichen Bedarfes aufwerten.




Albert Schmidt (Ingolstadt)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502807000

Verehrter Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Von Berlin, aber auch von Nürnberg aus muss es in
Richtung baltische Republiken und Tschechien eine qua-
litativ hochwertige Schienenverbindung geben. Ich hoffe,
es wird unser gemeinsames Ziel sein, diesbezüglich neue
Akzente und neue Schwerpunkte zu setzen. Ich freue
mich schon auf die entsprechenden Beratungen im Aus-
schuss.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1502807100

Verehrter Herr Kollege, wenn die Wachstumsrate im

Verkehrsetat so eindrucksvoll wäre wie die, die das Präsi-
dium Ihrer Redezeit zugestanden hat, dann könnte diese
Debatte fast entfallen.


(Heiterkeit)

Nun hat der Kollege Eduard Lintner das Wort.


Eduard Lintner (CSU):
Rede ID: ID1502807200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben

wieder einmal eindrucksvolle Beispiele für den Kern die-
ser Verkehrspolitik gehört, nämlich allgemeine Bekun-
dungen und Ankündigungen,


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Fakten habe ich aufgezählt!)


die in der Regel recht entschlossen und zukunftsweisend
formuliert werden. Herr Schmidt, Ihre Zahlenspielereien
bringen schon allein deshalb nichts,


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das sind doch keine Zahlenspielereien!)


weil Sie zwei Rahmenbedingungen nicht genannt haben:
Erstens. Dank unserer Vorarbeit erzielte diese Regie-

rung nach der Versteigerung der UMTS-Lizenzen Erlöse
in Höhe von 50 Milliarden Euro, die sie großzügig hat
einsetzen können.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aber wir haben sie an der richtigen Stelle eingesetzt! Das ist der Punkt!)


– Herr Kollege Schmidt, darauf werde ich noch zu spre-
chen kommen.

Zweitens. Die Bahn war bisher überhaupt in keinem
Jahr in der Lage, die zur Verfügung gestellten Mittel
tatsächlich vollständig abzurufen. Daher handelt es sich
bei vielen der von Ihnen genannten Zahlen sozusagen um
Luftnummern; diese Zahlen sind zum Beweis nicht taug-
lich.

In den „Investitionsprogrammen für den Ausbau der
Schienenwege“ von 1999 heißt es – ich möchte einmal
eine dieser markigen Aussagen zitieren –:

Das deutsche Verkehrsnetz trägt die Hauptlast des
Transitverkehrs in Europa und hat damit einen we-
sentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Integration
Europas zu leisten.

Dazu kann ich nur sagen: Bravo, das ist ganz richtig!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Als Ziel dieser Verkehrspolitik wird genannt:
... damit bundesweit die zur Verkehrsabwicklung
notwendigen Kapazitäten verfügbar sind.

Auch das ist richtig. Nur: Es ist nicht wahr. Worte und Ta-
ten klaffen auseinander. Die Tatsachen sprechen eine ganz
andere Sprache.

Um das zu belegen, möchte ich noch einige Zahlen an-
führen – weiter möchte ich Sie damit dann nicht belästi-
gen –:

Der Umfang des Güterverkehrs auf der Schiene hat
in Ihrer Regierungszeit abgenommen und nicht zugenom-
men.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Richtig!)

Dass nicht zwangsläufig globale Tendenzen dahinter
stecken, zeigt das Beispiel Österreich. Dort ist das Trans-
portaufkommen auf der Schiene von 1995 bis 2001 um
sage und schreibe 22 Prozent gestiegen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Bei uns ist es in diesem Zeitraum auch gestiegen!)


Offenbar gibt es Rezepte, bei deren Befolgung man das,
was Sie dauernd als Ziel propagieren, erreicht. In Öster-
reich ist in der Tat manches anders als bei uns gemacht
worden. Sie selbst haben ein Beispiel erwähnt; allerdings
haben Sie nur die halbe Wahrheit gesagt. Die Deutsche
Bahn hat Gleisanschlüsse in großem Umfang stillgelegt
und jetzt verlangen Sie ein neues staatliches Programm
zur Wiederherstellung dieser Gleisanschlüsse. Wider-
sprüchlicher kann Verkehrspolitik wirklich nicht gestaltet
werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Österreich hat es durch eine derartige Förderung von

Gleisanschlüssen immerhin geschafft, dass jetzt – die
Zahl ist recht eindrucksvoll – 7,3 Millionen Tonnen Güter
pro Jahr mehr auf der Schiene transportiert werden als
vorher.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms)


Die deutsche Regierung hat bislang leider nur das Gegen-
teil zustande gebracht.

Es gibt eindrucksvolle Beispiele für diese Fehlentwick-
lung, die ja nach wie vor anhält. In der letzten Ausgabe der
„Deutschen Verkehrs-Zeitung“ ist einiges aufgelistet wor-
den. Beispielsweise sollen auf den rechtsrheinischen
Hauptgleisen demnächst – so schreibt die Zeitung – fast


(A)



(B)



(C)



(D)


2170


(A)



(B)



(C)



(D)






40 Prozent aller Weichen ersatzlos entfallen und außer-
halb der Hauptgleise sollen noch weitere 25 000 Weichen
abgebaut werden. Die Folgen kann man leicht vorhersa-
gen: Die Kapazität für die Aufnahme von Zügen wird
drastisch reduziert, weil der Bahnbetrieb natürlich noch
unflexibler und noch störanfälliger wird, als er ohnehin
schon ist.

Mit dieser Maßnahme wird vielleicht sogar noch Fol-
gendes beabsichtigt: Damit wird natürlich auch der Zu-
gang von Mitbewerbern zum Schienennetz ganz erheb-
lich weiter erschwert oder gar unmöglich gemacht. Im
Ergebnis stehen bei dieser reduzierten Kapazität für Züge,
die nicht zur DB AG gehören, quasi keine Zeitfenster,
keine Slots, mehr zur Verfügung. Dass das die Folge die-
ser Maßnahme ist, hat übrigens auch einer, der es wissen
muss, bestätigt, nämlich der frühere Bundesbahndirek-
tionspräsident Alfons Thoma.

Es gibt weitere krasse Beispiele. So soll die „Rheini-
sche Bahn“ stillgelegt werden. Alle, die sich da ein biss-
chen auskennen, bestätigen, dass es sich dabei um die
letzte freie Bahnstrecke im Ruhrgebiet handelt, auf der
überhaupt noch Güterverkehr zusätzlich stattfinden kann.
Stilllegungen, wie sie da geplant sind, stehen in einem
diametralen Gegensatz zu einem Grundsatz der Schie-
nengüterverkehrspolitik, der da lautet, dass Personen- und
Güterverkehr entflochten werden müssen, wenn der Gü-
terverkehr auf der Schiene gesteigert werden soll. Auch
hier gilt wieder: Handeln und Taten stehen in einem kras-
sen Gegensatz zueinander.

Man könnte noch viele Beispiele dafür nennen, etwa
dass Überholstrecken und Begegnungsmöglichkeiten
weiter abgebaut werden. Das Ergebnis ist immer das-
selbe: weniger Kapazität auf der Schiene und damit
weiter erschwerter Zugang von Mitbewerbern. Das
Kartellrecht und die Regeln, die das Eisenbahn-Bun-
desamt durchsetzen und kontrollieren soll, werden
durch die Schaffung von Fakten praktisch ständig un-
terlaufen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Es kommt noch hinzu, dass auch die Zahl der Gü-

terverkehrsannahmestellen – die Kollegin Blank hat
das, glaube ich, schon erwähnt – reduziert worden ist.
Wohin wir auch schauen: Es wird alles Mögliche getan,
um die Verkehrskapazitäten einzuschränken, statt sie zu
erweitern, was angesichts der Entwicklungen, die hier
schon genannt worden sind, aber eigentlich notwendig
wäre.

Man darf es der Regierung nicht durchgehen lassen,
dass sie sich immer dann, wenn es um diese ganz konkre-
ten Maßnahmen geht, sozusagen auf das Argument von
der unternehmerischen Selbstständigkeit der Bahn zu-
rückzieht und sich damit herausreden möchte; denn die
Regierung ist für die Ausrichtung der Verkehrspolitik zu-
ständig.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das bedeutet natürlich auch, dass sie ganz speziell für

die Erreichung dieser verkehrspolitischen Ziele die Ver-
antwortung trägt. Notfalls muss sie die Rahmenbedingun-
gen für die Bahn so gestalten, dass die politischen Vorga-

ben der Verkehrspolitik von der Bahn auch erfüllt werden
können. Die Bahn hat sich unternehmerisch zu orientieren
– das ist ganz klar –,


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wettbewerb tut Not!)


aber es muss ihr ermöglicht werden, die Vorgaben der Ver-
kehrspolitik im Rahmen der unternehmerischen Tätig-
keit zu realisieren. Da liegt die ganz spezielle Verantwor-
tung des Bundesverkehrsministers.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Der Wettbewerb muss her!)


– Der Wettbewerb muss her. Auch das ist richtig, Herr
Kollege Friedrich.

Ich muss feststellen: Bis heute ist weit und breit nichts
zu sehen, was als ernsthafte Konzeption der deutschen
Verkehrspolitik zur Erreichung der selbst gesetzten Ziele
gedeutet werden könnte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dabei steht fest – vorhin ist diese Zahl schon einmal kurz
genannt worden –: Allein von 1997 bis 2015 werden die
Güterverkehrsmengen um 64 Prozent wachsen. Die
Schiene soll davon 24 Prozent übernehmen. Wenn das so
käme, würde das eine Verdoppelung der Verkehrsleistung
von 1997 bedeuten. Zurzeit liegen wir bei knapp 8 Prozent.

Wie wollen Sie Ihre hehren Ziele erreichen, wenn Sie
nicht wirklich für eine Trendwende in Ihrer Verkehrspoli-
tik sorgen?


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Luftblasen!)


Diese Verkehrspolitik ist einfach zu sehr mit Ideologie be-
haftet. Man träumt immer von Schienenverkehrsanteilen,
die mit dieser Politik nicht zu erreichen sind.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das sind die 99 Luftballons der Verkehrspolitik dieser Regierung!)


Gleichzeitig tut man aber inkonsequenterweise zu wenig,
um das Straßennetz so herzurichten und so zu erhalten,
dass wenigstens dort der Verkehr einigermaßen reibungs-
los laufen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, Sie stecken, was die

zukünftige Entwicklung angeht, den Kopf einfach in den
Sand. Dafür, dass wir das kritisieren und dass wir Sie auf-
fordern, das endlich zu ändern, haben Sie sicher Ver-
ständnis. Vielleicht schafft es der vierte Verkehrsminister
in vier Jahren doch einmal, eine Trendwende in der Ver-
kehrspolitik herbeizuführen. Wir werden das aufmerksam
prüfen. In Kürze werden wir schriftlich haben und nach-
lesen können, ob es gelungen ist, die nötigen Kurskorrek-
turen vorzunehmen, nämlich wenn der Bundesverkehrs-
wegeplan, auf den wir jetzt schon jahrelang warten, noch
heuer vorgelegt wird.

Meine Damen und Herren, in aller Kürze stichwortar-
tig noch ein paar andere Dinge.

Eduard Lintner




Eduard Lintner

Herr Bundesverkehrsminister, ein ständiges Ärgernis
ist die Tatsache, dass die Bahn jedes Jahr eingestehen
muss, dass sie die Investitionsmittel, die ihr eigentlich
zur Verfügung stehen, nicht vollständig hat ausgeben
können.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Fast 1 Milliarde Euro im letzten Jahr!)


Wenn es daran liegen sollte, dass die Bahn nicht in aus-
reichendem Umfange eigene Planungskapazitäten hat,
dann soll sie doch um Gottes willen auf private Planungs-
kapazitäten zurückgreifen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Tut sie doch! Leute, ihr steckt den Kopf in den Sand und wollt die Realitäten nicht zur Kenntnis nehmen!)


Wenn es daran liegen sollte, dass, wie Herr Mehdorn seit
neuestem sagt, die Auftragnehmer die Rechnungen nicht
rechtzeitig stellen, dann kann er das ja abstellen.


(Renate Blank [CDU/CSU]: Er kann auch pünktlich zahlen!)


Aber ich habe schon den Eindruck, dass hier immer
Luftnummern angeboten werden. Da werden Beträge in
den Haushalt gestellt, mit denen man, wie hier, in der Dis-
kussion glänzen will; in Wirklichkeit handelt es sich aber
um eine Art stille Haushaltsreserve, die dann im Laufe des
Jahres anderweitig verbraten wird.


(Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: 97 Prozent fließen ab! So viel ist doch noch nie abgeflossen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502807300

Herr Kollege Lintner, kommen Sie bitte zum Schluss.


Eduard Lintner (CSU):
Rede ID: ID1502807400

Es geht dabei bei weitem nicht nur um ein paar hundert

Millionen, sondern um über 1 Milliarde Euro.

(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch! So ein Schmarren! Frei erfunden!)


Das zeigt die Tatsache, dass mit diesen Mitteln beispiels-
weise vorzeitig Tilgungen für die Strecke Nürnberg–
Ingolstadt geleistet oder die Kostenüberschreitungen
beim Lehrter Bahnhof usw. gedeckt werden.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was ihr verbockt habt, haben wir an dieser Stelle korrigiert! Gott sei Dank! Dort wird gebaut!)


Denn das sind andere Zwecke. Diese Gelder waren für et-
was ganz anderes vorgesehen. Deshalb müssen Sie diese
Milliarde eigentlich zu den nicht verbrauchten Mitteln
hinzuzählen.


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Quatsch!)


Dann sind Sie bei ganz erklecklichen Größenordnungen.

Ich hoffe, es gelingt Ihnen – wie gesagt, im vierten An-
lauf, als vierter Bundesverkehrsminister –, die Dinge end-
lich zu ändern. Wir halten Ihnen jedenfalls die Daumen.
Das wäre für das Land und für die Bewältigung der Zu-
kunftsaufgaben außerordentlich wichtig.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Mit diesem Niveau sollten Sie keinen Verkehrsminister stellen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502807500

Das Wort hat jetzt die Kollegin Karin Rehbock-Zureich

von der SPD-Fraktion.


Karin Rehbock-Zureich (SPD):
Rede ID: ID1502807600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Herr Lintner, Sie reden immer von Veränderungen in der
Verkehrspolitik und meinen damit die einseitige Festle-
gung aller Mittel zugunsten der Straße. Da muss ich Ihnen
doch einfach einmal sagen: Wer eine solche Verkehrspo-
litik betreibt, lebt verkehrspolitisch in der Steinzeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wer hier den Kopf in den Sand steckt,

(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Der kriegt irgendwann keine Luft mehr!)

das sind nämlich Sie. Sie sprechen von 64 Prozent Wachs-
tum im Bereich Güterverkehr. Wie bekommen wir das in
den Griff? Wenn Sie keine ideologische Verkehrspolitik
betreiben wollen, muss Ihnen doch völlig klar sein, dass
dies nicht ausschließlich auf der Straße abzuwickeln ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie hier die Haushaltszahlen von 1997 und 1998
hervorkehren, um darzustellen, was die CDU/CSU-Frak-
tion Großes im Bereich Schiene geleistet hat,


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Fehlleistungen und nicht Leistungen!)


so will ich Ihnen noch einmal sagen, was auch der Kollege
Schmidt schon gesagt hat.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Wahrheit!)


Vorgesehen waren bei der Bahnreform einmal mindes-
tens 10 Milliarden DM, also 5 Milliarden Euro, als Fi-
nanzmittel. Aber nicht einmal 3 Milliarden Euro haben
Sie 1998 für die Schiene ausgegeben.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nein, das steht nirgendwo!)


Damit war ein trauriger Tiefpunkt erreicht. Hinterher haben
Sie beklagt, dass der Schienenverkehr von der Substanz le-
ben musste. Der Erfolg Ihrer Politik war nämlich ein maro-


(A)



(B)



(C)



(D)


2172


(A)



(B)



(C)



(D)






des Netz, da keine Investitionen in den Bestand getätigt
wurden. Das heißt, die Schiene gammelte vor sich hin.

Wir haben endlich damit Schluss gemacht und Neu-
und Ausbaumaßnahmen finanziert: Wir haben 4,3 Mil-
lionen Euro – Sie können das im vorliegenden Bericht
nachlesen – ins Bestandnetz und 6,8 Milliarden Euro in
den Nahverkehr und die Regionalisierung investiert. Das
hätten Sie während Ihrer 16-jährigen Regierungszeit erst
einmal erreichen müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Obwohl die Mittel für die Schiene massiv angehoben
wurden, kam es in den ersten Jahren angesichts der zu ge-
ringen Planungskapazitäten für den Ausbau zu wirklichen
Problemen. Der komplette Mittelabfluss wurde im ersten
Jahr, nachdem die ZIP-Mittel geflossen sind, nicht er-
reicht.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Er wurde auch im zweiten Jahr nicht erreicht!)


2002 jedoch sind von den zur Verfügung stehenden
Mitteln nur 3,5 Prozent nicht abgerufen worden, also
150 Millionen Euro.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wer sagt denn das? – Gegenruf des Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir!)


Es kann doch niemand sagen, dass der Mittelabfluss im
Schienenverkehr nicht funktioniert, wenn bis zu 97 Pro-
zent der Mittel abgerufen und 4,1Milliarden Euro verbaut
werden.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die Bahn behauptet, es seien nur 44Millionen! Was stimmt denn nun?)


Selbstverständlich erwarten wir als Parlamentarier, dass
alle Mittel abfließen; das ist ganz klar. Hier hat die Bahn
natürlich auch die unternehmerische Verpflichtung, Bau-
projekte fortzusetzen, Planungen zügig in Gang zu setzen
und Baumaßnahmen noch besser als bisher abzustimmen.


(Beifall des Abg. Reinhard Weis [Stendal] [SPD])


Der erheblich erweiterte Finanzrahmen macht deut-
lich, was dieses Parlament und diese Koalition erreicht
haben. Wir haben erreicht, dass einerseits der Verkehrs-
träger Schiene mit der Straße gleichgesetzt wurde, dass
andererseits aber auch die Kontrollfunktionen in Bezug
auf die Haushalte immer wahrgenommen wurden. Wir
werden das in Zukunft bei der Verabschiedung der Be-
darfspläne genauso tun.

Wir haben auch die Rahmenbedingungen für den Ver-
kehrsträger Schiene verbessert: Auf europäischer Ebene
bringt die Öffnung der Netze mehr Wettbewerb auf der
Schiene. Mit der Öffnung werden grenzüberschreitende,
lang laufende Verkehre möglich. Dies ist die Chance für
die Zukunft. Dies müssen wir voranbringen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben – das ist ein ganz wichtiger Einstieg – die
LKW-Maut auf den Weg gebracht. Ab Sommer 2003
werden LKWs an ihren Wegekosten beteiligt. Die hier-
durch eingenommenen Mittel fließen nicht ausschließlich
in den Verkehrsträger Straße, sondern nur zu 50 Prozent;
50 Prozent kommen der Schiene und den Wasserstraßen
zugute. Dies ist im Gegensatz zu Ihrer Steinzeitpolitik
wirklich ein integrierter Ansatz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Als ganz wichtig sehen wir es auch an, hier nicht nur
für Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern, sondern
auch für Wettbewerb auf der Schiene zu sorgen. Unser
Ziel ist dabei ein flächendeckendes Schienennetz. Da
müssen alle Wettbewerber gleich behandelt werden; alle
müssen die gleichen Chancen haben.

Diese fairen Wettbewerbsbedingungen brauchen wir,
Herr Lintner, für die Verdoppelung des Güterverkehrs auf
der Schiene, die nötig ist, damit wir nicht alle im Stau ste-
hen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das glaubt ja nicht mal die Bahn, dass ihr das schafft!)


– Das glaubt die Bahn sehr wohl.

(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nein!)


Ein Weg dahin ist die Sanierung des Netzes, die wir in
Gang gesetzt haben. Das ist die Voraussetzung für funk-
tionierende Güterverkehre auf der Schiene. Außerdem
müssen wir dafür sorgen, dass mehr Unternehmen als bis-
her an die Schiene angebunden werden.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wie wollen Sie das denn machen?)


So ist es sehr wohl richtig und wichtig, dass wir Gleis-
anschlüsse fördern, die direkt an das Schienennetz ange-
bunden sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Nachdem die Bahn sie abgebaut hat!)


Man kann der Meinung sein, das Gleisanschlussprojekt,
das Georg Leber gefordert und eingeführt hat und dessen
verrostete Gleise wir heute vor Augen haben, habe nicht
funktioniert, weil es nicht nach Bedarf eingerichtet wor-
den sei.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist doch Unsinn! Die Gleisanschlüsse werden nicht mehr bedient! Das ist Realität!)


Die Österreicher sind für uns ein wichtiges Vorbild, weil
sie es geschafft haben, mit Beteiligung der Unternehmen
mehr Güterverkehr auf die Schiene zu bringen.

Wenn Sie immer beklagen, dass wir nicht ausreichend
Güterverkehr auf die Schiene bekommen, dann fordere
ich Sie auf: Tragen Sie doch zur Entwicklung dieses Pro-
gramms bei und stimmen Sie zu,


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau!)


Karin Rehbock-Zureich




Karin Rehbock-Zureich
wenn wir dafür sorgen wollen, dass Finanzmittel auch für
die Förderung von neuen Gleisanschlüssen zur Verfügung
gestellt werden! Ich denke, es ist nicht sinnvoll, den Ver-
kehrsträger Straße einseitig zu bevorzugen. Wir benötigen
alle Verkehrsträger. Kehren Sie zu einer Politik zurück,
die alle Verkehrsträger integriert sieht, zum Wohle von
uns allen und gegen den Stau!

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502807700

Das Wort hat jetzt der Kollege Gerhard Wächter von

der CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerhard Wächter (CDU):
Rede ID: ID1502807800

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst zu Ihnen, Frau Rehbock-Zureich. Wenn Sie sa-
gen, dass Herr Lintner in der Steinzeit lebt, weil er auf die
Probleme des Straßenverkehrs hinweist, dann muss ich
Sie fragen: Wo leben Sie eigentlich? Jedenfalls leben Sie
nicht in der Realität, wo wir entsprechende Probleme tag-
täglich feststellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine Damen und Herren, in fast allen Debatten-

beiträgen wurde zu Recht betont, dass Mobilität und ein
hoch entwickeltes Verkehrssystem entscheidende Voraus-
setzungen für wirtschaftliches Wachstum sowie für den
Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen sind. Das
war in der Vergangenheit so und das wird für die Zukunft
von noch größerer Bedeutung sein. Es ist ja schon auf die
EU-Osterweiterung hingewiesen worden, die wir in ei-
nigen Monaten zu erwarten haben.

Es gilt: Zukunftssicherung des Wirtschaftsstandortes
Deutschland heißt Zukunftssicherung und Optimierung
der Verkehrsinfrastruktur.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Für uns Verkehrspolitiker ist das gewiss unbestritten, aber
für andere durchaus keine Selbstverständlichkeit, wenn es
darauf ankommt, die immer knapper werdenden Haus-
haltsmittel zu verteilen und zu beurteilen, wo das Geld am
notwendigsten gebraucht wird und letztendlich hin soll.
Wenn man im Blick hat, dass wir wieder mit 2 Milliar-
den Euro weniger Steuereinnahmen zu rechnen haben,
wird man schnell feststellen, wie dieser Verteilungskampf
aussehen wird.

Schuld daran ist die Bundesregierung, die nicht in der
Lage ist, die Weichen so zu stellen, dass endlich ein Ruck
durch Deutschland geht, dass Unternehmer und Arbeit-
nehmer wieder Hoffnung schöpfen und Licht im Tunnel
sichtbar wird. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

So sicher wie das Amen in der Kirche wird dies

zwangsläufig auch Folgen für die zukünftige Finanzie-

rung der notwendigen Investitionen in den Ausbau und
Erhalt vor allem im Straßenbereich haben, der am nötigs-
ten Geld braucht. Denn der Straßenverkehr ist und bleibt
der Motor unserer Wirtschaft. Wir wissen, dass in
Deutschland jeder siebte Arbeitsplatz vom Auto abhängt
und dass das Auto das Verkehrsmittel Nummer eins ist
und weiterhin bleiben wird. Da ich aus dem ländlichen
Raum komme, kann ich das besonders gut beurteilen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Das Ergebnis der vierjährigen rot-grünen Politik ist

– trotz aller gegenteiligen Darstellungen –, dass das deut-
sche Autobahnnetz kaum noch europäisches Mittelmaß
erreicht.


(Widerspruch bei der SPD)

Gemessen an der Ausstattung mit Autobahnen im Ver-
gleich zum Fahrzeugbestand befindet sich Deutschland
im europäischen Vergleich nur noch auf Rang zehn. Hier
hat uns mittlerweile – das kann man nachlesen – sogar
Portugal überholt.


(Lachen der Abg. Karin Rehbock-Zureich [SPD])


Das kann sich der Wirtschaftsstandort Deutschland nicht
leisten. Er kann sich auch – das müssen wir besonders be-
achten – die staubedingten Kosten in Höhe von 100 Mil-
liarden Euro pro Jahr nicht leisten. Das ist eine unglaub-
liche Verschwendung.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wahnsinn!)

Alle Prognosen zeigen eindeutig, dass Deutschland als

Land in der geographischen Mitte Europas in den nächs-
ten Jahren und Jahrzehnten durch die Entwicklung des
Personen- und Güterverkehrs vor großen Herausforde-
rungen steht. Bis 2015 müssen wir in Richtung Osten mit
einem Zuwachs beim grenzüberschreitenden Verkehr um
circa 200 Prozent rechnen. Schätzungen für die Zunahme
im Bereich des Personenverkehrs liegen zwischen 25 und
fast 70 Prozent. Deutschland ist auf diese Entwicklung
nicht vorbereitet, unter anderem auch deswegen, weil die
bis zum Regierungswechsel 1998 eingeleiteten Maßnah-
men seit vier Jahren stagnieren.


(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist das Problem! – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Da sind Sie uns den Beweis noch schuldig geblieben!)


Das wird sich bitter rächen.
Anfang September soll endlich die Maut für LKWs

kommen. Ich habe allerdings Zweifel, ob sie funktionie-
ren wird; denn der Bundesverband Güterkraftverkehr hat
bekanntlich mit einem Boykott des Einbaus der Maut-
erfassungsgeräte gedroht. Man spricht vom so genannten
„Super-GAU Maut“. Grund dafür ist, dass die Bundes-
regierung nur 300Millionen Euro für die Harmonisierung
zahlen will. Dieser Betrag reicht bei weitem nicht aus,
um die mautbedingten Wettbewerbsnachteile auch nur
annähernd auszugleichen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will noch einmal deutlich betonen, dass die

CDU/CSU-Fraktion diese Entscheidung der Bundes-


(A)



(B)



(C)



(D)


2174


(A)



(B)



(C)



(D)






regierung für völlig inakzeptabel hält; denn die Maut wird
die schon jetzt äußerst angespannte Situation der Branche
weiter verschärfen und noch mehr Betriebe in diesem mit-
telständischen Gewerbe in den Ruin treiben. Das bedeu-
tet gleichzeitig, dass zigtausend Arbeitsplätze verloren
gehen und dass die Wahrscheinlichkeit von 5 Millionen
Arbeitslosen immer größer wird.

Die Bundesregierung hat vollmundig versprochen, die
Maut werde zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur
vor allem im Straßenbau genutzt. Tatsache ist aber, dass
der größte Teil – darauf ist schon hingewiesen worden –
zur Sanierung des Haushalts in die Kassen des Finanzmi-
nisters fließt und nicht der direkten Finanzierung der Ver-
kehrsinfrastruktur zugute kommt. Es muss gelten: Wer die
Zeche zahlt, hat einen Anspruch darauf, dass dafür adä-
quate Gegenleistungen erbracht werden, und zwar 1 : 1.
Ansonsten handelt es sich um reine Abzockerei.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Was den Schienenverkehr betrifft, ist es eine reine

Wunschvorstellung – das ist schon gesagt worden –,
durch die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene
den Anteil des Schienenverkehrs zu verdoppeln. Ich will
in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass seit 1999
deutlich mehr als 100 regionale Schienenstrecken von
rund 1 300 Kilometer Länge, insbesondere in ländlichen
Räumen, stillgelegt und dass mittlerweile rund zwei Drit-
tel der Containerbahnhöfe geschlossen worden sind.


(Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Wie viele gehen denn davon auf das Konto von CDU/CSUgeführten Ländern?)


Aber auch da, wo Stadt und Kreis bereit waren, sich an der
Finanzierung der Einrichtung eines Containerbahnhofs zu
beteiligen, hat die Bahn – wie zum Beispiel bei mir im
Kreis Paderborn – klar abgewinkt.

Da kommt wenig Hoffnung auf, ein solch ehrgeiziges
Ziel zu erreichen. Wir als Politiker und insbesondere die
Bundesregierung sind verpflichtet, die Bahn auf ihre Ver-
antwortlichkeit hinzuweisen. Sie bekommt viel Geld aus
dem Haushalt. Dies muss sie dem Steuerzahler gegenüber
rechtfertigen.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Abschließend zu den beiden vorliegenden Gesetzent-

würfen; einiges ist dazu schon vorgetragen worden. Wich-
tigstes Ziel war 1991, für den Aufbau einer ausreichenden
Verkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländern
schnellere Zulassungs- und Verwaltungsverfahren zu
schaffen, als sie es in den alten Bundesländern gibt. Es
handelt sich also um Sonderrechte für die neuen Bundes-
länder. Wir können mit Genugtuung feststellen, dass sich
das bestehende Gesetz sehr positiv auf den Aufbau Ost
ausgewirkt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Aber der Aufbauprozess ist noch lange nicht abge-
schlossen und wird auch nicht bis zum Ende des Jahres 2004
erledigt sein. Deshalb ist eine erneute Verlängerung der
Geltungsdauer dieses Gesetzes notwendig. Aus unserer
Sicht sollte eine Verlängerung bis 2019 erfolgen, weil zu

diesem Zeitpunkt der Solidarpakt II auslaufen wird. Vor
allen Dingen geben wir damit den neuen Bundesländern
ein richtiges Signal, nämlich Planungssicherheit für einen
langen Zeitraum. Dieses Signal und diese Sicherheit brau-
chen die neuen Bundesländer.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich hoffe, dass wir im Interesse der Bürgerinnen und

Bürger in den neuen Bundesländern im weiteren Verlauf
der Beratungen zu einem Konsens kommen werden.

Ich danke Ihnen vielmals.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502807900

Herr Kollege Gerhard Wächter, ich beglückwünsche

Sie zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herz-
lichen Glückwunsch!


(Beifall)

Das Wort hat jetzt der Kollege Siegfried Scheffler von

der SPD-Fraktion.


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1502808000

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Herr Kollege Wächter, auf zwei Drittel Ihrer Rede
könnte man eine ganze Menge entgegnen. Ich stimme
aber ausdrücklich dem zu, was Sie zuletzt im Hinblick auf
das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz an-
gesprochen haben. Wir haben in den neuen Bundeslän-
dern aufgrund dieses Gesetzes viel erreicht. Dazu hat die
alte Bundesregierung beigetragen und dazu trägt seit 1998
natürlich auch die rot-grüne Bundesregierung bei.

Herr Kollege Friedrich bzw. Frau Kollegin Blank, Sie
haben Minister Stolpe vorgeworfen, er sei auf dieses Pro-
blem nicht sehr detailliert eingegangen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist sein Markenzeichen!)


Ich brauche den Minister nicht in Schutz zu nehmen, kann
ihn aber, da er früher Ministerpräsident war, als Kronzeu-
gen heranziehen. Denn gerade Brandenburg – damals un-
ter Ministerpräsident Stolpe – war Mitinitiator einer Bun-
desratsinitiative, die dazu führte, dass die Geltungsdauer
dieses Gesetzes 1995 und dann noch einmal 1999 verlän-
gert wurde.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das stellt ja keiner in Abrede!)


Insofern zeigt sich bei Minister Stolpe Kontinuität. Er hat
mehrfach darauf hingewirkt, dass gerade in den neuen
Bundesländern die positiven Aspekte dieses Gesetzes
zum Tragen kommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Was soll das? Es hat doch niemand eine entsprechende Frage gestellt!)


Gerhard Wächter




Siegfried Scheffler

Herr Kollege Wächter, Sie haben ausdrücklich betont,
dass es dabei um ein Sondergebiet, um die neuen Bun-
desländer, geht. Zudem ist die Geltungsdauer dieses Ge-
setzes zeitlich beschränkt. Als Abgeordneter aus den
neuen Bundesländern möchte ich natürlich darauf hin-
weisen – darin stimme ich mit Ihnen vollkommen überein –,
dass wir mit dem geltenden Bundesverkehrswegeplan
noch nicht das erreicht haben, was wir uns vorgenommen
haben. Ich stimme mit Ihnen von der Opposition auch
überein, dass wir zukünftig mit Blick auf den neuen Ver-
kehrswegeplan, aber auch – das sage ich so deutlich wie
Sie – mit Blick auf die EU-Osterweiterung zusätzliche
Verkehrswege – ob Schiene, Wasserstraße oder Straße –
benötigen.

Auch deshalb müssen wir uns überlegen, ob wir die
Geltungsdauer des jetzigen Verkehrswegeplanungsbe-
schleunigungsgesetzes verlängern. Ich meine, wir stim-
men hier im Hause darin überein, dass wir eine solche
Verlängerung benötigen. Aber ob diese Verlängerung bis
2019, wie im CDU/CSU-Antrag gefordert, bzw. bis 2010,
wie die FDP es wünscht, gehen sollte, das sollten wir uns
genau überlegen.

Wir können uns als Politiker wünschen – wir wünschen
uns ja manchmal etwas nach dem Prinzip Wunsch und
Wolke –, dass dieses Gesetz eine lange Geltungsdauer hat,
aber wir sollten uns auch fragen, ob es immer rechtlich
Bestand haben kann. Wir sollten also nicht Gesetze vor-
formulieren, bei denen von Anfang an erhebliche rechtli-
che Bedenken bestehen. In diesem Fall haben die Justiz-
minister der Länder ihre rechtlichen Bedenken seit
etlichen Jahren vorgetragen. Ich selbst hatte als Staatsse-
kretär 1999 die Gelegenheit, im Vermittlungsausschuss
mit den Vertretern des Bundesrates über die Verlänge-
rung der Geltungszeit des Gesetzes zu diskutieren, und wir
sind zu einem Kompromiss – Verlängerung bis 31. Dezem-
ber 2004 – gekommen. Aber auch aus Ihren Reihen sind
schon damals rechtliche Bedenken vorgetragen worden.
Wir sollten deshalb nicht darum kämpfen, ob die Gel-
tungsdauer des Gesetzes nun bis 2009 oder bis 2010 ver-
längert werden soll.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wir wollen es nicht verlängern, wir wollen es übernehmen!)


