Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen
vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU zu
den Antworten der Bundesregierung auf die dringlichen Fragen
in Drucksache 15/460
2. Erste Beratung des von den Abgeordneten Arnold Vaatz, Dirk
Fischer , Eduard Oswald, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Verkehrswegeplanungsbeschleuni-
gungsgesetzes
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei-
nes ... Strafrechtsänderungsgesetzes – Graffiti-Bekämpfungs-
gesetz – (Drucksache 15/404)
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP:
Für eine Internationale Sicherheitsinitiative für Nordostasien
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
4. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechts-
Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas Schmidt
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweit
erforderlich – abgewichen werden.
Außerdem wurde vereinbart, den Tagesordnungs-
punkt 10 – Heimkehrerentschädigungsgesetz – und den
Tagesordnungspunkt 11 – Schutz der Intimsphäre – be-
reits heute nach Tagesordnungspunkt 7 aufzurufen.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, haben wir
einenGeschäftsordnungsantrag zu behandeln. Die Frak-
tion der FDP hat fristgerecht beantragt, die heutige Ta-
gesordnung um die Beratung ihres Antrags auf Druck-
sache 15/458 mit dem Titel „Haushaltsentwurf 2003
überarbeitet vorlegen“ zu erweitern.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege Jürgen
Koppelin, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieFraktion der Freien Demokraten verlangt in ihrem Antrag,dass der Haushalt von Bundesfinanzminister Eichel zu-rückgezogen und überarbeitet wird.
Wir möchten diesen Antrag heute diskutieren. Die rot-grüne Koalition lehnt die Aufsetzung des Antrags auf dieTagesordnung und damit die Diskussion heute ab. Dasnennt man Arroganz der Macht.
Wir bedauern sehr, dass wir nun mit einer Geschäftsord-nungdebatte versuchen müssen, zu erreichen, dass dieserAntrag auf die Tagesordnung gesetzt wird.Heute soll der Haushaltsentwurf 2003 im Haushalts-ausschuss des Bundestages abschließend beraten werden.Jede Kollegin und jeder Kollege im Deutschen Bundestagkonnte in den letzten Wochen erkennen, dass der von Bun-desfinanzminister Eichel vorgelegte Haushaltsentwurf
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Jürgen Koppelin2003 nicht den Tatsachen entspricht, sondern geschöntund unrealistisch ist.
Bundesfinanzminister Eichel ist zur Haushaltswahr-heit verpflichtet; aber auch der Deutsche Bundestag – wiralle – ist zur Haushaltswahrheit verpflichtet. Es ist dahervöllig unverständlich, dass ein Bundeshaushalt 2003 ver-abschiedet werden soll, von dem jeder im Bundestagweiß, dass wichtige Daten und Zahlen nicht stimmen unddass er höchstens noch ein Dokument einer verfehlten Ar-beitsmarkt- und Konjunkturpolitik sowie besonders aucheiner verfehlten Steuerpolitik ist. Weder der im Haushalts-entwurf 2003 vorgesehene Ansatz für die Arbeitslosen-hilfe noch das Vorhaben, ohne Zuschuss für die Bundes-anstalt für Arbeit auszukommen, ist realistisch. Dieschwache Konjunktur hat keine Berücksichtigung imBundeshaushalt gefunden. Die im Bundeshaushalt 2003angenommenen Steuereinnahmen sind allein Wunsch-denken des Bundesfinanzministers.
Heute können Sie im „Handelsblatt“ lesen: Eichel bre-chen die Einnahmen weg, allein um 22 Prozent gegenüberdem Vorjahr. Das sind doch Zahlen, an denen man nichtvorbei kann.Um den Haushalt überhaupt ausgleichen zu können,greifen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, nun zu Me-thoden einer Bananenrepublik.
Da sollen plötzlich Milliarden aufgrund eines Steuer-amnestiegesetzes fließen. Ein Amnestiegesetz ist richtig;aber ob die Höhe der geschätzten Steuereinnahmen richtigist, wissen Sie überhaupt nicht. Ich nenne Ihnen einmal einpaar Zahlen aus dieser Woche, immer veröffentlicht vomFinanzministerium. Dienstagmorgen: geschätzte Einnah-men durch die Steueramnestie: 1 Milliarde Euro. BereitsDienstagabend: Schätzung durch den Finanzminister:2 Milliarden Euro. Mittwochmorgen vermelden die Me-dien: Bundesfinanzminister hofft auf 5 Milliarden EuroSteuereinnahmen. – Das ist peinlich; das ist unseriös; dashat mit vernünftiger Haushaltspolitik nichts zu tun.
Glauben Sie doch nicht, dass Sie Einnahmen in dieserHöhe bekommen! Wenn Sie hier in Deutschland keinevernünftige Steuerpolitik machen, wird niemand sein Ka-pital zurückholen. Deshalb werden Sie mit Einnahmen indieser Höhe nicht rechnen können.Aufgrund der schlechten, hausgemachten Konjunktur-entwicklung haben wir steigende Arbeitslosenzahlen:4,6 Millionen; andere rechnen bereits mit 5 Millionen.Der Bundesfinanzminister ignoriert diese Zahlen.Bundesfinanzminister Eichel träumt weiter den Traumvom Wirtschaftswachstum, ohne mit seinem Haushalts-entwurf der falschen Daten und Zahlen überhaupt Im-pulse dafür zu geben. Wenn dieser Haushalt, den der Bun-destag in Kürze beschließen soll, nicht umgehend vonBundesfinanzminister Eichel überarbeitet wird, werdenwir das gleiche Szenario wie im letzten Jahr erleben:Maastricht-Kriterien nicht erfüllt – wie im letzten Jahr –,ein Nachtragshaushalt ist nötig – wie im letzten Jahr –,noch mehr Schulden – wie im letzten Jahr.Auch im Jahr 2002 wurde von Rot-Grün ein Haushaltbeschlossen, der an der Realität vorbeiging. Die Zahlenwaren manipuliert. Da wurde getrickst und getäuscht unddie Öffentlichkeit belogen. Es war ja Bundestagswahl.Und das alles, obwohl die Fakten und die Tatsachen jedemMitarbeiter im Bundesfinanzministerium bekannt undklar waren. Die Aussagen des Staatssekretärs Overhausvom Bundesfinanzministerium vor dem Untersuchungs-ausschuss haben deutlich gemacht, dass Bundesfinanz-minister Eichel den Bezug zur Realität längst verloren hat.
Deswegen wagen nicht einmal die höchsten Mitarbeiterim Finanzministerium, diesem Bundesfinanzminister dieZahlen überhaupt noch vorzulegen: weil er sie nicht wahr-nehmen will.Das zeigt auch der Bundeshaushalt 2003. Bundes-finanzminister Eichel hat dem Deutschen Bundestag ei-nen Haushaltsentwurf zur Verfügung gestellt und zur Be-ratung vorgelegt, zu dem man nur sagen kann: Empfängerverweigert Annahme. Eine andere Reaktion ist da über-haupt nicht möglich.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundesfinanzminis-ter Eichel hat nicht mehr die Kraft, einzugestehen, dasssein Haushaltsentwurf 2003 bereits nicht einmal mehr dasPapier wert ist, auf dem er steht.
Das konnten wir auch gestern im Haushaltsausschuss er-leben. Diejenigen, die zurufen, waren nämlich dabei. Siewissen, dass es so ist. Daher muss der Deutsche Bundes-tag die Kraft haben, diesen Haushaltsentwurf an den Bun-desfinanzminister zurückzuüberweisen.Der Bundeshaushalt ist das Schicksalsbuch der Nation.
Bundesfinanzminister Eichel macht aus diesem Schick-salsbuch das Märchenbuch der Nation. Sie können heuteunseren Wunsch nach einer Debatte ablehnen. Dafür ha-ben Sie voraussichtlich die Mehrheit. Die Konsequenzwird nur sein, dass Bundesfinanzminister Eichel mit demHaushaltsentwurf 2003 seinen letzten Haushaltsentwurfdiesem Deutschen Bundestag vorgelegt hat. Er wird die-ses Jahr nicht mehr als Bundesfinanzminister überstehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man hat bei Ihnen denEindruck, der rot-grünen Koalition und dem Bundeskanz-ler wäre das sogar recht.
2128
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2129
Ich erteile das Wort Kollegen Walter Schöler, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, du, Jürgen Koppelin, merkst gar nicht und die
FDP-Fraktion merkt ebenfalls nicht, dass ihr euch mit die-
sem Antrag hier nur lächerlich macht.
Ebendeshalb gehört dieser Antrag heute nicht auf die Ta-
gesordnung. Wir sind nicht bereit, Haushaltsberatungen,
die im März stattfinden werden, auf heute vorzuziehen.
Wer wie die FDP einen solchen Antrag stellt und – das
füge ich hinzu – wer einen solchen Antrag heute unter-
stützt, der stellt nicht nur die schwierige und ernsthafte
Arbeit des Haushaltsausschusses und seiner Mitglieder
infrage, sondern auch sich selbst. Das geschieht mit die-
sem Antrag.
Sie lenken nicht nur von der eigenen Konzeptlosigkeit bei
den Beratungen der letzten Wochen ab, sondern wollen
auch noch aus bestimmten Gründen die Öffentlichkeit
täuschen.
Gerade heute ist diese Koppelin-Show völlig fehl am
Platz. Denn Fakt ist doch: Der Bundeshaushalt 2003 ist
wie jeder Haushalt zuvor nach dem bewährten Verfah-
rensablauf bearbeitet und beraten worden. Das heißt, er
ist nach den aktuellen Erkenntnissen der Regierung
Ende letzten Jahres erstellt worden. Er ist – im Übrigen
mit Zustimmung der FDP-Fraktion; von wegen „An-
nahme verweigert“ – im Dezember in erster Lesung hier
behandelt worden und danach dem Haushaltsausschuss
zur Beratung überwiesen worden. Damit ist er von der
Bundesregierung in die Hand des Parlaments überge-
gangen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den letzten zehn Wo-
chen hat der Haushaltsausschuss – das war sicherlich für
alle nicht unbedingt immer eitel Freude – diese Beratun-
gen in zahlreichen Berichterstattergesprächen und Aus-
schusssitzungen sehr konzentriert durchgeführt. Gerade
heute stehen wir vor der abschließenden Befassung mit
diesem Entwurf, der so genannten Bereinigungssitzung,
die wir jetzt wegen Ihres Antrages um eine halbe Stunde
verschoben haben.
Wie alle kundigen Thebaner und zumindest einige Kolle-
gen von der FDP genau wissen, werden bei der Bereini-
gungssitzung wie in jedem Jahr auch in diesem Jahr die
aktualisierten Einschätzungen – sie liegen allen vor und
sind noch gestern morgen in einer Berichterstatterrunde
diskutiert worden, im Übrigen im Beisein Ihres Kollegen
Rexrodt – in den Haushalt eingearbeitet, mit ihren Aus-
wirkungen auf die Steuern, mit ihren Auswirkungen auf
den Arbeitsmarkt. Genau diese Aktualisierungen, die Sie
mit Ihrem Antrag ja fordern, werden heute durch den
Haushaltsausschuss vollzogen. In diesen Ausschuss
gehören sie auch.
Halten Sie uns also nicht länger mit der Posse auf, die
Sie heute Morgen veranstalten! Lassen Sie uns lieber un-
sere Arbeit tun!
– Herr Gerhardt, das gehört in den Haushaltsausschuss.
Sie werden erleben, wie Ihre drei Kollegen gleich wieder
brav in diesem Ausschuss sitzen und mit entscheiden wer-
den.
Wir lehnen Ihren Antrag ab und sind nicht bereit, die-
sen Antrag auf die Tagesordnung der heutigen Sitzung zu
setzen.
Ich erteile das Wort Kollegen Dietrich Austermann,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer gesternNachmittag den Bundesfinanzminister im Haushaltsaus-schuss erlebt hat, der hat den Eindruck gewinnen können,der Mann hat kapituliert.
Er hat kapituliert vor der Situation, die sich heute für ihnim Untersuchungsausschuss ergibt. Das ist der Tag unddie Stunde der Wahrheit. Er hat kapituliert vor der Ver-pflichtung, einen Haushalt vorzulegen, der mit der Rea-lität in Einklang steht und nicht völlig von dem abgewandtist, was sich in Deutschland tut. Der Haushaltsentwurf,den Sie vorgelegt haben, ist eine Addition von Zahlenohne jede Perspektive und ohne jeden Bezug zur Realität.Ich will das an fünf kurzen Beispielen deutlich machen.Erstens. Sie unterstellen nach wie vor 1 ProzentWachstum; im Entwurf waren es noch 1,5 Prozent, imletzten Jahr waren es noch 2,5. Der Bundesfinanzministerhat gestern – ich finde, dass darauf die Aufmerksamkeitder Öffentlichkeit gelenkt werden sollte – im Haushalts-ausschuss gesagt: Wenn das Wachstum die Marke von1 Prozent nur geringfügig unterschreitet, werden wir dieMesslatte der Maastricht-Kriterien reißen. Da inzwischenjeder weiß, dass dieses Wachstum von 1 Prozent kaumnoch zu erreichen ist,
es sei denn, man macht eine völlig andere Wirtschafts-,Finanz-, Haushalts- und Sozialpolitik, kann auch jeder
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Dietrich Austermannerkennen, dass man sich von der Einhaltung der Maastricht-Kriterien verabschiedet hat.
Deswegen sage ich: Der Mann hat kapituliert, weil Re-zepte, um das Steuer herumzureißen, nicht erkennbarsind. Diese hätte er zumindest vorschlagen sollen.
Sie, Herr Kollege Schöler, haben gesagt, Sie hätten inden Beratungen – heute findet ja die Bereinigungssitzungstatt – das Ihrige getan, um die Entwicklung aufzufangen.Nun sage ich einmal, was in den vier Wochen der Haus-haltsberatungen bisher passiert ist: Sie haben die Ansätzebis zum heutigen Stand genau um 229 Millionen verän-dert.
Das sind noch nicht einmal 0,1 Prozent Veränderung be-zogen auf das Gesamtvolumen des Haushalts.
Bei den Steuereinnahmen unterstellen Sie trotz sich ver-mindernden Wachstums eine Zunahme. Das macht dochdeutlich, dass Sie überhaupt nicht erkennen, wie die Rea-lität in Deutschland tatsächlich aussieht.
Das Gleiche trifft auf meinen zweiten Punkt, dasThema Arbeitsmarkt, zu. Wir haben im letzten Jahr5,6 Milliarden Euro Zuschuss an die Bundesanstalt fürArbeit vorgesehen. Im Haushaltsgesetz haben Sie eineLiquiditätsreserve für die Bundesanstalt – das heißt, derBund darf der Bundesanstalt helfen – in einer Größenord-nung von 7Milliarden Euro eingeplant – wobei dieser An-satz deutlich gestiegen ist. Das heißt, Sie glauben selbernicht, dass die Bundesanstalt ohne einen Zuschuss aus-kommt. Im Haushaltsplan unterstellen Sie aber, dass dasso sein wird. 7 Milliarden Euro zusätzlich wären in etwaangebracht, weil man wegen Ihrer Politik leider davonausgehen muss, dass die Arbeitslosigkeit in diesem Jahrsteigt. Wenn Sie bei geringerer Arbeitslosigkeit im letztenJahr schon 5,6Milliarden Euro in die Hand nehmen muss-ten, dann müssen es in diesem Jahr noch mehr sein. Siesprechen aber von einem Nullzuschuss. Das hat mit derRealität nichts zu tun.
Wenn man dann noch sieht, dass die Zuständigen, HerrGerster und Herr Clement, wie die Kesselflicker streiten,
ist nicht davon auszugehen, dass irgendetwas von dem,was als Hartz-Konzept bezeichnet wird, geeignet ist, dieArbeitslosigkeit wesentlich zu verringern.Ich will Ihnen ein drittes Beispiel nennen: Arbeitslo-senhilfe.
– Herr Tauss, Sie als Gewerkschafter haben doch eine ge-wisse Erfahrung. Es muss Sie doch bedrücken, wenn Siefeststellen, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen immerweiter steigt. Wenn die Zahl der Langzeitarbeitslosen im-mer weiter steigt, muss man bei der Arbeitslosenhilfe voneinem höheren Betrag ausgehen. Sie dagegen senken ihnum 2,7 Milliarden. Auch deshalb muss man sagen, dasGanze hat mit der Realität nichts zu tun.Dann schauen wir uns das Thema Steuern an – meinvierter Punkt –: Sie gehen davon aus, dass Sie Steuer-mehreinnahmen haben werden, trotz sich verminderndenWachstums und höherer Arbeitslosigkeit. Sie begründendas, wie der Kollege Koppelin schon gesagt hat, mit die-sem neuen so genannten Steuerehrlichkeitsgesetz. In ei-nem halben Jahr wollen Sie 20 Milliarden Euro nachDeutschland zurückholen und daraus 5 Milliarden Eurofür die öffentliche Hand abschöpfen. Was sollte eigentlichdie Menschen dazu veranlassen, 25 Prozent Steuern aufeinen bestimmten Betrag für die gesamte Zeit, in der sieihr Geld im Ausland hatten, zu zahlen?Ich glaube, das spricht für sich selbst und zeigt, dassdas mit Realität nichts zu tun hat. Weil Sie selber nicht da-ran glauben, versehen Sie das Ganze mit Kontrollmittei-lungen und möglicherweise dem Versuch, das Bank-geheimnis aufzubrechen.
So kann man das nicht betreiben.Der Bundesfinanzminister hat einen Lieblingsspruch.Er sagt immer, der Haushalt sei auf Kante genäht. Wir sa-gen, der Haushalt ist auf Sand gebaut. Weil er auf Sand ge-baut ist, muss er weg. Das gilt in gleicher Weise für denBundesfinanzminister.
– Doch, ich habe es Ihnen genau vorgerechnet, HerrSchöler.Wer in schamloser Weise wie vor der Bundestagswahlmit dem ersten Entwurf für diesen Haushalt und nach derBundestagswahl mit dem zweiten Entwurf die Öffentlich-keit und den Souverän belogen und betrogen hat, der hatdieses Amt nicht länger verdient. Er muss die Konse-quenzen ziehen und kann seinen Haushaltsentwurf gleichmitnehmen.
Ich erteile das Wort Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Der haushaltspolitische Sprecher der großen Opposi-tionsfraktion, der hier gerade lautstarke Worte gefunden
2130
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2131
hat, der sich zwei Wochen vor Abschluss des Haus-halts 2002 um 8 Milliarden Euro vertan hat, als er sagte,dass dieser Haushalt noch einmal 8 Milliarden Euro drauf-satteln müsse – was erwiesenermaßen falsch war und nurSprücheklopferei in diesem Hause bedeutete –, der hatseine Seriosität doch schon vor zwei Monaten verspielt.
Zu dem Antrag der FDP – „Haushaltsentwurf 2003überarbeitet vorlegen“ –, über den wir hier beraten, kannich nur sagen, sehr geehrter Kollege Koppelin: Wir sitzenseit acht Wochen intensiv zusammen und beraten diesenHaushalt.
Jetzt diesen Antrag vorzulegen ist eine Sonderinszenie-rung Ihrer Partei.
Sie zwingen uns mit gespieltem Ernst eine Debatte auf. ImGrunde zeigt das nur, dass Sie zur Spaß- und GagfraktionIhrer Partei gehören.
Das passt aber eigentlich nicht zu der schwierigenLage, in der wir uns befinden. In diesem Punkt haben wirkeine Differenz. Wir haben eine schwierige wirtschaft-liche und finanzpolitische Lage.
Dazu passt nicht, dass man nach acht Wochen Beratungensagt, es sei alles so schwierig und man wolle noch einmalvon vorne anfangen. Das ist schlicht und ergreifendlächerlich.
Was sich eigentlich zeigt – ich will durchaus auf die Sa-che eingehen, denn das Thema ist es wert, in der Sache zustreiten –, ist, dass Sie vor diesen wirtschaftlichen und fi-nanzpolitischen Schwierigkeiten kapitulieren oder ange-sichts dessen zumindest unentschlossen sind.
Ich kann das auch belegen, und zwar anhand Ihrer vierPunkte; Sie haben sich ja Mühe gegeben, das aufzu-schreiben. Sie schreiben, der Haushalt sei unter der An-nahme eines Wirtschaftswachstums von 1,5 Prozent auf-gestellt worden. Richtig! Wir haben in diesem Hauseöffentlich diskutiert, dass wir mittlerweile ein Wirt-schaftswachstum von 1 Prozent erwarten. Daraus habenwir Konsequenzen gezogen. Sie waren doch dabei! Wirwerden nach der alten Kalkulation Steuermindereinnah-men von 1 Milliarde Euro haben. Dazu gibt es mittler-weile den Haushaltsabschluss 2002, in dem man erkennenkann, dass wir positive Basiseffekte aus den Steuerein-nahmen haben. Das wird sich fortsetzen. Darüber hinausbekommen wir eine Zinsabgeltungsteuer, über die Siegerade sogar einen positiven Nebensatz verloren haben.Das Thema wurde aufgegriffen, vielleicht nicht so, wieSie es wünschen; aber das Argument, dass das ThemaSteuereinnahme nicht aktualisiert sei, stimmt nicht.Zweitens: Steuervergünstigungsabbaugesetz. Es istschlicht falsch, was in Ihrem Antrag steht. In dem Antragder Bundesregierung ist genau das gleiche Volumen wieim Haushalt enthalten. Haben Sie Ihren Antrag zu früh ge-schrieben? Das Risiko besteht darin, dass im Bundesratviele unionsgeführte Länder vertreten sind. Deshalb ha-ben wir ein Problem. Man muss sich den Realitäten an-passen, meine Damen und Herren, und überlegen, ob mannicht in einem gewissen Maße die Einnahmebasis derLänder und Kommunen stabilisieren muss und dafürselber Verantwortung trägt.
Zum dritten und vierten Punkt. Das ist mein Hauptan-liegen; in diesem Zusammenhang möchte ich auf denKollegen Austermann eingehen. Kernpunkt der Haus-haltsberatungen und im Grunde auch der politischen De-batte der letzten Monate ist doch, dass wir Strukturrefor-men und Änderungen auf dem Arbeitsmarkt brauchen. Siescheinen zu kapitulieren, weil Sie davon sprechen, dassdie Arbeitslosenhilfezahlungen höher liegen werden unddass die Bundesanstalt für Arbeit einen Zuschuss braucht.Ich fordere Sie daher auf: Stellen Sie Anträge, die kon-sumptiven Ausgaben im Haushalt 2003 zu erhöhen! Wirwerden Ihnen dabei aber nicht folgen; denn wir sind be-reit, Strukturreformen auf den Weg zu bringen und Ein-sparungen vorzunehmen. Sie müssten einmal selber er-kennen, welche Hilflosigkeit Sie zeigen, indem Sie immernur Pessimismus ausstrahlen.
Ich komme abschließend zum Fazit. Eine solide Politik,auch Finanzpolitik, muss sich auch unter schwierigenwirtschaftlichen Bedingungen bewähren.
Sie muss Orientierung geben. Man darf aber nicht dieHände in den Schoß legen und sagen, es werde alles vielschlimmer. Ich fordere Sie auf, bei den Strukturmaßnah-men in einen Wettbewerb mit uns zu treten, aber nicht mitBitterkeit auf die Ergebnisse des Jahres 2002 zurückzu-blicken. Das hilft uns nicht weiter. Wir packen an. UnserePläne sind nach vorne gerichtet. Eine ausführliche De-batte darüber führen wir bei den abschließenden Haus-haltsberatungen im März.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für denAufsetzungsantrag der Fraktion der FDP? – Wer stimmtAnja Hajduk
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Präsident Wolfgang Thiersedagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Der Aufset-zungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDPbei Stimmenthaltung der beiden fraktionslosen Abgeord-neten abgelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf:a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNENEinsetzung einer Enquete-Kommission „Ethikund Recht der modernen Medizin“– Drucksache 15/464 –b) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD,der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIEGRÜNENNeue Initiative für ein internationales Verbotdes Klonens menschlicher Embryonen starten– Drucksache 15/463 –c) Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrikeFlach, Cornelia Pieper, Christoph Hartmann
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDPReproduktives Klonen weltweit verbieten – dasMachbare schnell umsetzen– Drucksache 15/314 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinenWiderspruch. Dann ist es so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derKollegin Gudrun Schaich-Walch.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben heute die Möglichkeit, in verbunde-ner Debatte sowohl über die Einsetzung der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ alsauch über den Antrag „Klonverbot“ zu beschließen. Derletztgenannte Antrag basiert auf der Diskussion und denErgebnissen der Enquete-Kommission „Recht und Ethikder modernen Medizin“ der letzten Legislaturperiode.Ich möchte dies als ein positives Omen für die Arbeitder kommenden Kommission bewerten.
Ich möchte mich aber auch bei den Kolleginnen und Kol-legen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen und derCDU/CSU sowie der eigenen Fraktion dafür bedanken,dass es uns gelungen ist, diese von drei Fraktionen getra-genen Anträge schnell und trotz des heiklen Themas in ei-nem, wie ich finde, sehr pfleglichen Umgang miteinanderzu erarbeiten. Dafür ganz herzlichen Dank.
In meinem folgenden Beitrag werde ich mich auf dieWiedereinsetzung der Enquete-Kommission konzentrie-ren. Alle diesen Antrag tragenden Fraktionen waren sichin der Diskussion sehr bald einig, dass die Arbeit der En-quete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Me-dizin“ fortgesetzt werden sollte. In diesem Wunschdrücken sich meiner Meinung nach zwei Dinge aus.Zum einen ist es gelungen, das verfassungsrechtlichgeschützte ganzheitliche Menschenbild und die Wahrungder Menschenwürde gemäß Art. 1 des Grundgesetzes inBezug zur heutigen biomedizinischen Entwicklung zusetzen. Es ist auch gelungen, zukunftsweisende Antwor-ten zu entwickeln. Die fachlich herausragenden Stellung-nahmen und Berichte der Kommission waren Basis derDiskussion im Bundestag. Sie ermöglichten die fundierteAuseinandersetzung im Spannungsfeld zwischen Ethikund Forschung und führten letztlich zu Normensetzun-gen, die mit breiter Mehrheit getroffen werden konnten.Zum anderen müssen wir aber auch feststellen: Es sindFragen offen geblieben und neue hinzugekommen.Die Enquete-Kommission der letzten Legislaturperi-ode hat sich zugunsten der Qualität ihrer Arbeit Beschei-denheit auferlegt. Sie hat sich für einige Fragestellungenentschieden, diese in die Tiefe gehend behandelt und be-rechtigt gehofft, in dieser Legislaturperiode weiterarbei-ten zu können.In Zeiten, in denen sich Forschung und moderne Tech-nologie in geradezu explosionsartiger Geschwindigkeitentwickeln, laufen wir Gefahr, von der Entwicklung über-rollt zu werden, wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, dieDinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu ergründen undzu bewerten.
Das Parlament hat gerade bei diesen Fragestellungen eineherausgehobene Führungsrolle. Es muss Anstoß zu einertief gehenden öffentlichen Diskussion geben. Dafürbraucht die Kommission fundierte Grundlagen.Die im Deutschen Bundestag zu diesen grundlegendenFragestellungen jenseits von Fraktionsgrenzen vertreteneMeinungsvielfalt spiegelt die Situation in unserer Gesell-schaft wider. Die einen stehen den sich aus der modernenForschung ergebenden Möglichkeiten fasziniert, die an-deren vorsichtig bis ablehnend gegenüber. Beide Positio-nen und alle dazwischenliegenden Facetten sind in derRegel wohl begründbar und damit respektabel. Deshalbwäre es falsch, hierauf mit einer Kommission zu reagie-ren, die diese verschiedenen Haltungen oberflächlich zu-sammenbringt, indem sie möglichst vage formulierte Ant-worten anbietet, die zwar alle Positionen einschließen,aber schlussendlich nichts mehr wirklich deutlich ma-chen. Deshalb ist es für unsere Arbeit wichtig, nicht nurden Willen zum Konsens, sondern auch zutage getreteneKonflikte deutlich zu machen.Unser Mandat verpflichtet jeden Einzelnen von uns,sich am Ende der Debatte seiner Verantwortung zu stel-len, dort, wo es einer rechtlichen Regulierung bedarf, umeine gemeinverträgliche Lösung zu ringen und schließlichEntscheidungen zu treffen – und dies auch dann, wenn
2132
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2133
diese von einer Tragweite sind, die an unseren Grund-überzeugungen und manchmal auch an unseren Möglich-keiten rühren.Den bisher geschilderten Aufgaben und der Kultur, mitder in der letzten Legislaturperiode gearbeitet wurde,sollte sich eine neu zu bildende Kommission verpflichtetfühlen. Als inhaltlicher Leitfaden werden die im Ab-schlussbericht der letzten Kommission dargestellten, offengebliebenen und neu hinzukommenden Fragen dienen.Die neue Kommission wird sich mit einer Reihe vonProblemen beschäftigen. Zwei Punkte möchte ich heraus-greifen: Wie können wir therapeutische Angebote fürMenschen entwickeln, die nicht in der Lage sind, ihre per-sönliche Einwilligung im Forschungsprozess zu geben?Wir werden Antworten auf die Fragen derer finden müs-sen, die sich wünschen, dass mehr transplantiert wird, dieaber meiner Meinung nach in diesem Wunsch weit überdas Ziel hinausschießen, wenn sie glauben, es gebe in die-ser Gesellschaft einen berechtigten Anspruch darauf, dasslebenden Menschen Organe abgekauft werden könnten.Wir werden uns damit auseinander setzen müssen, ob esauch andere Möglichkeiten der Organgewinnung gibt.Ich hoffe, wir werden für die Beantwortung auch dieserFragen zu einer guten Entscheidungsgrundlage kommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir uns heutedafür entscheiden, diese enormen Herausforderungennicht in unserem normalen Alltagsgeschäft abzuwickeln,sondern im Rahmen einer Enquete-Kommission, dann tunwir dies, weil wir die sich aus der biomedizinischen For-schung ergebenden Herausforderungen annehmen undderen Auswirkungen in ihrer ganzen Tragweite gerechtwerden wollen.Die einzusetzende Kommission ist deshalb gut beraten,nicht nur ihre Zielsetzungen und den abzuhandelndenFragenkatalog zu definieren, sondern auch hinsichtlichihrer Grenzen Klarheit zu schaffen.Jeder Parlamentarier ebenso wie jedes Mitglied derKommission hat persönliche Wertvorstellungen, Idealeoder Grundüberzeugungen einzubringen, die die Diskus-sion bereichern, aber nicht dominieren sollen. Denn auchwenn der Einzelne das Menschenwürdeprinzip aus seinerchristlichen Grundüberzeugung ableitet und verteidigt,muss uns die Einsicht einen, dass das Institut der Men-schenwürde ebenso aus anderen Grundüberzeugungenabgeleitet werden kann.
Diese Einsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, magsie uns heute noch manchmal banal erscheinen, solltenwir nie aus dem Blick verlieren, auch und insbesonderedann nicht, wenn die einen oder die anderen glauben, dieWahrheit auf ihrer Seite zu haben. Letztlich wird auchdiese Kommission nichts daran ändern, dass es oftmalsdie letzte Wahrheit nicht gibt und dass es oftmals auch, jenachdem, auf welcher Seite man steht, für den Einzelnenmehrere Wahrheiten geben kann. Sie wird aber neben Er-kenntnisgewinn einen wichtigen Beitrag zur Weiterent-wicklung unserer Streitkultur im Bundestag leisten können,wenn die in der Diskussion zutage getretenen Konflikte inwechselseitiger Achtung ausgetragen werden. Ich binüberzeugt, dass wir, wenn bei uns allen die Bereitschaft be-steht, abweichende Meinungen zu respektieren, uns mitden anderen Argumenten sachlich auseinander zu setzen,politisch überzeugende Lösungen finden werden, die denAnsprüchen der Menschen gerecht werden und die letzt-endlich auf einer breiten Basis beruhen und eine Binde-kraft in unserem Volk entwickeln können.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie bitten,dem vorliegenden Antrag zur Einsetzung einer Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“zuzustimmen, die Arbeit dieser Kommission ebenso be-herzt wie kritisch zu begleiten und sie für die von Ihnenkünftig zu fällenden Entscheidungen als ernst zu neh-mende Hilfestellung in Anspruch zu nehmen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile das Wort Kollegin Maria Böhmer, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist angebracht, einen Moment innezuhalten,denn wir legen heute zwei gemeinsame Anträge vor: ei-nen Antrag zur Wiedereinsetzung der Enquete-Kommis-sion „Ethik und Recht der modernen Medizin“ und einenAntrag für ein internationales generelles Klonverbot. DieTatsache, dass wir uns zu einem solchen gemeinsamenVorgehen zusammengefunden haben, veranlasst mich,herzlichen Dank zu sagen an alle Kolleginnen und Kolle-gen, die beteiligt waren und die es möglich gemacht ha-ben, dass wir mit diesen Anträgen heute im DeutschenBundestag ein so klares Signal setzen können.
Dieses Signal bedeutet, dass wir in diesem Hohen Hauseeine breite und nachdrückliche Übereinstimmung für denSchutz des menschlichen Lebens und für die unbedingteWahrung der Menschenwürde haben. Darum geht esund das gilt es heute wieder zum Klingen zu bringen.
Wir zeigen auch, dass wir den Weg, den wir in der ver-gangenen Legislaturperiode und auch davor eingeschla-gen haben, weiter gehen wollen. Der Deutsche Bundestagwar, ist und bleibt der Ort der Beratung, der Diskussionund der Entscheidung in diesen wesentlichen Fragen desmenschlichen Lebens. Das kann nicht durch Kommissio-nen oder Gremien außerhalb ersetzt werden. Hier müssendie Entscheidungen gefällt werden und dessen sind wiruns als Abgeordnete sehr wohl bewusst.
Gudrun Schaich-Walch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Dr. Maria BöhmerWir sind uns auch bewusst: Der Mensch muss seineGrenzen sehen und er muss sie achten. Wir sind Ge-schöpfe und nicht Schöpfer. Wir stehen in der Verantwor-tung, die Schöpfung zu bewahren. Davon ausgehend ha-ben wir vor 13 Jahren mit dem Embryonenschutzgesetzeine klare Grenzziehung vorgenommen, die wir mit demStammzellgesetz bekräftigt haben.Wir sind von einer Grundposition ausgegangen, unddiese Grundposition ist auch heute für die Frage „Wieverhalten wir uns beim internationalen umfassendenKlonverbot?“ von entscheidender Bedeutung. Menschli-ches Leben ist von Anfang an, das heißt schon ab demfrühen Stadium der Totipotenz, zu schützen. Menschli-ches Leben steht nicht in der Verfügung anderer. Mensch-lichem Leben kommt in jeder Phase, vom Beginn bis zumEnde, die volle Menschenwürde zu. Das ist Ausdruck vonArt. 1 und Art. 2 des Grundgesetzes. Das ist die Richt-schnur für unsere Entscheidung und für unser Handeln indiesem Land.
Nicht nur national, sondern global werden wir mitSchlüsselfragen der Menschheit konfrontiert wie nie zu-vor. Eine dieser Schlüsselfragen lautet, wie wir als Men-schen in Zukunft existieren wollen. Diese Frage betrifftjeden Einzelnen, also das Individuum, sie betrifft aberauch unsere gesamte Gattung. Sie ist nicht nur für unsereGesellschaft wichtig, sondern für die globale Gesellschaftder Menschen. Es geht um die Klärung, wie wir mit demimmer weiter anwachsenden biomedizinischen Wissenumgehen sollen. Es geht darum, zu klären, in welchen Be-reichen wir bereit sind, dieses Wissen auf unsere eigeneGattung anzuwenden, und wo wir sagen, hier sind Gren-zen zu beachten und zu respektieren. Diese Grenzen wol-len wir nicht nur national, sondern auch international ge-würdigt sehen.
Bei der Diskussion um ein internationales umfassen-des Klonverbot – ich will mich darauf konzentrieren,weil die Kollegin Schaich-Walch schon sehr ausführlichzur Enquete-Kommission gesprochen hat – wird dieganze Wucht und Brisanz dieser Frage deutlich. DieEmpörung war einmütig, als in der Weihnachtszeit dieRaelianersekte behauptete, es sei das erste Klonbaby ge-boren. Unabhängig davon, ob diese Behauptung wirklichwahr ist – das bezweifle ich wie viele andere –, gilt estrotzdem, ein deutliches Signal zu setzen. Wir müssenfesthalten: Das Klonen von Menschen ist in jeder Hinsichtverantwortungslos und verwerflich.
Die Meinungen zu dem so genannten therapeutischenKlonen sind dagegen gespalten. Das erleben wir heuteauch im Deutschen Bundestag. Es liegt ein Antrag derFDP vor, der im Grunde genommen das Bemühen wider-spiegelt, die Tür offen zu halten. Aber was Not tut, ist,Klarheit in der Sache und in der Entscheidung zu schaf-fen. Darum muss es gehen. Wir zielen mit unserem ge-meinsamen Antrag auf ein weltweites generelles Klon-verbot. Wir folgen damit der Position, die wir im letztenJuni im Deutschen Bundestag beschlossen haben und vonder wir wissen, dass sie zur Richtschnur für die Bundes-regierung in den Verhandlungen bei den Vereinten Natio-nen werden muss.Viele werden natürlich fragen, warum wir ein umfas-sendes Klonverbot erreichen wollen. Reicht es denn nicht,nur das reproduktive Klonen zu ächten? Muss es dennauch das so genannte therapeutische Klonen sein? Liegendarin denn nicht Heilungschancen für Menschen? Könntedas denn nicht vielen Menschen helfen, die heute nichtwissen, ob die Medizin jemals einen Weg findet, um sievon einer schweren Krankheit zu heilen?Hier ist es wichtig, zu verdeutlichen, was das so ge-nannte therapeutische Klonen überhaupt ist und was dieForscher hierzu sagen. Das haben wir in unserem Antragsehr deutlich gefasst. Wir haben niedergelegt – das ent-spricht der Wissenschaft –, dass der Weg bis hin zum Ent-stehen des Embryos beim reproduktiven und beim so ge-nannten therapeutischen Klonen identisch ist: Es wirdeine Eizelle entnommen; sie wird entkernt; in sie wird derKern zum Beispiel einer Hautzelle eingesetzt; dann findetTeilung statt; das Ergebnis ist ein Embryo. Ein Embryoist aber doch ein Mensch und nichts anderes. Er ist keinZellhaufen und auch nicht – wie die FDP schreibt – einunvollständiger Mensch. Ich frage mich, was denn ein un-vollständiger Mensch ist. Ab wann ist denn ein Menschvollständig? Ist er das ab dem dritten Tag, ab dem 14. Tagoder erst ab Geburt? Ich glaube, eine solche Festsetzungwäre Willkür. Deshalb müssen wir ganz klar und deutlichsagen: Dort, wo ein menschlicher Embryo ist, ist mensch-liches Leben. Das haben wir als Gesetzgeber im Stamm-zellgesetz auch so definiert. Ich rate allen, dort § 3 Abs. 4nachzulesen. Dort haben wir festgeschrieben – die FDPhat übrigens zugestimmt –:Im Sinne dieses Gesetzes ... ist Embryo bereits jedemenschliche totipotente Zelle, die sich bei Vorliegender dafür erforderlichen weiteren Voraussetzungenzu teilen und zu einem Individuum zu entwickelnvermag.Das ist die Grundlage, von der wir ausgehen.
Ich finde es höchst bedenklich, wenn uns mit dem Be-griff therapeutisches Klonen etwas suggeriert wird, vondem uns die Wissenschaftler sagen, dass es nicht einlösbarist. Therapeutisches Klonen, das suggeriert in der Tat, Hei-lung könnte morgen greifbar sein. Professor Winnackerhat aber in seiner Neujahrsansprache bei der DeutschenForschungsgemeinschaft klar erklärt: TherapeutischesKlonen ist ein Irrweg. Er begründet das in dreierlei Hin-sicht. Ich will hier nur einen Aspekt nennen. Er sagt: Ausden Stammzellen, die dem Embryo entnommen werden,können sich genauso gut auch Tumorzellen entwickeln.Was bedeutet das? Wir haben es bei der Gentherapiein der Klinik Necker in Paris gerade erlebt. Dort bestanddie Hoffnung, dass Kindern, die eine große Immun-
2134
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2135
schwäche haben, durch die Gentherapie geholfen werdenkönnte. Das Ergebnis ist erschreckend: Viele dieser Kin-der sind heute leukämiekrank. Ich halte es für nicht ver-antwortbar, zu Möglichkeiten zu greifen, die nicht über-schaubar sind und die den Menschen statt Heilung neuesLeid bringen.
Wenn man mit Wissenschaftlern, die wahrlich nichtaus der zweiten oder dritten Reihe kommen, spricht, stelltsich ein Zweites heraus. Die Nobelpreisträgerin Nüsslein-Vollhard sagt – ich möchte es mit meinen Worten wieder-geben –, dass es von den Methoden und vom Verfahrenher fast utopisch ist, zu einem therapeutischen Klonen zukommen, weil schon das Entwickeln einer Blastozyste na-hezu unmöglich ist. Daraus Stammzellen zu gewinnen istmit erheblichen Schwierigkeiten behaftet. Sie spricht da-von, dass wahrscheinlich selbst die verbissensten For-scher von dieser Methode Abstand nehmen und zu viel-versprechenderen Methoden überwechseln werden.
– Herr Gerhardt, als Antwort auf Ihren Zwischenruf sageich: Wir dürfen keinen Weg beschreiten, der Utopien undfalsche Heilungserwartungen bedient.
Wir müssen Wege beschreiten, die ethisch verantwortbarsind und zum medizinisch Machbaren führen, damit Men-schen wirklich Hilfe zuteil wird und damit wir die Kräftedort konzentrieren können, wo es einen Sinn macht, wowir also nicht in die falsche Richtung laufen. Deshalb istunsere Position an dieser Stelle so klar.
Ich will noch einen weiteren Aspekt zur Sprache brin-gen. Ich frage Sie: Was würde es bedeuten, wenn das sogenannte therapeutische Klonen entgegen allen Erwar-tungen tatsächlich gelingen könnte, wir also Therapien er-halten könnten? Der Nobelpreisträger Jaenisch hat unsauf einen Punkt aufmerksam gemacht:Wir bräuchten eineVielzahl von Eizellen. Um für 17 Millionen Diabetespati-enten allein in den USA Therapien bereitstellen zu kön-nen, bräuchte man hochgerechnet 850Millionen Eizellen.Jetzt frage ich Sie: Wo wollen Sie 850 Millionen Eizellenherbekommen? Jaenisch sprach hier von einer sich ab-zeichnenden neuen Form der Prostitution von Frauen.Das würde besonders Frauen in der Dritten Welt betref-fen, die in einer neuenArt undWeise ausgebeutet werdenwürden.Ich muss Sie fragen: Ist es von uns wirklich verant-wortbar, einen solchen Weg auch nur zu erwägen? Wirmüssen sowohl das, was ethisch geboten ist, als auch das,was von der Forschung her überlegenswert ist, sowie dieTatsache, dass Frauen nicht als neue Rohstofflieferantin-nen missbraucht werden dürfen, berücksichtigen. Das istein zweiter Grund dafür, zu sagen: Diesen Weg wollen wirnicht beschreiten. Deshalb sind wir für ein internationalesKlonverbot.
Ich bin sehr froh, dass wir diese Einigung im Deut-schen Bundestag erzielen, auch wenn immer wieder an-gezweifelt wurde, dass der Weg richtig ist. Wir leiten hiereine Strategieveränderung ein, sodass bei der UN nichtauf zwei Stufen verhandelt wird. Wir wollen stattdessen,dass auf einer Stufe verhandelt und beides zugleich er-reicht wird. Weil es ansonsten schwer erreichbar wäre, ha-ben wir uns sehr intensiv darüber verständigt. Ich habe dieSignale der Bundesregierung aufgenommen, dass sie be-reit ist, diesen Weg mitzugehen.Angesichts der neuen Entwicklungen im amerikani-schen Senat und angesichts der Entwicklungen bei derfranzösischen Regierung – ganz in unserem Sinne ist mandort im Bereich der Gesetzgebung für Bioethik und Gen-technologie vorangeschritten – schätze ich es so ein, dasses eine gute Chance gibt, diesen Weg gemeinsam mitFrankreich weiterzuentwickeln und auf UN-Ebene zu ei-ner internationalen Konvention zu kommen, die esmöglich macht, beides zugleich zu ächten. Das muss alleKraftanstrengung wert sein. Ich hoffe, dass die Bundesre-gierung diese Kraft aufbringen und einsetzen wird.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen – dies bedeutet dieEinbettung in die neue Enquete-Kommission –: Wir wer-den nicht nur mit einer Schlüsselfrage konfrontiert sein,sondern wir haben eine Vielzahl von Fragen zu beantwor-ten; denn die Entwicklung führt uns in immer neue Grenz-bereiche. Ich will an einen Satz aus Faust II erinnern.Mephisto ist im Laboratorium und fragt Wagner: Was gibtes denn? – Wagner antwortet ihm: Es wird ein Mensch ge-macht. Ein großer Vorsatz scheint im Anfang toll.Wir werden in der Tat mehr können, als wir dürfen.Aber es kommt jedes Mal unvermeidbar die Frage auf unszu, die Dieter Grimm aufgeworfen hat: Man muss immerfragen, ob man das, was möglich ist, auch wollen soll. Wirkönnen diese Frage nur auf der Grundlage unser Verfas-sung und unseres Menschenbildes beantworten: DieWürde des Menschen ist unantastbar.Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nachdem sich der Deutsche Bundestag in der letzten Le-gislaturperiode ausgiebig mit der Frage der Stammzellen-forschung befasst hat, stehen in dieser Legislaturperiodenicht minder schwierige biopolitische Fragen an. IchDr. Maria Böhmer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Dr. Reinhard Loskenenne nur einige: die Frage der Biopatentierung, Fragender Fortpflanzungsmedizin, wie der Präimplantationsdia-gnostik, die internationale Regulierung des Klonens undandere Fragen der roten und der grünen Gentechnik.Man kann wohl sagen: Es ist der gemeinsame Wille desHauses, die anstehenden Debatten auf der Grundlagemöglichst umfassender Informationen und im Geistewechselseitigen Respekts zu führen. Diese gute Tradition,die wir in der letzten Legislaturperiode begonnen haben,sollten wir fortsetzen. Wir sollten das auf der Basis der Ar-beit der Enquete-Kommission tun, deren Einrichtung wirheute beschließen. Sie hat in der letzten Legislaturperiodesehr gute Arbeit geleistet. Ich bin davon überzeugt, dasssie das auch in dieser Legislaturperiode tun wird.Heute befassen wir uns mit der Frage einer interna-tionalen Regelung des Klonens, des reproduktiven Klo-nens und des so genannten therapeutischen oder auchForschungsklonens. Beide Techniken sind in Deutsch-land durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Dasreproduktive Klonen – sollte es beim Menschen jemalsgelingen – zielt darauf ab, die Kopie eines existierendenMenschen zu erzeugen, also ein genetisches Duplikat.Eine weibliche Eizelle wird entkernt – das wurde geradevon Frau Böhmer beschrieben –, die Erbinformationeneines existierenden Menschen werden injiziert und derso entstandene Embryo wird in den Mutterleib einge-pflanzt.Ein solches Verfahren – ich glaube, das kann ich imNamen des ganzen Hauses sagen – ist moralisch voll-kommen unverantwortbar. Es verletzt elementar die Men-schenwürde und macht den Menschen vom Subjekt zumObjekt, vom gezeugten zum produzierten Wesen. Demgeklonten Menschen würde eine sehr schwere Bürde hin-sichtlich seiner Identität und seiner Individualität auf-geladen. Der Schweizer Ethikrat hat dazu festgestellt: Werals Kopie erzeugt wird, dürfte es sehr schwer haben, zumOriginal zu werden. Die französische Regierung will dasreproduktive Klonen als Verbrechen nicht nur gegen dieMenschlichkeit, sondern auch gegen die Menschheit ahn-den und dafür drakonische Strafen verhängen. Dieser Wegweist in die richtige Richtung. Wir sollten uns überlegen,ob wir ihm folgen.Das Forschungsklonen, das so genannte therapeuti-sche Klonen, so es denn jemals gelingen sollte – dieseEinschränkung muss man immer wieder machen; FrauBöhmer hat die Ursachen dafür beschrieben –, ist von derTechnik her mit dem reproduktiven Klonen identisch. Dasdürfen wir nicht vergessen. Auch hier wird das gleicheVerfahren angewandt: Eine Eizelle wird entkernt, in siewird die DNAeines existierenden Menschen injiziert. DerUnterschied besteht technisch gesehen darin, dass der sogeklonte Embryo nach einem bestimmten Stadium derZellteilung mit dem Ziel „verbraucht“ wird, embryonaleStammzellen für die Forschung zu gewinnen. Für dieseMethode wird von den Befürwortern mit dem Argumentgeworben, dass damit in Zukunft vielleicht einmal Ge-webe und Organe gezüchtet werden, die dann vom Emp-fänger nicht abgestoßen würden.Es ist sicherlich nachvollziehbar, dass die moralischeBeurteilung des Forschungsklonens den meisten Men-schen wesentlich schwerer fällt als die des reproduktivenKlonens, weil für diese Technologie auch mit den Argu-menten des Heilsversprechens und der Forschungsfreiheitgeworben wird. Ich meine aber, dass die Einwände – ichwerde sie kurz vortragen – im Abwägungsprozess letzt-lich wesentlich schwerer wiegen.Das erste Argument ist am schwerwiegendsten:Menschliches Leben oder Vorformen desselben werdenfür bestimmte Zwecke verfügbar gemacht. Es wird pro-duziert und dann als medizinischer Rohstoff benutzt.Hans-Jochen Vogel hat es folgendermaßen formuliert:Der Embryo erhält Warencharakter.Sicherlich wird nicht jeder schon dem Mehrzeller inder Petrischale die Menschenwürde zusprechen wollen.Wer das aber nicht will, muss glaubhaft begründen, anwelcher Stelle das menschliche Leben stattdessen be-ginnt: mit der Einnistung im Mutterleib, dem Abschlussder Organentwicklung oder erst mit der Geburt. JürgenHabermas hat vor etwa einem Jahr dafür plädiert – demGrundgesetz folgend –, den Embryo in Antizipation wieeine Person zu behandeln, die sich verhalten könnte. Erwarnte vor einer Denkweise, die alles außerhalb des eige-nen Subjekts nur noch als Ding betrachtet. Dieser Sicht-weise können sich sicherlich viele Menschen anschließen.Ich jedenfalls kann das.Als zweites wesentliches Argument aus einer gesell-schaftspolitischen Perspektive sind vor allem die Ökono-misierungstendenzen in der Biomedizin anzuführen.Wer wirklich ernsthaft in das so genannte therapeutischeKlonen einsteigen will, der benötigt dafür Hunderttau-sende – eben war sogar von Millionen die Rede – Eizel-len. Das würde die Frau praktisch auf die Rolle einerRohstofflieferantin reduzieren. Ich meine, dass dieseVorstellung nicht akzeptabel ist. Es gehört nicht viel Fan-tasie dazu, sich vorzustellen, dass der schwunghafte Han-del mit der Ware Eizelle vor allem in den Entwicklungs-ländern stattfinden würde. Das wäre eine sehr fragwürdigePraxis, die wir auf keinen Fall unterstützen sollten.
Es muss immer wieder gefragt werden, ob es nicht bes-sere Heilverfahren gibt, die ethisch und gesellschafts-politisch weniger fragwürdig sind, etwa die Forschung anadulten Stammzellen. Vonseiten der Politik sollten wir al-les tun, damit diese Forschung angemessen unterstütztwird.Was die Wissenschaftsfreiheit betrifft, so ist die For-schungsfreiheit – das sage ich als jemand, der selberlange in der Forschung tätig gewesen ist – zwar ein wich-tiges Argument, das durchaus ernst zu nehmen ist. Es gehtaber nicht an, den gesamten Bereich der Biomedizin imWesentlichen der wissenschaftlichen Selbstkontrolle zuüberlassen, wie es beispielsweise der Genforscher DetlefGanten vorschlägt. Ich meine vielmehr, dass die Gesell-schaft insgesamt und die Politik im Besonderen Verant-wortung trägt, und zwar sowohl für das Schaffen vonHandlungsräumen als auch für das Ziehen von Grenzli-nien. Aus dieser Verantwortung kann uns niemand entlas-
2136
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2137
sen. Wir müssen und wir wollen diese Verantwortungwahrnehmen.
Das gilt nicht nur auf nationaler, sondern auch auf in-ternationaler Ebene. Ich meine sogar, es gilt besonders aufinternationaler Ebene. Denn ebenso wie die Nichtverbrei-tung von Atomwaffen, die Menschenrechte oder der Kli-maschutz bedarf auch die Ziehung von bioethischenGrenzen der internationalen Regelung. Deshalb halteich es für ein großes Verdienst der deutschen wie auch derfranzösischen Regierung, dass sie das Verbot des Klonensauf die internationale Tagesordnung gesetzt haben; denndas Thema wurde dort vorher nicht berücksichtigt. Dafürmöchte ich der Bundesregierung meinen Dank ausspre-chen.
Richtig ist aber auch, dass im November 2002 dieBemühungen auf internationaler Ebene zumindest vor-läufig gescheitert sind. Es gab eine Konstellation, in derauf der einen Seite unter Führung der USA die Staatenstanden, die sofort beide Formen des Klonens verbietenwollten; auf der anderen Seite stand mit Großbritannien,Israel, China und Singapur eine Gruppe von Staaten, diedas therapeutische Klonen zulassen wollten. Die deutsch-französische Initiative vertrat eine Position in der Mitteund hat zunächst für ein zweistufiges Verfahren plädiert,nämlich erst das reproduktive Klonen zu ächten und danndas therapeutische Klonen zu regeln. Dieser Weg führtewie auch alle anderen Wege nicht zum Ziel. Jetzt stehenwir vor einer neuen Situation und müssen in den vor unsliegenden acht oder neun Monaten bis zur nächsten UN-Vollversammlung das Fenster der Möglichkeiten nutzen.Kern des Antrages ist, dass der Deutsche Bundestag dieBundesregierung und die französische Regierung darinunterstützt, international für eine möglichst weit gehendeÄchtung des Klonens zu werben.