In Vorbereitung auf die heutige Diskussion habe ich
mich auch mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
beschäftigt, in dem es allerdings – Sie wissen das – nicht
um das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz,
sondern um das Investitionsmaßnahmegesetz geht,


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist etwas ganz anderes!)


in dem aber in vier Kapiteln extra auf das Verkehrswege-
planungsbeschleunigungsgesetz abgehoben wird. Darin
wird detailliert dargelegt, dass es nur für ein begrenztes
Gebiet und für eine begrenzte Zeit gilt. – Herr Friedrich,
ich habe ja vom Urteil zum Investitionsmaßnahmegesetz
gesprochen und stimme Ihnen insofern ausdrücklich zu,
dass das etwas anderes ist.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Darum geht es hier gar nicht!)


Das Urteil liegt mir schriftlich vor. – Kollege Oswald, ich
bin der letzte Redner und ich möchte meinen Debatten-
beitrag hier zu Ende bringen, auch weil ich mit Ihnen ja
darin übereinstimme, dass das Investitionsmaßnahmege-
setz etwas anderes ist,


(Horst Friedrich [Bayreuth[ [FDP]: Meinen Sie mich oder den nicht mehr anwesenden Kollegen Oswald?)


aber im Urteil wird auch auf das Verkehrswegeplanungs-
beschleunigungsgesetz abgehoben. – Entschuldigung, ich
meine natürlich Horst Friedrich.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502808100

Wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen?


Siegfried Scheffler (SPD):
Rede ID: ID1502808200

Nein, ich möchte meine Rede fortsetzen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Kalt erwischt, Herr Kollege!)


Ich habe mich in Vorbereitung auf diese Debatte beim
4. und beim 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in
Leipzig sehr detailliert sachkundig gemacht.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Offenbar nicht!)


Wir stimmen ja in einigen Dingen überein, Kollege
Friedrich. Außerdem hatte ich heute ein längeres Ge-
spräch mit dem Präsidenten des Bundesverwaltungsge-
richts, Herrn Hien, geführt. Herr Präsident Hien war – das
sage ich jetzt vielleicht ein bisschen flapsig – schlichtweg
entsetzt über eine eventuelle Geltungsdauer bis 2019 und
– jetzt komme ich zum Antrag der FDP – über die Aus-
weitung auf die alten Bundesländer.

Weil es auch im öffentlichen Raum sehr viele rechtli-
che Bedenken gibt, möchte ich darum bitten, dass wir uns
an das halten, was wir selbst uns als Bundesgesetzgeber
auf die Fahne geschrieben haben. Der Deutsche Bundes-
tag hat in seiner 63. Sitzung am 28. Oktober 1999 – das ist
vielleicht für die Kolleginnen und Kollegen von der FDP
sehr interessant – im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens
eine Beschlussempfehlung angenommen, aus der ich jetzt
zitiere:

Die Bundesregierung wird gebeten, dem Bundestag
ein Jahr vor dem Auslaufen des in seiner Gültigkeit
verlängerten Verkehrswegeplanungsbeschleunigungs-
gesetzes, das heißt bis zum 31. Dezember 2003, ei-
nen Erfahrungsbericht vorzulegen, der Aufschluss
über die nach diesem Gesetz geplanten Verkehrspro-
jekte und die beschleunigten Effekte nach diesem
Gesetz gibt.

Interessant ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
FDP, dass der Entschließungsantrag seinerzeit von Ihrer
Fraktion eingebracht wurde.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Das haben sie vergessen! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Niemand hindert uns daran, die Erkenntnisse schneller zu haben!)



(A)



(B)



(C)



(D)


2176


(A)



(B)



(C)



(D)






– Das ist ja auch vernünftig. Sie brauchen sich doch gar
nicht zu überholen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Warum denn nicht?)


In der DDR gab es früher das Schlagwort „Überholen
ohne einzuholen“. Nach dem Motto handeln Sie jetzt ein
bisschen.


(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Der Minister hat selber festgestellt, dass die Erfahrungen positiv sind! Da stimmen wir ihm ausdrücklich zu! – Dem stimmen wir doch allgemein zu. Trotzdem haben wir keine Eile. Wir sollten ganz gelassen den Bericht der Bundesregierung abwarten, der spätestens zum 31. Dezember vorliegen wird. Die Bundesregierung hat ja schon signalisiert, dass er eventuell früher vorliegt. Vor allen Dingen sind auch die Länder – auch da habe ich selbstverständlich nachgefragt – nicht in der Lage, vor dem im Bundesrat vereinbarten Termin 30. Juni 2003 der Bundesregierung zuzuarbeiten. Wir müssen doch den Ländern und der Bundesregierung die notwendige Zeit geben, Fakten zusammenzutragen und diesen Bericht dem Deutschen Bundestag zuzuleiten. Das ist die Grundlage, um über das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz in einem ganz normalen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren diskutieren und dann entscheiden zu können. Es muss – ich glaube, darüber sind wir uns alle einig – eine Verlängerung geben. Über alle anderen Fragen, beispielsweise über Zeitraum, Ausdehnung und die rechtlichen Bedenken, sollten wir gemeinsam nach Vorliegen des Berichtes diskutieren. Wir müssen natürlich sehen, dass es, wenn man zukünftig die Zuständigkeit nur einer rechtlichen Instanz auf ganz Deutschland ausdehnen sollte, einen riesigen Verwaltungsaufwand und -stau und, wie ich glaube, auch juristische Probleme für das Bundesverwaltungsgericht geben wird. Deshalb nochmals, liebe Kolleginnen und Kollegen: Lassen Sie uns ganz gelassen die Berichte abwarten. Darüber werden wir dann Anfang des Jahres 2004 diskutieren. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502808300

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 15/265, 15/280, 15/221 und 15/461 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten

Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes
– Graffiti-Bekämpfungsgesetz – (... StrÄndG)

– Drucksache 15/404 –

Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen

b) Beratung des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP
Für eine Internationale Sicherheitsinitiative für
Nordostasien
– Drucksache 15/469 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 d sowie Zu-
satzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 12 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 15 zu Petitionen
– Drucksache 15/424 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 15 ist damit einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 12 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 16 zu Petitionen
– Drucksache 15/425 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 16 ist ebenfalls einstimmig
angenommen.

Tagesordnungspunkt 12 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 17 zu Petitionen
– Drucksache 15/426 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 17 ist ebenfalls einstimmig
angenommen.

Tagesordnungspunkt 12 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Siegfried Scheffler




Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Sammelübersicht 18 zu Petitionen
– Drucksache 15/427 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Sammelübersicht 18 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionen
von CDU/CSU und FDP angenommen.

Zusatzpunkt 4:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

zu den Streitsachen vor dem Bundesverfas-
sungsgericht 2 BvE 1/02 und 2 BvE 2/02
– Drucksache 15/479 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt (Mülheim)


Der Rechtsausschuss empfiehlt, in den verfassungsge-
richtlichen Verfahren Stellung zu nehmen und den Präsi-
denten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu be-
stellen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup),
Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Seesicherheit optimieren – nationaler und euro-
päischer Handlungsbedarf nach Tankerunter-
gang der Prestige
– Drucksachen 15/192, 15/370 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-
nungswesen (14. Ausschuss) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zur „Maritimen
Sicherheit auf der Ostsee“
– Drucksachen 14/9487, 15/345 Nr. 69, 15/488 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen (Bönstrup)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Wolfgang Börnsen von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Wolfgang Börnsen (CDU):
Rede ID: ID1502808400

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Der folgenreiche Untergang des Ölgroßtankers „Prestige“

vor der Küste Spaniens hat auch die Bürger unseres Lan-
des erkennen lassen: Wir leben in Sachen Seesicherheit
auf einem Pulverfass. Der Schiffsverkehr nimmt welt-
weit zu, Öl- und Chemikalientanker werden immer größer
und 40 Prozent der Welttankerflotte sind älter als 20 Jahre.
Meldungen über Seeunfälle reißen nicht mehr ab. Seit der
Havarie der „Prestige“ vor drei Monaten hat es fünf wei-
tere Schiffsunglücke in europäischen Meeren gegeben.
Wir sind derzeit nur einen Herzschlag von neuen Seeka-
tastrophen entfernt. Die Bedrohung für Mensch und Na-
tur wächst täglich. Die Bundesregierung und die EU-
Kommission reagieren auf diese Herausforderung mit
Ankündigungen und Absichtserklärungen. Das reicht
nicht aus.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Können, müssen und sollen – Stolpe muss endlich han-

deln und nicht nur wollen. Die Bürger wollen keine Be-
schreibung der Handlungsmöglichkeiten nach Ölkatastro-
phen auf See. Sie wollen den Vollzug von Maßnahmen.
Dazu gehören: Einhüllentanker gehören weltweit außer
Dienst gestellt,


(Beifall bei der CDU/CSU)

in gefährlichen Seegebieten ist sofort eine Schiffsmelde-
und Lotsenpflicht einzuführen, Radar- und Schiffsidenti-
fizierungssysteme sind in Risikoregionen auf See sofort
und unverzüglich zu installieren und schrottreife Seelen-
verkäufer haben auf Weltmeeren nichts mehr verloren.


(Beifall bei allen Fraktionen)

Wir benötigen endlich eine europäische Küstenwache.
Nationale Schutzmaßnahmen reichen nicht mehr aus. Wir
wollen keine Diskriminierung der Seeschifffahrt und
keine Einschränkung des Seehandels. Wir wollen aber,
dass den fliegenden Holländern auf See endlich das Hand-
werk gelegt wird.

Bereits vor dem verheerenden Ölunfall des Tankers
„Erika“ vor Frankreichs Küste im Jahre 1999 haben
Union und FDP auf die Schwachstellen der Seesicherheit
aufmerksam gemacht. Ich will zugestehen, dass es in
Randbereichen Verbesserungen für mehr Seeschutz gege-
ben hat. In der grundsätzlichen Gefahrenabwendung hat
sich seitdem aber fast gar nichts getan. So ist es bei der
Deadline für Einhüllentanker im Jahre 2015 geblieben.
Wir sagen: Das ist viel zu spät. Der Termin ist vorzuzie-
hen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Nach Angaben des Werftenverbandes könnte die Umrüs-
tung der Welttankerflotte auf Doppelwandboote in
dreieinhalb Jahren erfolgen.

Bei vier Verkehrsministern, die Herr Schröder in fünf
Jahren hat anmustern lassen, kann es weder ein Konzept
noch eine Kontinuität für mehr Seesicherheit geben. Es
brauchte vier Jahre, um nach dem Unglück der „Pallas“
das Havariekommando in Cuxhaven einzuführen. Vier
verlorene Jahre lagen dazwischen. Bei diesem Kom-
mando handelt es sich um ein Managementsystem bei
Seeunfällen. Unter anderem sollen ökologische Seeschä-
den eingedämmt werden. Schutzmaßnahmen sind nach
unserer Auffassung nur ein Teil der optimierten See-


(A)



(B)



(C)



(D)


2178


(A)



(B)



(C)



(D)






sicherheit. Die eigentliche Ausrichtung von Seesicherheit
muss es sein, Seeunfälle zu verhindern, also vorzubeugen.


(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der FDP)


Das ist zum Beispiel auch eine verdienstvolle Forde-
rung der Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste. Es
geht bei uns wie in anderen Ländern auch um ein ganz-
heitliches Sicherheitssystem. Es geht um Safety and
Security und nicht nur um einen Teil davon.

Die Union verfolgt mit ihrem heutigen Antrag dieses
Ziel. Er wird von der Mehrheit des Hauses heute abge-
lehnt werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Unverständlich!)

Nach dem parlamentarischen Verständnis von Rot-Grün
darf es einen Erfolg der Opposition nicht geben. Vor vier
Wochen haben wir einem ähnlichen Antrag von Rot-Grün
zugestimmt, weil man nach unserer Auffassung bei der
nationalen Sicherheit endlich die parteipolitischen Scheu-
klappen ablegen muss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Der Antrag war auch vernünftig! – Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Um den Karren aus dem Dreck zu ziehen, sind wir gerade noch gut genug!)


Ich komme zur Sache zurück. Über 25 000 Tonnen gif-
tigen Schweröls sind durch den Untergang des Großtan-
kers „Prestige“ ins Meer und an die Küste gelangt. 50 000
Tonnen befinden sich noch in den Tanks. Das Wrack liegt
in einer Tiefe von 3 600 Metern. Täglich strömen noch
große Mengen Öl aus. Die Ölpest ist nicht zu Ende. Die
Begrenzung der Katastrophe durch das Einschleppen der
„Prestige“ in einen Nothafen hat es nicht gegeben, weil es
eine verbindliche Nothafenregelung weder national,
noch europäisch, noch international gibt.

Seit den Unglücken der „Pallas“ und der „Erika“ ist
dieser Tatbestand bekannt, als sich dänische und französi-
sche Häfen weigerten, die Havaristen aufzunehmen. Vier
Jahre lang hat es durch die Bundesregierung Problembe-
schreibungen, aber keine wirklichen Problemlösungen
gegeben. Auch jetzt noch weigert sich Bundesminister
Stolpe, Nothäfen zu benennen, obwohl ihn die EU-Kom-
mission dazu verpflichtet hat. In einer Antwort auf meine
Anfrage hat man mir gestern mitgeteilt, man sei dabei,
Daten zu sammeln. Eine Benennung der angekündigten
40 Nothafenliegeplätze gibt es nicht.

Dabei hätte ein Ölunfall vom Ausmaß der „Prestige“ im
ökologisch hochsensiblen Wattengebiet der Nordsee ebenso
verheerende Folgen wie im Fastbinnenmeer der Ostsee. Von
einer solchen Katastrophe sind wir derzeit nur einen Wim-
pernschlag entfernt. Täglich passieren Risikogroßtanker im
Alter der „Prestige“ von 26 Jahren in der Kadetrinne zwi-
schen dem dänischen Falster und dem deutschen Darß diese
enge, gefährliche Zone. In dieser Gefahrenzone gibt es pro
Jahr 65000 Schiffsbewegungen, davon sind 8200 Tanker.
Es ist eine der am stärksten befahrenen und eine der gefähr-
lichsten Schiffsrouten in Europa.

Es gibt weder eine Meldepflicht noch eine Lotsenan-
nahmepflicht, weder eine ausreichende Radarüberwa-

chung noch ein funktionierendes Schiffsidentifizierungs-
system. Tag für Tag sind hier aber tickende Zeitbomben
unterwegs. Einhüllengroßtanker gehören dazu. Das
„Flensburger Tageblatt“ schrieb von „Öl-Geisterschif-
fen“. Nicht Sicherheitslücken registrierte Greenpeace in
einer kenntnisreichen Dokumentation in diesem Seege-
biet, sondern ein dramatisches Sicherheitsloch.

Russland blockiert seit Jahren durch seine Verweige-
rung der Kooperation eine europäische Ostsee-Sicher-
heitslösung. Ich hätte mir gewünscht, dass Bundeskanzler
Schröder bei seinen häufigen Gesprächen mit Putin dieses
Fehlverhalten Russlands zur Sprache gebracht hätte; denn
nur internationale Abkommen helfen der Ostsee.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Öl- und Gastransport von russischen Häfen durch die
Ostsee wächst sprunghaft an. Die Sicherheit jedoch
wächst nicht mit. Im Gegenteil: Da unter anderem die Ver-
einigten Staaten ein Einlaufverbot für Einhüllentanker
praktizieren, steigt die Anzahl der Risikoschiffe im euro-
päischen Raum. Überspitzt formuliert: Der Schrott weicht
nach Europa aus. Das ist der Tatbestand.

Auch die „Prestige“ hatte Schweröl aus Russland ge-
bunkert. Doch statt knallhart und konsequent wie die
Amerikaner zu reagieren, beklagen EU-Kommission und
leider auch die Bundesregierung die Lage und entschei-
den nur zögerlich. Man kann, man müsste, man sollte –
Fachmann dafür ist Bundesverkehrsminister Stolpe.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Als in diesen Tagen der russische Öltanker „Minerva

Nounou“ mit 100 000 Tonnen Rohöl im finnischen Meer
im Eis festsaß, hat es Moskau abgelehnt, einen Eisbrecher
zu entsenden. Dabei war die Lage überaus dramatisch.
Der in Griechenland registrierte Tanker war nur für Eis-
stärken bis 30 Zentimeter zugelassen. Er hätte bei einer
Eisdecke von 60 Zentimetern und einem Packeis von
2 Metern gar nicht auslaufen dürfen. Nur unter großem
Einsatz gelang es Finnland, die Fahrrinne freizumachen.
Damit ist in letzter Minute eine Ölkatastrophe in der Ost-
see verhindert worden. Einhüllentanker gehören nicht in
die Ostsee!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Die Verweigerung Russlands kann von niemandem ge-
duldet werden. Gemeinsame Seesicherheit ist das Gebot
für alle Ostseeanrainer. Dazu gehört auch ein verstärkter
Schutz bei Risikoschiffen vor terroristischen Angriffen
und Piraterie. Der Terroranschlag auf den französischen
Tanker „Limbourg“ im Jemen hätte auch in Kiel oder
Cuxhaven passieren können. Das Attentat auf den US-
Zerstörer „Cole“, bei dem 17 US-Soldaten ums Leben ge-
kommen sind, wäre auch in Warnemünde und Wilhelms-
haven möglich gewesen.

An Nord- und Ostseeküste registrieren wir jährlich
mehr als 200 000 Schiffsbewegungen, im Nord-Ostsee-
Kanal fast 35 000. Weder das Havariekommando noch die
beiden Bundesküstenwachen, die Landesküstenwachen
und die Zentren der Wasserschutzpolizeien sind dafür

Wolfgang Börnsen (Bönstrup)





Wolfgang Börnsen (Bönstrup)

ausreichend ausgerüstet und mit genügend Kompetenzen
ausgestattet.

Die Union bleibt dabei: Wir benötigen mehr denn je
eine nationale Küstenwache bzw. ein Seesicherheitszen-
trum, das Bundesgrenzschutz und Bundesmarine mit
einschließt. Derzeit scheint die Bundesregierung aber
keine Kraft zu haben, durch einen Staatsvertrag oder eine
Grundgesetzänderung dafür zu sorgen.

Die zunehmende Bedrohung durch terroristische
Anschläge, um die Seetransportkette zu zerstören, ver-
langt aber auch eine Überprüfung der Trägerkompetenz.
Ist es eigentlich in Zukunft vertretbar, dass der Verkehrs-
minister dafür zuständig ist, oder wäre nicht eventuell der
Bundesinnenminister mit seinen 30 Sicherheitsboten bes-
ser dafür geeignet?

Auf jeden Fall gilt: Zur Sicherheit der Bürger, zum
Schutz der Meere, zur Aufrechterhaltung des Seehandels
und um unserer Verantwortung für eine intakte Umwelt
gerecht zu werden, benötigen wir eine Seesicherheit, die
Safety and Security umfasst.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502808500

Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin

Angelika Mertens.

A
Angelika Mertens (SPD):
Rede ID: ID1502808600


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Lieber Herr Börnsen, man könnte fast glauben, den
Ostseeverkehr gäbe es erst seit 1998.


(Annette Faße [SPD]: Sehr richtig!)

Sie reagieren mit einer Aufgeregtheit, Schärfe und Bitter-
keit, die ich aus Ihrer Sicht fast verstehen kann. Ich habe
nämlich in den Debatten über die Schiffssicherheit aus
den vergangenen Jahren nachgelesen. Dabei ist mir eine
Debatte aus dem Jahre 1993 besonders aufgefallen, in der
Sie ähnliche Forderungen wie eben erhoben haben.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr ordentlich!)


In Ihrer Fraktion sind Sie damit jedoch nicht durchge-
drungen.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Börnsen, jetzt werden Sie eingeholt!)


Sie können aber jetzt ganz entspannt zuhören, wenn ich
vortrage, welche Maßnahmen wir ergriffen haben.

Zu den Nothäfen möchte ich anmerken – ich habe die
Unterlagen gestern unterschrieben –, dass wir keine Not-
häfen ausweisen. Das macht übrigens mit Ausnahme von
Norwegen niemand. Wir haben Ihnen in unserer Antwort
deutlich gemacht, dass wir Notliegeplätze vorhalten. Da
Sie von der Küste stammen, ist Ihnen sicherlich bekannt,
dass jede Reede und jeder Hafen als Notliegeplatz dienen
können.

Vielleicht können wir aber noch einmal sozusagen bi-
lateral über dieses Thema sprechen, damit Sie uns nicht
vorwerfen, wir würden keine Nothäfen ausweisen. Es
muss immer eine Einzelfallentscheidung getroffen wer-
den. Havarierte Schiffe mit bestimmten Problemen kön-
nen nicht überall hingebracht werden. Insofern rate ich zu
mehr Gelassenheit.

Die Ostsee ist ein junges und flaches Gewässer, das
erst vor ungefähr 17 000 Jahren entstanden ist. Die Küsten
sind einmalig. Es gibt Fjorde und Schärenküsten, die Bod-
denküste in Mecklenburg-Vorpommern, die Förde in
Schleswig-Holstein, das Kliff und die Ausgleichsküsten,
an denen man so schön am Strand liegen kann. Auch die
Haff- und Nehrungsküste gehört dazu.

Es ist also eine einzigartige Küste, die wir in zweifa-
cher Hinsicht schützen müssen. Wir müssen sie aus öko-
logischen wie auch aus ökonomischen Gründen schützen.
Denn Küstenregionen sind bei uns in der Bundesrepublik
traditionell strukturschwach. Deshalb kommt dem Touris-
mus eine besondere Bedeutung zu. Gerade auch deshalb
müssen wir bei der Sicherheit auf der Ostsee hohe Maß-
stäbe anlegen.

Der vorliegende Bericht gibt Auskunft über internatio-
nale, nationale wie auch regionale Maßnahmen. Er gibt
auch Auskunft über Maßnahmen, die sich derzeit in der
Umsetzungsphase befinden. Wir haben schon viel er-
reicht. So haben wir das Maßnahmenpaket Erika I bereits
vollständig umgesetzt und befinden uns derzeit in der
Umsetzung von Erika II. Wir betreiben die Umsetzung
mit Hochdruck und sind ebenfalls mit Hochdruck mit der
schnellen Umsetzung des im Dezember vergangenen Jah-
res vom Europäischen Rat beschlossenen Maßnahmenpa-
kets zu mehr Sicherheit auf See befasst.

Wir ziehen also durchaus Konsequenzen aus den
schweren Schiffsunglücken, vor allen Dingen aus dem der
„Prestige“. Diese Maßnahmen werden sich auch nachhal-
tig auf die Ostsee auswirken.

Neben der bereits erwähnten Beschleunigung der be-
schlossenen Maßnahmen wurden und werden weitere
Schritte unternommen, zum Beispiel die Optimierung der
Schiffswegeführung in der Kadetrinne. Im Rahmen die-
ser Maßnahme wurde eine Verlängerung des Verkehrs-
trennungsgebietes vorgenommen, die auch von der IMO
angenommen wurde. Diese Regelung trat schon im Januar
letzten Jahres in Kraft. Es handelt sich um so etwas wie
einen virtuellen Mittelstreifen. Er hat sich bis jetzt wirk-
lich bewährt; seitdem ist dort nichts mehr passiert.

Es bleibt aber immer ein Restrisiko. Dieses Restrisiko
noch weiter zu minimieren muss eine vordringliche Auf-
gabe sein. Wir streben deshalb eine Lotsannahmepflicht
für Tankschiffe in der Kadetrinne und auch auf anderen
kritischen Schifffahrtswegen an.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


Daher begrüßen wir natürlich auch den Antrag, der ges-
tern im Ausschuss gestellt wurde.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Gemeinsam!)



(A)



(B)



(C)



(D)


2180


(A)



(B)



(C)



(D)






– Den gemeinsamen Antrag; genau, Herr Goldmann. – Im
Interesse aller Ostseeanrainer ist es, zum Beispiel so ge-
nannte unternormige Schiffe von der Ostsee fernzuhalten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


Ein großer Erfolg ist die weltweit verbindliche Ein-
führung der Pflicht zur Ausrüstung mit einem automati-
schen Schiffsidentifizierungssystem. Tankschiffe wer-
den ab 1. Juli dieses Jahres damit ausgerüstet sein müssen,
alle anderen spätestens bis Dezember 2004. Die landge-
stützten AIS-Stationen werden voraussichtlich bis Ende
2003 in Betrieb gehen; so lange wird Warnemünde diese
Aufgabe übernehmen.

Wir haben internationales Lob für die Einrichtung ei-
nes Havariekommandos bekommen. Frau Kollegin
Annette Faße wird darüber sicherlich noch Auskunft ge-
ben, zumal dieses Kommando in Cuxhaven angesiedelt
ist.


(Enak Ferlemann [CDU/CSU]: Das ist das Schöne daran!)


Es gab noch nie eine so gute Ausstattung wie jetzt; dies
gilt für Nord- und Ostsee.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. HansMichael Goldmann [FDP])


In der Ostsee sind zwei moderne Notschlepper in Rostock-
Warnemünde und Saßnitz stationiert. Ich habe mir neulich
die „Fairplay 26“ angesehen; sie ist ein sehr interessantes
Schiff. Ein Notschlepper ist in der Kieler Förde statio-
niert. Hinzu kommen die „Scharhörn“ und der Neubau ei-
nes notschleppfähigen Mehrzweckschiffes, das wir im
Jahre 2004 in Betrieb nehmen wollen.

Ich wünsche mir noch mehr Prävention, damit die Be-
satzungen der eben genannten Schiffe, der Schlepper auf
der Nordsee sowie der Schiffe der Deutschen Gesellschaft
zur Rettung Schiffbrüchiger nicht nur jederzeit eine
Handbreit Wasser unter dem Kiel, sondern möglichst auch
immer eine ruhige Wache haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502808700

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Goldmann von

der FDP-Fraktion.


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1502808800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Erst einmal möchte ich der Deutschen Seeree-
derei in Rostock, die heute einen parlamentarischen
Abend durchführt, zu ihrem 50-jährigen Jubiläum herzli-
che Glückwünsche aussprechen.


(Beifall)

Dieser Anlass passt deshalb gut zu unserem heutigen
Thema, weil es um die Sicherheit der in diesem Bereich
tätigen Menschen und Unternehmen geht. Dazu gehört,

dass unsere Wasserwege, dass unser maritimer Sektor ins-
gesamt Sicherheit ausstrahlt.

Mein Redebeitrag folgt dem Motto: Wir sind auf einem
guten Wege – ich betone das „wir“ –, aber wir müssen
noch besser werden. Ich bin froh darüber, dass die FDP-
Fraktion ihre Oppositionsrolle bei der anstehenden Auf-
gabenstellung besonders engagiert wahrgenommen hat.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU])


Wir haben viele Kleine Anfragen und Anträge gestellt und
Kongresse durchgeführt. Heute können wir gemeinsam
feststellen, dass SPD und Grüne wie auch CDU/CSU und
FDP den richtigen Weg eingeschlagen haben. Erste
Schritte haben bereits zu Verbesserungen geführt. Wir ha-
ben aber auch noch viel zu tun; Kollege Börnsen hat das
am Beispiel der Einhüllentanker deutlich gemacht. Ich bin
mit ihm einer Meinung, weise aber darauf hin, dass die
Umsetzung nicht ganz so einfach wie die Verkündung der
Botschaft ist.

Im Bereich der IMO, der Internationalen Maritimen
Organisation, sind wir Vorreiter geworden. Das ist eine
gute Entwicklung. Wir müssen um eine Lotsannahme in
der Kadetrinne kämpfen. Ich denke, darin sind wir uns
völlig einig. Wir haben aber zum Beispiel auch eine
höhere Eigentümerverantwortung bei der Entsorgung der
Schiffswracks erreicht. Bei den Notfallschleppern sind
wir ebenfalls auf einem richtigen Weg. Ich bin froh, dass
wir den Kampf um den Tiefgang erfolgreich abgeschlos-
sen haben und dass die unsinnige Tiefgangsbeschränkung
von sechs Metern gefallen ist. Auch bin ich froh, dass wir
bei den Hafenstaatkontrollen eine gute Bilanz vorzuwei-
sen haben und bei den Notliegeplätzen wohl ebenfalls auf
dem richtigen Wege sind. Es könnte in diesem Bereich al-
lerdings noch ein bisschen konkreter, handfester und
praktischer werden.

Bei der Sicherheitsfrage stehen wir vor neuen He-
rausforderungen. Sie wissen, dass unsere Häfen Anstren-
gungen unternehmen müssen, um der Terrorismusgefahr
zu begegnen. Dadurch kommen Kosten auf die Hafenbe-
treiber und natürlich auch auf diejenigen zu, die diese Hä-
fen anlaufen. Es berührt mich schon sehr, dass nun auch
in deutschen und europäischen Häfen Großcontainerkon-
trollen durchgeführt werden müssen. Auch angesichts
dessen sollten wir nicht auseinander driften, sondern Ge-
meinsamkeit in der Sache herstellen, um diesen Bereich
so sicher wie möglich zu gestalten: zum Wohle unseres
Landes, zum Wohle der Umwelt und auch zum Wohle der
Schifffahrt insgesamt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Lassen Sie mich noch ein Wort zum Havariekom-
mando sagen. Wir finden es gut, dass es das Havarie-
kommando gibt. Wir werden im Mai einen Kongress dazu
durchführen; ich werde Kollegen, die sich mit dem mari-
timen Bereich befassen, zur Teilnahme daran einladen. Wir
werden danach ein Fazit ziehen müssen, ob wir den Weg mit
dem Havariekommando weiter beschreiten oder ob wir
eventuell zu der von Ihnen, Herr Börnsen, angesprochenen
nationalen Küstenwache kommen. Diesbezüglich gibt es

Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens




Hans-Michael Goldmann
sicherlich unterschiedliche Positionen. Mir geht es im
Grunde genommen darum, dass wir gemeinsam für ein
Durchgriffsrecht des Chefs des Havariekommandos sor-
gen, damit klar ist, dass eine von ihm gegebene Anwei-
sung zum Einschreiten gilt und umzusetzen ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Alle vor Ort müssen dann wissen, dass der Mann befugt
ist, Anweisungen zu geben. Auch die rechtlichen und ver-
sicherungsrechtlichen Bedingungen sind so auszugestal-
ten, dass sich dies so effektiv durchsetzen lässt, wie wir es
uns gemeinsam wünschen.

Im Zusammenhang mit dem Gesichtspunkt Sicherheit
dürfen wir den Bereich der Ausbildungsqualität derjeni-
gen, die auf den Schiffen fahren, nicht aus den Augen ver-
lieren. IMO-Übereinkommen sind gut, aber wir müssen
sicherlich noch einmal darüber nachdenken, ob das
STCW-Übereinkommen in seiner Ausrichtung so klug
angelegt ist, wie es notwendig ist.

Die CDU/CSU hat heute einen Antrag zum „Prestige“-
Unglück vorgelegt. Ich habe im Lexikon nachgesehen,
was Prestige bedeutet, wenn es keine Schiffsbezeichnung
ist. Positiv ausgedrückt bedeutet es Ansehen und Geltung,
negativ ausgedrückt bedeutet es Blendwerk. Ich wähle
den Mittelweg: In dem Antrag stehen viele schöne Dinge;
wir aber sollten das Machbare schnellstens realisieren.

Lassen Sie uns gemeinsam für die ökonomischen Wei-
chenstellungen auf der Basis von mehr Sicherheit arbei-
ten. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass der maritime
Bereich für Deutschland einer der großen Zukunftsberei-
che überhaupt ist. Dieser Bereich muss sicher sein; nur
dann kann er seine Qualität entfalten.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502808900

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock von

Bündnis 90/Die Grünen.

(Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Das ist ein Mann, der eine leidvolle Erfahrung hinter sich hat! Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kol-
lege Börnsen, wir wissen, dass Sie ein begnadeter Frei-
zeitkabarettist sind. Es macht wirklich immer wieder
Spaß, Ihnen an dieser Stelle zuzuhören.


(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie sollten die Sache etwas ernster nehmen, Herr Kollege!)


Unser Problem besteht nicht darin, dass wir in den Zielen
nicht übereinstimmten. Aufgrund der vielen Debatten, die

wir darüber geführt haben, wissen Sie, dass wir in Bezug
auf die Erfordernisse der Schiffssicherheit deckungsglei-
che Positionen haben. 80 bis 85 Prozent dessen, was die
CDU/CSU in ihrem Antrag hier vorgelegt hat, können wir
unterschreiben. Das Problem ist jedoch, dass Sie diese
Debatten immer noch dazu benutzen, populistisch zu
agieren.

Die Ausführungen in dem CDU/CSU-Antrag zu dem
Havariekommando in Cuxhaven sind in der Sache falsch.
Die Beschimpfungen in Richtung der schleswig-holstei-
nischen Landesregierung sind so falsch wie überflüssig.
Auch das, was Sie zum Standort der europäischen
Schiffssicherheitsagentur, der EMSA, sagen, geht an der
Sache vorbei. Wenn Sie all das rausgelassen hätten, hät-
ten wir uns auch verständigen können, denn wir sind uns
ja einig:

Die Häfen in Europa werden in jedem Jahr von Schif-
fen mit einer Gesamtladung von 800Millionen Tonnen Öl
angelaufen. Der gefährlichste und giftigste Teil dieser
Fracht, 15 Prozent von diesen 800Millionen Tonnen, sind
Schweröle, also schwere Heizöle und schwere Rohöle.
Auf diesen Schiffen befindet sich im Grunde genommen
Sonderabfall und je giftiger die Fracht ist, desto älter und
unsicherer sind die Pötte, auf denen die Fracht befördert
wird. Das ist ein unerträglicher Zustand. Die Sicherheit
der Schiffe auf unseren Meeren ist mit dem Begriff
„Russisches Roulette“ zum Teil noch sehr harmlos um-
schrieben.

Wir müssen alle gemeinsam die Sicherheitsstandards
erhöhen. Das ist überhaupt keine Frage. Deshalb bin ich
froh, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag vorliegen
haben. Ich weiß auch Ihre Initiative, Herr Börnsen, sehr
zu schätzen.

Ich möchte Ihnen zur Illustration einen kurzen Auszug
aus einem Bericht in der „Deutschen Schifffahrtszeitung“
über einen Prozess vorlesen. Darin wird ein Kapitän be-
fragt, der sagt:

Ich hatte keine Ahnung, dass das Wrack dort lag. Ich
sah einige Leuchttonnen, verstand aber deren Bedeu-
tung nicht und warum sie dort lagen. Ich versuchte,
den Kurs nach Steuerbord zu ändern. Die Sicht war
normal und ich konnte Brandung sehen. Plötzlich
wusste ich, dass es sich um ein Wrack handeln
musste.

Das war die Aussage des Kapitäns der „Vicky“ – der
Tanker war mit 70 000 Tonnen Kerosin beladen –, die vor
wenigen Wochen auf das Wrack der „Tricolor“ aufgelau-
fen ist. So hat der Kapitän die Situation wahrgenommen.
Das kann nicht wahr sein.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)

Deshalb muss die Frage danach, was auf den Schiffen

los ist – der Kollege Goldmann hat das bereits angespro-
chen –, ernsthaft aufgegriffen werden. Häufig sind die
Schiffe sicher, aber die Besatzung ist nicht in der Lage,
Gefahrensituationen zu erkennen. So war es im Ärmelka-
nal, aber auch in der Kadetrinne in der Ostsee, obwohl
dort jede halbe Stunde gewarnt wird. Kapitäne und Be-
satzungsmitglieder, die nicht in der Lage sind, gefährliche


(A)



(B)



(C)



(D)


2182


(A)



(B)



(C)



(D)






Situationen richtig einzuschätzen, gehören nicht auf sol-
che Schiffe.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Schiffsbesetzungsverordnung betrifft also eine
zentrale Frage. Die EU ist auf dem Weg, die Mindestan-
forderungen an Zeugnisse von Seeleuten aus Drittländern
anzuheben. Darüber hinaus brauchen wir aber auch Ver-
einbarungen, um die Sprachanforderungen an die Schiffs-
besatzungen zu erhöhen. Es kann nicht sein, dass auf den
Schiffen keine Kommunikation zwischen den Beschäftig-
ten möglich ist. Es kann nicht sein, dass zwischen den
Schiffen oder zwischen Schiff und Land keine Kommuni-
kation möglich ist. Deshalb müssen wir gemeinsam mit
der EU an dieser Stelle nachbessern. Solche Ausbil-
dungsdefizite dürfen auf den Hightech-Tankern nicht vor-
handen sein. Während die Technologie auf den Schiffen
immer weiter entwickelt wurde, sind die Qualitätsanfor-
derungen an das Personal immer weiter gesunken. Das
kann so nicht weitergehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


An dieser Stelle sollten wir uns gemeinsam bemühen;
das Argument mit der Konkurrenz darf nicht mehr Platz
greifen. Hierbei spielt auch das Ausflaggen eine große
Rolle. Wir müssen möglichst viele Schiffe unter deutscher
Flagge behalten; dazu müssen wir aber die wirtschaftli-
chen Rahmenbedingungen im Auge behalten und die
Standards bezüglich der Qualifikation innerhalb der EU
angleichen.

Darüber hinaus brauchen wir den Zugriff auf die Flag-
genstaaten. Deshalb bin ich sehr dafür, ein externes Au-
dit vorzuschreiben. Bemühungen dazu gibt es in der IMO
bereits. Diese sollten wir unterstützen. Ein externes Audit,
das die Flaggenstaaten bei der Wahrnehmung ihrer Auf-
gaben kontrolliert, wird dazu führen, dass die Konkur-
renz, die heute mit Dumpingstandards auf ihren Schiffen
die Sicherheit unserer Küsten gefährdet, international
ausgeschlossen wird und die Flaggenstaaten tatsächlich
ihre Verantwortung übernehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten bei der SPD und der FDP)


Lassen Sie mich noch einige Stichworte anfügen: Es
gibt die Ausweisung von PSSA-Gebieten mit der Mög-
lichkeit, dort regulierend einzugreifen, bereits für die
deutsche Nordseeküste. Diese sollten wir auch in der Ost-
see verstärkt ausweisen, um besondere Auflagen für die
Schifffahrt durchzusetzen.

Daneben müssen wir die Hafenstaatkontrollen – auch
das ist schon gesagt worden – deutlich ausweiten. Darüber
hinaus sollten wir die Häfen in den baltischen Ländern
– ich stimme mit dem überein, was zu Russland gesagt
worden ist – stärker unterstützen, damit sie in die Lage
versetzt werden – sie wollen die Hafenstaatkontrolle aus-
üben, aber sie müssen dabei von uns verwaltungsmäßig
unterstützt werden –, diese strengen Kontrollen selber
durchzuführen.

Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung:
Bei der Begeisterung für den Schutz unserer Mee-
resumwelt durch verstärkte Anforderungen bei der
Schiffssicherheit sollten wir nicht außer Acht lassen, dass
die größte Belastung für unsere Meeresumwelt aus der At-
mosphäre und aus den Flüssen kommt. Aus ihnen kom-
men die Hauptschadstoffe, die immer noch jeden Tag
chronisch eingeleitet werden. Leider ist unsere Medien-
landschaft nicht so, dass die chronischen Beeinflussun-
gen, also das alltägliche Leiden unserer Meere, die ihnen
gebührende Aufmerksamkeit erhalten, sondern nur die
Skandale. Aber wir sollten das nicht außer Acht lassen,
wenn wir die Ursachen der Meeresverschmutzung ernst-
haft bekämpfen wollen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502809000

Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Kuhn von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Werner Kuhn (CDU):
Rede ID: ID1502809100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Ich habe sehr aufmerksam verfolgt, wie die
Frau Kollegin Staatssekretärin in ihrer Rede die Schiffs-
sicherheit auf der Ostsee beschrieben hat. Das hat mich
schon beeindruckt; denn während Sie behauptet haben,
man habe alles im Griff – ich füge hinzu: auf einem sin-
kenden Schiff –, bin ich der Meinung, dass hier Gefahr im
Verzug ist. Auf der Ostsee gibt es ständig 30Tanker. 60 Tan-
ker werden kontinuierlich beladen; in den Häfen und auf
See. Einer davon ist unter Garantie – das haben die wilden
Gesellen von Greenpeace anhand ihrer statistischen Erhe-
bungen nachgewiesen – ein so genannter Einhüllentanker
mit einem technischen Standard, wie ihn die „Prestige“
hatte. Ich sage Ihnen – Herr Steenblock hat das richtig
dargestellt –: Wir spielen russisches Roulette; denn es ist
nur eine Frage der Zeit, bis das nächste Tankerunglück mit
noch nie da gewesenen wirtschaftlichen und ökologi-
schen Schäden auf der Ostsee geschehen wird. Deshalb
muss schnell gehandelt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Dass Sie sich hier echauffieren, ändert nichts daran! Was soll diese künstliche Aufregung?)


Ich habe die Situation im Ausschuss so beschrieben,
wie ich sie wahrgenommen habe, als die „Prestige“ vor
der galizischen Küste auseinander gebrochen ist und
35 000Tonnen Schweröl die wunderbaren Strände und die
Fischgründe verseucht haben. Auch den Menschen an der
Ostsee, zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern und
in Schleswig-Holstein, stockte der Atem, als sie festge-
stellt haben, dass die „Prestige“, die in einem russischen
Erdölhafen betankt wurde, die Ostsee durch die Kadet-
rinne, einen der kompliziertesten Schifffahrtswege der

Rainder Steenblock




Werner Kuhn (Zingst)

Weltmeere, überquert hat. Wir haben großes Glück ge-
habt, dass dieses Schiff nicht vor unseren Küsten ausei-
nander gebrochen ist und dass sich nicht 35 000 Tonnen
Schweröl zwischen Darßer Ort und Gedser ausgebreitet
haben. Wenn das geschehen wäre, dann hätten Sie zu Fuß
nach Dänemark laufen können. Man kann also nicht ein-
fach behaupten, dass wir alles im Griff hätten, auch wenn
wir über entsprechende Schleppkapazitäten und Öl-
bekämpfungsschiffe verfügen. Hier muss sofort gehandelt
werden. Solche Tanker gehören auf die schwarze Liste und
müssen mit sofortiger Wirkung verboten werden.


(Beifall bei der CDU/CSU)

In dem Bericht der Bundesregierung wird Bedauern

über das Desaster bei der Havarie der „Baltic Carrier“
geäußert, die sich im Jahr 2001 in der Kadetrinne ereig-
nete. Darin steht weiter, dass man sofort etwas tun müsse.
Ich kann dazu nur sagen: Hier ist Deutschland noch ein-
mal mit einem blauen Auge davongekommen. Wenn der
Wind anders gestanden hätte, dann wären unsere Strände
verschmutzt gewesen. Vor den dänischen Stränden ergos-
sen sich damals 2 700 Tonnen Schweröl und Masut ins
Meer. Das war die größte Ölkatastrophe, die die Dänen je
zu bewältigen hatten. Was lernen wir daraus? Die Bun-
desregierung hat bisher keine Aktivitäten gezeigt. Bis
jetzt wurde keine Taskforce eingerichtet und es gab auch
keine wirkungsvolle Konferenz mit allen Ostseeanrainer-
staaten. Eine solche Konferenz müsste die Russische Fö-
deration zwingen, nicht nur ihre Erdölhäfen auszubauen,
sondern auch keine Seelenverkäufer für den Transport
von Erdöl auf den Weltmeeren einzusetzen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie wissen doch, dass die gar nicht mehr im Markt sind!)


– Das ist der entscheidende Punkt, Herr Goldmann. Das
hat nur wenig mit dem Unglück der „Prestige“ zu tun.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das wird der Sache nicht gerecht!)


Sie müssen sich einmal vorstellen, wie die Menschen
inMecklenburg-Vorpommern – das ist eine sehr struk-
turschwache Region –, deren einziges Faustpfand für die
wirtschaftliche Entwicklung die Naturschönheiten der
Ostseeküste sind und die darauf ihre gesamten wirtschaft-
lichen Aktivitäten ausgerichtet haben, auf solche Kata-
strophen reagieren, während sie täglich die Nachricht in
den Medien lesen und hören, dass der Transport von
Schweröl mit Tankern auf der Ostsee zunimmt. Es muss
deshalb sofort die Lotsenpflicht in der Kadetrinne ein-
geführt werden. Ich sage Ihnen: Wellen und Wogen ru-
schen wie mien Weigenlied. Ich bin in Zingst, also in un-
mittelbarer Nähe der Ostsee, zur Welt gekommen. Von
dort aus ist die Kadetrinne nur einen Steinwurf entfernt.
Sie müssen verstehen, dass die Menschen an der Küste
Sorge um ihre Existenz haben. Deswegen müssen wir so-
fort eingreifen. Ich fordere nicht nur das Einsetzen einer
Taskforce, sondern auch ein flächendeckendes Über-
wachungssystem, das auf den Hauptschifffahrtslinien
Radare einsetzt. Wir sind uns völlig einig darüber, dass
man nachvollziehen können muss, wo sich diese Frachter
tatsächlich bewegen.


(Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin: Das ist doch alles schon geregelt!)


– Das ist eben noch nicht geregelt; sonst wäre die
„Acushnet“ im Kattegat nicht auf Grund gelaufen. Kein
Mensch wusste genau, welche Ladung sie hat, welche
Route sie eingeschlagen hatte, wie die Besatzung ausge-
bildet ist, ob eine Hafenstaatkontrolle stattgefunden hat
und ob es ein GPS-System gibt, ohne das man in Amerika
überhaupt nicht mehr arbeiten kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Annette Faße [SPD]: Das ist vielleicht eine unglaubwürdige Debatte hier!)


– Das ist keine unglaubwürdige Debatte.
Ich muss darauf hinweisen, dass ich überhaupt nicht

verstehen kann, dass Herr Methling als Umweltminister
von Mecklenburg-Vorpommern einer der Avantgardisten
auf dem Gebiet der Offshore-Windkraftanlagen ist. Ich
halte diese Anlagen zwar für technisch vertretbar; aber ich
kann überhaupt nicht verstehen, dass in unmittelbarer
Nähe der Kadetrinne eine solche Anlage gebaut werden
soll. Sie ist ein zusätzliches Sicherheitsrisiko, mit dem wir
uns in Mecklenburg-Vorpommern überhaupt nicht einver-
standen erklären können.

Angesichts der Probleme, die bei der Kontrolle dieser
Tanker in den schwierigen Fahrwassern bestehen, ist
natürlich nicht nur eine ausreichende Schleppkapazität
notwendig; vielmehr brauchen wir für den Katastrophen-
fall auch mehrere funktionsfähige Ölauffangschiffe, un-
abhängig davon wie viel Öl ausläuft. Die „Strelasund“ ist
auf einer rheinland-pfälzischen Werft gebaut worden. Sie
liegt jetzt leider in Stralsund an der Kette und kann nicht
zum Einsatz kommen. Herr Minister, dort ist Gefahr im
Verzug. Sie müssen alles daransetzen, dass sämtliche
Garantieleistungen sofort erbracht werden. Wir können es
nicht hinnehmen, dass die mecklenburg-vorpommerische
Küste einem solchen Sicherheitsrisiko ausgesetzt wird.

Wir fordern das sofortige Verbot des Fahrens von
Einhüllentankern auf der Ostsee. Wir brauchen eine
United Coast Guard in der Europäischen Union. Sie
soll es schließlich in der Zukunft geben. Sie sagen, es han-
dele sich dabei um eine unglaubwürdige Forderung. Wo
sind Ihre Aktivitäten, bitte schön? Wenn es eine United
Coast Guard gäbe, dann hätte die Bundesmarine am
Skagerrak eine richtige Aufgabe. Sie würde verhindern,
dass Einhüllentanker auf der Ostsee fahren.

Unsere Forderungen lauten: Verbot der Einhüllentan-
ker, Lotsenpflicht für die Kadetrinne und sofortiger Voll-
zug aller notwendigen Maßnahmen, damit die deutsche
Ostseeküste geschützt wird.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so wie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502809200

Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Faße von der

SPD-Fraktion.


Annette Faße (SPD):
Rede ID: ID1502809300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

erinnere mich sehr gut an Debatten über dieses Thema, als


(A)



(B)



(C)



(D)


2184


(A)



(B)



(C)



(D)






wir in der Opposition waren. Damals haben wir, Gila
Altmann und ich, für den Hochseeschlepper „Oceanic“
gekämpft. Damals wurde sehr in Zweifel gezogen, dass
wir ein solches Schiff überhaupt brauchen. Es hieß – da-
ran erinnere ich mich sehr gut –: Unsere Konzepte für
die Nordsee sind super; es besteht kein Handlungsbe-
darf.

Heute ist Deutschland nicht nur in der EU, sondern
weltweit Vorreiter auf dem Gebiet der Schiffssicherheit.
Dass wir das erreicht haben, liegt an unserer konsequen-
ten Politik in den letzten viereinhalb Jahren. Darauf soll-
ten wir stolz sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Prävention vor Schadensbekämpfung ist selbstver-

ständlich. Im Hinblick auf alle Anträge, die wir hier mit-
einander diskutiert und beraten haben, bestand in diesem
Punkt immer Konsens. Man sollte hier daher heute nicht
so tun, als würde man etwas Neues erfinden.

Ich möchte Herrn Börnsen und Herrn Kuhn daran er-
innern, dass ein von der SPD eingebrachter Antrag, der
sehr viel umfassender war als der, der heute zur Abstim-
mung steht, mit den Stimmen von CDU/CSU beschlossen
worden ist. Das war bei allen Anträgen, die wir bisher be-
raten haben, das erste Mal, was ich auch hoch achte. Nur
sollte man sich auch daran erinnern, was man hier be-
schlossen hat. Unter anderem ist darin genau aufgelistet
worden, was die Bundesrepublik Deutschland bisher ganz
konsequent und ganz konkret getan hat. Angesichts des-
sen halte ich es schon für ein Stück Unverfrorenheit – das
sage ich noch einmal deutlich –, wenn sich einige heute
hier hinstellen und sagen, es sei nichts geschehen. Das ist
schlicht und einfach falsch.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Auf nationaler Ebene haben wir zum 1. Januar dieses
Jahres das Havariekommando eingerichtet. Da kann
man fragen, warum das nicht schneller gegangen ist. Auch
wir hätten das gern ein bisschen schneller gehabt, nur ist
es natürlich nicht einfach, so etwas zu konzipieren. Wir
haben gesagt: Wir wollen keine Grundgesetzänderung,
sondern wir wollen Vereinbarungen schließen. Jedes Bun-
desland hat seine eigenen Regeln für solche Vereinbarun-
gen. Es sind umfangreiche Verhandlungen mit den Län-
dern geführt worden, mit dem letzten Land im Dezember
letzten Jahres.

Wir haben gemeinsam mit den Ländern besonders die
Brandschutzstrukturen in der Ostsee verändert. Wir
haben das Verkehrstrennungsgebiet für die Ems, die Jade,
die Weser, die Elbe und auch für die Kadetrinne einge-
richtet. Es ist also nicht so, dass wir auf nationaler Ebene
nicht gehandelt haben. Ich möchte gar nicht auf alle an-
deren Punkte hinweisen, aber auch mit Polen haben wir
bilaterale Verträge geschlossen. Wir haben das erste Mal
ein Schlepperkonzept für Nord- und Ostsee aufgestellt;
das gab es vorher nicht. Die Ausschreibungen für die Auf-
träge für die nächsten Schiffe, die wir dann entweder char-
tern oder erwerben werden, laufen. Angesichts dessen zu
sagen, es sei nichts passiert, ist falsch.

Die „Neuwerk“ hat vor der Küste Spaniens sehr
schwere Arbeit geleistet. Ich sage an dieser Stelle noch
einmal ein herzliches Dankeschön an die Besatzung für
die außergewöhnliche Leistung. Ich begrüße es sehr, dass
Minister Stolpe demnächst auch nach Cuxhaven kom-
men wird, um den Menschen dort ein Dankeschön zu sa-
gen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Dann soll er zur WSD Nord gehen!)


Ich möchte noch speziell zu zwei Punkten Stellung
nehmen, die aus dem Acht-Punkte-Programm von Minis-
ter Stolpe, das er in die EU eingebracht hat, hervorzuhe-
ben sind. Ein Punkt betrifft die Notliegeplätze. Lassen
Sie uns diesen Begriff verwenden. „Nothäfen“ ist ein
falscher Begriff, weil es wirklich immer von der Situation
abhängen wird, wo man ein Schiff sicher parken oder
auch ver- oder entsorgen kann. Wir müssen auch auf dem
Gebiet der Forschung und Technologie vorankommen
und eine Technologie entwickeln, die es ermöglicht, ein
Schiff, das gesunken ist, unter Wasser zu entladen, auch
wenn die Ladung aus Öl besteht. Wir merken jetzt bei der
„Prestige“, dass es da große Probleme gibt, dass wir da
technologisch noch nicht so weit sind.

Die Forderungskataloge liegen auf EU-Ebene und
sehr wohl auch der IMO vor. In dem Zusammenhang
muss ich Herrn Kuhn noch etwas sagen. Man kann das
Rechtsverständnis, das Sie, Herr Kuhn, haben, fast schon
belächeln. Sie tun so, als ob Deutschland dazu mal eben
so Beschlüsse fassen könnte. Sie wissen aber, dass wir das
nicht können. Sie wissen, dass wir an EU-Recht und auch
an internationales Recht gebunden sind. Wenn Deutsch-
land hier allein handeln könnte, sähe die Situation anders
aus. Ich gebe allerdings allen Recht, die sagen: Wir müs-
sen konsequenter Druck machen – auf die EU, aber auch
auf die IMO.

Die Fragen im Zusammenhang mit dem Umgang mit
einemWrack haben mich – das muss ich deutlich sagen –
erschüttert. Bisher kann der Schiffseigentümer nach ei-
nem Unfall außerhalb der Hoheitsgewässer das Eigentum
an dem zum Wrack gewordenen Schiff oder an gesunke-
nen Ladungsteilen schlicht und einfach aufgeben. Er sagt
lediglich: Das gehört mir jetzt nicht mehr. Damit kann er
sich zulasten des betroffenen Küstenstaates jeder Verant-
wortung für die Bergung entziehen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502809400

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.


Annette Faße (SPD):
Rede ID: ID1502809500

Diese Lücke im internationalen Seerecht muss ge-

schlossen werden.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich gehe davon aus, dass wir zu der großen Gemein-
samkeit, die bei dem Thema eigentlich bestand – eine
Ausnahme bildet die CDU/CSU in dieser öffentlichen De-
batte –, beim Schutz der Küsten zurückfinden und unsere
Arbeit weltweit konsequent fortführen werden.

Annette Faße




Annette Faße

Danke schön.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502809600

Das Wort hat jetzt der Umweltminister des Landes

Mecklenburg-Vorpommern, Dr. Wolfgang Methling.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



(MecklenburgVorpommern)


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich darf mich zunächst sehr herzlich für die Mög-
lichkeit bedanken, an Ihrer Debatte teilzunehmen und Er-
fahrungen und Positionen aus Mecklenburg-Vorpommern
hier einzubringen.

Ich kann wie bei der Diskussion zum Bundesnatur-
schutzgesetz feststellen: Ich fühle mich wie zu Hause. Die
Diskussionen laufen hier ganz genau wie zu Hause. Die
CDU-Opposition trägt laufend vor, welche Versäumnisse
der im Moment verantwortlichen Regierung zu beklagen
seien. Die rot-grüne Regierung in Berlin und die rot-rote
Regierung in Schwerin sind scheinbar dafür verantwort-
lich zu machen, dass die Schiffssicherheit seit 1998 so ge-
fährdet ist. In Mecklenburg-Vorpommern kommt noch
hinzu, dass ein PDS-Politiker als Umweltminister Verant-
wortung trägt.

Herr Kollege Kuhn, wir kennen uns aus manchen Dis-
kussionen. Was Sie vorgetragen haben, klingt wie Revol-
verheldentum. Das muss ich Ihnen wirklich sagen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Sie wissen, dass es andere Verhältnisse gibt. Auf die
Windkraftargumentation will ich hier gar nicht eingehen.


(Werner Kuhn [Zingst] [CDU/CSU]: Was ist mit der „Strelasund“, Herr Minister? Sagen Sie doch einmal!)


–Wissen Sie, ich bin ganz erstaunt, dass man einen Auto-
käufer, der ein schlechtes Auto kauft, dafür verantwortlich
macht, dass das Auto schlecht ist. Nein, den Autobauer
muss man zur Verantwortung ziehen. Das tun wir und das
wissen Sie, Herr Kuhn.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Ich finde es wirklich absonderlich, dass wir laufend
solche Diskussionen führen. Fast alle Diskussionsredner
bringen die gleichen Argumente.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502809700

Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen von Klaeden?


(MecklenburgVorpommern)


Ja, gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502809800

Herr von Klaeden, bitte.


Eckart von Klaeden (CDU):
Rede ID: ID1502809900

Herr Minister, Sie haben gerade erklärt, dass der Ver-

käufer eines Fahrzeuges für den technischen Zustand ver-
antwortlich sei. Sind Sie nicht mit mir der Ansicht, dass
der Käufer und Halter des Fahrzeuges für den technischen
Zustand eines Kfz verantwortlich ist?


(MecklenburgVorpommern)


Es geht um ein neues Schiff.

(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das war ja Ihr Beispiel!)

Ich will nicht sagen, dass es in Mecklenburg-Vorpom-
mern vielleicht besser gebaut worden wäre. Fest steht
aber, dass es um Mängel geht, die abgestellt werden müs-
sen. Ihre Devise, die Sie auch an anderen Stellen wählen
– Sie rufen „Haltet den Dieb!“ und zeigen auf den
Falschen –, kann wohl nicht zielführend sein.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Es gibt mit Sicherheit Nachbesserungsbedarf. Ich
glaube, da sind wir uns alle einig. Die häufigen Havarien
und Fasthavarien – letztere machen mir noch mehr Sor-
gen – machen das immer wieder überdeutlich. Zur Fair-
ness würde gehören, dass Sie, meine sehr geehrten Damen
und Herren von der CDU-Opposition, an Versäumnisse in
Ihrer eigenen Regierungszeit denken. Denn manche Pro-
bleme, die wir jetzt zu lösen haben, gehen auf Versäum-
nisse, die Sie zu verantworten haben, zurück.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])


Ich bin seit 1998 im Amt und weiß sehr wohl, welche
Versäumnisse existieren. Ich kenne auch die Gründe, die
dazu geführt haben.


(Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sie sind genau der Richtige dafür!)


Diese Gründe erwähnen Sie nur, wenn Sie selbst in der
Verantwortung sind, und nicht, wenn andere in der Ver-
antwortung sind.

Warum Mecklenburg-Vorpommern besonders von
der Schiffssicherheit abhängig ist, ist wohl klar. Wir leben
vor allen Dingen vom Tourismus. Wir haben eine maritime
Wirtschaft, die davon abhängig ist. Wir haben eine wun-
derschöne Ostseeküste, eine sensible Natur. Deswegen ist
für Mecklenburg-Vorpommerns Regierung und für sein
Parlament die Schiffssicherheit in gleicher Weise prioritär.


(A)



(B)



(C)



(D)


2186


(A)



(B)



(C)



(D)






Die vielen Gefährdungen der Ostsee sind schon be-
schrieben worden. Ich will aber noch einmal darauf hin-
weisen, was Herr Steenblock hier gesagt hat: Wir sollten
die täglichen, die chronischen Gefährdungen und Belas-
tungen der Ostsee und der Meere überhaupt höher schät-
zen. Ich habe einmal am Horizont eine gelbe Wolke gese-
hen. Da habe ich gefragt: Was ist das? – Mir wurde
geantwortet: Das sind Dieselrückstände, die ständig über
dem Wasser liegen und eine Gefahr darstellen. – Die Ge-
fahren gehen also viel weiter.

Hauptursachen der Seeunfälle, die in der Ostsee und
insbesondere in der Kadetrinne stattgefunden haben, sind
menschliches Versagen, Mängel in der Schiffsführung
und technische Mängel an den Fahrzeugen. Darauf müs-
sen wir uns neben den anderen Dingen konzentrieren. Bis-
her haben wir Riesenglück gehabt. Aber wir können si-
cherlich nicht jeden Tag Wunder erwarten.

Deswegen haben wir aus Mecklenburg-Vorpommern
zahlreiche Vorschläge und Forderungen an Bund, EU,
baltische Länder und IMO eingebracht: Doppelhüllentan-
ker, Lotsenpflicht, AIS, Radar, Meldepflicht, Hafenstaat-
kontrollen und Notliegeplatzkonzept. Ich könnte noch
vieles nennen, was wir eingebracht haben, Dies zeigt, wo
wir versuchen, selber unsere Schularbeiten zu machen.

Es ist ja erfreulich, dass wir aus Havarien richtige
Schlussfolgerungen ziehen. Aber eigentlich ist es maka-
ber, dass viele Schlussfolgerungen erst dann gezogen wer-
den, wenn es zu Havarien gekommen ist. Aber das ist auch
in anderen Bereichen der Gesellschaft so. Insofern muss
uns das nicht wundern. Die Namen sind ja Legende: be-
ginnend bei „Pallas“ bis hin zu „Prestige“. Darüber hinaus
gibt es genügend andere warnende Beispiele.

Ich bedanke mich bei der Bundesregierung, obwohl ich
ihr in manchen Phasen sehr kritisch gegenübergestanden
habe, für ihr entschlossenes Handeln und zunehmend kon-
sequentes Umsetzen der Empfehlungen der Grobecker-
Kommission und auch für ihre internationalen Akti-
vitäten. Ich hoffe, dass wir so schrittweise vorankommen,
auch wenn wir uns hin und wieder hart streiten: Als ich
zum Beispiel die Forderung nach einer Lotsenannahme-
pflicht gestellt habe, wurde mir gesagt, das sei nicht nötig
und nicht möglich. Heute sehen wir das anders; hoffent-
lich alle und auch in Zukunft.

Wir wissen auch, dass der Föderalismus manches nicht
einfach macht. Der Föderalismus stellt meiner Einschät-
zung nach einen großen Gewinn dar, hat aber in Bezug auf
das Havariekommando einige Probleme mit sich ge-
bracht. Ich war am 3. Januar beim Havariekommando und
habe mich überzeugt, wie dieses arbeiten kann. Ich denke,
es ist auf gutem Wege, auch wenn noch einiges zu tun ist.
Die Umweltminister der Nord- und Küstenländer und
auch der Bundesumweltminister bringen sich dort aktiv
ein, obwohl wir diejenigen sind, die in erster Linie dafür
zuständig sind, den Dreck wegzuräumen, der im Grunde
genommen vorher schon woanders angefallen ist. Wir ha-
ben entsprechende Vorschläge bei der Umweltminister-
konferenz der Nordländer in Nieklitz, Mecklenburg-
Vorpommern, eingebracht.

Ich will auch noch darauf hinweisen, dass manches
durch internationale, wirtschaftliche sowie rechtliche In-

teressenlagen erschwert wird. All dieses wissen Sie, aber
ignorieren es. Im Übrigen will ich darauf hinweisen: Auch
Deutschland und ebenso die EU bringen nicht nur Gutes
für diesen Prozess. Auch dort gibt es Versäumnisse. So
habe ich beispielsweise gehört, dass die Stadt Lübeck
viele Argumente genannt hat, warum ihr Hafen kein ge-
eigneter Nothafen bzw. ein Hafen für Notliegeplätze sei;
das verweist doch auf ein Problem, das wir bei uns haben.
Wir müssen nämlich dafür sorgen, dass auch bei uns im
Land Notliegeplätze ausgewiesen werden. Das ist nicht so
einfach.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos])


Ich glaube, die Bundesregierung geht richtig heran, indem
sie dieses so fixiert. Ich könnte da auch noch andere Bei-
spiele nennen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Haben Sie schon welche genannt?)


Ich warne vor einseitigen Feindbildern, übrigens auch
in diesem Raum; ich höre ja ab und zu mal Bemerkungen
von Ihnen. Ich denke, hier geht es um konkrete Inhalte,
die abzuarbeiten sind, nämlich von der Beseitigung der
Einhüllentanker bis hin zu Eisklassenschiffen in der Ost-
see, die zwar vorgeschrieben sind, aber die man nicht mit
Kanonen in Gendarmenmanier durchsetzen kann. Man
darf hier nicht wie Klaus Störtebecker vorgehen. Das geht
nicht; das muss man auf einem anderen Wege tun.

Für Mecklenburg-Vorpommern haben sich für
2002/2003 – ich will nur darüber sprechen – eine Reihe
von Verbesserungen ergeben, die ich hier noch einmal
nennen möchte: die AIS-Ausrüstung der Revierzentrale in
Warnemünde, Bereitstellung von Schleppkapazitäten, das
hier schon angesprochene Ölbekämpfungsschiff – wir
hoffen, in wenigen Tagen sagen zu können, dass es funk-
tioniert – und die Bereitstellung von Notliegeplätzen, die
übrigens bei uns durch ein Abkommen mit kommunalen
Hafenbetreibern vorbereitet wird. Ich hoffe, das wird wo-
anders auch gelingen.

Ich hoffe, meine sehr geehrten Damen und Herren,
dass es Bund und Ländern gemeinsam gelingen wird,
schnell weitere Erfolge im eigenen Land zu erzielen, fort-
schrittliche Vereinbarungen mit internationalen Partnern
und Organisationen, übrigens auch von außerhalb der EU,
abzuschließen. Höhere Sicherheitsstandards und effi-
ziente Kontrollen gehören dazu. Meines Erachtens kann
dazu auch sehr gut das Wirken von Parlamenten beitra-
gen. Das haben wir bei der Ostseeparlamentarierkonfe-
renz mitbekommen. Das wird aber wohl nur bei einem
parteiübergreifenden Konsens gelingen. Ich will auch
noch einmal ein Wort, das hier schon gefallen ist, aufneh-
men: Dies bedeutet, parteipolitische Scheuklappen abzu-
legen. Manchen scheint dieses nicht zu gelingen: Anträge,
die bereits Erreichtes oder bereits veranlasste Maßnah-
men einfordern, sind nicht dazu geeignet, den Zustand zu
verbessern, sondern sind eher als Schaulaufen auf der
Bühne zu betrachten. Es wäre eigentlich wichtiger, die
Pflicht zu erfüllen. Darum würde ich alle sehr herzlich bit-
ten, in Zukunft dazu beizutragen, das Schaulaufen zu be-
enden und sich erst der Pflicht und dann der Kür mit hof-
fentlich besseren Ergebnissen zuzuwenden.

Minister Dr. Wolfgang Methling (Mecklenburg-Vorpommern)





Minister Dr. Wolfgang Methling (Mecklenburg-Vorpommern)


Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos] und der Abg. Petra Pau [fraktionslos])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502810000

Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-

ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksa-
che 15/370 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit
dem Titel „Seesicherheit optimieren – nationaler und eu-
ropäischer Handlungsbedarf nach Tankeruntergang der
‚Prestige‘“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/192 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP angenommen.

Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 15/488. Der Ausschuss empfiehlt, in Kennt-
nis des Berichts der Bundesregierung auf Drucksache
14/9487 zur maritimen Sicherheit auf der Ostsee eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Dr. Christian Eberl, Daniel Bahr

(Münster), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

der FDP
Ökologisch sinnvolle und effiziente Alternativen
zum Zwangspfand auf Getränkeverpackungen
– Drucksache 15/315 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Birgit Homburger von der FDP-Fraktion das
Wort.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1502810100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

debattieren heute über einen Antrag der FDP zum
Zwangspfand, der hochaktuell ist. Am Wochenende gab
es eine Vereinbarung zwischen dem Bundesumweltmi-
nister und einigen wenigen Landesumweltministern. Des-
wegen finde ich es gut, dass wir heute die Gelegenheit zu
einer parlamentarischen Aussprache in dieser Sache ha-
ben.

Denn man muss feststellen: Ohne ökologischen Sinn
werden im Augenblick Verbraucherinnen und Verbrau-
cher durch das Zwangspfand zusätzlich belastet. Herr
Trittin, dass Sie zwischenzeitlich eingesehen haben, dass
die bisherige, von Ihnen in Kraft gesetzte Regelung zu
kompliziert ist, zeigt Ihr Entwurf. Aber wenn Sie konse-
quent wären, dann müssten Sie auf der einen Seite das
Zwangspfand sofort aussetzen und auf der anderen Seite
eine Novelle der Verpackungsverordnung vorlegen, die
den wissenschaftlichen Erkenntnissen in ökologischer
Hinsicht Rechnung trägt und die Chance einer Neurege-
lung ergreift, um die Quote durch ein Lizenzmodell zu er-
setzen. Das wäre dann auch ökonomisch sinnvoll.


(Beifall bei der FDP)

Ich stelle also fest: Die Erkenntnis ist da, es gibt aber
keine Konsequenz.

Wenn man sich die Eckpunkte anschaut, sieht man,
dass zwischen ökologisch vorteilhaften und ökologisch
nicht vorteilhaften Verpackungen unterschieden werden
soll. Es ist sinnvoll, das zu tun. Aber man hätte das längst
machen können und machen sollen. Die FDP-Bundes-
tagsfraktion hat sofort, nachdem die neuen wissenschaft-
lichen Erkenntnisse vorlagen, hier einen entsprechenden
Antrag gestellt. Dasselbe fordern wir in dem jetzt vorlie-
genden Antrag.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Zusätzlich zu der Unterscheidung zwischen ökologisch

sinnvoll und ökologisch nicht sinnvoll sehen Sie, Herr
Trittin, eine gesonderte Ausweisung des Mehrweganteils
vor, und zwar durch eine jährliche Bekanntmachung im
Bundesanzeiger. Ich frage Sie: Warum eigentlich? Die
Unterscheidung zwischen Einweg und Mehrweg ist
Schnee von gestern; sie ist überholt. Die Mehrwegquote
ist ökologisch nicht mehr relevant.

Deswegen fordern wir Sie auf: Machen Sie endlich ei-
nen sauberen Schnitt, verabschieden Sie sich von den al-
ten Regelungen und unterscheiden Sie ausschließlich
zwischen ökologisch sinnvoll und ökologisch nicht sinn-
voll.