Ganz kurz zur Situation in anderen Ländern: In Frank-reich hat der Senat beschlossen, dass beide Formen desKlonens verboten werden sollen. Damit wäre die Rechts-lage in Deutschland und Frankreich gleich, sodass wirinternational sehr glaubwürdig agieren könnten. In denVereinigten Staaten gibt es bislang eine Glaubwürdig-keitslücke; das muss man ganz klar sagen. Die US-Regie-rung tritt international für eine sehr weit gehende Rege-lung, nämlich ein vollständiges Verbot beider Formen desKlonens, ein, regelt aber auf nationaler Ebene praktischgar nichts. Bischof Fürst aus Rottenburg hat vor wenigenTagen, als er von einer USA-Reise zurückkam, gesagt,Präsident Bush sei zwar gegen das Klonen, um seine reli-giös-konservativen Anhänger zu beruhigen, lasse aber un-ter dem Deckmantel dieser Rhetorik die Fruchtbarkeits-industrie gewähren. Daher erwarten wir, dass dieUS-Regierung ihre Glaubwürdigkeitslücke schließt; dennnur so können wir international zu einer überzeugendenRegelung kommen.
Wir unterstützen die Bundesregierung bei einem ein-stufigen Verfahren, um auf UN-Ebene zu einer möglichstumfassenden Regelung zum Verbot des Klonens zu kom-men. Das Hohe Haus gibt der Bundesregierung für dieseVerhandlungen breite Unterstützung.Danke schön.
Das Wort hat nun Kollegin Ulrike Flach, FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werdemich jetzt nicht zur Enquete-Kommission äußern – daswird gleich mein Kollege Parr tun –, sondern mich auf dasThema konzentrieren, das die Menschen in unseremLande umtreibt: das Klonen von Menschen. An den An-fang stelle ich, dass niemand in diesem Hause, am aller-wenigsten die FDP, gegen ein Verbot des reproduktivenKlonens ist.
Das Klonen von Menschen, wie es dubiose Wissenschaft-ler und Sekten vorhaben oder bereits durchgeführt haben,muss weltweit geächtet und verboten werden. Diese For-derung, meine Damen und Herren, hat in diesem Hausedie FDP als erste Fraktion erhoben.
Aus diesem Grunde können Sie sicherlich nachemp-finden, dass ich die Auffassung vertrete, dass ein Verbotdes Klonens schnell erreicht werden muss. Deutschlandund Frankreich hatten im Oktober vergangenen Jahres ei-nen, wie wir meinen, sehr guten Antrag bei den VereintenNationen eingebracht. Seine Grundaussage lautete, dasreproduktive Klonen sofort zu verbieten und andere For-men des Klonens, das therapeutische Klonen, später unddifferenzierter anzugehen. Dieser Antrag – das haben wireben gehört – fand ebenso wie der Antrag der USA, Spa-niens und Italiens, alle Formen des Klonens zu verbieten,keine Mehrheit.Jetzt haben sich einige Kollegen von SPD, Grünen undCDU/CSU – aber eben nicht die Fraktionen; das ist einefalsche Darstellung –
eines anderen besonnen und einen Antrag eingebracht, derdie deutsch-französische Regierungsposition aufgibt unddie amerikanische Position übernimmt.Da es für uns das entscheidende Kriterium ist, wie wirmöglichst schnell zu einem weltweiten Verbot des KlonensDr. Reinhard Loske
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Ulrike Flachvon Menschen kommen, muss man sich die Erfolgs-chancen dieser Anträge ansehen. Ministerin Bulmahn– ich mache mir jetzt natürlich Gedanken darüber, warumsie heute ebenso wie Kollege Fischer, der bei dieser An-gelegenheit federführend ist, nicht anwesend ist –
hat noch im Januar erklärt, es gehe darum, „das zurzeitMögliche zu erreichen“; eine „rechtliche und ethische Be-wertung ist noch nicht abgeschlossen“. Ich erinnere auchan die erstaunliche Einschätzung des StaatssekretärsChrobog vom Auswärtigen Amt in der letzten Woche imAusschuss für Bildung und Forschung, dass Ihr Antrag in-ternational keine Chance auf Durchsetzbarkeit habe.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
DieMaximalisten seien die USA, Spanien, der Vatikan und,sofern Ihr Antrag beschlossen wird, auch Deutschland.Dann gebe es die Minimalisten, die nach Möglichkeit keinVerbot wollen. Schließlich gebe es die Realisten; dasseien bis zum heutigen Tage Deutschland und Frankreichmit der damaligen Initiative, die Sie jetzt verlassen unddie wir, die FDP, in unserem Antrag unterstützen.Ähnlich hat sich übrigens auch der Vorsitzende desNationalen Ethikrates, Simitis, geäußert. Auch er hältoffensichtlich nichts davon, den Kernpunkt der Debatte,das Klonen von Menschen, durch weitere Forderungen zuüberfrachten.
Es macht keinen Sinn, das therapeutische Klonen in denForderungskatalog einzubeziehen.
Das therapeutische Klonen soll helfen, Zellgewebezum Beispiel für Herz-, Leber- oder Muskelzellen zu ge-winnen. Das Verfahren beginnt zwar ähnlich wie das desreproduktiven Klonens,
aber es dient ausdrücklich nicht dazu, einen Menschen zureproduzieren, und das ist es doch, wovor die MenschenAngst haben. Simitis fordert deshalb eine differenzierteBewertung und damit hat er vollkommen Recht.In Deutschland gibt es zurzeit keinen einzigen seriösenWissenschaftler, der auf die Idee käme, ein Forschungs-vorhaben zum reproduktiven Klonen zu beantragen.
Ich bin sehr froh, dass es hierüber in der Wissenschafts-community einen breiten Konsens gibt.Beim therapeutischen Klonen allerdings sehen vieleWissenschaftler zwar kurzfristig keinen Durchbruch hin-sichtlich der Entwicklung neuer Therapien – hier bin ichmit ihnen absolut einer Meinung –, aber sie wollen dieseOption langfristig nicht ausschließen. Denn es geht dochdarum, kranken Menschen zu helfen.
Wenn die Forschung an embryonalen Stammzellen ei-nes Tages zum Erfolg und damit zu Therapiemöglich-keiten führen sollte – wir alle wissen nicht, was dann seinwird –, dann wollen die meisten Länder dieser Welt freiüber deren Einsatz entscheiden können. Genau das willauch die FDP.
Das verbieten Sie in Ihrem Antrag. Sie müssen sich des-halb zu Recht fragen lassen, warum Sie glauben, mithöheren Forderungen schneller ans Ziel zu kommen. Dasist ungefähr so, als packten Sie einem Läufer noch vieleSteine in seinen Rucksack, damit er schneller ans Zielkommt.Offenbar sehen das auch viele Kolleginnen und Kolle-gen in der SPD-Fraktion und, wie ich höre, auch in derFraktion der Grünen so, denn uns liegen eine Reihe vonErklärungen vor, die besagen, sie könnten nicht für den ge-meinsamen Antrag von Rot-Grün und Union stimmen. Ichwürde mich freuen, liebe Kollegen, wenn Sie die Traditionin der Debatte über das Stammzellgesetz beibehalten undin diesem Falle unseren Antrag unterstützen würden.
Lassen Sie mich noch ein Argument vertiefen: Michhat etwas erstaunt, wie kritiklos einige der Antragstelleraus der SPD und von den Grünen die Position der USAhinsichtlich des internationalen Klonverbots überneh-men. Fakt ist, dass die USA auf nationaler Ebene keineRegelungen betreffend das Verbot des Klonens haben,sich aber international zum Vorreiter von Maximalforde-rungen machen. Diese Position ist aus meiner Sicht allesandere als moralisch überzeugend.
Zumindest ist es seltsam, dass die Kolleginnen und Kol-legen von Rot-Grün, die den USA sonst immer sehr skep-tisch gegenübertreten,
nun gerade beim Verbot des Klonens diese Position of-fensichtlich vorbehaltlos übernehmen.
– Wir auch, liebe Kollegen.Wir fordern die Bundesregierung auf: Bleiben Sie beider Position, die einen schnelleren Abschluss einer welt-weiten Konvention gegen das Klonen von Menschen er-möglicht.
Belasten Sie diese Verhandlungen nicht übermäßig. Hal-ten Sie Kurs. Ich will es ganz direkt sagen: Es geht hierum die Hilfe für Menschen, die an sehr schwer zu thera-pierenden Krankheiten leiden. Es geht nicht darum, diedeutsche Debattenkultur noch weiter zu erhöhen.
2138
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2139
Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatsse-
kretär Christoph Matschie.
C
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir
setzen heute in diesem Haus eine Debatte fort, die sich mit
den ethischen und rechtlichen Grenzziehungen im Zu-
sammenhang mit den Möglichkeiten moderner Medizin
und Forschung beschäftigt. Es ist gut, dass sich dieses
Haus mit diesen Fragen immer wieder in einer breiten und
intensiven Debatte auseinander setzt, denn die Erfahrun-
gen der vergangenen Jahre haben gezeigt: Dieses Parla-
ment muss die Entscheidungen im Hinblick auf diese Fra-
gen fällen, niemand sonst.
Wir haben in den Debatten der vergangenen Jahre – ich
erinnere nur an die Auseinandersetzungen um die For-
schung mit embryonalen Stammzellen – erlebt, dass
dieses Parlament über diese Fragen in großer Verantwor-
tung und großem gegenseitigen Respekt für die unter-
schiedlichen Positionen diskutiert hat und zu überzeu-
genden Antworten gekommen ist. Wir alle haben in diesen
Diskussionen erlebt, dass die Fortschritte der modernen
Forschung und der modernen Medizin immer auf der ei-
nen Seite zu neuen Hoffnungen auf Heilungschancen ge-
führt, auf der anderen Seite aber natürlich auch die Sorge,
dass der Mensch zur Verfügungsmasse werden könnte,
geweckt haben. In dieser Diskussion müssen wir uns mit
beidem, mit den Hoffnungen und Chancen auf Heilung
und mit der Sorge, dass Menschen zur Verfügungsmasse
gemacht werden könnten, auseinander setzen.
Ich bin überzeugt, dass die allermeisten Forscher und
Mediziner ihrer Arbeit in sehr großer Verantwortung nach-
gehen. Aber klar ist auch, dass die Meldungen der letzten
Wochen über Versuche, Menschen zu klonen, alle alar-
mieren müssen. Nicht allein die Tatsache, dass ein solcher
Versuch gelungen sein könnte, sondern schon die Tatsa-
che, dass solche Versuche mit menschlichen Embryonen
durchgeführt werden, muss uns alle aufrütteln und dazu
bringen, möglichst schnell zu einem internationalen Ver-
bot des Klonens von Menschen zu kommen.
Deshalb bin ich froh, dass uns heute ein Antrag vor-
liegt, der von einer breiten Mehrheit dieses Hauses unter-
stützt wird. Der Antrag baut auf dem auf, was in der letz-
ten Legislaturperiode als Ziel für die internationalen
Verhandlungen formuliert worden ist, nämlich ein mög-
lichst umfassendes internationales Klonverbot zu errei-
chen.
Wir wissen, dass die Auffassungen über diese Fragen
international nicht einheitlich sind und der Versuch, in ei-
nem ersten Verhandlungsgang zu einem solchen Verbot zu
kommen, gescheitert ist. Wir wissen, dass es eine relativ
breite Mehrheit für ein Verbot des reproduktiven Klonens
gibt und die Frage des therapeutischen Klonens sowohl in
diesem Haus als auch international unterschiedlich beur-
teilt wird. Deshalb wird der Erfolg einer neuen deutsch-
französischen Initiative nicht nur von einer möglichst
breiten Unterstützung in den beiden Parlamenten, sondern
auch von der Qualität und der Überzeugungskraft unserer
Argumente abhängen.
Die Bundesministerin für Bildung und Forschung,
Edelgard Bulmahn, hat daher zu einer internationalen
Konferenz vom 14. bis 16. Mai eingeladen. Diese inter-
nationale Konferenz soll sich mit dem gegenwärtigen
Stand der Forschung und ihre ethischen Bewertungen so-
wie den daraus zu ziehenden rechtlichen Konsequenzen
auseinander setzen.
Es wird eine Konferenz mit Teilnehmern aus Forschung,
Politik, Wirtschaft und Verbänden sein, weil wir glauben,
dass es nur unter der Voraussetzung eines weltweiten Pro-
zesses der interdisziplinären Verständigung letztendlich
zu überzeugenden Grenzziehungen und einem gemeinsa-
men internationalen Vorgehen kommen kann.
Wir stehen in der Bundesrepublik Deutschland mit
dem Embryonenschutzgesetz, das ganz klar beide For-
men des Klonens ausschließt, in dieser Frage rechtlich auf
einer sehr klaren Basis.
Wir diskutieren heute auch über die Einsetzung einer
neuen Enquete-Kommission, die sich mit Fragen von
Ethik und Recht in der modernen Medizin beschäftigt;
denn es gibt in anderen Bereichen offene Fragen, bei de-
nen wir noch nicht zu einer solch klaren Entscheidung ge-
kommen sind, wie uns das beim Embryonenschutzgesetz
oder beim Stammzellgesetz gelungen ist. Die neue En-
quete-Kommission wird sich mit der Ziehung ethischer
Grenzen und der Schaffung rechtlicher Regelungen aus-
einander setzen müssen. Ich bin überzeugt, dass diese En-
quete-Kommission eine gute Voraussetzung dafür ist,
dass dieses Parlament auch auf neue Fragen und Heraus-
forderungen moderner Medizin und Forschung überzeu-
gende Antworten finden wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Kollege Thomas Rachel, CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die biomedizinische Forschung ist eine derUlrike Flach
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Thomas Rachelgroßen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Mit ihrverbinden sich große Hoffnungen, Menschen besser hel-fen zu können. Zugleich stellt sie uns vor die Frage, wodie ethischen Grenzen menschlichen Forschens und Han-delns liegen. Als Gesetzgeber haben wir die besondereVerantwortung, diese Entwicklung zu begleiten.Als Christ bin ich dem Schutz der Menschenwürdeverpflichtet, zu der für mich auch eine Ethik des Heilensgehört. Der Wille zu heilen, entspricht dem humanitärenAuftrag, Alten, Schwachen und Kranken zu helfen. In derletzten Legislaturperiode haben wir gesehen, dass großeFortschritte in Medizin und Biotechnologie der ethischenBegleitung bedürfen. Dieser Aufgabe wollen wir uns auchmit der neuen Enquete-Kommission stellen. Dabei müs-sen sich naturwissenschaftliche Erkenntnisse und neuemedizinische Möglichkeiten an dem Bild vom Menschenmessen lassen, wie es in der Verfassung verankert ist undder christlichen Anthropologie entspricht.
Wir brauchen Entwicklungsmöglichkeiten für die Bio-und Gentechnologie vor allem, weil diese Forschung esuns ermöglichen kann, menschliches Leben zu bewahrenund Leiden zu lindern. Aber dieser Freiraum findet seineGrenze am absoluten Wert des Menschen, an der Men-schenwürde. Manche der sich abzeichnenden Möglich-keiten der Biomedizin haben eine völlig neue Qualität. Soscheint die Möglichkeit auf, den Menschen in seiner bio-logischen Ausstattung selber zu verändern. Manche wol-len ihn sogar genetisch neu entwerfen. Dies wäre eine ab-schreckende Vision.Für uns Christdemokraten ist in Übereinstimmung mitden beiden großen Kirchen klar, dass mit der Verschmel-zung von Ei und Samenzelle menschliches Leben ent-steht. Diese Auffassung kann nur eine Konsequenz haben:Wir müssen ein weltweites Klonverbot erreichen. Hierist die Bundesregierung gefordert, entschieden zu han-deln. Mit dem heute eingebrachten interfraktionellen An-trag fordern wir ein Verbot des reproduktiven und des the-rapeutischen Klonens. Die Position der deutschenBundesregierung muss dabei kristallklar sein.
Deshalb irritiert das Interview der Forschungsministe-rin Bulmahn in der „Berliner Zeitung“ vom 10. Januar2003. Wörtlich antwortet sie dort:Im Bereich des therapeutischen Klonens sind ver-schiedene Verfahren denkbar, einige davon könntensich als ethisch unbedenklich erweisen. Damit hätteich dann keine Probleme.Frau Bulmahn, wir wollen wissen, was Sie dabei fürethisch unbedenklich halten.
Bereits im Mai 2001 hat die Deutsche Forschungsge-meinschaft erklärt, dass „sowohl das reproduktive alsauch das therapeutische Klonen ... weder naturwissen-schaftlich zu begründen noch ethisch zu verantwortensind und daher nicht statthaft sein können“. Die Auffas-sung des DFG-Präsidenten Winnacker, dass therapeuti-sches Klonen „Sackgasse und Irrweg“ sei, teile ich. The-rapeutisches und reproduktives Klonen führen zu einemEmbryo, der einmal verworfen und das andere Mal zurHerstellung eines identischen Menschen genutzt wird.Die beim therapeutischen Klonen entstehenden Zellenkönnen Tumorzellen sein und vorzeitig altern. Für diesesVerfahren ist eine enorme Zahl von Eizellspenden erfor-derlich. Dies lehne ich aus moralischen Gründen ab.
Professor Winnacker hat als Alternative für therapeuti-sche Zwecke so genannte Stammzellbanken in die Dis-kussion gebracht. Dies wäre eine Sammlung von Zelllinienmit jeweils unterschiedlicher Gewebeverträglichkeit. Da-mit würde das Problem der immunologischen Abwehr fürviele Patienten entfallen. Die Enquete-Kommission könntedie rechtlichen, die wissenschaftlichen und die ethischenChancen von Stammzellbanken kritisch überprüfen.Die Errungenschaften der modernen Lebenswissen-schaften haben Einzug in unser Leben gehalten. Mit derGendiagnostik kann man frühzeitig Krankheitsrisiken er-kennen, sodass der Krankheit mit geeigneten Maßnahmenentgegengewirkt werden kann.
Dies ist eines von vielen Beispielen, die zeigen: Ethischbegleiteter Fortschritt dient der Menschenwürde.Mit der vollständigen Entschlüsselung des menschli-chen Genoms verbindet sich die Hoffnung, mit den Mit-teln der Gentherapie schwere Krankheiten zu besiegen.Aber auch in diesem Bereich liegen Chancen und Risikennah beieinander. Hoffnungsvolle Ansätze müssen immerauch auf die unbeherrschbaren Nebenwirkungen unter-sucht werden. Wir haben in der Enquete-Kommission da-rauf zu achten, welche Aufgaben die Politik und welchedie Medizin hat.Jedes Jahr sterben in Deutschland Menschen, weil ihrdringender Wunsch nach einem Organ mangels Verfüg-barkeit nicht erfüllt werden kann. Lange Wartelisten undillegaler Organhandel sind bedrückend. Seit einigen Jah-ren forscht die Wissenschaft, ob auf diesem Gebiet durchdie Übertragung von Gewebe und Organen von TierenAbhilfe geschaffen werden kann; das Stichwort lautet„Xenotransplantation“. Drei zentrale Fragen stellensich bei dieser Forschung: die Überwindung der Ab-stoßung; die Gewährleistung der physiologischen Funk-tionalität und die Beherrschung der Infektionsrisiken.Ist dieser Weg aber ethisch verantwortbar? Problema-tisch ist nicht nur, dass noch ungeklärt ist, ob durch solcheVerpflanzungen bislang unbekannte Infektionen von Tie-ren auf den Menschen übertragen werden können. Wel-chen Stellenwert hat eigentlich das Tier, dessen besonde-ren Schutz durch das Grundgesetz wir im letzten Jahr imBundestag beschlossen haben? Andererseits dient dasTier dem Menschen seit der Urzeit als Nahrungsquelle, ja,im Wortsinne als Lebensmittel. Als Mittel zum Lebenwäre auch ein Xenotransplantat zu verstehen.
2140
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2141
John F. Kennedy verdanken wir den wertvollen Ge-danken: Eine medizinische Revolution hat die Lebenser-wartung unserer Alten verlängert, ohne ihnen die Würdeund die Sicherheit zu geben, die sie in ihren letzten Jah-ren verdienen. Damit sind wir bei dem ernsten Thema„Sterbebegleitung und Sterbehilfe“. Viele Menschenfürchten sich vor einem schmerzhaften, einsamen und oftwürdelosen Sterben.Unser christlich abendländisches Menschenbild ver-pflichtet, die Menschenwürde am Anfang, im Verlaufund am Ende des Lebens sicherzustellen. Diesem Zieleweiß sich auch die Palliativmedizin verpflichtet, derenMöglichkeiten wir mit der Enquete-Kommission nebendem Ausbau der Hospizarbeit stärken müssen. Etwa3 000 Patienten in den Niederlanden bekommen jedesJahr aktive Sterbehilfe – auf ausdrückliches Verlangen derPatienten. Zusätzlich werden bei etwa 1 000 Patientenlebensverlängernde Maßnahmen ohne deren Einverständ-nis abgebrochen. Dies sind alarmierende Zahlen.Sterbende Menschen haben nach Erkenntnis der Kir-che vor allem vier Grundbedürfnisse, an denen sich Ster-bebegleitung orientieren muss: im Sterben nicht allein ge-lassen zu werden; die letzten Dinge regeln zu können; dieFrage nach einer über den Tod hinausgehenden Hoffnungstellen zu können; vor allem nicht unter Schmerzen leidenzu müssen.Deutschland liegt aber auf dem Gebiet der Palliativ-medizin ziemlich weit hinten. Es hat im Bereich derSchmerztherapie im Vergleich zu anderen europäischenLändern noch einiges aufzuholen. In Deutschland habenwir für 1 Million Menschen ganze drei Palliativbetten.Der Stärkung der Palliativmedizin sollte sich die neue En-quete-Kommission deshalb als einer wichtigen Aufgabestellen. Ethisch begleiteter Fortschritt dient der Men-schenwürde.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile der Kollegin Christa Nickels, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Dieganze Geschichte der Medizin ist eine Geschichte desMachbarkeitswahns“, erklärte Professor Kentenich, einhoch angesehener Fortpflanzungsmediziner, auf einerBioethikveranstaltung unserer Fraktion Anfang Februar.
Ja, richtig: Ohne das Sich-nicht-Abfinden-Können unddas Sich-nicht-Abfinden-Wollen mit den Leiden derMenschheit, ohne die Revolte gegen den Fatalismus, ohnedas Streben nach Glück und Erkenntnis gäbe es viele dertechnischen und medizinischen Errungenschaften nicht,die den Menschen in den entwickelten Industriestaatenein gutes Leben bis ins hohe Alter ermöglichen.
Das ist aber nur die halbe Wahrheit; denn diese Him-melsstürmerei kann zum Absturz führen und sich sogar inihr Gegenteil, in Barbarei, verkehren. Fortschritt, dernicht über sich selbst reflektiert und sich nicht selbst be-grenzt, verkehrt sich in sein Gegenteil. Das hat nichts,aber auch gar nichts mit religiösem Fundamentalismus zutun, sondern genau das ist der Grundgedanke der Dialek-tik der Aufklärung.Die Erfolgsgeschichte sämtlicher demokratischer Zi-vilgesellschaften beruht darauf, dass sie gelernt haben, ei-nem ungezügelten Machbarkeitswahn Zügel anzulegenund Grenzen zu setzen. Die Entwicklung der universa-len Menschenrechte hätte es nicht gegeben ohne die Ein-sicht darin, dass sich die Gesellschaft und der Staat selbstGrenzen setzen müssen und dass der Einzelne Abwehr-rechte gegen den Zugriff von Staat und Gesellschaft so-wie gegen kollektive Begehrlichkeiten hat. Diese Einsichtverdanken wir Art. 1 unseres Grundgesetzes:Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu ach-ten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat-lichen Gewalt.Entscheidend ist dabei, dass diese Menschenwürde je-dem menschlichen Leben zukommt. Sie muss weder ver-dient werden noch kann sie verloren werden.Aber wann sind die Grenzen dessen erreicht, was wirtun dürfen? Wo finden wir die Kriterien für die nötigeGrenzziehung? Die Grenze ist da erreicht, wo getötetwird, um zu heilen, oder wo Töten sogar als Heilen aus-gegeben wird. Bei der Präimplantationsdiagnostik wirdein kranker Embryo nicht geheilt, sondern er wird selek-tiert und getötet. Beim therapeutischen Klonen werdenEmbryonen hergestellt und anschließend getötet – in derHoffnung, damit Heilmittel für andere Menschen zu ge-winnen. Menschliches Leben wird hierbei instrumentali-siert und für fremde Zwecke vernutzt. Damit ist die Men-schenwürde in ihrem Kern angetastet.
In der Präambel unseres neuen Grundsatzprogrammsverpflichten wir Bündnisgrünen uns zur Parteinahme fürdie Schwächsten. Das ist keine weltfremde Gefühlsduse-lei, sondern das gibt einen ganz konkreten Maßstab für un-sere Politik vor. Machen wir uns doch nichts vor! Wir allesind nicht nur am frühesten Beginn unseres Lebens, son-dern in gleicher Weise am Ende unseres Lebens, wenn esans Sterben geht, existenziell ausgeliefert. Auch im Laufeunseres Lebens wird es keinem von uns erspart bleiben,solche Phasen des Ausgeliefert-Seins durchstehen zu müs-sen. Daher ist es gut, wenn man in einer Gesellschaft lebenkann, die an den Schwächsten Maß nimmt. Davon werdenwir alle, jeder einzelne von uns, egal wie die Konstitutionist, wie es einem geht, nur profitieren können. Es ist einGarant für ein gutes Leben für alle.
Thomas Rachel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Christa NickelsMorgen wird in Magdeburg dasEuropäische Jahr derMenschen mit Behinderung eröffnet. Diese Gelegenheitsollten wir nutzen, um uns erneut mit der Frage auseinan-der zu setzen, worum und um wen es denn eigentlich geht,wenn wir davon sprechen, Leid vermeiden zu wollen.Geht es dabei wirklich um das Wohl der Behinderten? Be-hinderte verwahren sich vehement dagegen, dass man sieum anderer Interessen willen instrumentalisiert. Der eme-ritierte Mikrobiologe Professor Zähner, Parkinsonpatient,sagt: Wenn die Parkinsonpatienten als konkrete Nutz-nießer der Stammzellforschung ins Gespräch gebrachtoder in den Medien sogar vorgeführt werden, sehe ichdarin einen erniedrigenden Missbrauch.
Professor Zähner wehrt sich dagegen, dass Patienten in-strumentalisiert werden, um andere Interessen zu legiti-mieren oder Widerstände, die sich dagegen erheben, aus-zuhebeln.Behinderte fordern ganz klar ein, dass die Gesell-schaft – wir leben in einer reichen Gesellschaft – alle Res-sourcen zur Verfügung stellt, damit sie die Lebensfreudeund die Lebensqualität, die jedem Leben Eigen sind, auchumsetzen können. Darum frage ich: Worum und um wengeht es eigentlich, wenn wir davon sprechen, Leid ver-meiden zu wollen, wenn die Ethik des Heilens immer wie-der als Nonplusultra beschworen wird? Es wird davon ab-gesehen, dass manches Leiden eben nicht mehr geheiltwerden kann, aber gelindert werden muss, dass die Men-schen begleitet werden müssen, dass alles getan werdenmuss, damit sie ein gutes Leben haben – auch im Leid undebenfalls dann, wenn sie in die Sterbephase eintreten. Hierist es meiner Meinung nach ganz wichtig zu erwähnen,dass wir als Gesellschaft Sterben und nicht heilbares Leidkollektiv verdrängen und uns damit nicht mehr auseinan-der setzen wollen. Es ist kein Wunder, dass das Sterben inKrankenhäuser verlagert worden ist.Täuschen wir uns nicht! Das ist keine rein ethisch-mo-ralische Frage, sondern eine ganz handfeste Frage, die unsnoch oft, zum Beispiel an vielen einzelnen Punkten in derDebatte um die Gesundheitsreform, einholen wird. Ohneklare Grundsätze werden wir als Gesellschaft diese De-batte nicht unbeschadet überstehen.
Deshalb bin ich froh und stolz, dass wir als Parlamentes gleich zu Beginn einer neuen Legislaturperiode undtrotz der international schwierigen Lage schaffen, erneuteine Enquete-Kommission „Ethik und Recht der moder-nen Medizin“ einzusetzen. Diese Enquete-Kommissionwird zwei wesentliche Aufgaben haben:Zum einen geht es darum, den Fundus an Wissen undUnterscheidungskriterien weiterzugeben, den sich derDeutsche Bundestag zu diesen grundlegenden Fragen inden letzten 20 Jahren erarbeitet hat. Die Enquete-Kom-mission der 14. Wahlperiode hat sich dieser Unterschei-dungskriterien auf dem modernsten Stand der Möglich-keiten der Technik noch einmal vergewissert und hat sieim Wesentlichen bestätigt. Darum glaube ich, dass es indieser Legislaturperiode, in der wir einen riesengroßenWechsel der Mitglieder haben, auch darum geht, das zutradieren, was das Koordinatensystem unserer gewachse-nen Auffassung von Menschenwürde ist; ob es Bestandhaben kann und soll oder ob sich dieses Koordinatensys-tem grundlegend verschieben soll. Diejenigen, die dieselangen Prozesse miterlebt und mitgestaltet haben, könnensich nicht einfach auf den Standpunkt zurückziehen, dasses für das gewachsene Menschenwürdeverständnis guteGründe gibt. Den neuen Mitgliedern dieses Parlamentesund der nächsten Generation der Parlamentarier werdenwir es nicht ersparen können, sich dieser kompliziertenund schwierigen Debatte in allen Einzelungen und Facet-ten zu stellen.Zum anderen haben wir rechtliche Regelungen voruns. Das Fortpflanzungsmedizingesetz ist spätestens seit1994 überfällig. Es geht hier um eine grundlegende, we-sentliche Herausforderung für die Art unseres Zusammen-lebens, für die Grundkoordinaten unseres Menschenwür-dekonzeptes. Im Sinne des Wesentlichkeitsgebots könnenwir diese Aufgabe weder der Regierung noch Kommis-sionen überlassen. Hier müssen wir schon als Parlamen-tarier selbst handeln.Ich bin sehr froh, dass wir jetzt die Voraussetzungengeschaffen haben, und hoffe, dass das ganze Parlamentengagiert daran teilnimmt. Dabei geht es nicht um die De-battenkultur im Sinne von „Kunst für die Kunst“. Es gehthier um wichtige und grundlegende Fragen. Das Parla-ment wird hier ganz dringend gebraucht.Danke schön.
Ich erteile das Wort Kollegen Detlef Parr, FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlichist die Fortsetzung der Arbeit der Enquete-Kommission„Recht und Ethik der modernen Medizin“ nur folgerich-tig.Auch in der 15. Legislaturperiode– so bringt es der vorliegende Antrag treffend zum Aus-druck –steht der Gesetzgeber vor der Herausforderung, aufdie ... rasante Entwicklung in der modernen Biome-dizin vorausschauend reagieren zu müssen.Das steht außer Zweifel.Der Bundestag braucht also ein Gremium zur Vorbe-reitung und Begleitung von Gesetzesverfahren, von par-lamentarischen Diskussionen in bioethischen Streitfra-gen. Er braucht dieses Gremium umso mehr, als mit demNationalen Ethikrat durch den Kanzler eine Institution
2142
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2143
geschaffen worden ist, die in keiner Weise demokratischlegitimiert ist. Wir Abgeordneten dürfen es nicht zulassen,dass dem Nationalen Ethikrat eine Alleinstellung zu-kommt. Wir sind es, die über die Enquete-Kommissiondazu beitragen müssen, dass es zu gesetzgeberischem undadminstrativem Handeln in Bezug auf bioethische Zu-kunftsfragen kommt und der öffentliche Diskurs darüberin Gang gesetzt wird. So weit sind wir uns einig.
Umso überraschter waren wir, als der Einsetzungsan-trag, der heute vorliegt, ohne Beteilung der FDP formu-liert worden war. Frau Flach und ich haben noch Ände-rungsvorschläge eingebracht, leider ohne Erfolg. LiebeKolleginnen und Kollegen, das empfinden wir alsschlechten demokratischen Stil.
Schauen Sie den vorliegenden Text sehr genau durch!Er lässt mehr als die Vermutung aufkommen, dass dieKommission einer Verschiebepolitik Vorschub leistensoll. Denn es heißt in dem Antrag: Themen, die in der letz-ten Legislaturperiode „nicht in befriedigender Weise“ un-tersucht werden konnten, sollen neu aufgerollt werden.Meine Damen und Herren, was heißt denn „in befriedi-gender Weise“? Sollen wir Themen so lange diskutieren,bis wir zu dem Ergebnis kommen, das sich die Mehrheithier wünscht? Das wollen wir nicht.
– Herr Wodarg, manche Bereiche der modernen Medizinsind längst entscheidungsreif. Der Bundestag darf sichnicht davor drücken, bald die notwendigen Beschlüsse zufassen.
– Doch, das tut er sehr wohl. – Es macht zum Beispiel we-nig Sinn, wenn bereits abgehandelte Themen wie diePräimplantationsdiagnostikwieder Gegenstand der Be-ratungen werden sollen, wie zu erahnen ist, Herr Wodarg.
– Ich bin gespannt. – Hierzu liegt der ausführliche Ab-schlussbericht der Enquete-Kommission der letzten Le-gislaturperiode vor; die Stellungnahme des NationalenEthikrates haben wir vorliegen. Die Argumente des Fürund Wider sind sorgfältig erarbeitet worden. Die Vorbe-reitung einer Entscheidung ist damit abgeschlossen. Jetztmuss jeder von uns den Mut haben, darüber abzustimmen.Wir werden einen entsprechenden Antrag einbringen.
Es ist einfach falsch, wenn die Kommission Grenzenmedizinischen Handelns bei Forschung, Diagnostik undTherapie definieren soll. Meine Damen und Herren, soeinseitig und einschränkend darf die Aufgabenstellungdoch wohl nicht sein.
Die FDP will offen und tabulos die Chancen und Risikenzur Sprache bringen, die mit den neu auftauchenden Fra-gestellungen verbunden sind. Auf eine Enquete-Kommis-sion mit Maulkorb können wir gerne verzichten.
Wenn sich auch viele Menschen durch neue biotech-nologische Möglichkeiten in ihren moralischen oder reli-giösen Überzeugungen verletzt sehen: Ein wesentlicherFreiheitsgehalt des demokratischen Verfassungsstaatesliegt doch darin – ich zitiere aus der Stellungnahme desNationalen Ethikrats zur PID –: Staatliches Rechtlässt im Übrigen jedem die Freiheit, seinen eigenenund über den staatlich garantierten Standard weithinausreichenden sittlich-moralischen Überzeugun-gen gemäß … zu leben und seine Lebenspraxis ent-sprechend zu gestalten.Gerade im Bereich der persönlichen Lebensgestaltungbedürfen regulative staatliche Eingriffe besondererRechtfertigung. Das gilt auch für die Freiheit der Wis-senschaft.
Eine der wesentlichen Aufgaben der Enquete-Kommis-sion muss nach unserer Auffassung die Erarbeitung vonVorschlägen sein, die auf einem Ausgleich des individu-ellen Freiheitsanspruchs auf der einen und dem Schutzallgemeiner Rechtsgüter durch den Staat auf der anderenSeite basieren. Davon müssen wir Handlungsvorgabenableiten, die auch international den Anschluss an die Ent-wicklung der modernen Medizin möglich machen.
Diesem Abwägungsprozess wollen und müssen wiruns stellen. Das wird auch und gerade die FDP tun; nichtaber auf der Grundlage einer Aufgabenbeschreibung, die,wie sie uns heute vorliegt, einen solchen Prozess nur ein-geschränkt und unter Bedingungen zulässt. PuristischeVerhinderungsstrategien tragen wir nicht mit. Wir sind füreine Enquete-Kommission als Stätte des offenen Dialogsund eines ergebnisorientierten Prozesses, aber gegen die-sen Antrag.
Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alsPDS begrüßen die Initiative des Bundestages für ein in-ternationales Verbot des Klonens menschlicher Embryo-nen. In dieser Frage gibt es einen breiten gesellschaftli-chen Konsens. In der Bundesrepublik ist das Klonenbereits seit 1990 verboten. Wie Sie wissen, hat der Euro-päische Gerichtshof die Herstellung von Menschen, diegenetisch identisch mit anderen Menschen sind, 1998verboten.Jetzt ist die Frage, ob es wirklich gelingt, ein interna-tionales Verbot durchzusetzen. Da bin ich eher skeptisch.Der Antrag von SPD, CDU/CSU und Grünen verlangt,Detlef Parr
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Dr. Gesine Lötzschdas reproduktive und therapeutische Klonen zu verbieten.Das ist zwar gut und richtig, aber es scheint mir, meineKolleginnen und Kollegen, international nicht durchsetz-bar zu sein. Ich finde, gerade diese Frage der internatio-nalen Durchsetzbarkeit hätte hier in dieser Debatte mehrRaum verdient.
Ansonsten müssen Sie sich schon die Frage gefallen las-sen, ob diese resolute Forderung nicht nur als Beruhigungfür einige gedacht ist.Meine Damen und Herren, wir müssen zwischen re-produktivem und therapeutischem Klonen unterschei-den. Beim reproduktiven Klonen soll ein vollständigerOrganismus entstehen; das wird von allen in diesemHause abgelehnt. Beim therapeutischen Klonen geht esum die Herstellung körpereigener Ersatzgewebe wie zumBeispiel Herzmuskelzellen oder Nervengewebe. DieseEntwicklung ist, wenn wir es realistisch betrachten, wohlnicht aufzuhalten.
– Es mag sein, dass das andere anders beurteilen. Ich ver-trete hier meine Meinung. – Ich denke auch, dass For-schungsministerin Bulmahn diesem Antrag nur mitBauchschmerzen zugestimmt hat, da sie die internationa-len Forschungsrealitäten kennt.Die inhaltliche Fortsetzung der Arbeit der Enquete-Kommission in der letzten Wahlperiode durch eine neueKommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“halten wir für sinnvoll und unterstützen wir. Die Bundes-regierung hat einen Nationalen Ethikrat berufen. Es ist dasRecht und die Pflicht der Bundestagsabgeordneten, ihreMöglichkeiten zu nutzen, um sich auf diesem sehr kom-plizierten Gebiet sachkundig zu machen und verantwor-tungsvolle Entscheidungen zu treffen.Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist dieEinführung der Präimplantationsdiagnostik, abgekürztPID. Der Ethikrat hat sich dafür, die Enquete-Kommis-sion dagegen ausgesprochen. Ich habe – das muss ich Ih-nen ganz ehrlich sagen – den Eindruck, dass hier in einemgroßen Konsens das internationale Klonverbot propagiertwird – in dem Bewusstsein, dass das sowieso nicht durch-zusetzen ist –, um dann unterhalb dieser Frage dafür zusorgen, dass sich die Enquete-Kommission langsam inRichtung Ethikrat bewegt.
Aber das werden wir dann im Ergebnis sehen. Ich will dieErgebnisse nicht vorwegnehmen, ich möchte jedoch aufdiesen Fakt hinweisen.Allerdings bin ich schon etwas über die ungewöhnlicheEinmütigkeit der Diskussionsredner – bis auf die FDP –irritiert. Es wurde in getragenem Ton viel von der Würdedes Menschen gesprochen. Ich wünschte mir, dass wir indiesem Hause häufiger über die Würde des Menschensprächen, beispielsweise auch wenn es um lebende, kon-krete Menschen geht, zum Beispiel in Bezug auf die Si-tuation in den Pflegeheimen, auf die Behandlung von psy-chisch Gehandikapten oder auf gesundheitsschädigendeArbeitsbedingungen.Das oberste Gebot der Menschenwürde, meine Damenund Herren, ist allerdings, dass es keinen Krieg gibt. Da-rüber müssen wir uns hier so einig sein wie in der letztenWoche: kein Krieg nirgends, kein Krieg gegen den Irak.
Ich erteile das Wort Kollegen René Röspel, SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! In den letzten Wochen werde ich sehr häufig gefragt:Was ist denn eigentlich so schlimm am so genannten the-rapeutischen Klonen? Warum sollen wir das nicht zulas-sen?Ja, was ist denn eigentlich so schlimm oder unethischdaran, einer Frau eine hohe Hormondosis zu geben, damitsie möglichst viele Eizellen produziert, ihr die Eizellen zuentnehmen, den weiblichen Zellkern zu entfernen und zuersetzen, zum Beispiel durch einen Zellkern, der aus einermeiner Hautzellen gewonnen werden könnte? Geschaffenwürde auf diesem Wege eine genetische Kopie, ein Klon,eine neue „Eizelle“, mit meiner Erbinformation versehen.Sie könnte sich unter geeigneten Bedingungen zu passen-dem Zellersatzgewebe entwickeln oder, nach Einpflanzungin eine Gebärmutter, in einen kompletten Menschen –mein Jahrzehnte nach mir geborener Zwillingsbruder!Diese neue „Eizelle“ wäre ein Embryo. Ich gebe zu, ichhabe mich, auch zu Beginn der Arbeit der letzten Enquete-Kommission, gefragt: Ist das eigentlich ein Embryo, derauf diesem Weg geschaffen wird? Ist Embryo nicht das,was auf normalem Weg, nämlich durch Verschmelzungvon Ei und Samenzelle, entsteht? Ich habe während der Ar-beit der letzten Enquete-Kommission sehr schnell gelernt:Es ist ein Embryo. Es hat alle Veranlagung, zu einem Le-bewesen zu werden; es ist ein Lebewesen.Oder anders ausgedrückt: So wie ich hier vor Ihnenstehe, sehen Sie mir nicht an, ob ich auf dem Weg des„therapeutischen“ Klonens oder auf dem üblichen, kon-ventionellen Weg entstanden bin.
Um Sie zu beruhigen: Meine Eltern haben mir noch ges-tern das Letztgenannte bestätigt.Auch wenn ich das Klonschaf Dolly heute hätte mit-bringen können, hätten Sie nicht sehen können, ob es aufdem Weg des „therapeutischen“ Klonens oder auf natürli-chem Weg entstanden ist. In jedem Fall muss das Em-bryostadium durchlaufen werden und in jedem Fall, beimso genannten therapeutischen und beim reproduktivenKlonen, wird ein Embryo hergestellt.In Deutschland würden wir mit dieser Methode nichtnur eine juristische Grenze überschreiten. Aus meiner
2144
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2145
Sicht würden wir auch die Grenze des ethisch Verant-wortbaren überschreiten.
Ein Embryo zu Forschungszwecken oder auch nur in derHoffnung, ihn zur Heilung einsetzen zu können, ist fürmich nicht akzeptabel.
Aber ist diese Methode nicht wissenschaftlich interes-sant?, wird gefragt. Der Präsident der Deutschen For-schungsgemeinschaft, Professor Winnacker, hält das„therapeutische“ Klonen für einen „Irrweg“. Ich binüberzeugt, er hat Recht. Es gibt in der Zellbiologie dieThese, dass Zellen nach etwa 50 Teilungen zugrunde ge-hen. Das ist der natürliche Prozess des Alterns und Ster-bens, aufgehoben nur bei Krebszellen. Die Hautzelle ausmeinem Anfangsbeispiel war 38 Jahre lang meine Haut-zelle. Sie hat sich 38 Jahre lang damit beschäftigt, Haut-zelle zu sein, sich unzählige Male in andere Hautzellen zuteilen. Die Chromosomen sind irreversibel verkürzt undgeschädigt. Nach einem Zellkerntransfer allerdingsmüsste dieser Hautzellkern als Embryo funktionieren,und zwar sehr rasch. Dass damit eine Vielzahl nicht über-schaubarer Probleme, auch wissenschaftlicher Probleme,entstehen, liegt auf der Hand. Das Klonschaf Dolly ist imAlter von sechs Jahren gestorben. Schafe haben norma-lerweise eine Lebenserwartung von zehn bis zwölf Jah-ren. Das zeigt, dass diese Probleme sehr ernst genommen– sie kann man auch nicht durch Beschluss eines FDP-Parteitages aus der Welt schaffen –
und wissenschaftlich berücksichtigt werden müssen.Bedeutet der Verzicht auf das „therapeutische“ Klonenautomatisch Verzicht auf Therapie? Ich sage: Nein. Dereinzige Vorteil der durch Klonen hergestellten Zellen ge-genüber anderen embryonalen Stammzellen, zum Beispieldie fehlende Abstoßungsreaktion – das ist das einzige Ar-gument, das das Klonen rechtfertigen würde –, wird in na-her Zukunft vielleicht durch gentechnische Manipulationreduziert – dazu gibt es neuere Arbeiten, die allerdingsauch auf adulte Stammzellen zutreffen – oder aber, wieProfessor Winnacker es vorschlug und Frau Böhmer schonerwähnte, durch die simple Schaffung von Stammzell-banken ausgeglichen. Wer an „therapeutisches“ Klonenzur Heilung von Krankheiten glaubt, muss heute schondarlegen, welche Frauen denn die Hunderttausenden vonEizellen spenden sollen, die dafür unabweisbar benötigtwerden. Auch dazu wurde schon genug gesagt.Das Wichtigste in Bezug auf Therapie und Hei-lungschancen ist: Alle bereits heute vorliegenden erfolg-versprechenden Therapie- oder Heilungsversuche beimMenschen sind mit adulten Stammzellen durchgeführtworden,
im Bereich der Leukämie bereits vor 40 Jahren mit Kno-chenmarkzellen. Die adulten Stammzellen werden dieZellen sein, denen die Zukunft gehört und die zur Heilungbeitragen werden. Der Umweg des therapeutischen Klo-nens würde mehr schaden als nutzen. Wer das reproduk-tive Klonen verhindern will, muss auch das „therapeuti-sche“ verbieten; denn es ist ein und dieselbe Technologie.Das Ergebnis ist nicht unterscheidbar. Nur die Intentionderer, die die Zellen aus der Petrischale nehmen und in dieGebärmutter einpflanzen, ist eine andere.
Es ist gut, dass wir heute einen interfraktionellen An-trag für ein umfassendes internationales Verbot desKlonens verabschieden. Es ist gut, dass diesem Antrag soviele Abgeordnete der meisten Fraktionen zustimmenwerden. Dass das so ist, hat sicherlich auch damit zu tun,dass die beratende Arbeit der Enquete-Kommission„Recht und Ethik der modernen Medizin“ aus der letztenLegislaturperiode viel an Aufklärung und Information ge-leistet hat. Sie hat ihre Aufgabe, das Parlament in schwie-rigen Fragen zu beraten und Entscheidungsgrundlagen fürdie Abgeordneten bereitzustellen, gut erfüllt. Sie hat dieBasis bereitet für Debatten über „therapeutisches“ Klo-nen, Stammzellforschung und Präimplantationsdiagnos-tik auf hohem Niveau und in gegenseitigem Respekt.Deshalb ist es gut, dass wir auch heute für die noch of-fenen und für die neuen Fragestellungen wieder eineEnquete-Kommission mit breitem Konsens einsetzenwerden. Ihre Themen werden vielleicht nicht mehr sospektakulär sein wie die der letzten Enquete-Kommissionwie beispielsweise mit der Stammzellforschung. Aber siewerden auch nicht mehr so spekulativ sein.Die Fragen bezogen auf die Forschung an nicht einwilli-gungsfähigen Menschen, die Frage, wer es sich künftig leis-ten kann, von moderner Medizin profitieren zu können, diemedizinischen Perspektiven der Nanobiotechnologie oderdie Selbstbestimmung des Menschen an seinem Leben-sende werden für viel mehr Menschen Bedeutung haben,als es embryonale Stammzellen jemals werden haben kön-nen. Die Themen werden wechseln; die Aufgabe derKommission wird bleiben: parlamentarisch und demokra-tisch legitimiert, schwierige Fragestellungen ethisch,rechtlich und wissenschaftlich fundiert aufzuarbeiten unddem Parlament und der Gesellschaft zur Verfügung zustellen.Ich persönlich habe in der letzten Enquete-Kommis-sion viel dazu gelernt, übrigens auch über mich selbst. Ichfreue mich, mit Ihnen zusammen wieder mitarbeiten zudürfen.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort Kollegen Hubert Hüppe, CDU/CSU-Fraktion.René Röspel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freuemich darüber, dass wir heute beschließen werden, dieEnquete-Kommission „Ethik und Recht der modernenMedizin“ wieder einzusetzen. Ich freue mich vor allenDingen auch deswegen, weil man sich diesmal sehrschnell zwischen den verschiedenen Fraktionen hat eini-gen können. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen dafür,dass die Arbeit dort so weitergeführt wird, wie es in derletzten Legislaturperiode der Fall gewesen ist: ohneRücksicht auf Fraktionsgrenzen. Das ist bei diesemThema, bei dem es um die Ethik geht, sehr wichtig.Für die Dringlichkeit dieser Enquete-Kommissionspricht sicherlich, dass sie die erste ist, die in dieser Le-gislaturperiode eingesetzt wird. Das war nicht immer so.Denn in der letzten Legislaturperiode hat es immerhin an-derthalb Jahre gedauert, bis die Enquete-Kommissioneingesetzt werden konnte, und es bestand nicht überall Ei-nigkeit im Hinblick auf die Notwendigkeit einer solchenEnquete-Kommission. Aus diesem Grunde war in derletzten Legislaturperiode der Zeitdruck so groß, dass vieleThemen nicht behandelt oder nur angerissen werdenkonnten. Dennoch haben wir in der Gesellschaft viel An-erkennung für unsere Arbeit und unseren Abschlussbe-richt erhalten. Vielleicht haben sich auch deswegen sehrviele gesellschaftliche Gruppen, zum Beispiel die Kir-chen sowie Frauen- und Wohlfahrtsverbände, vor allenDingen aber auch Behindertenverbände, dafür stark ge-macht, dass diese Enquete-Kommission wieder eingesetztwird.In dem vorliegenden Einsetzungsantrag wird deutlichgemacht, wie umfassend unser Themenspektrum seinwird: neue Aspekte der Organtransplantation, Fragen derFortpflanzungstechniken, Forschung an nicht Einwilli-gungsfähigen und Biobanken; um nur einige Themen zunennen. Dabei bin ich allerdings sicher, dass im Laufe un-serer Kommissionsarbeit neue Themen, die sich bereitsaus der Weiterentwicklung der Forschung ergeben, hinzu-kommen werden.Allerdings sollten wir nicht nur hinterfragen, was neuauf uns zukommt, sondern auch – das ist mir sehr wich-tig –, ob es nicht schon in der Vergangenheit zu Fehlent-wicklungen gekommen ist. Ich denke zum Beispiel an dasThema Pränataldiagnostik. Wenn wir über die Forschungund den medizinischen Fortschritt sprechen, dürfen wirnicht nur die Risiken sehen, sondern in Hinsicht aufkranke Menschen gerade auch die Chancen der For-schung.
Welche Grenze wir aber auf jeden Fall zu beachten ha-ben, ist in unserem Antrag festgelegt: die Wahrung derMenschenwürde.Hier kann und darf es keine Ausnahmegeben, und zwar unabhängig davon, ob in anderen Län-dern andere Bestimmungen gelten. Dazu verpflichtet unsunser Grundgesetz. Das sollten wir auch nicht verbergen,wenn es zum Beispiel um internationale Abkommen geht.Im Gegenteil: Für die unteilbare Menschenwürde, die kei-ner Abwägung zugänglich ist, dürfen und müssen wirauch international eintreten.
Auf jedes einzelne Mitglied der Enquete-Kommissionwird damit eine enorme Arbeit zukommen. Wir werdenuns dieser Aufgabe stellen, weil wir wissen, dass wir dieNorm- und Regelsetzung an niemanden delegieren kön-nen. Die entsprechenden Entscheidungen muss und kannletztlich nur ein Gremium treffen: das Parlament – undnicht Ethikräte, wobei man sich fragen muss, warum inEthikräten häufig mehr Forscher als Ethiker sitzen. Ichsage dies auch in Hinsicht auf den so genannten Nationa-len Ethikrat. Da ich auch für die Belange behinderterMenschen zuständig bin und wir in diesem Jahr unter demMotto „Nichts über uns ohne uns“ das Europäische Jahrder Menschen mit Behinderungen haben, halte ich es im-mer noch für einen Skandal, dass nicht ein einziger Be-hinderter Mitglied im Nationalen Ethikrat ist; das darfman an dieser Stelle vielleicht einmal erwähnen.
Wenn wir darüber sprechen, dass das Parlament Ver-antwortung übernehmen muss, dann gilt das auch für denzweiten Antrag, den wir heute behandeln. Es geht dort da-rum, auf UN-Ebene eine neue Initiative zu starten mit demZiel, jegliches Klonen von Embryonen – es geht nichtum Zellen – international zu verbieten. Ich hoffe, dass wirheute mit deutlicher Mehrheit beschließen, dass das Klo-nen menschlicher Embryonen – egal zu welchem Zweck –mit der Menschenwürde unvereinbar ist.Frau Flach, zur Ehrlichkeit der Diskussion darf ich andieser Stelle anfügen – Sie wissen das; denn Sie beschäf-tigen sich mit diesem Thema –: Hier geht es nicht um einähnliches Verfahren der Herstellung. Embryonen werden– egal zu welchem Zweck, ob zu Forschungszwecken, obzur Reproduktion; einen therapeutischen Zweck gibt es jagar nicht – immer auf die gleiche Art hergestellt. Ent-scheidend ist: Lässt man diesen Embryo leben oder tötetman ihn?