(Beifall bei der FDP – Widerspruch des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Wie ich an Ihrer Reaktion sehe, sehen Sie das nicht ein.
Mit dem, was Sie jetzt machen, vereinfachen Sie die

bisherige Regelung nicht etwa, sondern Sie verkomplizie-
ren sie, indem Sie das eine Kriterium der Vergangenheit
– die Unterscheidung zwischen Einweg und Mehrweg –
durch zwei Kriterien – jetzt zusätzlich die Unterschei-
dung zwischen ökologisch sinnvoll und ökologisch nicht
sinnvoll – ersetzen und weitere Ausnahmeregelungen
schaffen wollen, die das ergänzen, und zwar in der Form,
dass nicht auf die Verpackungsart, sondern auf den Inhalt
abgestellt werden soll. Genau das haben Sie an der alten
Regelung kritisiert. Jetzt wollen Sie das fortführen. Was
Sie hier vorlegen, ist aus unserer Sicht inkonsequent.

Eine gesonderte Ausweisung der Mehrwegquote macht
es erforderlich, dass sie – zusätzlich zur Erfassung von
ökologisch sinnvollen und ökologisch nicht sinnvollen
Verpackungen – erfasst werden muss. Das bedeutet statis-


(A)



(B)



(C)



(D)


2188


(A)



(B)



(C)



(D)






tischen Aufwand. Die Bundesregierung hat erklärt, sie
wolle Bürokratie abbauen. Aber was Sie machen, ist ge-
nau das Gegenteil; denn nach Ihren Vorschlägen muss
eine weitere Quote erfasst werden. Dieser bürokratische
Aufwand ist ohne ökologischen Nutzen und wird von der
FDP abgelehnt.


(Beifall bei der FDP – Joachim Günther [Plauen] [FDP]: Entschieden!)


Sie wissen, dass das Zwangspfand ökologisch und
ökonomisch unsinnig ist. Der Sachverständigenrat für
Umweltfragen der Bundesregierung hat in seinem Um-
weltgutachten davon gesprochen, dass das Zwangspfand
„von zweifelhafter ökologischer Effektivität und ökono-
misch ineffizient ist“. Genau das ist der Punkt: Das
Zwangspfand setzt bei den Verbraucherinnen und Ver-
brauchern an, die die Verpackungen zurücktragen sollen.
Der Handel wird Rücknahmeautomaten aufstellen. Ins-
gesamt ist dies ein aufwendiges und sehr teures Verfahren.

Demgegenüber steht der Vorschlag im FDP-Antrag,
ein Modell handelbarer Abfülllizenzen für ökologisch
nicht vorteilhafte Getränkeverpackungen einzuführen.
Der Anknüpfungspunkt liegt bei den Herstellern. Investi-
tionen in Rücknahmeautomaten sind demnach nicht er-
forderlich. Das wäre das deutlich bessere Modell; es wäre
günstiger und billiger. Man würde das ökologische Ziel
auf ökonomisch sinnvolle Weise erreichen.


(Beifall bei der FDP – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Bravo!)


Herr Trittin, Sie könnten sich auch das Problem mit der
Clearingstelle ersparen. Sie wissen doch ganz genau,
dass dieses Problem im Augenblick noch nicht gelöst ist.
Die FDP teilt die Kritik des Bundeskartellamts am Ver-
fahren. Wir wollen kein neues Monopol, sondern Wett-
bewerb. Wir wollen den Unternehmen die Möglichkeit
eröffnen, in diesem Bereich tätig zu werden.

Wir bieten Ihnen ausdrücklich die Zusammenarbeit im
Rahmen des Verfahrens an, das jetzt kommen wird. Wir
haben einige Änderungsvorschläge, die aber zu einer
deutlichen Verbesserung beitragen würden. Ich hoffe im
Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher sehr,
dass wir insgesamt zu einer ökologisch und ökonomisch
vernünftigen Lösung kommen. Der Vorschlag der FDP
liegt auf dem Tisch. Wir hoffen auf Ihre Kooperation.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Die Zielrichtung ist okay!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502810200

Das Wort hat jetzt der Kollege Gerd Friedrich

Bollmann von der SPD-Fraktion.


Gerd Bollmann (SPD):
Rede ID: ID1502810300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Der Dauerbrenner Dosenpfand wird zum wie-
derholten Male im Deutschen Bundestag debattiert. An-
gesichts der Bedeutung des Pfandes für das Mehrweg-

system und für die Müllvermeidung ist es sicherlich ein
wichtiges Thema.

Als ich den Antrag der FDP gelesen habe, fragte ich
mich allerdings, worüber wir heute hier debattieren sollen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Über Blech!)

Fünf Forderungen dieses Antrages sind überholt. Sie wa-
ren es zum größten Teil schon, als der Antrag gestellt
wurde. Die beiden einzigen Punkte, die nicht von uns um-
gesetzt wurden, sind realitätsfremd, umweltschädlich und
nicht durchführbar. Mit anderen Worten: Dieser Antrag ist
eine Farce.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die FDP trauert offensichtlich den verlorenen Schlach-
ten gegen das Dosenpfand vor den Gerichten nach.


(Werner Wittlich [CDU/CSU]: Keine Ahnung haben Sie!)


Der Antrag liegt ganz auf der Linie früherer Oppositions-
anträge: durch freiwillige Vereinbarungen das Pflichtpfand
zu verhindern und damit zugunsten von Großbrauereien,
Großhandel und Dosenherstellern eine umweltfreundliche
und umweltschonende Regelung zu hintertreiben.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das sind die Schlachten der Vergangenheit!)


Wir Sozialdemokraten dagegen stehen hinter dem
Pfand als Instrument zur Förderung und Stützung des
Mehrwegsystems. Allerdings halten wir einen geteilten
Markt für Einweggetränke mit und ohne Pfand nicht für
den besten Weg. Daher haben wir schon vor zwei Jahren
ein allgemeines Pfand für ökologisch nachteilige Ein-
wegverpackungen vorgeschlagen.


(Marco Bülow [SPD]: Genau so ist es!)

Dem Mehrwegsystem wäre dadurch geholfen gewesen
und ökologisch vorteilhafte Verpackungen wie Getränke-
karton und Schlauchbeutel wären vom Pfand ausgenom-
men worden.

Die Fehler der alten Pfandregelung, meine Damen und
Herren von der Opposition, wollten SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen also bereits im Frühjahr 2001 korri-
gieren. Leider ist dieser Vorschlag einer Verpackungsver-
ordnung aber im Bundesrat gescheitert.

Wir Sozialdemokraten begrüßen daher ausdrücklich
die Einigung zwischen dem BMU, den Ländern und der
Industrie,


(Werner Wittlich [CDU/CSU]: Es gibt noch gar keine Einigung! Bisher haben wir noch nichts! – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Den Tag nicht vor dem Abend loben!)


durch die eine ökologisch und ökonomisch sinnvolle
Neuregelung des Dosenpfandes in unserem Sinne zum
1. Oktober dieses Jahres möglich ist. Diese Einigung auf
eine ökologische und verbraucherfreundliche Novelle
wäre aber ohne Umsetzung des Dosenpfandes zu Beginn
dieses Jahres nicht möglich gewesen. Das hat die FDP
vehement bekämpft. Durch diese Einigung ist der Antrag

Birgit Homburger




Gerd Friedrich Bollmann
der FDP erst recht überflüssig. Trotzdem möchte ich auf
einige besonders unsinnige Punkte und falsche Darstel-
lungen


(Ulrike Mehl [SPD]: Genau!)

eingehen.

Es gab kein Chaos bei der Einführung des Dosen-
pfandes – das hätten Sie sich vielleicht gewünscht –, das
haben wir alle selber im Januar in den Geschäften fest-
stellen können.


(Birgit Homburger [FDP]: Darauf beziehen wir uns nicht!)


Die Umweltverbände bestätigen dies. Die jetzt noch vor-
handenen Schwierigkeiten sind Folgen der Mängel des
Merkel-Pfandes


(Werner Wittlich [CDU/CSU]: Dummes Zeug! Dümmer geht es wirklich nicht!)


und des Boykotts von Teilen des Handels und der Her-
steller. Hätte die Opposition im Jahre 2001 zugestimmt,
wäre eine neue Regelung des Dosenpfandes bereits jetzt
Gesetz.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Werner Wittlich [CDU/ CSU]: Keine Ahnung!)


Außerdem wäre eine verbraucherfreundliche Umset-
zung möglich gewesen, hätten nicht einige Großbraue-
reien sowie Teile des Großhandels und der Dosenherstel-
ler ihre Mitarbeit verweigert. Seit neun Monaten ist der
Einführungstermin bekannt. Aber anstatt entsprechende
Vorbereitungen durchzuführen, klagten Teile von Indus-
trie und Handel.


(Werner Wittlich [CDU/CSU]: In einem Rechtsstaat ist das ganz normal!)


Sie setzten auf einen Wahlsieg von CDU/CSU und FDP in
der Hoffnung, Edmund und Guido würden es schon rich-
ten und die Einführung des Pfandes verhindern.


(Ulrike Mehl [SPD]: Hat nicht geklappt!)

Durch dieses Schmierentheater wurden das Pfandclearing
und ein einheitliches Rücknahmesystem verhindert. Die
Folgen der Verweigerung müssen jetzt die Verbraucher
austragen.

Sie, meine Damen und Herren von der FDP, sind durch
Ihr Nein zur Novelle zur Verpackungsverordnung und
durch Ihre Wahlkampfaussagen zum Dosenpfand mitver-
antwortlich für die derzeitigen Ungereimtheiten. Nun er-
dreisten Sie sich, die von Ihnen mitverschuldeten Pro-
bleme zum Anlass zu nehmen, eine Abschaffung der
Pfandregelung zu fordern. Im Übrigen wissen Sie, dass
durch die Vereinbarung des Bundesumweltministers mit
den Bundesländern verbraucherunfreundliche Mängel
spätestens bis zum 1. Oktober behoben sind.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist doch nicht ausreichend!)


Ein weiteres Argument der FDPgegen die Pfandpflicht
ist eine Meldung über Kurzarbeit bei einem großen Ge-
tränkehersteller.


(Werner Wittlich [CDU/CSU]: Das ist Ihnen egal! Das interessiert Sie gar nicht!)


Aber nicht erwähnt wird, dass die Kurzarbeit die Dosen-
abfüllung betrifft,


(Birgit Homburger [FDP]: Und das Recyceln!)

bundesweit aber im Mehrwegsystem zusätzliche Arbeits-
stunden anfallen. Erwähnt wird nicht, dass der Getränke-
fachhandel und mittelständische Brauereien mehrere
100 Millionen Euro in den Ausbau des Mehrwegsystems
investiert haben, Investitionen, die durch die Pfandpflicht
geschützt werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Laut Roland Demleitner, dem Geschäftsführer des Bun-
desverbandes mittelständischer Privatbrauereien, werden
weitere Investitionen in den Mehrwegbereich folgen. Da-
mit werden durch das Dosenpfand 250 000 Arbeitsplätze
im Bereich der Mehrwegwirtschaft gesichert.

Erwähnt wird nicht, dass sich über 800 Privatbrauereien
und rund 10 000 Getränkefachhändler im September letz-
ten Jahres in einem offenen Brief für das Dosenpfand aus-
gesprochen haben. Brauereien, Getränkeabfüller, Brunnen
sowie Getränkegroßhandel und -einzelhandel befürwor-
ten das Pflichtpfand. Dies erklärte im Übrigen auch
Hartmut Koschyk von der CSU am 18. Mai 2001 in einer
Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen
Bundestages.

Meine Damen und Herren von der FDP, Sie betonen
doch sonst immer Ihre Rolle als Kämpfer für den Mittel-
stand. Jetzt bekämpfen Sie eine Regelung, die von der
mittelständischen Brauwirtschaft und dem Fachhandel
begrüßt wird. Die Erfüllung Ihrer Forderung würde zur
Existenzvernichtung mittelständischer Betriebe und zur
Vernichtung von Arbeitsplätzen führen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Birgit Homburger [FDP]: Völliger Quatsch! – Werner Wittlich [CDU/CSU]: Alles Blech!)


Schauen Sie sich doch die Entwicklung an: Einzelne
Großbrauereien und Teile des Handels überschwemmten
den Markt mit billigem Dosenbier und -wasser. Ziel war
es, mithilfe der Dose kleine und mittlere Brauereien und
Brunnen zu verdrängen. Mit ihren Forderungen unter-
stützt die FDP Interessen, deren Ziel die Vernichtung mit-
telständischer Unternehmen ist.


(Franz Obermeier [CDU/CSU]: So ein dummes Zeug!)


Diese Politik ist mittelstandsfeindlich.
Kurz möchte ich noch einen Punkt des FDP-Antrages

streifen: Bürgerinnen und Bürger, die freiwillig die Land-
schaft von Müll säubern, sollen Geld aus einem Fonds
der Getränkewirtschaft erhalten. Wie soll das funktionie-
ren? Stellen Bürger, die beim Sonntagsspaziergang Do-
sen sammeln, beim Fonds einen Antrag auf Geldzuwei-
sung?


(Marco Bülow [SPD]: Unglaublich!)



(A)



(B)



(C)



(D)


2190


(A)



(B)



(C)



(D)






Oder werden Dosensammelvereine gegründet und finan-
ziell unterstützt? Dieser Punkt des FDP-Antrages ist so
realitätsfremd, dass es nicht lohnt, näher darauf einzu-
gehen.


(Marco Bülow [SPD]: Das zum Thema Bürokratieabbau! – Birgit Homburger [FDP]: Das war von der Getränkewirtschaft vorgeschlagen! Sie haben keine Ahnung!)


Jeder erfahrene Kommunalpolitiker würde die Hände
über dem Kopf zusammenschlagen.


(Ulrike Mehl [SPD]: Genau! – Birgit Homburger [FDP]: In anderen Ländern funktioniert es!)


Aber dieser Punkt zeigt, wie die Liberalen zum Müllpro-
blem stehen. Erst soll der Müll in die Landschaft, dann
sollen die Bürger ihn einsammeln und die verursachende
Industrie darf sich mit einem Trinkgeld freikaufen.


(Werner Wittlich [CDU/CSU]: Es ist unerhört, was Sie für einen Käse hier verzapfen! Es ist nicht zu glauben! Blödsinniger geht es wirklich nicht!)


Sinnvolle Umweltpolitik sieht anders aus. Wir Sozial-
demokraten treten dafür ein, Landschaftsvermüllung von
vornherein zu vermeiden.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das will doch jeder!)


Durch das Dosenpfand wird die Vermüllung wirksam
bekämpft


(Werner Wittlich [CDU/CSU]: Ihr macht doch nur Müll in der ganzen Politik!)


und wir wissen, dass der überwiegende Teil der Bevölke-
rung unseres Landes unsere Auffassung teilt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, vor allem aber zeigen die-
ser Antrag und frühere Aussagen die wahre Haltung der
FDP zur Umweltpolitik. Die FDP fordert im Umwelt-
schutzbereich freiwillige Vereinbarungen,


(Birgit Homburger [FDP]: Das steht doch gar nicht drin! Das ist doch absoluter Quatsch!)


EU- oder weltweite Abkommen, um damit notwendige
Umweltschutzmaßnahmen zu verzögern oder gar zu ver-
hindern. Genau dieses ist ja auch das Ziel. Unterstützung
der Wirtschaft und ihrer Forderungen rangieren bei der
FDP und bei Teilen der Union immer noch vor dem
Schutz der Umwelt.

Gerade die Entwicklung bei der Verpackungsverord-
nung beweist, dass freiwillige Vereinbarungen oftmals
nicht zum Ziel führen. Das Töpfer-Pfand von 1991 um-
fasste eine freiwillige Vereinbarung zur Einhaltung der
Mehrwegquote – eine Vereinbarung, die von Teilen der
Getränkeindustrie nicht eingehalten wurde. Töpfer selbst
hatte weiter gehende Vorstellungen für die Verpackungs-
verordnung. Er wurde damals vor allem von der FDP ge-
bremst, die massiv die Interessen des Handels vertrat.

Ein Pfand auf Einwegverpackungen für Getränke war
für den Fall vereinbart, dass der Mehrweganteil an den

Verpackungen unter eine Quote von 72 Prozent sinkt. Ge-
tränkehersteller und Handel hatten sich verpflichtet, den
Mehrweganteil stabil zu halten. Das ist aber nicht gelun-
gen. Einige Discounter und große Getränkeabfüller haben
ihre aggressive Wachstumsstrategie unter anderem auf
Einwegverpackungen ausgerichtet, um zusätzliche Markt-
anteile zu gewinnen. Das Ergebnis: Seit rund fünf Jahren
wissen wir, dass die Mehrwegquote sinkt; inzwischen lag
sie nur noch bei rund 53 Prozent. Konkret zurückgegan-
gen sind die Mehrweganteile bei Bier, Mineralwasser und
Limonaden. Freiwillige Vereinbarungen taugen ohne ihre
Einhaltung also nichts.

Zum Glück für Umwelt, Verbraucher und mittelständi-
sche Brauereien sind die Pläne der Opposition zur Ab-
schaffung des Pfandes endgültig ad acta gelegt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Denn nun gibt es die Vereinbarung des Umweltministers
mit den Ländern und der Industrie über eine Änderung der
Verpackungsverordnung. Nichtsdestotrotz wird nun ver-
sucht, das Wettbewerbsrecht auszuhebeln und Geschäfte
zulasten der Verbraucher zu machen. Klare kartellrecht-
liche Vorgaben an ein Pfandclearingsystem mussten erst
gestern von Ulf Böge in Erinnerung gebracht werden. Der
Kartellamtspräsident begründete Vorbehalte seiner
Behörde gegen das System vor allem mit dem Verfahren,
mit dem das Duale System Deutschland als Clearingstelle
ausgewählt wurde. Böge sagte, das Verfahren hätte eine
ordnungsgemäße Ausschreibung erfordert, um keinen
Wettbewerber zu diskriminieren. Allerdings könne die
Ausschreibung jederzeit nachgeholt werden und es liege
an Handel und Industrie, ein ordnungsgemäßes Vergabe-
verfahren durchzuführen. Gleichzeitig stellte Ulf Böge
dar, dass das Kartellamt nicht gegen das geplante Pfand-
system als solches ist.

Wir gehen davon aus, dass eine kartellrechtlich ein-
wandfreie Lösung gefunden wird, damit die Novelle der
Verpackungsverordnung pünktlich zum 1. Oktober in Kraft
treten kann. Ich hoffe, meine Damen und Herren von der
Opposition, Sie akzeptieren nun endlich die umwelt- und
verbraucherfreundliche Regelung des Pflichtpfandes und
hören auf, Verbraucher und Wirtschaft zu verunsichern.


(Georg Girisch [CDU/CSU]: Halleluja!)

Die Neuregelung sieht eine Pfandpflicht bei allen

Einweggetränkeverpackungen vor, außer für ökologisch
vorteilhafte Einweggetränkeverpackungen, Wein, Sekt,
Spirituosen und diätetische Lebensmittel. Eine ähnliche
Regelung wollten Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die
Grünen schon vor einem Jahr durchsetzen.

Diese Novelle beseitigt die Fehler der alten Regelung.
Ich begrüße, dass die unionsgeführten Bundesländer nach
Angaben des bayerischen Umweltministers Schnappauf
ihre Bereitschaft zur Zustimmung signalisiert haben.


(Werner Wittlich [CDU/CSU]: Wenn Sie so weitermachen, dann nehmen sie die wieder zurück!)


Ich hätte es noch mehr begrüßt, wenn die FDP angesichts
dieser Einigung ihren Antrag zurückgezogen und damit

Gerd Friedrich Bollmann




Gerd Friedrich Bollmann
ihre Unterstützung für eine umwelt- und verbraucher-
freundliche Verordnung signalisiert hätte.

Wir Sozialdemokraten lehnen den Antrag der FDP ab
und stehen hinter dieser Novelle. Mit der Neuregelung
des Dosenpfandes werden das Mehrwegsystem gestützt,
mittelständische Betriebe geschützt und die Landschafts-
vermüllung bekämpft. Mit der Einführung eines einheitli-
chen Pfandes auf Getränkeverpackungen setzen Sozialde-
mokraten und Bündnis 90/Die Grünen ihre erfolgreiche
Umweltpolitik der letzten Jahre fort und folgen dem Ge-
bot der Nachhaltigkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die gefundene Regelung ist aber nicht nur ein Erfolg
der rot-grünen Bundesregierung, die Neuregelung ist
auch ein Erfolg der parlamentarischen Demokratie über
Lobbyismus und Einzelinteressen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502810400

Herr Kollege Bollmann, Sie haben gerade Ihre erste

Rede im Deutschen Bundestag gehalten. Herzlichen
Glückwunsch!


(Beifall)

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kol-

legin Birgit Homburger.


Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1502810500

Herr Kollege Bollmann, als Reaktion auf Ihre Rede

möchte ich Ihnen Folgendes sagen. Zu dem, was Sie hier
vorgetragen haben, muss ich Sie fragen: Wissen Sie es
nicht besser?


(Werner Wittlich [CDU/CSU]: Das muss man annehmen!)


Sie haben eine Art und Weise der Auseinandersetzung ge-
wählt, die wir bisher nicht gewöhnt waren. Wir sind hier
Diskussionen wie auch Auseinandersetzungen über unter-
schiedliche Auffassungen gewöhnt. Sie dagegen haben
nichts anderes getan, als das, was im Antrag der FDP
steht, auf eine absolut polemische und unverschämte Art
zu verdrehen. Das muss ich Ihnen sehr deutlich sagen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist typisch Homburger!)


Ich möchte klarstellen: Die FDP möchte eine ökolo-
gisch und ökonomisch sinnvolle Regelung finden. Wir ha-
ben deswegen den Vorschlag gemacht, zum Schutz öko-
logisch sinnvoller Verpackungen ein Lizenzmodell
einzuführen. Wir sind also mitnichten, wie Sie gesagt ha-
ben, für irgendeine Art von freiwilliger Vereinbarung. Wir
haben einfach nur ein anderes Modell vorgeschlagen, von
dem wir überzeugt sind, dass es einfacher, unbürokrati-
scher und für die Gesamtheit der Verbraucherinnen und

Verbraucher kostengünstiger ist. Das ist der Unterschied.
Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502810600

Möchten Sie erwidern, Herr Kollege Bollmann? –

Bitte schön.


Gerd Bollmann (SPD):
Rede ID: ID1502810700

Frau Kollegin Homburger, wenn ich nach meiner ers-

ten Rede eine solche Kurzintervention zu hören be-
komme, dann ist das, wie ich denke, ein Zeichen dafür,
dass ich die Diskussion zumindest angeregt habe. Pole-
mik ist dabei in der letzten Zeit gerade von Ihrer Seite zur
Genüge gekommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was ich mit meiner Rede deutlich machen wollte, war
in erster Linie folgender Punkt: Sie haben maßgeblich
dazu beigetragen, dass die Ungereimtheiten, die es zurzeit
in einigen Geschäften gibt, überhaupt existieren. Das ist
Ihr „Verdienst“. Nun kritisieren Sie das, was Sie ange-
richtet haben, und versuchen, daraus Nutzen zu ziehen
und das Verfahren mit diesem Antrag doch noch zu stop-
pen. Das wird Ihnen aber nicht gelingen. Ich denke, der
bessere Weg des Dosenpfands wird sich durchsetzen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1502810800

Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Wittlich von der

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Werner Wittlich (CDU):
Rede ID: ID1502810900

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Herr Kollege Bollmann, mit Ihrer Rede haben Sie
deutlich gemacht, dass Sie von der Thematik nichts ver-
stehen. Und davon verstehen Sie sehr viel.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Willi Brase [SPD]: Keine Beleidigung!)


– Das ist keine Beleidigung.

(Widerspruch bei der SPD)


– Ich will versuchen, meine Rede etwas sachlicher zu hal-
ten.

Wenn ich die Debatte der vergangenen Tage und Wo-
chen verfolge, dann fühle ich mich wie Moses, der die
Kinder Israels durch die Wüste führt und auf der Flucht
vor den Ägyptern am Ufer des Roten Meeres ankommt.
Er fleht zum Himmel und tatsächlich schaut Gott aus den
Wolken und sagt: Warum jammerst du, Moses? Höre also:
Ich habe eine gute Nachricht und eine schlechte. Ich


(A)



(B)



(C)



(D)


2192


(A)



(B)



(C)



(D)






werde das Meer teilen, damit dein Volk trockenen Fußes
ins gelobte Land kann.


(Dr. Uwe Küster [SPD]: Kommen Sie zum Thema!)


Großartig, sagt Moses, und wie lautet die schlechte Nach-
richt? Daraufhin sagt Gott: Ich brauche zuerst die Um-
weltverträglichkeitsprüfung eines unabhängigen Sach-
verständigen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Genau hier liegt das Problem. Wir haben zu viel
unnötige Bürokratie. Deshalb sollten wir heute einmal
darüber reden, was uns davon befreien könnte. Ich nenne
die Deregulierung. CDU/CSU und auch die Industrie for-
dern bereits seit längerem eine umfassende Novelle der
Verpackungsverordnung; denn die 1991 unter dem dama-
ligen Umweltminister Töpfer von CDU/CSU und FDP er-
lassene Verpackungsverordnung war sehr erfolgreich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie hat dazu geführt, dass in Deutschland mehr Ver-
packungen gesammelt und verwertet werden als in ir-
gendeinem anderen Land der Welt.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Genau so ist es!)


Das damals bestehende Problem des Müllnotstandes
ist heute weitgehend gelöst. Die geltende Verpackungs-
verordnung hat außerdem auf dem Gebiet des Mehrweg-
schutzes die richtigen Signale gesetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Dies gilt gerade auch für die Getränkeverpackungen. Das
Beispiel Altglasrecycling zeigt, dass sich das Sammeln
von Getränkeverpackungen für viele Bürger zum Inbe-
griff gelebten Umweltschutzes entwickelt hat. Insofern
war es nötig, die alte Verpackungsverordnung umfassend
zu novellieren und den veränderten Bedingungen anzu-
passen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die von der Bundesregierung eingeführte Pfandrege-

lung wird dem allerdings nicht gerecht. Ein findiger Jour-
nalist aus meinem Heimatwahlkreis hat vor einigen Tagen
den Praxistest gemacht. Er hat zwei PET-Flaschen aus ei-
nem Supermarkt vom Einkauf bis in den Ofen, in dem sie
eingeschmolzen wurden, begleitet. Beide Flaschen ent-
hielten Zitronentee, die eine mit, die andere ohne Koh-
lensäure. Während beide Flaschen im Regal noch ein-
trächtig nebeneinander standen, musste Kundin B
zusätzlich zum Kaufpreis 25 Cent Pfand bezahlen, weil
sie ihren Tee lieber mit Kohlensäure trinkt.


(Zuruf von der SPD: Das sind aber doch die Länder! – Gegenruf des Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Hört euch das doch einmal an! Er hat doch Recht!)


Nach dem Verzehr konnte Kundin A ihre Flasche bequem
in der gelben Tonne entsorgen, während Kundin B ihre be-
pfandete Flasche in den einige Kilometer entfernten Su-

permarkt zurückbringen und über das Rücknahmesystem
entsorgen lassen musste.

Herr Hermann, Sie werden mir vielleicht Recht geben,
dass dieses Anliegen berechtigt ist. Das Fazit dieses Zei-
tungsartikels war ernüchternd: Parallel fahrende Lastwa-
gen und parallel sortierende Müllmänner und Verbrau-
cher, die Zettelchen und Märkchen sammeln müssen,
führen zu mehr verbrauchtem Kraftstoff, zu mehr verta-
ner Zeit und zu unnötig ausgegebenem Geld, das in die-
sen Zeiten sinnvollerweise ganz woanders Verwendung
finden sollte. Herr Trittin, dieses Beispiel zeigt im Klei-
nen sehr anschaulich die Absurdität Ihrer Verordnung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wer immer auch von der Pfandregelung profitieren mag –
die Umwelt ist es sicher nicht.

Meine Damen und Herren, alles Jammern hilft nicht;
denn das Zwangspfand auf Einwegverpackungen ist inzwi-
schen Realität. Wir haben das Schlechte, das wir nicht woll-
ten, und müssen jetzt sehen, wie wir damit klarkommen.


(Ulrike Mehl [SPD]: Die Verordnung haben Sie doch selber einmal gemacht! Wieso wollen Sie sie auf einmal nicht mehr?)


Wir stehen vor der Situation, dass die Bürgerinnen und
Bürger sowie natürlich auch der Handel mit großen Pro-
blemen kämpfen. In meiner Heimat – das ist schon ange-
sprochen worden – gibt es beispielsweise zwei größere
Dosenwerke, die akut gefährdet sind. Die Unternehmen
klagen über immense Umsatzverluste. Investitionen von
100 Millionen Euro werden gestrichen und allein in einem
der Werke sind über 800 Mitarbeiter in Kurzarbeit.


(Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Susanne Kastner)


Herr Trittin, ich kann nur fragen: Haben Sie das wirk-
lich so gewollt? Vonseiten des BMU – Herr Bollmann, das
haben Sie eben auch gesagt – wird immer wieder behaup-
tet, dass der Handel und die Getränkewirtschaft ausrei-
chend Zeit zur Vorbereitung gehabt hätten,


(Marco Bülow [SPD]: Hatten sie auch!)

nämlich über neun Monate, und zwar von März 2002 bis
Januar 2003.

Ich sage Ihnen: So stimmt das doch überhaupt nicht.

(Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich stimmt das!)

Kurz vor dem Termin des In-Kraft-Tretens der Pfandpflicht
herrschte in Deutschland überhaupt noch keine Rechtssi-
cherheit bezüglich des Umgangs mit Getränkeverpackun-
gen. Die Entscheidung der höchsten Gerichte stand noch
aus.


(Ulrike Mehl [SPD]: Wer hat denn geklagt?)

Man muss den Unternehmen und Verbänden doch die

Möglichkeit einräumen, den Rechtsweg vollständig aus-
zuschöpfen, bevor sie Investitionen in Milliardenhöhe
tätigen. Ein Pfandsystem für Einwegverpackungen lässt
sich nicht einfach mal eben so etablieren.


(Ulrike Mehl [SPD]: Sie hatten neun Jahre Zeit!)


WernerWittlich




WernerWittlich
Es muss eine riesige Infrastruktur geschaffen werden, de-
ren Einrichtung Milliarden kosten wird. Auch wesentliche
Fragen des Aufbaus und Betriebs eines solchen Systems
müssen noch geklärt werden.

Dies gilt beispielsweise für die Bereitstellung der not-
wendigen Infrastruktur, den Aufbau eines so genannten
zentralen Pfandclearings und die Einführung fäl-
schungssicherer Kennzeichen bei den betroffenen Ver-
packungen.


(Ulrike Mehl [SPD]: Das weiß der Handel seit Jahren!)


Dem von uns geforderten Moratorium bis Oktober 2003
haben Sie leider nicht zugestimmt. Bis dahin hätten we-
nigstens die Dosen, die bereits produziert worden sind,
sinnvoll verwendet werden können.


(Ulrike Mehl [SPD]: Das wissen die seit Jahren!)


– Arbeitsplätze und Unternehmen interessieren Sie nicht.
Allein in dem gerade genannten Werk liegen 200 Milli-
onen Dosen auf Halde, die derzeit nicht verkauft werden
können.


(Marco Bülow [SPD]: Stellen Sie diese Arbeitsplätze wenigstens den anderen gegenüber!)


Lediglich 0,8 Prozent des gesamten Abfalls, der in
Deutschland anfällt, besteht aus Einwegverpackungen.
Für diese geringe Abfallfraktion betreiben wir einen derart
überzogenen Verwaltungsaufwand. Alwin Münchmeyer
hat einmal gesagt: Das Vaterunser hat 56 Wörter. Die
Zehn Gebote haben 297 Wörter. Aber die Verordnung der
EU-Kommission über den Import von Karamellen und
Karamellprodukten zieht sich über 26 911 Wörter hin. –
Dies zeigt: Je unwichtiger die Dinge werden, desto kom-
plizierter sind die Regeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das mit Dosen zu tun?)


Müssen wir demnächst eigentlich auch Zigaretten-
schachteln oder Kaugummipapierchen bepfanden, um der
Landschaftsvermüllung Herr zu werden?


(Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine gute Idee!)


Herr Trittin, wie handhaben Sie es mit Bechern, in die bei-
spielsweise Buttermilch abgefüllt ist? Was denken Sie
sich denn dazu aus? Rund 800 Millionen Milchver-
packungen, die über das Duale System bisher reibungs-
los entsorgt werden, sollen nach Auskunft des BMU jetzt
bepfandet werden. Wie das unter hygienischen Bedingun-
gen funktionieren soll, steht in den Sternen. In der letzten
Konsequenz Ihrer Regel müssten Sie sogar die kleinen
Kaffeemilchdöschen, die Sie Ihren Besuchern auf die Un-
tertasse legen, zurückbringen.


(Jürgen Trittin, Bundesminister: Das gibt es bei uns nicht!)


– Sie trinken also nur Tee ohne Milch. Insofern freue ich
mich, dass selbst der Umweltminister inzwischen erkannt
hat, dass seine Zwangspfandregelung nicht das Ei des
Kolumbus ist.

Auch die jüngsten Novellierungsvorschläge werden
den Anforderungen nicht gerecht. Wir von CDU und CSU
würden die Neuregelung grundsätzlich begrüßen, wenn
sie zu einem Weniger an Bürokratie und einem Mehr an
Flexibilität führte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Die Neuregelung bietet uns die einmalige Chance, mit

den Forderungen nach einer Deregulierung des Umwelt-
rechts ernst zu machen. CDU/CSU sehen aber auch in
den vor wenigen Tagen vereinbarten Kompromissvor-
schlägen noch viele offene Fragen. Die Ankündigung des
Bundesumweltministeriums und der Länder, künftig nur
noch an das Kriterium der ökologisch vorteilhaften Ver-
packung anzuknüpfen, halten wir für einen Schritt in die
richtige Richtung. Wenn überhaupt, müssen Einwegver-
packungen nach Art der Verpackung und nicht nach dem
Inhalt bepfandet werden.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Richtig!)

Es ist aber davor zu warnen, dieses Kriterium bürokra-
tisch zu betrachten und an langwierige Entscheidungs-
prozesse zu binden.

Stellen Sie sich einmal folgenden Fall vor: Eine Ver-
packung, die derzeit noch nicht ökologisch vorteilhaft ist,
wird in einem Prozessverfahren zur ökologisch vorteil-
haften Verpackung, was durch entsprechende Gutachten
und Ökobilanzen belegt wird. Muss dann jedes Mal die ge-
samte Verwaltungsmaschinerie in Gang gesetzt werden?


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Eine sehr gute Frage!)


Müssen sich dann Umweltministerium, Bundestag und
Bundesrat wieder mit einer Novellierung der Ver-
packungsverordnung befassen, um den neuen Erkenntnis-
sen Rechnung zu tragen? Schließlich handelt es sich bei
einer Ökobilanz – das haben Sie in der Regierungsbefra-
gung selbst gesagt – um einen formalisierten Vorgang, der
internationalen Standards genügt.

Wir fordern daher, die Freistellung ökologisch vorteil-
hafter Verpackungen von der Pfandpflicht in einer so ge-
nannten Innovationsklausel festzuschreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie soll die Voraussetzungen verbindlich festlegen, unter
denen eine Freistellung von der Pfandpflicht gewährt
sein soll. Das heißt ganz konkret: Wenn sich eine Ver-
packung als ökologisch vorteilhaft herausstellt, muss sie
umgehend, das heißt auf Antrag, von der Pfandpflicht aus-
genommen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auch an anderer Stelle verträgt die geltende Ver-
packungsordnung Vereinfachungen. Es wäre wünschens-
wert, künftig ein einheitliches Pfand in Höhe von 25 Cent
zu erheben. Damit würde die Verpackungsrücknahme
vereinfacht und die finanziellen Mittel der Verbraucher
würden nicht unnötig gebunden.

Abschließend fordern wir, Getränkeverpackungen ab
drei Liter von der Verpackungspflicht auszunehmen. Las-


(A)



(B)



(C)



(D)


2194


(A)



(B)



(C)



(D)






sen Sie mich diese Forderung an einem Beispiel erläutern.
Sie, Herr Trittin, feiern mit Ihren Freunden eine Party und
kaufen für diesen Anlass ein Fünf-Liter-Partyfass Ihrer
Lieblingsmarke.


(Georg Girisch [CDU/CSU]: Er kauft 100 Liter!)


– Er sagt, er trinke nur noch Wein. – Bisher konnten Sie
dieses Fass bequem in der gelben Tonne entsorgen. Jetzt
müssen Sie feststellen, dass das Fass leider nicht in die üb-
lichen Rücknahmeautomaten passt. Für Abfüller und
Handel wäre es mit einem immensen Aufwand verbun-
den, ein eigenes Rücknahme- und Pfandsystem zu schaf-
fen. Auch eine Mehrfachbefüllung scheidet wegen der
unvermeidbaren Korrosion des Weißbleches aus. Wegen
des vergleichsweise geringen Marktanteils droht dem Par-
tyfassvertrieb langfristig das Aus. Seien wir doch ehrlich,
meine Damen und Herren: Haben Sie es schon erlebt, dass
jemand sein Partyfass am nächsten Morgen vom Balkon
aus in die unberührte Natur wirft?


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was glauben Sie, was wir alles finden!)


Diese Probleme haben Handel und Verbraucher bisher
noch zähneknirschend hingenommen. Nun aber hat das
Bundeskartellamt auch Bedenken gegen das vorgeschla-
gene einheitliche Rücknahmesystem angemeldet. Mit ei-
nem Schlag ist deshalb der Aufbau eines bundesweiten
Rücknahmesystems überraschend in Gefahr geraten.


(Ulrike Mehl [SPD]: Überhaupt nicht!)

Jetzt sind Sie gefordert, Herr Trittin. Sie müssen

schnellstens eine Lösung finden. Ich prophezeie Ihnen,
dass Ihnen sonst Handel und Industrie das einheitliche
Rücknahmesystem vor die Füße werfen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrike Mehl [SPD]: Sie sind doch wie die Geier hinterher!)


Dann stünden wir vor einem riesigen Scherbenhaufen und
der Karren wäre endgültig gegen die Wand gefahren. Das
sind Fragen, über die wir reden müssen.

Wenn sich der Bundesumweltminister nicht unseren
immer wieder vorgetragenen Änderungsvorschlägen ent-
zogen hätte, wäre jetzt manches leichter. Bis heute ver-
schließen Sie sich einer vernünftigen Lösung und versu-
chen stattdessen, die angerichteten Schäden mit
geringfügigen kosmetischen Änderungen zu mildern.

Ich möchte abschließend darauf drängen – –


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502811000

Ja, Herr Kollege, ich bitte darum, dass Sie zum Schluss

kommen.


Werner Wittlich (CDU):
Rede ID: ID1502811100

Ich komme sofort zum Ende, Frau Präsidentin. – Ich

möchte abschließend darauf drängen, den vorgelegten
Novellierungsentwurf nochmals zu überarbeiten. Ich
biete dafür für die CDU/CSU unsere konstruktive Mitar-
beit an.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrike Mehl [SPD]: Um Gottes willen!)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502811200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Vogel-Sperl,

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Im vorliegenden Antrag der FDP wird erklärt,
die Pfandpflicht für Einweggetränkeverpackungen sei
„durch aktuelle Erkenntnisse aus Ökobilanzen obsolet ge-
worden“. Tatsächlich ist jedoch der Vorschlag der FDP
obsolet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die zum 1. Januar 2003 eingeführte Pfandpflicht ist ein
großer Erfolg für die Umwelt und ein weiterer Schritt zu
einer funktionsfähigen Kreislaufwirtschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das prognostizierte Chaos ist ausgeblieben. Die ersten
Wochen dieses Jahres belegen eindeutig eine ökologische
Lenkungswirkung. Das Pfand führt dazu, dass der bis-
herige Wettbewerbsvorteil der Einwegverpackungen ge-
genüber den Mehrwegsystemen aufgehoben wird. Viele
Händler haben Einwegprodukte aus ihrem Sortiment aus-
gelistet und die Abfüller von Mehrwegprodukten ver-
zeichnen deutliche Absatzsteigerungen.

Werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie ir-
ren, wenn Sie von einer kontraproduktiven Wirkung des
Dosenpfandes ausgehen. Dass die Pfandpflicht eine ge-
eignete Maßnahme zur Stärkung von Mehrwegsystemen
ist, hat unter anderem das Umweltbundesamt bestätigt.
Sie bestätigen es sogar selbst, indem Sie sich um Arbeits-
plätze bei der Einwegabfüllung sorgen. Interessanter-
weise haben Sie diese Sorge mit Blick auf die rund
250 000 Arbeitsplätze, die im Mehrwegbereich auf dem
Spiel stehen, bisher nicht geäußert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ulrike Mehl [SPD]: Das ist spannend!)


In der gegenwärtigen Situation immer noch die Augen
vor der Realität zu verschließen ist sicher nicht ziel-
führend. Die von Ihnen vorgebrachten Argumente werden
durch ständige Wiederholung auch nicht richtiger. Die
Forderung nach einem Aussetzen der eingeführten Pfand-
pflicht lehnen wir entschieden ab. Von einer Rechtsunsi-
cherheit kann heute keine Rede mehr sein. Vor dem Hin-
tergrund der inzwischen erreichten Einigung mit den
Bundesländern hat diese Forderung zudem jegliche Rele-
vanz verloren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


WernerWittlich




Dr. Antje Vogel-Sperl

Ist es nicht vielmehr so, dass seit gut zehn Jahren sei-
tens des Handels versucht wird, die bereits unter Klaus
Töpfer erlassene Verpackungsverordnung konsequent zu
ignorieren, zu unterlaufen und zu boykottieren?


(Ulrike Mehl [SPD]: Genau so ist es!)

Tatsache ist, dass seit 1991 klar ist, was auf den Handel
zukommt, wenn die vorgeschriebene Mehrwegquote von
72 Prozent unterschritten wird. Dies ist bereits 1997 erst-
mals geschehen. In den nachfolgenden Jahren ist die
Quote kontinuierlich weiter gesunken.

Statt konstruktiv zusammenzuarbeiten, haben Groß-
brauereien und Handelsketten bis zuletzt auf einen Regie-
rungswechsel spekuliert


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und, nachdem diese Hoffnung nicht in Erfüllung gegan-
gen ist, das Land mit unzähligen Gerichtsverfahren über-
zogen. So sollte die fällige Umsetzung der Ver-
packungsverordnung doch noch verhindert werden.
Spätestens mit der Entscheidung des Oberverwaltungsge-
richts in Leipzig vom Januar dieses Jahres sind auch diese
Versuche endgültig gescheitert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das Pfand sichert Arbeitsplätze im Mittelstand. In der
Vergangenheit haben vor allem Großbrauereien ihre Er-
zeugnisse in Einwegverpackungen zu Dumpingpreisen
auf den Markt geworfen. Gleichzeitig wurde die Gefähr-
dung von Tausenden von Arbeitsplätzen in mittelständi-
schen Betrieben in Kauf genommen, die bisher traditio-
nell auf Mehrwegsysteme gesetzt haben. Das Pfand stärkt
die regionale Vermarktung von Getränken, da vor allem
regionale Anbieter in der Vergangenheit auf Mehrweg ge-
setzt und dafür auch umfangreiche Investitionen getätigt
haben.


(Birgit Homburger [FDP]: Das Gegenteil ist der Fall!)


Wenn zurzeit bei einigen Einwegabfüllern Probleme auf-
treten und teilweise Kurzarbeit angesetzt wurde, liegt dies
darin begründet, dass sich die Wirtschaft viel zu lange
geweigert hat, sich auf das frühzeitig angekündigte Pfand
einzustellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das Pfand ist aber vor allem ein sinnvolles Instrument,
um ökologisch vorteilhafte Verpackungen zu fördern. Es
wird im Übrigen von der großen Mehrheit der Bevölke-
rung akzeptiert und befürwortet. Das Pfand führt zu einer
sortenreinen Sammlung der Verpackungsabfälle und so-
mit zu einer besseren Verwertung der Rohstoffe. Es trägt
dazu bei, Müll im Vorfeld zu vermeiden, anstatt ihn im
Nachhinein aufwendig sammeln und entsorgen zu müs-
sen. Hier bedarf es übrigens auch keines Fonds für Land-
schaftsschutz.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Frau Kollegin Homburger, Sie beschweren sich

über die bisherigen Ungereimtheiten bei der Pfandpflicht.

Diese haben Sie aber doch erst mit der Novelle von 1998
eingeführt. Sie waren an der Regierung beteiligt.


(Birgit Homburger [FDP]: Das Problem ist Ihre Umsetzung!)


– Ich würde gern fortfahren.

(Birgit Homburger [FDP]: Das dürfen Sie gerne!)

In dieser Novelle wurde die ökologisch unsinnige Un-

terscheidung nach Getränkearten eingeführt. Wir haben
indes schon immer eine Ausrichtung der Verpackungsver-
ordnung nach ökologischen Kriterien gefordert und ent-
sprechende gesetzliche Initiativen auf den Weg gebracht.
Eine Novellierung der Verpackungsverordnung nach öko-
logischen Gesichtspunkten ist im Jahr 2001 im Bundes-
rat aufgrund rein parteipolitischen Kalküls gescheitert.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So war es nicht! – Werner Wittlich [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr! Es waren jede Menge SPD-Länder dabei! – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wie war es mit Clement aus Nordrhein-Westfalen? – Ulrike Mehl [SPD]: Stoiber gehört auch in die Reihe!)


Schon vor zwei Jahren hätten wir genau das erreichen
können, worüber jetzt Konsens zwischen der Bundes-
regierung und den Ländern erzielt wurde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Draußen versteht dies kein Mensch mehr, zumal es hier
auch um Deregulierung geht.

Die Pfandpflicht soll künftig für alle Einweggetränke-
verpackungen gelten mit Ausnahme von erstens ökolo-
gisch vorteilhaften Einweggetränkeverpackungen wie
Getränkekartons und Schlauchbeutel für Milch, zweitens
Wein, Spirituosen und allen Mixgetränken mit einem
überwiegenden Anteil davon und drittens bestimmten diä-
tetischen Lebensmitteln. Ein Pfand in einer einheitlichen
Höhe, wie von Ihnen vorgeschlagen, lehnen wir indes ab.


(Werner Wittlich [CDU/CSU]: Das warten wir mal ab, ob Sie es ablehnen!)


Auch auf die Mehrwegquote als auslösendes Element
für die Pfandpflicht wird zukünftig verzichtet. In § 1 Ver-
packungsverordnung wird das Ziel aufgenommen, dass
der Anteil der in ökologisch vorteilhaften Getränkever-
packungen abgefüllten Getränke mindestens 80 Prozent
betragen soll. Um gleichzeitig Anreize zu schaffen, um-
weltverträgliche Verpackungen zu entwickeln, wird ge-
währleistet sein, dass Verpackungen, die sich zukünftig
als ökologisch vorteilhaft erweisen, von der Pfandpflicht
ausgenommen werden können. Allerdings sind wir der
Meinung, das dies ohne jeglichen Automatismus gesche-
hen sollte. Die Entscheidung darüber sollte dem Parla-
ment nicht vorenthalten werden.

Lassen Sie uns die unendliche Geschichte der Dose zu
Ende bringen und uns weiteren wichtigen Fragen der
Kreislaufwirtschaft zuwenden.


(Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ja, das ist ein gutes Wort! Das geht an den Minister!)



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(B)



(C)



(D)


2196


(A)



(B)



(C)



(D)






Lassen Sie uns gemeinsam konstruktiv die Novellierung
der Verpackungsverordnung auf den Weg bringen! Auch
Industrie und Handel müssen jetzt konsequent dazu bei-
tragen, dass das bundesweit einheitliche Rücknahme-
system spätestens zum 1. Oktober bereitsteht und die bis-
herige Blockadepolitik nicht auf anderen Feldern wie dem
Kartellrecht fortgeführt wird. Das Bundeskartellamt hat
frühzeitig signalisiert, ein bundesweites Rücknahme-
system mit einer Clearingstelle für den Ausgleich der
Pfandzahlungen unter Einhaltung bestimmter Kriterien zu
genehmigen. Es liegt nun an der Wirtschaft, ein entspre-
chendes Konzept vorzulegen und nicht den schwarzen
Peter der Kartellbehörde unterzuschieben.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502811300

Frau Kollegin Vogel-Sperl, ich gratuliere Ihnen recht

herzlich zu Ihrer ersten Rede hier in diesem Hohen Hause
und wünsche Ihnen politisch und persönlich alles Gute.


(Beifall)

Nächste Rednerin ist die Kollegin Kristina Köhler,

CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Kristina Köhler (CDU):
Rede ID: ID1502811400

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Die Einführung des Zwangspfands zum 1. Januar
war ein klassischer Fehlstart.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulrike Mehl [SPD]: Nein!)


Chaotischer geht es wirklich nicht: eine Regelung, die
jeglicher Logik entbehrt, Händler, die darauf nicht vorbe-
reitet waren, und verzweifelte Kunden, die in jedem Su-
permarkt und an jedem Kiosk mit einer neuen Regelung
für die Rückgabe ihrer Dosen konfrontiert wurden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Statt zuerst mit allen Beteiligten nach einer praktika-

blen Lösung zu suchen und anschließend ein Zwangs-
pfand einzuführen, hat Herr Minister Trittin lieber genau
umgekehrt gehandelt, nach dem Motto: Erst handeln; den-
ken können wir ja später immer noch.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Birgit Homburger [FDP])


Der Antrag der FDP greift wichtige Argumente der
CDU/CSU auf. Wir kritisieren ebenfalls, dass sich das
Pfand derzeit nicht nach der Ökobilanz richtet, sondern an
eine Mehrwegquote gekoppelt ist. Das ist ökologisch
vollkommen sinnlos, denn der Umwelt ist es wirklich to-
tal egal, ob in einem Eistee Kohlensäure enthalten ist oder
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Birgit Homburger [FDP])


Wir kritisieren, dass mit dem Pfand nicht bis zu einer
Novellierung der Verpackungsverordnung gewartet
wurde. Dies hat enorme Probleme und Belastungen für
die Wirtschaft und für die Verbraucher mit sich ge-
bracht. Wie die FDP sind auch wir der Auffassung, dass
das Problem der Landschaftsvermüllung anders zu lö-
sen ist. Ich denke dabei beispielsweise an unser Frank-
furter Modell, das wir jetzt auch in meinem Wahlkreis
Wiesbaden eingeführt haben: Völlig egal, ob eine Ziga-
rettenschachtel oder eine Einwegflasche im Gebüsch
landet, zahlt derjenige, der das dahin wirft. Das ist der
richtige Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Birgit Homburger [FDP])


In diesen Tagen wurde nun zwischen Bund und Län-
dern eine Einigung über die Eckpunkte einer Novelle er-
zielt. Darin wurde die wesentliche Forderung der CDU/
CSU berücksichtigt, nämlich dass das Pfand an eine ne-
gativeÖkobilanz geknüpft ist. Daher begrüßen wir diese
Einigung grundsätzlich.


(Ulrike Mehl [SPD]: Das hättet ihr schon vor zwei Jahren haben können!)


Ein Kompromiss ist also gefunden, Herr Trittin. Es liegt
nun an Ihnen, eine Novelle zu erarbeiten. Ich bitte Sie
aber, dabei einige Punkte zu beachten. Sosehr wir auch die
Ankündigung begrüßen, dass die Pfandpflicht künftig al-
lein an die Ökobilanz geknüpft ist, bitten wir Sie dennoch,
Herr Trittin: Ersparen Sie uns eine bürokratisch aufge-
blähte Regelung, die zur Beurteilung der Ökobilanz neuer
Verpackungen langwierige Entscheidungsprozesse hier
im Parlament nötig macht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Herr Trittin, wir wollen doch in diesem Hohen Hause in
Zukunft nicht immer wieder über Bierdosen und Eistee
reden. Deutschland hat doch wirklich wichtigere Pro-
bleme.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir fordern daher, eine Innovationsklausel einzu-

führen, in der verbindliche Kriterien für die Freistellung
vom Dosenpfand festgelegt werden. Wenn eine neue Ver-
packung erfunden wird, von der wir vielleicht heute noch
gar nichts ahnen, und diese den Kriterien genügt, sich so-
mit als ökologisch vorteilhaft erweist, muss diese Ver-
packung ohne großen bürokratischen Aufwand von der
Pfandpflicht befreit werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir wollen also eine Verpackungsverordnung, die sich

automatisch dem technischen Fortschritt anpaßt, damit
nicht nach jeder Innovation der Verpackungsindustrie
wieder alle politischen Entscheidungsgremien beschäftigt
werden. Es ist nicht Aufgabe dieses Hauses, über die
Ökobilanz des Capri-Sonne-Trinkpacks zu diskutieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wenn es Ihnen mit der Entbürokratisierung ernst ist,

dann beginnen Sie dort, wo es möglich ist. Vermeiden Sie
von Anfang an zu viel Bürokratie und geben Sie unserer

Dr. Antje Vogel-Sperl




Kristina Köhler (Wiesbaden)

Forderung nach einer so gestalteten Innovationsklausel
nach.


(Beifall bei der CDU/CSU – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist Umweltschutz!)


In der Einigung wird des Weiteren festgelegt, dass der
Mindestanteil ökologisch vorteilhafter Verpackungen
80 Prozent betragen soll. Als Zielvorgabe, an der sich
Wirtschaft und Verbraucher orientieren können, ist das in
Ordnung. Wir lehnen aber ab, dass das Unterschreiten die-
ser Quote Sanktionen nach sich zieht, denn dann wären
wir wieder bei einer ökologisch unsinnigen Quotenrege-
lung, von der wir gerade weg wollten.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Herr Minister Trittin, zeigen Sie mit der Novelle, dass

es die Bundesregierung mit der Entbürokratisierung ernst
meint. Berücksichtigen Sie unsere Forderung nach einer
Innovationsklausel und stellen Sie sicher, dass Eva-
luierung und Anpassung der Verpackungsverordnung
nicht immer wieder dieses Parlament beschäftigen, dann
können Sie auch mit der Unterstützung von CDU/CSU
rechnen.

Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502811500

Frau Kollegin Köhler, Sie hielten heute Ihre erste

Rede. Herzlichen Glückwunsch. Ich wünsche auch Ihnen
politisch und persönlich alles Gute.


(Beifall)

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

der Drucksache 15/315 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Weiß

(Emmendingen), Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert

Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Neue Initiative zurWiederbelebung des kolum-
bianischen Friedensprozesses international un-
terstützen
– Drucksache 15/203 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hartwig Fischer, CDU/CSU-Fraktion.


Hartwig Fischer (CDU):
Rede ID: ID1502811600

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Die politische und soziale Situation in Kolumbien
hat sich in den vergangenen Jahren stark verschlechtert.
Nach Analysen der Vereinten Nationen sind die Ko-
kaanbauflächen in Kolumbien im Vergleich zu 1996 um
300 Prozent vergrößert worden. Die Schreckensmacht
der linken und rechten Guerilla, die sich hauptsächlich aus
dem Drogenhandel finanzieren, konnte nicht durchbro-
chen werden. Vielmehr haben die Gewalttaten massiv zu-
genommen, und zwar nicht nur auf dem Land, sondern ge-
rade auch in den Städten. Entführungen, Erpressungen und
Morde – etwa 30 000 jährlich – verursachen immer häufi-
ger Angst und Schrecken in Kolumbien.

Vor etwa einem Jahr sind die Friedensgespräche zwi-
schen der kolumbianischen Regierung und der Rebellen-
gruppe „Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens“, FARC,
abgebrochen worden und konnten bis heute nicht wieder
aufgenommen werden. Das Bombenattentat der FARC in
Bogota vor wenigen Tagen lässt erkennen, dass die Gue-
rillas ihren Kampf nun vom Land wieder in die Städte ver-
legen. Dabei konnten die Guerillas während der letzten
Jahre ihre Position in den ländlichen Regionen unter Aus-
nutzung des konzilianten politischen Ansatzes des ehe-
maligen Präsidenten Pastrana ausbauen. Schätzungsweise
sind 50 Prozent der Fläche Kolumbiens nicht unter staat-
licher Kontrolle, sondern unter der bewaffneter Gewalt-
gruppen. Um die Finanzierung dieser Gruppen durch den
Drogenhandel ebenso wie die Unterdrückung der Indige-
nen und der sonstigen Landbevölkerung zu beenden,
muss also vor allem das staatliche Gewaltmonopol in
ganz Kolumbien hergestellt werden.

Eingedenk der Tatsache, dass die Friedensinitiativen
des Vorgängers des heutigen Präsidenten Uribe von der
Guerilla nicht honoriert wurden, muss eine erfolgreiche
Politik für Kolumbien daran ansetzen, das Land innenpo-
litisch zu stabilisieren, notfalls auch unter Einsatz von Po-
lizei und Militär.


(Beifall bei der CDU/CSU)

Darin sollte Präsident Uribe von den internationalen Ko-
operationspartnern unterstützt werden. Dabei muss die
rechtsstaatliche Überprüfung der Notstandsmaßnahmen
Uribes gewährleistet sein. Derartige Maßnahmen sind
aber nur dauerhaft wirksam, wenn sie von entsprechenden
strukturellen und sozialen Maßnahmen flankiert werden,
gerade weil sich die Spannungen in Kolumbien in den
letzten Monaten verschärft haben.

Für CDU und CSU ist es im Gegensatz zur Meinung
des BMZ nicht damit getan, im Rahmen des übergeord-
neten Schwerpunktes „Krisenprävention und Friedens-
entwicklung“ nur punktuelle Beiträge zur Lösung des in-
ternen Konflikts zu leisten. Wir sehen in umfassenden
Reformen von Legislative, Parteien, Justiz und Verwal-
tung ein Kernstück einer dauerhaften Friedenspolitik für
Kolumbien. Wir begrüßen daher ausdrücklich die finan-
zielle Unterstützung des UN-Menschenrechtsbüros in
Bogota durch die Bundesrepublik Deutschland. Aber, Frau


(A)



(B)



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(D)


2198


(A)



(B)



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(D)






Ministerin Wieczorek-Zeul, das ist wieder einmal nur eine
Politik der Symbolik. Sie haben Ihre Möglichkeiten, ge-
rade im Rahmen der EU-Entwicklungszusammenarbeit
auf eine nicht nur bezüglich der Menschenrechte einheitli-
chere und vorurteilslose Politik gegenüber Kolumbien
hinzuwirken, bei weitem noch nicht ausgeschöpft.


(Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Richtig!)

Am US-amerikanischen „Plan Colombia“ kann man

durchaus berechtigte Kritik üben. Aber es ist doch nur
sinnvoll, mit den Vereinigten Staaten als wichtigstem
Kooperationspartner der kolumbianischen Regierung eng
zusammenzuarbeiten und sich abzustimmen.

Über den Antrag der CDU/CSU-Fraktion hinaus möchte
ich zwei konkrete Vorschläge machen: Erstens. Drogen-
anbau und Drogenhandel sind die Hauptfinanziers des
Unfriedens in Kolumbien. Deshalb muss die Förderung
von Alternativen zum Drogenanbau im Rahmen einer
integrierten ländlichen Entwicklung wieder in das Zen-
trum der deutschen und der europäischen Entwicklungs-
zusammenarbeit rücken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Bei den im zweiten Halbjahr 2003 anstehenden Regie-
rungsverhandlungen sollte die Hilfe für Kolumbien nicht,
wie von der Bundesregierung geplant, gekürzt, sondern
aufgestockt werden. Wenn schon derzeit der Kaffeeanbau
angesichts des Preisverfalls keine Alternative darstellt,
dann könnte zumindest die Umwandlung in rentable Pro-
duktiv- und Schutzwälder eine große Chance eröffnen.
Alternative Anbauprodukte brauchen aber vor allem einen
Markt. Den könnten die Industrieländer durch einen Ab-
bau der Zollbarrieren schaffen. Dass gerade Deutschland
das Gegenteil tut, zeigt die morgen anstehende Verab-
schiedung der neuen Steuergesetze. Kolumbien fürchtet
als zweitgrößter Blumenexporteur der Welt zu Recht um
seine Absatzchancen, wenn Rot-Grün die Mehrwertsteuer
auf Schnittblumen erhöht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zweitens. Grundvoraussetzung für einen Friedenspro-

zess ist die Respektierung der demokratisch gewählten
Institutionen. Mehrere Mitglieder des kolumbianischen
Kongresses sind derzeit entführt und können ihr Abge-
ordnetenmandat nicht wahrnehmen. Ein Drittel aller Bür-
germeister kann das Amt nicht ausüben oder sie müssen
von anderer Stelle ihre Tätigkeit ausüben als vom Rathaus
aus, in das sie gewählt wurden. Wir, der Deutsche Bundes-
tag, sollten zusammen mit Parlamentariern anderer Län-
der eine gemeinsame Initiative starten, um den Druck auf
die Guerilla zur Freilassung unserer Kolleginnen und
Kollegen und zur Gewährleistung freier Mandatsaus-
übung deutlich zu erhöhen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502811700

Herr Fischer, auch Ihnen herzliche Glückwünsche zu

Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause. Ich wünsche
Ihnen persönlich und politisch alles Gute.


(Beifall)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Tribüne ver-
folgen Gäste aus Kolumbien unsere Debatte. Dies sind der
Präsident des kolumbianischen Kongresses, Señor
Alfredo Ramos Botero, und die anderen Mitglieder sei-
ner Delegation. Herzlich willkommen im Deutschen
Bundestag!


(Beifall)

Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Karin

Kortmann, SPD-Fraktion.


Karin Kortmann (SPD):
Rede ID: ID1502811800

Sehr geehrte, liebe Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-

nen! Liebe Kollegen! Buenas tardes señores senadores del
Parlamento Colombiano!


(Beifall)

Knapp 30 Jahre Bürgerkrieg in Kolumbien hinterlas-

sen Spuren: Inzwischen sind etwa 2,5 Millionen Men-
schen aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzungen
zwischen Militär, Guerilla und Paramilitärs sowie auf-
grund der unzureichenden Drogenpolitik des kolumbiani-
schen Staates auf der Flucht. Alle bewaffneten Gruppen
verletzen seit Jahrzehnten nachweislich die Menschen-
rechte und das humanitäre Völkerrecht.

Diese Situation in Kolumbien beschreiben Sie in Ihrem
Antrag sehr korrekt, liebe Kollegen und Kolleginnen der
Union. Allerdings stimme ich Ihnen in Bezug auf die
Konsequenzen, die Sie aus Ihrer Analyse ziehen, und auf
Ihre Handlungsaufforderungen an die Bundesregierung in
keiner Weise zu. Sie konterkarieren und widersprechen
der in diesem Hause beschlossenen Kolumbienpolitik.
Wir haben uns vor anderthalb Jahren dafür eingesetzt,
dass es zu einer Rückgewinnung der staatlichen Autorität,
der Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie,
der Wahrung der Menschenrechte, der Versöhnung der be-
waffneten Konfliktparteien und vor allem zu einer regio-
nalen Stabilisierung kommt.

Unter der Überschrift „Neue Initiative zur Wiederbele-
bung des kolumbianischen Friedensprozesses internatio-
nal unterstützen“ fordern Sie gar die Unterstützung des
„Plan Colombia“.Diese Forderung zieht sich wie ein ro-
ter Faden durch Ihren Antrag. Das ist nicht nur ein Griff
in die Mottenkiste, sondern ein äußerst gefährliches Un-
terfangen, den Friedensprozess mit militärischen Mitteln
wiederzubeleben.

Ich erinnere: Der von der Regierung Pastrana im
Jahr 2000 ausgearbeitete nationale Entwicklungsplan
sollte die Basis für eine Befriedung des Landes schaffen;
das Hauptgewicht wurde aber auf die Bekämpfung des
Drogenanbaus und des Drogenhandels mit militärischen
Mitteln gelegt. Aus diesem Grund hat ein breites Bündnis
internationaler Menschenrechtsorganisationen, kirch-
licher Hilfswerke, der EU, auch und gerade der deutschen
Bundesregierung und des Deutschen Bundestages den
„Plan Colombia“ abgelehnt. Wenn Sie sich schon Anträge
von Nichtregierungsorganisationen schreiben lassen,
dann verfolgen Sie bitte auch deren Intention, was den
„Plan Colombia“ angeht, und nehmen Sie keine Verdre-
hungen im Antragstext vor!

Hartwig Fischer (Göttingen)





Hartwig Fischer (Göttingen)



(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Großflächige Besprühungen von Drogenkulturen mit
Pestiziden aus der Luft zerstören nicht nur Kokafelder,
sondern jegliche landwirtschaftliche Produktion in den
betroffenen Gebieten. Außerdem bedrohen sie die Ge-
sundheit der Bevölkerung. Daher setzt die Bundesregie-
rung unter Federführung des BMZ im Rahmen der EU auf
eine entwicklungsorientierte, alternative Bekämpfung
des Drogenanbaus, zum Beispiel durch die Substitution
von Drogenpflanzungen durch andere, legale Anbaukul-
turen sowie durch Aufforstungsmaßnahmen im Rahmen
einer nachhaltigen Waldwirtschaft, die vom BMZ verant-
wortet wird.

In betroffenen Regionen, zum Beispiel Cauca, hat sich
gezeigt, dass durch die Besprühungsaktionen die Zahl der
Binnenvertreibungen ansteigt und das ökologische
Gleichgewicht massiv zerstört wurde. Ein solches Pro-
blem macht auch an den Landesgrenzen nicht Halt. Das
gilt gerade im Fall Kolumbien, dessen bewaffneter Kon-
flikt auf die Nachbarländer übergreift.

Wir brauchen nicht nur eine kolumbianische, sondern
auch eine regionale Perspektive.


(Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Diese muss Alternativen zu den militärisch-repressiven
Komponenten des „Plan Colombia“ und der daraus wei-
terentwickelten „Andean Regional Initiative“ der Bush-
Administration bieten; sonst ist eine Militarisierung der
gesamten Region zu befürchten.

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit engagiert
sich sowohl im Rahmen der EU als auch im Rahmen ih-
rer bilateralen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit
für eine Verbesserung der Lage in Kolumbien. Neben
Umwelt- und Ressourcenschutz sind Friedensentwicklung
und Konfliktbewältigung die Schwerpunkte. Während der
Regierungsverhandlungen im April 2001, Herr Fischer,
hat die Bundesregierung gar eine Verdoppelung ihrer bila-
teralen Unterstützungsleistungen zugunsten des Friedens-
prozesses vorgenommen. Damit hat Heidemarie
Wieczorek-Zeul einen Demokratiebonus für die Pastrana-
Regierung und den Friedensprozess gegeben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Allerdings müssen wir feststellen, dass Pastrana mit
seinem „Plan Colombia“ gescheitert ist und dass die Po-
litik, die Sie meine Damen und Herren von der Union,
jetzt auch noch unterstützen wollen, sicherlich nicht sehr
zukunftsfähig ist.

Die so genannte Politik der harten Hand seines
Nachfolgers, Präsident Uribe, die vor allem auf eine mi-
litärische Konfliktlösung setzt, muss von der internatio-
nalen Staatengemeinschaft äußerst kritisch beobachtet
werden.


(Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Na, na!)

– Selbstverständlich, Herr Ruck; schauen Sie hin! – Mit
der Erklärung des Ausnahmezustands kurz nach der

Amtsübernahme von Präsident Uribe wurden bestimmte
Grundrechte wie die Bewegungs-, die Versammlungs-
und die Pressefreiheit eingeschränkt und gleichzeitig dem
Militär polizeiliche Aufgaben übertragen.

Menschenrechtsverletzter können in Kolumbien nach
wie vor mit weitgehender Straflosigkeit rechnen. Das ist
ein Schlüsselproblem des bewaffneten Konflikts, da man-
gelnde Strafverfolgung ein Hauptanreiz für weitere
Gewalt ist. Das Büro des VN-Hochkommissariats für Men-
schenrechte in Bogotá hat Kolumbien nach wie vor man-
gelnde Strafverfolgung in hohem Maß, mangelndes Vorge-
hen gegen Angehörige des Staatsapparates und eine unklare
Trennung zwischen ziviler und militärischer Gerichtsbar-
keit bescheinigt sowie Empfehlungen zur Bekämpfung der
mangelnden Strafverfolgung ausgesprochen. Die kolum-
bianische Regierung muss diese Maßnahmen endlich um-
setzen, gerade im Hinblick darauf, dass eine stärkere Mitt-
lerrolle der internationalen Staatengemeinschaft im
kolumbianischen Konflikt von Präsident Uribe ausdrück-
lich gewünscht ist.

Zu diesem Problem gehört auch, dass Kolumbien kürz-
lich dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zwar
beigetreten ist, allerdings mit einem siebenjährigen Vor-
behalt für Verbrechen gemäß Art. 8. Das bedeutet, dass
erst in sieben Jahren Kriegsverbrecher für Vergehen, die
sie dann begehen, international zur Verantwortung gezo-
gen werden können.

Selbstverständlich muss der kolumbianische Staat
sein Gewaltmonopol wieder herstellen, um die Wahrung
der Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit über-
haupt zu garantieren und auch eine Ausweitung eines
Konflikts auf die gesamte Andenregion zu verhindern.
Hierzu bedarf es aber unserer Begleitung und Unterstüt-
zung in den Bereichen Rechtsstaatsförderung, Verteidi-
gung der Menschenrechte, Kampf gegen Ursachen der
Gewalt, Schutz der Biodiversität und Bekämpfung des
Drogenanbaus durch eine nachhaltige ländliche Ent-
wicklung und nicht einer Unterstützung des „Plan Co-
lombia“.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502811900

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,

FDP-Fraktion.


Dr. Werner Hoyer (FDP):
Rede ID: ID1502812000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Kolumbien braucht und verdient unsere Aufmerksamkeit.
Kolumbien ist ein geschundenes Land. Die Kolumbianer
sind ein geschundenes Volk. Sie verdienen unsere unein-
geschränkte Unterstützung. Ich habe mich übrigens
besonders darüber gefreut, Herr Fischer, dass Sie die So-
lidarität mit unseren parlamentarischen Kollegen ange-
mahnt haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



(A)



(B)



(C)



(D)


2200


(A)



(B)



(C)



(D)






Es ist ein unglaublicher Skandal, den wir, egal wo wir po-
litisch stehen mögen, nicht einfach hinnehmen dürfen.


(Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Richtig!)

Ich habe bei der Vorbereitung auf diese Rede noch ein-

mal die Debatte vom 5. Juli 2000 nachgelesen. Ich bin zu
dem Schluss gekommen, dass es zwei Möglichkeiten gibt:
dass ich entweder die Rede von damals zu Protokoll gebe
oder sie einfach noch einmal vorlese, ohne dass jemand
merken wird, dass sie vor drei Jahren schon einmal ge-
halten worden ist; denn die Probleme haben sich nicht
nachhaltig geändert. Es ist keine wesentliche Besserung
eingetreten. Bestimmte Dinge haben sich eher noch ver-
schärft. Die Situation ist fast noch verzweifelter gewor-
den. Wir müssen nur einige Namen ändern. Es ist ein
neuer Präsident im Amt, der mit großem Engagement ver-
sucht, an die Dinge heranzugehen, und dabei bisher er-
staunlicherweise keinen Abbau seiner hohen Popularitäts-
werte in Kauf nehmen muss, obwohl er den Menschen
weiß Gott viel abverlangt.

Die Schwierigkeiten sind nach wie vor enorm groß.
Die Kollegin und der Kollege haben das sehr nachdrück-
lich vorgetragen. Ich verzichte darauf, das zu wiederho-
len.

Die Sicherheitslage bzw. die Unsicherheitslage – so sa-
gen wir wohl besser – ist neben der Korruption sicherlich
der größte Hemmschuh für Auslandsinvestitionen, für
Tourismus, für eine wirtschaftliche Entwicklung und ins-
besondere für eine Verbesserung der sozialen Lage der
Menschen. In dieser Situation ist die Europäische Union
sehr viel mehr gefordert, als das in Brüssel offensichtlich
gesehen wird. Wir sind im Hinblick auf den europäischen
Ansatz für Kolumbien gegenüber der Debatte, die wir vor
drei Jahren geführt haben, noch nicht entscheidend wei-
tergekommen. Wir sollten dort weiterhin Druck machen.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Christian Ruck [CDU/CSU])


Dass es hier und da Fortschritte gegeben hat, ist nicht
zuletzt auch der Initiative vieler Nichtregierungsorganisa-
tionen und der Kirchen zu danken. Deren Engagement mit
vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die ein großes
persönliches Risiko eingehen, sollten wir an dieser Stelle
würdigen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich halte es für zwingend erforderlich, dass wir in ei-
ner ganz beachtlichen Breite die Zusammenarbeit mit Ko-
lumbien suchen. Ich fürchte – das ist der Punkt, bei dem
ich zwar unvoreingenommen, aber doch mit einer gewis-
sen Grundskepsis an den „Plan Colombia“ und den jetzt
vorliegenden Antrag der Unionsfraktionen herangehe –,
die schärfere Fokussierung der militärischen Dimension
kann es nicht sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich bin durchaus nicht so naiv, davon auszugehen, dass

wir nur mit alternativen Anbauprojekten oder mit Sozial-
projekten die Probleme in den Griff kriegen könnten. Die
repressive Dimension muss mit Sicherheit vorhanden sein

und geschärft werden, auch durch unsere Hilfe. Aber ich
finde es doch schon sehr bedenklich, wenn wir uns sehr
stark auf die militärische Dimension des Problems stüt-
zen. Problematisch sind Reaktionen weit über die Putu-
mayo-Region hinaus.

Gleichzeitig sind in den letzten Jahren unsere Ansätze
für Polizeihilfe in den Etats sowohl des Außenministers
als auch des Innenministers immer weiter zurückgefahren
worden. Hier war in den letzten Jahren hervorragende Ar-
beit geleistet worden.


(Beifall bei der FDP)

Ich will es bei diesen wenigen kritischen Anmerkun-

gen, die in 180 Sekunden möglich sind, belassen. Ich sage
noch einmal: Die FDP-Fraktion geht unvoreingenommen
in die Diskussion in den Ausschüssen. Ich möchte aber
eine gewisse Skepsis, gerade was die sehr starke Fokus-
sierung auf den „Plan Colombia“ angeht, nicht verhehlen.

Danke schön.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502812100

Nächster Redner ist der Kollege Thilo Hoppe, Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502812200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

„Hundert Jahre Einsamkeit“ – das ist der Titel des be-
kannten Buches von Gabriel García Márquez, des kolum-
bianischen Literaturnobelpreisträgers. Angesichts der
Tragödie, die sein Land zurzeit durchlebt, erhält dieser Ti-
tel eine ganz neue Bedeutung: 50 Jahre latenter Bürger-
krieg und kein Ende in Sicht.

Seit 1998 hat sich die Lage aufgrund der Wirtschafts-
krise noch weiter zugespitzt: Jahr für Jahr Tausende von
Ermordeten, Tausende von Entführten und mehr als zwei
Millionen Flüchtlinge. Nächsten Sonntag ist es ein Jahr
her, dass die grüne Präsidentschaftskandidatin Ingrid
Betancourt von der FARC-Guerilla entführt wurde. Mit
ihr gemeinsam befinden sich 23 weitere Politiker in Gei-
selhaft der Guerilla.

Ich will dieses Szenario des Schreckens nicht noch
weiter ausbreiten. Es ist von den Rednerinnen und Red-
nern vor mir schon ausreichend dargestellt worden.

Es liegt jetzt ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion vor.
Richtig an dem Antrag ist die grundlegende Aussage, dass
sich etwas ändern muss, dass die internationale Gemein-
schaft nicht länger wegsehen darf, dass Kolumbien Un-
terstützung braucht. Bitter notwendig – im wahrsten
Sinne des Wortes: Not wendend – sind neue Impulse für
einen Friedensprozess, einen Prozess, der international
begleitet und unterstützt werden muss.

Ich möchte keinen Zweifel daran aufkommen lassen,
dass insbesondere die FARC-Guerilla schwerste Verbre-
chen begangen hat und begeht. Das muss beim Namen ge-
nannt werden, auch von allen Fraktionen im Deutschen
Bundestag. Schlimmste Gewaltverbrechen gehen aber

Dr. Werner Hoyer




Thilo Hoppe
auch auf das Konto der ultrarechten Paramilitärs. Darin
liegt ein Problem, weil zwischen den Paramilitärs und den
offiziellen Regierungstruppen immer wieder eine Kom-
plizenschaft beobachtet werden kann.

Die Menschenrechtslage ist diffus. Menschenrechts-
verletzungen werden den verschiedenen Guerillaverbän-
den, den Paramilitärs, der Drogenmafia, aber auch den so
genannten Sicherheitskräften der Regierung vorgewor-
fen.

Aus dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion spricht für
mich eine zu unkritische Haltung gegenüber der Regie-
rung von Álvaro Uribe. Grundlegende Reformen im Be-
reich des kolumbianischen Militärs und der Polizei sind
unbedingt notwendig. Menschenrechtsstandards müssen
endlich eingehalten werden. Die Verbrechen der Parami-
litärs müssen verfolgt werden. Darüber wurde meistens
stillschweigend hinweggegangen.

Im Mittelpunkt des CDU/CSU-Antrags steht der „Plan
Colombia“. Sie wissen, EU und Bundesregierung stehen
diesem „Plan Colombia“ mit großer Skepsis gegenüber.
Viele Nichtregierungsorganisationen und besonders auch
die kirchlichen Hilfswerke halten diesen Plan für ein ganz
untaugliches Mittel. Ich schließe mich dieser Einschät-
zung an. Der „Plan Colombia“ verschlimmert die Situa-
tion eher, als dass er einen Lösungsweg aufzeigen könnte.

Erinnern wir uns an seine Entstehung: Der ehemalige
Staatspräsident Pastrana ließ diesen Plan von seinen Un-
terhändlern in ganz enger Abstimmung mit dem US State
Department ausarbeiten. Monatelang lag dieser Plan nur
auf Englisch vor. In diesem Plan geht es vor allem um
Waffenlieferungen und Flugeinsätze mit Entlaubungsmit-
teln.


(Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Haben Sie ihn nicht gelesen?)


Soll eine tragfähige Grundlage für wirklichen Frieden
und nicht Friedhofsruhe entstehen, dann kann dies nicht
mit Mitteln des Vietnamkrieges geschehen.

Die EU hat sich darauf verständigt, zivile Programme
zu unterstützen, die auf die Bekämpfung der wirklichen
Ursachen der Gewalt abzielen. Die Menschen in Kolum-
bien brauchen eine Perspektive. Bauern, die sich in einer
wirtschaftlichen Notlage befinden und sich deshalb ge-
zwungen sehen, Koka anzubauen, sollten mit staatlicher
und internationaler Hilfe die Möglichkeit bekommen, auf
den Anbau anderer Produkte umzusteigen. Es laufen be-
reits Projekte, mit denen versucht wird, besonders im Be-
reich der nachhaltigen Land- und Forstwirtschaft neue
Einkommensquellen zu erschließen. Eine Landreform ist
dringend notwendig. Insbesondere die kleinbäuerliche
Landwirtschaft braucht dringend Unterstützung. All das
ist segensreicher als Militäraktionen und das Besprühen
der Kokafelder aus der Luft mit Gift; denn das Gift zer-
stört nicht nur die Kokapflanzen, sondern auch die Böden
und macht Landwirtschaft für eine längere Zeit unmög-
lich.

Nötig sind neue Impulse für umfassende Friedensver-
handlungen, die transparent und – das ist ganz wichtig –
unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft geführt werden

müssen. In Abstimmung mit den Vereinten Nationen und
der Organisation Amerikanischer Staaten sollte sich die
EU viel stärker in diesen Prozess einbringen. Auch der
UN-Hochkommissar für Menschenrechte muss in diesen
multilateralen Friedensprozess aktiv einbezogen werden.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sollte diesen
Prozess noch stärker als bisher mit der Förderung der
nachhaltigen Land- und Forstwirtschaft, mit Projekten
des zivilen Friedensdienstes und mit Hilfen bei der Re-
form des Justizwesens und der öffentlichen Verwaltung
flankieren. Ein Menschenrechtsmonitoring ist unerläss-
lich.

Es gibt viel zu tun in Kolumbien und für Kolumbien.
Die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft könnte
dazu führen, dass der Konflikt auf die Nachbarstaaten
übergreift. Wie gesagt: Es gibt viel zu tun. Der „Plan Co-
lombia“ ist jedoch das falsche Mittel. Deshalb lehnen wir
den Antrag der CDU/CSU-Fraktion ab. Wir setzen auf zi-
vile Mittel, auf Verhandlungen, auf die Beseitigung der
Ursachen des Konflikts und nicht auf Gewalt. Den Frie-
den mit Mitteln anzustreben, die ihm nicht zuwiderlaufen,
darauf kommt es an. Wir werden einen neuen Antrag ein-
bringen, der in diese Richtung geht.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502812300

Nächster Redner ist der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich,

CDU/CSU-Fraktion.


Klaus-Jürgen Hedrich (CDU):
Rede ID: ID1502812400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich will nicht verhehlen, dass es mich be-
sonders freut, dass mehr oder weniger durch einen Zufall
auch mein Freund Alfredo Ramos, Präsident des kolum-
bianischen Kongresses, heute an dieser Diskussion teil-
nehmen kann. Nehmt bitte auch unsere Sympathien für
die besondere Problematik in Kolumbien zur Kenntnis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir haben in diesem Hause in den letzten Jahren des
Öfteren zum Ausdruck gebracht, dass wir es nicht zulas-
sen dürfen, dass sich weltweit bzw. über die Welt zerstreut
Zonen der Ordnungslosigkeit bilden. Das gilt nicht nur für
Afghanistan, nicht nur für den Irak, nicht nur für Somalia,
sondern natürlich auch für Teile des geschundenen Lan-
des – das sehen ja alle genauso – Kolumbien.

Der Ansatz der neuen Administration – übrigens nicht
nur der Regierung, sondern auch der Mehrheit des neu ge-
wählten Kongresses – ist im Unterschied zu Pastrana, der
übrigens gerade von der politischen Klasse stark gewür-
digt wird, nicht allein auf den Frieden an sich zu setzen;
denn die Menschen in Kolumbien haben den neuen Präsi-
dent gerade deswegen gewählt, weil er dem Punkt Si-
cherheit eine stärkere Bedeutung einzuräumen versprach,
als es in der Vergangenheit der Fall war. Ich kann dazu nur


(A)



(B)



(C)



(D)


2202


(A)



(B)



(C)



(D)






sagen: Wenn es nicht gelingt, im Land ein größeres Maß
an Sicherheit herzustellen und schrittweise wieder mehr
Regionen unter die Kontrolle der gewählten und demo-
kratisch legitimierten Regierung von Kolumbien zu brin-
gen, dann wird sich auch mittel- und langfristig nicht viel
in diesem Lande ändern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Natürlich hat die Frau Kollegin Kortmann Recht, wenn

sie darauf verweist, dass militärische Aspekte allein nicht
ausreichen. Aber, werter Kollege Hoppe, ich habe den
Eindruck – ich bitte, es mir nicht übel zu nehmen, wenn
ich das so deutlich formuliere –, Sie haben den „Plan Co-
lumbia“ nicht gelesen – abgesehen davon, dass er nicht
im Zentrum unseres Antrages steht, den Sie wahrschein-
lich auch nicht richtig gelesen haben.

Es geht um Folgendes: Der „Plan Columbia“ hat auch
eine militärische Komponente, aber es überwiegen ein-
deutig die nicht militärischen Komponenten. Das sollten
wir ebenfalls einmal zur Kenntnis nehmen.

Die Bürger dieses Landes gehen davon aus, dass die
Regierung Sicherheit gewährleisten muss. Ich nenne Ih-
nen ein Beispiel. Ich habe vor Jahr und Tag – das ist viel-
leicht schon zehn Jahre her – mit einer Delegation von An-
gehörigen der indigenen Bevölkerung aus dem Cauca
gesprochen. Sie haben mir damals gesagt, dass ihr vor-
rangiges Interesse darin bestehe, dass sie mit dem gesam-
ten Konflikt in Kolumbien nichts zu tun haben wollen


(Karin Kortmann [SPD]: Das sagen sie heute auch noch!)


– einen Augenblick! –, sondern in Ruhe gelassen werden
wollen. Ich habe bereits damals gesagt: Meine Erfahrun-
gen aus anderen Regionen der Welt zeigen mir, dass man
in einem Bürgerkrieg langfristig nicht neutral bleiben kann,
dass man irgendwann Partei ergreifen muss.

Die gleiche Delegation war jetzt auf Einladung von
Pax Christi Holland in Deutschland. Insbesondere der
Gouverneur, ein Indigina, hat mir gesagt, für sie sei es
klar: Sie unterstützten den Ansatz des neuen Präsidenten,
weil sie hofften, dass mittelfristig mehr Sicherheit für die
Bürger eintrete.

Wir sollten uns nicht täuschen, indem wir glauben, das
sei ein Konflikt, für den wir uns nur als Außen- und Ent-
wicklungspolitiker interessieren. Nein, die Vorgänge in
Kolumbien berühren unmittelbar unsere eigene Sicher-
heit. Das müssen wir uns immer wieder vor Augen
führen.

Es ist ganz eindeutig, wie der letzte Anschlag zustande
gekommen ist. Die FARC wird von allen Terroristen-
experten für nicht fähig gehalten, einen solchen Anschlag
alleine durchzuführen. So war es kein Wunder, dass vor
kurzem drei Angehörige der IRA in Bogotá verhaftet
wurden, die hinter diesem Anschlag steckten.

Wir wissen seit langem, dass es Kontakte zwischen der
IRAund der Guerilla und Kontakte zwischen der ETAund
der Guerilla gibt. Das macht deutlich: Es handelt sich
nicht nur um einen regionalen Konflikt, sondern um einen
Konflikt, der uns unmittelbar berührt. Darauf sollten wir
uns entsprechend einstellen.

Unterhalten Sie sich einmal mit den Repräsentanten
ausländischer Firmen, auch einer Reihe von deutschen
Firmen, in Bogotá. Diese werden Ihnen mitteilen, dass sie
in dem Konflikt in Kolumbien in der letzten Zeit in dieser
klassischen Form zum ersten Mal durch die Guerilla be-
droht werden. Auch dadurch wird deutlich: Dieser Kon-
flikt ist nicht einzig und allein ein nationaler.

Deshalb habe ich durchaus Verständnis dafür, wenn die
kolumbianische Regierung in bestimmten Fragen von
dem Konzept „Zero Tolerance“ ausgeht. Wer sich nicht
nach den demokratischen Spielregeln richten will, wer
– wie im Fall der Guerilla und der Regierung Pastrana –
nicht bereit ist, ausgestreckte Hände zu ergreifen, der darf
sich nicht wundern, wenn die Mehrzahl der Bürger ir-
gendwann sagt: Jetzt reicht es, jetzt erwarten wir, dass die
staatliche Autorität so handelt, dass wir in Frieden und
Freiheit leben können.

Die FARC, die Guerilla – sie ist ja die Hauptkraft;
natürlich spielen auch die Paramilitares eine unange-
nehme Rolle, um keine andere Formulierung zu wählen –


(Anke Hartnagel [SPD]: Eine große Rolle!)

ist letzten Endes der eigentliche Störfaktor in diesem
Lande. Deshalb sind wir klug beraten, wenn wir in Ko-
lumbien alle Gruppen unterstützen, die darauf ausgerich-
tet sind, freiheitliche, marktwirtschaftliche und demokra-
tische Reformen durchzusetzen. Das liegt nicht nur im
Interesse des Volkes von Kolumbien, sondern auch in un-
serem eigenen Interesse.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502812500

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Anke

Hartnagel, SPD.


Anke Hartnagel (SPD):
Rede ID: ID1502812600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Señoras

y señores! Jede mögliche Unterstützung zur Verbesserung
der Situation der Bevölkerung in Kolumbien, die seit Jahr-
zehnten unter den Konflikten leidet, ist recht, aber nicht
jedes Mittel. Das sage ich hier eindeutig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, in Ihrem
Antrag vermisse ich einige Punkte, zum Beispiel die Si-
tuation der Binnenflüchtlinge. Die Situation in Kolum-
bien kommt einer humanitären Katastrophe gleich. In-
zwischen sind über 2,5 Millionen Menschen, darunter vor
allem Frauen und Kinder, im eigenen Land auf der Flucht;
das sind mehr als die Bevölkerung der Stadt Hamburg.
Die gewaltsamen Vertreibungen haben damit einen dra-
matischen Höhepunkt erreicht und es ist keine Besserung
der Situation in Sicht. Im Gegenteil: Die Zivilbevölke-
rung wird immer mehr in den gewaltsamen Konflikt zwi-
schen Guerilla, Paramilitärs, Drogenmafia und Armee
hineingezogen. Diese vier Gruppen muss man einmal klar

Klaus-Jürgen Hedrich




Anke Hartnagel
benennen. – Sie können ruhig zuhören, Herr Kollege
Hedrich.

Waren im Jahr 2000 43 Prozent der Gemeinden von
interner Vertreibung betroffen, so hat sich diese Zahl al-
lein in den letzten zwei Jahren auf 86 Prozent verdoppelt.
Das bedeutet: Das Problem hat sich von der lokalen Ebene
auf das gesamte Staatsgebiet ausgeweitet. Regierungsver-
treter behaupten nun, die Flüchtlinge würden gut versorgt
und die Kinder könnten zur Schule gehen. Aber in der
Realität sieht das ganz anders aus. Oft werden die Men-
schen, insbesondere die indigenen Volksgruppen und die
ländliche Bevölkerung, weiter verfolgt. Von vernünftiger
Ernährung oder gar Schule kann überhaupt nicht die Rede
sein.

Die längst überfällige Landreform, von der auch Sie
schon gesprochen haben – von Pastrana bereits angekün-
digt und auch von Uribe versprochen –, die die Rechte der
Landbevölkerung verbessern kann, kommt nicht. Im Ge-
genteil: Immer mehr Menschen fliehen in die Stadt. Ihre
soziale Situation ist verheerend und verschlechtert sich
immer weiter. 67 Prozent der kolumbianischen Bevöl-
kerung leben offiziell unter der Armutsgrenze. Mehr als
3 Millionen Kinder und Jugendliche haben keinen Zu-
gang zu einer Ausbildung. Während die Regierung Uribe
immer wieder ihr soziales Engagement betont, wird doch
deutlich: Uribes Politik der harten Hand steht im Vorder-
grund.

Natürlich muss alles dafür getan werden, das staatliche
Gewaltmonopol wieder durchzusetzen, den Drogenhan-
del zu bekämpfen und die Friedensverhandlungen wieder
aufzunehmen, aber nicht mit jedem Mittel und nicht zu je-
der Bedingung.

Besorgniserregend sind vor allem die Maßnahmen der
Regierung, um die Zivilbevölkerung einer fast vollständi-
gen Kontrolle zu unterwerfen. Insbesondere spreche ich
den Ausbau eines zivilen Netzes von Informanten an, wie
zum Beispiel private Wach- und Sicherheitsdienste, von
denen eigentlich jeder weiß, wie schlecht bezahlt und
schlecht kontrolliert sie werden. Das halte ich für sehr be-
denklich. Der Ausbau eines Informationsnetzes und die
privaten Sicherheits- und Wachdienste haben in einer Ge-
sellschaft, die so viel Ressentiments angestaut hat und so
viel Armut kennt, fatale Folgen. Jeder und jede wird ver-
dächtigt und jeder kann jeden denunzieren. Das ist eine
äußerst gefährliche Entwicklung, der unbedingt entge-
gengewirkt werden muss.

Zwei letzte wichtige Aspekte, die im Antrag der CDU/
CSU leider völlig außer Acht gelassen werden, sind noch
zu erwähnen: die Situation der Gewerkschaften und die
der Medien und Journalisten. Die paramilitärischen Grup-
pen selektieren bei ihren Auftragsmorden zunehmend.
Ihre Hauptopfer sind Gewerkschafter und Journalisten.
151 Gewerkschaftsführer wurden im Jahr 2002 ermordet,
75 Journalisten wurden bedroht, 12 entführt und vier er-
mordet. Aufgrund der kontinuierlichen Bedrohung und
des großen Verlustes an Führungskräften ist die Gewerk-
schaftsbewegung Kolumbiens in ihrem Kampf um die
Wahrung der Arbeitnehmerrechte und für eine verbesserte
soziale Situation stark beeinträchtigt. Mehr denn je sind

die Gewerkschaften deshalb auf internationale Solidarität
und Kooperation angewiesen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Situation der Journalisten sieht nicht viel besser
aus. Sie müssen unter Druck und Angst arbeiten. Obwohl
Präsident Uribe die Pressefreiheit unter keinen Umstän-
den einschränken will, haben einige Studien inzwischen
erschreckend festgestellt: Die Kriegssituation zwingt die
Presse vermehrt zum Schweigen, die Informationsqualität
und die Ausdrucksfreiheit verschlechtern sich in Kolum-
bien weiter.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie verbessert sich!)


Die Tageszeitung „El Espectador“ hat sich in eine Wo-
chenzeitung umgewandelt. Damit bleibt nur noch eine
einzige Zeitung mit nationaler Verbreitung, nämlich „El
Tiempo“.

Noch zwei Bemerkungen: Der „Plan Colombia“ ist
richtig und gut. Aber er wird meines Erachtens – das ist
das Problem – nur einseitig umgesetzt, und zwar mi-
litärisch. Die anderen Maßnahmen, die angekündigt wor-
den sind, sind bisher keineswegs in Angriff genommen
worden.


(Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Das ist sachlich falsch!)


– Nein. – Es wäre wünschenswert – das möchte ich aus-
drücklich sagen –, wenn sich das Parlament noch mehr
einmischen und den „Plan Colombia“ unterstützen würde.

Ein letzter Satz zu den USA: Die USA würden es be-
grüßen, wenn sie im Hinblick auf die IRAund andere Ter-
rorgruppen in diesem Land, deren Mitglieder sie festge-
nommen haben, letztendlich dazu kommen könnten, die
Antiterrorgesetze in Kraft zu setzen. Das, so denke ich, ist
eine gefährliche Situation.

Vielen Dank, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502812700

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 15/203 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über eine einmalige Ent-
schädigung an die Heimkehrer aus dem Beitritts-
gebiet (Heimkehrerentschädigungsgesetz)

– Drucksache 15/407 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO


(A)



(B)



(C)



(D)


2204


(A)



(B)



(C)



(D)






Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hartmut Büttner, CDU/CSU-Fraktion.


Hartmut Büttner (CDU):
Rede ID: ID1502812800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ange-

sichts dessen, dass es bei der SPD einen Regiefehler ge-
geben hat – der Kollege Gerold Reichenbach, der als ers-
ter Redner vorgesehen war, ist noch nicht anwesend –,
beginne ich natürlich gerne als erster Redner zu diesem
Tagesordnungspunkt.

Die Entschädigung von Spätheimkehrern, welche auf
das Gebiet der früheren DDR entlassen worden sind, ist
wahrlich kein Ruhmesblatt für den Deutschen Bundestag,
und zwar für alle Fraktionen, einschließlich meiner eige-
nen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Allerdings hat unser Parlament in den vergangenen zwölf
Jahren eine ganze Reihe von Unterstützungsleistungen
und Entschädigungen für die unterschiedlichsten Opfer-
gruppen beschlossen. Es handelte sich sowohl um Opfer
des SED-Regimes als auch um Opfer des Zweiten Welt-
krieges, die in der DDR keinerlei Unterstützung bekom-
men haben. So konnte das vereinte Deutschland bei
vielen Betroffenen zumindest nachträglich für etwas Ge-
rechtigkeit sorgen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Nur eine Gruppe von Menschen mit einem besonders
schweren Schicksal ist bisher völlig vernachlässigt wor-
den: Es handelt sich um Menschen, die zwei oder mehr
Jahre in Kriegsgefangenschaft waren. Die letzten von ih-
nen sind im Jahre 1955 aus sowjetischer Kriegsgefangen-
schaft entlassen worden. Ich erinnere an die ergreifenden
Szenen, als sie endlich im Lager Friedland ankamen.

Die Kriegsgefangenen, die in das westliche Deutsch-
land entlassen worden sind, erhielten Leistungen nach
dem so genannten Kriegsgefangenenentschädigungsge-
setz. Für jeden Monat des Festhaltens in fremdem Ge-
wahrsam gab es für die nach 1947 Entlassenen zunächst
einmal eine monatliche Entschädigung von 30 DM. Wenn
sie nach 1949 entlassen wurden, erhielten sie pro Haft-
monat 60 DM. Die Gesamtentschädigung war auf einen
Höchstbetrag von 12 000 DM gedeckelt. Kriegsgefan-
gene mit dem gleichen Schicksal, die in die SBZ bzw. die
spätere DDR entlassen worden sind, erhielten außer
50 Ostmark keine weitere Entschädigungsleistung.

Die westdeutschen Bestimmungen sind nach der Wie-
dervereinigung nicht auf die Leidensgefährten in den
neuen Bundesländern übertragen worden.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Genau!)

Ein Hauptgrund für die Entschädigungsleistungen im
Westen sei der Aspekt der Eingliederung in die deutsche
Gesellschaft gewesen. Dieser Aspekt sei jedoch 45 Jahre
nach Kriegsende abgeschlossen gewesen. Nur Leistungen

der Heimkehrerstiftung zur Linderung einer aktuellen so-
zialen Notlage gibt es seit 1993 auch für Betroffene in den
neuen Ländern.

Heute wird vielfach gesagt, das Schicksal dieser Men-
schen sei ohnehin nicht mit Geld ungeschehen zu machen.
Das ist wohl richtig und wahr. Wer so argumentiert, über-
sieht aber, dass sich die Spätheimkehrer bereits in der
DDR als Menschen zweiter Klasse fühlen mussten. Sie
wurden häufig sogar als Kriegsverbrecher hingestellt. Ih-
nen wurde ein großes Maß an Schuld für die Schandtaten
des Nationalsozialismus aufgetragen.

Auch das vereinte Deutschland unternahm leider
nichts, um die nach Ostdeutschland entlassenen Spät-
heimkehrer ihren Westkollegen gleichzustellen.


(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer war das denn?)


Ich bekenne freimütig, liebe Frau Stokar, dass auch ich
die ganze Dimension des persönlichen Zurückgesetzt-
seins dieser ehemaligen Kriegsgefangenen zunächst nicht
erkannt habe. Erst seit sich Zusammenschlüsse der
Kriegsgefangenen auch in meinem Wahlkreis gebildet ha-
ben, bin ich auf die tiefe Verbitterung dieser Menschen ge-
stoßen. „Es war doch derselbe Krieg, in dem wir unseren
Kopf hinhalten mussten, wir hatten doch den Hunger, die
Zwangsarbeit, die Entbehrung genauso zu ertragen wie
unsere Leidenskollegen, die auf die deutsche Sonnenseite
entlassen worden sind“ war nur eine der vielen bitteren
Aussagen. Die Verbitterung wuchs noch, seit bekannt
wurde, dass die deutsche Gesellschaft 10 Milliarden DM
als Wiedergutmachung für ausländische Zwangs- und
Sklavenarbeiter zu zahlen bereit ist. Davon zahlt allein
7,5 Milliarden DM der deutsche Steuerzahler.

Es ist ziemlich zwecklos, den Betroffenen den juris-
tischen Unterschied zwischen Kriegsgefangenen und
Zwangsarbeitern erläutern zu wollen. Das Gefühl man-
gelnder Gerechtigkeit treibt sie um und die mangelnde
Gerechtigkeit schreit nach einer schnellen und pragma-
tischen Lösung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Deshalb hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits in
der letzten Legislaturperiode einen Vorschlag des inter-
fraktionell besetzten parlamentarischen Beirats des
Heimkehrerverbandes aufgegriffen. Der Beirat hatte
eine Entschädigung so einfach wie möglich mit drei Jahres-
stufen bis zu 3 000 DM vorgeschlagen. Schnell und ein-
fach musste diese Entschädigung kommen, denn die jüngs-
ten Spätheimkehrer waren damals schon 75 Jahre alt.

Meine Damen und Herren, vorhin kam der Zwi-
schenruf „Was haben Sie denn gemacht?“. Wenn kritisiert
wird, Union und FDP hätten in ihrer Regierungszeit eine
befriedigende Regelung für die Spätheimkehrer treffen
können, dann ziehe ich mir diese Jacke ganz bewusst an.
Jawohl, das ist richtig. Bei der Aufhebung des Kriegs-
folgenbereinigungsgesetzes im Jahr 1992 gab es aller-
dings weder von meiner Fraktion noch von der FDP, aber
auch nicht von SPD, Grünen oder PDS einen entspre-
chenden Antrag. Wir alle gemeinsam haben also zu ver-
antworten, dass wir diese Menschen im Stich gelassen ha-
ben. Erklärend, nicht entschuldigend will ich hinzufügen:

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner




Hartmut Büttner (Schönebeck)

Ich kenne außer den Spätheimkehrern allerdings auch
keine andere gesellschaftliche Gruppe in unserem Land,
die überhaupt keine Fürsprecher – in Neudeutsch auch
Lobby genannt – hat. Im Gegensatz zu anderen Verbän-
den – ich nenne hier beispielhaft nur die Verbände der
Heimatvertriebenen – hat es Anfang der 90er-Jahre auch
keine besonderen Bemühungen der westdeutschen Heim-
kehrerverbände gegeben. Zumindest habe ich davon
nichts gemerkt.

Eine Entschädigungszahlung wäre damals wahrlich
möglich gewesen. Allein für die Einmalleistung an die
Heimatvertriebenen in den neuen Bundesländern haben
wir aus dem Bundeshaushalt 5,2 Milliarden DM ausgege-
ben. Nimmt man die großen finanziellen Aufwendungen
für andere Opfergruppen, beispielsweise für die SED-Op-
fer, noch hinzu, dann hätten auch die 90Millionen DM für
die Spätheimkehrer aufgebracht werden können.

Jetzt wende ich mich an Sie, meine lieben Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen und der SPD: Es war ein
moralisches und politisches Armutszeugnis, dass Sie vor
zwei Jahren die Chance niedergestimmt haben, wenigstens
etwas späte Gerechtigkeit in Deutschland zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP– Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Eine große Chance vertan! – Dirk Manzewski [SPD]: Was haben Sie gemacht? Genau das Gleiche!)


Lediglich das Kapital der Heimkehrerstiftung stockten
Sie im Jahr 2001 mit 5 Millionen DM etwas auf.

Ich habe bereits erwähnt, dass diese Leistungen seit
1993 auch auf die Heimkehrer, die auf das Gebiet der
neuen Bundesländer entlassen wurden, ausgedehnt wor-
den sind. Allerdings erhalten Mittel der Stiftung nur die
ehemaligen Kriegsgefangenen und auch ihre hinterblie-
benen Ehegatten, die heute noch zum Kreis der sozial be-
dürftigen Personen gehören. Damit hat nur ein kleiner Teil
der Spätheimkehrer aus den neuen Bundesländern diese
Leistungen erhalten. Die übergroße Mehrheit erhielt über-
haupt nichts.

Jetzt hat der Bundesrat erneut einen Gesetzentwurf
vorgelegt, der auf eine Initiative der Länder Thüringen
und Sachsen zurückzuführen ist und im Wesentlichen mit
dem Gesetzentwurf meiner Bundestagsfraktion aus dem-
September 2000 inhaltlich übereinstimmt. Berechtigte,
welche 1947 und 1948 entlassen worden sind, sollen
500 Euro, die Entlassungsjahrgänge 1949 und 1950
1 000 Euro und diejenigen, die nach 1951 entlassen wor-
den sind, 1 500 Euro erhalten. Es könnten so Gesamtko-
sten von bis zu 50 Millionen Euro zusammenkommen.

Allerdings sind von den vor zwei Jahren noch lebenden
30 000 berechtigten ehemaligen Kriegsgefangenen und
den circa 20 000 Geltungskriegsgefangenen – das sind
verschleppte Zivilpersonen mit gleichem Schicksal – be-
reits viele verstorben. Die genaue Zahl der heute noch le-
benden Berechtigten konnte uns die Bundesregierung
nicht nennen.

Zu den Verstorbenen zählen auch die Herren Walter
Melzer und Robert Fauk aus Staßfurt in Sachsen-Anhalt,
welche mir in meinen Bürgersprechstunden die ganze
Tragweite der Ungerechtigkeit vor Augen geführt haben.

Die noch lebenden Berechtigten – sie sind hochbetagt –
haben keine Zeit mehr darauf zu warten, bis die Situation
bei unseren Staatsfinanzen etwas positiver aussieht.