Ich denke, es ist ein deutliches Zeichen, wenn jetztDeutschland, möglicherweise gemeinsam mit Frankreich,diese Initiative, die andere Staaten schon gestartet haben,mit unterstützt. Herr Loske, Sie sagten, in den VereinigtenStaaten sei es wahrscheinlich gar nicht so, dass man esverbieten wolle. Es gibt aber schon genügend Initiativenim Parlament. Wenn wir uns jetzt auf die Seite der vielenanderen Länder stellen würden, die das völlige Verbot desKlonens menschlicher Embryonen wollen, würden wirauch die Situation dort mit beeinflussen, schon gar, wennFrankreich mitmacht. Die Chancen stehen übrigens nichtschlecht; denn in Frankreich gibt es inzwischen auch par-lamentarische Initiativen, die das Klonen ganz strikt ver-bieten wollen. Dagegen ist unser Embryonenschutzgesetznoch liberal.Meine Damen und Herren, man muss sich auch vor Au-gen halten: Was würde eigentlich passieren, wenn mantatsächlich nur das reproduktive Klonen verbieten
2146
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2147
würde, also nur das Klonen mit dem Ziel, dieses Kindauch auszutragen? Das würde bedeuten, dass man dasKlonen von Embryonen zwar zulässt, dass der Forschersich aber nur dann gesetzestreu verhält, wenn er auf jedenFall diesen Embryo vor seiner Geburt tötet. Ein Tötungs-gebot ist meiner Meinung nach mit unserer Verfassungüberhaupt nicht in Gleichklang zu bringen. Auch das mussman an dieser Stelle sagen.Was würde denn passieren, meine Damen und Herren,wenn es bei tatsächlich vorhandenen Klonembryonen– das wäre ja die Folge – bald einen internationalenMarkt gibt? Wer will kontrollieren, wer auf dem interna-tionalen Markt geklonte Forschungsembryonen in Auf-trag gibt? Wer will kontrollieren, wer Embryonen dannimportiert, kauft oder verkauft? Wer will überwachen, obmit solchen Embryonen, wenn sie erst einmal vorhandensind, nicht auch Schwangerschaften herbeigeführt wer-den? Diese Kontrolle ist doch gar nicht möglich. Waswürde passieren, wenn eine Frau dann wirklich mit einemsolchen Embryo schwanger ist? Wollen Sie dann das Ver-bot des reproduktiven Klonens durchsetzen, indem Sie dieFrau zu einer Abtreibung zwingen? Das kann doch nichtgewollt sein.Meine Damen und Herren, meine Redezeit ist leidervorbei. Ich möchte Sie noch einmal aufrufen: Lassen Sieuns heute ein deutliches Zeichen setzen. Lassen Sie unsschnell und rechtzeitig handeln. Stimmen Sie dem inter-fraktionellen Antrag zuVielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Wodarg,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! „Was neu ist, wird alt, und was gesternnoch galt, stimmt schon heut’ oder morgen nicht mehr“,singt Hannes Wader. Sehr geehrte Kolleginnen, sehr ge-ehrte Kollegen, das stimmt natürlich in besonderem Maßefür den Bereich der molekularen Biologie. Das, was dieEnquete-Kommission noch vor einem Jahr über Stamm-zellen diskutiert hat, ist heute zum Teil schon technolo-gisch auf dem Abstellgleis. Da gibt es neue Entwicklun-gen.Seit einigen Jahren wird uns vor Augen geführt, wiedurch die Technik des Klonierens genetisch weitgehendidentische Kopien von Lebewesen hergestellt werdenkönnen. Das jetzt vorzeitig gestorbene Schaf Dolly oderdas Bild von der Pipette voller Wunschgene, die in eineentkernte Eizelle injiziert werden, sind, genau wie dieDNS-Spirale, moderne Ikonen der Biotechnologie, mitdenen Hoffnungen und Spekulationen verbunden werden,die oft schon fast einen religiösen Charakter anzunehmenscheinen.Wie schnell sich die Erkenntnisse zum Beispiel in derStammzellforschung ändern, haben uns Forscherteamsaus Wisconsin und Köln erst kürzlich gezeigt. Währendwir unser Gesetz zum Import von Stammzellen noch un-ter der Prämisse verabschiedet haben, dass embryonaleStammzellen zwar pluripotent, aber nicht totipotent sind,zeigten sie, dass das nicht mehr stimmt. Sie stellen ganzeidentische Mäuselinien oder Mäuseserien aus Stammzell-kulturen her, die auch genetisch verändert werden kön-nen, die auf Blastozysten wachsen und dann sogar alsweibliche und männliche Mäuse miteinander wieder neueMäuse zeugen können, alle mit gleicher genetischer Aus-stattung. Hier kann man sagen: Dolly ist tot, Klonen istout. Denn es gibt inzwischen neue Technologien. Dasmeinte Herr Winnacker vermutlich, als er von Stamm-zellbanken sprach und in diesem Zusammenhang neueTechnologien in den Vordergrund stellte.Was bleibt, was wir bei alledem nicht vergessen dürfenund was Angehörigen, Pflegekräften und Ärzten in denWohnungen, in den Praxen, in den Heimen und in den Kli-niken täglich vor Augen steht, sind Schweiß, Kot, Blut,Schmerz und die Angst derer, die unsere Sorge und Hilfebrauchen, jetzt und ganz konkret. Ihnen müssen wir hel-fend und aufrichtig gegenübertreten. Sie sind diejenigen,die die Qualität unserer Medizin letztlich am besten beur-teilen können. Ihnen dürfen wir keine falschen Illusionenüber die Vergänglichkeit menschlichen Lebens, über daszum Leben gehörende Sterben machen, auch wenn unsdie eigene Angst vor diesem Schicksal nur allzu oft dazuverleitet.Visionen, Wagemut und Forschung sind trotzdem not-wendig, auch wenn dies den heute Kranken und Sterben-den nur noch wenig nützt. Wir wollen in der neuen En-quete-Kommission „Ethik und Recht der modernenMedizin“ den praktischen Nutzen von Innovationen meh-ren, wir wollen dem Gesetzgeber Instrumente und Regelnvorschlagen, um Wirkung und Nebenwirkung genauer zuunterscheiden und wir wollen, dass Irrwege und Risikenin der Forschung und Entwicklung minimiert werden unddie bedarfsgerechte Nutzung des medizinischen Fort-schritts erleichtert wird.Welche konkreten Aufgaben stehen uns ins Haus? Esgilt, zum Beispiel folgende Frage zu beantworten. Dürfenan nicht einwilligungsfähigen Menschen Forschungenoder klinische Erprobungen durchgeführt werden, auchwenn diese selbst davon keinen direkten Nutzen haben?Wie gehen wir mit jenen um, die uns Ergebnisse von Stu-dien präsentieren, die im Ausland unter bei uns verbote-nen Bedingungen durchgeführt wurden? Welcher interna-tionale Regelungsbedarf ist erforderlich, damit wir inDeutschland, wenn wir die Lücken der Bioethik-Konven-tion geschlossen haben, gemeinsame Richtlinien undGrenzen für die Forschung in Europa oder Forschungs-felder – wenn man es positiv ausdrückt – definieren kön-nen?Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es gibt ein weiteresThema, das drängt. Die Kinderärzte sagen uns, sie brauch-ten mehr Erfahrungen mit den Medikamenten, die beiKindern angewendet werden. In diesem Bereich müssen,und zwar durch klinischen Studien, Erfahrungen gesam-melt werden. Kinder können dem, was mit ihnen gemachtwerden soll, nicht zustimmen. Deswegen müssen wir Re-geln entwickeln, mit denen Erfahrungen gesammelt wer-den können, damit wirksame Medikamente für KinderHubert Hüppe
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Dr. Wolfgang Wodarghergestellt werden können, die nicht über- oder unterdo-siert sind, sondern die ihnen wirklich effizient helfen.Wir haben weitere wichtige Themen in den Antrag auf-genommen. Eines dieser Themen, das noch etwas fremdanmutet, ist die Nanobiotechnologie. Die Nanobiotechno-logie verwischt in einer bisher unbekannten Weise dieGrenzen zwischen Physik und Biologie, zwischen Tech-nik und Natur sowie zwischen Maschine und menschli-chem Körper. So waren kürzlich beispielsweise Berichteüber ein US-amerikanisches Forschungsprojekt zu lesen,in dem es darum geht, die Funktionsweise von Nerven-zellen durch Nanochips zu simulieren. Diese Chips könn-ten, so die Überlegung, später ins Gehirn implantiert wer-den, um ausgefallene Hirnzellen, zum Beispiel bei einerAlzheimererkrankung etwa in der Region des Gedächt-nisses, zu ersetzen. Man könnte so, wenn man das weiter-spinnt, sozusagen eine externe Festplatte entwickeln, diean das Gehirn angedockt werden kann.Ich denke, dieses Beispiel zeigt jedem deutlich, wieviel versprechend die medizinischen Perspektiven dieserneuen Technologie einerseits sind, wie andererseits aberganz neue ethische Fragen auftauchen, wenn wir in dieLage kommen, mit Maschinen und Schaltkreisen auf derNanoebene in die Strukturen und Prozesse des menschli-chen Lebens einzugreifen.
Die Nanotechnologie ist daher, wie ich denke, ein sehrgutes Beispiel dafür, wie die neue Enquete-Kommissionihre Verantwortung wahrnehmen könnte, nämlich ethischrelevante Themen vorausschauend anstatt reaktiv zudurchdenken.
Wir wollen dabei versuchen, dass wir die anstehendenThemen nicht doppelt behandeln. Wir müssen uns mitdem Nationalen Ethikrat und mit anderen Gremien, diesich über Ethik und Recht in der Medizin Gedanken ma-chen, abstimmen und können so Synergieeffekte errei-chen. Das Thema Biobanken ist ein Thema, dessen sichbereits der Nationale Ethikrat angenommen hat, das wiraber auch in der Enquete-Kommission behandeln müs-sen; denn es gibt eine Richtlinie aus Brüssel, die versucht,Maßstäbe für die Gewinnung, Lagerung, Behandlung undVerteilung von Zellen, von menschlichen Geweben zuentwickeln, die wir ins nationale Recht umsetzen müssen.Hier gilt es ganz konkret etwas zu tun. Genauso müssenwir in Deutschland die Umsetzung der Richtlinie zurGood Clinical Practice in nationales Recht vorbereiten.Hierbei geht es um Nichteinwilligungsfähige und um dieBedingungen, unter denen klinische Versuche mit ihnendurchgeführt werden dürfen.Die neue Enquete-Kommission stellt auch im Namendie Ethik vor das Recht und lädt die Öffentlichkeit inDeutschland und auch unsere Nachbarn zur Diskussionüber diese Themen ein. Es gibt ethisch und rechtlich sehrunterschiedliche Regelungen in Europa. Was darf dieForschung mit Embryonen tun? Was ist am Lebensanfanginsgesamt erlaubt? Was darf man am Lebensende? Wassoll verboten bleiben? Hier gibt es einen Streit und einenWettbewerb in der Diskussion in Europa.Man schaut mit großen Erwartungen auf Deutschland.In Deutschland hat es in der vergangenen Legislaturpe-riode einen sehr fruchtbaren Streit über diese Themen ge-geben. Wir haben gezeigt, dass es gut ist, wenn sich dieBundesregierung einerseits und das Parlament anderer-seits für diese Debatte wappnen. Wir haben gesehen, dassdas Interesse der Öffentlichkeit gerade dann steigt, wennnicht nur ein einziges Spezialistengremium arbeitet, son-dern wenn es auch zu Spannungen und unterschiedlichenMeinungen kommt. Das ist nichts Schlechtes.Ich muss meinem Kollegen Hüppe widersprechen. Ichfinde es gut, dass der Kanzler den Nationalen Ethikrathat und dass das Parlament die Ethik-Enquete-Kommis-sion hat. Wir in Deutschland werden uns streiten. Das tunwir fair und nach demokratischen Regeln. Dabei sollenKompromisse herauskommen, hinter denen wir alle ste-hen können und die für die Menschen in unserem Landegut sind.Ich bedanke mich.
Ich erteile der Kollegin Barbara Lanzinger, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Ich bedanke mich bei den Abgeordnetender Fraktionen – für meine Fraktion nenne ich stellvertre-tend Frau Dr. Böhmer –, die die beiden Anträge „Einset-zung der Enquete-Kommission ‚Ethik und Recht dermodernen Medizin‘“ und „Neue Initiative für ein interna-tionales Verbot des Klonens menschlicher Embryonenstarten“ ganz entscheidend mit auf den Weg gebracht ha-ben.
Wir befinden uns in einem ungeheuren Spannungs-und Konfliktverhältnis: einerseits eine immens rasanteund immer schnellere Machbarkeits- und Selektions-medizin und andererseits klare ethische Wertvorstellun-gen, die auf einem christlichen Menschenbild, dem Men-schenbild der christlich-europäischen Wertetradition,basieren. Die Forschung an embryonalen Stammzellen,die Präimplantationsdiagnostik, die Pränataldiagnostik,Abtreibungen, Spätabtreibungen, Euthanasie und Sterbe-hilfe berühren die elementaren Grundwerte unserer Ge-sellschaft. Sie berühren aber auch die Fragen nach demInhalt und der Reichweite elementarer Verfassungsprinzi-pien wie die Menschenwürde, den Lebensschutz oder dieWissenschaftsfreiheit.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in vielen Begeg-nungen, Begleitungen und Gesprächen mit schwerstkran-
2148
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2149
ken und sterbenden Menschen wird uns in der Hospiz-bewegung Tätigen immer wieder sehr bewusst und deut-lich vor Augen geführt, was es heißt zu leben und wiewichtig es ist, gerade am Lebensende über sein Leben, sei-nen Wert, seine unendlichen Zufälligkeiten, das Warumund Wieso und darüber, was es bedeutet, noch oder trotz-dem da zu sein, nachzudenken.Ich sehe es als eine der zentralen politischen und ge-samtgesellschaftlichen Aufgaben an, Werteorientierungzu schaffen und zu leben: vom Beginn des Lebens an, fürdie Art des Individuums und für das Lebensende. Nichtnur als Landesvorsitzende des Bayerischen Hospiz-Ver-bandes ist es mir ungeheuer wichtig, im Namen derschwerstkranken und sterbenden Menschen für ein men-schenwürdiges Leben bis zuletzt einzutreten und dazuklare Vorstellungen in die heute zu beschließende En-quete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Me-dizin“ einzubringen.Gerade in einer Zeit von Kostendruck und Wirtschaft-lichkeit besteht die Gefahr, dass die Menschlichkeit unddie Zeit im Umgang mit schwerstkranken, hilfsbedürf-tigen, alten, behinderten und sterbenden Menschen aufder Strecke bleibt. Ich denke, wir alle gemeinsam tragendie Sorge und das Bemühen, der Gefahr vorzubeugen, Ge-danken an bezahlbar oder nicht bezahlbar, wert oder un-wert gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Ich meine schon, dass es in der heutigen Debatte er-laubt sein muss, laut zu formulieren, dass nicht alles, wasauch wissenschaftlich mach- und planbar ist, alles, waserstrebenswert erscheint und ist, in der Konsequenz aufDauer richtig ist. Nicht alles Mögliche darf machbar sein.
Ich meine auch, dass wir für heute und für die Zukunftklar Stellung beziehen müssen, was Menschsein letztend-lich für uns bedeutet, was wir selbst wert sind, was wir unswert sind, was der Mensch überhaupt und uns noch wertist. Was sind wir für Menschen in einer Gesellschaft, de-ren aktuelle Trends sind: perfekt, maßgeschneidert, freivon Belastungen, be- und verurteilt nach Nützlichkeitund Leistungsfähigkeit, nach die Gesellschaft und dieAllgemeinheit belastenden Erkrankungen?Auch in der Politik müssen wir den Mut haben, unsereAngst zu formulieren.
Nicht die Angst davor, welche Perspektiven, welche Vor-und Nachteile die medizinische Forschung eröffnet, son-dern die Angst davor, ob wir es uns zutrauen, politisch undrechtlich all das abzusichern und in den Griff zu bekom-men, was unwägbar ist und deshalb Angst macht. Ichmöchte klar und deutlich formulieren und dafür einstehen,was wir am Ende für uns und die nachfolgenden Genera-tionen wollen.Ich halte es für enorm wichtig, wie Kant im Imperativzu sprechen: Achte die Menschheit in jedem Menschen!Es darf kein „lebenswert“ oder „lebensunwert“ geben.Der Wunsch nach einem Kind darf nicht das Kind nachWunsch und Maß sein. Wie soll sich ein Mensch ange-nommen fühlen, wenn er von Anfang an weiß, dass er fürbestimmte Wünsche instrumentalisiert wurde oder dass ernicht existieren würde, wenn er die „Endauswahl“ nichtüberstanden hätte?Ich habe in meiner Beratungstätigkeit viele Frauen undFamilien erlebt, die die Möglichkeiten der modernen Me-dizin oftmals verwünschten, nämlich dann, wenn dieDiagnose stand: Ihr ungeborenes Kind ist behindert. DieEntscheidung, ein behindertes Kind zu wollen oder nicht,müssen die Frauen letztendlich alleine treffen. Der psy-chosoziale Druck, die tiefen Emotionen und Gedankenmüssen größtenteils ebenso wie die daraus vielfach ent-stehenden Beziehungskonflikte alleine getragen werden.Eine Pflichtberatung nicht nur bei der Pränataldiagnostikwäre hier dringend anzudenken, wenn nicht sogar zu for-dern.
Ich sehe es als wichtige Aufgabe der Enquete-Kom-mission an, sich unter dem Gebot der Achtung der unter-schiedlichen Persönlichkeiten, der Meinungen, Fragen,Argumente, Erfahrungen und Standpunkte die Zeit zumZuhören und zum Austausch zu nehmen. Wir haben mitdem Embryonenschutzgesetz, mit einer fraktions- undparteiübergreifenden Bereitschaft im Bundestag für eininternationales Verbot des reproduktiven und therapeu-tischen Klonens menschlicher Embryonen einzutreten,eine gute und wichtige Basis für unsere Entscheidungs-findungen.Es ist dringend erforderlich, auf diesen Grundlagen ineinen breiten öffentlichen und gesellschaftlichen Dialogzu den vielen noch offenen und neuen Fragestellungenzum Beispiel zu Biobanken, Gentests, zur Gentechnik beiMenschen und Pflanzen, zur Sterbebegleitung und Pallia-tivmedizin, zu Tod und Sterben, einzutreten und, wennmöglich, auch bei aller Unterschiedlichkeit einen Kon-sens und gemeinsame Antworten zu finden.Ich möchte mit dem Gedicht einer behinderten Frauschließen, die sich in der politischen und gesellschaft-lichen Diskussion zu Ethik und Biomedizin mit allen da-mit zusammenhängenden Themen als betroffen bezeich-net.Lebenswert„im“ Fernsehen, wieder Diskussion,ob ich es wert wäre zu leben.Eugenik, Vorgeburtliche Diagnostik, Euthanasie.Und ich denke mir, mit 15 wäre ich gestorben ohneden medizinischen Fortschritt.Vor 60 Jahren wäre ich vergast worden aufgrunddes ideologischen Fortschritts.In ein paar Jahren würde ich wegen beidem nichtgeboren werden.Wie soll ich leben mit dieser Vergangenheit inZukunft?Barbara Lanzinger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Barbara LanzingerDanke schön.
Ich erteile Frau Dr. Reimann, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte Sie bitten, den Antrag zur Einsetzung der En-quete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Me-dizin“ zu unterstützen. Viele der neuen Erkenntnisse inder modernen Medizin können einen erheblichen Einflussauch auf die Lebenswirklichkeit jedes Einzelnen entfal-ten. Damit ist auch die Politik gefordert. Wir als Parla-mentarierinnen und Parlamentarier im Bundestag müssenuns damit auseinander setzen, um das, was wir wollen,können oder dürfen, gegebenenfalls neu zu justieren.
Häufig wird der Politik vorgeworfen, der dynamischenEntwicklung hinterher zu hinken. Die Enquete-Kommis-sion eröffnet die Chance, die Entwicklung auf Augenhöhezu verfolgen und zu begleiten. Deshalb kann der Bundes-tag als das gesetzgebende Organ unseres Landes nicht da-rauf verzichten, ein solches Expertengremium einzuset-zen. Denn hier werden die Entscheidungen fallen. Dashaben auch schon viele meiner Vorrednerinnen und Vor-redner betont. Die Enquete-Kommission soll rechtliche,ethische, soziale und politische Aspekte der Entwicklungbewerten und Handlungsvorschläge für uns, den Gesetz-geber, erarbeiten.Das Feld, auf dem diese Diskussion innerhalb der En-quete-Kommission stattfinden wird, ist durch das Grund-gesetz bereitet. In Amerika gibt es das so genannte Pursuitof Happiness, das Recht eines jeden Menschen auf einglückliches und erfülltes Leben. In unserer Verfassung istein solches Recht nicht direkt als staatliche Garantie ver-ankert. Dennoch enthält unser Grundgesetz eine Reihevon Regelungen, die allen Bürgerinnen und Bürgern un-seres Landes die gleichen Chancen zur Führung einesglücklichen Lebens garantieren sollen. Ich meine damitdie allgemeinen Menschenrechte und die Schutzrechte,die die Bürgerinnen und Bürger vor gesellschaftlichenFehlentwicklungen bewahren sollen mit dem Ziel, dassjeder und jede die gleichen Möglichkeiten erhält, seinebzw. ihre Lebenschancen zu realisieren.Für unsere Diskussion leitet sich daraus zum einen diePflicht ab, uns schützend vor den Menschen zu stellen,wenn ihm die Gefahr droht, zu einem rein ökonomischenoder materiellen Faktor reduziert zu werden. Lebens-chancen dürfen überdies nicht von vermeintlichen Leit-bildern biologischer Superiorität abhängig sein. Wir sindauf der Basis unseres Grundgesetzes verpflichtet, dieMenschenwürde des Individuums gegen den optimiertenMenschen zu verteidigen.
Zum anderen beschränkt sich die grundgesetzliche For-derung von Chancengleichheit aber nicht auf die Abwehrvon Fehlentwicklungen. Wir sind darüber hinaus auch ge-halten, aktiv an der Schaffung von gleichen Vo-raussetzungen und gleichen Chancen für alle mitzuwirken.Was hat moderne Medizin nun mit Chancengleichheitzu tun? Noch immer ringen wir mit einer Vielzahl vonKrankheiten, die die Betroffenen aus der Mitte des Lebensreißen und für die es bislang kein anderes Rezept gibt, alssie als Schicksal zu akzeptieren. Das Risiko unheilbarerKrankheiten – ich will keine nennen, um keine auszu-grenzen – ist nur in wenigen Fällen wirklich beeinfluss-bar. Es kann jeden und jede treffen, weil der blinde Zufalldas einzige Prinzip ist.Meine Damen und Herren, es ist ein Menschheits-traum, die Macht solcher Schicksalsschläge zu mindernoder gar gänzlich aus der Welt zu schaffen. Es gibt wohlkeine größere Ungerechtigkeit als die Unausweichlich-keit einer Erkrankung, die jeden ohne eigenes Ver-schulden treffen kann. Wir werden immer mit Krank-heiten leben müssen. Aber dort, wo sich aus dermedizinischen Forschung Optionen zur Behandlung vonKrankheiten ergeben, sind wir verpflichtet, das Möglichezu tun, um den Erkrankten die gleichen Chancen zu eröff-nen, die für die Gesunden selbstverständlich sind.
Heilungschancen sind Lebenschancen, die wir den Be-troffenen nicht ohne weiteres verweigern dürfen. Dazuverpflichtet uns auch der Gedanke der Chancengleichheit.Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit sind die Koor-dinaten sichtbar, innerhalb deren wir die Diskussion in derEnquete-Kommission zu führen haben. Wir begeben unsin ein Spannungsfeld, in dem sich die Teilziele unsererVerfassung nicht selten in Widerspruch zueinander befin-den. Hier werden wir sicherlich schwierige Debatten zuführen haben, denn einfache Antworten gibt es auf diekomplexen Fragen der Biopolitik nicht.
Eine intensive Auseinandersetzung, die von Akzeptanzund Respekt aller Standpunkte getragen sein muss, ist not-wendig, um in Bezug auf eine Fortentwicklung biomedi-zinischer Forschung unsere Koordinaten zu bestimmenund diese Diskussion in die breite Öffentlichkeit zu tragen.
Dafür ist die Enquete-Kommission meiner Ansicht nachdas geeignete Instrument; deshalb bitte ich Sie, ihrer Ein-setzung zuzustimmen.Des Weiteren bitte ich Sie, dem interfraktionellen An-trag „Neue Initiative für ein internationales Verbot des
2150
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2151
Klonens menschlicher Embryonen starten“ zuzustimmen.Niemand will das Klonen von Menschen, ich auch nicht.Deshalb habe ich von Anfang an an diesem interfraktio-nellen Antrag mitgearbeitet.Das Entsetzen und das Unverständnis über die Ankün-digung der Geburten angeblicher Klonkinder, die in derletzten Woche wieder die Runde machte, ziehen sichdurch alle gesellschaftlichen Gruppen und alle Fraktio-nen in diesem Haus. Ich begrüße es deshalb, dass wirdiese gemeinsame Ablehnung durch einen gemeinsa-men interfraktionellen Antrag betonen und die Bundes-regierung unterstützen, sich auf der Grundlage unserernationalen Gesetzgebung bei den internationalen Ver-handlungen für ein möglichst umfassendes Klonverboteinzusetzen.Ich danke Ihnen.
Nächste Rednerin in der Aussprache ist die Kollegin
Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ent-wicklung der biomedizinischen Forschung vollzieht sichsehr rasant. Die Fortschritte in der Intensiv- und Trans-plantationsmedizin, in der Humangenetik und in derEmbryologie brachten die Medizin immer näher an dieGrenzen der Ethik und der Menschenrechte heran oderüberschritten sie gar. Gerade hatten wir das KlonschafDolly verdaut, entschlüsselte Craig Venter das humaneGenom. Im letzten Jahr wollten verbrecherische Scharla-tane gar ein Kind geklont haben.Gleichwohl leisten Forschung und Technologie einenbedeutenden Beitrag zur Bewältigung der gesellschaft-lichen, ökonomischen und ökologischen Herausforderun-gen im 21. Jahrhundert. Sie bieten die Chance, zur Lösungzahlreicher globaler Probleme im Zusammenhang mitGesundheit, Alter, Ernährung, Bevölkerungswachstum,Welternährung, Umwelt und nachhaltiger Entwicklungbeizutragen. Die Reichweite des wissenschaftlich-techni-schen Fortschrittes wirft jedoch dort, wo neue Optionendes Eingriffs in Mensch und Natur geschaffen werden,Fragen an die Verantwortung der Wissenschaft und derGesellschaft auf. Es geht um unsere Verantwortung für dieeine Umwelt ebenso wie für den Schutz der Würde desMenschen und die Wahrung der Grundrechte und Grund-freiheiten, die im Grundgesetz und in der Konvention desEuroparates verankert sind.Die Enquete-Kommission der vergangenen Legislatur-periode hat mit ihrer Arbeit zu einer breiten öffentlichenDebatte über die Chancen und Risiken der Gentechnikin der Gesellschaft beigetragen. Sie hat zudem verdeut-licht, dass solche wichtigen Entscheidungen in den Deut-schen Bundestag und nicht in außerparlamentarischeKommissionen, Räte oder Runden gehören. Die neueEnquete-Kommission wird sich ebenfalls mit den Fragendes Rechts und der Ethik der modernen Medizin befassen.Von rund 30 000 Krankheitsbildern können wir unge-fähr 10 000 mehr oder weniger gut behandeln. Die Ge-nomforschung und die Molekularbiologie werden dieMedizin revolutionieren. Trotzdem wird es immer ein Le-ben mit Krankheiten geben. Technologieentwicklung und-anwendung auch im Bereich der Medizin sind konkretemenschliche Handlungen. Sie sind in unser historisches,kulturelles und rechtliches Umfeld eingebettet, das wirgestalten. Technik kommt also nicht von außen über uns;sie ist deshalb nicht als solche gut oder schlecht.Auch die Annahme, Wissenschaft und Technik seienvoneinander zu trennen, man solle sich mit dem reinenVerstehen begnügen, das gewonnene Wissen jedoch nichtanwenden, führt in die Irre.
Eine Gesellschaft, die das Wissen über komplexe Vor-gänge unseres Lebens als Problem und nicht als Chancefür die Zukunft begreift, geht in eine Sackgasse.
DieBiotechnologie ist für die erste Hälfte des 21. Jahr-hunderts wohl das, was der Computer für die letzte Häl-fte des 20. Jahrhunderts war. Die Folgen sind ungeheuer,ihr potenzieller Nutzen ist riesig. Es gibt Zweifler, die sa-gen, Aspekte dieser wissenschaftlichen Forschung seiengrundsätzlich unerwünscht, und es gibt Apologeten derMachbarkeit um jeden Preis. Ich sage Ihnen: Lassen wirunsere Wissenschaft doch erst einmal Fakten herausfin-den und urteilen wir danach. Unsere verantwortlich han-delnden Wissenschaftler haben es verdient, dass wir ihnenund ihrer Arbeit das nötige Vertrauen entgegenbringen.
Die Menschen wissen, dass ihr Leben immer umfas-sender von Wissenschaft und Technik abhängt. Sie wissenaber auch: Die moderne Wissenschaft und die moderneTechnik haben sich in einem ungeheuren Ausmaß als demLeben dienlich, lebenserhaltend und lebenserleichternderwiesen.Wissenschaftliche Erkenntnis und Ethik gehören zu-sammen. Sie bestimmen gemeinsam den Fortschritt derMenschheit. Die wissenschaftliche Innovation ist der Mo-tor und die Ethik der Fahrer. So haben die gentechnischeRevolution und neue Wege in der medizinischen Grund-lagenforschung die Frage nach der Würde des Menschensowie nach dem Verhältnis zwischen elementaren Men-schenrechten und der Freiheit von Wissenschaft und For-schung in den Mittelpunkt der öffentliche Debatte ge-rückt.Viele wissenschaftliche und ethische Fragen der Bio-medizin konnten in der Enquete-Kommission der vergan-genen Wahlperiode nicht angesprochen werden, wie zumBeispiel Gene Farming, Nanobiotechnologie, Pharmako-genomik, Nahrungsmittel, Nahrungsmittelsicherung. Aberauch Fragen im Zusammenhang mit dem Ende desmenschlichen Lebens wurden nicht untersucht. Es gehtDr. Carola Reimann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Katherina Reicheum den Umgang unserer Gesellschaft mit neuen Erkennt-nissen und Möglichkeiten, aber auch um die Frage, wiesie mit ihren grundlegenden Werten umgehen will. DieseEntwicklungen haben erst begonnen, unser Leben zu be-einflussen, und stellen künftig in noch höherem Maßeeine Herausforderung an die Gesellschaft dar.Dies alles geschieht in einem internationalen Rah-men. Wer internationale Vereinbarungen daran misst, obsie die eigenen sittlichen Überzeugungen hinlänglich zumAusdruck bringen, verwechselt Recht und Ethik. Wer völ-kerrechtliche Vereinbarungen über Mindestnormen alsBedrohung nationaler Rechtsregeln betrachtet, verkenntden Sinn dieses Rechts und traut zudem dem Rechtsbe-wusstsein im eigenen Land wenig zu.
Immer dort, wo unterschiedliche Traditionen in Rechtund Ethik berücksichtigt werden müssen, sind Verein-barungen ganz besonders schwierig zu erreichen. DieDurchsetzung eigener Maximalforderungen gelingt leiderselten, während Kompromisse der Normalfall sind.
Wir sind aufgefordert, verbindliche und unseren ethi-schen Überzeugungen entsprechende rechtliche Standardszu entwickeln, die zugleich eine Weiterentwicklung, einepraktische Anwendung der wissenschaftlichen Erkennt-nisse zugunsten von Mensch, Natur und Umwelt ermög-lichen. Die Forscher wiederum sind aufgefordert, an derErarbeitung dieser Standards mitzuwirken. Es geht umunsere gemeinsame Verantwortung gegenüber der Würdedes Menschen, gegenüber der natürlichen Umwelt undebenso gegenüber dem hohen Gut der unabdingbarenFreiheit von Wissenschaft und Forschung. In Bezug aufdie ethischen Prinzipien und Werte, die für einzelne bio-medizinische Felder relevant sind, muss ein angemesse-ner Ausgleich angestrebt werden. Eine Verengung auf eineinziges Prinzip ist wenig hilfreich. Es ist die Pflicht vonStaat und Wissenschaft, die Forschung für Prävention,Diagnostik und Therapie zu unterstützen. Die moralischeVerpflichtung zu gesundheitsbezogener Forschungmuss stärker als in der Vergangenheit Eingang in den Dis-kurs finden. In diesem Sinne wünsche ich mir die Arbeitder Enquete-Kommission.
Das Wort hat nun die Kollegin Kühn-Mengel, SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kollegin-nen! Es ist vornehmste und originäre Aufgabe einerEnquete-Kommission, Raum zu geben für die ethischen,rechtlichen, wissenschaftlichen, ökonomischen und For-schungsfragen, die mit dem Tempo fortschreitender Ent-wicklungen in Biologie und Medizin zusammenhängenund die auch das im Grundgesetz verankerte Konzept derMenschenwürde berühren. Diesen Diskussionen Raum zuschaffen, daraus auch gesetzgeberische Initiativen zu ent-wickeln, das ist Aufgabe der Enquete-Kommission, diejetzt fortgeführt werden soll, was wir alle begrüßen.Zwischen Ablehnung und Akzeptanz, zwischen Furchtvor dem Machbaren und Hoffnung auf therapeutischeMöglichkeiten entsteht das gesellschaftliche Konflikt-potenzial, über das hier diskutiert werden muss. Dem Wis-senschaftler unterstellen wir eine wichtiges Forschungs-ziel, wenn er Stammzellen verwendet, um Therapiengegen Diabetes zu entwickeln. Wenn aber Geschwister-kinder als lebende Organspender geplant werden, sehenwir, wo die Grenzen der Möglichkeiten – sie bringen vieleethische Fragen mit sich – entstehen.
Wir Abgeordnete sind in der Pflicht, dem DeutschenBundestag ein Instrument in die Hand zu geben, mit demdem Parlament die Ergebnisse einer breit geführten Dis-kussion zur Verfügung gestellt werden. Die letzte Kom-mission hat genau diesen Diskurs in – so meine ich – vor-bildlicher Weise initiiert, sie hat das Spannungsfeldzwischen Ethik und moderner Medizintechnologie aufge-griffen, widergespiegelt und eine vertiefende Diskussiongeleistet. Sie hat alle betroffenen Gruppen, Institutionenund Verbände, viele Wissenschaftler und Wissenschaftle-rinnen berücksichtigt und damit unter Beweis gestellt,dass man diese schwierigen Fragen aufbereiten und in dieparlamentarische Diskussion einbringen kann.Die Kommission war dabei sehr erfolgreich. Ich erin-nere an wichtige Themen, die aufgegriffen wurden und ingesetzgeberische Initiativen mündeten. Ich erinnere andie Europäische Grundrechte-Charta – das Europä-ische Jahr der Menschen mit Behinderung ist angespro-chen worden –; die Enquete-Kommission hat dafür ge-sorgt, dass der Artikel gegen die Diskriminierungverankert wurde. Er bezieht sich nicht nur auf die Diskri-minierung wegen des Geschlechts oder der Zugehörigkeitzu einer ethnischen Gruppe, sondern das Diskriminie-rungsverbot bezieht sich auch auf die genetische Ausstat-tung. Diese ganz wichtige Ergänzung wurde zu Beginnder Arbeit der letzten Enquete-Kommission geleistet.
Wir haben zum Stammzellenimport, zur Biopatent-richtlinie, zur Präimplantationsdiagnostik, zur Stammzel-lenforschung und zu den genetischen Daten wichtige Dis-kussionen geführt. Dank der engagierten Debatte mitSachverständigen und Verbänden haben wir die Gesetz-gebungsverfahren begleitet. Die Arbeit der Kommissionhat entscheidend dazu beigetragen, für einen zugespitztenbioethischen Konflikt in kürzester Zeit eine weithin ak-zeptierte Kompromisslösung zu finden. Denken Sie an denBereich der Forschung mit embryonalen Stammzellen.Bei all dem haben wir größten Wert darauf gelegt, dassTransparenz und Beteiligung der Öffentlichkeit gewähr-leistet waren. Nur selten hat eine Kommission so viel Be-achtung in der Bevölkerung und den gesellschaftlichenGruppen gefunden; das war gewollt und muss auch dieses
2152
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2153
Mal Ziel sein. Ich möchte nur an die große Veranstaltungin Bethel erinnern, bei der wir mit den Betroffenen undihren Familien und mit den Verbänden über unsere Arbeitdiskutiert haben.Auch die Themen, die jetzt noch zu behandeln sind,sind hoch brisant. Darauf haben wir auch im Abschluss-bericht hingewiesen. Sie reichen von Gentests über Ein-griffe in das menschliche Erbgut, reproduktives undtherapeutisches Klonen, Forschung an nicht einwilli-gungsfähigen Menschen bis hin zur Übertragung tieri-scher Organe auf Menschen und den damit verbundenenethischen Fragen. Dazu gehört auch all das, was sich zuBeginn und am Ende des Lebens abspielt, auch das istschon einige Male angesprochen worden. Bitte vergessenSie auch nicht die Auswirkungen auf die gesellschaft-lichen Gruppen, so sind beispielsweise die frauenpoliti-schen Aspekte bei vielen Diskussionen zu kurz gekommen.
Die Pluralität der Weltanschauungen in unserer Gesell-schaft bringt Wertevielfalt, aber auch Werteunsicherheitmit sich. Ich glaube, dass die Enquete-Kommission dazubeitragen kann, eine geordnete und gleichzeitig breiteDiskussion zu führen und gute Grundlagen für gesetzlicheRegelungen zu schaffen. Insofern wünsche ich der neuenEnquete-Kommission, die jetzt „Ethik und Recht“ statt„Recht und Ethik“ heißt, für ihre Arbeit guten Erfolg.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Helmut Heiderich,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ineinem Bereich herrscht international – ich denke, auch un-ter uns – nahezu Einmütigkeit: Das Klonen zur Erzeugungmenschlicher Duplikate wird fast unisono abgelehnt.Selbst die Chinesen, denen häufig eher ein lockerer Um-gang mit bioethischen Fragen nachgesagt wird, habenletzte Woche öffentlich und entrüstet die Meldung zurück-gewiesen, in China sei möglicherweise ein geklontesMenschenkind geboren worden.Anders ist die Situation bei dem, was man hierzulandeüblicherweise „therapeutisches Klonen“ nennt, ein, wieich meine, völlig irreführender Begriff.
Deswegen setze ich mich sehr dafür ein, dass diese Formdes Klonens anders, nämlich so genannt wird, wie sietatsächlich ist: „destruktives Klonen“. Wir sollten begin-nen, diese Begriffe gegeneinander auszutauschen.
Ich habe oft den Eindruck, dass in der Debatte über die-sen Punkt doch manches durcheinander geht. Deswegenmöchte ich mich ausschließlich mit dieser Frage ausei-nander setzen.Warum haben wir uns nach unserem Besuch mit einerkleinen Gruppe beim deutschen UN-Botschafter für einVerbot dieser Technologie so stark gemacht? Gibt es dochnoch immer die Argumentation, dieser sei ein Weg zurHeilung chronischer oder degenerativer Krankheiten unddeswegen dürfe man diesen Weg nicht verbauen.
Welches sind die Versprechungen, die immer wiedervorgetragen werden, Frau Flach? Ich möchte sie einmalauflisten: Erstens. Man hofft, durch Übertragung eines er-wachsenen Zellkerns in eine menschliche Eizelle Zellma-terial zu gewinnen, das keine Immunabwehr auslöst,wenn es in den Körper des Patienten rückübertragen wird.Dieser Effekt erscheint zwar theoretisch möglich, ist aberbisher völlig unbewiesen.
Überhaupt beinhalten alle Argumente, die von den Befür-wortern dieser Technologie angeführt werden, mehr Hoff-nung als Heilung. Sie sind mehr Science-Fiction alsScience. Bei den Versuchen, die bisher unternommenworden sind – es gibt ja einige Hinweise –, hat sich ehergezeigt, dass es doch zu einer Immunreaktion kommt, of-fenbar weil die verbliebene mitochondriale DNA der Ei-zelle nicht ohne Auswirkung auf den Klon bleibt.Zweitens. Die nächste Hoffnung, die verbreitet wird,besteht darin, schwere genetische Erkrankungen durchKlonen von Zellkernen sozusagen in der Petrischale ab-bilden, den Patienten also auf seinen Klon reduzieren zukönnen. Am geklonten Zellmaterial sollen dann die mu-tierten Gene aufgespürt und soll die krankheitsverursa-chende Expression herausgefunden werden. An diesenInvitro-Modellen menschlicher Krankheiten könne mandie molekularen Zellmechanismen unabhängig vom Pati-enten erforschen. Hätte man sozusagen die Modelle ein-zelner Patienten, könnte man daran auch weitergehendepharmazeutische und chemische Behandlungsmethodentesten, ohne den Kranken selbst belasten zu müssen. Soweit die Versprechungen.Wie aber sind die Fakten? Mitte vergangenen Jahreshat die Firma ACT in Wisconsin einen solchen Klonver-such unternommen. Von 19 Eizellen mit ausgetauschtemZellkern ließen sich 16 nicht zum Leben erwecken. Diedrei verbliebenen stellten im Sechszellstadium jede wei-tere Entwicklung ein. Andere Spitzenwissenschaftler ha-ben uns berichtet, dass nach ihren Forschungen prinzi-pielle biologische Barrieren bestünden – man muss wohlsagen: glücklicherweise –, die solche Klonvorgänge viel-leicht dauerhaft verhinderten.Nehmen wir aber einmal an, dass es wirklich gelänge,solches Klonen möglich zu machen. Was würde das be-deuten? Man bräuchte – darauf ist schon vorhin hinge-wiesen worden – Tausende menschlicher Eizellen, um dieBehandlung eines einzigen Menschen zu ermöglichen.Das heißt doch, in den Petrischalen der Labors müsstetausendfach junges Leben heranwachsen, um dann zer-stört und zu medizinischem Rohstoff für einen einzigenHelga Kühn-Mengel
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Helmut HeiderichKranken verarbeitet zu werden. Das ist der Hintergrunddessen, was man so euphemistisch als therapeutischesKlonen bezeichnet.
Ist das wirklich die Hoffnung, für die wir dieses For-schungsfeld offen halten sollten?Ich meine, es gibt längst andere und langfristig bessereWege. Vor kurzem hat zum Beispiel die Gruppe vonFrancis Thomson in Wisconsin mit dem deutschen Kolle-gen Thomas Zwaka das Ein- und Ausschalten einzelnerGene im menschlichen Zellkern möglich gemacht. Damitkönnte man zukünftig Krankheitsbilder in der Petrischalesimulieren, ohne Menschen klonen zu müssen. AnderenForschern ist es im Tierversuch gelungen, schon ausdiffe-renzierte Zellen über zwei Stufen zurückzuentwickeln.Die damit verbundenen Erkenntnisse könnten der For-schung mit adulten Stammzellen ein völlig neues Poten-zial geben.Es gibt also nach meiner Auffassung – es ist mir ganzwichtig, darauf hinzuweisen, weil immer wieder Gegen-teiliges behauptet wird – auch keinen wissenschaftlichenGrund, Klonen, gleich welcher Art, als Hoffnungsstrate-gie zu betrachten. Auch deswegen fordere ich dazu auf,nicht länger von therapeutischem, sondern von destrukti-vem Klonen zu sprechen.
Ich meine, dass wir auch der Biowissenschaft insge-samt einen Dienst erweisen, wenn wir diese zweifelhafteund unakzeptable Art und Weise wissenschaftlicher For-schung von vornherein ausschließen und damit die Bio-wissenschaften von dem Ruch befreien, ethisch und mo-ralisch fragliche Technologien anzuwenden. MeinerMeinung nach gibt es für uns eine moralische und ethi-sche Verpflichtung, den Weg zur breiten Anwendung ei-ner solchen menschenverachtenden Technologie rechtzei-tig zu verbarrikadieren. Deswegen muss unser Antrag vonnun an auch international umgesetzt werden.
Dafür zu sorgen ist unser Auftrag und ist unsere morali-sche Pflicht. Dem müssen wir gemeinsam nachkommen.Auch in den USA – das ist vorhin hier angesprochenworden – gibt es längst vergleichbare Initiativen. Mir liegtein Antrag vor, der vor wenigen Wochen im amerikani-schen Senat eingebracht worden ist. Auch in diesem An-trag wird dazu aufgefordert, alle Verfahren des Klonenszu verbieten. Der ganze Antrag umfasst – den Amerika-nern gelingt das manchmal sehr schön – nicht mehr alseine Seite. Vielleicht können wir uns daran ein Beispielnehmen. Man spricht sich in diesem Antrag sehr deutlich,sehr einfach und sehr klar gegen diese Form der Entwick-lung, die ich destruktives Klonen nenne, aus.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jörg
Tauss, SPD-Fraktion.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Gestatten Sie mir, zusammenfassend einige Aspekteanzusprechen. Ich begrüße es sehr, dass der gemeinsameAntrag für ein internationales Verbot des Klonens zu-stande gekommen ist. Hierzu gab es bereits im letzten Jahreine klare rot-grüne Position. Es wäre meines Erachtensnicht unbedingt notwendig gewesen, dem etwas folgen zulassen. Aber nachdem es über Weihnachten eine reichlichunseriöse Pressekampagne einer, was das Klonen anbe-langt, wesentlich unseriöseren Sekte gab, ist die politischeDiskussion über dieses Thema neu aufgeflammt. Das Er-gebnis, das uns vorliegt, ist gut, auch wenn sein Zustan-dekommen auf einer, wie gesagt, weniger seriösen Grund-lage beruht.Allerdings führte und führt dieser Ausgangspunkt beieinigen Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause – auchbei solchen aus unserer Fraktion – durchaus zu Unwohl-sein. Ich verstehe diese Empfindungen durchaus. Sie resul-tieren aus der Sorge, dass durch ein striktes Nein seriöseForschung zum Wohle der Menschen möglicherweise ge-fährdet wird.
Ich sage deutlich: Ich teile diese Sorge nicht. Auch dieDeutsche Forschungsgemeinschaft hat klar zum Aus-druck gebracht, dass das therapeutische Klonen aus wis-senschaftlicher Sicht kein Thema ist. Frau Flach, wirbrauchen wirklich nicht wissenschaftlicher als die Wis-senschaft selbst zu sein. Das ist nicht unsere Aufgabe.
An dieser Stelle können wir auf die Wissenschaft hören.Aus diesem Grunde spricht auch nichts dagegen,diese Position, die wir hier gemeinsam haben, in die in-ternationalen Verhandlungen einzubringen. Ich kannnur nochmals betonen: Dieser Bundesregierung gebührtdas Verdienst, in diesem Bereich als erste internationaltätig geworden zu sein. Das ist ein Erfolg deutscherAußenpolitik. Wir werden diesen Weg weiter beschrei-ten.
Alle diese Argumente sind seriös genug, um hier keineHorrorszenarien frankensteinscher Art entwerfen zu müs-sen. Herr Hüppe, Sie haben immer wieder eine paar fran-kensteinsche Ansätze gehabt. Ich teile Ihre Kritik, dass inder Ethikkommission mehr Forscher als Ethiker seien, inkeiner Weise. Wer dies so formuliert, impliziert damit,dass Forschung als solche nicht ethisch sei und dass dieForscher nicht ethisch arbeiteten. Dies müssen wirzurückweisen.
2154
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2155
Ich habe großen Respekt vor der Arbeit des Nationa-len Ethikrats. Ich weiß überhaupt nicht, wie man dazukommen kann, dieses Gremium einer demokratisch ge-wählten Regierung als undemokratisch zu bezeichnen.Ich danke Herrn Simitis und den Mitgliedern des Ethik-rats ausdrücklich für die Arbeit, die sie in der Vergangen-heit geleistet haben.
Auch wenn ich einer derjenigen bin, die gern Schärfein die Debatte bringen und in Diskussionen kein Kind vonTraurigkeit sind – ich räume dies durchaus ein; Sie setzensich damit ja gelegentlich auch fröhlich auseinander –,muss ich doch eines sagen, Kollegin Nickels. Ich emp-fehle, bei Themen wie PID und Behinderte sprachlich et-was abzurüsten. Viel von dem, was Sie hier gesagt haben,kann ich absolut nicht akzeptieren.
Sie haben davon gesprochen, dass als Nonplusultra dieEthik des Heilens beschworen wird. Niemand hat hiereine Ethik des Heilens beschworen. Die Ethik des Heilensist aber durchaus ein Wert.Frau Böhmer, die Interpretation dessen, was in Art. 1 desGrundgesetzes zum Thema Menschenwürde steht, würdeich schon ganz gern weiterhin dem Bundesverfassungsge-richt überlassen. Es kann hierbei nicht um Positionen vonPersonen gehen, die ich persönlich sehr respektiere,
die aber – auch dies sollte klar gesagt werden – in vielenPunkten mit der Rechtsprechung zu Art. 1 nicht im Ein-klang stehen.
Mit diesen Fragen und mit den Grenzen des medizini-schen Fortschritts wird sich die Enquete-Kommission aus-einander zu setzen haben. Sie wird sich viele neue span-nende Themen auf die Tagesordnung setzen. Ich war amAnfang sehr skeptisch, ob es Sinn macht, eine solche En-quete-Kommission wieder einzurichten, möglicherweiseauch zu Themen, die bereits in der letzten Legislaturperi-ode abgehandelt worden sind. Es sind wichtige neue Fra-gen, beispielsweise zum Sterben, aufgeworfen worden.Ich hoffe, dass die Enquete-Kommission diese Fragen auf-greift. Ich hoffe auch sehr, liebe Kolleginnen und Kollegen– das geht an diejenigen, die Mitglied der Enquete-Kom-mission sein werden –, dass diese Enquete-Kommission inder Lage sein wird, jenseits von Vorfestlegungen unvor-eingenommen an ihre Aufgaben heranzugehen.Ich freue mich auf spannende Diskussionen zur For-schungspolitik zwischen Ihnen und mit Ihnen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Frak-tionen der SPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/ DieGrünen auf Drucksache 15/464 mit dem Titel: „Einset-zung einer Enquete-Kommission ‚Ethik und Recht dermodernen Medizin‘“. Wer stimmt für diesen Antrag? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag istmit den Stimmen der SPD-Fraktion, der CDU/CSU-Frak-tion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ge-gen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Damitist die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der mo-dernen Medizin“ eingesetzt.Ich darf hinzufügen, dass die von den Fraktionen zu be-nennenden Mitglieder die guten Wünsche des ganzenHauses bei der Erledigung dieser ebenso wichtigen wieschwierigen Aufgabe begleiten.
Wir stimmen nun ab über den Antrag der Fraktionen derSPD, der CDU/CSU und des Bündnisses 90/Die Grünenauf Drucksache 15/463 mit dem Titel: „Neue Initiative fürein internationales Verbot des Klonens menschlicher Em-bryonen starten“. Dazu liegen mir drei Erklärungen zurAbstimmung vor, die jeweils von mehreren Abgeordnetenunterschrieben sind.Es gibt eine Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnungder Abgeordneten Rolf Stöckel, Kurt Bodewig, SiegmundEhrmann und anderer1) – ich muss die Namen nicht im Ein-zelnen verlesen; das wird ja im Protokoll festgehalten –, mitder diese Kollegen begründen, warum sie dem Antragnicht zustimmen können.Es gibt eine weitere Erklärung zur Abstimmung derKollegen Petra Selg, Werner Schulz, Dr. Uschi Eid undJerzy Montag, die diesem Antrag zwar zustimmen wollen,für ihr Abstimmungsverhalten aber eine persönliche Er-klärung abgeben möchten.2)Drittens schließlich gibt es eine Erklärung zur Abstim-mung der Kollegen Dr. Martin Mayer, GeorgFahrenschon, Peter Hintze und Ursula Heinen, die diesemAntrag nicht zustimmen wollen.3)Ich stelle nun den Antrag auf Drucksache 15/463 zurAbstimmung. Wer stimmt für diesen Antrag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – DerAntrag ist mit den Stimmen der großen Mehrheit der Mit-glieder der SPD-Fraktion, der CDU/CSU-Fraktion undder Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim-men der FDP-Fraktion bei einigen Enthaltungen aus derCDU/CSU-Fraktion angenommen.
– Es gab einige Gegenstimmen bei der SPD-Fraktion.
Jörg Tauss1) Anlage 22) Anlage 33) Anlage 4
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Vizepräsident Dr. Norbert Lammert– Davon kann sicher keine Rede sein, Herr Kollege. Überdas Mehrheitsverhältnis gibt es ganz offenkundig keineMeinungsverschiedenheit.Damit ist dieser Antrag angenommen.Wir kommen zum Antrag der Fraktion der FDP aufDrucksache 15/314 mit dem Titel „Reproduktives Klonenweltweit verbieten – das Machbare schnell umsetzen“.Abweichend von der Tagesordnung soll über den Antragheute abgestimmt werden. Wer stimmt für diesen Antragder FDP-Fraktion? – Wer stimmt gegen den Antrag? –Wer enthält sich der Stimme? – Dieser Antrag ist mit dergroßen Mehrheit der Stimmen aus allen anderen Fraktio-nen bei einigen Enthaltungen sowohl aus der SPD-Frak-tion als auch aus der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 sowie den Zu-satztagesordnungspunkt 2 auf:4. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungStraßenbaubericht 2002– Drucksache 15/265 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Tourismusb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBericht zum Ausbau der Schienenwege 2002– Drucksache 15/280 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Tourismusc) Erste Beratung des von den Abgeordneten HorstFriedrich , Joachim Günther (Plauen),Daniel Bahr , weiteren Abgeordnetenund der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfseines Dritten Gesetzes zur Änderung des Ver-kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes– Drucksache 15/221 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
RechtsausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZP 2 Erste Beratung des von den Abgeordneten ArnoldVaatz, Dirk Fischer , Eduard Oswald,weiteren Abgeordneten und der Fraktion derCDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Änderung des Verkehrswegeplanungs-beschleunigungsgesetzes– Drucksache 15/461 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
RechtsausschussAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für dieAussprache 90 Minuten vorgesehen. – Dazu höre ich kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst derBundesminister Manfred Stolpe.Dr. h. c. Manfred Stolpe, Bundesminister für Ver-kehr, Bau- und Wohnungswesen:Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Ihnen liegen Berichte zum Straßenbau und zum Aus-bau der Schienenwege im Jahr 2001 vor. Das sind zweiDokumente, die in die Hand zu nehmen sich lohnt. Sie allesind nämlich irgendwo davon betroffen und, wie ichhoffe, damit auch weithin zufrieden.Wir haben die gute Erfahrung gemacht, dass diesesParlament für dieses Jahr 8,5 Milliarden Euro für die Aus-baumaßnahmen bei Straße und Schiene bereitgestellt hat.Wir haben dankbar erleben können, dass Planungsbehör-den der Länder und des Bundes in enger, intensiver Zu-sammenarbeit dazu beigetragen haben, dass die zum Teilschwierigen Projekte bewegt werden konnten. Wir habenerlebt, dass Projektanten, Architekten, Ingenieure, leis-tungsstarke Unternehmen und nicht zuletzt Tausende vonFachleuten dazu beigetragen haben, dass sich die Ver-kehrsinfrastruktur in Deutschland ein Stück weit verbes-sern konnte.