Es wäre eine Schande für diesen Deutschen Bundestag,
wenn wir diesen Antrag erneut ablehnten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich appelliere vor allem an Sie, an die Abgeordneten der
Regierungskoalition: Wir sollten jetzt die allerletzte
Chance für die Heimkehrer ergreifen und ein deutliches
Zeichen für soziale Gerechtigkeit in Deutschland setzen.
Besonders wir Abgeordneten aus den neuen Ländern ha-
ben die Verpflichtung, uns auf die Seite der Menschen, die
keinerlei Lobby haben, zu stellen. Ich hoffe, dass wir das
in den Ausschüssen schaffen werden.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502812900

Nächster Redner ist der Kollege Gerold Reichenbach,

SPD-Fraktion.


Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1502813000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vor circa einem Jahr hat sich dieses Haus schon einmal
mit dem Gesetzentwurf für eine einmalige Entschädigung
der Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet befasst. Es han-
delt sich – das wurde schon genannt – um den Gesetzent-
wurf der CDU/CSU-Fraktion vom 26. September 2000,
der nach zweiter Lesung abgelehnt wurde.

Heute beraten wir eine Neuauflage dieses Gesetzent-
wurfes in Gestalt eines Antrags der Freistaaten Sachsen
und Thüringen, eingebracht als Gesetzentwurf des Bun-
desrates. Dieser Gesetzentwurf konnte in der ausgehen-
den Legislaturperiode aus Zeitgründen nicht mehr beraten
werden. Der Bundesrat beschloss deshalb am 20. Dezem-
ber 2002 die erneute Einbringung des Entwurfes in un-
veränderter Form, mit dem wir uns heute befassen.

Die beiden Gesetzentwürfe gleichen sich teilweise bis
aufs Wort. Sie haben lediglich andere Aufhänger und et-
was veränderte Schwerpunkte.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Statt DM steht jetzt Euro drin!)


Im Jahre 2000 wurde als Aufhänger die Entschädigung
von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern gewählt. Die dama-
lige Gesetzesinitiative der CDU/CSU sorgte für erhebli-
che Aufregung bei den Heimkehrerverbänden und letzt-
lich für Enttäuschung und Frustration ob der unnötig
geweckten Erwartung. Jetzt wird eine neue Argumenta-
tion verfolgt, nämlich dass eine Benachteiligung der
Kriegsgefangenen und so genannten Geltungskriegs-
gefangenen – das sind Zivilpersonen, die aus militäri-
schen Gründen in Gewahrsam genommen wurden –, die
in die ehemalige DDR entlassen wurden, bestehe.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich die
Initiative des Bundesrates genau wie der von der
CDU/CSU vor zwei Jahren eingebrachte Gesetzentwurf


(A)



(B)



(C)



(D)


2206


(A)



(B)



(C)



(D)






gegen das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz wendet, ein
Gesetz, das der gesamtdeutsche Gesetzgeber vor rund
zehn Jahren in diesem Hause – übrigens einmütig – be-
schlossen hat. Bis zum Ende Ihrer Regierungszeit 1998
haben Sie dieses Gesetz offensichtlich als gerecht und
ausgewogen angesehen und keine Initiative ergriffen.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Das habe ich doch alles gesagt!)


Erst als Sie in der Opposition gelandet waren, sahen Sie
plötzlich Handlungsbedarf. Demjenigen, der andere Hin-
tergründe zu sehen meint, bleibt dies unbenommen.

Wir erinnern uns: Das Kriegsfolgenbereinigungsge-
setz löste im Zuge der Wiedervereinigung zum 1. Januar
1993 das alte Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz ab.
Ohnehin – auch darauf muss hingewiesen werden – konn-
ten seit dem 1. Januar 1968 nur noch Sowjetzonenflücht-
linge oder Aussiedler eine Entschädigung erhalten; denn bei
ihnen wurde unterstellt – das war die alte Systematik in der
Gesetzgebung der Bundesrepublik –, dass noch eine Ein-
gliederungssituation vorlag. Damit war eindeutig festge-
stellt, dass die Kriegsgefangenenentschädigung immer den
Charakter einer Eingliederungshilfe hatte. Ehemalige
Heimkehrer oder Geltungskriegsgefangene in den neuen
Ländern waren – auch das war damals Ihre eigene Begrün-
dung – nach dieser Maßgabe nicht mit einzubeziehen.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Habe ich was anderes gesagt? Sagen Sie mal was zu den neuen Argumenten!)


Darüber bestand auch in der CDU/CSU ein allgemeiner
Konsens.

Ich möchte dies anhand der Begründung des Gesetz-
entwurfs über das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz bele-
gen – ich darf zitieren –:

Einer uneingeschränkten Übertragung des Kriegsge-
fangenenentschädigungsgesetzes steht entgegen,
dass auch dort inzwischen mehr als 45 Jahre vergan-
gen sind. Die Betroffenen sind eingegliedert.

(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Das habe ich auch gesagt!)

Das waren Ihre eigenen Worte. Dies hat die Union 1992
in der Begründung geschrieben.

Diese rechtliche Ausgangssituation hat sich nicht geän-
dert. Es gibt jedoch eine soziale Dimension. Dieser wurde
mit dem Heimkehrerstiftungsgesetz, welches insbeson-
dere mit Blick auf die ehemaligen Kriegsgefangenen in
den neuen Ländern erlassen wurde, Rechnung getragen.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Man muss doch nicht immer das vortragen, was man aufgeschrieben hat!)


Um soziale Härten abzufedern, können nach dem Heim-
kehrerstiftungsgesetz Unterstützungsleistungen zur Lin-
derung von Notlagen oder Leistungen zum Ausgleich von
Nachteilen in der gesetzlichen Rentenversicherung ge-
währt werden.

Dass das Heimkehrerstiftungsgesetz seine Funktion er-
füllt hat und nach wie vor erfüllt, zeigt ein Blick auf die

Verteilung der Unterstützungsleistungen.Von den vom
1. Januar 1970 bis zum 31. Dezember 2002 gewährten
Unterstützungs- und Rentenzusatzleistungen sind nahezu
15 Prozent an Antragsteller in den neuen Ländern geflos-
sen, obwohl diese erst seit 1993 antragsberechtigt sind.
Anders ausgedrückt: An die Antragsteller in den neuen
Ländern wird jetzt ungefähr dreimal mehr ausgezahlt als
an die Antragsteller in den alten Bundesländern. Dort be-
steht natürlich auch ein Nachholbedarf. Rentenzusatzleis-
tungen und Unterstützungsleistungen für ehemalige
Heimkehrer wurden mehr als 23 000 Personen in den
neuen Bundesländern in einer Höhe von rund 31 Milli-
onen Euro gewährt. Die aktuellen Antragszahlen sind
übrigens weiter steigend.

In diesem Zusammenhang möchte ich auf noch etwas
hinweisen: Unterstützungsleistungen der Heimkehrerstif-
tung können bei Fortbestehen der Voraussetzungen wie-
derholt gewährt werden. Bei Nachweis einer Notlage ist
eine einmalige Unterstützung von maximal 4 090 Euro
möglich. Zum Vergleich: In Ihrem Gesetzentwurf ist eine
Entschädigung in Höhe von 500 bis 1 500 Euro vorgese-
hen. Ich kann also beim besten Willen keine fortbeste-
hende Benachteiligung der Heimkehrer in die neuen Bun-
desländer erkennen.


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502813100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Bergner?


Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1502813200

Aber gerne.


Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1502813300

Herr Kollege, weil ich den Betroffenen über die De-

batte berichten möchte, frage ich Sie selbst auf die Gefahr
hin, dass ich Sie zu Wiederholungen von Aussagen
zwinge: Kann ich Ihre Aussagen so verstehen, dass Sie die
Zielgruppe, die mit dieser Gesetzgebung erreicht werden
soll, weder moralisch noch rechtlich für berechtigt halten,
eine entsprechende Zusatzleistung zu empfangen?


(Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das ist doch eine polemische Frage!)



Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1502813400

Die Frage ist erstens polemisch und trifft zweitens

nicht den Kern der Sache. Ich werde in meiner Rede noch
darauf eingehen, weil ich mir dachte, dass so etwas
kommt.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Das ist Ablenkung! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Wie wäre es jetzt mit einer Antwort?)


Das Rechtliche haben Sie selbst geregelt. Ich gehe doch
davon aus, dass Sie dem Gesetz damals zugestimmt ha-
ben. Insofern müssten Sie Ihre Frage beantworten.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Wir haben gesagt, dass es ein Fehler war!)


Gerold Reichenbach




Gerold Reichenbach
Ich bin zwar neu in diesem Bundestag, aber es gibt einen
Unterschied zwischen Ihnen und mir: Ich würde meine
Position nicht ändern, wenn ich in die Opposition wech-
seln müsste.

Die CDU/CSU konnte von 1992 bis 2000 – das wurde
eben deutlich – auch keine Benachteiligung erkennen. Mit
Genehmigung der Frau Präsidentin darf ich Ihren Frak-
tionskollegen, Herrn Erwin Marschewski, aus dem Ple-
narprotokoll von 1992 – es geht um die zweite und dritte
Lesung des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes – zitieren.
– Dies gehört im Übrigen noch zu meiner Antwort auf Ihre
Zwischenfrage. – Er sagte:

Darüber hinaus begrüße ich die Ausdehnung der
„Heimkehrerstiftung“ und der „Stiftung für ehema-
lige politische Häftlinge“ auf die neuen Bundeslän-
der. Denn das hat zur Folge, dass denjenigen flexibel
und entsprechend ihrer Bedürftigkeit geholfen wer-
den kann, die in Kriegsgefangenschaft waren, die
verschleppt waren, die in den Gefängnissen der ehe-
maligen DDR leiden mussten und die aufgrund der
Rechtslage keine gesetzlichen Leistungen erhalten
können.
Hierfür, meine Damen und Herren, wird eine ausrei-
chende finanzielle Ausstattung der beiden Stiftungen
zu gewährleisten sein. Auch dafür wollen wir uns
einsetzen; auch dafür wollen wir kämpfen. Denn das
ist gerecht, meine Freunde.

Die ausreichende finanzielle Ausstattung, um die Herr
Marschewski kämpfen wollte, haben wir herbeigeführt.
Es wurde bereits angesprochen: Im Jahre 2000 wurden als
Stiftungskapital 5 Millionen DM und jetzt erneut 1 Mil-
lion Euro zur Verfügung gestellt. Auch im aktuellen Haus-
halt sind 1 Million Euro für die Stiftung eingestellt. Damit
bleiben wir auf einem bewährten Weg. Die Heimkehrer-
stiftung begrüßt diese Entscheidung der Regierungskoali-
tion ausdrücklich.

Ich stelle fest: Erstens. Das Heimkehrerstiftungsgesetz
ist ein wirksames Instrument, soziale Härten auszuglei-
chen und bedürftigen Antragstellern zu helfen. Zweitens.
Heute, fast 60 Jahre nach dem Krieg, ist eine Entschädi-
gung im Sinne einer Eingliederungshilfe nicht mehr nach-
vollziehbar.

Eine Wiederbelebung des Kriegsgefangenenentschädi-
gungsgesetzes, wenn auch in veränderter Form, würde als
Präzedenzfall wirken, und zwar mit unübersehbaren
rechtlichen und finanziellen Folgen. Es würde eine Dis-
kussion über weitere ausgelaufene Rechtsnormen insbe-
sondere im Kriegsfolgen- und Lastenausgleichsrecht ent-
fachen. Das ist die eine Seite.

Die andere Seite dieses Gesetzentwurfes über die ein-
malige Entschädigung von Heimkehrern in den neuen
Ländern ist in meinen Augen noch bedenklicher. Erneut
werden bei den meist hochbetagten betroffenen Men-
schen Hoffnungen geweckt. Zudem wird der Eindruck
vermittelt, die ehemaligen Heimkehrer in den neuen Län-
der wären noch heute gegenüber den Menschen in den al-
ten Ländern mit gleichem Schicksal benachteiligt.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Das ist doch so!)


Das halte ich für unredlich.
Viel Leid und schwere Lebenswege sind die unver-

meidbaren Folgen eines jeden Krieges gewesen. Dies
kann durch nichts entschädigt werden. Es gibt Millionen
unterschiedlichster Biografien: von Opfern, aber auch
von Tätern, von Mitläufern wie von unschuldig in den
Strudel eines verbrecherischen Krieges Hineingerissenen.
Erlittenes Leid und Unrecht lassen sich aber nicht wieder
gutmachen. Gerade in diesem Zusammenhang gilt auch:
Gerechtigkeit lässt sich nicht durch Aufrechnung herstel-
len.

Den tiefen Respekt vor dem Schicksal aller Betroffe-
nen, den Heimkehrern und Verschleppten, hat der Deut-
sche Bundestag zum Ausdruck gebracht. Im Namen mei-
ner Fraktion möchte ich diese Würdigung ausdrücklich
bekräftigen. Ich möchte nachdrücklich würdigen, dass
die damaligen Heimkehrer in die sowjetische Besat-
zungszone bzw. in die ehemalige DDR ein wesentlich
schwereres Schicksal als ihre Kameraden hatten, die in
die alte Bundesrepublik zurückkehrten. Ihnen wurde
nicht in dem Maße bei der Wiedereingliederung in ein
Leben nach dem Krieg geholfen. Diese Tatsache gilt es
zu würdigen. Unredlich ist es aber, so zu tun, als ließe
sich durch ein Gesetz das Rad der Geschichte zurückdre-
hen.

Was wir tun können, ist, soziale Härten, die durch das
Kriegsschicksal entstanden sind, auszugleichen. Das tun
wir. Dafür steht die Heimkehrerstiftung, die von uns fi-
nanziell aufgestockt wurde. Das ist der richtige Weg. Auf
diesem Weg bleiben wir.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502813500

Nächster Redner ist der Kollege Klaus Haupt, FDP-

Fraktion.


Klaus Haupt (FDP):
Rede ID: ID1502813600

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt den vor uns liegen-
den Gesetzentwurf des Bundesrates uneingeschränkt;
denn er beseitigt eine auch noch nach mehr als zwölf Jah-
ren nach der Wiedervereinigung bestehende Gerechtig-
keitslücke.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Worum geht es? Es gab mehr als 11 Millionen deutsche

Kriegsgefangene, die über die ganze Welt verstreut wa-
ren. Ich erinnere hier nur an die sowjetischen Gulags; sie
waren aber ebenso in anderen Ländern interniert. Nach ih-
rer Haftentlassung sind diese Kriegsgefangenen entweder
in die Westzonen bzw. in die Bundesrepublik Deutschland
oder in die SBZ bzw. in die DDR zurückgekehrt. Letztere
haben nichts erhalten. Erstere sind entschädigt worden.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: So ist es!)


Die Kriegsgefangenen, die das Glück hatten, in den
Westen entlassen zu werden, haben nach dem dort be-
schlossenen Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz eine


(A)



(B)



(C)



(D)


2208


(A)



(B)



(C)



(D)






Abfindung erhalten – darauf wurde verwiesen –, nicht nur
als Eingliederungshilfe, sondern auch als Anerkennung
für den Schaden, den sie erlitten haben, und für ihr schwe-
res Schicksal. In der DDR wurde diese Tatsache – wie so
vieles andere auch – im wahrsten Sinne des Wortes tot-
geschwiegen. Diese Ungerechtigkeit darf man heute, fast
60 Jahre nach Kriegsende und über zwölf Jahre nach der
deutschen Wiedervereinigung, so nicht mehr stehen las-
sen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Bei den Opfern handelt es sich übrigens nicht nur um

Männer. Auch viele Frauen mussten Zwangsarbeit leisten.
Diesen damals jungen und missbrauchten Frauen und
Männern kann man nicht pauschal die Schuld Nazi-
deutschlands aufladen, auch wenn dies manche aus ideo-
logischen Gründen heute immer noch tun. Auch sie waren
Opfer und keine Täter. Das haben viele von uns bewusst
oder unbewusst verdrängt.

Ich halte es daher für notwendig und richtig, dass sich
der Deutsche Bundestag jetzt, nachdem die Frage der Ent-
schädigung ausländischer Zwangsarbeiter gelöst werden
konnte, endlich auch der deutschen Zwangsarbeiter er-
innert. Die Feststellung, dass es auch deutsche Zwangsar-
beiter gegeben hat, ist aus Sicht der FDP-Fraktion legitim
und notwendig.

Aber es bringt uns nicht weiter, die Geschichte zu ver-
drängen; wir müssen uns ihr stellen, und zwar nach Mög-
lichkeit gemeinsam. Zur Aufarbeitung unserer Geschichte
gehört, dass wir nach mehr als 50 Jahren nicht nur den
ausländischen Zwangsarbeitern Gerechtigkeit widerfah-
ren lassen, sondern auch den deutschen, die bislang nur
deshalb leer ausgingen, weil sie in den Osten entlassen
worden sind.

Es ist ein sehr formales Argument, Kollege
Reichenbach, wenn die Bundesregierung in ihrer Stellung-
nahme zu dem Gesetzentwurf darauf verweist, dass über
diesen Sachverhalt schon einmal befunden worden ist.
Mit dem Heimkehrerstiftungsgesetz von 1993 war man
der Ansicht, mit der Kriegsfolgenentschädigung zu einem
Abschluss gekommen zu sein. Das ist zwar richtig, aber
es ist nur die halbe Wahrheit; denn die Umsetzung des Ge-
setzes in der Praxis gestaltet sich schwierig.

Ich meine, es ist zu formal, sich darauf zu berufen.
Wenn ein Problem in der Vergangenheit falsch behandelt
worden ist, ist dies doch keine Berechtigung dafür, in der
gleichen Weise fortzufahren. Vielmehr muss endlich eine
Lösung erreicht werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Das, was bisher getan wurde, reicht nach Auffassung

der FDP nicht aus. Das Parlament muss endlich die not-
wendigen Mittel bereitstellen, um den Betroffenen noch
zu Lebzeiten Gerechtigkeit durch ein wenig Entschädi-
gung für das Erlittene widerfahren zu lassen. Darauf hat
mein Kollege sehr emotional und eindrucksvoll hinge-
wiesen. Gestatten Sie mir als Sachsen eine kurze Be-
merkung: Damit könnte der Deutsche Bundestag dazu
beitragen, die innere Einheit, die wir alle wollen und
– so hoffe ich – gemeinsam anstreben, weiter zu vollen-
den.

Danke.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502813700

Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar von

Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich damit beginnen: Wir Grüne bekennen uns zu der
Verantwortung gegenüber den Opfern von Krieg und
Gewalt. Ich möchte aber auch betonen: Ich meine, dass es
für die Opfer – unabhängig davon, um welche Opfer es
sich handelt – besonders wichtig ist, dass sie über ihre Op-
ferrolle reden können und als Opfer des furchtbaren Zwei-
ten Weltkrieges angenommen werden.

Ich hatte gehofft, dass wir in dieser 15. Wahlperiode et-
was weiter sein würden als in den Debatten der 14. Wahl-
periode. Ich habe das Protokoll über die Debatte in der
14. Wahlperiode zu demselben Thema gelesen. Mir liegt
auch die Rede meines Kollegen Cem Özdemir vor. Ich
hätte es mir jetzt auch leicht machen und dieselbe Rede
halten können, so wie Sie es gemacht haben.

Ich würde gern darüber reden, ob wir in der Diskus-
sion um die Anerkennung von Opfern des Zweiten Welt-
kriegs – dabei handelt es sich um eine sehr aktuelle Dis-
kussion – nicht den Schritt weiter gehen sollten, der zum
Beispiel in dem Buch „Der Brand“ aufgezeigt worden
ist, nämlich noch einmal von vorne mit der Diskussion
zu beginnen: Wer waren die deutschen Opfer dieses
Krieges?

Ich kann mit meiner Familie beginnen, und zwar mit
meiner Mutter, die die Bombennacht in Dresden mitge-
macht hat, oder mit meiner Großmutter, die als Trägerin
des Mutterverdienstkreuzes mit neun Kindern viele
Jahre auf ihren Mann gewartet hat. Ich selber bin 1953
geboren, in dem Jahr, als Stalin – ich sage dies be-
wusst – endlich starb und als Adenauer große Anstren-
gungen unternommen hat – das ist eines seiner größten
Verdienste gewesen –, die vielen Tausende von ver-
schwiegenen, unterschlagenen Kriegsgefangenen zu-
rückzuholen.

Meine Damen und Herren, ich glaube, dass es den Op-
fern nicht gerecht wird, wenn wir uns hier die einschlägi-
gen Gesetze um die Ohren hauen. Deshalb will ich mich
an dieser Debatte nicht beteiligen. Zimmermann und
Kanther waren diejenigen, die sich gegen jede finanzielle
Entschädigung für die erlittenen Kriegsfolgeschicksale
ausgesprochen haben. Das waren ja nicht wir, sondern
ihre Innenminister.


(Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Das habe ich eingestanden! Aber Sie machen ja auch nichts! Warum machen Sie denn nichts, Frau Stokar?)


Statt einer Entschädigung gab es damals lediglich eine
Eingliederungshilfe.

Klaus Haupt




Silke Stokar von Neuforn

Ich gebe zu, dass ich nicht weiß, was der richtige Wege
ist, was im Hinblick auf diejenigen gerecht ist, die in die
damalige DDR heimgekehrt sind.


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Jetzt zustimmen! Das wäre der richtige Weg!)


In diesen Zeiten des Kalten Krieges durften sie noch nicht
einmal darüber reden. Es gab damals die „guten“ Heim-
kehrer in die BRD, die als Opfer von Stalin würdig in die
Gesellschaft aufgenommen worden sind, und diejenigen,
die ihr Schicksal verschweigen mussten und deren
Schicksal tabuisiert wurde. Mein Problem ist, dass ich
jetzt, fast 40 Jahre danach, nicht mehr die Entscheidung
treffen kann, wie man diesen Biographien gerecht werden
kann,


(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Wo ein Wille ist, ist ein Weg! Sie können zustimmen!)


die ein Teil der Folgen des Zweiten Weltkriegs sind und
etwas mit den zwei unterschiedlichen Staaten zu tun ha-
ben. Ich kann dieses DDR-Unrecht heute nicht wieder
gutmachen.

Meine Damen und Herren, ich halte den von Rot-Grün
beschrittenen Weg, hier mit einem Heimkehrerstiftungs-
gesetz zu arbeiten, für den richtigen Weg. Da meine Rede-
zeit abläuft, sage ich zum Schluss: Ich glaube, dass es für
die Opfer viel wichtiger wäre – –


Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502813800

Gestatten Sie trotzdem eine Zwischenfrage des Kolle-

gen Vaatz?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich erlaube eine Zwischenfrage.


Arnold Vaatz (CDU):
Rede ID: ID1502813900

Frau Kollegen Stokar, in den vorhergehenden Reden ist

mehrfach erwähnt worden, dass die Vertreter der früheren
Regierungskoalition die Tatsache, dass das Problem un-
gelöst blieb, als ein Versäumnis ihrerseits einräumen. Sind
Sie der Meinung, dass die ausbleibende Korrektur dieses
Versäumnisses die Benachteiligten tragen müssen?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nein, das bin ich nicht. Werter Herr Kollege, ich bin al-
lerdings nicht davon überzeugt, dass es sich hier um ein
Versäumnis handelt. Ich nehme Ihnen ab, dass Sie bei den
Verhandlungen um den Einigungsvertrag an die Lösung
dieses Problems nicht gedacht haben. Es gibt aber bis in
die 60er-Jahre zurückreichende Äußerungen von CDU-
Innenministern, die immer wieder darauf hingewiesen ha-
ben – diese Überlegung habe auch ich hier eben ange-
stellt –, dass es einfach keine gerechte Entschädigung
dieser fürchterlichen Kriegsfolgen gebe. Das ist nicht
meine Position; das war schon vor der Wiedervereinigung
die Position der Minister Zimmermann und Kanther, die

auch die Grundlage der von Ihrer Mehrheit verabschiede-
ten Gesetze darstellte. Insofern glaube ich nicht daran,
dass es ein Versäumnis war. Vielmehr war es eine durch-
dachte politische Entscheidung. Die Gründe für diese
durchdachte politische Entscheidung gelten heute noch.
Ich mache mir Gedanken darüber, wie wir diesen Opfern
in Würde gerecht werden können. Damit ist Ihre Frage,
wie ich hoffe, beantwortet.

Ich möchte noch auf die Frage zu sprechen kommen,
wie wir, abgesehen von der finanziellen Entschädigung
– ich halte den Weg, den wir diesbezüglich eingeschlagen
haben, für richtig –, die Rolle der Opfer als Zeitzeugen po-
litisch weiterhin unterstützen können. Wie können wir ih-
nen Raum geben, in der Öffentlichkeit in stärkerem Maße
zu berichten?

Damit komme ich zu meinem Schlusssatz: Mein
Wunsch ist es, dass wir in Deutschland nie wieder einen
Heimkehrerverband gründen müssen; deswegen halte ich
es für so wichtig, dass wir denjenigen, die Krieg als bit-
tere Erfahrung erlebt haben und darüber berichten kön-
nen, Möglichkeiten einräumen, dies in den Schulen ge-
genüber der jungen Generation zu tun. Denn ich glaube,
dass solche Berichte von Zeitzeugen der beste Weg sind,
um Friedenspolitik in der Gesellschaft zu verankern.

Ich danke Ihnen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502814000

Das Wort hat der Sächsische Staatsminister des Innern,

Horst Rasch.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1502814100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Am 5. April 2001 wurde der Gesetzentwurf der
CDU/CSU-Fraktion zur einmaligen Entschädigung der
ostdeutschen Kriegsheimkehrer in der Sitzung des Bun-
destages abgelehnt. Nunmehr steht ein Gesetzentwurf zur
einmaligen Entschädigung der ostdeutschen Kriegsheim-
kehrer erneut auf der Tagesordnung. Wir wollen mit diesem
Gesetzentwurf unseren politischen Willen bekräftigen, eine
Entschädigung für die benachteiligte Personengruppe der
ostdeutschen Heimkehrer zu leisten.

Heimkehrer, die nach ihrer Gefangenschaft in die ehe-
malige sowjetische Besatzungszone bzw. in die DDR
zurückgekehrt sind, sollen eine einmalige Entschädigung
für Reparationsleistungen, die sie gewissermaßen durch
Zwangsarbeit erbracht haben, erhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Es ist tatsächlich so, wie auch Kollege Haupt deutlich
machte: Sie haben dort für uns Schuld abgearbeitet. Es ist
im Interesse der Gerechtigkeit und Menschlichkeit gebo-
ten, diesen Sachverhalt anzuerkennen.

Mit dem Gesetzentwurf soll die Ungleichbehandlung
zwischen den Kriegs- und den Geltungskriegsgefange-
nen, die aus dem Gewahrsam in die ehemalige DDR ent-
lassen worden sind, im Vergleich zu denen, die in die alte


(A)



(B)



(C)



(D)


2210


(A)



(B)



(C)



(D)






Bundesrepublik entlassen worden sind, dem Grunde nach
aufgehoben werden. Auf die erheblichen finanziellen Un-
terschiede, die dabei eine Rolle gespielt haben und die wir
auch nicht mehr egalisieren können, hat Herr Kollege
Büttner in seinem Beitrag hingewiesen.

Für die Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, die
nach der Beendigung ihrer Gefangenschaft in die sowje-
tische Besatzungszone bzw. die DDR zurückgekehrt sind,
kommt neben der fehlenden finanziellen Entschädigung
noch hinzu, dass zu DDR-Zeiten das erlittene Schicksal
der Gefangenschaft während des Zweiten Weltkrieges
und auch danach von den Machthabern des SED-Regimes
ignoriert und geleugnet wurde. So wie man die alte Bun-
desrepublik als das Staatswesen ansah, das in der alleini-
gen Verantwortung für deutsche Kriegsschuld stand – so
sahen es die DDR-Machthaber –, war man geneigt, dieje-
nigen mit sich und ihrem Schicksal allein zu lassen, die,
in die alte DDR zurückgekehrt, auch für die Ostdeutschen
dieses Stück Kriegsschuld mit abgetragen hatten.

Der Zeitzeuge weiß auch um die Zufälligkeiten, nach
denen Männer wie Frauen in Gefangenschaft gerieten und
an verschiedenen Orten festgehalten wurden, an denen sie
unter extremen Bedingungen arbeiten mussten. Es war
auch weitgehend Zufall, wann man den Weg zurück nach
Hause antreten konnte.

Seit 1993 können nun die ostdeutschen Heimkehrer
Leistungen nach dem Heimkehrerstiftungsgesetz erhal-
ten; das ist richtig. Eine Pflicht zur Zahlung besteht nicht.
Es ist eine Kannbestimmung. Es geht nach der individu-
ellen Bedürftigkeit der Einzelpersonen. Die Regelungen
des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes sind für
die Betroffenen in den neuen Ländern dagegen auch wei-
terhin nicht zur Anwendung gekommen. Der Zustand der
Ungleichbehandlung zwischen den Heimkehrern hat bis
heute im vereinigten Deutschland keine Änderung erfah-
ren. Das ist es, was die Betroffenen als tiefe Kränkung
empfinden,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

eine tiefe Kränkung, die sie nicht lautstark in der Öffent-
lichkeit vortragen, die aber in Gesprächen deutlich wird.

Mit unserer Gesetzesinitiative wollen wir endlich, fast
13 Jahre nach der Vereinigung Deutschlands, durch eine
einmalige Entschädigungsleistung das erlittene Schicksal
der ostdeutschen Heimkehrer würdigen. Neben der materi-
ellen Entschädigung, die das Leid der Betroffenen wahrlich
nicht aufwiegen kann, ist es für sie wie für uns wichtig, dass
wir auch ein politisches Zeichen der Mitmenschlichkeit set-
zen. Wir beabsichtigen damit, ein Zeichen der Anerken-
nung für den Schaden, den sie erlitten haben – oftmals ein
Gesundheitsschaden –, ein Zeichen der Anerkennung für
erlittenes Schicksal zu setzen.

Die Bundesregierung teilt in ihrer Stellungnahme mit,
dass der Gesetzentwurf die Umkehrung einer Entschei-
dung anstrebe, die der gesamtdeutsche Gesetzgeber 1992
im Kriegsfolgenbereinigungsgesetz getroffen habe. Es ist
richtig, dass die Funktion der Leistung nach dem Kriegs-
gefangenenentschädigungsgesetz darin bestand, den in
die Bundesrepublik Deutschland heimgekehrten Kriegs-
gefangenen, Aussiedlern oder Sowjetzonenflüchtlingen

eine finanzielle Grundlage für ihre Eingliederung in die
aufnehmende Gesellschaft zu verschaffen. Es trifft auch
zu, dass die ostdeutschen Heimkehrer in die Gesellschaft
eingegliedert sind.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist aber
nicht Sinn und Zweck dieses Gesetzentwurfs. Sinn und
Zweck des Gesetzentwurfs ist es, mit einer einmaligen
Entschädigungsleistung das erlittene Schicksal der vielen
ostdeutschen Kriegsheimkehrer und Zivilinternierten
während ihrer Gefangenschaft im Zweiten Weltkrieg – für
viele auch lange Zeit danach – in angemessener Form zu
würdigen. Es soll eine einmalige Zahlung sein, gestaffelt
nach der Dauer des Gewahrsams, und damit gerade keine
wiederkehrende Rentenleistung bzw. Eingliederungsleis-
tung und auch keine Unterstützungsleistung entsprechend
der individuellen Bedürftigkeit – darum geht es nicht.

Es ist für den Freistaat Sachsen und den Freistaat
Thüringen als Vertreter der neuen Bundesländer ein be-
sonderes Anliegen, den ostdeutschen Heimkehrern die ih-
nen gebührende symbolische Anerkennung zuteil werden
zu lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Für ein Zeichen der Anerkennung des erlittenen Schick-
sals der ostdeutschen Heimkehrer mag es spät sein, bis
jetzt ist es aber noch nicht zu spät.

Frau Stokar hat von den Erfahrungen ihrer Eltern ge-
sprochen. Wir, die Jahrgänge, die wir mitten im Leben ste-
hen, können es nur noch aus dem Munde unserer Eltern
erfahren haben, was sie tatsächlich erlitten haben. Wir
meinen schon, dass es notwendig ist, einen letzten Akt der
Gerechtigkeit unserer Elterngeneration gegenüber in die-
ser Weise auszusprechen und anzuerkennen, welches Leid
sie haben ertragen müssen, welches Schicksal sie haben
annehmen müssen – ob verschuldet oder unverschuldet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502814200

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfes auf Drucksache 15/407 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van
Essen, Rainer Funke, Otto Fricke, weiteren Ab-
geordneten und der Fraktion der FDP eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zum verbesserten
Schutz der Intimsphäre
– Drucksache 15/361 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP

Staatsminister Horst Rasch (Sachsen)





Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jörg van Essen, FDP-Fraktion.


Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1502814300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben diese Thematik bereits vor ziemlich genau ei-
nem Jahr debattiert. Leider ist es nicht zu einem Geset-
zesbeschluss gekommen, sodass die FDP-Bundestags-
fraktion ihre Initiative erneut in den Deutschen Bundestag
eingebracht hat. Dass diese Initiative notwendig ist, haben
wir auch im letzten Jahr wieder erfahren können. Wir ha-
ben Berichte gelesen, wonach zum Beispiel Arbeitgeber
Kameras in den Damentoiletten installiert haben, um da-
mit ihre Mitarbeiterinnen aufzunehmen. Es war auch zu
lesen, dass zum Teil in Solarien entsprechende Einrich-
tungen installiert worden sind, um Personen, die sich dort
bräunen, aufzunehmen. Das alles ist unbefugt erfolgt und
ist völlig inakzeptabel.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist nicht nachzuvollziehen, dass die Gespräche, die
beispielsweise an den gerade von mir beschriebenen Ört-
lichkeiten unbefugt aufgenommen worden wären, eine
Strafe zur Folge gehabt hätten, während die Aufnahmen
bisher straflos erfolgen können. Die Rechtsprechung hat
in der Vergangenheit Wege zur Beseitigung dieses Miss-
verhältnisses aufgezeigt. Ich denke etwa an die unbefugte
Veröffentlichung von Fotos Prominenter. Das Hanseati-
sche Oberlandesgericht hat im Fall einer Prinzessin aus
einem Mittelmeeranrainerstaat eine entsprechende Ent-
scheidung getroffen und in der Begründung gesagt, die
zugesprochene Entschädigung sei deshalb so hoch ausge-
fallen, weil man damit eine Sanktion verbinden wolle.
Aber Strafen auszusprechen ist nicht die Aufgabe des Zi-
vilrechts, sondern des Strafrechts. Deshalb schlagen wir
als FDP-Fraktion vor, eine entsprechende Vorschrift in
das Strafgesetzbuch aufzunehmen.

Wir wollen – für diesen Begriff haben wir uns ent-
schieden – die Intimsphäre schützen. Dieser Begriff ist in
der Rechtssprache bekannt und wird beispielsweise vom
Bundesverfassungsgericht immer wieder im Sinne eines
unantastbaren Kernbereichs der privaten Lebensge-
staltung verwendet. Ich denke, dass genau dieser Kern-
bereich geschützt werden muss.


(Beifall bei der FDP und der SPD)

Wir wollen wie im Übrigen schon vor einem Jahr – der
Kollege Manzewski hat das in der damaligen Debatte kri-
tisiert – auch den Versuch, diesen Kernbereich zu verlet-
zen, unter Strafe stellen. Die Begründung ist ganz einfach:
Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, der immer
wieder auf diese Regelungslücke hingewiesen und uns
gebeten hat, im Bundestag für die Schließung dieser
Lücke zu sorgen, hat genau dies angeregt. Ich halte die
Anregungen des Bundesdatenschutzbeauftragten immer
für überlegenswert. Deshalb sind wir auch diesmal seiner
Anregung gefolgt.