Meine Damen und Herren, diese Maßnahmen halfendabei, Staus abzubauen; so wurden – das brauchen wirdringend – Brücken über Rhein und Main gebaut. Die A 2von Hannover bis Berlin ist fertig geworden. Vom Kame-ner Kreuz wurde die A 1 in Richtung Wuppertal weiterausgebaut. Nicht zuletzt ist auch der Bau der Bahnstreckevon Köln in die Region Rhein-Main schon in jenem Jahrerheblich vorangekommen. Ähnliches gilt für Strecken inBayern, so von Nürnberg über Ingolstadt nach München.Dabei sind aber auch Verkehrsbauten, die benachteiligteRegionen besser an das Wirtschaftsleben in Deutschlandinsgesamt anbinden; hier ist speziell im Schienenbereicheine Menge im Osten Deutschlands getan worden. Auchder Bau der A20 ist in jenem Jahr, aber auch im letzten Jahrerheblich vorangetrieben worden. Hier ist viel bewegt wor-den; sie wird insgesamt eine große Bedeutung gewinnen.Lassen Sie mich bei einer solchen Gelegenheit auch sa-gen: Da wurden Verkehrsbauten errichtet, die Architektur-und Ingenieurgeschichte schreiben und auf die wir stolzsein können.
Ich kann nur raten, sich gewisse Brückenbauten einmal inRuhe anzusehen, zum Beispiel die, die in Thüringen er-richtet wurden. Darauf können wir durchaus mit Freudeschauen.Aber nicht nur das schnellere Vorankommen des Ein-zelnen im Verkehrsgetriebe, auf das wir stolz sind undworüber wir uns freuen, ist die Aufgabe von mobilitäts-verbessernden Maßnahmen und Verkehrsbauten. Nein,Mobilität ist mehr: Mobilität ermöglicht modernes Le-
2156
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2157
ben. Mobilität ermöglicht Produktivitätssteigerung. Wirmüssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass ungefähr dieHälfte der gesamten Produktivitätsleistung in Deutsch-land abhängig von den Verkehrsleistungen des Systemsist. Nicht zuletzt schafft Mobilität auch Arbeit. Mehr als10 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutschland sind unmit-telbar mit dem Erbringen von Verkehrsleistungen verbun-den; indirekt hängen davon weitaus mehr ab.
Ich möchte dafür werben, dass Verkehrsinfrastruktureine Vorrangaufgabe bleibt. Zu dem jetzigen Verkehrsvo-lumen, das auf dem derzeitigen Netz zu bewältigen ist,kommt noch der zu erwartende Anstieg des Verkehrs-aufkommens. Wir können auch bei behutsamen Schät-zungen davon ausgehen, dass etwa 20 Prozent mehr Per-sonenverkehr und rund 65 Prozent mehr Güterverkehrbewältigt werden müssen. Die Erweiterung der Europä-ischen Union wird den Druck auf das TransitlandDeutschland, das es aufgrund seiner zentraleuropäischengeographischen Lage ist, noch vergrößern. Hier sind wirgefordert und hier müssen wir uns noch ganz erheblichmehr Mühe geben, um diese große Aufgabe zu bewälti-gen. Wenn wir nicht versuchen, das stärker zu beeinflus-sen, wird der Zuwachs allein auf den Straßen stattfindenund wir werden massive Belastungen von Autobahnenund anderen Straßen erleben und wichtige Bereiche – dassind in der Regel die Wachstumsbereiche – werden imVerkehr ersticken, wenn wir nicht dagegen angehen.
Ich sehe es als allererste Aufgabe für Verkehrspolitik inDeutschland an, ein integriertes, leistungsfähiges, ökolo-gisch verantwortbares Verkehrssystem zu schaffen. Nachmeiner Überzeugung müssen wir dafür unsere Bemühun-gen um den kombinierten Verkehr vergrößern. Dasheißt, stärker die Leistungspotenziale von Straße, Schienesowie Binnen- und Hochseeschifffahrt zu verbinden. Wirbrauchen insbesondere in den Häfen Terminals, die dieVerbindungen zwischen Hochseeverkehr und Kurz-streckenverkehr sicherstellen. Wir brauchen aber auchStrategien, um den kombinierten Verkehr zu fördern. Wirmüssen ihn gezielt unterstützen. Ich freue mich, dass wirin der Zwischenzeit auch schon mehrere Trimodal Termi-nals haben, die die Verbindung von Wasserstraßen, Schie-nenwegen und Straßen ermöglichen. Auch da wird nochmehr geschehen können.Nicht zufrieden – das will ich Ihnen offen sagen – binich mit der Situation der „rollenden Landstraße“. Dakönnte eigentlich noch mehr geschehen. Dem steht aberoffenbar die Marktsituation entgegen. Hier für ein Um-schwenken zu sorgen ist eine Aufgabe, der wir uns stärkerstellen müssen; immer vor dem Hintergrund der Tatsache,dass die Bahn auf dem Schienenweg noch mehr zur Be-wältigung der riesigen Güterverkehrsströme, die auf unszukommen, beitragen kann.
Meine Damen und Herren, die Verkehrspolitik inDeutschland muss weiterhin Schwerpunkte setzen. Ganzvorne sehe ich die Notwendigkeit der Staubeseitigung.Das betrifft Wachstumsregionen. Darauf werden wir unsnoch stärker zu konzentrieren haben.Ich sehe zum Zweiten die Notwendigkeit, dass wir unsauf den noch immer vorhandenen Nachholbedarf kon-zentrieren. Das betrifft zum einen Strecken im Osten, diegeschaffen werden müssen, die Autobahnen A 14 undA 72, zum anderen aber auch die zwingend erforderlicheSchließung von Lücken etwa bei der A1 oder auch bei derA 31, wo wir in bestimmten Regionen unerträgliche Si-tuationen haben.Wir haben drittens im Berichtsjahr 2001 70 Ortsum-gehungen fertigstellen können. Nach meiner Schätzungund nach Auskunft der Experten brauchen wir in Deutsch-land noch rund 300 Ortsumgehungen, die wir vordring-lich angehen sollten.Wir müssen – das darf ich als vierten Schwerpunkt un-serer Verkehrspolitik einbringen – die technischen Errun-genschaften, die wir haben, die Möglichkeiten der Infor-mations- und Kommunikationstechnologie stärkernutzen und stärker erschließen,
um über Telematik,
über Verkehrssteuerung eine bessere Verteilung des Ver-kehrsaufkommens zu erreichen.In diese Überlegung, moderne Technologie für die Be-wältigung des Verkehrsaufkommens zu erschließen,gehört für mich auch die Notwendigkeit, die Bemühungenum eine Magnetbahntechnik zu verstärken und vonsei-ten des Bundes zu unterstützen. Wir müssen auch Zu-kunftswege erschließen. Wir dürfen nicht nur in Zeiträu-men von wenigen Jahren denken, sondern müssen geradein diesem Bereich weit über Legislaturperioden hinaus-denken.
Auch der Umweltschutz muss bei unserer Verkehrs-politik ein strategisches Ziel sein. Wir müssen uns weiter-hin um alternative Antriebe bemühen. Wir müssen aberauch die Maßnahmen des Lärmschutzes verstärken, nichtnur bei Neubauvorhaben, sondern auch beim Bestand, so-wohl bei der Schiene als auch bei der Straße. Das sollteebenfalls ein Schwerpunkt unserer Bemühungen sein.Lassen Sie mich als einen weiteren Punkt nennen, dassdie Fragen der Sicherheit im Verkehr weiterhin große Be-deutung haben müssen. Aufgrund der internationalen Ka-tastrophen, die in diesem Bereich eingetreten sind, habenwir unlängst die Bemühungen um die Tunnelsicherheitverstärkt.
Nicht zuletzt werden wir auch alles tun müssen, umVerfahrensbeschleunigungen zu erreichen.
Bundesminister Dr. h. c. Manfred Stolpe
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Bundesminister Dr. h. c. Manfred StolpeIch kann hier nur noch einmal von den guten Erfahrungenberichten, die wir mit dem Bundesverkehrswegepla-nungsbeschleunigungsrecht in Ostdeutschland gemachthaben. Wir werden den Bericht zum Jahresende 2003 vor-legen. Ich freue mich auf die Diskussion, die wir dann allemiteinander haben werden, auch vor dem Hintergrundvon Anträgen, die ich heute gelesen haben.Meine Damen und Herren, alles in allem sind das ge-waltige Aufgaben, die angegangen werden müssen. Wirsehen zugleich, dass das, was wir für Verkehrsinfrastruk-tur an Geld zur Verfügung stellen – im Jahr 2003 werdendas 11,5Milliarden Euro sein –, nicht ausreichen wird, umdie Aufgaben zu bewältigen. Wir brauchen zusätzliche Fi-nanzierungswege. Wir brauchen die Maut. Bitte unter-stützen Sie uns, damit wir die Maut rechtzeitig einführenkönnen. Wir brauchen Betreibermodelle, wie sie schonangedacht sind, wie wir sie zum Beispiel beim Warnow-tunnel oder auch beim Wesertunnel haben werden.Wir sollten auch miteinander darüber nachdenken, wel-che weiteren Möglichkeiten privater Beteiligung an Ver-kehrsbauten erschlossen werden können. Denn wir stehenin einem Wettlauf: Auf der einen Seite steht der Aufwuchsdes Verkehrsaufkommens, bei dem schon jetzt messbar ist,was auf uns zukommen wird; auf der anderen Seite stehendie Verbesserungen der Infrastruktur. Nach meiner Über-zeugung müsste unser gemeinsames Ziel sein, diesen Wett-lauf zu gewinnen, um nicht im Stau zu ersticken.
Wir haben für den künftigen Bundesverkehrswegeplanbereits jetzt 1 800 Anmeldungen. Wir wollen einen Bun-desverkehrswegeplan entwickeln, der bis 2015 gilt. DenEntwurf dazu wollen wir im ersten Halbjahr erstellen. Ichhoffe, dass er rechtzeitig fertig wird und dann diskutiertwerden kann. Dazu werden wir mit Ihnen und gerade mitdenen, die regionale Erfahrungen mitbringen, das Ge-spräch führen. Außerdem werden wir mit den Ländern insehr engem Kontakt stehen.Wir werden allerdings – das zeigt schon die Zahl 1800 –um eine Prioritätensetzung nicht herumkommen. Dasbedeutet, dass wir die Kosten-Nutzen-Frage und dieRaumentwicklungsmöglichkeiten, die sich durch die Ver-kehrsbauten ergeben, prüfen müssen. Das bedeutet nichtzuletzt, dass wir Fragen der Umweltverträglichkeit zuberücksichtigen haben. Diese drei Kriterien wollen wirmit Ihnen diskutieren. Ich hoffe sehr, dass wir vor demSommer einvernehmlich einen Bundesverkehrswegeplanaufstellen können.Intensive Gespräche sind nötig. Ich bin bereit, sie zuführen, und bitte Sie alle, dass wir diese große Aufgabe inBezug auf Mobilität und Zukunftsentwicklung gemein-sam bewältigen.Schönen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Lippold,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister,nach Ihrer Rede muss ich feststellen, dass sie eine Konse-quenz der Politik der Bundesregierung ist: Sie sprechendavon, dass Sie eigentlich etwas tun müssen und tun sol-len. Aber Sie sagen nie konkret, wann Sie etwas tun wol-len.
Wenn Sie schon einen Termin nennen, Herr Minister,dann ist dies immer mit dem Hinweis verbunden, dass Sieschon wieder etwas verschoben haben. Der Bundesver-kehrswegeplan ist überfällig; er sollte schon längst vor-liegen. Ein entsprechender Kabinettsbeschluss sollte indiesem Monat erfolgen; das ist nicht geschehen. Jetzt set-zen Sie wieder ein späteres Datum. Herr Bundesver-kehrsminister, das macht deutlich: Es gibt viele schöneSprüche, aber bei der Umsetzung gibt es ein Manko nachdem anderen.Herr Minister, Ihre Darstellung war beschönigend. Siehaben nicht deutlich gemacht, vor welchen Engpässen wirstehen. Die Zahl der Staus hat zugenommen; die Zahl derVerspätungen bei der Bahn nimmt ebenfalls zu. Insgesamtist festzuhalten – Sie können das jetzt als kleinlich ab-tun –, dass die Verspätungen bei der Bahn zu immer mehrVerärgerung bei den Menschen führen, die morgens20, 30 Minuten bis zu einer Stunde warten müssen. DieseMenschen erhalten keine Antwort auf ihre Klagen undkönnen Ihren Äußerungen auch nicht entnehmen, wann eszu Verbesserungen kommen wird. Das sind die Punkte, andenen Sie konkret ansetzen müssen. „Sollen“ und „wol-len“ reichen nicht aus, sondern Sie müssen ganz konkretetwas tun.Ich vermisse ebenfalls ein wesentlich konkreteres Vor-gehen und Vordenken im Zusammenhang mit der EU-Ost-erweiterung.
Sie wissen, dass wir gewaltige zusätzliche Verkehrs-ströme zu erwarten haben. Herr Minister, um diese Ver-kehrsströme aufzufangen, müssen die Planungen jetzterfolgen und die Umsetzungsmaßnahmen eingeleitet wer-den. Bei der Schnelligkeit der Osterweiterung bestündeansonsten die Gefahr, mit diesen Maßnahmen völlig inVerzug zu geraten. Eine Antwort darauf habe ich IhrerRede nicht entnehmen können. Sie haben lediglich mit ei-nem Satz auf die EU-Osterweiterung hingewiesen. Aberes fehlen Angaben, wie wir die Probleme in diesem Zu-sammenhang bewältigen können, welche Projekte es gibtund wie sie in den Verkehrswegeplan eingebunden wer-den. Deshalb müssen Sie Ihre Position in der Zukunftdeutlicher machen.
Sie haben von der LKW-Maut gesprochen. HerrMinister, Sie haben in diesem Punkt völlig Recht. Wirwerden Sie darin unterstützen. Aber ich sage Ihnen auchganz offen: Wir werden Ihren Ansatz, wie er sich jetzt dar-stellt, nicht unterstützen. Sie selbst haben von mehr Mit-teln gesprochen, die wir dringend brauchen, um Straße
2158
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2159
und Schiene zu bauen. Wenn aber über die Maut in ersterLinie der Haushalt von Herrn Eichel finanziert wird, dieEinnahmen aber nicht für Maßnahmen zur Verbesserungder Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung gestellt werden,dann ist das, was Sie sagen, beschönigend und entsprichtnicht der Realität.
Wir fordern, dass die Mittel, die über die Maut einge-nommen werden, nicht in den Haushalt eingestellt wer-den, sondern dass sie in vollem Umfang für Verkehrspro-jekte zur Verfügung stehen. Dabei müssen wir auch denSachverhalt berücksichtigen, dass wir für das deutscheGüterverkehrsgewerbe in Bezug auf die Harmonisierungeine Verdoppelung der Mittel brauchen. Ich gehe davonaus, dass auch Sie, Herr Minister, das Güterverkehrs-gewerbe in der Bundesrepublik Deutschland halten undnicht zum Abzug zwingen wollen. Wenn wir keine Har-monisierung durchführen, werden die Belastungen für dasmittelständische Güterverkehrsgewerbe in Deutschlandunerträglich.Falls Sie entgegnen sollten: „Diese Belastungen ent-stehen in gleicher Weise für das Gewerbe in anderen Län-dern“, dann antworte ich Ihnen darauf: Derjenige, demdas Wasser bis zur Oberlippe steht, wird bei einer weite-ren Erhöhung der Belastung absaufen und diejenigen,denen das Wasser nur bis zur Brust steht, können weiterkonkurrieren. Das kann nicht sein. Ich meine deshalb,dass die Einnahmen aus der Erhebung der Maut – es gibtja Hinweise, dass mit wesentlich höheren Einnahmen ge-rechnet wird; ich möchte Sie bitten, das gelegentlich klar-zustellen – voll in die Verkehrsinfrastruktur, in erster Li-nie in den Bereich der Straße, zu investieren sind. Dabeisollte es keine Quersubventionierung geben, wie sie sichimmer wieder abzeichnet.
Ich bin auf der einen Seite selbstverständlich der Mei-nung, den Umweltschutz in diesem Zusammenhang zuintegrieren. Herr Minister, auch hier werden Sie uns anIhrer Seite haben; das ist überhaupt keine Frage. Wirbrauchen aber auf der anderen Seite eine weitere Be-schleunigung der Planungs- und Genehmigungsverfah-ren. Dies muss einhergehen mit der Sicherung der Fi-nanzierung. Denn nur eine Verfahrensbeschleunigungvorzusehen, wenn wir hinterher nicht auch Straßenbauen, tut es nicht. Diese Beschleunigung ist dringenderforderlich. Aus Gründen der EU-Osterweiterung soll-ten wir auch überlegen, wie wir eine solche Beschleuni-gung effizient auf den Gesamtbereich der Bundesrepu-blik erstrecken können. Es muss darüber nachgedachtwerden, wie wir dies ermöglichen, ohne dass wir uns imgerichtlich-bürokratischen Gestrüpp der Bundesrepu-blik Deutschland verlieren. Die Rahmenbedingungenmüssen also geklärt und insgesamt muss hier etwas ge-tan werden.Herr Minister, lassen Sie mich kurz zusammenfassen:Wir brauchen ein konkretes Gesamtverkehrskonzept; dieserwarten wir von Ihnen. Wir erwarten von Ihnen die um-gehende Vorlage des Bundesverkehrswegeplans und einKonzept zur EU-Osterweiterung – und dies nicht erst inzwei Jahren, wenn die EU-Osterweiterung erfolgt ist, son-dern zu einem früheren Zeitpunkt, sodass wir uns recht-zeitig darauf vorbereiten können.Herr Minister, wir wollen auch – das habe ich bislangnicht angesprochen –, dass Sie als Anteilseigner der BahnIhre Verantwortung wahrnehmen.
Ich kann die Ankündigungen, dass der Verkehr von derStraße auf die Schiene verlagert werden soll, nicht mehrhören. Die Bahn zieht sich immer mehr aus der Flächezurück und schließt Annahmestellen für den Güterkraft-verkehr, spricht aber weiterhin davon, dass alles beim Al-ten bleiben soll. Wenn sie sich schon zurückzieht, dannsollten Sie zumindest daran mitarbeiten, dass die Wettbe-werber die Strecken, aus denen sich die Bahn zurückzieht,betreiben können und hier keine Blockade erfolgt.
Dies sollten Sie tun, damit wirklich Verkehr von derStraße auf die Schiene verlagert werden kann. So wie esjetzt angelegt ist, läuft es nicht.Ihr Vorgänger, Minister Bodewig, war nicht in derLage, sich in dieser Frage gegen Herrn Mehdorn durch-zusetzen. Diese Bewährungsprobe müssen Sie, HerrMinister, noch bestehen. Ich hoffe, dass Sie dabei Erfolghaben und Sie sich nicht so überrumpeln lassen wie IhrVorgänger. Das würde nämlich nicht den Erhalt der Bahnin der Fläche bedeuten und würde nicht zu der Verkehrs-verlagerung führen, wie wir alle sie uns vorstellen. Also,mehr Wettbewerb auf der Schiene! Ich erwarte, dass Sieauch dazu ein klares Wort sagen.Dass wir Straßenlücken schließen müssen und dafürsorgen müssen, dass insbesondere auf den Autobahnen imOst-West-Bereich der Verkehr flüssig läuft, darin unter-stützen wir Sie. Wir unterstützen Sie auch darin, dass derInfrastrukturausbau in den neuen Bundesländern schnellund zügig erfolgt. Er ist eine Voraussetzung dafür, dieschwierige Situation in den neuen Bundesländern besserbewältigen zu können. Ich meine, das sollten wir durchkonkrete Taten untermauern.Noch einmal: Die Mittel, die aus dem Bereich derStraße im Rahmen der Maut aufgebracht werden, solltenschlussendlich auch für diesen Bereich verwendet wer-den. Das deutsche Mautsystem muss kompatibel sein mitdem, was auf EU-Ebene geplant wird. Wir brauchen imZuge der EU-Osterweiterung – ich sage es einmal so –Verkehrsprojekte „Europäische Einigung“. Darauf solltenwir uns gemeinschaftlich verständigen, damit es hierschneller vorangeht als bei den Verkehrsprojekten „Deut-sche Einheit“, die es früher einmal gab bzw. jetzt nochgibt. Das sind sinnvolle Instrumente, um die Situation inunserem Lande besser zu bewältigen.Dies sind Ihre Aufgaben. Ich wäre dankbar, wenn Siedazu gelegentlich etwas sagen würden. Wenn es um dieUmsetzung geht, finden Sie uns an Ihrer Seite. Aber Siesollten umsetzen und nicht nur ankündigen!
Dr. Klaus W. Lippold
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Nun hat das Wort der Kollege Peter Hettlich, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es ist gerade einmal ein Monat vergangen, seit-dem wir den Straßenbaubericht 2001 in diesem Hause dis-kutiert haben. Insofern war ich als Neuling überrascht, alsich den Straßenbaubericht 2002 bereits in dieser Wocheauf der Tagesordnung vorfand. Er wurde am 16. Dezem-ber dem Deutschen Bundestag zugeleitet, also deutlichfrüher als die bisherigen Straßenbauberichte. Da sich derBerichtszeitraum, zum Teil jedenfalls, bis zum 31. Juli desVorjahres erstreckt, ist es wichtig, diesen Bericht zeitnahzu betrachten und zu diskutieren. Daher möchte an dieserStelle den Zuständigen im Bundesverkehrsministeriumausdrücklich für die schnelle Erstellung und Zuleitungdanken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch im Berichtsjahr2001 hat sich die Gesamtfahrleistung um 0,4 Prozentleicht verringert. Damit wird ein Trend bestätigt, der sichbereits im letzten Straßenbaubericht angedeutet hatte: DieVerkehrsleistung auf Deutschlands Straßen sinkt bzw.stagniert und widerlegt damit die bisherigen Prognoseneines stetigen Verkehrswachstums.
– Diese Zahlen können wir uns näher angucken. Dazukommen wir heute gar nicht.
Auch wenn manche in diesem Haus es nicht gernhören: Die seit 1998 vorgenommenen Veränderungen derverkehrspolitischen Rahmenbedingungen – dazu gehörtauch die Ökosteuer – zeigen Wirkung. Diese Zahlen bele-gen, dass die rot-grüne Koalition hinsichtlich der Ziele derVerkehrsvermeidung und der Verkehrsverlagerung denrichtigen Weg eingeschlagen hat.
Zu einer vorausschauenden und umweltverträglichenVerkehrspolitik gehören nicht nur Erneuerungen, Mo-dernisierungen und Bestandserhaltung, sondern auch derSchutz der Bürgerinnen und Bürger vor den Schatten-seiten des Verkehrs, zum Beispiel Abgasemissionen undLärm. Dafür wird sich die rot-grüne Koalition auch in Zu-kunft einsetzen.Allein im Berichtsjahr 2001 wurden für Umwelt- undLärmschutzmaßnahmen 122Millionen Euro aufgewendet.Nicht zu vergessen sind die Aufwendungen für Land-schafts- und Biotoppflege und für Naturschutzmaß-nahmen im Rahmen von Straßenbaumaßnahmen in einerGrößenordnung von rund 200 Millionen Euro.Der Bau von Ortsumgehungen – der Minister hat ebengesagt, dass im letzten Berichtsjahr 70 Ortsumgehungenfür insgesamt 480 Millionen Euro gebaut wurden – dientin vielen Fällen der Entlastung von Ortskernen und damitnatürlich auch der dort lebenden Bürgerinnen und Bürger.Für die Beseitigung von Bahnübergängen und damitfür eine deutliche Verbesserung der Verkehrssicherheitund des Verkehrsablaufs wurden insgesamt rund 90 Mil-lionen Euro aufgewendet. Und last but not least: Im Rad-wegebau an Bundesstraßen konnten im Berichtsjahr wei-tere 360 Kilometer fertig gestellt werden.Bevor ich zu den Anträgen zum Verkehrswegepla-nungsbeschleunigungsgesetz komme, möchte ich IhreAufmerksamkeit noch kurz auf die Situation im Bereichder Unterhaltsmaßnahmen für Fahrbahnbefestigungenund Ingenieurbauwerke lenken. Insbesondere der Zustandder Brückenbauwerke sollte uns allen Anlass zur Beunru-higung geben; denn für zwei Drittel der Brücken stehenkurz- und mittelfristig Instandsetzungsmaßnahmen an.Die Hochrechnungen haben sich gegenüber dem letztenStraßenbaubericht nochmals deutlich verschlechtert. Nurnoch 30 Prozent unserer Brücken befinden sich in einemguten bzw. sehr guten Zustand.
Auch der aktuelle Gebrauchswert der Bundesstraßenmacht deutlich, dass uns in Zukunft und über einen län-geren Zeitraum erhebliche Aufwendungen ins Haus ste-hen werden. Dieser Tatsache werden wir auch im neuenBundesverkehrswegeplan Tribut zollen; denn schließlichsteht der Bestandserhalt an erster Stelle und die zur Ver-fügung stehenden Mittel sind nun einmal beschränkt. Wirwerden nur die Projekte in den Bundesverkehrswegeplanaufnehmen können, die wir letztendlich auch solide fi-nanzieren können. Das sind wir unseren Bürgerinnen undBürgern schuldig.
Mit dem aktuellen Verkehrswegeplanungsbeschleuni-gungsgesetz, welches zum 31. Dezember 2004 ausläuft,sollten in den neuen Bundesländern durch strenge Frist-setzungen für Behörden, vereinfachte Enteignungsver-fahren und Einschränkungen des Rechtsweges zügigePlanungsverfahren ermöglicht werden, um den Rück-stand bei Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen aufzuholen.Die FDP-Fraktion hat am 18. Dezember 2002 den Ent-wurf eines Gesetzes eingereicht, mit dem die Geltungs-dauer bis zum 31. Dezember 2010 verlängert werdensoll. Darüber hinaus sollen die Vorschriften auch in denalten Bundesländern erprobt werden. Die CDU/CSUwollte dem nicht nachstehen und hat zum 18. Februar die-ses Jahres einen Gesetzentwurf vorgelegt, der sogar eineVerlängerung bis zum Jahr 2019 vorsieht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das würde bedeuten,dass noch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine Aus-nahmeregelung die Regel ist und damit insbesondere dieBürgerrechte bei der Überprüfung von Planungsbeschlüs-sen in unangemessener Weise beeinträchtigt werden. Demkönnen und werden wir so nicht zustimmen.
2160
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2161
Bereits jetzt beschwert sich das Bundesverwaltungs-gericht offen darüber, dass es als einzige Instanz mit derÜberprüfung von Planungsbeschlüssen beschäftigt wirdund dementsprechend überlastet ist.Wenn ich mir die Fakten anschaue, dann frage ichmich, welche Infrastrukturprojekte wir eigentlich nochbeschleunigen wollen. Der Stand bei der Realisierung derVerkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ ist bereits so hoch,dass aus meiner Sicht eine Planungsbeschleunigung nichtmehr notwendig ist. Auch die wenigen großen Projekte,die möglicherweise im neuen Bundesverkehrswegeplanstehen werden, rechtfertigen eine derart lange Ausnahme-regelung nicht.Bei den meisten neuen Projekten, die vermutlich in denBundesverkehrswegeplan aufgenommen werden, handeltes sich um Ortsumfahrungen. Dabei können, weil eineVerkehrsverlagerung stattfindet, Konflikte mit Bürgerin-nen und Bürgern auftreten. Wenn Sie der Meinung sind,dass solche kleineren Maßnahmen eine Fristverlängerungim Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz recht-fertigen, dann müssen Sie mich davon erst überzeugen.Ich sehe allerdings nicht, dass Ihnen das gelingen könnte.
– Herr Friedrich, Sie müssen noch erhebliche Überzeu-gungsarbeit leisten.Wenn es um die strengen Fristsetzungen für Behör-den geht, dann haben Sie mich auf Ihrer Seite. Aber dafürbrauchen wir dieses Gesetz nicht. Ich will ein positivesBeispiel aus der Vergangenheit nennen: Die Landesbau-ordnungen haben in den letzten zehn Jahren zu einer er-heblichen Beschleunigung bei der Erteilung von Bauge-nehmigungen geführt. In meiner Heimatstadt Oschatz inSachsen werden Baugenehmigungen innerhalb von sechsbis acht Wochen erteilt.
– Das gilt auch für andere Bereiche. Sie können gerne ein-mal zu uns kommen. Ich stelle Ihnen dann unseren Bür-germeister vor. Sie können sich das dann ansehen.
– Herr Friedrich, ich werde Sie gerne auf den neuestenSachstand bringen.
Meine Herren, die Vorstellung der Bürgermeister er-
folgt aber bitte außerhalb dieser Debatte. Herr Hettlich,
achten Sie bitte auf die verbleibende Zeit.
Ich komme zum Schluss.
Die CDU/CSU-Fraktion hat die Vereinfachung von
Enteignungen thematisiert. In diesem Bereich sehe ich
keinen Handlungsbedarf mehr. Die meisten Eigentums-
verhältnisse sind geklärt. Die geringe Zahl der Fälle, die
noch nicht geklärt sind, rechtfertigt keine Verlängerung
der Geltungsdauer bis zum Jahr 2019. Aus diesem Grund
können und werden wir Ihren Gesetzentwürfen nicht zu-
stimmen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun der Kollege Horst Friedrich, FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehrverehrter Herr Minister, Sie haben in zugegebenermaßensehr schönen Bildern den Straßenbaubericht und denSchienenwegeausbaubericht erläutert. Aber immer dann,wenn es spannend wurde, nämlich dann, wenn Sie hättenkonkret werden müssen, haben Sie geschwiegen.
In Ihrem Bericht haben Sie heute dargestellt – das warder eigentliche Punkt –, dass Kombiverkehr die Lösungdes Problems beim Güterverkehr sei. Und tatsächlich, inIhrem Bericht ist zu lesen, dass im Kombiverkehr imJahr 2001 36,3 Millionen Tonnen Güter befördert wordensind. Im Verhältnis zu der Gesamtgütermenge von 4 Mil-liarden Tonnen, die in Deutschland befördert wird, istdiese Menge allerdings zu vernachlässigen. Das heißtnicht, dass man den Kombiverkehr abschaffen sollte.Aber setzen Sie endlich auf das richtige Pferd und redenSie nicht nur über Randerscheinungen, die das Problemangeblich lösen können!Sie drücken sich vor der Beantwortung der wirklichentscheidenden Fragen, nämlich wie die von Ihnen pro-gnostizierten 64 Prozent Zuwachs im Güterverkehrtatsächlich bewältigt werden können, und das gerade vordem Hintergrund der EU-Osterweiterung. Sie und IhreFraktionen haben unsere Anträge auf besondere Finanzie-rung und Planung hinsichtlich der Osterweiterung immerabgelehnt. Ich frage mich, wie Sie bis Mai 2004, wenn dieEU-Osterweiterung ansteht, Antworten auf die Fragen beider Infrastruktur geben wollen.
In diesem Zusammenhang wäre es auch interessant, zuerfahren, wie Sie sich beim Finanzminister durchsetzenwollen, der vor dem Hintergrund der Beschlüsse von Rot-Grün die Belastungen für Autofahrer seit 1. April 1999 inDeutschland gewaltig angehoben hat. Die Investitions-quote, also das, was in die Straße zurückfließt, ist dagegenbestenfalls gleich geblieben. Wenn Sie die Investitions-quote um den Prozentsatz anheben würden, um den Siedie Belastung für den Autofahrer gesteigert haben, hättenwir ein paar Probleme weniger. Herr Minister, auch dazuPeter Hettlich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Horst Friedrich
sind Sie, zumindest bis jetzt, die Antwort schuldig geblie-ben.
Herr Kollege Hettlich, den wesentlichen Punkt imStraßenbaubericht haben Sie nicht dargestellt, nämlichdass die Fahrleistungen auf der Autobahn nicht abge-nommen, sondern zugenommen haben. Die Regierunghat festgestellt – das ist bemerkenswert –, dass durch dieüberdurchschnittliche Auslastung der Fahrzeuge im Fern-verkehr die Anteile der Verkehrsleistungen auf den Bun-desfernstraßen deutlich über denen der Fahrleistungenliegen. Das steht aber genau im Gegensatz zu dem Argu-ment, warum Sie die Maut einführen wollen. Sie sagendoch, dass die Maut dazu dient, die Leerfahrten auf Auto-bahnen zu reduzieren. Was denn nun? Entweder sind aufden Autobahnen die Güterleistung und die Auslastung derLKW überproportional gestiegen – das ist Ihre Aussage –oder es stimmt Ihr Argument für die Einführung der Maut.Irgendetwas ist hier nicht schlüssig.
Deswegen wäre es ganz interessant, Sie dazu zu hören.
Noch etwas wurde im Straßenbaubericht festgestellt:Die Mittel, die für den Bereich der Straße zur Verfügunggestellt wurden, wurden auch tatsächlich ausgegeben.Das ist ein Unterschied zum Schienenwegeausbaube-richt. Dort wurde sinnigerweise nicht der Vergleich zwi-schen den zur Verfügung gestellten Mitteln und den aus-gegebenen Mitteln gezogen. Es wurde nur aufgeführt,was ausgegeben worden ist.
Im Bereich der Schiene ist man seit 2000 – das setztsich also fort – offensichtlich nicht in der Lage, die für In-vestitionen zur Verfügung gestellten Mittel auch tatsäch-lich abzurufen. Vielleicht wäre es interessant, im nächstenAusbaubericht für Schienenwege einen reellen Soll-Ist-Vergleich anzustellen. In ihm muss stehen, welche Inves-titionen tatsächlich getätigt wurden. Es geht nicht um dieMittel, die als Sonderleistungen vorher schon weggenom-men wurden, sodass die Bahn mit kleineren Zahlen arbei-ten konnte. Es wäre schon interessant, zu erfahren, wiedas funktioniert.Es ist auch hochinteressant, dass Sie sagen, dass dieSchiene gestärkt werden muss. Gleichzeitig höre ich näm-lich, dass bezüglich der so bedeutsamen SchienenstreckeMünchen–Mühldorf–Freilassing erklärt wird, dass es imJahre 2001 keine Bauleistungen gegeben hat. Wenn dieSchienenwege wirklich zur Ertüchtigung der Transit-strecken dienen sollen, muss man auch einmal über dieseSchienenstrecke nachdenken. Sie befindet sich seit Jahr-zehnten im Ausbau, aber für das Jahr 2001 wurde für dieseStrecke kein Euro angesetzt.Herr Minister, viel interessanter sind allerdings IhreHaltung und Ihre Aussagen zu den vorliegenden Gesetz-entwürfen zum Verkehrswegeplanungsbeschleunigungs-gesetz. Wenn ich alles richtig verstanden habe, habenSie in Ihrer Regierungserklärung an dieser Stelle er-klärt, dass es durchaus angebracht wäre, die positivenErfahrungen mit dem Verkehrswegeplanungsbeschleu-nigungsgesetz, die in den neuen Ländern gemacht wor-den sind, auf die alten Länder zu übertragen. Ich habeIhnen damals schon gesagt, dass Sie das gerne tun kön-nen. Einen entsprechenden Gesetzentwurf gab es be-reits in der letzten Legislaturperiode. Sie haben das ineinem Interview in der „Berliner Zeitung“ am 1. Fe-bruar nochmals bekräftigt und das bis heute nichtzurückgenommen.Heute blieben Sie wiederum sehr nebulös; denn genauein solcher Antrag liegt Ihnen nun vor. Die FDP hat einenAntrag vorgelegt, wonach die Geltungsdauer des Ver-kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetzes bis zum31. Dezember 2010 verlängert und gleichzeitig der Gel-tungsbereich auf die alten Bundesländer ausgedehnt wer-den soll.
Das ginge relativ einfach. In der Überschrift über das Ge-samtgesetz müsste man nur die Wörter „in den neuen Län-dern sowie im Land Berlin“ streichen und in § 1 die Gel-tungsdauer verlängern. Das ist alles, was Sie machenmüssen. Sie müssen es nur wollen.
Aber nach dem, was ich höre, glaube ich, dass Sie beiIhren eigenen Fraktionen auf Granit beißen werden.
Wie will man denn erklären, dass die EU-Osterweite-rung ein Problem ist – das haben Sie selbst festgestellt –und dass die Verkehrswege in Deutschland, insbesonderein Ost-West-Richtung, erkennbar nicht ausreichend sind,um die Verkehrsleistungen aller Verkehrsträger, also nichtnur der Straße, sondern auch der Schiene, auszugleichen,wenn man sich gleichzeitig weigert, bei den entscheiden-den Punkten, nämlich dem Planungsrecht, das sich in denneuen Ländern am Anfang einem harten Widerstand vonRot-Grün ausgesetzt sah – das muss man auch einmal do-kumentieren; Sie hätten das Planungsrecht der altenBundesrepublik gerne auf die neuen Länder übertragen –,etwas zu tun?Wie hätten wir die deutsche Einheit infrastrukturmäßigbewältigen sollen, wenn man für große Verkehrsprojekteeine Planungs- und Realisierungszeit von im Schnitt zwi-schen 25 und 33 Jahren benötigt hätte, wie es im Westenvor der deutschen Einheit üblich gewesen ist? Nein, durchdas Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, dasvon uns mitinitiiert wurde, haben wir es geschafft, dass inden zehn Jahren nicht nur Verkehrsmaßnahmen geplant,sondern auch Schienen und Straßen gebaut werden konn-ten. Mittlerweile fahren sogar schon Züge und Autos da-rauf.Das alles hätte es mit dem alten Planungsrecht in die-ser Form nicht gegeben. Deswegen verstehe ich nicht,warum Sie sich heute angesichts der Vorlage dieser Ge-
2162
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2163
setzentwürfe nicht etwas intensiver und deutlicher zu demThema geäußert haben.
Zum Gesetzentwurf der Union kann ich nur sagen:Liebe Freunde, ihr seid mal wieder auf dem halben Wegestehen geblieben;
denn es ist zwar sehr probat, einfach nur die Geltungs-dauer zu verlängern, es löst aber keine Probleme. Hiergebe ich dem Kollegen Hettlich ausnahmsweise Recht.
– Man kann das Sonderrecht nicht für eine Seite bis 2019verlängern. Damals lautete die Begründung, dass es diePlanungsinstitute, die Einrichtungen und vor allem dieOberverwaltungsgerichte noch nicht gegeben hat. Es istzu einfach, das einfach fortzuschreiben. Wir wollen etwasanderes. Wir wollen, dass in ganz Deutschland die Bedin-gungen gemäß dem Verkehrswegeplanungsbeschleuni-gungsgesetz gelten. Ein erster Test soll bis 2010 durchge-führt werden. Wenn die Ergebnisse positiv sind, was icherwarte, dann kann man es unbefristet übernehmen.
Herr Minister Stolpe, wenn Sie nicht dafür sorgen, dassRot-Grün wenigstens einen dieser Gesetzentwürfe zumPlanungsrecht tatsächlich übernimmt und verabschiedet,
dann sind Sie in Zukunft nicht mehr nur der Minister fürVerkehr, Bau- und Wohnungswesen, sondern wahrschein-lich auch der zuständige Minister für das Zünden riesen-großer Luftballons ohne Inhalt, gewissermaßen der Car-golifter der Bundesregierung.
Sie haben angekündigt, zusätzlich 1 Milliarde Euro fürdie neuen Ländern bereitzustellen. Dies wurde dannschamhaft auf die alten Länder ausgeweitet, ohne bisherkonkret zu sagen, woher Sie das Geld nehmen wollen. DieGoldschätze der Bundesbank sind offensichtlich verschlos-sen. Sie kündigen ein neues und modernes Planungsrechtan – das ist zugegebenermaßen richtig –, aber haben offen-sichtlich nicht die Kraft, um dies tatsächlich umzusetzen.Wir werden Sie an Ihren Aussagen messen, und zwar so-wohl bei der Gesetzesberatung im Ausschuss als auch beider zweiten und dritten Lesung hier im Bundestag.Danke sehr.
Ich erteile dem Kollegen Sören Bartol, SPD-Fraktion,
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der heute vor-liegende Bericht bestätigt, was meine Kollegin Petra Weiszum Straßenbaubericht 2001 gesagt hat: Der Bundesfern-straßenbau ist kein Stiefkind der Verkehrspolitik dieser Ko-alition. Die Behauptung von Herrn Lippold und der gesam-ten Opposition, die Bundesregierung würde den Straßenbauvernachlässigen, wird durch Wiederholung nicht richtiger.
Im Gegenteil: Wurden im Jahr 2000 für die Bundes-fernstraßen noch 5 Milliarden Euro verausgabt, so warenes 2001 5,58 Milliarden Euro.
Damit erreichen wir eine Rekordhöhe. Nur 1992 lagen dieMittel für den Straßenbau aufgrund von Sondermitteln fürden Aufbau Ost höher, sonst immer niedriger. 70 Ver-kehrsfreigaben bei Ortsumgehungen, insgesamt 150 Ki-lometer neue und erweiterte Bundesstraßen, 78 Kilometererweiterte Autobahnstrecken und zusätzlich 77 Kilometeran Autobahn zeigen, dass die Bundesregierung 2001 vielerreicht hat.
Wir tragen damit der Tatsache Rechnung, dass ein mo-dernes, gut ausgebautes und leistungsfähiges Verkehrssys-tem Voraussetzung und Motor für Wachstum und Be-schäftigung ist. Ohne Zweifel werden die Straßen undinsbesondere die Bundesfernstraßen auch in Zukunft eineherausragende Rolle bei den Verkehrsleistungen spielen.Auch für 2001 bestätigt der Verkehrsbericht: Die Bedeu-tung der Bundesfernstraßen bleibt mit 51 Prozent der Jah-resfahrleistungen hoch. Die Bedeutung der Autobahnenhat sogar weiter zugenommen. Die Autobahnen mussten2001 56 Prozent der Autofahrten und 72 Prozent derLKW-Fahrten bewältigen. Die seit längerem beobachteteKonzentration des Straßenverkehrs auf den Autobahnensetzt sich somit ungebrochen fort.Die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition lie-gen falsch mit der Annahme, die gegenwärtigen Problemeließen sich nur durch weiteren Straßenbau lösen. Ihre wie-derholte Forderung, die Einnahmen aus der LKW-Mautin erster Linie für die Straße zu nutzen, zeigt deutlich ihreeinseitige, ideologisch begründete Orientierung.
Uns stellen sich angesichts des zu erwartenden weite-ren Verkehrswachstums zwei große Herausforderungen:Erstens. Wir müssen die Leistungsfähigkeit der Fern-straßen durch eine hohe Qualität ihres Ausbaus sicher-stellen. Zweitens. Wir müssen den Weg weiter beschrei-ten, Verkehr auf Schiene und Wasserstraße zu verlagernund die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Ver-kehrsträgern zu optimieren.
Horst Friedrich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Sören BartolNicht nur die begrenzten finanziellen Ressourcen, son-dern auch die begrenzte Verfügbarkeit von Flächen setzeneinem Ausbau des Straßennetzes Grenzen. In der EU wer-den 1,2 Prozent aller Flächen vom Verkehr benutzt, davon90 Prozent von der Straße. Die Sicherstellung von Leis-tungsfähigkeit und Qualität der Fernstraßen verlangt inzunehmendem Maße, in den Erhalt des bestehendenNetzes zu investieren. Diese Notwendigkeit muss bereitsheute gesehen werden, selbst wenn erst im Straßenbaube-richt 2003 die Ergebnisse der Untersuchungsperiode2001/2002 zur Bewertung der Fahrbahnbefestigungen derBundesautobahnen vorliegen werden. Auf dieser Grund-lage werden dann die sich ergebenden angemessenen In-vestitionsentscheidungen getroffen werden.Gefragt sind bei begrenzten Ressourcen intelligenteLösungen, die eine effiziente und sichere Nutzung desStraßennetzes ermöglichen. Ein hervorragender Ansatz istdas Programm zur Verkehrsbeeinflussung auf Bundes-autobahnen, das im letzten Jahr gestartet wurde und dieFörderung von Telematiklösungen fortsetzt. Für die Jahre2002 bis 2007 stehen dafür insgesamt 200Millionen Eurobereit. Damit sollen auf 350 Kilometern Streckenbeein-flussungsanlagen – zusätzlich zu den bestehenden auf850 Kilometern Länge – installiert werden.
Bis zu 30 Prozent weniger Unfälle auf unfallträchtigenStrecken sind ein beachtlicher Erfolg.Von einer weiteren Idee zur Verbesserung des Ver-kehrsflusses, die der Bericht darstellt, kann man sich inHessen auf der A 5 zwischen dem Bad Homburger Kreuzund der Abfahrt Friedberg in Richtung Norden überzeu-gen. Durch die Nutzung des Seitenstreifens ist der Ver-kehrsfluss auf diesem überlasteten und staugefährdetenAbschnitt wieder besser geworden.
Die Verkehrsbeeinflussungsanlage auf der A 5, die bereitsseit 1989 in Betrieb ist, wurde damit um eine weitereKomponente ergänzt.Die Seitenstreifennutzung, die seit Anfang 2002 mög-lich ist, ist sicherlich nur eine temporäre, aber sehr intel-ligente Lösung für Zeiten mit Spitzenbelastungen. Klarist, dass die Nutzung des Seitenstreifens nicht auf Kostender Verkehrssicherheit gehen darf. Aber das Risiko vonAuffahrunfällen ist bei stockendem Verkehr und Stau be-sonders hoch, sodass die Vorteile der Kapazitätserhöhungdie Nachteile des entfallenden Seitenstreifens aufwiegen,da sich dadurch dieses Risiko vermeiden lässt.Es lässt sich auch ein anderes Risiko verringern, indemdie Sicherheit in Straßentunneln durch Ergänzung der be-triebstechnischen Ausstattung erhöht wird. Hierfür sind inden kommenden Jahren entsprechende Mittel vorgese-hen. Diese eigenen Maßnahmen zusammen mit denBemühungen der Bundesregierung um eine Erhöhung derSicherheitsstandards in Tunneln im Bereich der Europä-ischen Union sind ein sinnvoller Ansatz zur Erhöhung derSicherheit der Verkehrsteilnehmer.
Der Bericht macht insgesamt den großen Stellenwertdeutlich, den die Verkehrssicherheit für die Bundesregie-rung einnimmt. Dies wird auch durch das neue Instrumentder Sicherheitsaudits bei der Straßenplanung unterstrichen,die den Ländern aufgrund der Forschungen des Bundesempfohlen werden und mit denen schon bei der Straßen-planung Sicherheitsbelange berücksichtigt werden.Ganz oben auf der Tagesordnung der nächsten Monatesteht der neue Bundesverkehrswegeplan, Herr Lippold.
Der Bericht stellt den Stand der Überarbeitung des Plansbis 2002 dar und macht damit noch einmal deutlich, dassdie Bundesregierung ein modernisiertes, wissenschaftlichfundiertes Vorgehen gewählt hat, das Umwelt, Raumord-nung und Städtebau und deren Wechselwirkungen undWechselbeziehungen stärker als bisher schon bei der Pro-jektbewertung berücksichtigt und fachlich integriert.Der Entwurf für den Bundesverkehrswegeplan wirdbald vorliegen und die Ausbaugesetze werden vom Parla-ment beschlossen.
Anders als der von der CDU verantwortete Plan von1992 wird es kein ungedeckter Scheck sein, sondern eineverlässliche Planungsgrundlage.
Wir werden sicherlich noch ausreichend Gelegenheit ha-ben, das in den Ausschüssen und auch im Plenum zu dis-kutieren.
Wir haben dabei das Verkehrssystem als Ganzes im Blick.Es ist falsch, nur auf einen Verkehrsträger zu setzen, wennwir das zu erwartende Mobilitätswachstum bewältigenwollen.Der Bericht bestätigt den Handlungsbedarf: DenLöwenanteil der zurückgelegten Personenkilometer machtnach wie vor mit fast 83 Prozent der motorisierte Indivi-dualverkehr aus. Schiene und öffentlicher Straßenver-kehr erreichen bei leicht gesteigerten Personenkilometer-zahlen nur einen Anteil von unter 9 Prozent.BeimGüterverkehr hat sich die Zahl der Tonnenkilo-meter sogar zuungunsten von Schiene und Schifffahrt ent-wickelt. Ihr Leistungsanteil nahm um 2,2 bzw. 2,6 Prozentab. Die Zunahme der Güterverkehrsleistung wurde imWesentlichen von der Straße getragen, wobei entgegender vielfach geäußerten Vermutung die Steigerung durchinländische Lastkraftwagen erfolgte.
2164
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2165
Dem können wir nicht durch eine einseitige Orientie-rung auf die Straße begegnen, wie sie CDU/CSU und FDPpropagieren. Vielmehr brauchen wir eine integrierte Ver-kehrspolitik, die auf die unterschiedlichen Stärken dereinzelnen Verkehrsträger setzt.
Wir haben dies finanzpolitisch in Angriff genommen,indem wir nicht nur die Investitionen in den Straßenbauauf ein hohes Niveau angehoben haben, sondern auchSchritt für Schritt die Investitionen für den Schienenver-kehr erhöht haben,
sodass sie mit den Straßeninvestitionen mithalten können,Herr Friedrich. Wir brauchen, wie es in dem Bericht ver-deutlicht wird – vielleicht lesen Sie ihn einfach noch ein-mal –,
eine Verkehrsplanung, die alle Ansprüche an eine mobileZukunft integriert,
die neben ökonomischen auch ökologische Anforderun-gen akzeptiert, ebenso wie sie gesellschaftliche und so-ziale Notwendigkeiten und Bedürfnisse einbezieht. Aufdieser Basis wird ein Verkehrssystem entstehen, das zu-kunftsfähig und nachhaltig zugleich ist und das zuvor-derst dem dient, wozu es geschaffen ist: dem Menschendas Leben zu erleichtern.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Bartol, das war Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere. Das
verbinde ich mit allen guten Wünschen für die weitere
parlamentarische Arbeit.
Nun hat die Kollegin Renate Blank, CDU/CSU-Frak-
tion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
Bartol, Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede! Im Hinblick
auf die Konkretisierung der Verkehrspolitik wollen wir
Ihnen Ihre Träume nicht nehmen. Ich bin gespannt, ob die
Bundesregierung und Sie, der Sie von allen Verkehrsträ-
gern sprachen, bereit sind, auch den Transrapid in den
Bundesverkehrswegeplan aufzunehmen.
Meine Damen und Herren, vor vier Wochen haben wir
den Straßenbaubericht 2001 diskutiert, der die geringsten
Investitionen in die Infrastruktur aufwies, solange Sie
dafür zuständig sind. Jetzt reden wir über den Straßen-
baubericht 2002. Wir tun dies wahrscheinlich deshalb so
schnell, um von den schlechten Zahlen des Berichts 2001
abzulenken.
Die Ausgaben für Investitionen – nicht die Gesamtaus-
gaben – sind wichtig. Sie betrugen für die alten Bundes-
länder rund 2,7 Milliarden Euro und für die neuen Bun-
desländer 2 Milliarden Euro. In D-Mark gerechnet sind es
insgesamt rund 9 Milliarden DM.
Frau Kollegin Blank, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Scheffler?
Ja.
Doch, Sie hatte schon angefangen. – Vielen Dank,
liebe Kollegin Blank. Sie haben darauf abgehoben, ob
der Transrapid – ich gehe davon aus, dass Sie den Me-
trorapid und das bayerische Projekt vom Flughafen nach
München Hauptbahnhof meinen – in den Bundesver-
kehrswegeplan aufgenommen wird. Da Sie dem Hohen
Hause schon sehr lange angehören, müssten Sie wissen,
dass diese Projekte keine Bundesprojekte sind und dass
wir Nahverkehrsprojekte nicht in den Bundesverkehrs-
wegeplan aufnehmen.
– Es ist ein Zuschuss des Bundes.
Kollege Scheffler, es ist schon etwas seltsam. Manmuss nur an die Verpflichtungsermächtigungen für Pla-nungskosten in Nordrhein-Westfalen denken.
Sören Bartol
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Renate Blank– Es sind Zuschüsse, aber es ist auch Bundesgeld. ImÜbrigen weise ich darauf hin, dass wir damals die StreckeHamburg–Berlin in den Bundesverkehrswegeplan aufge-nommen haben.
Sie können das nachmachen, indem Sie den Metrorapidund den bayerischen Transrapid in den Bundesverkehrs-wegeplan aufnehmen.
Herr Minister Stolpe, die vorhin genannten Zahlen ma-chen deutlich, dass wir neben dem Aufbau Ost dringendauch den Ausbau West brauchen. Diese Aussage habenSie vor dem Verkehrsausschuss getroffen. An dieser wirk-lich wichtigen Aussage werden wir Ihr Handeln in dennächsten Wochen und Monaten messen. Erstmals – manmuss ja auch einmal die Bundesregierung loben – seitIhrer Übernahme der Regierungsverantwortung
– warten Sie es ab – wurde im Berichtszeitraum wiedermehr Geld für Straßenbauinvestitionen zur Verfügunggestellt. Dieses Geld kommt allerdings aus dem Zukunfts-investitionsprogramm 2001 bis 2003. Dass Sie damit dieStraßenbaumittel nach einer Kürzung – ich rechne jetztnoch in D-Mark – von rund 5 Milliarden DM um 2,7 Mil-liarden DM erhöhen konnten, war nicht Ihr Verdienst,sondern ist auf unsere Vorarbeit zu den UMTS-Lizenz-erlösen zurückzuführen. Meine Damen und Herren vonRot-Grün, ich erinnere daran, dass damals die Minister-präsidenten Schröder und Eichel der Liberalisierung desTelekommunikationsmarktes nicht zugestimmt haben.Die Einnahmen daraus nimmt man aber sehr gerne undselbstverständlich entgegen.
Zurück zum Straßenbaubericht 2002: Interessant ist,dass erstmals die Abbildung zum Gebrauchswert derFahrbahnen der Bundesstraßen nicht mehr im Berichtenthalten ist; das betrifft Seite 9, wenn Sie es nachschla-gen wollen. Es gibt nur eine Beschreibung der drei Ge-brauchsfähigkeitsklassen, aber keine Grafik, aus derleicht ersichtlich wäre, dass die Zahl der Straßen mit ein-geschränkter Gebrauchsfähigkeit in allen Bundesländernimmer mehr zunimmt. Mit anderen Worten: Der Zustandder Bundesfernstraßen wird immer schlechter.
Die Bundesregierung muss endlich einsehen, dass derErhaltung einer gebrauchsfähigen Verkehrsinfrastrukturgroße Bedeutung zukommt.
Die in die Straßen investierten Vermögenswerte müssenin ihrer Substanz und ihrem Nutzwert nachhaltig bewahrtwerden.
Es handelt sich immerhin um ein Bruttoanlagevermögenvon rund 176 Milliarden Euro, das von den Steuerzahlernim Laufe der Jahre aufgebracht wurde.Im Übrigen verschlechtert sich auch der Zustand derBrückenbauwerke im Zuge von Bundesfernstraßen ra-pide; denn die Bereiche mit kritischem Bauwerkszustand,also mit Zustandsnoten zwischen drei und vier, machenbereits 15 Prozent des Gesamtbestandes an Brückenbau-werken aus.
Hier ist eine Instandsetzung bzw. Erneuerung zur Auf-rechterhaltung der Verkehrssicherheit dringend erforder-lich.Wir haben im Jahr 1992 richtig gehandelt, als wirden Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ Vorrangeinräumten, denn sie dienen dem ZusammenwachsenDeutschlands und der Mobilität unserer Bürgerinnen undBürger. Außerdem gehören Standortpolitik und Wirt-schaftswachstum zusammen; sie benötigen jedoch einegut ausgebaute Verkehrsinfrastruktur.
Allerdings reduzierten Sie die Plafondierung für die Ver-kehrsprojekte „Deutsche Einheit“ von 1,2 Milliarden Euroim Jahr 2001 auf 1,1 Milliarden Euro im Jahr 2002. Siesollten aber Ihr besonderes Augenmerk zum Beispiel aufden Ausbau der A 9 in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt lenken. Auf dieser wichtigen Nord-Süd-Verbin-dung gibt es zunehmend Staus, sehr zum Ärger der be-troffenen Bürger, zumal ein Ausweichen auf die Bahn vonBerlin nach Nürnberg nicht möglich ist, da die Bahnfahrtzu lange dauert.Ich bin schon gespannt, Herr Minister Stolpe, wannendlich die Finanzierungsvereinbarung zwischen Bundund Bahn für die Verbindung Nürnberg–Erfurt–Berlin un-terzeichnet wird.
Der Bahnchef Mehdorn hat seine Vorliebe für dieses Pro-jekt entdeckt. Im Grunde genommen müsste man dieseStrecke doch unter Verwendung der nicht verbautenSchieneninvestitionsmittel in Angriff nehmen können,denn für die Schienenprojekte wurde im Berichtszeitraumnur ein Betrag von 4,5 Milliarden DM für Investitionenzur Verfügung gestellt.
2166
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2167
– Kollege Schmidt, eigentlich müssten die Grünen beidiesem Thema doch fürchterlich aufheulen.
Sie wollten doch immer die Investitionen in die Schieneerhöhen. Im Berichtszeitraum gaben Sie jedoch nur dieHälfte des Geldes, das für die Straße eingesetzt wurde,aus.
– Aber natürlich! Lesen Sie es doch nach. Im Übrigenkonnten seit Beginn der Bahnreform 12 Milliarden DMvon der Bahn nicht verbaut werden. Das müssten Sie alsehemaliges Aufsichtsratsmitglied doch auf jeden Fall bes-ser wissen als wir.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige An-merkungen zur Freigabe von Standstreifen für denfließenden Verkehr machen. Bayern als Transitland Num-mer eins in Deutschland wurde von Rot-Grün in den letz-ten Jahren im Hinblick auf Straßenbaumittel stiefmütter-lich behandelt,
nach dem Motto des Kanzlers: Für die Bayern Steine stattBrot.Das können Sie nachlesen. Die A3 als die am höchstenbelastete Straße mit täglich über 90 000 Fahrzeugen ist inkeinem Ihrer vielfältigen Programme enthalten. Für dieAutofahrer entstehen tagtäglich unerträgliche Staus. Des-halb hat die Bayerische Staatsregierung sich mit demVerkehrsministerium in Verbindung gesetzt und einezeitweise Inanspruchnahme von Standstreifen für denfließenden Verkehr vorgeschlagen. Nach umfangreichenUntersuchungen zur Verkehrssicherheit und zum Ver-kehrsablauf kann nun auf staugefährdeten Autobahnen inZeiten hoher Verkehrsbelastung der Standstreifen zumBefahren freigegeben werden. Diese kurzfristige Lösungist aus unserer Sicht nur eine Übergangslösung; tatsäch-lich brauchen wir nämlich mehr Geld für den Straßenbau.Der Ausbau der Bundesverkehrswege gerät weiter insAbseits, wenn der riesige Betrag, der durch die Ein-führung der LKW-Maut abgezockt wird, hauptsächlichdem allgemeinen Haushalt zufließt. Das ist ein Skandal.Schon wieder muss der Straßenverkehr herhalten, um dieLöcher im rot-grünen Haushalt zu stopfen, statt dassLücken im alten Fernstraßennetz geschlossen werden.Von der Mineralölsteuer über die Ökosteuer bis zur KFZ-Steuer werden die Autofahrer jährlich mit weit über60 Milliarden Euro belastet; trotz dieser Summe stehensie weiter im Stau, denn nur rund 4,7Milliarden Euro wer-den in den Ausbau der Straßen investiert. Der Autofahrerist die Melkkuh der Nation.
Nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, dass das Auto dasVerkehrsmittel Nummer eins in Deutschland bleibt. Wirbrauchen ein gut ausgebautes Straßennetz, damit die Mo-bilität für alle Bürgerinnen und Bürger gewährleistet ist.Der Straßenbaubericht zeigt, dass Sie viel zu wenig Geldsowohl für den Neubau als auch für den Unterhalt aus-geben. Durch diese erheblichen Engpässe im Bundesfern-straßennetz sind Staus, die volkswirtschaftliche Verlustezur Folge haben, vorprogrammiert, von der Umweltbelas-tung ganz zu schweigen.Meine Damen und Herren, es muss sich doch herum-gesprochen haben, dass Verkehrsinvestitionen in Höhevon 1 Milliarde Euro rund 20 000 Arbeitsplätze schaffen.Sie sollten etwas für die Schaffung der dringend benötig-ten Arbeitsplätze tun.Nun noch einige Anmerkungen zum Trauerspiel Bun-desverkehrswegeplan. Vom ersten Verkehrsminister Ih-rer Regierung – vielleicht erinnern Sie sich noch, dasser Müntefering hieß – war im November 1998 für dasJahr 1999 versprochen worden, man wolle einen völligneuen Bundesverkehrswegeplan vorlegen. Man hat dannganz schnell gemerkt, dass es nicht ganz so einfach ist, ei-nen neuen Bundesverkehrswegeplan vorzulegen. Seitdemschiebt man dieses Vorhaben ständig vor sich hin.
Im letzten Jahr wurde uns versprochen, im Februarwürde ein vom Bundeskabinett beschlossener Bundesver-kehrswegeplan vorgestellt. Er liegt immer noch nicht vorund heute hören wir, dass er auf jeden Fall in der zweitenJahreshälfte vorgelegt werden soll. Ich bin gespannt,wann uns endlich ein vom Bundeskabinett beschlossenerBundesverkehrswegeplan vorliegen wird. Das, was unsim letzten Jahr präsentiert wurde, war nur ein Sammelsu-rium von Rohdaten. Es sollte nur darüber hinwegtäuschen,dass ein Bundesverkehrswegeplan fehlt.
Frau Staatssekretärin Mertens sprach in der vergange-nen Woche davon, dass Rot-Grün eine mutige Verkehrs-politik mache. Ich sage Ihnen: Sie haben den Mut, unserTransportgewerbe zu ruinieren und die Infrastruktur ka-puttzumachen; Sie sind aber nicht in der Lage, eine zu-kunftsweisende Verkehrspolitik zu gestalten.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Renate Blank
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Herr Minis-
ter Stolpe, Sie haben nun eine gute Chance, von allen ver-
wirrenden Programmen, die sich als untaugliche Finan-
zierungsinstrumente erwiesen haben und nie mit den
Ländern abgestimmt waren, Abstand zu nehmen. Mit ei-
nem stimmigen Bundesverkehrswegeplan, in dem auch
das Thema EU-Osterweiterung berücksichtigt wird, kön-
nen Sie wieder zur Klarheit und Wahrheit in der Ver-
kehrspolitik zurückkehren und mehr Geld für den
Straßenbau zur Verfügung stellen; denn die Straße ist seit
Jahrtausenden die wichtigste Verbindung zwischen Men-
schen und Regionen.
Wenn Sie eine zukunftsweisende Verkehrspolitik ma-
chen, Herr Minister Stolpe, haben Sie uns an Ihrer Seite.
Bevor ich dem Kollegen Albert Schmidt für das Bünd-
nis 90/Die Grünen das Wort gebe, nehme ich den Zwi-
schenruf des Kollegen Oswald, er könne der Kollegin
Blank noch stundenlang zuhören, zum Anlass, darauf hin-
zuweisen, dass die Begeisterung über die gehaltenen Re-
den im Präsidium nicht geringer ist als in den jeweiligen
Fraktionen, dass wir dennoch gehalten sind, die Abwick-
lung der Tagesordnung in dem Zeitrahmen vorzunehmen,
den die Fraktionen untereinander vereinbart haben.
Nun hat der Kollege Schmidt das Wort.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
„Wahrheit und Klarheit“ waren ein gutes Stichwort, Frau
Kollegin Blank. Wollen wir also zu den Fakten zurück-
kehren: Als wir 1998 die Regierungsverantwortung über-
nommen haben, hatten die Investitionen in die Schiene
in Deutschland einen historischen Tiefstand von nur noch
2,9 Milliarden Euro erreicht. Allein in diesem einen Jahr
– unter Waigels und Wissmanns Verantwortung – wurden
sie um 1 Milliarde DM, also um ungefähr eine halbe Mil-
liarde Euro, gekürzt.
Das Ergebnis: Das Bestandsnetz war verrottet, man
fuhr auf Verschleiß, es hat geholpert und gerumpelt und
die Fahrpläne wurden nicht mehr eingehalten.
Das war Ihre Hinterlassenschaft im deutschen Schienen-
netz; das sind die Fakten.
Kommen wir zu den Fakten, jetzt ist Schluss mit der Mär-
chenstunde. Wir haben bereits in den Bundeshaushalt 1999
– Sie können jede einzelne Zahl nachlesen; es sind Istzah-
len, keine Sollzahlen – 3,6 Milliarden Euro, also 700 Milli-
onen mehr, für den Schienenbau eingestellt. Die gleiche
Größenordnung gilt für das Haushaltsjahr 2000. Der Mittel-
abruf, Herr Kollege Friedrich, betrug 105 Prozent im Jahr
1999 und 102 Prozent im Jahr 2000; das heißt, es wurde so-
gar mehr abgerufen, als im Plan vorgesehen war.
Herr Kollege Schmidt, sind Sie geneigt, eine Zwi-
schenfrage der Kollegin Blank zuzulassen?
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Ich möchte diesen Gedankengang noch zu Ende
führen. Dann darf Frau Blank gerne eine Zwischenfrage
stellen. – Als im Jahr 2001, Frau Kollegin Blank, nach
dem Verkauf der UMTS-Funklizenzen das Zukunftsinves-
titionsprogramm aufgelegt wurde, war es das Verdienst
dieser Koalition – darauf bin ich noch heute stolz; ich
danke von dieser Stelle aus Reinhard Klimmt, der hier
auch ein Wörtchen mitgeredet hat –,
nicht einmalig, sondern für drei Jahre jeweils 2 Milliar-
den DM – ich betone: drei mal zwei; das ist eine Steige-
rung der Mittel im Schienenbautitel um rund 50 Prozent –
zu mobilisieren. Dass die Bahn im Jahr 2001 Mühe hatte,
das viele Geld umzusetzen, ist richtig. Deshalb hat in die-
sem Jahr der Mittelabfluss nur 87 Prozent betragen. Aber
bereits 2002 lag der Mittelabfluss bei 97 Prozent. Wir ha-
ben bei den Schieneninvestitionen ein Rekordniveau er-
reicht, von dem Sie, als Sie regiert haben, nicht einmal
träumen konnten. Das sind die Fakten. Alles andere ist
Märchenstunde.
Bitte, Frau Blank, jetzt sind Sie dran.
Kollege Schmidt, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
men, dass im Jahre 1998 – dies war also noch während un-
serer Regierungsverantwortung – die Investitionen für
Neu- und Ausbaumaßnahmen – nur davon spreche ich –
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Ich auch.
– 5,4 Milliarden DM betragen haben –Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):D-Mark!
2168
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2169
– richtig, D-Mark –, während im Bericht „Schienenwege-
ausbau 2000“ nur 4,5 Milliarden DM für Neu- und Aus-
baumaßnahmen ausgewiesen wurden? Das ist von der
Bundesregierung schriftlich vorgelegt worden. Nehmen
Sie das bitte zur Kenntnis. Es mag zwar sein, dass in an-
deren Bereichen der Bahn weitere Mittel ausgegeben
wurden. Aber ich habe nur von den Investitionen für Neu-
und Ausbaumaßnahmen gesprochen.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Es ist wunderbar, dass Sie mir Gelegenheit geben,
meine Redezeit zu verlängern. Ich antworte Ihnen – das
tue ich gerne – Folgendes: Es trifft zu, dass im Haushalts-
jahr 1998 exakt 2,9 Milliarden Euro – das ist ein histori-
scher Tiefststand – an Schienenbaumitteln geflossen sind.
Das waren 500 Millionen Euro weniger, als im Plan ei-
gentlich vorgesehen waren; denn es hat eine Anweisung
gegeben, im laufenden Haushaltsjahr eine entsprechende
Kürzung vorzunehmen. Es trifft weiterhin zu, dass in dem
Berichtszeitraum – das ist das Haushaltsjahr 2001 –, den
Sie ansprechen und über den wir heute diskutieren, exakt
2,3 Milliarden Euro für Investitionen im Sinne der Be-
darfsplanmaßnahmen verausgabt wurden. Zugleich sind
aber im selben Zeitraum – Frau Blank, wenn Sie schon
nachlesen, dann müssen Sie die entsprechende Seite im
Bericht auch zu Ende lesen – zusätzlich 1,5 Milliarden Euro
an Investivmitteln für die Erneuerung des Bestandsnetzes
geflossen. Das macht nach Adam Riese zusammen
4,3 Milliarden Euro, also circa 8,6 Milliarden DM. Das
sind 50 Prozent mehr als in Ihrem letzten Regierungsjahr.
Das sind die Fakten. Nehmen Sie sie zur Kenntnis!
Wir haben 2001 aber nicht nur die Schienenbaumittel
erhöht. Wir haben vielmehr auch zinslose Darlehen, die
nach alter Rechtspraxis der Bahn für Bestandsnetzinves-
titionen gewährt wurden, in Baukostenzuschüsse umge-
wandelt. Jeder, der schon einmal Bauplanung gemacht
hat, weiß, was das bedeutet. Das heißt nämlich, dass Maß-
nahmen, die vorher unwirtschaftlich waren, plötzlich
wirtschaftlich waren und angepackt werden konnten. Wir
haben allein auf diese Weise eine ganze Reihe von Maß-
nahmen auf den Weg gebracht, die auf Darlehensbasis
nach der alten Rechtspraxis niemals hätten verwirklicht
werden können. Auch das ist eine großartige Leistung, auf
die ich stolz bin.
Zuletzt möchte ich noch einen Blick in die Zukunft
werfen. Wir stehen vor schwierigen Aufgaben. Die Sanie-
rung des Netzes ist noch nicht beendet. Wir müssen die
Modernisierung des Netzes buchstäblich Kilometer für
Kilometer vervollständigen. Das bedeutet, dass wir das
erreichte Investitionsniveau auf vier Säulen verstetigen
müssen:
Erstens. Das betrifft im Bundesschienenwegeausbau-
gesetz die Bedarfsplanmaßnahmen, die Bestands- und Er-
neuerungsmaßnahmen.
Zweitens. Wir müssen das Ganze mit Mitteln aus den
mautfinanzierten Projekten im Sinne des Anti-Stau-Pro-
gramms ergänzen. Auch darüber sind wir uns, hoffe ich,
einig. Eigentlich wollen Sie ja die Mittel nur für die Straße
ausgeben.
Drittens. Wir müssen – das haben wir bereits getan –
dafür Sorge tragen, dass auch Investitionen aus dem Re-
gionalisierungsgesetz ins Netz fließen. Wir haben mit
dem Regionalisierungsgesetz bis zum Jahr 2007 eine ver-
lässliche, wachsende Finanzgrundlage für die Länder
geschaffen, wodurch allein jedes Jahr etwa 850 Mil-
lionen Euro zusätzlich zu den Ländermaßnahmen auch in
die Verbesserung der Infrastruktur fließen. Das muss man
zu den Kosten für die Schieneninvestitionen addieren.
Des Weiteren haben wir dafür gesorgt, dass das Gemein-
deverkehrsfinanzierungsgesetz fortentwickelt wurde. Auch
dadurch kann die Infrastruktur des Bahnnetzes verbessert
werden.
Das heißt im Klartext: Wir müssen gemeinsam dafür
Sorge tragen, dass das Erreichte erhalten bleibt und fort-
entwickelt wird. Das ist eine Garantie dafür, dass die
Schiene gegenüber der Straße weiterhin gleichberechtigt
ist und dementsprechend behandelt wird.
Wir werden außerdem darauf dringen müssen, dass die
Bundesförderung in einem sinnvollen Umfang erweitert
wird. Ich möchte dazu zwei Punkte nennen:
Erstens: Gleisanschlussprogramm im Güterverkehr.
Ein solches Programm brauchen wir. Wir benötigen eine
Förderrichtlinie, um zusätzliche Potenziale für den Schie-
nengüterverkehr – und zwar vom Werkstor an – zu er-
schließen.
Zweitens. Auch die Lärmschutzmaßnahmen am Fahr-
zeug müssen gefördert werden. Die Ersetzung der alten
Graugussbremsen durch Kunststoffbremsen schafft we-
sentlich mehr Lärmschutz als jeder Lärmwall, der für viel
Geld errichtet wird und nur dort eine Wirkung entfaltet,
wo er nun einmal steht. Ein modernisierter Güterwaggon
verursacht überall, wo er fährt, viel weniger Lärm als ein
Güterwaggon, der mit der alten Technologie ausgestattet
ist.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Ein letzter Punkt. Im Hinblick auf den neuen Bundes-verkehrswegeplan werden wir bei den Ausbau- und Neu-bauprojekten insbesondere die Erweiterung der Europä-ischen Union nach Osten im Auge haben müssen.
Wir müssen die Verbindungen nach Osten im Sinne desvordringlichen Bedarfes aufwerten.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Albert Schmidt
Verehrter Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Albert Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Von Berlin, aber auch von Nürnberg aus muss es in
Richtung baltische Republiken und Tschechien eine qua-
litativ hochwertige Schienenverbindung geben. Ich hoffe,
es wird unser gemeinsames Ziel sein, diesbezüglich neue
Akzente und neue Schwerpunkte zu setzen. Ich freue
mich schon auf die entsprechenden Beratungen im Aus-
schuss.
Vielen Dank.
Verehrter Herr Kollege, wenn die Wachstumsrate im
Verkehrsetat so eindrucksvoll wäre wie die, die das Präsi-
dium Ihrer Redezeit zugestanden hat, dann könnte diese
Debatte fast entfallen.
Nun hat der Kollege Eduard Lintner das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habenwieder einmal eindrucksvolle Beispiele für den Kern die-ser Verkehrspolitik gehört, nämlich allgemeine Bekun-dungen und Ankündigungen,
die in der Regel recht entschlossen und zukunftsweisendformuliert werden. Herr Schmidt, Ihre Zahlenspielereienbringen schon allein deshalb nichts,
weil Sie zwei Rahmenbedingungen nicht genannt haben:Erstens. Dank unserer Vorarbeit erzielte diese Regie-rung nach der Versteigerung der UMTS-Lizenzen Erlösein Höhe von 50 Milliarden Euro, die sie großzügig hateinsetzen können.
– Herr Kollege Schmidt, darauf werde ich noch zu spre-chen kommen.Zweitens. Die Bahn war bisher überhaupt in keinemJahr in der Lage, die zur Verfügung gestellten Mitteltatsächlich vollständig abzurufen. Daher handelt es sichbei vielen der von Ihnen genannten Zahlen sozusagen umLuftnummern; diese Zahlen sind zum Beweis nicht taug-lich.In den „Investitionsprogrammen für den Ausbau derSchienenwege“ von 1999 heißt es – ich möchte einmaleine dieser markigen Aussagen zitieren –:Das deutsche Verkehrsnetz trägt die Hauptlast desTransitverkehrs in Europa und hat damit einen we-sentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen IntegrationEuropas zu leisten.Dazu kann ich nur sagen: Bravo, das ist ganz richtig!
Als Ziel dieser Verkehrspolitik wird genannt:... damit bundesweit die zur Verkehrsabwicklungnotwendigen Kapazitäten verfügbar sind.Auch das ist richtig. Nur: Es ist nicht wahr. Worte und Ta-ten klaffen auseinander. Die Tatsachen sprechen eine ganzandere Sprache.Um das zu belegen, möchte ich noch einige Zahlen an-führen – weiter möchte ich Sie damit dann nicht belästi-gen –:Der Umfang des Güterverkehrs auf der Schiene hatin Ihrer Regierungszeit abgenommen und nicht zugenom-men.
Dass nicht zwangsläufig globale Tendenzen dahinterstecken, zeigt das Beispiel Österreich. Dort ist das Trans-portaufkommen auf der Schiene von 1995 bis 2001 umsage und schreibe 22 Prozent gestiegen.
Offenbar gibt es Rezepte, bei deren Befolgung man das,was Sie dauernd als Ziel propagieren, erreicht. In Öster-reich ist in der Tat manches anders als bei uns gemachtworden. Sie selbst haben ein Beispiel erwähnt; allerdingshaben Sie nur die halbe Wahrheit gesagt. Die DeutscheBahn hat Gleisanschlüsse in großem Umfang stillgelegtund jetzt verlangen Sie ein neues staatliches Programmzur Wiederherstellung dieser Gleisanschlüsse. Wider-sprüchlicher kann Verkehrspolitik wirklich nicht gestaltetwerden.
Österreich hat es durch eine derartige Förderung vonGleisanschlüssen immerhin geschafft, dass jetzt – dieZahl ist recht eindrucksvoll – 7,3 Millionen Tonnen Güterpro Jahr mehr auf der Schiene transportiert werden alsvorher.
Die deutsche Regierung hat bislang leider nur das Gegen-teil zustande gebracht.Es gibt eindrucksvolle Beispiele für diese Fehlentwick-lung, die ja nach wie vor anhält. In der letzten Ausgabe der„Deutschen Verkehrs-Zeitung“ ist einiges aufgelistet wor-den. Beispielsweise sollen auf den rechtsrheinischenHauptgleisen demnächst – so schreibt die Zeitung – fast
2170
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2171
40 Prozent aller Weichen ersatzlos entfallen und außer-halb der Hauptgleise sollen noch weitere 25 000 Weichenabgebaut werden. Die Folgen kann man leicht vorhersa-gen: Die Kapazität für die Aufnahme von Zügen wirddrastisch reduziert, weil der Bahnbetrieb natürlich nochunflexibler und noch störanfälliger wird, als er ohnehinschon ist.Mit dieser Maßnahme wird vielleicht sogar noch Fol-gendes beabsichtigt: Damit wird natürlich auch der Zu-gang von Mitbewerbern zum Schienennetz ganz erheb-lich weiter erschwert oder gar unmöglich gemacht. ImErgebnis stehen bei dieser reduzierten Kapazität für Züge,die nicht zur DB AG gehören, quasi keine Zeitfenster,keine Slots, mehr zur Verfügung. Dass das die Folge die-ser Maßnahme ist, hat übrigens auch einer, der es wissenmuss, bestätigt, nämlich der frühere Bundesbahndirek-tionspräsident Alfons Thoma.Es gibt weitere krasse Beispiele. So soll die „Rheini-sche Bahn“ stillgelegt werden. Alle, die sich da ein biss-chen auskennen, bestätigen, dass es sich dabei um dieletzte freie Bahnstrecke im Ruhrgebiet handelt, auf derüberhaupt noch Güterverkehr zusätzlich stattfinden kann.Stilllegungen, wie sie da geplant sind, stehen in einemdiametralen Gegensatz zu einem Grundsatz der Schie-nengüterverkehrspolitik, der da lautet, dass Personen- undGüterverkehr entflochten werden müssen, wenn der Gü-terverkehr auf der Schiene gesteigert werden soll. Auchhier gilt wieder: Handeln und Taten stehen in einem kras-sen Gegensatz zueinander.Man könnte noch viele Beispiele dafür nennen, etwadass Überholstrecken und Begegnungsmöglichkeitenweiter abgebaut werden. Das Ergebnis ist immer das-selbe: weniger Kapazität auf der Schiene und damitweiter erschwerter Zugang von Mitbewerbern. DasKartellrecht und die Regeln, die das Eisenbahn-Bun-desamt durchsetzen und kontrollieren soll, werdendurch die Schaffung von Fakten praktisch ständig un-terlaufen.
Es kommt noch hinzu, dass auch die Zahl der Gü-terverkehrsannahmestellen – die Kollegin Blank hatdas, glaube ich, schon erwähnt – reduziert worden ist.Wohin wir auch schauen: Es wird alles Mögliche getan,um die Verkehrskapazitäten einzuschränken, statt sie zuerweitern, was angesichts der Entwicklungen, die hierschon genannt worden sind, aber eigentlich notwendigwäre.Man darf es der Regierung nicht durchgehen lassen,dass sie sich immer dann, wenn es um diese ganz konkre-ten Maßnahmen geht, sozusagen auf das Argument vonder unternehmerischen Selbstständigkeit der Bahn zu-rückzieht und sich damit herausreden möchte; denn dieRegierung ist für die Ausrichtung der Verkehrspolitik zu-ständig.
Das bedeutet natürlich auch, dass sie ganz speziell fürdie Erreichung dieser verkehrspolitischen Ziele die Ver-antwortung trägt. Notfalls muss sie die Rahmenbedingun-gen für die Bahn so gestalten, dass die politischen Vorga-ben der Verkehrspolitik von der Bahn auch erfüllt werdenkönnen. Die Bahn hat sich unternehmerisch zu orientieren– das ist ganz klar –,
aber es muss ihr ermöglicht werden, die Vorgaben der Ver-kehrspolitik im Rahmen der unternehmerischen Tätig-keit zu realisieren. Da liegt die ganz spezielle Verantwor-tung des Bundesverkehrsministers.
– Der Wettbewerb muss her. Auch das ist richtig, HerrKollege Friedrich.Ich muss feststellen: Bis heute ist weit und breit nichtszu sehen, was als ernsthafte Konzeption der deutschenVerkehrspolitik zur Erreichung der selbst gesetzten Zielegedeutet werden könnte.
Dabei steht fest – vorhin ist diese Zahl schon einmal kurzgenannt worden –: Allein von 1997 bis 2015 werden dieGüterverkehrsmengen um 64 Prozent wachsen. DieSchiene soll davon 24 Prozent übernehmen. Wenn das sokäme, würde das eine Verdoppelung der Verkehrsleistungvon 1997 bedeuten. Zurzeit liegen wir bei knapp 8 Prozent.Wie wollen Sie Ihre hehren Ziele erreichen, wenn Sienicht wirklich für eine Trendwende in Ihrer Verkehrspoli-tik sorgen?
Diese Verkehrspolitik ist einfach zu sehr mit Ideologie be-haftet. Man träumt immer von Schienenverkehrsanteilen,die mit dieser Politik nicht zu erreichen sind.
Gleichzeitig tut man aber inkonsequenterweise zu wenig,um das Straßennetz so herzurichten und so zu erhalten,dass wenigstens dort der Verkehr einigermaßen reibungs-los laufen kann.
Meine Damen und Herren, Sie stecken, was diezukünftige Entwicklung angeht, den Kopf einfach in denSand. Dafür, dass wir das kritisieren und dass wir Sie auf-fordern, das endlich zu ändern, haben Sie sicher Ver-ständnis. Vielleicht schafft es der vierte Verkehrsministerin vier Jahren doch einmal, eine Trendwende in der Ver-kehrspolitik herbeizuführen. Wir werden das aufmerksamprüfen. In Kürze werden wir schriftlich haben und nach-lesen können, ob es gelungen ist, die nötigen Kurskorrek-turen vorzunehmen, nämlich wenn der Bundesverkehrs-wegeplan, auf den wir jetzt schon jahrelang warten, nochheuer vorgelegt wird.Meine Damen und Herren, in aller Kürze stichwortar-tig noch ein paar andere Dinge.Eduard Lintner
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Eduard LintnerHerr Bundesverkehrsminister, ein ständiges Ärgernisist die Tatsache, dass die Bahn jedes Jahr eingestehenmuss, dass sie die Investitionsmittel, die ihr eigentlichzur Verfügung stehen, nicht vollständig hat ausgebenkönnen.
Wenn es daran liegen sollte, dass die Bahn nicht in aus-reichendem Umfange eigene Planungskapazitäten hat,dann soll sie doch um Gottes willen auf private Planungs-kapazitäten zurückgreifen.
Wenn es daran liegen sollte, dass, wie Herr Mehdorn seitneuestem sagt, die Auftragnehmer die Rechnungen nichtrechtzeitig stellen, dann kann er das ja abstellen.
Aber ich habe schon den Eindruck, dass hier immerLuftnummern angeboten werden. Da werden Beträge inden Haushalt gestellt, mit denen man, wie hier, in der Dis-kussion glänzen will; in Wirklichkeit handelt es sich aberum eine Art stille Haushaltsreserve, die dann im Laufe desJahres anderweitig verbraten wird.
Herr Kollege Lintner, kommen Sie bitte zum Schluss.
Es geht dabei bei weitem nicht nur um ein paar hundert
Millionen, sondern um über 1 Milliarde Euro.
Das zeigt die Tatsache, dass mit diesen Mitteln beispiels-
weise vorzeitig Tilgungen für die Strecke Nürnberg–
Ingolstadt geleistet oder die Kostenüberschreitungen
beim Lehrter Bahnhof usw. gedeckt werden.
Denn das sind andere Zwecke. Diese Gelder waren für et-
was ganz anderes vorgesehen. Deshalb müssen Sie diese
Milliarde eigentlich zu den nicht verbrauchten Mitteln
hinzuzählen.
Dann sind Sie bei ganz erklecklichen Größenordnungen.
Ich hoffe, es gelingt Ihnen – wie gesagt, im vierten An-
lauf, als vierter Bundesverkehrsminister –, die Dinge end-
lich zu ändern. Wir halten Ihnen jedenfalls die Daumen.
Das wäre für das Land und für die Bewältigung der Zu-
kunftsaufgaben außerordentlich wichtig.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Karin Rehbock-Zureich
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Herr Lintner, Sie reden immer von Veränderungen in derVerkehrspolitik und meinen damit die einseitige Festle-gung aller Mittel zugunsten der Straße. Da muss ich Ihnendoch einfach einmal sagen: Wer eine solche Verkehrspo-litik betreibt, lebt verkehrspolitisch in der Steinzeit.
Wer hier den Kopf in den Sand steckt,
das sind nämlich Sie. Sie sprechen von 64 Prozent Wachs-tum im Bereich Güterverkehr. Wie bekommen wir das inden Griff? Wenn Sie keine ideologische Verkehrspolitikbetreiben wollen, muss Ihnen doch völlig klar sein, dassdies nicht ausschließlich auf der Straße abzuwickeln ist.
Wenn Sie hier die Haushaltszahlen von 1997 und 1998hervorkehren, um darzustellen, was die CDU/CSU-Frak-tion Großes im Bereich Schiene geleistet hat,
so will ich Ihnen noch einmal sagen, was auch der KollegeSchmidt schon gesagt hat.
Vorgesehen waren bei der Bahnreform einmal mindes-tens 10 Milliarden DM, also 5 Milliarden Euro, als Fi-nanzmittel. Aber nicht einmal 3 Milliarden Euro habenSie 1998 für die Schiene ausgegeben.
Damit war ein trauriger Tiefpunkt erreicht. Hinterher habenSie beklagt, dass der Schienenverkehr von der Substanz le-ben musste. Der Erfolg Ihrer Politik war nämlich ein maro-
2172
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2173
des Netz, da keine Investitionen in den Bestand getätigtwurden. Das heißt, die Schiene gammelte vor sich hin.Wir haben endlich damit Schluss gemacht und Neu-und Ausbaumaßnahmen finanziert: Wir haben 4,3 Mil-lionen Euro – Sie können das im vorliegenden Berichtnachlesen – ins Bestandnetz und 6,8 Milliarden Euro inden Nahverkehr und die Regionalisierung investiert. Dashätten Sie während Ihrer 16-jährigen Regierungszeit ersteinmal erreichen müssen.
Obwohl die Mittel für die Schiene massiv angehobenwurden, kam es in den ersten Jahren angesichts der zu ge-ringen Planungskapazitäten für den Ausbau zu wirklichenProblemen. Der komplette Mittelabfluss wurde im erstenJahr, nachdem die ZIP-Mittel geflossen sind, nicht er-reicht.
2002 jedoch sind von den zur Verfügung stehendenMitteln nur 3,5 Prozent nicht abgerufen worden, also150 Millionen Euro.
Es kann doch niemand sagen, dass der Mittelabfluss imSchienenverkehr nicht funktioniert, wenn bis zu 97 Pro-zent der Mittel abgerufen und 4,1Milliarden Euro verbautwerden.
Selbstverständlich erwarten wir als Parlamentarier, dassalle Mittel abfließen; das ist ganz klar. Hier hat die Bahnnatürlich auch die unternehmerische Verpflichtung, Bau-projekte fortzusetzen, Planungen zügig in Gang zu setzenund Baumaßnahmen noch besser als bisher abzustimmen.
Der erheblich erweiterte Finanzrahmen macht deut-lich, was dieses Parlament und diese Koalition erreichthaben. Wir haben erreicht, dass einerseits der Verkehrs-träger Schiene mit der Straße gleichgesetzt wurde, dassandererseits aber auch die Kontrollfunktionen in Bezugauf die Haushalte immer wahrgenommen wurden. Wirwerden das in Zukunft bei der Verabschiedung der Be-darfspläne genauso tun.Wir haben auch die Rahmenbedingungen für den Ver-kehrsträger Schiene verbessert: Auf europäischer Ebenebringt die Öffnung der Netze mehr Wettbewerb auf derSchiene. Mit der Öffnung werden grenzüberschreitende,lang laufende Verkehre möglich. Dies ist die Chance fürdie Zukunft. Dies müssen wir voranbringen.
Wir haben – das ist ein ganz wichtiger Einstieg – dieLKW-Maut auf den Weg gebracht. Ab Sommer 2003werden LKWs an ihren Wegekosten beteiligt. Die hier-durch eingenommenen Mittel fließen nicht ausschließlichin den Verkehrsträger Straße, sondern nur zu 50 Prozent;50 Prozent kommen der Schiene und den Wasserstraßenzugute. Dies ist im Gegensatz zu Ihrer Steinzeitpolitikwirklich ein integrierter Ansatz.
Als ganz wichtig sehen wir es auch an, hier nicht nurfür Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern, sondernauch für Wettbewerb auf der Schiene zu sorgen. UnserZiel ist dabei ein flächendeckendes Schienennetz. Damüssen alle Wettbewerber gleich behandelt werden; allemüssen die gleichen Chancen haben.Diese fairen Wettbewerbsbedingungen brauchen wir,Herr Lintner, für die Verdoppelung des Güterverkehrs aufder Schiene, die nötig ist, damit wir nicht alle im Stau ste-hen.
– Das glaubt die Bahn sehr wohl.
Ein Weg dahin ist die Sanierung des Netzes, die wir inGang gesetzt haben. Das ist die Voraussetzung für funk-tionierende Güterverkehre auf der Schiene. Außerdemmüssen wir dafür sorgen, dass mehr Unternehmen als bis-her an die Schiene angebunden werden.
So ist es sehr wohl richtig und wichtig, dass wir Gleis-anschlüsse fördern, die direkt an das Schienennetz ange-bunden sind.
Man kann der Meinung sein, das Gleisanschlussprojekt,das Georg Leber gefordert und eingeführt hat und dessenverrostete Gleise wir heute vor Augen haben, habe nichtfunktioniert, weil es nicht nach Bedarf eingerichtet wor-den sei.
Die Österreicher sind für uns ein wichtiges Vorbild, weilsie es geschafft haben, mit Beteiligung der Unternehmenmehr Güterverkehr auf die Schiene zu bringen.Wenn Sie immer beklagen, dass wir nicht ausreichendGüterverkehr auf die Schiene bekommen, dann fordereich Sie auf: Tragen Sie doch zur Entwicklung dieses Pro-gramms bei und stimmen Sie zu,
Karin Rehbock-Zureich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Karin Rehbock-Zureichwenn wir dafür sorgen wollen, dass Finanzmittel auch fürdie Förderung von neuen Gleisanschlüssen zur Verfügunggestellt werden! Ich denke, es ist nicht sinnvoll, den Ver-kehrsträger Straße einseitig zu bevorzugen. Wir benötigenalle Verkehrsträger. Kehren Sie zu einer Politik zurück,die alle Verkehrsträger integriert sieht, zum Wohle vonuns allen und gegen den Stau!Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Gerhard Wächter von
der CDU/CSU.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Zunächst zu Ihnen, Frau Rehbock-Zureich. Wenn Sie sa-gen, dass Herr Lintner in der Steinzeit lebt, weil er auf dieProbleme des Straßenverkehrs hinweist, dann muss ichSie fragen: Wo leben Sie eigentlich? Jedenfalls leben Sienicht in der Realität, wo wir entsprechende Probleme tag-täglich feststellen.
Meine Damen und Herren, in fast allen Debatten-beiträgen wurde zu Recht betont, dass Mobilität und einhoch entwickeltes Verkehrssystem entscheidende Voraus-setzungen für wirtschaftliches Wachstum sowie für denErhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen sind. Daswar in der Vergangenheit so und das wird für die Zukunftvon noch größerer Bedeutung sein. Es ist ja schon auf dieEU-Osterweiterung hingewiesen worden, die wir in ei-nigen Monaten zu erwarten haben.Es gilt: Zukunftssicherung des WirtschaftsstandortesDeutschland heißt Zukunftssicherung und Optimierungder Verkehrsinfrastruktur.
Für uns Verkehrspolitiker ist das gewiss unbestritten, aberfür andere durchaus keine Selbstverständlichkeit, wenn esdarauf ankommt, die immer knapper werdenden Haus-haltsmittel zu verteilen und zu beurteilen, wo das Geld amnotwendigsten gebraucht wird und letztendlich hin soll.Wenn man im Blick hat, dass wir wieder mit 2 Milliar-den Euro weniger Steuereinnahmen zu rechnen haben,wird man schnell feststellen, wie dieser Verteilungskampfaussehen wird.Schuld daran ist die Bundesregierung, die nicht in derLage ist, die Weichen so zu stellen, dass endlich ein Ruckdurch Deutschland geht, dass Unternehmer und Arbeit-nehmer wieder Hoffnung schöpfen und Licht im Tunnelsichtbar wird. Das ist die Wahrheit.
So sicher wie das Amen in der Kirche wird dieszwangsläufig auch Folgen für die zukünftige Finanzie-rung der notwendigen Investitionen in den Ausbau undErhalt vor allem im Straßenbereich haben, der am nötigs-ten Geld braucht. Denn der Straßenverkehr ist und bleibtder Motor unserer Wirtschaft. Wir wissen, dass inDeutschland jeder siebte Arbeitsplatz vom Auto abhängtund dass das Auto das Verkehrsmittel Nummer eins istund weiterhin bleiben wird. Da ich aus dem ländlichenRaum komme, kann ich das besonders gut beurteilen.
Das Ergebnis der vierjährigen rot-grünen Politik ist– trotz aller gegenteiligen Darstellungen –, dass das deut-sche Autobahnnetz kaum noch europäisches Mittelmaßerreicht.
Gemessen an der Ausstattung mit Autobahnen im Ver-gleich zum Fahrzeugbestand befindet sich Deutschlandim europäischen Vergleich nur noch auf Rang zehn. Hierhat uns mittlerweile – das kann man nachlesen – sogarPortugal überholt.
Das kann sich der Wirtschaftsstandort Deutschland nichtleisten. Er kann sich auch – das müssen wir besonders be-achten – die staubedingten Kosten in Höhe von 100 Mil-liarden Euro pro Jahr nicht leisten. Das ist eine unglaub-liche Verschwendung.
Alle Prognosen zeigen eindeutig, dass Deutschland alsLand in der geographischen Mitte Europas in den nächs-ten Jahren und Jahrzehnten durch die Entwicklung desPersonen- und Güterverkehrs vor großen Herausforde-rungen steht. Bis 2015 müssen wir in Richtung Osten miteinem Zuwachs beim grenzüberschreitenden Verkehr umcirca 200 Prozent rechnen. Schätzungen für die Zunahmeim Bereich des Personenverkehrs liegen zwischen 25 undfast 70 Prozent. Deutschland ist auf diese Entwicklungnicht vorbereitet, unter anderem auch deswegen, weil diebis zum Regierungswechsel 1998 eingeleiteten Maßnah-men seit vier Jahren stagnieren.
Das wird sich bitter rächen.Anfang September soll endlich die Maut für LKWskommen. Ich habe allerdings Zweifel, ob sie funktionie-ren wird; denn der Bundesverband Güterkraftverkehr hatbekanntlich mit einem Boykott des Einbaus der Maut-erfassungsgeräte gedroht. Man spricht vom so genannten„Super-GAU Maut“. Grund dafür ist, dass die Bundes-regierung nur 300Millionen Euro für die Harmonisierungzahlen will. Dieser Betrag reicht bei weitem nicht aus,um die mautbedingten Wettbewerbsnachteile auch nurannähernd auszugleichen.
Ich will noch einmal deutlich betonen, dass dieCDU/CSU-Fraktion diese Entscheidung der Bundes-
2174
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2175
regierung für völlig inakzeptabel hält; denn die Maut wirddie schon jetzt äußerst angespannte Situation der Brancheweiter verschärfen und noch mehr Betriebe in diesem mit-telständischen Gewerbe in den Ruin treiben. Das bedeu-tet gleichzeitig, dass zigtausend Arbeitsplätze verlorengehen und dass die Wahrscheinlichkeit von 5 MillionenArbeitslosen immer größer wird.Die Bundesregierung hat vollmundig versprochen, dieMaut werde zur Finanzierung der Verkehrsinfrastrukturvor allem im Straßenbau genutzt. Tatsache ist aber, dassder größte Teil – darauf ist schon hingewiesen worden –zur Sanierung des Haushalts in die Kassen des Finanzmi-nisters fließt und nicht der direkten Finanzierung der Ver-kehrsinfrastruktur zugute kommt. Es muss gelten: Wer dieZeche zahlt, hat einen Anspruch darauf, dass dafür adä-quate Gegenleistungen erbracht werden, und zwar 1 : 1.Ansonsten handelt es sich um reine Abzockerei.
Was den Schienenverkehr betrifft, ist es eine reineWunschvorstellung – das ist schon gesagt worden –,durch die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schieneden Anteil des Schienenverkehrs zu verdoppeln. Ich willin diesem Zusammenhang daran erinnern, dass seit 1999deutlich mehr als 100 regionale Schienenstrecken vonrund 1 300 Kilometer Länge, insbesondere in ländlichenRäumen, stillgelegt und dass mittlerweile rund zwei Drit-tel der Containerbahnhöfe geschlossen worden sind.
Aber auch da, wo Stadt und Kreis bereit waren, sich an derFinanzierung der Einrichtung eines Containerbahnhofs zubeteiligen, hat die Bahn – wie zum Beispiel bei mir imKreis Paderborn – klar abgewinkt.Da kommt wenig Hoffnung auf, ein solch ehrgeizigesZiel zu erreichen. Wir als Politiker und insbesondere dieBundesregierung sind verpflichtet, die Bahn auf ihre Ver-antwortlichkeit hinzuweisen. Sie bekommt viel Geld ausdem Haushalt. Dies muss sie dem Steuerzahler gegenüberrechtfertigen.
Abschließend zu den beiden vorliegenden Gesetzent-würfen; einiges ist dazu schon vorgetragen worden. Wich-tigstes Ziel war 1991, für den Aufbau einer ausreichendenVerkehrsinfrastruktur in den neuen Bundesländernschnellere Zulassungs- und Verwaltungsverfahren zuschaffen, als sie es in den alten Bundesländern gibt. Eshandelt sich also um Sonderrechte für die neuen Bundes-länder. Wir können mit Genugtuung feststellen, dass sichdas bestehende Gesetz sehr positiv auf den Aufbau Ostausgewirkt hat.
Aber der Aufbauprozess ist noch lange nicht abge-schlossen und wird auch nicht bis zum Ende des Jahres 2004erledigt sein. Deshalb ist eine erneute Verlängerung derGeltungsdauer dieses Gesetzes notwendig. Aus unsererSicht sollte eine Verlängerung bis 2019 erfolgen, weil zudiesem Zeitpunkt der Solidarpakt II auslaufen wird. Vorallen Dingen geben wir damit den neuen Bundesländernein richtiges Signal, nämlich Planungssicherheit für einenlangen Zeitraum. Dieses Signal und diese Sicherheit brau-chen die neuen Bundesländer.
Ich hoffe, dass wir im Interesse der Bürgerinnen undBürger in den neuen Bundesländern im weiteren Verlaufder Beratungen zu einem Konsens kommen werden.Ich danke Ihnen vielmals.
Herr Kollege Gerhard Wächter, ich beglückwünsche
Sie zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herz-
lichen Glückwunsch!
Das Wort hat jetzt der Kollege Siegfried Scheffler von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Herr Kollege Wächter, auf zwei Drittel Ihrer Redekönnte man eine ganze Menge entgegnen. Ich stimmeaber ausdrücklich dem zu, was Sie zuletzt im Hinblick aufdas Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz an-gesprochen haben. Wir haben in den neuen Bundeslän-dern aufgrund dieses Gesetzes viel erreicht. Dazu hat diealte Bundesregierung beigetragen und dazu trägt seit 1998natürlich auch die rot-grüne Bundesregierung bei.Herr Kollege Friedrich bzw. Frau Kollegin Blank, Siehaben Minister Stolpe vorgeworfen, er sei auf dieses Pro-blem nicht sehr detailliert eingegangen.
Ich brauche den Minister nicht in Schutz zu nehmen, kannihn aber, da er früher Ministerpräsident war, als Kronzeu-gen heranziehen. Denn gerade Brandenburg – damals un-ter Ministerpräsident Stolpe – war Mitinitiator einer Bun-desratsinitiative, die dazu führte, dass die Geltungsdauerdieses Gesetzes 1995 und dann noch einmal 1999 verlän-gert wurde.
Insofern zeigt sich bei Minister Stolpe Kontinuität. Er hatmehrfach darauf hingewirkt, dass gerade in den neuenBundesländern die positiven Aspekte dieses Gesetzeszum Tragen kommen.
Gerhard Wächter
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Siegfried SchefflerHerr Kollege Wächter, Sie haben ausdrücklich betont,dass es dabei um ein Sondergebiet, um die neuen Bun-desländer, geht. Zudem ist die Geltungsdauer dieses Ge-setzes zeitlich beschränkt. Als Abgeordneter aus denneuen Bundesländern möchte ich natürlich darauf hin-weisen – darin stimme ich mit Ihnen vollkommen überein –,dass wir mit dem geltenden Bundesverkehrswegeplannoch nicht das erreicht haben, was wir uns vorgenommenhaben. Ich stimme mit Ihnen von der Opposition auchüberein, dass wir zukünftig mit Blick auf den neuen Ver-kehrswegeplan, aber auch – das sage ich so deutlich wieSie – mit Blick auf die EU-Osterweiterung zusätzlicheVerkehrswege – ob Schiene, Wasserstraße oder Straße –benötigen.Auch deshalb müssen wir uns überlegen, ob wir dieGeltungsdauer des jetzigen Verkehrswegeplanungsbe-schleunigungsgesetzes verlängern. Ich meine, wir stim-men hier im Hause darin überein, dass wir eine solcheVerlängerung benötigen. Aber ob diese Verlängerung bis2019, wie im CDU/CSU-Antrag gefordert, bzw. bis 2010,wie die FDP es wünscht, gehen sollte, das sollten wir unsgenau überlegen.Wir können uns als Politiker wünschen – wir wünschenuns ja manchmal etwas nach dem Prinzip Wunsch undWolke –, dass dieses Gesetz eine lange Geltungsdauer hat,aber wir sollten uns auch fragen, ob es immer rechtlichBestand haben kann. Wir sollten also nicht Gesetze vor-formulieren, bei denen von Anfang an erhebliche rechtli-che Bedenken bestehen. In diesem Fall haben die Justiz-minister der Länder ihre rechtlichen Bedenken seitetlichen Jahren vorgetragen. Ich selbst hatte als Staatsse-kretär 1999 die Gelegenheit, im Vermittlungsausschussmit den Vertretern des Bundesrates über die Verlänge-rung der Geltungszeit des Gesetzes zu diskutieren, und wirsind zu einem Kompromiss – Verlängerung bis 31. Dezem-ber 2004 – gekommen. Aber auch aus Ihren Reihen sindschon damals rechtliche Bedenken vorgetragen worden.Wir sollten deshalb nicht darum kämpfen, ob die Gel-tungsdauer des Gesetzes nun bis 2009 oder bis 2010 ver-längert werden soll.
In Vorbereitung auf die heutige Diskussion habe ichmich auch mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtsbeschäftigt, in dem es allerdings – Sie wissen das – nichtum das Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz,sondern um das Investitionsmaßnahmegesetz geht,
in dem aber in vier Kapiteln extra auf das Verkehrswege-planungsbeschleunigungsgesetz abgehoben wird. Darinwird detailliert dargelegt, dass es nur für ein begrenztesGebiet und für eine begrenzte Zeit gilt. – Herr Friedrich,ich habe ja vom Urteil zum Investitionsmaßnahmegesetzgesprochen und stimme Ihnen insofern ausdrücklich zu,dass das etwas anderes ist.
Das Urteil liegt mir schriftlich vor. – Kollege Oswald, ichbin der letzte Redner und ich möchte meinen Debatten-beitrag hier zu Ende bringen, auch weil ich mit Ihnen jadarin übereinstimme, dass das Investitionsmaßnahmege-setz etwas anderes ist,
aber im Urteil wird auch auf das Verkehrswegeplanungs-beschleunigungsgesetz abgehoben. – Entschuldigung, ichmeine natürlich Horst Friedrich.
Wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Nein, ich möchte meine Rede fortsetzen.
Ich habe mich in Vorbereitung auf diese Debatte beim4. und beim 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts inLeipzig sehr detailliert sachkundig gemacht.
Wir stimmen ja in einigen Dingen überein, KollegeFriedrich. Außerdem hatte ich heute ein längeres Ge-spräch mit dem Präsidenten des Bundesverwaltungsge-richts, Herrn Hien, geführt. Herr Präsident Hien war – dassage ich jetzt vielleicht ein bisschen flapsig – schlichtwegentsetzt über eine eventuelle Geltungsdauer bis 2019 und– jetzt komme ich zum Antrag der FDP – über die Aus-weitung auf die alten Bundesländer.Weil es auch im öffentlichen Raum sehr viele rechtli-che Bedenken gibt, möchte ich darum bitten, dass wir unsan das halten, was wir selbst uns als Bundesgesetzgeberauf die Fahne geschrieben haben. Der Deutsche Bundes-tag hat in seiner 63. Sitzung am 28. Oktober 1999 – das istvielleicht für die Kolleginnen und Kollegen von der FDPsehr interessant – im Zuge des Gesetzgebungsverfahrenseine Beschlussempfehlung angenommen, aus der ich jetztzitiere:Die Bundesregierung wird gebeten, dem Bundestagein Jahr vor dem Auslaufen des in seiner Gültigkeitverlängerten Verkehrswegeplanungsbeschleunigungs-gesetzes, das heißt bis zum 31. Dezember 2003, ei-nen Erfahrungsbericht vorzulegen, der Aufschlussüber die nach diesem Gesetz geplanten Verkehrspro-jekte und die beschleunigten Effekte nach diesemGesetz gibt.Interessant ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von derFDP, dass der Entschließungsantrag seinerzeit von IhrerFraktion eingebracht wurde.
2176
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2177
– Das ist ja auch vernünftig. Sie brauchen sich doch garnicht zu überholen.
In der DDR gab es früher das Schlagwort „Überholenohne einzuholen“. Nach dem Motto handeln Sie jetzt einbisschen.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 15/265, 15/280, 15/221 und 15/461 andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes– Graffiti-Bekämpfungsgesetz –
– Drucksache 15/404 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und ArbeitAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesenb) Beratung des Antrags der Fraktionen derCDU/CSU und der FDPFür eine Internationale Sicherheitsinitiative fürNordostasien– Drucksache 15/469 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionEs handelt sich um Überweisungen im vereinfachtenVerfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 d sowie Zu-satzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zuVorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 12 a:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 15 zu Petitionen– Drucksache 15/424 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 15 ist damit einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 12 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 16 zu Petitionen– Drucksache 15/425 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 16 ist ebenfalls einstimmigangenommen.Tagesordnungspunkt 12 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 17 zu Petitionen– Drucksache 15/426 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 17 ist ebenfalls einstimmigangenommen.Tagesordnungspunkt 12 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Siegfried Scheffler
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Vizepräsident Dr. Hermann Otto SolmsSammelübersicht 18 zu Petitionen– Drucksache 15/427 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Sammelübersicht 18 ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionenvon CDU/CSU und FDP angenommen.Zusatzpunkt 4:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses
zu den Streitsachen vor dem Bundesverfas-sungsgericht 2 BvE 1/02 und 2 BvE 2/02– Drucksache 15/479 –Berichterstattung:Abgeordneter Andreas Schmidt
Der Rechtsausschuss empfiehlt, in den verfassungsge-richtlichen Verfahren Stellung zu nehmen und den Präsi-denten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu be-stellen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist einstimmig angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- undWohnungswesen zu dem Antragder Abgeordneten Wolfgang Börnsen ,Dirk Fischer , Eduard Oswald, weitererAbgeordneter und der Fraktion der CDU/CSUSeesicherheit optimieren – nationaler und euro-päischer Handlungsbedarf nach Tankerunter-gang der Prestige– Drucksachen 15/192, 15/370 –Berichterstattung:Abgeordnete Annette Faßeb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh-nungswesen zu der Unterrichtungdurch die BundesregierungBericht der Bundesregierung zur „MaritimenSicherheit auf der Ostsee“– Drucksachen 14/9487, 15/345 Nr. 69, 15/488 –Berichterstattung:Abgeordneter Wolfgang Börnsen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat derKollege Wolfgang Börnsen von der CDU/CSU-Fraktiondas Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Der folgenreiche Untergang des Ölgroßtankers „Prestige“vor der Küste Spaniens hat auch die Bürger unseres Lan-des erkennen lassen: Wir leben in Sachen Seesicherheitauf einem Pulverfass. Der Schiffsverkehr nimmt welt-weit zu, Öl- und Chemikalientanker werden immer größerund 40 Prozent der Welttankerflotte sind älter als 20 Jahre.Meldungen über Seeunfälle reißen nicht mehr ab. Seit derHavarie der „Prestige“ vor drei Monaten hat es fünf wei-tere Schiffsunglücke in europäischen Meeren gegeben.Wir sind derzeit nur einen Herzschlag von neuen Seeka-tastrophen entfernt. Die Bedrohung für Mensch und Na-tur wächst täglich. Die Bundesregierung und die EU-Kommission reagieren auf diese Herausforderung mitAnkündigungen und Absichtserklärungen. Das reichtnicht aus.