Ich weiß aus der letzten Debatte, dass in diesem Hause
große Offenheit dafür besteht, die hier angesprochene
letzte Regelungslücke im Bereich des Schutzes der Pri-
vat- und der Intimsphäre zu schließen. Ich finde, dass wir
jetzt, nachdem wieder ein Jahr ins Land gegangen ist, die
Verpflichtung haben, das schnell umzusetzen. Meine
Hoffnung, dass wir das schaffen werden, ist durchaus be-
rechtigt; denn die Bundesregierung hat vor einem Jahr an-
gekündigt, hier initiativ zu werden. Wie ich aus dem
Hause höre, wird die Formulierung ähnlich der der FDP
sein. Ich denke, dass unsere Bürger einen Anspruch auf
Schließung dieser Regelungslücke haben. Das wird ins-
besondere dann deutlich, wenn man sich die Fälle vor Au-
gen führt, die ich vorhin genannt habe.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502814400

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Alfred

Hartenbach. – Herr Hartenbach, Sie haben das Wort.

(Heiterkeit)


A
Alfred Hartenbach (SPD):
Rede ID: ID1502814500


Frau Präsidentin, ich bitte um Nachsicht. Ich hielt es
für angebracht, mit den Kollegen von der FDP-Fraktion,
die genauso verloren dasitzen wie die meiner Fraktion, ein
paar freundliche Worte zu wechseln.


(Jörg van Essen [FDP]: Aber wir sind genauso stark wie Ihre Fraktion!)


– Ich habe gesagt: genauso verloren dasitzen wie die mei-
ner Fraktion.

Verehrtes Präsidium! Verehrte Kolleginnen! Verehrte
Kollegen! Die FDP-Fraktion hat erneut einen Entwurf ei-
nes Gesetzes zum verbesserten Schutz der Intimsphäre in
den Bundestag eingebracht. Die Bundesregierung stimmt
– wie auch schon in der letzten Legislaturperiode – dem
Anliegen des Gesetzentwurfs in den Grundzügen zu. Es
ist richtig, dass in den strafrechtlichen Vorschriften zum
Schutz des persönlichen Lebens- und Geheimnisbereichs
eine Strafbarkeitslücke besteht, die durch einen neuen
§ 201 a des Strafgesetzbuches geschlossen werden könnte.

Es geht darum, den Schutz der Intimsphäre, also des
höchstpersönlichen Lebensbereichs, vor unbefugten Bild-
aufnahmen und Beobachtungen zu verbessern. Zu Recht
wird in diesem Gesetzentwurf eine Parallele zu § 201 des
Strafgesetzbuches gezogen, der die Verletzung der Ver-
traulichkeit des Wortes unter Strafe stellt. Das Recht am
eigenen Bild sollte strafrechtlich nicht schlechter als das
Recht am eigenen Wort behandelt werden.

Dieser Gesetzentwurf entspricht einer Forderung, die der
Bundesbeauftragte für den Datenschutz in seinem 18. Tätig-
keitsbericht erhoben hat. Schon vor Veröffentlichung die-
ses Berichts und unabhängig davon hat das Bundesminis-
terium der Justiz einen Entwurf erarbeitet, der sich mit


(A)



(B)



(C)



(D)


2212


(A)



(B)



(C)



(D)






dem von der FDP vorgelegten Entwurf in wesentlichen
Punkten deckt. Nur ein Schelm würde jetzt sagen: Das ist
wie in der letzten Legislaturperiode beim Rechtsanwalts-
vergütungsgesetz. Aber es ist ja nicht schlimm, wenn man
gleiche Gedanken hat.


(Jörg van Essen [FDP]: Gute Gedanken dürfen mehrere haben! – Dirk Manzewski [SPD]: Die urheberrechtliche Seite müssen wir noch klären! – Joachim Stünker [SPD]: Wer hat bei wem abgeschrieben?)


Zweifel habe ich allerdings, Herr van Essen, an der im
vorliegenden, von der FDP eingebrachten Gesetzentwurf
enthaltenen Strafbarkeit des Versuchs und an dem Quali-
fikationstatbestand für Amtsträger. Ich meine – ich möchte
Dirk Manzewski nicht vorgreifen; er wird sicherlich ein
paar gute Beispiele präsentieren –, dass die Strafbarkeit da
etwas zu weit gehen könnte. Handelt es sich um einen straf-
befreienden Rücktritt vom Versuch, wenn ich etwa mit mei-
nem elektronischen Fotoapparat zwei Sumpfrallen – das
sind Wasservögel; Federvieh – fotografieren möchte, das
aber nicht tue, weil sich im Hintergrund zufällig eine Per-
son befindet?

Ich denke auch an die wirklich armen Polizeibeamten

(Zuruf des Abg. Jörg van Essen [FDP])


– Herr van Essen, jetzt bin ich wieder sehr ernst –, die
noch nicht den mit § 100 StPO ff. verbundenen Auftrag
haben. Möglicherweise haben sie noch nicht einmal den
Auftrag, jemanden zu beobachten. Wir wissen, dass es im
Hinblick auf den Beginn von Ermittlungen und auf Ob-
servierungen Grauzonen gibt; deswegen glaube ich, dass
man sich die Regelung mit den Amtsträgern noch einmal
sehr genau überlegen sollte.

Das Bundesministerium der Justiz vertritt die Auffas-
sung, dass wir trotz dieser Übereinstimmungen sehr sorg-
fältig vorgehen müssen. Die bisher bekannt gewordenen
Reaktionen – es gab sie schon in der letzten Legislaturpe-
riode – zeigen durchaus, dass nicht alle mit diesem Vor-
schlag einverstanden sind. Wir sollten dieses Vorhaben
sehr exakt und sehr sorgfältig – möglicherweise auch im
Rahmen einer Anhörung im Ausschuss und durch behut-
same weitere Gespräche – prüfen. Das sind wir dem
Schutz der Intimsphäre schuldig.

Frau Präsidentin, Sie sehen, dass ich mich trotz meiner
kleinen Vorrede an die Zeit gehalten habe.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Susanne Kastner (SPD):
Rede ID: ID1502814600

Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder,

CDU/CSU-Fraktion.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt kommt endlich Substanz in diese Debatte! – Gegenruf des Abg. Joachim Stünker [SPD]: Das wäre was Neues, Herr Kollege! Diese jungen Kollegen! – Jörg van Essen [FDP]: Sehr nett! Vielen Dank, Herr Grosse-Brömer!)



Siegfried Kauder (CDU):
Rede ID: ID1502814700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Man darf etwas überrascht sein, dass wir heute über einen
– von der FDP dankenswerterweise vorgelegten – Ge-
setzentwurf diskutieren.

Kommen wir einmal auf den parlamentarischen Vor-
lauf zu sprechen. Am 13. März 2001 – nicht 2002! – hat
der Bundesbeauftragte für den Datenschutz eine Lücke in
einem Grundrecht festgestellt. Jeder hat das Recht auf die
freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.Dieses Recht hat
der Staat zu garantieren. Zur freien Entfaltung seiner Per-
sönlichkeit gehört auch, dass der Staat die Privatsphäre
des Bürgers garantiert. Durch diesen Bericht des Bundes-
beauftragten für den Datenschutz war diese Lücke also
bekannt. Der Kollege van Essen hat aufgrund dieses
Sachverhalts eine Frage an die Bundesregierung gerich-
tet. Die Antwort darauf gab Professor Dr. Pick, der dama-
lige Parlamentarische Staatssekretär, prompt – ich zitiere –:

Im Bundesministerium der Justiz wird derzeit eine
Vorschrift vorbereitet, wonach unbefugte Bildauf-
nahmen und die unbefugte Beobachtung mit einem
technischen Gerät ... mit Strafe bedroht werden sol-
len.

Seither lässt man den Bürger, der Anspruch darauf hat,
dass seine Privatsphäre umfassend geschützt wird, im Re-
gen stehen.


(Joachim Stünker [SPD]: Das haben Sie vorher 16 Jahre lang auch gemacht!)


– Herr Stünker, ist Rot-Grün an der Regierung

(Jörg van Essen [FDP]: Und zwar jetzt seit fast fünf Jahren!)

oder sind wir es?


(Joachim Stünker [SPD]: Unglaublich!)

– Herr Stünker, passen Sie bitte auf. Ich erkläre Ihnen
auch, wie es geht. Hören Sie doch bitte wenigstens zu,


(Joachim Stünker [SPD]: Ich höre schon zu!)

wenn ich versuche, Ihnen das beizubringen.


(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Herr Oberlehrer!)


– Sie dürfen doch noch etwas dazu sagen, Frau Kollegin.

(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)


Man hätte eigentlich erwarten dürfen, dass die Bun-
desregierung einen Gesetzentwurf vorlegt. Das ist nicht
geschehen. Es ist ein Versäumnis,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

dass die FDP-Fraktion mit ihrem Gesetzentwurf beheben
will. Dafür muss man ihr dankbar sein.

Nun zum Gesetzentwurf selbst. Herr Kollege van
Essen, ich schätze die Art, in der Sie vorgetragen haben.
Aber erlauben Sie mir, zu versuchen, Lücken offen zu le-
gen, über die wir reden müssen.

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach




Siegfried Kauder (Bad Dürrheim)


Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf einen Schutz der
Intimsphäre erreichen. Den Begriff der Intimsphäre kennt
das Verfassungsrecht, aber nicht das Strafrecht. Wir tun
uns viel leichter, wenn wir nicht neue Begriffe kreieren,
sondern auf althergebrachte aus dem Strafrecht zurück-
greifen. Einen solchen Begriff gibt es in Form der so ge-
nannten Privatsphäre. Zum Begriff der Privatsphäre gibt
es auch genügend Rechtsprechung, auf die wir dann
zurückgreifen können. Deswegen die Bitte, zu überlegen,
ob wir den Begriff Intimsphäre nicht gegen den Begriff
Privatsphäre austauschen sollten.


(Jörg van Essen [FDP]: „Intimsphäre“ ist enger!)


Eine Lücke bleibt in diesem Gesetzentwurf, die wir
dringend schließen müssen. Bestraft werden soll nur, wer
unbefugt etwas auf Bildträger aufnimmt und die Auf-
nahme dann verwendet. Es gibt aber auch die folgende Si-
tuation: Lebenspartner fotografieren sich gegenseitig;
diese Fotos sind dem Intimbereich zuzurechnen. Dann
geht die Beziehung auseinander. Es ist also ein befugt
aufgenommenes Foto, aber nach der Trennung der priva-
ten Beziehung möchte keiner der beiden, dass der andere
sein Foto ins Internet stellt.

Das sind die Fälle, die wir immer wieder haben. Deswe-
gen bitte ich, zu überlegen, in Art. 1 in dem neuen § 201 a
in Abs. 1 eine Nr. 3 anzufügen, nach der auch befugt her-
gestellte Aufnahmen nicht verbreitet werden dürfen,
wenn die Zustimmung nicht gegeben wird.


(Jörg van Essen [FDP]: Guter Hinweis!)

Dann bitte ich zu bedenken, dass in Abs. 2 ein Ver-

suchstatbestand aufgeführt ist. Danach soll ebenso be-
straft werden, wer mit einem Bildaufnahmegerät einen
Dritten beobachtet. Das ist die Vorbereitungshandlung zur
Aufnahme. Sie wollen dann auch noch den Versuch be-
straft wissen. Das heißt, Sie kommen rechtlich zu dem Er-
gebnis, dass der Versuch des Versuchs bestraft wird. Das
kennen wir in der Rechtspraxis nur in Ausnahmefällen.
Ich bitte also, auch darüber nachzudenken, den Abs. 2 völ-
lig aus dem Gesetzentwurf herauszunehmen.

Noch komplizierter wird es in Abs. 3. Die FDP glaubt,
da eine Bagatellklausel einführen zu müssen und dies mit
einem Rechtfertigungsgrund verbinden zu können. Die
Tat soll nur strafbar sein, wenn sie geeignet ist, berech-
tigte Interessen der verletzten Person zu beeinträchtigen.
Bitte aufpassen! Damit hat wieder einmal das Opfer die
Beweislast. Der Richter wird fragen: Wo sehen Sie sich
denn in Ihrer privaten Sphäre beeinträchtigt? – Das darf
nicht sein. Derjenige, der in der Privatsphäre fotografiert
und damit ein Grundrecht eines Bürgers verletzt, muss be-
legen, warum es aus übergeordneten Interessen notwen-
dig war.

Wir müssen das Strafgesetzbuch nicht mit immer neuen
Begriffen und komplizierten Regelungen aufblasen, wenn
es einfacher geht – und es geht einfacher. Was Sie von der
FDP berechtigterweise wollen, ist schon in anderem Zu-
sammenhang im Gesetz dokumentiert. Bei den Straftat-
beständen der Beleidigung gibt es in § 193 StGB einen
Rechtfertigungsgrund. Ein solcher Grund liegt vor, wenn
der Täter in Wahrnehmung berechtigter Interessen han-

delt. Wir brauchen § 193 StGB nur in Abs. 3 Ihres Ge-
setzentwurfs zu übernehmen und haben dann das, was Sie
wollen, und zwar auch juristisch bereits abgesichert, weil
es genügend Rechtsprechung zur Abwägung zwischen
Art. 2 und Art. 5 Grundgesetz gibt.

Herr Staatssekretär, an einer Stelle in der Diskussion
haben Sie zu kurz gegriffen. Sie sagten, wir sollten uns
überlegen, ob das höhere Strafmaß für Amtsträger ge-
rechtfertigt sei. – Genau das brauchen wir. Es soll Fälle
gegeben haben – damit trete ich den Polizeibehörden
nicht zu nahe –, dass auf Polizeidienststellen Frauen, die
verhört wurden, nackt aufgenommen wurden und dass
diese Fotos verkauft wurden. Das dürfen wir nicht zulas-
sen. Das wollen wir nicht zulassen. Gerade Amtsträger
haben eine besondere Verpflichtung. Deswegen ist dieses
erhöhte Strafmaß gerechtfertigt.


(Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der FDP)


Herr Kollege van Essen, einem Problem müssen wir
uns schon stellen. Es gibt bereits eine ähnlich gelagerte
Vorschrift, die Sie in Ihrer Begründung auch zitiert haben,
nämlich § 33 Kunsturhebergesetz. Sie haben das ein
bisschen mit links abgearbeitet und gesagt, es sei eine alte,
überkommene Vorschrift. Das Moderne im Recht ist aber
nicht immer das Bessere. Wir können nicht so verfahren,
dass wir in einem neu zu schaffenden Straftatbestand eine
Höchststrafe von zwei Jahren vorsehen und parallel dazu
eine Vorschrift im Kunsturhebergesetz belassen, die den
fast gleichen Straftatbestand mit einem Jahr Freiheits-
strafe belegt. Da klafft eine Lücke, die wir schließen müs-
sen.

Jetzt können wir natürlich sagen: Das richten nachher
die Gerichte; die schalten das im Wege der Gesetzeskon-
kurrenz aus. – Das dürfen wir als Gesetzgeber aber nicht
zulassen. Es ist unsere Verpflichtung, den Richtern Vor-
gaben zu machen. Also müssen wir dieses Spannungsver-
hältnis zwischen dem von Ihnen gewünschten § 201 a
Strafgesetzbuch und dem bestehenden § 33 Kunsturhe-
bergesetz klären. Ich bin der Meinung, auch das lässt sich
relativ einfach lösen. Denn die Vorschriften des Kunstur-
hebergesetzes beinhalten nichts anderes als Rechtferti-
gungsgründe. Diese Rechtfertigungsgründe können wir,
wenn wir Abs. 3 Ihres Gesetzentwurfs abspecken und in
etwa inhaltsgleich zu § 193 StGB ausgestalten, dort noch
einfügen.

Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wenn man sach-
lich argumentiert, lassen sich Lösungen erarbeiten. Ich
freue mich, dass ich da Zustimmung auch von Ihrer Seite
bekomme. Nur eines ärgert mich – das muss man den
Menschen, die draußen zuhören, wenn wir hier diskutie-
ren, auch sagen –: Wir haben schlicht und ergreifend seit
dem Jahr 2001 Arbeitszeit, die der Bürger bezahlt – er be-
zahlt ja auch die Parlamente –, verplempert. Ich bin mir
fast sicher: Wenn der Kollege van Essen nicht gewesen
wäre, wäre niemand auf der Regierungsbank auf die Idee
gekommen, eine bestehende Gesetzeslücke mit einem Ge-
setz, das den Konsens in diesem Haus findet, zu schließen.
Das darf nicht sein; das dürfen wir nicht zulassen.

Ich kann Ihnen versichern: Das ist nicht der einzige Ge-
setzentwurf, der in den Schubladen der Ministerien dieser


(A)



(B)



(C)



(D)


2214


(A)



(B)



(C)



(D)






Regierung versackt. Dagegen müssen wir vorgehen. Der
Bürger hat einen Anspruch auf eine zeitnahe Lösung, ins-
besondere dann, wenn seine Grundrechte berührt werden.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn wir auch dazu einen
Konsens finden würden.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502814800

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-

Gerigk.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Kollege van Essen hat gerade darauf hingewiesen:
Vor einem Jahr hatten wir eine ähnliche Debatte. Schon
damals wurde über den Tätigkeitsbericht des Bundes-
beauftragten für den Datenschutz gesprochen. Sinn-
gemäß steht darin: Wer sich bewusst der Öffentlichkeit
entzieht, muss oder soll sich darauf verlassen können,
dass von ihm ohne Einwilligung keine Aufnahmen ge-
macht werden und auch keine Aufnahmen in der Öffent-
lichkeit verbreitet werden.

Mit dieser Formulierung wird ein Aspekt des Rechts
auf informationelle Selbstbestimmung beschrieben. Sie
alle wissen, dass wir Grüne dem Recht auf informatio-
nelle Selbstbestimmung große Bedeutung beimessen. Wir
haben uns immer für den Datenschutz und auch für die
Achtung der Privatsphäre eingesetzt. Für uns handelt es
sich hier sozusagen um ein Heimspiel. Deshalb versteht
es sich für uns von selbst, dass wir den Bericht des Bun-
desbeauftragten ernst nehmen. Dementsprechend lautet
die gute Nachricht, Herr Kollege van Essen: Wir haben
Sympathie für das Anliegen, das Ihrem Antrag zugrunde
liegt.

Leider muss ich unmittelbar auch eine schlechte Nach-
richt anschließen: Unsere Sympathie für Ihr Bemühen um
den Schutz der Privatsphäre hält sich leider in Grenzen.
Zu frisch ist bei uns noch die Erinnerung an die Zeiten, in
denen Sie als Regierungspartei das Grundrecht auf Un-
verletzbarkeit der Wohnung mit dem großen Lauschan-
griff mit Füßen getreten haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das war ein Fortschritt!)


Die Folge war: Die Justizministerin hat ihr Amt aufge-
geben. Seitdem hat ja auch nicht etwa ein Gesinnungs-
wandel bei den Liberalen stattgefunden. Deutschland
ist bereits jetzt Weltmeister im Abhören. Diesen Titel
haben wir – leider, muss ich sagen – der FDP zu ver-
danken.


(Jörg van Essen [FDP]: Das ist doch schlimmer Unsinn und Sie wissen, dass es Unsinn ist!)


Das hindert jedoch auch die rheinland-pfälzische Landes-
regierung nicht daran, in ihrem aktuellen Entwurf zum

neuen Polizeigesetz mit tatkräftiger Unterstützung der
FDP


(Klaus Haupt [FDP]: Wer hat Ihnen das aufgeschrieben?)


die Ausweitung der polizeilichen Befugnisse bei der Te-
lekommunikationsüberwachung und beim Lauschangriff
zu betreiben.


(Jörg van Essen [FDP]: Ich dachte, der Innenminister würde von der SPD gestellt! Sie koalieren doch mit denen!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns nichts
vor: Vor diesem Hintergrund ist die Ungeduld, mit der die
FDP diesen Antrag im Namen des Schutzes der Privat-
sphäre erneut eingebracht hat, wenig überzeugend.

Das Strafrecht muss immer Ultima Ratio der Rechts-
ordnung sein. Wenn wir in die Begründung zu dem Ge-
setzentwurf schauen, stellen wir fest, dass sie wenig auf-
schlussreich ist. Wir sind in diesem Fall nicht davon
überzeugt, dass die bestehenden rechtlichen Mittel nicht
ausreichen. Es gibt für die Betroffenen schon jetzt eine
Reihe von rechtlichen Mitteln, mit denen sie sich zur
Wehr setzen können; der Kollege Kauder hatte vorhin an
einige erinnert. Es stehen zivilrechtliche Beseitigungs-
und Unterlassungsansprüche sowie Schadensersatz- und
Schmerzensgeldansprüche zur Verfügung. Zudem gibt es
die Strafvorschrift in § 33 des Kunsturhebergesetzes, die,
wie Herr Kauder ja vorhin erwähnte, das Veröffentlichen
von Abbildungen ohne Einwilligung des Abgebildeten
unter Strafe stellt.


(Jörg van Essen [FDP]: Aber nur das Veröffentlichen!)


Schließlich scheint mir die von Ihnen vorgeschlagene
Strafvorschrift an vielen Stellen nicht ganz ausgegoren.
Die bereits erwähnte Vorschrift im Kunsturhebergesetz
stellt die schwerwiegendste Verletzung des Persönlich-
keitsrechts unter Strafe.


(Jörg van Essen [FDP]: Deswegen will das Bundesjustizministerium eine sehr ähnliche!)


Nun wollen Sie nicht nur das Veröffentlichen bestrafen,
sondern auch das Herstellen einer Bildaufnahme, und
nicht nur das: Sie wollen auch noch den Versuch der Her-
stellung unter Strafe stellen.


(Jörg van Essen [FDP]: Wie der Bundesbeauftragte für Datenschutz vorgeschlagen hat!)


Der Herr Staatssekretär hat gerade anhand des Beispiels
mit den Sumpfrallen – die habe ich erst jetzt kennen ge-
lernt, aber es ist ja gut, dass man jeden Tag dazulernt –
deutlich gemacht, wie schwer es ist, so etwas überhaupt
zu machen.


(Jörg van Essen [FDP]: Warum schlägt es denn der Bundesbeauftragte für Datenschutz vor?)


– Jetzt habe ich das Wort, Herr Kollege. – Damit sich nicht
jeder, der mit einer Kamera im Park oder in einem Wohn-
gebiet spazieren geht, dem Verdacht einer strafbaren
Handlung aussetzt, wollen Sie den Anwendungsbereich
des Tatbestandes wieder eingrenzen. Dafür wollen Sie ei-

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim)





Irmingard Schewe-Gerigk
nen neuen unbestimmten Rechtsbegriff einführen, der,
wie Sie selbst sagen, bisher nicht in der Gesetzgebung
auftaucht. Die Begründung dafür liefern Sie auch gleich
mit, indem Sie sagen, die abstrakte Umschreibung der In-
timsphäre sei nicht möglich. Ich halte es nicht für sinnvoll
– da stimme ich ausdrücklich dem Herrn Kollegen Kauder
zu –, hier einen neuen Begriff, nämlich den der Intim-
sphäre, einzuführen.

Wir wollen keinen Straftatbestand, der eine Vielzahl
von Alltagssituationen erfasst, deren Strafwürdigkeit
fraglich ist, und der in der Praxis auch nicht handhabbar
ist. Stattdessen wollen wir genau prüfen, ob ein zusätzli-
cher § 201 a Strafgesetzbuch nötig ist. Dies werden wir
mit Bedacht tun. Den geeigneten Rahmen dazu stellt die
Überarbeitung des Besonderen Teils des Strafgesetz-
buchs dar, die die Koalition noch in dieser Legislaturpe-
riode vornehmen wird. Dabei wird das sicher ein wichti-
ger Punkt sein. Ich freue mich schon sehr auf die
Ausschussberatungen.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502814900

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Manzewski.


Dirk Manzewski (SPD):
Rede ID: ID1502815000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir de-

battieren hier über einen Gesetzentwurf, der ein Thema
berührt, mit dem wir uns schon kurz am Ende der letzten
Legislaturperiode beschäftigt haben, der Kollege van
Essen hat darauf hingewiesen. Das Grundanliegen, Herr
Kollege, wird dabei von uns geteilt, weil sich in der Ver-
gangenheit – da haben Sie völlig Recht – immer wieder
gezeigt hat, dass hier wohl eine Lücke im Strafgesetzbuch
existiert. Zwar ist im Bereich des Persönlichkeitsrechts
im Strafgesetzbuch einiges geregelt, zum Beispiel die Ver-
letzung des Briefgeheimnisses, das unbefugte Ausspähen
von Daten und einiges Weitere; aber es existiert eben
nichts Vergleichbares, das die Menschen wirksam vor dem
unbefugten Aufnehmen von Bildern und deren Veröffent-
lichung schützt. Allein das Zivilrecht gibt den Betroffenen
bislang die Möglichkeit, sich gegen solches Verhalten zu
wehren. Aber in diesen Fällen geht es – das ist von den
Kollegen schon angedeutet worden – allein um Beseiti-
gung, Unterlassen, Schadenersatz oder Schmerzensgeld.

Sie haben völlig Recht: Nicht zuletzt der bekannte Fall
der noch bekannteren Prinzessin – die immerhin ein ho-
hes Schmerzensgeld bekommen hat, weil unbefugt Fotos
von ihrer Privatsphäre aufgenommen worden sind – hat
die Tendenz der Gerichte gezeigt, dass ein Eingriff in die
Privatsphäre in dieser Form nicht akzeptabel ist.

Sie haben auch Recht, wenn Sie sagen, dass die Verun-
sicherung in der Bevölkerung nicht zuletzt dadurch ver-
stärkt worden ist, dass in den Medien in der Vergangen-
heit immer wieder von Fällen berichtet worden ist, in
denen gegen das Persönlichkeitsrecht in geradezu scham-
loser Weise verstoßen wurde. Insbesondere heimliche
Duschaufnahmen oder Aufnahmen aus anderen persön-

lichen Bereichen, die dann vor allem im Internet übertra-
gen wurden und bei denen die Betroffenen weder von der
Aufnahme noch von deren Verbreitung etwas ahnten, ma-
chen die Problematik deutlich.

Aber nicht nur diese medienwirksamen Fälle geben
meiner Auffassung nach Anlass, tätig zu werden. Gerade
die Entwicklungen in der Videotechnik und im Internet,
die es möglich machen, Bilder unbemerkt aufzunehmen
und weltweit zu verbreiten, zwingen uns, den Schutz der
Bürger zu verstärken. Dazu gehören auch die extrem klei-
nen Kameras, sehr weit reichende Teleobjektive und an-
dere Geräte, die dem Eingriff in die Privatsphäre Tür und
Tor geöffnet haben. Das Medium Internet, das die Mög-
lichkeit der kurzfristigen und weltweiten Verbreitung
eröffnet, hat ein Übriges getan. Sie alle haben völlig
Recht, wenn Sie sagen, dass unsere Bürger einen An-
spruch darauf haben, hiervor geschützt zu werden.

Es ist schon öfter angesprochen worden: Der Bundes-
beauftragte für den Datenschutz hat in seinem letzten
Tätigkeitsbericht festgestellt, dass es in diesem Zusam-
menhang immer öfter zu Eingriffen in die Persönlich-
keitsrechte kommt. Ich teile seine Einschätzung, genau
wie ich Ihre Grundeinschätzung teile, dass es hier einer
gesetzlichen Regelung bedarf. Die unterschiedliche Be-
handlung von heimlichen Tonbandaufnahmen und heim-
lichen Bildaufnahmen ist nicht nachzuvollziehen.

Aber – dazu muss ich noch einiges sagen, Herr Kollege
van Essen – das sieht auch die Bundesregierung so. Be-
reits auf Ihre Anfrage – das ist angesprochen worden – ist
mitgeteilt worden, dass das BMJ an einer entsprechenden
Vorschrift arbeitet, wonach unbefugte Bildaufnahmen
und das unbefugte Beobachten mit einem technischen
Gerät mit Strafe bedroht werden sollen.


(Jörg van Essen [FDP]: Nur ein bisschen lang, Herr Kollege!)


– Darauf komme ich jetzt.
Daran hat sich natürlich nichts geändert. Sie und der

Kollege Kauder haben Kritik geübt. Aber bei der Argu-
mentation ist einiges verschwiegen worden. Das BMJ hat
gesagt: Wir schaffen eine entsprechende Regelung, aber
wir halten es nur für sinnvoll, wenn dies in einem großen
Kontext geschieht, weil sich in der Vergangenheit heraus-
gestellt hat, dass in dem einen oder anderen Bereich des
Besonderen Teils des Strafrechts Änderungen notwendig
sind und es eigentlich nicht sinnvoll ist, hier ein be-
stimmtes Einzelproblem herauszunehmen, schon allein
deswegen, weil – das muss man berücksichtigen – Straftat-
bestände häufig ineinander übergehen.


(Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD])

Das Herauslösen oder Vorziehen einzelner Vorschriften
könnte im Nachhinein zu viel größeren Problemen führen,
als wenn man etwas wartet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502815100

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen

Kauder?


(A)



(B)



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(D)


2216


(A)



(B)



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(D)







Dirk Manzewski (SPD):
Rede ID: ID1502815200

Ja, natürlich.


Siegfried Kauder (CDU):
Rede ID: ID1502815300

Herr Kollege, nehmen Sie es mir bitte nicht übel. Sie

sind wie ich Jurist. Können Sie sich vorstellen, dass es ei-
nem Mädchen, das nackt im Internet publiziert wird, völ-
lig egal ist, ob diese Rechtsvorschrift im Kontext mit an-
deren erlassen wird oder nicht? Für dieses Mädchen ist
wichtig, dass es Schutz bekommt. Die Regierung kennt
die Probleme seit dem Jahr 2001. Wie lange muss es noch
dauern?


Dirk Manzewski (SPD):
Rede ID: ID1502815400

Herr Kollege, Gesetzgebung ist wichtig und wir müs-

sen auch reagieren. Aber das bedeutet nicht, dass wir in
puren Aktionismus verfallen dürfen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Es ist zwar mittlerweile ein Jahr seit der Vorlage des Be-
richtes vergangen, Herr Kollege; aber das Problem ist
doch schon länger bekannt. Deshalb müssen sich auch an-
dere fragen lassen, warum sie nicht die Notwendigkeit ge-
sehen haben, etwas zu unternehmen.


(Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD])

Für mich ist es wichtiger, etwas vernünftig auf den Weg
zu bringen, als das voreilig zu tun. Ich hoffe, dass wir das
auch in diesem Zusammenhang tun werden. Ich meine,
dass voreiliges Handeln eher zu Nachteilen für die Be-
troffenen führt und sie im Grunde genommen nicht wei-
terbringt.

Ich möchte noch die Tatsache ansprechen – das geht ja
nicht von meiner Zeit ab –, dass Sie immer nur auf den
Bundesbeauftragten verweisen. Es ist ja gut, dass der
Bundesbeauftragte diesen Bericht veröffentlicht hat; man
muss ihn auch ernst nehmen. Aber die Meinung des Bun-
desbeauftragten, Herr Kollege Kauder, ist ja nun nicht das
Allheilmittel; er ist auch nicht der Allwissende. Das heißt,
wir sollten uns als freie Abgeordnete offen lassen, inwie-
weit wir dies bewerten und in welchem Zusammenhang
wir die von ihm gemachten Vorschläge sinnvoll umsetzen
wollen. Nur allein auf den Bericht des Bundesbeauftrag-
ten zu verweisen, halte ich offen gestanden für nicht ganz
richtig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: Es stimmt nicht, was Sie sagen! – Zuruf von der FDP: Darüber wurde schon 1969 diskutiert!)


– Lassen Sie mich weiter reden. Ich will das zum Ende
bringen.

Gleichwohl, Kollege van Essen, haben Sie diesen Ein-
zelpunkt schon herausgegriffen. Ich meine, es ist völlig in
Ordnung, dass wir darüber diskutieren, weil es uns mög-
licherweise den späteren Ablauf etwas erleichtern kann.
Aber wir werden – ich werde in den verbliebenen andert-
halb Minuten meiner Redezeit noch auf ein paar Einzel-
heiten eingehen – uns dann tatsächlich darüber unterhal-

ten müssen, ob alles, was in Ihrem Gesetzentwurf steht,
richtig ist.

Abgesehen von seiner Kritik an die Bundesregierung
hat Herrn Kauder natürlich zu Recht zwei oder drei in-
haltlich richtige Punkte genannt. Die Polemik hätte ich
mir an seiner Stelle allerdings gespart. Auch ich meine,
dass wir uns noch einmal ganz in Ruhe darüber unterhal-
ten müssen, ob es wirklich Sinn macht, einen Qualifika-
tionstatbestand für Amtsträger zu schaffen. Trotz des
Beispieles von Herrn Kauder ist es mir noch nicht ganz
einsichtig, weil ich glaube, dass man den neu zu schaf-
fenden § 201 a StGB nicht zwingend mit § 201 StGB ver-
gleichen kann, weil diesem eine andere Intention zu-
grunde liegt. Wie gesagt, darüber müssen wir reden.

Möglicherweise wird uns die Diskussion in diesem Zu-
sammenhang dann auch dahin führen, dass meine Zweifel
ausgeräumt werden. Solche habe ich natürlich weiterhin,
Herr Kollege, solange Ihrer Auffassung nach bereits der
Versuch des Delikts unter Strafe gestellt werden soll. Meine
Zweifel habe ich aber insbesondere deshalb, weil ich in der
späteren Praxis erhebliche Probleme sehe, diese Tat zu be-
weisen. Wer wird denn schon nachweisen können, dass
zum Beispiel die Beobachtung mit dem Fernglas nicht der
Natur, sondern dem Liebespaar in dieser dienen sollte?

Wir sind aufgefordert, nur Gesetze zu schaffen, die der
Justiz helfen und die Justiz nicht belasten. Ich bitte ein-
fach darum, dass wir uns darüber noch einmal intensiv un-
terhalten. Wir dürfen uns auch nichts vormachen: Lö-
sungen hängen nicht allein von neuen Gesetzen und
Regelungen ab. Zu Recht verweist der Bundesdaten-
schutzbeauftragte darauf – ich nehme noch einmal Bezug
auf ihn –, dass vielmehr das Verständnis für die Notwen-
digkeit des Respekts vor dem Persönlichkeitsrecht aller
Menschen in Verbindung mit entsprechenden technischen
und organisatorischen Maßnahmen in den Köpfen aller
wachsen muss, die mit personenbezogenen Daten umge-
hen wollen und müssen. Das sollten wir bei den anste-
henden Beratungen nicht unberücksichtigt lassen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)



Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1502815500

Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs

auf Drucksache 15/361 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Wir sind damit zu ungewohnt früher Stunde am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages ein auf morgen, Freitag, den 21. Februar 2003, aus-
nahmsweise erst um 9.15 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.