Können, müssen und sollen – Stolpe muss endlich han-deln und nicht nur wollen. Die Bürger wollen keine Be-schreibung der Handlungsmöglichkeiten nach Ölkatastro-phen auf See. Sie wollen den Vollzug von Maßnahmen.Dazu gehören: Einhüllentanker gehören weltweit außerDienst gestellt,
in gefährlichen Seegebieten ist sofort eine Schiffsmelde-und Lotsenpflicht einzuführen, Radar- und Schiffsidenti-fizierungssysteme sind in Risikoregionen auf See sofortund unverzüglich zu installieren und schrottreife Seelen-verkäufer haben auf Weltmeeren nichts mehr verloren.
Wir benötigen endlich eine europäische Küstenwache.Nationale Schutzmaßnahmen reichen nicht mehr aus. Wirwollen keine Diskriminierung der Seeschifffahrt undkeine Einschränkung des Seehandels. Wir wollen aber,dass den fliegenden Holländern auf See endlich das Hand-werk gelegt wird.Bereits vor dem verheerenden Ölunfall des Tankers„Erika“ vor Frankreichs Küste im Jahre 1999 habenUnion und FDP auf die Schwachstellen der Seesicherheitaufmerksam gemacht. Ich will zugestehen, dass es inRandbereichen Verbesserungen für mehr Seeschutz gege-ben hat. In der grundsätzlichen Gefahrenabwendung hatsich seitdem aber fast gar nichts getan. So ist es bei derDeadline für Einhüllentanker im Jahre 2015 geblieben.Wir sagen: Das ist viel zu spät. Der Termin ist vorzuzie-hen.
Nach Angaben des Werftenverbandes könnte die Umrüs-tung der Welttankerflotte auf Doppelwandboote indreieinhalb Jahren erfolgen.Bei vier Verkehrsministern, die Herr Schröder in fünfJahren hat anmustern lassen, kann es weder ein Konzeptnoch eine Kontinuität für mehr Seesicherheit geben. Esbrauchte vier Jahre, um nach dem Unglück der „Pallas“das Havariekommando in Cuxhaven einzuführen. Vierverlorene Jahre lagen dazwischen. Bei diesem Kom-mando handelt es sich um ein Managementsystem beiSeeunfällen. Unter anderem sollen ökologische Seeschä-den eingedämmt werden. Schutzmaßnahmen sind nachunserer Auffassung nur ein Teil der optimierten See-
2178
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2179
sicherheit. Die eigentliche Ausrichtung von Seesicherheitmuss es sein, Seeunfälle zu verhindern, also vorzubeugen.
Das ist zum Beispiel auch eine verdienstvolle Forde-rung der Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste. Esgeht bei uns wie in anderen Ländern auch um ein ganz-heitliches Sicherheitssystem. Es geht um Safety andSecurity und nicht nur um einen Teil davon.Die Union verfolgt mit ihrem heutigen Antrag diesesZiel. Er wird von der Mehrheit des Hauses heute abge-lehnt werden.
Nach dem parlamentarischen Verständnis von Rot-Gründarf es einen Erfolg der Opposition nicht geben. Vor vierWochen haben wir einem ähnlichen Antrag von Rot-Grünzugestimmt, weil man nach unserer Auffassung bei dernationalen Sicherheit endlich die parteipolitischen Scheu-klappen ablegen muss.
Ich komme zur Sache zurück. Über 25 000 Tonnen gif-tigen Schweröls sind durch den Untergang des Großtan-kers „Prestige“ ins Meer und an die Küste gelangt. 50 000Tonnen befinden sich noch in den Tanks. Das Wrack liegtin einer Tiefe von 3 600 Metern. Täglich strömen nochgroße Mengen Öl aus. Die Ölpest ist nicht zu Ende. DieBegrenzung der Katastrophe durch das Einschleppen der„Prestige“ in einen Nothafen hat es nicht gegeben, weil eseine verbindliche Nothafenregelung weder national,noch europäisch, noch international gibt.Seit den Unglücken der „Pallas“ und der „Erika“ istdieser Tatbestand bekannt, als sich dänische und französi-sche Häfen weigerten, die Havaristen aufzunehmen. VierJahre lang hat es durch die Bundesregierung Problembe-schreibungen, aber keine wirklichen Problemlösungengegeben. Auch jetzt noch weigert sich BundesministerStolpe, Nothäfen zu benennen, obwohl ihn die EU-Kom-mission dazu verpflichtet hat. In einer Antwort auf meineAnfrage hat man mir gestern mitgeteilt, man sei dabei,Daten zu sammeln. Eine Benennung der angekündigten40 Nothafenliegeplätze gibt es nicht.Dabei hätte ein Ölunfall vom Ausmaß der „Prestige“ imökologisch hochsensiblen Wattengebiet der Nordsee ebensoverheerende Folgen wie im Fastbinnenmeer der Ostsee. Voneiner solchen Katastrophe sind wir derzeit nur einen Wim-pernschlag entfernt. Täglich passieren Risikogroßtanker imAlter der „Prestige“ von 26 Jahren in der Kadetrinne zwi-schen dem dänischen Falster und dem deutschen Darß dieseenge, gefährliche Zone. In dieser Gefahrenzone gibt es proJahr 65000 Schiffsbewegungen, davon sind 8200 Tanker.Es ist eine der am stärksten befahrenen und eine der gefähr-lichsten Schiffsrouten in Europa.Es gibt weder eine Meldepflicht noch eine Lotsenan-nahmepflicht, weder eine ausreichende Radarüberwa-chung noch ein funktionierendes Schiffsidentifizierungs-system. Tag für Tag sind hier aber tickende Zeitbombenunterwegs. Einhüllengroßtanker gehören dazu. Das„Flensburger Tageblatt“ schrieb von „Öl-Geisterschif-fen“. Nicht Sicherheitslücken registrierte Greenpeace ineiner kenntnisreichen Dokumentation in diesem Seege-biet, sondern ein dramatisches Sicherheitsloch.Russland blockiert seit Jahren durch seine Verweige-rung der Kooperation eine europäische Ostsee-Sicher-heitslösung. Ich hätte mir gewünscht, dass BundeskanzlerSchröder bei seinen häufigen Gesprächen mit Putin diesesFehlverhalten Russlands zur Sprache gebracht hätte; dennnur internationale Abkommen helfen der Ostsee.
Der Öl- und Gastransport von russischen Häfen durch dieOstsee wächst sprunghaft an. Die Sicherheit jedochwächst nicht mit. Im Gegenteil: Da unter anderem die Ver-einigten Staaten ein Einlaufverbot für Einhüllentankerpraktizieren, steigt die Anzahl der Risikoschiffe im euro-päischen Raum. Überspitzt formuliert: Der Schrott weichtnach Europa aus. Das ist der Tatbestand.Auch die „Prestige“ hatte Schweröl aus Russland ge-bunkert. Doch statt knallhart und konsequent wie dieAmerikaner zu reagieren, beklagen EU-Kommission undleider auch die Bundesregierung die Lage und entschei-den nur zögerlich. Man kann, man müsste, man sollte –Fachmann dafür ist Bundesverkehrsminister Stolpe.
Als in diesen Tagen der russische Öltanker „MinervaNounou“ mit 100 000 Tonnen Rohöl im finnischen Meerim Eis festsaß, hat es Moskau abgelehnt, einen Eisbrecherzu entsenden. Dabei war die Lage überaus dramatisch.Der in Griechenland registrierte Tanker war nur für Eis-stärken bis 30 Zentimeter zugelassen. Er hätte bei einerEisdecke von 60 Zentimetern und einem Packeis von2 Metern gar nicht auslaufen dürfen. Nur unter großemEinsatz gelang es Finnland, die Fahrrinne freizumachen.Damit ist in letzter Minute eine Ölkatastrophe in der Ost-see verhindert worden. Einhüllentanker gehören nicht indie Ostsee!
Die Verweigerung Russlands kann von niemandem ge-duldet werden. Gemeinsame Seesicherheit ist das Gebotfür alle Ostseeanrainer. Dazu gehört auch ein verstärkterSchutz bei Risikoschiffen vor terroristischen Angriffenund Piraterie. Der Terroranschlag auf den französischenTanker „Limbourg“ im Jemen hätte auch in Kiel oderCuxhaven passieren können. Das Attentat auf den US-Zerstörer „Cole“, bei dem 17 US-Soldaten ums Leben ge-kommen sind, wäre auch in Warnemünde und Wilhelms-haven möglich gewesen.An Nord- und Ostseeküste registrieren wir jährlichmehr als 200 000 Schiffsbewegungen, im Nord-Ostsee-Kanal fast 35 000. Weder das Havariekommando noch diebeiden Bundesküstenwachen, die Landesküstenwachenund die Zentren der Wasserschutzpolizeien sind dafürWolfgang Börnsen
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Wolfgang Börnsen
ausreichend ausgerüstet und mit genügend Kompetenzenausgestattet.Die Union bleibt dabei: Wir benötigen mehr denn jeeine nationale Küstenwache bzw. ein Seesicherheitszen-trum, das Bundesgrenzschutz und Bundesmarine miteinschließt. Derzeit scheint die Bundesregierung aberkeine Kraft zu haben, durch einen Staatsvertrag oder eineGrundgesetzänderung dafür zu sorgen.Die zunehmende Bedrohung durch terroristischeAnschläge, um die Seetransportkette zu zerstören, ver-langt aber auch eine Überprüfung der Trägerkompetenz.Ist es eigentlich in Zukunft vertretbar, dass der Verkehrs-minister dafür zuständig ist, oder wäre nicht eventuell derBundesinnenminister mit seinen 30 Sicherheitsboten bes-ser dafür geeignet?Auf jeden Fall gilt: Zur Sicherheit der Bürger, zumSchutz der Meere, zur Aufrechterhaltung des Seehandelsund um unserer Verantwortung für eine intakte Umweltgerecht zu werden, benötigen wir eine Seesicherheit, dieSafety and Security umfasst.Danke schön.
Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin
Angelika Mertens.
A
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Lieber Herr Börnsen, man könnte fast glauben, denOstseeverkehr gäbe es erst seit 1998.
Sie reagieren mit einer Aufgeregtheit, Schärfe und Bitter-keit, die ich aus Ihrer Sicht fast verstehen kann. Ich habenämlich in den Debatten über die Schiffssicherheit ausden vergangenen Jahren nachgelesen. Dabei ist mir eineDebatte aus dem Jahre 1993 besonders aufgefallen, in derSie ähnliche Forderungen wie eben erhoben haben.
In Ihrer Fraktion sind Sie damit jedoch nicht durchge-drungen.
Sie können aber jetzt ganz entspannt zuhören, wenn ichvortrage, welche Maßnahmen wir ergriffen haben.Zu den Nothäfen möchte ich anmerken – ich habe dieUnterlagen gestern unterschrieben –, dass wir keine Not-häfen ausweisen. Das macht übrigens mit Ausnahme vonNorwegen niemand. Wir haben Ihnen in unserer Antwortdeutlich gemacht, dass wir Notliegeplätze vorhalten. DaSie von der Küste stammen, ist Ihnen sicherlich bekannt,dass jede Reede und jeder Hafen als Notliegeplatz dienenkönnen.Vielleicht können wir aber noch einmal sozusagen bi-lateral über dieses Thema sprechen, damit Sie uns nichtvorwerfen, wir würden keine Nothäfen ausweisen. Esmuss immer eine Einzelfallentscheidung getroffen wer-den. Havarierte Schiffe mit bestimmten Problemen kön-nen nicht überall hingebracht werden. Insofern rate ich zumehr Gelassenheit.Die Ostsee ist ein junges und flaches Gewässer, daserst vor ungefähr 17 000 Jahren entstanden ist. Die Küstensind einmalig. Es gibt Fjorde und Schärenküsten, die Bod-denküste in Mecklenburg-Vorpommern, die Förde inSchleswig-Holstein, das Kliff und die Ausgleichsküsten,an denen man so schön am Strand liegen kann. Auch dieHaff- und Nehrungsküste gehört dazu.Es ist also eine einzigartige Küste, die wir in zweifa-cher Hinsicht schützen müssen. Wir müssen sie aus öko-logischen wie auch aus ökonomischen Gründen schützen.Denn Küstenregionen sind bei uns in der Bundesrepubliktraditionell strukturschwach. Deshalb kommt dem Touris-mus eine besondere Bedeutung zu. Gerade auch deshalbmüssen wir bei der Sicherheit auf der Ostsee hohe Maß-stäbe anlegen.Der vorliegende Bericht gibt Auskunft über internatio-nale, nationale wie auch regionale Maßnahmen. Er gibtauch Auskunft über Maßnahmen, die sich derzeit in derUmsetzungsphase befinden. Wir haben schon viel er-reicht. So haben wir das Maßnahmenpaket Erika I bereitsvollständig umgesetzt und befinden uns derzeit in derUmsetzung von Erika II. Wir betreiben die Umsetzungmit Hochdruck und sind ebenfalls mit Hochdruck mit derschnellen Umsetzung des im Dezember vergangenen Jah-res vom Europäischen Rat beschlossenen Maßnahmenpa-kets zu mehr Sicherheit auf See befasst.Wir ziehen also durchaus Konsequenzen aus denschweren Schiffsunglücken, vor allen Dingen aus dem der„Prestige“. Diese Maßnahmen werden sich auch nachhal-tig auf die Ostsee auswirken.Neben der bereits erwähnten Beschleunigung der be-schlossenen Maßnahmen wurden und werden weitereSchritte unternommen, zum Beispiel die Optimierung derSchiffswegeführung in der Kadetrinne. Im Rahmen die-ser Maßnahme wurde eine Verlängerung des Verkehrs-trennungsgebietes vorgenommen, die auch von der IMOangenommen wurde. Diese Regelung trat schon im Januarletzten Jahres in Kraft. Es handelt sich um so etwas wieeinen virtuellen Mittelstreifen. Er hat sich bis jetzt wirk-lich bewährt; seitdem ist dort nichts mehr passiert.Es bleibt aber immer ein Restrisiko. Dieses Restrisikonoch weiter zu minimieren muss eine vordringliche Auf-gabe sein. Wir streben deshalb eine Lotsannahmepflichtfür Tankschiffe in der Kadetrinne und auch auf anderenkritischen Schifffahrtswegen an.
Daher begrüßen wir natürlich auch den Antrag, der ges-tern im Ausschuss gestellt wurde.
2180
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2181
– Den gemeinsamen Antrag; genau, Herr Goldmann. – ImInteresse aller Ostseeanrainer ist es, zum Beispiel so ge-nannte unternormige Schiffe von der Ostsee fernzuhalten.
Ein großer Erfolg ist die weltweit verbindliche Ein-führung der Pflicht zur Ausrüstung mit einem automati-schen Schiffsidentifizierungssystem. Tankschiffe wer-den ab 1. Juli dieses Jahres damit ausgerüstet sein müssen,alle anderen spätestens bis Dezember 2004. Die landge-stützten AIS-Stationen werden voraussichtlich bis Ende2003 in Betrieb gehen; so lange wird Warnemünde dieseAufgabe übernehmen.Wir haben internationales Lob für die Einrichtung ei-nes Havariekommandos bekommen. Frau KolleginAnnette Faße wird darüber sicherlich noch Auskunft ge-ben, zumal dieses Kommando in Cuxhaven angesiedeltist.
Es gab noch nie eine so gute Ausstattung wie jetzt; diesgilt für Nord- und Ostsee.
In der Ostsee sind zwei moderne Notschlepper in Rostock-Warnemünde und Saßnitz stationiert. Ich habe mir neulichdie „Fairplay 26“ angesehen; sie ist ein sehr interessantesSchiff. Ein Notschlepper ist in der Kieler Förde statio-niert. Hinzu kommen die „Scharhörn“ und der Neubau ei-nes notschleppfähigen Mehrzweckschiffes, das wir imJahre 2004 in Betrieb nehmen wollen.Ich wünsche mir noch mehr Prävention, damit die Be-satzungen der eben genannten Schiffe, der Schlepper aufder Nordsee sowie der Schiffe der Deutschen Gesellschaftzur Rettung Schiffbrüchiger nicht nur jederzeit eineHandbreit Wasser unter dem Kiel, sondern möglichst auchimmer eine ruhige Wache haben.
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Goldmann von
der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Erst einmal möchte ich der Deutschen Seeree-derei in Rostock, die heute einen parlamentarischenAbend durchführt, zu ihrem 50-jährigen Jubiläum herzli-che Glückwünsche aussprechen.
Dieser Anlass passt deshalb gut zu unserem heutigenThema, weil es um die Sicherheit der in diesem Bereichtätigen Menschen und Unternehmen geht. Dazu gehört,dass unsere Wasserwege, dass unser maritimer Sektor ins-gesamt Sicherheit ausstrahlt.Mein Redebeitrag folgt dem Motto: Wir sind auf einemguten Wege – ich betone das „wir“ –, aber wir müssennoch besser werden. Ich bin froh darüber, dass die FDP-Fraktion ihre Oppositionsrolle bei der anstehenden Auf-gabenstellung besonders engagiert wahrgenommen hat.
Wir haben viele Kleine Anfragen und Anträge gestellt undKongresse durchgeführt. Heute können wir gemeinsamfeststellen, dass SPD und Grüne wie auch CDU/CSU undFDP den richtigen Weg eingeschlagen haben. ErsteSchritte haben bereits zu Verbesserungen geführt. Wir ha-ben aber auch noch viel zu tun; Kollege Börnsen hat dasam Beispiel der Einhüllentanker deutlich gemacht. Ich binmit ihm einer Meinung, weise aber darauf hin, dass dieUmsetzung nicht ganz so einfach wie die Verkündung derBotschaft ist.Im Bereich der IMO, der Internationalen MaritimenOrganisation, sind wir Vorreiter geworden. Das ist einegute Entwicklung. Wir müssen um eine Lotsannahme inder Kadetrinne kämpfen. Ich denke, darin sind wir unsvöllig einig. Wir haben aber zum Beispiel auch einehöhere Eigentümerverantwortung bei der Entsorgung derSchiffswracks erreicht. Bei den Notfallschleppern sindwir ebenfalls auf einem richtigen Weg. Ich bin froh, dasswir den Kampf um den Tiefgang erfolgreich abgeschlos-sen haben und dass die unsinnige Tiefgangsbeschränkungvon sechs Metern gefallen ist. Auch bin ich froh, dass wirbei den Hafenstaatkontrollen eine gute Bilanz vorzuwei-sen haben und bei den Notliegeplätzen wohl ebenfalls aufdem richtigen Wege sind. Es könnte in diesem Bereich al-lerdings noch ein bisschen konkreter, handfester undpraktischer werden.Bei der Sicherheitsfrage stehen wir vor neuen He-rausforderungen. Sie wissen, dass unsere Häfen Anstren-gungen unternehmen müssen, um der Terrorismusgefahrzu begegnen. Dadurch kommen Kosten auf die Hafenbe-treiber und natürlich auch auf diejenigen zu, die diese Hä-fen anlaufen. Es berührt mich schon sehr, dass nun auchin deutschen und europäischen Häfen Großcontainerkon-trollen durchgeführt werden müssen. Auch angesichtsdessen sollten wir nicht auseinander driften, sondern Ge-meinsamkeit in der Sache herstellen, um diesen Bereichso sicher wie möglich zu gestalten: zum Wohle unseresLandes, zum Wohle der Umwelt und auch zum Wohle derSchifffahrt insgesamt.
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Havariekom-mando sagen. Wir finden es gut, dass es das Havarie-kommando gibt. Wir werden im Mai einen Kongress dazudurchführen; ich werde Kollegen, die sich mit dem mari-timen Bereich befassen, zur Teilnahme daran einladen. Wirwerden danach ein Fazit ziehen müssen, ob wir den Weg mitdem Havariekommando weiter beschreiten oder ob wireventuell zu der von Ihnen, Herr Börnsen, angesprochenennationalen Küstenwache kommen. Diesbezüglich gibt esParl. Staatssekretärin Angelika Mertens
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Hans-Michael Goldmannsicherlich unterschiedliche Positionen. Mir geht es imGrunde genommen darum, dass wir gemeinsam für einDurchgriffsrecht des Chefs des Havariekommandos sor-gen, damit klar ist, dass eine von ihm gegebene Anwei-sung zum Einschreiten gilt und umzusetzen ist.
Alle vor Ort müssen dann wissen, dass der Mann befugtist, Anweisungen zu geben. Auch die rechtlichen und ver-sicherungsrechtlichen Bedingungen sind so auszugestal-ten, dass sich dies so effektiv durchsetzen lässt, wie wir esuns gemeinsam wünschen.Im Zusammenhang mit dem Gesichtspunkt Sicherheitdürfen wir den Bereich der Ausbildungsqualität derjeni-gen, die auf den Schiffen fahren, nicht aus den Augen ver-lieren. IMO-Übereinkommen sind gut, aber wir müssensicherlich noch einmal darüber nachdenken, ob dasSTCW-Übereinkommen in seiner Ausrichtung so klugangelegt ist, wie es notwendig ist.Die CDU/CSU hat heute einen Antrag zum „Prestige“-Unglück vorgelegt. Ich habe im Lexikon nachgesehen,was Prestige bedeutet, wenn es keine Schiffsbezeichnungist. Positiv ausgedrückt bedeutet es Ansehen und Geltung,negativ ausgedrückt bedeutet es Blendwerk. Ich wähleden Mittelweg: In dem Antrag stehen viele schöne Dinge;wir aber sollten das Machbare schnellstens realisieren.Lassen Sie uns gemeinsam für die ökonomischen Wei-chenstellungen auf der Basis von mehr Sicherheit arbei-ten. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass der maritimeBereich für Deutschland einer der großen Zukunftsberei-che überhaupt ist. Dieser Bereich muss sicher sein; nurdann kann er seine Qualität entfalten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock vonBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kol-lege Börnsen, wir wissen, dass Sie ein begnadeter Frei-zeitkabarettist sind. Es macht wirklich immer wiederSpaß, Ihnen an dieser Stelle zuzuhören.
Unser Problem besteht nicht darin, dass wir in den Zielennicht übereinstimmten. Aufgrund der vielen Debatten, diewir darüber geführt haben, wissen Sie, dass wir in Bezugauf die Erfordernisse der Schiffssicherheit deckungsglei-che Positionen haben. 80 bis 85 Prozent dessen, was dieCDU/CSU in ihrem Antrag hier vorgelegt hat, können wirunterschreiben. Das Problem ist jedoch, dass Sie dieseDebatten immer noch dazu benutzen, populistisch zuagieren.Die Ausführungen in dem CDU/CSU-Antrag zu demHavariekommando in Cuxhaven sind in der Sache falsch.Die Beschimpfungen in Richtung der schleswig-holstei-nischen Landesregierung sind so falsch wie überflüssig.Auch das, was Sie zum Standort der europäischenSchiffssicherheitsagentur, der EMSA, sagen, geht an derSache vorbei. Wenn Sie all das rausgelassen hätten, hät-ten wir uns auch verständigen können, denn wir sind unsja einig:Die Häfen in Europa werden in jedem Jahr von Schif-fen mit einer Gesamtladung von 800Millionen Tonnen Ölangelaufen. Der gefährlichste und giftigste Teil dieserFracht, 15 Prozent von diesen 800Millionen Tonnen, sindSchweröle, also schwere Heizöle und schwere Rohöle.Auf diesen Schiffen befindet sich im Grunde genommenSonderabfall und je giftiger die Fracht ist, desto älter undunsicherer sind die Pötte, auf denen die Fracht befördertwird. Das ist ein unerträglicher Zustand. Die Sicherheitder Schiffe auf unseren Meeren ist mit dem Begriff„Russisches Roulette“ zum Teil noch sehr harmlos um-schrieben.Wir müssen alle gemeinsam die Sicherheitsstandardserhöhen. Das ist überhaupt keine Frage. Deshalb bin ichfroh, dass wir heute einen gemeinsamen Antrag vorliegenhaben. Ich weiß auch Ihre Initiative, Herr Börnsen, sehrzu schätzen.Ich möchte Ihnen zur Illustration einen kurzen Auszugaus einem Bericht in der „Deutschen Schifffahrtszeitung“über einen Prozess vorlesen. Darin wird ein Kapitän be-fragt, der sagt:Ich hatte keine Ahnung, dass das Wrack dort lag. Ichsah einige Leuchttonnen, verstand aber deren Bedeu-tung nicht und warum sie dort lagen. Ich versuchte,den Kurs nach Steuerbord zu ändern. Die Sicht warnormal und ich konnte Brandung sehen. Plötzlichwusste ich, dass es sich um ein Wrack handelnmusste.Das war die Aussage des Kapitäns der „Vicky“ – derTanker war mit 70 000 Tonnen Kerosin beladen –, die vorwenigen Wochen auf das Wrack der „Tricolor“ aufgelau-fen ist. So hat der Kapitän die Situation wahrgenommen.Das kann nicht wahr sein.
Deshalb muss die Frage danach, was auf den Schiffenlos ist – der Kollege Goldmann hat das bereits angespro-chen –, ernsthaft aufgegriffen werden. Häufig sind dieSchiffe sicher, aber die Besatzung ist nicht in der Lage,Gefahrensituationen zu erkennen. So war es im Ärmelka-nal, aber auch in der Kadetrinne in der Ostsee, obwohldort jede halbe Stunde gewarnt wird. Kapitäne und Be-satzungsmitglieder, die nicht in der Lage sind, gefährliche
2182
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2183
Situationen richtig einzuschätzen, gehören nicht auf sol-che Schiffe.
Die Schiffsbesetzungsverordnung betrifft also einezentrale Frage. Die EU ist auf dem Weg, die Mindestan-forderungen an Zeugnisse von Seeleuten aus Drittländernanzuheben. Darüber hinaus brauchen wir aber auch Ver-einbarungen, um die Sprachanforderungen an die Schiffs-besatzungen zu erhöhen. Es kann nicht sein, dass auf denSchiffen keine Kommunikation zwischen den Beschäftig-ten möglich ist. Es kann nicht sein, dass zwischen denSchiffen oder zwischen Schiff und Land keine Kommuni-kation möglich ist. Deshalb müssen wir gemeinsam mitder EU an dieser Stelle nachbessern. Solche Ausbil-dungsdefizite dürfen auf den Hightech-Tankern nicht vor-handen sein. Während die Technologie auf den Schiffenimmer weiter entwickelt wurde, sind die Qualitätsanfor-derungen an das Personal immer weiter gesunken. Daskann so nicht weitergehen.
An dieser Stelle sollten wir uns gemeinsam bemühen;das Argument mit der Konkurrenz darf nicht mehr Platzgreifen. Hierbei spielt auch das Ausflaggen eine großeRolle. Wir müssen möglichst viele Schiffe unter deutscherFlagge behalten; dazu müssen wir aber die wirtschaftli-chen Rahmenbedingungen im Auge behalten und dieStandards bezüglich der Qualifikation innerhalb der EUangleichen.Darüber hinaus brauchen wir den Zugriff auf die Flag-genstaaten. Deshalb bin ich sehr dafür, ein externes Au-dit vorzuschreiben. Bemühungen dazu gibt es in der IMObereits. Diese sollten wir unterstützen. Ein externes Audit,das die Flaggenstaaten bei der Wahrnehmung ihrer Auf-gaben kontrolliert, wird dazu führen, dass die Konkur-renz, die heute mit Dumpingstandards auf ihren Schiffendie Sicherheit unserer Küsten gefährdet, internationalausgeschlossen wird und die Flaggenstaaten tatsächlichihre Verantwortung übernehmen.
Lassen Sie mich noch einige Stichworte anfügen: Esgibt die Ausweisung von PSSA-Gebieten mit der Mög-lichkeit, dort regulierend einzugreifen, bereits für diedeutsche Nordseeküste. Diese sollten wir auch in der Ost-see verstärkt ausweisen, um besondere Auflagen für dieSchifffahrt durchzusetzen.Daneben müssen wir die Hafenstaatkontrollen – auchdas ist schon gesagt worden – deutlich ausweiten. Darüberhinaus sollten wir die Häfen in den baltischen Ländern– ich stimme mit dem überein, was zu Russland gesagtworden ist – stärker unterstützen, damit sie in die Lageversetzt werden – sie wollen die Hafenstaatkontrolle aus-üben, aber sie müssen dabei von uns verwaltungsmäßigunterstützt werden –, diese strengen Kontrollen selberdurchzuführen.Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung:Bei der Begeisterung für den Schutz unserer Mee-resumwelt durch verstärkte Anforderungen bei derSchiffssicherheit sollten wir nicht außer Acht lassen, dassdie größte Belastung für unsere Meeresumwelt aus der At-mosphäre und aus den Flüssen kommt. Aus ihnen kom-men die Hauptschadstoffe, die immer noch jeden Tagchronisch eingeleitet werden. Leider ist unsere Medien-landschaft nicht so, dass die chronischen Beeinflussun-gen, also das alltägliche Leiden unserer Meere, die ihnengebührende Aufmerksamkeit erhalten, sondern nur dieSkandale. Aber wir sollten das nicht außer Acht lassen,wenn wir die Ursachen der Meeresverschmutzung ernst-haft bekämpfen wollen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Kuhn von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen undKollegen! Ich habe sehr aufmerksam verfolgt, wie dieFrau Kollegin Staatssekretärin in ihrer Rede die Schiffs-sicherheit auf der Ostsee beschrieben hat. Das hat michschon beeindruckt; denn während Sie behauptet haben,man habe alles im Griff – ich füge hinzu: auf einem sin-kenden Schiff –, bin ich der Meinung, dass hier Gefahr imVerzug ist. Auf der Ostsee gibt es ständig 30Tanker. 60 Tan-ker werden kontinuierlich beladen; in den Häfen und aufSee. Einer davon ist unter Garantie – das haben die wildenGesellen von Greenpeace anhand ihrer statistischen Erhe-bungen nachgewiesen – ein so genannter Einhüllentankermit einem technischen Standard, wie ihn die „Prestige“hatte. Ich sage Ihnen – Herr Steenblock hat das richtigdargestellt –: Wir spielen russisches Roulette; denn es istnur eine Frage der Zeit, bis das nächste Tankerunglück mitnoch nie da gewesenen wirtschaftlichen und ökologi-schen Schäden auf der Ostsee geschehen wird. Deshalbmuss schnell gehandelt werden.
Ich habe die Situation im Ausschuss so beschrieben,wie ich sie wahrgenommen habe, als die „Prestige“ vorder galizischen Küste auseinander gebrochen ist und35 000Tonnen Schweröl die wunderbaren Strände und dieFischgründe verseucht haben. Auch den Menschen an derOstsee, zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern undin Schleswig-Holstein, stockte der Atem, als sie festge-stellt haben, dass die „Prestige“, die in einem russischenErdölhafen betankt wurde, die Ostsee durch die Kadet-rinne, einen der kompliziertesten Schifffahrtswege derRainder Steenblock
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Werner Kuhn
Weltmeere, überquert hat. Wir haben großes Glück ge-habt, dass dieses Schiff nicht vor unseren Küsten ausei-nander gebrochen ist und dass sich nicht 35 000 TonnenSchweröl zwischen Darßer Ort und Gedser ausgebreitethaben. Wenn das geschehen wäre, dann hätten Sie zu Fußnach Dänemark laufen können. Man kann also nicht ein-fach behaupten, dass wir alles im Griff hätten, auch wennwir über entsprechende Schleppkapazitäten und Öl-bekämpfungsschiffe verfügen. Hier muss sofort gehandeltwerden. Solche Tanker gehören auf die schwarze Liste undmüssen mit sofortiger Wirkung verboten werden.
In dem Bericht der Bundesregierung wird Bedauernüber das Desaster bei der Havarie der „Baltic Carrier“geäußert, die sich im Jahr 2001 in der Kadetrinne ereig-nete. Darin steht weiter, dass man sofort etwas tun müsse.Ich kann dazu nur sagen: Hier ist Deutschland noch ein-mal mit einem blauen Auge davongekommen. Wenn derWind anders gestanden hätte, dann wären unsere Strändeverschmutzt gewesen. Vor den dänischen Stränden ergos-sen sich damals 2 700 Tonnen Schweröl und Masut insMeer. Das war die größte Ölkatastrophe, die die Dänen jezu bewältigen hatten. Was lernen wir daraus? Die Bun-desregierung hat bisher keine Aktivitäten gezeigt. Bisjetzt wurde keine Taskforce eingerichtet und es gab auchkeine wirkungsvolle Konferenz mit allen Ostseeanrainer-staaten. Eine solche Konferenz müsste die Russische Fö-deration zwingen, nicht nur ihre Erdölhäfen auszubauen,sondern auch keine Seelenverkäufer für den Transportvon Erdöl auf den Weltmeeren einzusetzen.
– Das ist der entscheidende Punkt, Herr Goldmann. Dashat nur wenig mit dem Unglück der „Prestige“ zu tun.
Sie müssen sich einmal vorstellen, wie die MenscheninMecklenburg-Vorpommern – das ist eine sehr struk-turschwache Region –, deren einziges Faustpfand für diewirtschaftliche Entwicklung die Naturschönheiten derOstseeküste sind und die darauf ihre gesamten wirtschaft-lichen Aktivitäten ausgerichtet haben, auf solche Kata-strophen reagieren, während sie täglich die Nachricht inden Medien lesen und hören, dass der Transport vonSchweröl mit Tankern auf der Ostsee zunimmt. Es mussdeshalb sofort die Lotsenpflicht in der Kadetrinne ein-geführt werden. Ich sage Ihnen: Wellen und Wogen ru-schen wie mien Weigenlied. Ich bin in Zingst, also in un-mittelbarer Nähe der Ostsee, zur Welt gekommen. Vondort aus ist die Kadetrinne nur einen Steinwurf entfernt.Sie müssen verstehen, dass die Menschen an der KüsteSorge um ihre Existenz haben. Deswegen müssen wir so-fort eingreifen. Ich fordere nicht nur das Einsetzen einerTaskforce, sondern auch ein flächendeckendes Über-wachungssystem, das auf den HauptschifffahrtslinienRadare einsetzt. Wir sind uns völlig einig darüber, dassman nachvollziehen können muss, wo sich diese Frachtertatsächlich bewegen.
– Das ist eben noch nicht geregelt; sonst wäre die„Acushnet“ im Kattegat nicht auf Grund gelaufen. KeinMensch wusste genau, welche Ladung sie hat, welcheRoute sie eingeschlagen hatte, wie die Besatzung ausge-bildet ist, ob eine Hafenstaatkontrolle stattgefunden hatund ob es ein GPS-System gibt, ohne das man in Amerikaüberhaupt nicht mehr arbeiten kann.
– Das ist keine unglaubwürdige Debatte.Ich muss darauf hinweisen, dass ich überhaupt nichtverstehen kann, dass Herr Methling als Umweltministervon Mecklenburg-Vorpommern einer der Avantgardistenauf dem Gebiet der Offshore-Windkraftanlagen ist. Ichhalte diese Anlagen zwar für technisch vertretbar; aber ichkann überhaupt nicht verstehen, dass in unmittelbarerNähe der Kadetrinne eine solche Anlage gebaut werdensoll. Sie ist ein zusätzliches Sicherheitsrisiko, mit dem wiruns in Mecklenburg-Vorpommern überhaupt nicht einver-standen erklären können.Angesichts der Probleme, die bei der Kontrolle dieserTanker in den schwierigen Fahrwassern bestehen, istnatürlich nicht nur eine ausreichende Schleppkapazitätnotwendig; vielmehr brauchen wir für den Katastrophen-fall auch mehrere funktionsfähige Ölauffangschiffe, un-abhängig davon wie viel Öl ausläuft. Die „Strelasund“ istauf einer rheinland-pfälzischen Werft gebaut worden. Sieliegt jetzt leider in Stralsund an der Kette und kann nichtzum Einsatz kommen. Herr Minister, dort ist Gefahr imVerzug. Sie müssen alles daransetzen, dass sämtlicheGarantieleistungen sofort erbracht werden. Wir können esnicht hinnehmen, dass die mecklenburg-vorpommerischeKüste einem solchen Sicherheitsrisiko ausgesetzt wird.Wir fordern das sofortige Verbot des Fahrens vonEinhüllentankern auf der Ostsee. Wir brauchen eineUnited Coast Guard in der Europäischen Union. Siesoll es schließlich in der Zukunft geben. Sie sagen, es han-dele sich dabei um eine unglaubwürdige Forderung. Wosind Ihre Aktivitäten, bitte schön? Wenn es eine UnitedCoast Guard gäbe, dann hätte die Bundesmarine amSkagerrak eine richtige Aufgabe. Sie würde verhindern,dass Einhüllentanker auf der Ostsee fahren.Unsere Forderungen lauten: Verbot der Einhüllentan-ker, Lotsenpflicht für die Kadetrinne und sofortiger Voll-zug aller notwendigen Maßnahmen, damit die deutscheOstseeküste geschützt wird.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Faße von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Icherinnere mich sehr gut an Debatten über dieses Thema, als
2184
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2185
wir in der Opposition waren. Damals haben wir, GilaAltmann und ich, für den Hochseeschlepper „Oceanic“gekämpft. Damals wurde sehr in Zweifel gezogen, dasswir ein solches Schiff überhaupt brauchen. Es hieß – da-ran erinnere ich mich sehr gut –: Unsere Konzepte fürdie Nordsee sind super; es besteht kein Handlungsbe-darf.Heute ist Deutschland nicht nur in der EU, sondernweltweit Vorreiter auf dem Gebiet der Schiffssicherheit.Dass wir das erreicht haben, liegt an unserer konsequen-ten Politik in den letzten viereinhalb Jahren. Darauf soll-ten wir stolz sein.
Prävention vor Schadensbekämpfung ist selbstver-ständlich. Im Hinblick auf alle Anträge, die wir hier mit-einander diskutiert und beraten haben, bestand in diesemPunkt immer Konsens. Man sollte hier daher heute nichtso tun, als würde man etwas Neues erfinden.Ich möchte Herrn Börnsen und Herrn Kuhn daran er-innern, dass ein von der SPD eingebrachter Antrag, dersehr viel umfassender war als der, der heute zur Abstim-mung steht, mit den Stimmen von CDU/CSU beschlossenworden ist. Das war bei allen Anträgen, die wir bisher be-raten haben, das erste Mal, was ich auch hoch achte. Nursollte man sich auch daran erinnern, was man hier be-schlossen hat. Unter anderem ist darin genau aufgelistetworden, was die Bundesrepublik Deutschland bisher ganzkonsequent und ganz konkret getan hat. Angesichts des-sen halte ich es schon für ein Stück Unverfrorenheit – dassage ich noch einmal deutlich –, wenn sich einige heutehier hinstellen und sagen, es sei nichts geschehen. Das istschlicht und einfach falsch.
Auf nationaler Ebene haben wir zum 1. Januar diesesJahres das Havariekommando eingerichtet. Da kannman fragen, warum das nicht schneller gegangen ist. Auchwir hätten das gern ein bisschen schneller gehabt, nur istes natürlich nicht einfach, so etwas zu konzipieren. Wirhaben gesagt: Wir wollen keine Grundgesetzänderung,sondern wir wollen Vereinbarungen schließen. Jedes Bun-desland hat seine eigenen Regeln für solche Vereinbarun-gen. Es sind umfangreiche Verhandlungen mit den Län-dern geführt worden, mit dem letzten Land im Dezemberletzten Jahres.Wir haben gemeinsam mit den Ländern besonders dieBrandschutzstrukturen in der Ostsee verändert. Wirhaben das Verkehrstrennungsgebiet für die Ems, die Jade,die Weser, die Elbe und auch für die Kadetrinne einge-richtet. Es ist also nicht so, dass wir auf nationaler Ebenenicht gehandelt haben. Ich möchte gar nicht auf alle an-deren Punkte hinweisen, aber auch mit Polen haben wirbilaterale Verträge geschlossen. Wir haben das erste Malein Schlepperkonzept für Nord- und Ostsee aufgestellt;das gab es vorher nicht. Die Ausschreibungen für die Auf-träge für die nächsten Schiffe, die wir dann entweder char-tern oder erwerben werden, laufen. Angesichts dessen zusagen, es sei nichts passiert, ist falsch.Die „Neuwerk“ hat vor der Küste Spaniens sehrschwere Arbeit geleistet. Ich sage an dieser Stelle nocheinmal ein herzliches Dankeschön an die Besatzung fürdie außergewöhnliche Leistung. Ich begrüße es sehr, dassMinister Stolpe demnächst auch nach Cuxhaven kom-men wird, um den Menschen dort ein Dankeschön zu sa-gen.
Ich möchte noch speziell zu zwei Punkten Stellungnehmen, die aus dem Acht-Punkte-Programm von Minis-ter Stolpe, das er in die EU eingebracht hat, hervorzuhe-ben sind. Ein Punkt betrifft die Notliegeplätze. LassenSie uns diesen Begriff verwenden. „Nothäfen“ ist einfalscher Begriff, weil es wirklich immer von der Situationabhängen wird, wo man ein Schiff sicher parken oderauch ver- oder entsorgen kann. Wir müssen auch auf demGebiet der Forschung und Technologie vorankommenund eine Technologie entwickeln, die es ermöglicht, einSchiff, das gesunken ist, unter Wasser zu entladen, auchwenn die Ladung aus Öl besteht. Wir merken jetzt bei der„Prestige“, dass es da große Probleme gibt, dass wir datechnologisch noch nicht so weit sind.Die Forderungskataloge liegen auf EU-Ebene undsehr wohl auch der IMO vor. In dem Zusammenhangmuss ich Herrn Kuhn noch etwas sagen. Man kann dasRechtsverständnis, das Sie, Herr Kuhn, haben, fast schonbelächeln. Sie tun so, als ob Deutschland dazu mal ebenso Beschlüsse fassen könnte. Sie wissen aber, dass wir dasnicht können. Sie wissen, dass wir an EU-Recht und auchan internationales Recht gebunden sind. Wenn Deutsch-land hier allein handeln könnte, sähe die Situation andersaus. Ich gebe allerdings allen Recht, die sagen: Wir müs-sen konsequenter Druck machen – auf die EU, aber auchauf die IMO.Die Fragen im Zusammenhang mit dem Umgang miteinemWrack haben mich – das muss ich deutlich sagen –erschüttert. Bisher kann der Schiffseigentümer nach ei-nem Unfall außerhalb der Hoheitsgewässer das Eigentuman dem zum Wrack gewordenen Schiff oder an gesunke-nen Ladungsteilen schlicht und einfach aufgeben. Er sagtlediglich: Das gehört mir jetzt nicht mehr. Damit kann ersich zulasten des betroffenen Küstenstaates jeder Verant-wortung für die Bergung entziehen.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Diese Lücke im internationalen Seerecht muss ge-schlossen werden.
Ich gehe davon aus, dass wir zu der großen Gemein-samkeit, die bei dem Thema eigentlich bestand – eineAusnahme bildet die CDU/CSU in dieser öffentlichen De-batte –, beim Schutz der Küsten zurückfinden und unsereArbeit weltweit konsequent fortführen werden.Annette Faße
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Annette FaßeDanke schön.
Das Wort hat jetzt der Umweltminister des Landes
Mecklenburg-Vorpommern, Dr. Wolfgang Methling.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich darf mich zunächst sehr herzlich für die Mög-
lichkeit bedanken, an Ihrer Debatte teilzunehmen und Er-
fahrungen und Positionen aus Mecklenburg-Vorpommern
hier einzubringen.
Ich kann wie bei der Diskussion zum Bundesnatur-
schutzgesetz feststellen: Ich fühle mich wie zu Hause. Die
Diskussionen laufen hier ganz genau wie zu Hause. Die
CDU-Opposition trägt laufend vor, welche Versäumnisse
der im Moment verantwortlichen Regierung zu beklagen
seien. Die rot-grüne Regierung in Berlin und die rot-rote
Regierung in Schwerin sind scheinbar dafür verantwort-
lich zu machen, dass die Schiffssicherheit seit 1998 so ge-
fährdet ist. In Mecklenburg-Vorpommern kommt noch
hinzu, dass ein PDS-Politiker als Umweltminister Verant-
wortung trägt.
Herr Kollege Kuhn, wir kennen uns aus manchen Dis-
kussionen. Was Sie vorgetragen haben, klingt wie Revol-
verheldentum. Das muss ich Ihnen wirklich sagen.
Sie wissen, dass es andere Verhältnisse gibt. Auf die
Windkraftargumentation will ich hier gar nicht eingehen.
–Wissen Sie, ich bin ganz erstaunt, dass man einen Auto-
käufer, der ein schlechtes Auto kauft, dafür verantwortlich
macht, dass das Auto schlecht ist. Nein, den Autobauer
muss man zur Verantwortung ziehen. Das tun wir und das
wissen Sie, Herr Kuhn.
Ich finde es wirklich absonderlich, dass wir laufend
solche Diskussionen führen. Fast alle Diskussionsredner
bringen die gleichen Argumente.
Herr Minister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Klaeden?
Ja, gerne.
Herr von Klaeden, bitte.
Herr Minister, Sie haben gerade erklärt, dass der Ver-käufer eines Fahrzeuges für den technischen Zustand ver-antwortlich sei. Sind Sie nicht mit mir der Ansicht, dassder Käufer und Halter des Fahrzeuges für den technischenZustand eines Kfz verantwortlich ist?
Es geht um ein neues Schiff.
Ich will nicht sagen, dass es in Mecklenburg-Vorpom-mern vielleicht besser gebaut worden wäre. Fest stehtaber, dass es um Mängel geht, die abgestellt werden müs-sen. Ihre Devise, die Sie auch an anderen Stellen wählen– Sie rufen „Haltet den Dieb!“ und zeigen auf denFalschen –, kann wohl nicht zielführend sein.
Es gibt mit Sicherheit Nachbesserungsbedarf. Ichglaube, da sind wir uns alle einig. Die häufigen Havarienund Fasthavarien – letztere machen mir noch mehr Sor-gen – machen das immer wieder überdeutlich. Zur Fair-ness würde gehören, dass Sie, meine sehr geehrten Damenund Herren von der CDU-Opposition, an Versäumnisse inIhrer eigenen Regierungszeit denken. Denn manche Pro-bleme, die wir jetzt zu lösen haben, gehen auf Versäum-nisse, die Sie zu verantworten haben, zurück.
Ich bin seit 1998 im Amt und weiß sehr wohl, welcheVersäumnisse existieren. Ich kenne auch die Gründe, diedazu geführt haben.
Diese Gründe erwähnen Sie nur, wenn Sie selbst in derVerantwortung sind, und nicht, wenn andere in der Ver-antwortung sind.Warum Mecklenburg-Vorpommern besonders vonder Schiffssicherheit abhängig ist, ist wohl klar. Wir lebenvor allen Dingen vom Tourismus. Wir haben eine maritimeWirtschaft, die davon abhängig ist. Wir haben eine wun-derschöne Ostseeküste, eine sensible Natur. Deswegen istfür Mecklenburg-Vorpommerns Regierung und für seinParlament die Schiffssicherheit in gleicher Weise prioritär.
2186
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2187
Die vielen Gefährdungen der Ostsee sind schon be-schrieben worden. Ich will aber noch einmal darauf hin-weisen, was Herr Steenblock hier gesagt hat: Wir solltendie täglichen, die chronischen Gefährdungen und Belas-tungen der Ostsee und der Meere überhaupt höher schät-zen. Ich habe einmal am Horizont eine gelbe Wolke gese-hen. Da habe ich gefragt: Was ist das? – Mir wurdegeantwortet: Das sind Dieselrückstände, die ständig überdem Wasser liegen und eine Gefahr darstellen. – Die Ge-fahren gehen also viel weiter.Hauptursachen der Seeunfälle, die in der Ostsee undinsbesondere in der Kadetrinne stattgefunden haben, sindmenschliches Versagen, Mängel in der Schiffsführungund technische Mängel an den Fahrzeugen. Darauf müs-sen wir uns neben den anderen Dingen konzentrieren. Bis-her haben wir Riesenglück gehabt. Aber wir können si-cherlich nicht jeden Tag Wunder erwarten.Deswegen haben wir aus Mecklenburg-Vorpommernzahlreiche Vorschläge und Forderungen an Bund, EU,baltische Länder und IMO eingebracht: Doppelhüllentan-ker, Lotsenpflicht, AIS, Radar, Meldepflicht, Hafenstaat-kontrollen und Notliegeplatzkonzept. Ich könnte nochvieles nennen, was wir eingebracht haben, Dies zeigt, wowir versuchen, selber unsere Schularbeiten zu machen.Es ist ja erfreulich, dass wir aus Havarien richtigeSchlussfolgerungen ziehen. Aber eigentlich ist es maka-ber, dass viele Schlussfolgerungen erst dann gezogen wer-den, wenn es zu Havarien gekommen ist. Aber das ist auchin anderen Bereichen der Gesellschaft so. Insofern mussuns das nicht wundern. Die Namen sind ja Legende: be-ginnend bei „Pallas“ bis hin zu „Prestige“. Darüber hinausgibt es genügend andere warnende Beispiele.Ich bedanke mich bei der Bundesregierung, obwohl ichihr in manchen Phasen sehr kritisch gegenübergestandenhabe, für ihr entschlossenes Handeln und zunehmend kon-sequentes Umsetzen der Empfehlungen der Grobecker-Kommission und auch für ihre internationalen Akti-vitäten. Ich hoffe, dass wir so schrittweise vorankommen,auch wenn wir uns hin und wieder hart streiten: Als ichzum Beispiel die Forderung nach einer Lotsenannahme-pflicht gestellt habe, wurde mir gesagt, das sei nicht nötigund nicht möglich. Heute sehen wir das anders; hoffent-lich alle und auch in Zukunft.Wir wissen auch, dass der Föderalismus manches nichteinfach macht. Der Föderalismus stellt meiner Einschät-zung nach einen großen Gewinn dar, hat aber in Bezug aufdas Havariekommando einige Probleme mit sich ge-bracht. Ich war am 3. Januar beim Havariekommando undhabe mich überzeugt, wie dieses arbeiten kann. Ich denke,es ist auf gutem Wege, auch wenn noch einiges zu tun ist.Die Umweltminister der Nord- und Küstenländer undauch der Bundesumweltminister bringen sich dort aktivein, obwohl wir diejenigen sind, die in erster Linie dafürzuständig sind, den Dreck wegzuräumen, der im Grundegenommen vorher schon woanders angefallen ist. Wir ha-ben entsprechende Vorschläge bei der Umweltminister-konferenz der Nordländer in Nieklitz, Mecklenburg-Vorpommern, eingebracht.Ich will auch noch darauf hinweisen, dass manchesdurch internationale, wirtschaftliche sowie rechtliche In-teressenlagen erschwert wird. All dieses wissen Sie, aberignorieren es. Im Übrigen will ich darauf hinweisen: AuchDeutschland und ebenso die EU bringen nicht nur Gutesfür diesen Prozess. Auch dort gibt es Versäumnisse. Sohabe ich beispielsweise gehört, dass die Stadt Lübeckviele Argumente genannt hat, warum ihr Hafen kein ge-eigneter Nothafen bzw. ein Hafen für Notliegeplätze sei;das verweist doch auf ein Problem, das wir bei uns haben.Wir müssen nämlich dafür sorgen, dass auch bei uns imLand Notliegeplätze ausgewiesen werden. Das ist nicht soeinfach.
Ich glaube, die Bundesregierung geht richtig heran, indemsie dieses so fixiert. Ich könnte da auch noch andere Bei-spiele nennen.
Ich warne vor einseitigen Feindbildern, übrigens auchin diesem Raum; ich höre ja ab und zu mal Bemerkungenvon Ihnen. Ich denke, hier geht es um konkrete Inhalte,die abzuarbeiten sind, nämlich von der Beseitigung derEinhüllentanker bis hin zu Eisklassenschiffen in der Ost-see, die zwar vorgeschrieben sind, aber die man nicht mitKanonen in Gendarmenmanier durchsetzen kann. Mandarf hier nicht wie Klaus Störtebecker vorgehen. Das gehtnicht; das muss man auf einem anderen Wege tun.Für Mecklenburg-Vorpommern haben sich für2002/2003 – ich will nur darüber sprechen – eine Reihevon Verbesserungen ergeben, die ich hier noch einmalnennen möchte: die AIS-Ausrüstung der Revierzentrale inWarnemünde, Bereitstellung von Schleppkapazitäten, dashier schon angesprochene Ölbekämpfungsschiff – wirhoffen, in wenigen Tagen sagen zu können, dass es funk-tioniert – und die Bereitstellung von Notliegeplätzen, dieübrigens bei uns durch ein Abkommen mit kommunalenHafenbetreibern vorbereitet wird. Ich hoffe, das wird wo-anders auch gelingen.Ich hoffe, meine sehr geehrten Damen und Herren,dass es Bund und Ländern gemeinsam gelingen wird,schnell weitere Erfolge im eigenen Land zu erzielen, fort-schrittliche Vereinbarungen mit internationalen Partnernund Organisationen, übrigens auch von außerhalb der EU,abzuschließen. Höhere Sicherheitsstandards und effi-ziente Kontrollen gehören dazu. Meines Erachtens kanndazu auch sehr gut das Wirken von Parlamenten beitra-gen. Das haben wir bei der Ostseeparlamentarierkonfe-renz mitbekommen. Das wird aber wohl nur bei einemparteiübergreifenden Konsens gelingen. Ich will auchnoch einmal ein Wort, das hier schon gefallen ist, aufneh-men: Dies bedeutet, parteipolitische Scheuklappen abzu-legen. Manchen scheint dieses nicht zu gelingen: Anträge,die bereits Erreichtes oder bereits veranlasste Maßnah-men einfordern, sind nicht dazu geeignet, den Zustand zuverbessern, sondern sind eher als Schaulaufen auf derBühne zu betrachten. Es wäre eigentlich wichtiger, diePflicht zu erfüllen. Darum würde ich alle sehr herzlich bit-ten, in Zukunft dazu beizutragen, das Schaulaufen zu be-enden und sich erst der Pflicht und dann der Kür mit hof-fentlich besseren Ergebnissen zuzuwenden.Minister Dr. Wolfgang Methling
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Minister Dr. Wolfgang Methling
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksa-
che 15/370 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit
dem Titel „Seesicherheit optimieren – nationaler und eu-
ropäischer Handlungsbedarf nach Tankeruntergang der
‚Prestige‘“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 15/192 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf
Drucksache 15/488. Der Ausschuss empfiehlt, in Kennt-
nis des Berichts der Bundesregierung auf Drucksache
14/9487 zur maritimen Sicherheit auf der Ostsee eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Dr. Christian Eberl, Daniel Bahr
, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Ökologisch sinnvolle und effiziente Alternativen
zum Zwangspfand auf Getränkeverpackungen
– Drucksache 15/315 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
FDP fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Birgit Homburger von der FDP-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirdebattieren heute über einen Antrag der FDP zumZwangspfand, der hochaktuell ist. Am Wochenende gabes eine Vereinbarung zwischen dem Bundesumweltmi-nister und einigen wenigen Landesumweltministern. Des-wegen finde ich es gut, dass wir heute die Gelegenheit zueiner parlamentarischen Aussprache in dieser Sache ha-ben.Denn man muss feststellen: Ohne ökologischen Sinnwerden im Augenblick Verbraucherinnen und Verbrau-cher durch das Zwangspfand zusätzlich belastet. HerrTrittin, dass Sie zwischenzeitlich eingesehen haben, dassdie bisherige, von Ihnen in Kraft gesetzte Regelung zukompliziert ist, zeigt Ihr Entwurf. Aber wenn Sie konse-quent wären, dann müssten Sie auf der einen Seite dasZwangspfand sofort aussetzen und auf der anderen Seiteeine Novelle der Verpackungsverordnung vorlegen, dieden wissenschaftlichen Erkenntnissen in ökologischerHinsicht Rechnung trägt und die Chance einer Neurege-lung ergreift, um die Quote durch ein Lizenzmodell zu er-setzen. Das wäre dann auch ökonomisch sinnvoll.
Ich stelle also fest: Die Erkenntnis ist da, es gibt aberkeine Konsequenz.Wenn man sich die Eckpunkte anschaut, sieht man,dass zwischen ökologisch vorteilhaften und ökologischnicht vorteilhaften Verpackungen unterschieden werdensoll. Es ist sinnvoll, das zu tun. Aber man hätte das längstmachen können und machen sollen. Die FDP-Bundes-tagsfraktion hat sofort, nachdem die neuen wissenschaft-lichen Erkenntnisse vorlagen, hier einen entsprechendenAntrag gestellt. Dasselbe fordern wir in dem jetzt vorlie-genden Antrag.
Zusätzlich zu der Unterscheidung zwischen ökologischsinnvoll und ökologisch nicht sinnvoll sehen Sie, HerrTrittin, eine gesonderte Ausweisung des Mehrweganteilsvor, und zwar durch eine jährliche Bekanntmachung imBundesanzeiger. Ich frage Sie: Warum eigentlich? DieUnterscheidung zwischen Einweg und Mehrweg istSchnee von gestern; sie ist überholt. Die Mehrwegquoteist ökologisch nicht mehr relevant.Deswegen fordern wir Sie auf: Machen Sie endlich ei-nen sauberen Schnitt, verabschieden Sie sich von den al-ten Regelungen und unterscheiden Sie ausschließlichzwischen ökologisch sinnvoll und ökologisch nicht sinn-voll.
– Wie ich an Ihrer Reaktion sehe, sehen Sie das nicht ein.Mit dem, was Sie jetzt machen, vereinfachen Sie diebisherige Regelung nicht etwa, sondern Sie verkomplizie-ren sie, indem Sie das eine Kriterium der Vergangenheit– die Unterscheidung zwischen Einweg und Mehrweg –durch zwei Kriterien – jetzt zusätzlich die Unterschei-dung zwischen ökologisch sinnvoll und ökologisch nichtsinnvoll – ersetzen und weitere Ausnahmeregelungenschaffen wollen, die das ergänzen, und zwar in der Form,dass nicht auf die Verpackungsart, sondern auf den Inhaltabgestellt werden soll. Genau das haben Sie an der altenRegelung kritisiert. Jetzt wollen Sie das fortführen. WasSie hier vorlegen, ist aus unserer Sicht inkonsequent.Eine gesonderte Ausweisung der Mehrwegquote machtes erforderlich, dass sie – zusätzlich zur Erfassung vonökologisch sinnvollen und ökologisch nicht sinnvollenVerpackungen – erfasst werden muss. Das bedeutet statis-
2188
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2189
tischen Aufwand. Die Bundesregierung hat erklärt, siewolle Bürokratie abbauen. Aber was Sie machen, ist ge-nau das Gegenteil; denn nach Ihren Vorschlägen musseine weitere Quote erfasst werden. Dieser bürokratischeAufwand ist ohne ökologischen Nutzen und wird von derFDP abgelehnt.
Sie wissen, dass das Zwangspfand ökologisch undökonomisch unsinnig ist. Der Sachverständigenrat fürUmweltfragen der Bundesregierung hat in seinem Um-weltgutachten davon gesprochen, dass das Zwangspfand„von zweifelhafter ökologischer Effektivität und ökono-misch ineffizient ist“. Genau das ist der Punkt: DasZwangspfand setzt bei den Verbraucherinnen und Ver-brauchern an, die die Verpackungen zurücktragen sollen.Der Handel wird Rücknahmeautomaten aufstellen. Ins-gesamt ist dies ein aufwendiges und sehr teures Verfahren.Demgegenüber steht der Vorschlag im FDP-Antrag,ein Modell handelbarer Abfülllizenzen für ökologischnicht vorteilhafte Getränkeverpackungen einzuführen.Der Anknüpfungspunkt liegt bei den Herstellern. Investi-tionen in Rücknahmeautomaten sind demnach nicht er-forderlich. Das wäre das deutlich bessere Modell; es wäregünstiger und billiger. Man würde das ökologische Zielauf ökonomisch sinnvolle Weise erreichen.
Herr Trittin, Sie könnten sich auch das Problem mit derClearingstelle ersparen. Sie wissen doch ganz genau,dass dieses Problem im Augenblick noch nicht gelöst ist.Die FDP teilt die Kritik des Bundeskartellamts am Ver-fahren. Wir wollen kein neues Monopol, sondern Wett-bewerb. Wir wollen den Unternehmen die Möglichkeiteröffnen, in diesem Bereich tätig zu werden.Wir bieten Ihnen ausdrücklich die Zusammenarbeit imRahmen des Verfahrens an, das jetzt kommen wird. Wirhaben einige Änderungsvorschläge, die aber zu einerdeutlichen Verbesserung beitragen würden. Ich hoffe imInteresse der Verbraucherinnen und Verbraucher sehr,dass wir insgesamt zu einer ökologisch und ökonomischvernünftigen Lösung kommen. Der Vorschlag der FDPliegt auf dem Tisch. Wir hoffen auf Ihre Kooperation.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Gerd Friedrich
Bollmann von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Der Dauerbrenner Dosenpfand wird zum wie-derholten Male im Deutschen Bundestag debattiert. An-gesichts der Bedeutung des Pfandes für das Mehrweg-system und für die Müllvermeidung ist es sicherlich einwichtiges Thema.Als ich den Antrag der FDP gelesen habe, fragte ichmich allerdings, worüber wir heute hier debattieren sollen.
Fünf Forderungen dieses Antrages sind überholt. Sie wa-ren es zum größten Teil schon, als der Antrag gestelltwurde. Die beiden einzigen Punkte, die nicht von uns um-gesetzt wurden, sind realitätsfremd, umweltschädlich undnicht durchführbar. Mit anderen Worten: Dieser Antrag isteine Farce.
Die FDP trauert offensichtlich den verlorenen Schlach-ten gegen das Dosenpfand vor den Gerichten nach.
Der Antrag liegt ganz auf der Linie früherer Oppositions-anträge: durch freiwillige Vereinbarungen das Pflichtpfandzu verhindern und damit zugunsten von Großbrauereien,Großhandel und Dosenherstellern eine umweltfreundlicheund umweltschonende Regelung zu hintertreiben.
Wir Sozialdemokraten dagegen stehen hinter demPfand als Instrument zur Förderung und Stützung desMehrwegsystems. Allerdings halten wir einen geteiltenMarkt für Einweggetränke mit und ohne Pfand nicht fürden besten Weg. Daher haben wir schon vor zwei Jahrenein allgemeines Pfand für ökologisch nachteilige Ein-wegverpackungen vorgeschlagen.
Dem Mehrwegsystem wäre dadurch geholfen gewesenund ökologisch vorteilhafte Verpackungen wie Getränke-karton und Schlauchbeutel wären vom Pfand ausgenom-men worden.Die Fehler der alten Pfandregelung, meine Damen undHerren von der Opposition, wollten SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen also bereits im Frühjahr 2001 korri-gieren. Leider ist dieser Vorschlag einer Verpackungsver-ordnung aber im Bundesrat gescheitert.Wir Sozialdemokraten begrüßen daher ausdrücklichdie Einigung zwischen dem BMU, den Ländern und derIndustrie,
durch die eine ökologisch und ökonomisch sinnvolleNeuregelung des Dosenpfandes in unserem Sinne zum1. Oktober dieses Jahres möglich ist. Diese Einigung aufeine ökologische und verbraucherfreundliche Novellewäre aber ohne Umsetzung des Dosenpfandes zu Beginndieses Jahres nicht möglich gewesen. Das hat die FDPvehement bekämpft. Durch diese Einigung ist der AntragBirgit Homburger
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Gerd Friedrich Bollmannder FDP erst recht überflüssig. Trotzdem möchte ich aufeinige besonders unsinnige Punkte und falsche Darstel-lungen
eingehen.Es gab kein Chaos bei der Einführung des Dosen-pfandes – das hätten Sie sich vielleicht gewünscht –, dashaben wir alle selber im Januar in den Geschäften fest-stellen können.
Die Umweltverbände bestätigen dies. Die jetzt noch vor-handenen Schwierigkeiten sind Folgen der Mängel desMerkel-Pfandes
und des Boykotts von Teilen des Handels und der Her-steller. Hätte die Opposition im Jahre 2001 zugestimmt,wäre eine neue Regelung des Dosenpfandes bereits jetztGesetz.
Außerdem wäre eine verbraucherfreundliche Umset-zung möglich gewesen, hätten nicht einige Großbraue-reien sowie Teile des Großhandels und der Dosenherstel-ler ihre Mitarbeit verweigert. Seit neun Monaten ist derEinführungstermin bekannt. Aber anstatt entsprechendeVorbereitungen durchzuführen, klagten Teile von Indus-trie und Handel.
Sie setzten auf einen Wahlsieg von CDU/CSU und FDP inder Hoffnung, Edmund und Guido würden es schon rich-ten und die Einführung des Pfandes verhindern.
Durch dieses Schmierentheater wurden das Pfandclearingund ein einheitliches Rücknahmesystem verhindert. DieFolgen der Verweigerung müssen jetzt die Verbraucheraustragen.Sie, meine Damen und Herren von der FDP, sind durchIhr Nein zur Novelle zur Verpackungsverordnung unddurch Ihre Wahlkampfaussagen zum Dosenpfand mitver-antwortlich für die derzeitigen Ungereimtheiten. Nun er-dreisten Sie sich, die von Ihnen mitverschuldeten Pro-bleme zum Anlass zu nehmen, eine Abschaffung derPfandregelung zu fordern. Im Übrigen wissen Sie, dassdurch die Vereinbarung des Bundesumweltministers mitden Bundesländern verbraucherunfreundliche Mängelspätestens bis zum 1. Oktober behoben sind.
Ein weiteres Argument der FDPgegen die Pfandpflichtist eine Meldung über Kurzarbeit bei einem großen Ge-tränkehersteller.
Aber nicht erwähnt wird, dass die Kurzarbeit die Dosen-abfüllung betrifft,
bundesweit aber im Mehrwegsystem zusätzliche Arbeits-stunden anfallen. Erwähnt wird nicht, dass der Getränke-fachhandel und mittelständische Brauereien mehrere100 Millionen Euro in den Ausbau des Mehrwegsystemsinvestiert haben, Investitionen, die durch die Pfandpflichtgeschützt werden.
Laut Roland Demleitner, dem Geschäftsführer des Bun-desverbandes mittelständischer Privatbrauereien, werdenweitere Investitionen in den Mehrwegbereich folgen. Da-mit werden durch das Dosenpfand 250 000 Arbeitsplätzeim Bereich der Mehrwegwirtschaft gesichert.Erwähnt wird nicht, dass sich über 800 Privatbrauereienund rund 10 000 Getränkefachhändler im September letz-ten Jahres in einem offenen Brief für das Dosenpfand aus-gesprochen haben. Brauereien, Getränkeabfüller, Brunnensowie Getränkegroßhandel und -einzelhandel befürwor-ten das Pflichtpfand. Dies erklärte im Übrigen auchHartmut Koschyk von der CSU am 18. Mai 2001 in einerErklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des DeutschenBundestages.Meine Damen und Herren von der FDP, Sie betonendoch sonst immer Ihre Rolle als Kämpfer für den Mittel-stand. Jetzt bekämpfen Sie eine Regelung, die von dermittelständischen Brauwirtschaft und dem Fachhandelbegrüßt wird. Die Erfüllung Ihrer Forderung würde zurExistenzvernichtung mittelständischer Betriebe und zurVernichtung von Arbeitsplätzen führen.
Schauen Sie sich doch die Entwicklung an: EinzelneGroßbrauereien und Teile des Handels überschwemmtenden Markt mit billigem Dosenbier und -wasser. Ziel wares, mithilfe der Dose kleine und mittlere Brauereien undBrunnen zu verdrängen. Mit ihren Forderungen unter-stützt die FDP Interessen, deren Ziel die Vernichtung mit-telständischer Unternehmen ist.
Diese Politik ist mittelstandsfeindlich.Kurz möchte ich noch einen Punkt des FDP-Antragesstreifen: Bürgerinnen und Bürger, die freiwillig die Land-schaft von Müll säubern, sollen Geld aus einem Fondsder Getränkewirtschaft erhalten. Wie soll das funktionie-ren? Stellen Bürger, die beim Sonntagsspaziergang Do-sen sammeln, beim Fonds einen Antrag auf Geldzuwei-sung?
2190
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2191
Oder werden Dosensammelvereine gegründet und finan-ziell unterstützt? Dieser Punkt des FDP-Antrages ist sorealitätsfremd, dass es nicht lohnt, näher darauf einzu-gehen.
Jeder erfahrene Kommunalpolitiker würde die Händeüber dem Kopf zusammenschlagen.
Aber dieser Punkt zeigt, wie die Liberalen zum Müllpro-blem stehen. Erst soll der Müll in die Landschaft, dannsollen die Bürger ihn einsammeln und die verursachendeIndustrie darf sich mit einem Trinkgeld freikaufen.
Sinnvolle Umweltpolitik sieht anders aus. Wir Sozial-demokraten treten dafür ein, Landschaftsvermüllung vonvornherein zu vermeiden.
Durch das Dosenpfand wird die Vermüllung wirksambekämpft
und wir wissen, dass der überwiegende Teil der Bevölke-rung unseres Landes unsere Auffassung teilt.
Meine Damen und Herren, vor allem aber zeigen die-ser Antrag und frühere Aussagen die wahre Haltung derFDP zur Umweltpolitik. Die FDP fordert im Umwelt-schutzbereich freiwillige Vereinbarungen,
EU- oder weltweite Abkommen, um damit notwendigeUmweltschutzmaßnahmen zu verzögern oder gar zu ver-hindern. Genau dieses ist ja auch das Ziel. Unterstützungder Wirtschaft und ihrer Forderungen rangieren bei derFDP und bei Teilen der Union immer noch vor demSchutz der Umwelt.Gerade die Entwicklung bei der Verpackungsverord-nung beweist, dass freiwillige Vereinbarungen oftmalsnicht zum Ziel führen. Das Töpfer-Pfand von 1991 um-fasste eine freiwillige Vereinbarung zur Einhaltung derMehrwegquote – eine Vereinbarung, die von Teilen derGetränkeindustrie nicht eingehalten wurde. Töpfer selbsthatte weiter gehende Vorstellungen für die Verpackungs-verordnung. Er wurde damals vor allem von der FDP ge-bremst, die massiv die Interessen des Handels vertrat.Ein Pfand auf Einwegverpackungen für Getränke warfür den Fall vereinbart, dass der Mehrweganteil an denVerpackungen unter eine Quote von 72 Prozent sinkt. Ge-tränkehersteller und Handel hatten sich verpflichtet, denMehrweganteil stabil zu halten. Das ist aber nicht gelun-gen. Einige Discounter und große Getränkeabfüller habenihre aggressive Wachstumsstrategie unter anderem aufEinwegverpackungen ausgerichtet, um zusätzliche Markt-anteile zu gewinnen. Das Ergebnis: Seit rund fünf Jahrenwissen wir, dass die Mehrwegquote sinkt; inzwischen lagsie nur noch bei rund 53 Prozent. Konkret zurückgegan-gen sind die Mehrweganteile bei Bier, Mineralwasser undLimonaden. Freiwillige Vereinbarungen taugen ohne ihreEinhaltung also nichts.Zum Glück für Umwelt, Verbraucher und mittelständi-sche Brauereien sind die Pläne der Opposition zur Ab-schaffung des Pfandes endgültig ad acta gelegt.
Denn nun gibt es die Vereinbarung des Umweltministersmit den Ländern und der Industrie über eine Änderung derVerpackungsverordnung. Nichtsdestotrotz wird nun ver-sucht, das Wettbewerbsrecht auszuhebeln und Geschäftezulasten der Verbraucher zu machen. Klare kartellrecht-liche Vorgaben an ein Pfandclearingsystem mussten erstgestern von Ulf Böge in Erinnerung gebracht werden. DerKartellamtspräsident begründete Vorbehalte seinerBehörde gegen das System vor allem mit dem Verfahren,mit dem das Duale System Deutschland als Clearingstelleausgewählt wurde. Böge sagte, das Verfahren hätte eineordnungsgemäße Ausschreibung erfordert, um keinenWettbewerber zu diskriminieren. Allerdings könne dieAusschreibung jederzeit nachgeholt werden und es liegean Handel und Industrie, ein ordnungsgemäßes Vergabe-verfahren durchzuführen. Gleichzeitig stellte Ulf Bögedar, dass das Kartellamt nicht gegen das geplante Pfand-system als solches ist.Wir gehen davon aus, dass eine kartellrechtlich ein-wandfreie Lösung gefunden wird, damit die Novelle derVerpackungsverordnung pünktlich zum 1. Oktober in Krafttreten kann. Ich hoffe, meine Damen und Herren von derOpposition, Sie akzeptieren nun endlich die umwelt- undverbraucherfreundliche Regelung des Pflichtpfandes undhören auf, Verbraucher und Wirtschaft zu verunsichern.
Die Neuregelung sieht eine Pfandpflicht bei allenEinweggetränkeverpackungen vor, außer für ökologischvorteilhafte Einweggetränkeverpackungen, Wein, Sekt,Spirituosen und diätetische Lebensmittel. Eine ähnlicheRegelung wollten Sozialdemokraten und Bündnis 90/DieGrünen schon vor einem Jahr durchsetzen.Diese Novelle beseitigt die Fehler der alten Regelung.Ich begrüße, dass die unionsgeführten Bundesländer nachAngaben des bayerischen Umweltministers Schnappaufihre Bereitschaft zur Zustimmung signalisiert haben.
Ich hätte es noch mehr begrüßt, wenn die FDP angesichtsdieser Einigung ihren Antrag zurückgezogen und damitGerd Friedrich Bollmann
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Gerd Friedrich Bollmannihre Unterstützung für eine umwelt- und verbraucher-freundliche Verordnung signalisiert hätte.Wir Sozialdemokraten lehnen den Antrag der FDP abund stehen hinter dieser Novelle. Mit der Neuregelungdes Dosenpfandes werden das Mehrwegsystem gestützt,mittelständische Betriebe geschützt und die Landschafts-vermüllung bekämpft. Mit der Einführung eines einheitli-chen Pfandes auf Getränkeverpackungen setzen Sozialde-mokraten und Bündnis 90/Die Grünen ihre erfolgreicheUmweltpolitik der letzten Jahre fort und folgen dem Ge-bot der Nachhaltigkeit.
Die gefundene Regelung ist aber nicht nur ein Erfolgder rot-grünen Bundesregierung, die Neuregelung istauch ein Erfolg der parlamentarischen Demokratie überLobbyismus und Einzelinteressen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Bollmann, Sie haben gerade Ihre erste
Rede im Deutschen Bundestag gehalten. Herzlichen
Glückwunsch!
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kol-
legin Birgit Homburger.
Herr Kollege Bollmann, als Reaktion auf Ihre Rede
möchte ich Ihnen Folgendes sagen. Zu dem, was Sie hier
vorgetragen haben, muss ich Sie fragen: Wissen Sie es
nicht besser?
Sie haben eine Art und Weise der Auseinandersetzung ge-
wählt, die wir bisher nicht gewöhnt waren. Wir sind hier
Diskussionen wie auch Auseinandersetzungen über unter-
schiedliche Auffassungen gewöhnt. Sie dagegen haben
nichts anderes getan, als das, was im Antrag der FDP
steht, auf eine absolut polemische und unverschämte Art
zu verdrehen. Das muss ich Ihnen sehr deutlich sagen.
Ich möchte klarstellen: Die FDP möchte eine ökolo-
gisch und ökonomisch sinnvolle Regelung finden. Wir ha-
ben deswegen den Vorschlag gemacht, zum Schutz öko-
logisch sinnvoller Verpackungen ein Lizenzmodell
einzuführen. Wir sind also mitnichten, wie Sie gesagt ha-
ben, für irgendeine Art von freiwilliger Vereinbarung. Wir
haben einfach nur ein anderes Modell vorgeschlagen, von
dem wir überzeugt sind, dass es einfacher, unbürokrati-
scher und für die Gesamtheit der Verbraucherinnen und
Verbraucher kostengünstiger ist. Das ist der Unterschied.
Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen.
Möchten Sie erwidern, Herr Kollege Bollmann? –
Bitte schön.
Frau Kollegin Homburger, wenn ich nach meiner ers-
ten Rede eine solche Kurzintervention zu hören be-
komme, dann ist das, wie ich denke, ein Zeichen dafür,
dass ich die Diskussion zumindest angeregt habe. Pole-
mik ist dabei in der letzten Zeit gerade von Ihrer Seite zur
Genüge gekommen.
Was ich mit meiner Rede deutlich machen wollte, war
in erster Linie folgender Punkt: Sie haben maßgeblich
dazu beigetragen, dass die Ungereimtheiten, die es zurzeit
in einigen Geschäften gibt, überhaupt existieren. Das ist
Ihr „Verdienst“. Nun kritisieren Sie das, was Sie ange-
richtet haben, und versuchen, daraus Nutzen zu ziehen
und das Verfahren mit diesem Antrag doch noch zu stop-
pen. Das wird Ihnen aber nicht gelingen. Ich denke, der
bessere Weg des Dosenpfands wird sich durchsetzen.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Wittlich von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Herr Kollege Bollmann, mit Ihrer Rede haben Siedeutlich gemacht, dass Sie von der Thematik nichts ver-stehen. Und davon verstehen Sie sehr viel.
– Das ist keine Beleidigung.
– Ich will versuchen, meine Rede etwas sachlicher zu hal-ten.Wenn ich die Debatte der vergangenen Tage und Wo-chen verfolge, dann fühle ich mich wie Moses, der dieKinder Israels durch die Wüste führt und auf der Fluchtvor den Ägyptern am Ufer des Roten Meeres ankommt.Er fleht zum Himmel und tatsächlich schaut Gott aus denWolken und sagt: Warum jammerst du, Moses? Höre also:Ich habe eine gute Nachricht und eine schlechte. Ich
2192
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2193
werde das Meer teilen, damit dein Volk trockenen Fußesins gelobte Land kann.
Großartig, sagt Moses, und wie lautet die schlechte Nach-richt? Daraufhin sagt Gott: Ich brauche zuerst die Um-weltverträglichkeitsprüfung eines unabhängigen Sach-verständigen.
Genau hier liegt das Problem. Wir haben zu vielunnötige Bürokratie. Deshalb sollten wir heute einmaldarüber reden, was uns davon befreien könnte. Ich nennedie Deregulierung. CDU/CSU und auch die Industrie for-dern bereits seit längerem eine umfassende Novelle derVerpackungsverordnung; denn die 1991 unter dem dama-ligen Umweltminister Töpfer von CDU/CSU und FDP er-lassene Verpackungsverordnung war sehr erfolgreich.
Sie hat dazu geführt, dass in Deutschland mehr Ver-packungen gesammelt und verwertet werden als in ir-gendeinem anderen Land der Welt.
Das damals bestehende Problem des Müllnotstandesist heute weitgehend gelöst. Die geltende Verpackungs-verordnung hat außerdem auf dem Gebiet des Mehrweg-schutzes die richtigen Signale gesetzt.
Dies gilt gerade auch für die Getränkeverpackungen. DasBeispiel Altglasrecycling zeigt, dass sich das Sammelnvon Getränkeverpackungen für viele Bürger zum Inbe-griff gelebten Umweltschutzes entwickelt hat. Insofernwar es nötig, die alte Verpackungsverordnung umfassendzu novellieren und den veränderten Bedingungen anzu-passen.
Die von der Bundesregierung eingeführte Pfandrege-lung wird dem allerdings nicht gerecht. Ein findiger Jour-nalist aus meinem Heimatwahlkreis hat vor einigen Tagenden Praxistest gemacht. Er hat zwei PET-Flaschen aus ei-nem Supermarkt vom Einkauf bis in den Ofen, in dem sieeingeschmolzen wurden, begleitet. Beide Flaschen ent-hielten Zitronentee, die eine mit, die andere ohne Koh-lensäure. Während beide Flaschen im Regal noch ein-trächtig nebeneinander standen, musste Kundin Bzusätzlich zum Kaufpreis 25 Cent Pfand bezahlen, weilsie ihren Tee lieber mit Kohlensäure trinkt.
Nach dem Verzehr konnte Kundin A ihre Flasche bequemin der gelben Tonne entsorgen, während Kundin B ihre be-pfandete Flasche in den einige Kilometer entfernten Su-permarkt zurückbringen und über das Rücknahmesystementsorgen lassen musste.Herr Hermann, Sie werden mir vielleicht Recht geben,dass dieses Anliegen berechtigt ist. Das Fazit dieses Zei-tungsartikels war ernüchternd: Parallel fahrende Lastwa-gen und parallel sortierende Müllmänner und Verbrau-cher, die Zettelchen und Märkchen sammeln müssen,führen zu mehr verbrauchtem Kraftstoff, zu mehr verta-ner Zeit und zu unnötig ausgegebenem Geld, das in die-sen Zeiten sinnvollerweise ganz woanders Verwendungfinden sollte. Herr Trittin, dieses Beispiel zeigt im Klei-nen sehr anschaulich die Absurdität Ihrer Verordnung.
Wer immer auch von der Pfandregelung profitieren mag –die Umwelt ist es sicher nicht.Meine Damen und Herren, alles Jammern hilft nicht;denn das Zwangspfand auf Einwegverpackungen ist inzwi-schen Realität. Wir haben das Schlechte, das wir nicht woll-ten, und müssen jetzt sehen, wie wir damit klarkommen.
Wir stehen vor der Situation, dass die Bürgerinnen undBürger sowie natürlich auch der Handel mit großen Pro-blemen kämpfen. In meiner Heimat – das ist schon ange-sprochen worden – gibt es beispielsweise zwei größereDosenwerke, die akut gefährdet sind. Die Unternehmenklagen über immense Umsatzverluste. Investitionen von100 Millionen Euro werden gestrichen und allein in einemder Werke sind über 800 Mitarbeiter in Kurzarbeit.
Herr Trittin, ich kann nur fragen: Haben Sie das wirk-lich so gewollt? Vonseiten des BMU – Herr Bollmann, dashaben Sie eben auch gesagt – wird immer wieder behaup-tet, dass der Handel und die Getränkewirtschaft ausrei-chend Zeit zur Vorbereitung gehabt hätten,
nämlich über neun Monate, und zwar von März 2002 bisJanuar 2003.Ich sage Ihnen: So stimmt das doch überhaupt nicht.
Kurz vor dem Termin des In-Kraft-Tretens der Pfandpflichtherrschte in Deutschland überhaupt noch keine Rechtssi-cherheit bezüglich des Umgangs mit Getränkeverpackun-gen. Die Entscheidung der höchsten Gerichte stand nochaus.
Man muss den Unternehmen und Verbänden doch dieMöglichkeit einräumen, den Rechtsweg vollständig aus-zuschöpfen, bevor sie Investitionen in Milliardenhöhetätigen. Ein Pfandsystem für Einwegverpackungen lässtsich nicht einfach mal eben so etablieren.
WernerWittlich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
WernerWittlichEs muss eine riesige Infrastruktur geschaffen werden, de-ren Einrichtung Milliarden kosten wird. Auch wesentlicheFragen des Aufbaus und Betriebs eines solchen Systemsmüssen noch geklärt werden.Dies gilt beispielsweise für die Bereitstellung der not-wendigen Infrastruktur, den Aufbau eines so genanntenzentralen Pfandclearings und die Einführung fäl-schungssicherer Kennzeichen bei den betroffenen Ver-packungen.
Dem von uns geforderten Moratorium bis Oktober 2003haben Sie leider nicht zugestimmt. Bis dahin hätten we-nigstens die Dosen, die bereits produziert worden sind,sinnvoll verwendet werden können.
– Arbeitsplätze und Unternehmen interessieren Sie nicht.Allein in dem gerade genannten Werk liegen 200 Milli-onen Dosen auf Halde, die derzeit nicht verkauft werdenkönnen.
Lediglich 0,8 Prozent des gesamten Abfalls, der inDeutschland anfällt, besteht aus Einwegverpackungen.Für diese geringe Abfallfraktion betreiben wir einen derartüberzogenen Verwaltungsaufwand. Alwin Münchmeyerhat einmal gesagt: Das Vaterunser hat 56 Wörter. DieZehn Gebote haben 297 Wörter. Aber die Verordnung derEU-Kommission über den Import von Karamellen undKaramellprodukten zieht sich über 26 911 Wörter hin. –Dies zeigt: Je unwichtiger die Dinge werden, desto kom-plizierter sind die Regeln.
Müssen wir demnächst eigentlich auch Zigaretten-schachteln oder Kaugummipapierchen bepfanden, um derLandschaftsvermüllung Herr zu werden?
Herr Trittin, wie handhaben Sie es mit Bechern, in die bei-spielsweise Buttermilch abgefüllt ist? Was denken Siesich denn dazu aus? Rund 800 Millionen Milchver-packungen, die über das Duale System bisher reibungs-los entsorgt werden, sollen nach Auskunft des BMU jetztbepfandet werden. Wie das unter hygienischen Bedingun-gen funktionieren soll, steht in den Sternen. In der letztenKonsequenz Ihrer Regel müssten Sie sogar die kleinenKaffeemilchdöschen, die Sie Ihren Besuchern auf die Un-tertasse legen, zurückbringen.
– Sie trinken also nur Tee ohne Milch. Insofern freue ichmich, dass selbst der Umweltminister inzwischen erkannthat, dass seine Zwangspfandregelung nicht das Ei desKolumbus ist.Auch die jüngsten Novellierungsvorschläge werdenden Anforderungen nicht gerecht. Wir von CDU und CSUwürden die Neuregelung grundsätzlich begrüßen, wennsie zu einem Weniger an Bürokratie und einem Mehr anFlexibilität führte.
Die Neuregelung bietet uns die einmalige Chance, mitden Forderungen nach einer Deregulierung des Umwelt-rechts ernst zu machen. CDU/CSU sehen aber auch inden vor wenigen Tagen vereinbarten Kompromissvor-schlägen noch viele offene Fragen. Die Ankündigung desBundesumweltministeriums und der Länder, künftig nurnoch an das Kriterium der ökologisch vorteilhaften Ver-packung anzuknüpfen, halten wir für einen Schritt in dierichtige Richtung. Wenn überhaupt, müssen Einwegver-packungen nach Art der Verpackung und nicht nach demInhalt bepfandet werden.
Es ist aber davor zu warnen, dieses Kriterium bürokra-tisch zu betrachten und an langwierige Entscheidungs-prozesse zu binden.Stellen Sie sich einmal folgenden Fall vor: Eine Ver-packung, die derzeit noch nicht ökologisch vorteilhaft ist,wird in einem Prozessverfahren zur ökologisch vorteil-haften Verpackung, was durch entsprechende Gutachtenund Ökobilanzen belegt wird. Muss dann jedes Mal die ge-samte Verwaltungsmaschinerie in Gang gesetzt werden?
Müssen sich dann Umweltministerium, Bundestag undBundesrat wieder mit einer Novellierung der Ver-packungsverordnung befassen, um den neuen Erkenntnis-sen Rechnung zu tragen? Schließlich handelt es sich beieiner Ökobilanz – das haben Sie in der Regierungsbefra-gung selbst gesagt – um einen formalisierten Vorgang, derinternationalen Standards genügt.Wir fordern daher, die Freistellung ökologisch vorteil-hafter Verpackungen von der Pfandpflicht in einer so ge-nannten Innovationsklausel festzuschreiben.
Sie soll die Voraussetzungen verbindlich festlegen, unterdenen eine Freistellung von der Pfandpflicht gewährtsein soll. Das heißt ganz konkret: Wenn sich eine Ver-packung als ökologisch vorteilhaft herausstellt, muss sieumgehend, das heißt auf Antrag, von der Pfandpflicht aus-genommen werden.
Auch an anderer Stelle verträgt die geltende Ver-packungsordnung Vereinfachungen. Es wäre wünschens-wert, künftig ein einheitliches Pfand in Höhe von 25 Centzu erheben. Damit würde die Verpackungsrücknahmevereinfacht und die finanziellen Mittel der Verbraucherwürden nicht unnötig gebunden.Abschließend fordern wir, Getränkeverpackungen abdrei Liter von der Verpackungspflicht auszunehmen. Las-
2194
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2195
sen Sie mich diese Forderung an einem Beispiel erläutern.Sie, Herr Trittin, feiern mit Ihren Freunden eine Party undkaufen für diesen Anlass ein Fünf-Liter-Partyfass IhrerLieblingsmarke.
– Er sagt, er trinke nur noch Wein. – Bisher konnten Siedieses Fass bequem in der gelben Tonne entsorgen. Jetztmüssen Sie feststellen, dass das Fass leider nicht in die üb-lichen Rücknahmeautomaten passt. Für Abfüller undHandel wäre es mit einem immensen Aufwand verbun-den, ein eigenes Rücknahme- und Pfandsystem zu schaf-fen. Auch eine Mehrfachbefüllung scheidet wegen derunvermeidbaren Korrosion des Weißbleches aus. Wegendes vergleichsweise geringen Marktanteils droht dem Par-tyfassvertrieb langfristig das Aus. Seien wir doch ehrlich,meine Damen und Herren: Haben Sie es schon erlebt, dassjemand sein Partyfass am nächsten Morgen vom Balkonaus in die unberührte Natur wirft?
Diese Probleme haben Handel und Verbraucher bishernoch zähneknirschend hingenommen. Nun aber hat dasBundeskartellamt auch Bedenken gegen das vorgeschla-gene einheitliche Rücknahmesystem angemeldet. Mit ei-nem Schlag ist deshalb der Aufbau eines bundesweitenRücknahmesystems überraschend in Gefahr geraten.
Jetzt sind Sie gefordert, Herr Trittin. Sie müssenschnellstens eine Lösung finden. Ich prophezeie Ihnen,dass Ihnen sonst Handel und Industrie das einheitlicheRücknahmesystem vor die Füße werfen werden.
Dann stünden wir vor einem riesigen Scherbenhaufen undder Karren wäre endgültig gegen die Wand gefahren. Dassind Fragen, über die wir reden müssen.Wenn sich der Bundesumweltminister nicht unserenimmer wieder vorgetragenen Änderungsvorschlägen ent-zogen hätte, wäre jetzt manches leichter. Bis heute ver-schließen Sie sich einer vernünftigen Lösung und versu-chen stattdessen, die angerichteten Schäden mitgeringfügigen kosmetischen Änderungen zu mildern.Ich möchte abschließend darauf drängen – –
Ja, Herr Kollege, ich bitte darum, dass Sie zum Schluss
kommen.
Ich komme sofort zum Ende, Frau Präsidentin. – Ich
möchte abschließend darauf drängen, den vorgelegten
Novellierungsentwurf nochmals zu überarbeiten. Ich
biete dafür für die CDU/CSU unsere konstruktive Mitar-
beit an.
Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Vogel-Sperl,Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Im vorliegenden Antrag der FDP wird erklärt,die Pfandpflicht für Einweggetränkeverpackungen sei„durch aktuelle Erkenntnisse aus Ökobilanzen obsolet ge-worden“. Tatsächlich ist jedoch der Vorschlag der FDPobsolet.
Die zum 1. Januar 2003 eingeführte Pfandpflicht ist eingroßer Erfolg für die Umwelt und ein weiterer Schritt zueiner funktionsfähigen Kreislaufwirtschaft.
Das prognostizierte Chaos ist ausgeblieben. Die erstenWochen dieses Jahres belegen eindeutig eine ökologischeLenkungswirkung. Das Pfand führt dazu, dass der bis-herige Wettbewerbsvorteil der Einwegverpackungen ge-genüber den Mehrwegsystemen aufgehoben wird. VieleHändler haben Einwegprodukte aus ihrem Sortiment aus-gelistet und die Abfüller von Mehrwegprodukten ver-zeichnen deutliche Absatzsteigerungen.Werte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie ir-ren, wenn Sie von einer kontraproduktiven Wirkung desDosenpfandes ausgehen. Dass die Pfandpflicht eine ge-eignete Maßnahme zur Stärkung von Mehrwegsystemenist, hat unter anderem das Umweltbundesamt bestätigt.Sie bestätigen es sogar selbst, indem Sie sich um Arbeits-plätze bei der Einwegabfüllung sorgen. Interessanter-weise haben Sie diese Sorge mit Blick auf die rund250 000 Arbeitsplätze, die im Mehrwegbereich auf demSpiel stehen, bisher nicht geäußert.
In der gegenwärtigen Situation immer noch die Augenvor der Realität zu verschließen ist sicher nicht ziel-führend. Die von Ihnen vorgebrachten Argumente werdendurch ständige Wiederholung auch nicht richtiger. DieForderung nach einem Aussetzen der eingeführten Pfand-pflicht lehnen wir entschieden ab. Von einer Rechtsunsi-cherheit kann heute keine Rede mehr sein. Vor dem Hin-tergrund der inzwischen erreichten Einigung mit denBundesländern hat diese Forderung zudem jegliche Rele-vanz verloren.
WernerWittlich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Dr. Antje Vogel-SperlIst es nicht vielmehr so, dass seit gut zehn Jahren sei-tens des Handels versucht wird, die bereits unter KlausTöpfer erlassene Verpackungsverordnung konsequent zuignorieren, zu unterlaufen und zu boykottieren?
Tatsache ist, dass seit 1991 klar ist, was auf den Handelzukommt, wenn die vorgeschriebene Mehrwegquote von72 Prozent unterschritten wird. Dies ist bereits 1997 erst-mals geschehen. In den nachfolgenden Jahren ist dieQuote kontinuierlich weiter gesunken.Statt konstruktiv zusammenzuarbeiten, haben Groß-brauereien und Handelsketten bis zuletzt auf einen Regie-rungswechsel spekuliert
und, nachdem diese Hoffnung nicht in Erfüllung gegan-gen ist, das Land mit unzähligen Gerichtsverfahren über-zogen. So sollte die fällige Umsetzung der Ver-packungsverordnung doch noch verhindert werden.Spätestens mit der Entscheidung des Oberverwaltungsge-richts in Leipzig vom Januar dieses Jahres sind auch dieseVersuche endgültig gescheitert.
Das Pfand sichert Arbeitsplätze im Mittelstand. In derVergangenheit haben vor allem Großbrauereien ihre Er-zeugnisse in Einwegverpackungen zu Dumpingpreisenauf den Markt geworfen. Gleichzeitig wurde die Gefähr-dung von Tausenden von Arbeitsplätzen in mittelständi-schen Betrieben in Kauf genommen, die bisher traditio-nell auf Mehrwegsysteme gesetzt haben. Das Pfand stärktdie regionale Vermarktung von Getränken, da vor allemregionale Anbieter in der Vergangenheit auf Mehrweg ge-setzt und dafür auch umfangreiche Investitionen getätigthaben.
Wenn zurzeit bei einigen Einwegabfüllern Probleme auf-treten und teilweise Kurzarbeit angesetzt wurde, liegt diesdarin begründet, dass sich die Wirtschaft viel zu langegeweigert hat, sich auf das frühzeitig angekündigte Pfandeinzustellen.
Das Pfand ist aber vor allem ein sinnvolles Instrument,um ökologisch vorteilhafte Verpackungen zu fördern. Eswird im Übrigen von der großen Mehrheit der Bevölke-rung akzeptiert und befürwortet. Das Pfand führt zu einersortenreinen Sammlung der Verpackungsabfälle und so-mit zu einer besseren Verwertung der Rohstoffe. Es trägtdazu bei, Müll im Vorfeld zu vermeiden, anstatt ihn imNachhinein aufwendig sammeln und entsorgen zu müs-sen. Hier bedarf es übrigens auch keines Fonds für Land-schaftsschutz.
Liebe Frau Kollegin Homburger, Sie beschweren sichüber die bisherigen Ungereimtheiten bei der Pfandpflicht.Diese haben Sie aber doch erst mit der Novelle von 1998eingeführt. Sie waren an der Regierung beteiligt.
– Ich würde gern fortfahren.
In dieser Novelle wurde die ökologisch unsinnige Un-terscheidung nach Getränkearten eingeführt. Wir habenindes schon immer eine Ausrichtung der Verpackungsver-ordnung nach ökologischen Kriterien gefordert und ent-sprechende gesetzliche Initiativen auf den Weg gebracht.Eine Novellierung der Verpackungsverordnung nach öko-logischen Gesichtspunkten ist im Jahr 2001 im Bundes-rat aufgrund rein parteipolitischen Kalküls gescheitert.
Schon vor zwei Jahren hätten wir genau das erreichenkönnen, worüber jetzt Konsens zwischen der Bundes-regierung und den Ländern erzielt wurde.
Draußen versteht dies kein Mensch mehr, zumal es hierauch um Deregulierung geht.Die Pfandpflicht soll künftig für alle Einweggetränke-verpackungen gelten mit Ausnahme von erstens ökolo-gisch vorteilhaften Einweggetränkeverpackungen wieGetränkekartons und Schlauchbeutel für Milch, zweitensWein, Spirituosen und allen Mixgetränken mit einemüberwiegenden Anteil davon und drittens bestimmten diä-tetischen Lebensmitteln. Ein Pfand in einer einheitlichenHöhe, wie von Ihnen vorgeschlagen, lehnen wir indes ab.
Auch auf die Mehrwegquote als auslösendes Elementfür die Pfandpflicht wird zukünftig verzichtet. In § 1 Ver-packungsverordnung wird das Ziel aufgenommen, dassder Anteil der in ökologisch vorteilhaften Getränkever-packungen abgefüllten Getränke mindestens 80 Prozentbetragen soll. Um gleichzeitig Anreize zu schaffen, um-weltverträgliche Verpackungen zu entwickeln, wird ge-währleistet sein, dass Verpackungen, die sich zukünftigals ökologisch vorteilhaft erweisen, von der Pfandpflichtausgenommen werden können. Allerdings sind wir derMeinung, das dies ohne jeglichen Automatismus gesche-hen sollte. Die Entscheidung darüber sollte dem Parla-ment nicht vorenthalten werden.Lassen Sie uns die unendliche Geschichte der Dose zuEnde bringen und uns weiteren wichtigen Fragen derKreislaufwirtschaft zuwenden.
2196
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2197
Lassen Sie uns gemeinsam konstruktiv die Novellierungder Verpackungsverordnung auf den Weg bringen! AuchIndustrie und Handel müssen jetzt konsequent dazu bei-tragen, dass das bundesweit einheitliche Rücknahme-system spätestens zum 1. Oktober bereitsteht und die bis-herige Blockadepolitik nicht auf anderen Feldern wie demKartellrecht fortgeführt wird. Das Bundeskartellamt hatfrühzeitig signalisiert, ein bundesweites Rücknahme-system mit einer Clearingstelle für den Ausgleich derPfandzahlungen unter Einhaltung bestimmter Kriterien zugenehmigen. Es liegt nun an der Wirtschaft, ein entspre-chendes Konzept vorzulegen und nicht den schwarzenPeter der Kartellbehörde unterzuschieben.Vielen Dank.
Frau Kollegin Vogel-Sperl, ich gratuliere Ihnen recht
herzlich zu Ihrer ersten Rede hier in diesem Hohen Hause
und wünsche Ihnen politisch und persönlich alles Gute.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kristina Köhler,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Die Einführung des Zwangspfands zum 1. Januarwar ein klassischer Fehlstart.
Chaotischer geht es wirklich nicht: eine Regelung, diejeglicher Logik entbehrt, Händler, die darauf nicht vorbe-reitet waren, und verzweifelte Kunden, die in jedem Su-permarkt und an jedem Kiosk mit einer neuen Regelungfür die Rückgabe ihrer Dosen konfrontiert wurden.
Statt zuerst mit allen Beteiligten nach einer praktika-blen Lösung zu suchen und anschließend ein Zwangs-pfand einzuführen, hat Herr Minister Trittin lieber genauumgekehrt gehandelt, nach dem Motto: Erst handeln; den-ken können wir ja später immer noch.
Der Antrag der FDP greift wichtige Argumente derCDU/CSU auf. Wir kritisieren ebenfalls, dass sich dasPfand derzeit nicht nach der Ökobilanz richtet, sondern aneine Mehrwegquote gekoppelt ist. Das ist ökologischvollkommen sinnlos, denn der Umwelt ist es wirklich to-tal egal, ob in einem Eistee Kohlensäure enthalten ist odernicht.
Wir kritisieren, dass mit dem Pfand nicht bis zu einerNovellierung der Verpackungsverordnung gewartetwurde. Dies hat enorme Probleme und Belastungen fürdie Wirtschaft und für die Verbraucher mit sich ge-bracht. Wie die FDP sind auch wir der Auffassung, dassdas Problem der Landschaftsvermüllung anders zu lö-sen ist. Ich denke dabei beispielsweise an unser Frank-furter Modell, das wir jetzt auch in meinem WahlkreisWiesbaden eingeführt haben: Völlig egal, ob eine Ziga-rettenschachtel oder eine Einwegflasche im Gebüschlandet, zahlt derjenige, der das dahin wirft. Das ist derrichtige Weg.
In diesen Tagen wurde nun zwischen Bund und Län-dern eine Einigung über die Eckpunkte einer Novelle er-zielt. Darin wurde die wesentliche Forderung der CDU/CSU berücksichtigt, nämlich dass das Pfand an eine ne-gativeÖkobilanz geknüpft ist. Daher begrüßen wir dieseEinigung grundsätzlich.
Ein Kompromiss ist also gefunden, Herr Trittin. Es liegtnun an Ihnen, eine Novelle zu erarbeiten. Ich bitte Sieaber, dabei einige Punkte zu beachten. Sosehr wir auch dieAnkündigung begrüßen, dass die Pfandpflicht künftig al-lein an die Ökobilanz geknüpft ist, bitten wir Sie dennoch,Herr Trittin: Ersparen Sie uns eine bürokratisch aufge-blähte Regelung, die zur Beurteilung der Ökobilanz neuerVerpackungen langwierige Entscheidungsprozesse hierim Parlament nötig macht.
Herr Trittin, wir wollen doch in diesem Hohen Hause inZukunft nicht immer wieder über Bierdosen und Eisteereden. Deutschland hat doch wirklich wichtigere Pro-bleme.
Wir fordern daher, eine Innovationsklausel einzu-führen, in der verbindliche Kriterien für die Freistellungvom Dosenpfand festgelegt werden. Wenn eine neue Ver-packung erfunden wird, von der wir vielleicht heute nochgar nichts ahnen, und diese den Kriterien genügt, sich so-mit als ökologisch vorteilhaft erweist, muss diese Ver-packung ohne großen bürokratischen Aufwand von derPfandpflicht befreit werden.
Wir wollen also eine Verpackungsverordnung, die sichautomatisch dem technischen Fortschritt anpaßt, damitnicht nach jeder Innovation der Verpackungsindustriewieder alle politischen Entscheidungsgremien beschäftigtwerden. Es ist nicht Aufgabe dieses Hauses, über dieÖkobilanz des Capri-Sonne-Trinkpacks zu diskutieren.
Wenn es Ihnen mit der Entbürokratisierung ernst ist,dann beginnen Sie dort, wo es möglich ist. Vermeiden Sievon Anfang an zu viel Bürokratie und geben Sie unsererDr. Antje Vogel-Sperl
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Kristina Köhler
Forderung nach einer so gestalteten Innovationsklauselnach.
In der Einigung wird des Weiteren festgelegt, dass derMindestanteil ökologisch vorteilhafter Verpackungen80 Prozent betragen soll. Als Zielvorgabe, an der sichWirtschaft und Verbraucher orientieren können, ist das inOrdnung. Wir lehnen aber ab, dass das Unterschreiten die-ser Quote Sanktionen nach sich zieht, denn dann wärenwir wieder bei einer ökologisch unsinnigen Quotenrege-lung, von der wir gerade weg wollten.
Herr Minister Trittin, zeigen Sie mit der Novelle, dasses die Bundesregierung mit der Entbürokratisierung ernstmeint. Berücksichtigen Sie unsere Forderung nach einerInnovationsklausel und stellen Sie sicher, dass Eva-luierung und Anpassung der Verpackungsverordnungnicht immer wieder dieses Parlament beschäftigen, dannkönnen Sie auch mit der Unterstützung von CDU/CSUrechnen.Danke.
Frau Kollegin Köhler, Sie hielten heute Ihre erste
Rede. Herzlichen Glückwunsch. Ich wünsche auch Ihnen
politisch und persönlich alles Gute.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 15/315 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Weiß
, Dr. Christian Ruck, Dr. Friedbert
Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Neue Initiative zurWiederbelebung des kolum-
bianischen Friedensprozesses international un-
terstützen
– Drucksache 15/203 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hartwig Fischer, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die politische und soziale Situation in Kolumbienhat sich in den vergangenen Jahren stark verschlechtert.Nach Analysen der Vereinten Nationen sind die Ko-kaanbauflächen in Kolumbien im Vergleich zu 1996 um300 Prozent vergrößert worden. Die Schreckensmachtder linken und rechten Guerilla, die sich hauptsächlich ausdem Drogenhandel finanzieren, konnte nicht durchbro-chen werden. Vielmehr haben die Gewalttaten massiv zu-genommen, und zwar nicht nur auf dem Land, sondern ge-rade auch in den Städten. Entführungen, Erpressungen undMorde – etwa 30 000 jährlich – verursachen immer häufi-ger Angst und Schrecken in Kolumbien.Vor etwa einem Jahr sind die Friedensgespräche zwi-schen der kolumbianischen Regierung und der Rebellen-gruppe „Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens“, FARC,abgebrochen worden und konnten bis heute nicht wiederaufgenommen werden. Das Bombenattentat der FARC inBogota vor wenigen Tagen lässt erkennen, dass die Gue-rillas ihren Kampf nun vom Land wieder in die Städte ver-legen. Dabei konnten die Guerillas während der letztenJahre ihre Position in den ländlichen Regionen unter Aus-nutzung des konzilianten politischen Ansatzes des ehe-maligen Präsidenten Pastrana ausbauen. Schätzungsweisesind 50 Prozent der Fläche Kolumbiens nicht unter staat-licher Kontrolle, sondern unter der bewaffneter Gewalt-gruppen. Um die Finanzierung dieser Gruppen durch denDrogenhandel ebenso wie die Unterdrückung der Indige-nen und der sonstigen Landbevölkerung zu beenden,muss also vor allem das staatliche Gewaltmonopol inganz Kolumbien hergestellt werden.Eingedenk der Tatsache, dass die Friedensinitiativendes Vorgängers des heutigen Präsidenten Uribe von derGuerilla nicht honoriert wurden, muss eine erfolgreichePolitik für Kolumbien daran ansetzen, das Land innenpo-litisch zu stabilisieren, notfalls auch unter Einsatz von Po-lizei und Militär.
Darin sollte Präsident Uribe von den internationalen Ko-operationspartnern unterstützt werden. Dabei muss dierechtsstaatliche Überprüfung der NotstandsmaßnahmenUribes gewährleistet sein. Derartige Maßnahmen sindaber nur dauerhaft wirksam, wenn sie von entsprechendenstrukturellen und sozialen Maßnahmen flankiert werden,gerade weil sich die Spannungen in Kolumbien in denletzten Monaten verschärft haben.Für CDU und CSU ist es im Gegensatz zur Meinungdes BMZ nicht damit getan, im Rahmen des übergeord-neten Schwerpunktes „Krisenprävention und Friedens-entwicklung“ nur punktuelle Beiträge zur Lösung des in-ternen Konflikts zu leisten. Wir sehen in umfassendenReformen von Legislative, Parteien, Justiz und Verwal-tung ein Kernstück einer dauerhaften Friedenspolitik fürKolumbien. Wir begrüßen daher ausdrücklich die finan-zielle Unterstützung des UN-Menschenrechtsbüros inBogota durch die Bundesrepublik Deutschland. Aber, Frau
2198
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2199
Ministerin Wieczorek-Zeul, das ist wieder einmal nur einePolitik der Symbolik. Sie haben Ihre Möglichkeiten, ge-rade im Rahmen der EU-Entwicklungszusammenarbeitauf eine nicht nur bezüglich der Menschenrechte einheitli-chere und vorurteilslose Politik gegenüber Kolumbienhinzuwirken, bei weitem noch nicht ausgeschöpft.
Am US-amerikanischen „Plan Colombia“ kann mandurchaus berechtigte Kritik üben. Aber es ist doch nursinnvoll, mit den Vereinigten Staaten als wichtigstemKooperationspartner der kolumbianischen Regierung engzusammenzuarbeiten und sich abzustimmen.Über den Antrag der CDU/CSU-Fraktion hinaus möchteich zwei konkrete Vorschläge machen: Erstens. Drogen-anbau und Drogenhandel sind die Hauptfinanziers desUnfriedens in Kolumbien. Deshalb muss die Förderungvon Alternativen zum Drogenanbau im Rahmen einerintegrierten ländlichen Entwicklung wieder in das Zen-trum der deutschen und der europäischen Entwicklungs-zusammenarbeit rücken.
Bei den im zweiten Halbjahr 2003 anstehenden Regie-rungsverhandlungen sollte die Hilfe für Kolumbien nicht,wie von der Bundesregierung geplant, gekürzt, sondernaufgestockt werden. Wenn schon derzeit der Kaffeeanbauangesichts des Preisverfalls keine Alternative darstellt,dann könnte zumindest die Umwandlung in rentable Pro-duktiv- und Schutzwälder eine große Chance eröffnen.Alternative Anbauprodukte brauchen aber vor allem einenMarkt. Den könnten die Industrieländer durch einen Ab-bau der Zollbarrieren schaffen. Dass gerade Deutschlanddas Gegenteil tut, zeigt die morgen anstehende Verab-schiedung der neuen Steuergesetze. Kolumbien fürchtetals zweitgrößter Blumenexporteur der Welt zu Recht umseine Absatzchancen, wenn Rot-Grün die Mehrwertsteuerauf Schnittblumen erhöht.
Zweitens. Grundvoraussetzung für einen Friedenspro-zess ist die Respektierung der demokratisch gewähltenInstitutionen. Mehrere Mitglieder des kolumbianischenKongresses sind derzeit entführt und können ihr Abge-ordnetenmandat nicht wahrnehmen. Ein Drittel aller Bür-germeister kann das Amt nicht ausüben oder sie müssenvon anderer Stelle ihre Tätigkeit ausüben als vom Rathausaus, in das sie gewählt wurden. Wir, der Deutsche Bundes-tag, sollten zusammen mit Parlamentariern anderer Län-der eine gemeinsame Initiative starten, um den Druck aufdie Guerilla zur Freilassung unserer Kolleginnen undKollegen und zur Gewährleistung freier Mandatsaus-übung deutlich zu erhöhen.
Herr Fischer, auch Ihnen herzliche Glückwünsche zu
Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause. Ich wünsche
Ihnen persönlich und politisch alles Gute.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Tribüne ver-
folgen Gäste aus Kolumbien unsere Debatte. Dies sind der
Präsident des kolumbianischen Kongresses, Señor
Alfredo Ramos Botero, und die anderen Mitglieder sei-
ner Delegation. Herzlich willkommen im Deutschen
Bundestag!
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Karin
Kortmann, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte, liebe Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen! Liebe Kollegen! Buenas tardes señores senadores delParlamento Colombiano!
Knapp 30 Jahre Bürgerkrieg in Kolumbien hinterlas-sen Spuren: Inzwischen sind etwa 2,5 Millionen Men-schen aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzungenzwischen Militär, Guerilla und Paramilitärs sowie auf-grund der unzureichenden Drogenpolitik des kolumbiani-schen Staates auf der Flucht. Alle bewaffneten Gruppenverletzen seit Jahrzehnten nachweislich die Menschen-rechte und das humanitäre Völkerrecht.Diese Situation in Kolumbien beschreiben Sie in IhremAntrag sehr korrekt, liebe Kollegen und Kolleginnen derUnion. Allerdings stimme ich Ihnen in Bezug auf dieKonsequenzen, die Sie aus Ihrer Analyse ziehen, und aufIhre Handlungsaufforderungen an die Bundesregierung inkeiner Weise zu. Sie konterkarieren und widersprechender in diesem Hause beschlossenen Kolumbienpolitik.Wir haben uns vor anderthalb Jahren dafür eingesetzt,dass es zu einer Rückgewinnung der staatlichen Autorität,der Herstellung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie,der Wahrung der Menschenrechte, der Versöhnung der be-waffneten Konfliktparteien und vor allem zu einer regio-nalen Stabilisierung kommt.Unter der Überschrift „Neue Initiative zur Wiederbele-bung des kolumbianischen Friedensprozesses internatio-nal unterstützen“ fordern Sie gar die Unterstützung des„Plan Colombia“.Diese Forderung zieht sich wie ein ro-ter Faden durch Ihren Antrag. Das ist nicht nur ein Griffin die Mottenkiste, sondern ein äußerst gefährliches Un-terfangen, den Friedensprozess mit militärischen Mittelnwiederzubeleben.Ich erinnere: Der von der Regierung Pastrana imJahr 2000 ausgearbeitete nationale Entwicklungsplansollte die Basis für eine Befriedung des Landes schaffen;das Hauptgewicht wurde aber auf die Bekämpfung desDrogenanbaus und des Drogenhandels mit militärischenMitteln gelegt. Aus diesem Grund hat ein breites Bündnisinternationaler Menschenrechtsorganisationen, kirch-licher Hilfswerke, der EU, auch und gerade der deutschenBundesregierung und des Deutschen Bundestages den„Plan Colombia“ abgelehnt. Wenn Sie sich schon Anträgevon Nichtregierungsorganisationen schreiben lassen,dann verfolgen Sie bitte auch deren Intention, was den„Plan Colombia“ angeht, und nehmen Sie keine Verdre-hungen im Antragstext vor!Hartwig Fischer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Hartwig Fischer
Großflächige Besprühungen von Drogenkulturen mitPestiziden aus der Luft zerstören nicht nur Kokafelder,sondern jegliche landwirtschaftliche Produktion in denbetroffenen Gebieten. Außerdem bedrohen sie die Ge-sundheit der Bevölkerung. Daher setzt die Bundesregie-rung unter Federführung des BMZ im Rahmen der EU aufeine entwicklungsorientierte, alternative Bekämpfungdes Drogenanbaus, zum Beispiel durch die Substitutionvon Drogenpflanzungen durch andere, legale Anbaukul-turen sowie durch Aufforstungsmaßnahmen im Rahmeneiner nachhaltigen Waldwirtschaft, die vom BMZ verant-wortet wird.In betroffenen Regionen, zum Beispiel Cauca, hat sichgezeigt, dass durch die Besprühungsaktionen die Zahl derBinnenvertreibungen ansteigt und das ökologischeGleichgewicht massiv zerstört wurde. Ein solches Pro-blem macht auch an den Landesgrenzen nicht Halt. Dasgilt gerade im Fall Kolumbien, dessen bewaffneter Kon-flikt auf die Nachbarländer übergreift.Wir brauchen nicht nur eine kolumbianische, sondernauch eine regionale Perspektive.
Diese muss Alternativen zu den militärisch-repressivenKomponenten des „Plan Colombia“ und der daraus wei-terentwickelten „Andean Regional Initiative“ der Bush-Administration bieten; sonst ist eine Militarisierung dergesamten Region zu befürchten.Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit engagiertsich sowohl im Rahmen der EU als auch im Rahmen ih-rer bilateralen staatlichen Entwicklungszusammenarbeitfür eine Verbesserung der Lage in Kolumbien. NebenUmwelt- und Ressourcenschutz sind Friedensentwicklungund Konfliktbewältigung die Schwerpunkte. Während derRegierungsverhandlungen im April 2001, Herr Fischer,hat die Bundesregierung gar eine Verdoppelung ihrer bila-teralen Unterstützungsleistungen zugunsten des Friedens-prozesses vorgenommen. Damit hat HeidemarieWieczorek-Zeul einen Demokratiebonus für die Pastrana-Regierung und den Friedensprozess gegeben.
Allerdings müssen wir feststellen, dass Pastrana mitseinem „Plan Colombia“ gescheitert ist und dass die Po-litik, die Sie meine Damen und Herren von der Union,jetzt auch noch unterstützen wollen, sicherlich nicht sehrzukunftsfähig ist.Die so genannte Politik der harten Hand seinesNachfolgers, Präsident Uribe, die vor allem auf eine mi-litärische Konfliktlösung setzt, muss von der internatio-nalen Staatengemeinschaft äußerst kritisch beobachtetwerden.
– Selbstverständlich, Herr Ruck; schauen Sie hin! – Mitder Erklärung des Ausnahmezustands kurz nach derAmtsübernahme von Präsident Uribe wurden bestimmteGrundrechte wie die Bewegungs-, die Versammlungs-und die Pressefreiheit eingeschränkt und gleichzeitig demMilitär polizeiliche Aufgaben übertragen.Menschenrechtsverletzter können in Kolumbien nachwie vor mit weitgehender Straflosigkeit rechnen. Das istein Schlüsselproblem des bewaffneten Konflikts, da man-gelnde Strafverfolgung ein Hauptanreiz für weitereGewalt ist. Das Büro des VN-Hochkommissariats für Men-schenrechte in Bogotá hat Kolumbien nach wie vor man-gelnde Strafverfolgung in hohem Maß, mangelndes Vorge-hen gegen Angehörige des Staatsapparates und eine unklareTrennung zwischen ziviler und militärischer Gerichtsbar-keit bescheinigt sowie Empfehlungen zur Bekämpfung dermangelnden Strafverfolgung ausgesprochen. Die kolum-bianische Regierung muss diese Maßnahmen endlich um-setzen, gerade im Hinblick darauf, dass eine stärkere Mitt-lerrolle der internationalen Staatengemeinschaft imkolumbianischen Konflikt von Präsident Uribe ausdrück-lich gewünscht ist.Zu diesem Problem gehört auch, dass Kolumbien kürz-lich dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zwarbeigetreten ist, allerdings mit einem siebenjährigen Vor-behalt für Verbrechen gemäß Art. 8. Das bedeutet, dasserst in sieben Jahren Kriegsverbrecher für Vergehen, diesie dann begehen, international zur Verantwortung gezo-gen werden können.Selbstverständlich muss der kolumbianische Staatsein Gewaltmonopol wieder herstellen, um die Wahrungder Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit über-haupt zu garantieren und auch eine Ausweitung einesKonflikts auf die gesamte Andenregion zu verhindern.Hierzu bedarf es aber unserer Begleitung und Unterstüt-zung in den Bereichen Rechtsstaatsförderung, Verteidi-gung der Menschenrechte, Kampf gegen Ursachen derGewalt, Schutz der Biodiversität und Bekämpfung desDrogenanbaus durch eine nachhaltige ländliche Ent-wicklung und nicht einer Unterstützung des „Plan Co-lombia“.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer,
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kolumbien braucht und verdient unsere Aufmerksamkeit.Kolumbien ist ein geschundenes Land. Die Kolumbianersind ein geschundenes Volk. Sie verdienen unsere unein-geschränkte Unterstützung. Ich habe mich übrigensbesonders darüber gefreut, Herr Fischer, dass Sie die So-lidarität mit unseren parlamentarischen Kollegen ange-mahnt haben.
2200
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2201
Es ist ein unglaublicher Skandal, den wir, egal wo wir po-litisch stehen mögen, nicht einfach hinnehmen dürfen.
Ich habe bei der Vorbereitung auf diese Rede noch ein-mal die Debatte vom 5. Juli 2000 nachgelesen. Ich bin zudem Schluss gekommen, dass es zwei Möglichkeiten gibt:dass ich entweder die Rede von damals zu Protokoll gebeoder sie einfach noch einmal vorlese, ohne dass jemandmerken wird, dass sie vor drei Jahren schon einmal ge-halten worden ist; denn die Probleme haben sich nichtnachhaltig geändert. Es ist keine wesentliche Besserungeingetreten. Bestimmte Dinge haben sich eher noch ver-schärft. Die Situation ist fast noch verzweifelter gewor-den. Wir müssen nur einige Namen ändern. Es ist einneuer Präsident im Amt, der mit großem Engagement ver-sucht, an die Dinge heranzugehen, und dabei bisher er-staunlicherweise keinen Abbau seiner hohen Popularitäts-werte in Kauf nehmen muss, obwohl er den Menschenweiß Gott viel abverlangt.Die Schwierigkeiten sind nach wie vor enorm groß.Die Kollegin und der Kollege haben das sehr nachdrück-lich vorgetragen. Ich verzichte darauf, das zu wiederho-len.Die Sicherheitslage bzw. die Unsicherheitslage – so sa-gen wir wohl besser – ist neben der Korruption sicherlichder größte Hemmschuh für Auslandsinvestitionen, fürTourismus, für eine wirtschaftliche Entwicklung und ins-besondere für eine Verbesserung der sozialen Lage derMenschen. In dieser Situation ist die Europäische Unionsehr viel mehr gefordert, als das in Brüssel offensichtlichgesehen wird. Wir sind im Hinblick auf den europäischenAnsatz für Kolumbien gegenüber der Debatte, die wir vordrei Jahren geführt haben, noch nicht entscheidend wei-tergekommen. Wir sollten dort weiterhin Druck machen.
Dass es hier und da Fortschritte gegeben hat, ist nichtzuletzt auch der Initiative vieler Nichtregierungsorganisa-tionen und der Kirchen zu danken. Deren Engagement mitvielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die ein großespersönliches Risiko eingehen, sollten wir an dieser Stellewürdigen.
Ich halte es für zwingend erforderlich, dass wir in ei-ner ganz beachtlichen Breite die Zusammenarbeit mit Ko-lumbien suchen. Ich fürchte – das ist der Punkt, bei demich zwar unvoreingenommen, aber doch mit einer gewis-sen Grundskepsis an den „Plan Colombia“ und den jetztvorliegenden Antrag der Unionsfraktionen herangehe –,die schärfere Fokussierung der militärischen Dimensionkann es nicht sein.
Ich bin durchaus nicht so naiv, davon auszugehen, dasswir nur mit alternativen Anbauprojekten oder mit Sozial-projekten die Probleme in den Griff kriegen könnten. Dierepressive Dimension muss mit Sicherheit vorhanden seinund geschärft werden, auch durch unsere Hilfe. Aber ichfinde es doch schon sehr bedenklich, wenn wir uns sehrstark auf die militärische Dimension des Problems stüt-zen. Problematisch sind Reaktionen weit über die Putu-mayo-Region hinaus.Gleichzeitig sind in den letzten Jahren unsere Ansätzefür Polizeihilfe in den Etats sowohl des Außenministersals auch des Innenministers immer weiter zurückgefahrenworden. Hier war in den letzten Jahren hervorragende Ar-beit geleistet worden.
Ich will es bei diesen wenigen kritischen Anmerkun-gen, die in 180 Sekunden möglich sind, belassen. Ich sagenoch einmal: Die FDP-Fraktion geht unvoreingenommenin die Diskussion in den Ausschüssen. Ich möchte abereine gewisse Skepsis, gerade was die sehr starke Fokus-sierung auf den „Plan Colombia“ angeht, nicht verhehlen.Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Thilo Hoppe, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Hundert Jahre Einsamkeit“ – das ist der Titel des be-kannten Buches von Gabriel García Márquez, des kolum-bianischen Literaturnobelpreisträgers. Angesichts derTragödie, die sein Land zurzeit durchlebt, erhält dieser Ti-tel eine ganz neue Bedeutung: 50 Jahre latenter Bürger-krieg und kein Ende in Sicht.Seit 1998 hat sich die Lage aufgrund der Wirtschafts-krise noch weiter zugespitzt: Jahr für Jahr Tausende vonErmordeten, Tausende von Entführten und mehr als zweiMillionen Flüchtlinge. Nächsten Sonntag ist es ein Jahrher, dass die grüne Präsidentschaftskandidatin IngridBetancourt von der FARC-Guerilla entführt wurde. Mitihr gemeinsam befinden sich 23 weitere Politiker in Gei-selhaft der Guerilla.Ich will dieses Szenario des Schreckens nicht nochweiter ausbreiten. Es ist von den Rednerinnen und Red-nern vor mir schon ausreichend dargestellt worden.Es liegt jetzt ein Antrag der CDU/CSU-Fraktion vor.Richtig an dem Antrag ist die grundlegende Aussage, dasssich etwas ändern muss, dass die internationale Gemein-schaft nicht länger wegsehen darf, dass Kolumbien Un-terstützung braucht. Bitter notwendig – im wahrstenSinne des Wortes: Not wendend – sind neue Impulse füreinen Friedensprozess, einen Prozess, der internationalbegleitet und unterstützt werden muss.Ich möchte keinen Zweifel daran aufkommen lassen,dass insbesondere die FARC-Guerilla schwerste Verbre-chen begangen hat und begeht. Das muss beim Namen ge-nannt werden, auch von allen Fraktionen im DeutschenBundestag. Schlimmste Gewaltverbrechen gehen aberDr. Werner Hoyer
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Thilo Hoppeauch auf das Konto der ultrarechten Paramilitärs. Darinliegt ein Problem, weil zwischen den Paramilitärs und denoffiziellen Regierungstruppen immer wieder eine Kom-plizenschaft beobachtet werden kann.Die Menschenrechtslage ist diffus. Menschenrechts-verletzungen werden den verschiedenen Guerillaverbän-den, den Paramilitärs, der Drogenmafia, aber auch den sogenannten Sicherheitskräften der Regierung vorgewor-fen.Aus dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion spricht fürmich eine zu unkritische Haltung gegenüber der Regie-rung von Álvaro Uribe. Grundlegende Reformen im Be-reich des kolumbianischen Militärs und der Polizei sindunbedingt notwendig. Menschenrechtsstandards müssenendlich eingehalten werden. Die Verbrechen der Parami-litärs müssen verfolgt werden. Darüber wurde meistensstillschweigend hinweggegangen.Im Mittelpunkt des CDU/CSU-Antrags steht der „PlanColombia“. Sie wissen, EU und Bundesregierung stehendiesem „Plan Colombia“ mit großer Skepsis gegenüber.Viele Nichtregierungsorganisationen und besonders auchdie kirchlichen Hilfswerke halten diesen Plan für ein ganzuntaugliches Mittel. Ich schließe mich dieser Einschät-zung an. Der „Plan Colombia“ verschlimmert die Situa-tion eher, als dass er einen Lösungsweg aufzeigen könnte.Erinnern wir uns an seine Entstehung: Der ehemaligeStaatspräsident Pastrana ließ diesen Plan von seinen Un-terhändlern in ganz enger Abstimmung mit dem US StateDepartment ausarbeiten. Monatelang lag dieser Plan nurauf Englisch vor. In diesem Plan geht es vor allem umWaffenlieferungen und Flugeinsätze mit Entlaubungsmit-teln.
Soll eine tragfähige Grundlage für wirklichen Friedenund nicht Friedhofsruhe entstehen, dann kann dies nichtmit Mitteln des Vietnamkrieges geschehen.Die EU hat sich darauf verständigt, zivile Programmezu unterstützen, die auf die Bekämpfung der wirklichenUrsachen der Gewalt abzielen. Die Menschen in Kolum-bien brauchen eine Perspektive. Bauern, die sich in einerwirtschaftlichen Notlage befinden und sich deshalb ge-zwungen sehen, Koka anzubauen, sollten mit staatlicherund internationaler Hilfe die Möglichkeit bekommen, aufden Anbau anderer Produkte umzusteigen. Es laufen be-reits Projekte, mit denen versucht wird, besonders im Be-reich der nachhaltigen Land- und Forstwirtschaft neueEinkommensquellen zu erschließen. Eine Landreform istdringend notwendig. Insbesondere die kleinbäuerlicheLandwirtschaft braucht dringend Unterstützung. All dasist segensreicher als Militäraktionen und das Besprühender Kokafelder aus der Luft mit Gift; denn das Gift zer-stört nicht nur die Kokapflanzen, sondern auch die Bödenund macht Landwirtschaft für eine längere Zeit unmög-lich.Nötig sind neue Impulse für umfassende Friedensver-handlungen, die transparent und – das ist ganz wichtig –unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft geführt werdenmüssen. In Abstimmung mit den Vereinten Nationen undder Organisation Amerikanischer Staaten sollte sich dieEU viel stärker in diesen Prozess einbringen. Auch derUN-Hochkommissar für Menschenrechte muss in diesenmultilateralen Friedensprozess aktiv einbezogen werden.Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sollte diesenProzess noch stärker als bisher mit der Förderung dernachhaltigen Land- und Forstwirtschaft, mit Projektendes zivilen Friedensdienstes und mit Hilfen bei der Re-form des Justizwesens und der öffentlichen Verwaltungflankieren. Ein Menschenrechtsmonitoring ist unerläss-lich.Es gibt viel zu tun in Kolumbien und für Kolumbien.Die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft könntedazu führen, dass der Konflikt auf die Nachbarstaatenübergreift. Wie gesagt: Es gibt viel zu tun. Der „Plan Co-lombia“ ist jedoch das falsche Mittel. Deshalb lehnen wirden Antrag der CDU/CSU-Fraktion ab. Wir setzen auf zi-vile Mittel, auf Verhandlungen, auf die Beseitigung derUrsachen des Konflikts und nicht auf Gewalt. Den Frie-den mit Mitteln anzustreben, die ihm nicht zuwiderlaufen,darauf kommt es an. Wir werden einen neuen Antrag ein-bringen, der in diese Richtung geht.Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Klaus-Jürgen Hedrich,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich will nicht verhehlen, dass es mich be-sonders freut, dass mehr oder weniger durch einen Zufallauch mein Freund Alfredo Ramos, Präsident des kolum-bianischen Kongresses, heute an dieser Diskussion teil-nehmen kann. Nehmt bitte auch unsere Sympathien fürdie besondere Problematik in Kolumbien zur Kenntnis.
Wir haben in diesem Hause in den letzten Jahren desÖfteren zum Ausdruck gebracht, dass wir es nicht zulas-sen dürfen, dass sich weltweit bzw. über die Welt zerstreutZonen der Ordnungslosigkeit bilden. Das gilt nicht nur fürAfghanistan, nicht nur für den Irak, nicht nur für Somalia,sondern natürlich auch für Teile des geschundenen Lan-des – das sehen ja alle genauso – Kolumbien.Der Ansatz der neuen Administration – übrigens nichtnur der Regierung, sondern auch der Mehrheit des neu ge-wählten Kongresses – ist im Unterschied zu Pastrana, derübrigens gerade von der politischen Klasse stark gewür-digt wird, nicht allein auf den Frieden an sich zu setzen;denn die Menschen in Kolumbien haben den neuen Präsi-dent gerade deswegen gewählt, weil er dem Punkt Si-cherheit eine stärkere Bedeutung einzuräumen versprach,als es in der Vergangenheit der Fall war. Ich kann dazu nur
2202
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2203
sagen: Wenn es nicht gelingt, im Land ein größeres Maßan Sicherheit herzustellen und schrittweise wieder mehrRegionen unter die Kontrolle der gewählten und demo-kratisch legitimierten Regierung von Kolumbien zu brin-gen, dann wird sich auch mittel- und langfristig nicht vielin diesem Lande ändern.
Natürlich hat die Frau Kollegin Kortmann Recht, wennsie darauf verweist, dass militärische Aspekte allein nichtausreichen. Aber, werter Kollege Hoppe, ich habe denEindruck – ich bitte, es mir nicht übel zu nehmen, wennich das so deutlich formuliere –, Sie haben den „Plan Co-lumbia“ nicht gelesen – abgesehen davon, dass er nichtim Zentrum unseres Antrages steht, den Sie wahrschein-lich auch nicht richtig gelesen haben.Es geht um Folgendes: Der „Plan Columbia“ hat aucheine militärische Komponente, aber es überwiegen ein-deutig die nicht militärischen Komponenten. Das solltenwir ebenfalls einmal zur Kenntnis nehmen.Die Bürger dieses Landes gehen davon aus, dass dieRegierung Sicherheit gewährleisten muss. Ich nenne Ih-nen ein Beispiel. Ich habe vor Jahr und Tag – das ist viel-leicht schon zehn Jahre her – mit einer Delegation von An-gehörigen der indigenen Bevölkerung aus dem Caucagesprochen. Sie haben mir damals gesagt, dass ihr vor-rangiges Interesse darin bestehe, dass sie mit dem gesam-ten Konflikt in Kolumbien nichts zu tun haben wollen
– einen Augenblick! –, sondern in Ruhe gelassen werdenwollen. Ich habe bereits damals gesagt: Meine Erfahrun-gen aus anderen Regionen der Welt zeigen mir, dass manin einem Bürgerkrieg langfristig nicht neutral bleiben kann,dass man irgendwann Partei ergreifen muss.Die gleiche Delegation war jetzt auf Einladung vonPax Christi Holland in Deutschland. Insbesondere derGouverneur, ein Indigina, hat mir gesagt, für sie sei esklar: Sie unterstützten den Ansatz des neuen Präsidenten,weil sie hofften, dass mittelfristig mehr Sicherheit für dieBürger eintrete.Wir sollten uns nicht täuschen, indem wir glauben, dassei ein Konflikt, für den wir uns nur als Außen- und Ent-wicklungspolitiker interessieren. Nein, die Vorgänge inKolumbien berühren unmittelbar unsere eigene Sicher-heit. Das müssen wir uns immer wieder vor Augenführen.Es ist ganz eindeutig, wie der letzte Anschlag zustandegekommen ist. Die FARC wird von allen Terroristen-experten für nicht fähig gehalten, einen solchen Anschlagalleine durchzuführen. So war es kein Wunder, dass vorkurzem drei Angehörige der IRA in Bogotá verhaftetwurden, die hinter diesem Anschlag steckten.Wir wissen seit langem, dass es Kontakte zwischen derIRAund der Guerilla und Kontakte zwischen der ETAundder Guerilla gibt. Das macht deutlich: Es handelt sichnicht nur um einen regionalen Konflikt, sondern um einenKonflikt, der uns unmittelbar berührt. Darauf sollten wiruns entsprechend einstellen.Unterhalten Sie sich einmal mit den Repräsentantenausländischer Firmen, auch einer Reihe von deutschenFirmen, in Bogotá. Diese werden Ihnen mitteilen, dass siein dem Konflikt in Kolumbien in der letzten Zeit in dieserklassischen Form zum ersten Mal durch die Guerilla be-droht werden. Auch dadurch wird deutlich: Dieser Kon-flikt ist nicht einzig und allein ein nationaler.Deshalb habe ich durchaus Verständnis dafür, wenn diekolumbianische Regierung in bestimmten Fragen vondem Konzept „Zero Tolerance“ ausgeht. Wer sich nichtnach den demokratischen Spielregeln richten will, wer– wie im Fall der Guerilla und der Regierung Pastrana –nicht bereit ist, ausgestreckte Hände zu ergreifen, der darfsich nicht wundern, wenn die Mehrzahl der Bürger ir-gendwann sagt: Jetzt reicht es, jetzt erwarten wir, dass diestaatliche Autorität so handelt, dass wir in Frieden undFreiheit leben können.Die FARC, die Guerilla – sie ist ja die Hauptkraft;natürlich spielen auch die Paramilitares eine unange-nehme Rolle, um keine andere Formulierung zu wählen –
ist letzten Endes der eigentliche Störfaktor in diesemLande. Deshalb sind wir klug beraten, wenn wir in Ko-lumbien alle Gruppen unterstützen, die darauf ausgerich-tet sind, freiheitliche, marktwirtschaftliche und demokra-tische Reformen durchzusetzen. Das liegt nicht nur imInteresse des Volkes von Kolumbien, sondern auch in un-serem eigenen Interesse.Herzlichen Dank.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Anke
Hartnagel, SPD.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Señorasy señores! Jede mögliche Unterstützung zur Verbesserungder Situation der Bevölkerung in Kolumbien, die seit Jahr-zehnten unter den Konflikten leidet, ist recht, aber nichtjedes Mittel. Das sage ich hier eindeutig.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, in IhremAntrag vermisse ich einige Punkte, zum Beispiel die Si-tuation der Binnenflüchtlinge. Die Situation in Kolum-bien kommt einer humanitären Katastrophe gleich. In-zwischen sind über 2,5 Millionen Menschen, darunter vorallem Frauen und Kinder, im eigenen Land auf der Flucht;das sind mehr als die Bevölkerung der Stadt Hamburg.Die gewaltsamen Vertreibungen haben damit einen dra-matischen Höhepunkt erreicht und es ist keine Besserungder Situation in Sicht. Im Gegenteil: Die Zivilbevölke-rung wird immer mehr in den gewaltsamen Konflikt zwi-schen Guerilla, Paramilitärs, Drogenmafia und Armeehineingezogen. Diese vier Gruppen muss man einmal klarKlaus-Jürgen Hedrich
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Anke Hartnagelbenennen. – Sie können ruhig zuhören, Herr KollegeHedrich.Waren im Jahr 2000 43 Prozent der Gemeinden voninterner Vertreibung betroffen, so hat sich diese Zahl al-lein in den letzten zwei Jahren auf 86 Prozent verdoppelt.Das bedeutet: Das Problem hat sich von der lokalen Ebeneauf das gesamte Staatsgebiet ausgeweitet. Regierungsver-treter behaupten nun, die Flüchtlinge würden gut versorgtund die Kinder könnten zur Schule gehen. Aber in derRealität sieht das ganz anders aus. Oft werden die Men-schen, insbesondere die indigenen Volksgruppen und dieländliche Bevölkerung, weiter verfolgt. Von vernünftigerErnährung oder gar Schule kann überhaupt nicht die Redesein.Die längst überfällige Landreform, von der auch Sieschon gesprochen haben – von Pastrana bereits angekün-digt und auch von Uribe versprochen –, die die Rechte derLandbevölkerung verbessern kann, kommt nicht. Im Ge-genteil: Immer mehr Menschen fliehen in die Stadt. Ihresoziale Situation ist verheerend und verschlechtert sichimmer weiter. 67 Prozent der kolumbianischen Bevöl-kerung leben offiziell unter der Armutsgrenze. Mehr als3 Millionen Kinder und Jugendliche haben keinen Zu-gang zu einer Ausbildung. Während die Regierung Uribeimmer wieder ihr soziales Engagement betont, wird dochdeutlich: Uribes Politik der harten Hand steht im Vorder-grund.Natürlich muss alles dafür getan werden, das staatlicheGewaltmonopol wieder durchzusetzen, den Drogenhan-del zu bekämpfen und die Friedensverhandlungen wiederaufzunehmen, aber nicht mit jedem Mittel und nicht zu je-der Bedingung.Besorgniserregend sind vor allem die Maßnahmen derRegierung, um die Zivilbevölkerung einer fast vollständi-gen Kontrolle zu unterwerfen. Insbesondere spreche ichden Ausbau eines zivilen Netzes von Informanten an, wiezum Beispiel private Wach- und Sicherheitsdienste, vondenen eigentlich jeder weiß, wie schlecht bezahlt undschlecht kontrolliert sie werden. Das halte ich für sehr be-denklich. Der Ausbau eines Informationsnetzes und dieprivaten Sicherheits- und Wachdienste haben in einer Ge-sellschaft, die so viel Ressentiments angestaut hat und soviel Armut kennt, fatale Folgen. Jeder und jede wird ver-dächtigt und jeder kann jeden denunzieren. Das ist eineäußerst gefährliche Entwicklung, der unbedingt entge-gengewirkt werden muss.Zwei letzte wichtige Aspekte, die im Antrag der CDU/CSU leider völlig außer Acht gelassen werden, sind nochzu erwähnen: die Situation der Gewerkschaften und dieder Medien und Journalisten. Die paramilitärischen Grup-pen selektieren bei ihren Auftragsmorden zunehmend.Ihre Hauptopfer sind Gewerkschafter und Journalisten.151 Gewerkschaftsführer wurden im Jahr 2002 ermordet,75 Journalisten wurden bedroht, 12 entführt und vier er-mordet. Aufgrund der kontinuierlichen Bedrohung unddes großen Verlustes an Führungskräften ist die Gewerk-schaftsbewegung Kolumbiens in ihrem Kampf um dieWahrung der Arbeitnehmerrechte und für eine verbessertesoziale Situation stark beeinträchtigt. Mehr denn je sinddie Gewerkschaften deshalb auf internationale Solidaritätund Kooperation angewiesen.
Die Situation der Journalisten sieht nicht viel besseraus. Sie müssen unter Druck und Angst arbeiten. ObwohlPräsident Uribe die Pressefreiheit unter keinen Umstän-den einschränken will, haben einige Studien inzwischenerschreckend festgestellt: Die Kriegssituation zwingt diePresse vermehrt zum Schweigen, die Informationsqualitätund die Ausdrucksfreiheit verschlechtern sich in Kolum-bien weiter.
Die Tageszeitung „El Espectador“ hat sich in eine Wo-chenzeitung umgewandelt. Damit bleibt nur noch eineeinzige Zeitung mit nationaler Verbreitung, nämlich „ElTiempo“.Noch zwei Bemerkungen: Der „Plan Colombia“ istrichtig und gut. Aber er wird meines Erachtens – das istdas Problem – nur einseitig umgesetzt, und zwar mi-litärisch. Die anderen Maßnahmen, die angekündigt wor-den sind, sind bisher keineswegs in Angriff genommenworden.
– Nein. – Es wäre wünschenswert – das möchte ich aus-drücklich sagen –, wenn sich das Parlament noch mehreinmischen und den „Plan Colombia“ unterstützen würde.Ein letzter Satz zu den USA: Die USA würden es be-grüßen, wenn sie im Hinblick auf die IRAund andere Ter-rorgruppen in diesem Land, deren Mitglieder sie festge-nommen haben, letztendlich dazu kommen könnten, dieAntiterrorgesetze in Kraft zu setzen. Das, so denke ich, isteine gefährliche Situation.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 15/203 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines Gesetzes über eine einmalige Ent-schädigung an die Heimkehrer aus dem Beitritts-gebiet
– Drucksache 15/407 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
2204
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2205
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeHartmut Büttner, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ange-sichts dessen, dass es bei der SPD einen Regiefehler ge-geben hat – der Kollege Gerold Reichenbach, der als ers-ter Redner vorgesehen war, ist noch nicht anwesend –,beginne ich natürlich gerne als erster Redner zu diesemTagesordnungspunkt.Die Entschädigung von Spätheimkehrern, welche aufdas Gebiet der früheren DDR entlassen worden sind, istwahrlich kein Ruhmesblatt für den Deutschen Bundestag,und zwar für alle Fraktionen, einschließlich meiner eige-nen.
Allerdings hat unser Parlament in den vergangenen zwölfJahren eine ganze Reihe von Unterstützungsleistungenund Entschädigungen für die unterschiedlichsten Opfer-gruppen beschlossen. Es handelte sich sowohl um Opferdes SED-Regimes als auch um Opfer des Zweiten Welt-krieges, die in der DDR keinerlei Unterstützung bekom-men haben. So konnte das vereinte Deutschland beivielen Betroffenen zumindest nachträglich für etwas Ge-rechtigkeit sorgen.
Nur eine Gruppe von Menschen mit einem besondersschweren Schicksal ist bisher völlig vernachlässigt wor-den: Es handelt sich um Menschen, die zwei oder mehrJahre in Kriegsgefangenschaft waren. Die letzten von ih-nen sind im Jahre 1955 aus sowjetischer Kriegsgefangen-schaft entlassen worden. Ich erinnere an die ergreifendenSzenen, als sie endlich im Lager Friedland ankamen.Die Kriegsgefangenen, die in das westliche Deutsch-land entlassen worden sind, erhielten Leistungen nachdem so genannten Kriegsgefangenenentschädigungsge-setz. Für jeden Monat des Festhaltens in fremdem Ge-wahrsam gab es für die nach 1947 Entlassenen zunächsteinmal eine monatliche Entschädigung von 30 DM. Wennsie nach 1949 entlassen wurden, erhielten sie pro Haft-monat 60 DM. Die Gesamtentschädigung war auf einenHöchstbetrag von 12 000 DM gedeckelt. Kriegsgefan-gene mit dem gleichen Schicksal, die in die SBZ bzw. diespätere DDR entlassen worden sind, erhielten außer50 Ostmark keine weitere Entschädigungsleistung.Die westdeutschen Bestimmungen sind nach der Wie-dervereinigung nicht auf die Leidensgefährten in denneuen Bundesländern übertragen worden.
Ein Hauptgrund für die Entschädigungsleistungen imWesten sei der Aspekt der Eingliederung in die deutscheGesellschaft gewesen. Dieser Aspekt sei jedoch 45 Jahrenach Kriegsende abgeschlossen gewesen. Nur Leistungender Heimkehrerstiftung zur Linderung einer aktuellen so-zialen Notlage gibt es seit 1993 auch für Betroffene in denneuen Ländern.Heute wird vielfach gesagt, das Schicksal dieser Men-schen sei ohnehin nicht mit Geld ungeschehen zu machen.Das ist wohl richtig und wahr. Wer so argumentiert, über-sieht aber, dass sich die Spätheimkehrer bereits in derDDR als Menschen zweiter Klasse fühlen mussten. Siewurden häufig sogar als Kriegsverbrecher hingestellt. Ih-nen wurde ein großes Maß an Schuld für die Schandtatendes Nationalsozialismus aufgetragen.Auch das vereinte Deutschland unternahm leidernichts, um die nach Ostdeutschland entlassenen Spät-heimkehrer ihren Westkollegen gleichzustellen.
Ich bekenne freimütig, liebe Frau Stokar, dass auch ichdie ganze Dimension des persönlichen Zurückgesetzt-seins dieser ehemaligen Kriegsgefangenen zunächst nichterkannt habe. Erst seit sich Zusammenschlüsse derKriegsgefangenen auch in meinem Wahlkreis gebildet ha-ben, bin ich auf die tiefe Verbitterung dieser Menschen ge-stoßen. „Es war doch derselbe Krieg, in dem wir unserenKopf hinhalten mussten, wir hatten doch den Hunger, dieZwangsarbeit, die Entbehrung genauso zu ertragen wieunsere Leidenskollegen, die auf die deutsche Sonnenseiteentlassen worden sind“ war nur eine der vielen bitterenAussagen. Die Verbitterung wuchs noch, seit bekanntwurde, dass die deutsche Gesellschaft 10 Milliarden DMals Wiedergutmachung für ausländische Zwangs- undSklavenarbeiter zu zahlen bereit ist. Davon zahlt allein7,5 Milliarden DM der deutsche Steuerzahler.Es ist ziemlich zwecklos, den Betroffenen den juris-tischen Unterschied zwischen Kriegsgefangenen undZwangsarbeitern erläutern zu wollen. Das Gefühl man-gelnder Gerechtigkeit treibt sie um und die mangelndeGerechtigkeit schreit nach einer schnellen und pragma-tischen Lösung.
Deshalb hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits inder letzten Legislaturperiode einen Vorschlag des inter-fraktionell besetzten parlamentarischen Beirats desHeimkehrerverbandes aufgegriffen. Der Beirat hatteeine Entschädigung so einfach wie möglich mit drei Jahres-stufen bis zu 3 000 DM vorgeschlagen. Schnell und ein-fach musste diese Entschädigung kommen, denn die jüngs-ten Spätheimkehrer waren damals schon 75 Jahre alt.Meine Damen und Herren, vorhin kam der Zwi-schenruf „Was haben Sie denn gemacht?“. Wenn kritisiertwird, Union und FDP hätten in ihrer Regierungszeit einebefriedigende Regelung für die Spätheimkehrer treffenkönnen, dann ziehe ich mir diese Jacke ganz bewusst an.Jawohl, das ist richtig. Bei der Aufhebung des Kriegs-folgenbereinigungsgesetzes im Jahr 1992 gab es aller-dings weder von meiner Fraktion noch von der FDP, aberauch nicht von SPD, Grünen oder PDS einen entspre-chenden Antrag. Wir alle gemeinsam haben also zu ver-antworten, dass wir diese Menschen im Stich gelassen ha-ben. Erklärend, nicht entschuldigend will ich hinzufügen:Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Hartmut Büttner
Ich kenne außer den Spätheimkehrern allerdings auchkeine andere gesellschaftliche Gruppe in unserem Land,die überhaupt keine Fürsprecher – in Neudeutsch auchLobby genannt – hat. Im Gegensatz zu anderen Verbän-den – ich nenne hier beispielhaft nur die Verbände derHeimatvertriebenen – hat es Anfang der 90er-Jahre auchkeine besonderen Bemühungen der westdeutschen Heim-kehrerverbände gegeben. Zumindest habe ich davonnichts gemerkt.Eine Entschädigungszahlung wäre damals wahrlichmöglich gewesen. Allein für die Einmalleistung an dieHeimatvertriebenen in den neuen Bundesländern habenwir aus dem Bundeshaushalt 5,2 Milliarden DM ausgege-ben. Nimmt man die großen finanziellen Aufwendungenfür andere Opfergruppen, beispielsweise für die SED-Op-fer, noch hinzu, dann hätten auch die 90Millionen DM fürdie Spätheimkehrer aufgebracht werden können.Jetzt wende ich mich an Sie, meine lieben Kolleginnenund Kollegen von den Grünen und der SPD: Es war einmoralisches und politisches Armutszeugnis, dass Sie vorzwei Jahren die Chance niedergestimmt haben, wenigstensetwas späte Gerechtigkeit in Deutschland zu schaffen.
Lediglich das Kapital der Heimkehrerstiftung stocktenSie im Jahr 2001 mit 5 Millionen DM etwas auf.Ich habe bereits erwähnt, dass diese Leistungen seit1993 auch auf die Heimkehrer, die auf das Gebiet derneuen Bundesländer entlassen wurden, ausgedehnt wor-den sind. Allerdings erhalten Mittel der Stiftung nur dieehemaligen Kriegsgefangenen und auch ihre hinterblie-benen Ehegatten, die heute noch zum Kreis der sozial be-dürftigen Personen gehören. Damit hat nur ein kleiner Teilder Spätheimkehrer aus den neuen Bundesländern dieseLeistungen erhalten. Die übergroße Mehrheit erhielt über-haupt nichts.Jetzt hat der Bundesrat erneut einen Gesetzentwurfvorgelegt, der auf eine Initiative der Länder Thüringenund Sachsen zurückzuführen ist und im Wesentlichen mitdem Gesetzentwurf meiner Bundestagsfraktion aus dem-September 2000 inhaltlich übereinstimmt. Berechtigte,welche 1947 und 1948 entlassen worden sind, sollen500 Euro, die Entlassungsjahrgänge 1949 und 19501 000 Euro und diejenigen, die nach 1951 entlassen wor-den sind, 1 500 Euro erhalten. Es könnten so Gesamtko-sten von bis zu 50 Millionen Euro zusammenkommen.Allerdings sind von den vor zwei Jahren noch lebenden30 000 berechtigten ehemaligen Kriegsgefangenen undden circa 20 000 Geltungskriegsgefangenen – das sindverschleppte Zivilpersonen mit gleichem Schicksal – be-reits viele verstorben. Die genaue Zahl der heute noch le-benden Berechtigten konnte uns die Bundesregierungnicht nennen.Zu den Verstorbenen zählen auch die Herren WalterMelzer und Robert Fauk aus Staßfurt in Sachsen-Anhalt,welche mir in meinen Bürgersprechstunden die ganzeTragweite der Ungerechtigkeit vor Augen geführt haben.Die noch lebenden Berechtigten – sie sind hochbetagt –haben keine Zeit mehr darauf zu warten, bis die Situationbei unseren Staatsfinanzen etwas positiver aussieht.Es wäre eine Schande für diesen Deutschen Bundestag,wenn wir diesen Antrag erneut ablehnten.
Ich appelliere vor allem an Sie, an die Abgeordneten derRegierungskoalition: Wir sollten jetzt die allerletzteChance für die Heimkehrer ergreifen und ein deutlichesZeichen für soziale Gerechtigkeit in Deutschland setzen.Besonders wir Abgeordneten aus den neuen Ländern ha-ben die Verpflichtung, uns auf die Seite der Menschen, diekeinerlei Lobby haben, zu stellen. Ich hoffe, dass wir dasin den Ausschüssen schaffen werden.Danke schön.
Nächster Redner ist der Kollege Gerold Reichenbach,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vor circa einem Jahr hat sich dieses Haus schon einmalmit dem Gesetzentwurf für eine einmalige Entschädigungder Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet befasst. Es han-delt sich – das wurde schon genannt – um den Gesetzent-wurf der CDU/CSU-Fraktion vom 26. September 2000,der nach zweiter Lesung abgelehnt wurde.Heute beraten wir eine Neuauflage dieses Gesetzent-wurfes in Gestalt eines Antrags der Freistaaten Sachsenund Thüringen, eingebracht als Gesetzentwurf des Bun-desrates. Dieser Gesetzentwurf konnte in der ausgehen-den Legislaturperiode aus Zeitgründen nicht mehr beratenwerden. Der Bundesrat beschloss deshalb am 20. Dezem-ber 2002 die erneute Einbringung des Entwurfes in un-veränderter Form, mit dem wir uns heute befassen.Die beiden Gesetzentwürfe gleichen sich teilweise bisaufs Wort. Sie haben lediglich andere Aufhänger und et-was veränderte Schwerpunkte.
Im Jahre 2000 wurde als Aufhänger die Entschädigungvon ehemaligen NS-Zwangsarbeitern gewählt. Die dama-lige Gesetzesinitiative der CDU/CSU sorgte für erhebli-che Aufregung bei den Heimkehrerverbänden und letzt-lich für Enttäuschung und Frustration ob der unnötiggeweckten Erwartung. Jetzt wird eine neue Argumenta-tion verfolgt, nämlich dass eine Benachteiligung derKriegsgefangenen und so genannten Geltungskriegs-gefangenen – das sind Zivilpersonen, die aus militäri-schen Gründen in Gewahrsam genommen wurden –, diein die ehemalige DDR entlassen wurden, bestehe.Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich dieInitiative des Bundesrates genau wie der von derCDU/CSU vor zwei Jahren eingebrachte Gesetzentwurf
2206
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2207
gegen das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz wendet, einGesetz, das der gesamtdeutsche Gesetzgeber vor rundzehn Jahren in diesem Hause – übrigens einmütig – be-schlossen hat. Bis zum Ende Ihrer Regierungszeit 1998haben Sie dieses Gesetz offensichtlich als gerecht undausgewogen angesehen und keine Initiative ergriffen.
Erst als Sie in der Opposition gelandet waren, sahen Sieplötzlich Handlungsbedarf. Demjenigen, der andere Hin-tergründe zu sehen meint, bleibt dies unbenommen.Wir erinnern uns: Das Kriegsfolgenbereinigungsge-setz löste im Zuge der Wiedervereinigung zum 1. Januar1993 das alte Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz ab.Ohnehin – auch darauf muss hingewiesen werden – konn-ten seit dem 1. Januar 1968 nur noch Sowjetzonenflücht-linge oder Aussiedler eine Entschädigung erhalten; denn beiihnen wurde unterstellt – das war die alte Systematik in derGesetzgebung der Bundesrepublik –, dass noch eine Ein-gliederungssituation vorlag. Damit war eindeutig festge-stellt, dass die Kriegsgefangenenentschädigung immer denCharakter einer Eingliederungshilfe hatte. EhemaligeHeimkehrer oder Geltungskriegsgefangene in den neuenLändern waren – auch das war damals Ihre eigene Begrün-dung – nach dieser Maßgabe nicht mit einzubeziehen.
Darüber bestand auch in der CDU/CSU ein allgemeinerKonsens.Ich möchte dies anhand der Begründung des Gesetz-entwurfs über das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz bele-gen – ich darf zitieren –:Einer uneingeschränkten Übertragung des Kriegsge-fangenenentschädigungsgesetzes steht entgegen,dass auch dort inzwischen mehr als 45 Jahre vergan-gen sind. Die Betroffenen sind eingegliedert.
Das waren Ihre eigenen Worte. Dies hat die Union 1992in der Begründung geschrieben.Diese rechtliche Ausgangssituation hat sich nicht geän-dert. Es gibt jedoch eine soziale Dimension. Dieser wurdemit dem Heimkehrerstiftungsgesetz, welches insbeson-dere mit Blick auf die ehemaligen Kriegsgefangenen inden neuen Ländern erlassen wurde, Rechnung getragen.
Um soziale Härten abzufedern, können nach dem Heim-kehrerstiftungsgesetz Unterstützungsleistungen zur Lin-derung von Notlagen oder Leistungen zum Ausgleich vonNachteilen in der gesetzlichen Rentenversicherung ge-währt werden.Dass das Heimkehrerstiftungsgesetz seine Funktion er-füllt hat und nach wie vor erfüllt, zeigt ein Blick auf dieVerteilung der Unterstützungsleistungen.Von den vom1. Januar 1970 bis zum 31. Dezember 2002 gewährtenUnterstützungs- und Rentenzusatzleistungen sind nahezu15 Prozent an Antragsteller in den neuen Ländern geflos-sen, obwohl diese erst seit 1993 antragsberechtigt sind.Anders ausgedrückt: An die Antragsteller in den neuenLändern wird jetzt ungefähr dreimal mehr ausgezahlt alsan die Antragsteller in den alten Bundesländern. Dort be-steht natürlich auch ein Nachholbedarf. Rentenzusatzleis-tungen und Unterstützungsleistungen für ehemaligeHeimkehrer wurden mehr als 23 000 Personen in denneuen Bundesländern in einer Höhe von rund 31 Milli-onen Euro gewährt. Die aktuellen Antragszahlen sindübrigens weiter steigend.In diesem Zusammenhang möchte ich auf noch etwashinweisen: Unterstützungsleistungen der Heimkehrerstif-tung können bei Fortbestehen der Voraussetzungen wie-derholt gewährt werden. Bei Nachweis einer Notlage isteine einmalige Unterstützung von maximal 4 090 Euromöglich. Zum Vergleich: In Ihrem Gesetzentwurf ist eineEntschädigung in Höhe von 500 bis 1 500 Euro vorgese-hen. Ich kann also beim besten Willen keine fortbeste-hende Benachteiligung der Heimkehrer in die neuen Bun-desländer erkennen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bergner?
Aber gerne.
Herr Kollege, weil ich den Betroffenen über die De-
batte berichten möchte, frage ich Sie selbst auf die Gefahr
hin, dass ich Sie zu Wiederholungen von Aussagen
zwinge: Kann ich Ihre Aussagen so verstehen, dass Sie die
Zielgruppe, die mit dieser Gesetzgebung erreicht werden
soll, weder moralisch noch rechtlich für berechtigt halten,
eine entsprechende Zusatzleistung zu empfangen?
Die Frage ist erstens polemisch und trifft zweitensnicht den Kern der Sache. Ich werde in meiner Rede nochdarauf eingehen, weil ich mir dachte, dass so etwaskommt.
Das Rechtliche haben Sie selbst geregelt. Ich gehe dochdavon aus, dass Sie dem Gesetz damals zugestimmt ha-ben. Insofern müssten Sie Ihre Frage beantworten.
Gerold Reichenbach
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Gerold ReichenbachIch bin zwar neu in diesem Bundestag, aber es gibt einenUnterschied zwischen Ihnen und mir: Ich würde meinePosition nicht ändern, wenn ich in die Opposition wech-seln müsste.Die CDU/CSU konnte von 1992 bis 2000 – das wurdeeben deutlich – auch keine Benachteiligung erkennen. MitGenehmigung der Frau Präsidentin darf ich Ihren Frak-tionskollegen, Herrn Erwin Marschewski, aus dem Ple-narprotokoll von 1992 – es geht um die zweite und dritteLesung des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes – zitieren.– Dies gehört im Übrigen noch zu meiner Antwort auf IhreZwischenfrage. – Er sagte:Darüber hinaus begrüße ich die Ausdehnung der„Heimkehrerstiftung“ und der „Stiftung für ehema-lige politische Häftlinge“ auf die neuen Bundeslän-der. Denn das hat zur Folge, dass denjenigen flexibelund entsprechend ihrer Bedürftigkeit geholfen wer-den kann, die in Kriegsgefangenschaft waren, dieverschleppt waren, die in den Gefängnissen der ehe-maligen DDR leiden mussten und die aufgrund derRechtslage keine gesetzlichen Leistungen erhaltenkönnen.Hierfür, meine Damen und Herren, wird eine ausrei-chende finanzielle Ausstattung der beiden Stiftungenzu gewährleisten sein. Auch dafür wollen wir unseinsetzen; auch dafür wollen wir kämpfen. Denn dasist gerecht, meine Freunde.Die ausreichende finanzielle Ausstattung, um die HerrMarschewski kämpfen wollte, haben wir herbeigeführt.Es wurde bereits angesprochen: Im Jahre 2000 wurden alsStiftungskapital 5 Millionen DM und jetzt erneut 1 Mil-lion Euro zur Verfügung gestellt. Auch im aktuellen Haus-halt sind 1 Million Euro für die Stiftung eingestellt. Damitbleiben wir auf einem bewährten Weg. Die Heimkehrer-stiftung begrüßt diese Entscheidung der Regierungskoali-tion ausdrücklich.Ich stelle fest: Erstens. Das Heimkehrerstiftungsgesetzist ein wirksames Instrument, soziale Härten auszuglei-chen und bedürftigen Antragstellern zu helfen. Zweitens.Heute, fast 60 Jahre nach dem Krieg, ist eine Entschädi-gung im Sinne einer Eingliederungshilfe nicht mehr nach-vollziehbar.Eine Wiederbelebung des Kriegsgefangenenentschädi-gungsgesetzes, wenn auch in veränderter Form, würde alsPräzedenzfall wirken, und zwar mit unübersehbarenrechtlichen und finanziellen Folgen. Es würde eine Dis-kussion über weitere ausgelaufene Rechtsnormen insbe-sondere im Kriegsfolgen- und Lastenausgleichsrecht ent-fachen. Das ist die eine Seite.Die andere Seite dieses Gesetzentwurfes über die ein-malige Entschädigung von Heimkehrern in den neuenLändern ist in meinen Augen noch bedenklicher. Erneutwerden bei den meist hochbetagten betroffenen Men-schen Hoffnungen geweckt. Zudem wird der Eindruckvermittelt, die ehemaligen Heimkehrer in den neuen Län-der wären noch heute gegenüber den Menschen in den al-ten Ländern mit gleichem Schicksal benachteiligt.
Das halte ich für unredlich.Viel Leid und schwere Lebenswege sind die unver-meidbaren Folgen eines jeden Krieges gewesen. Dieskann durch nichts entschädigt werden. Es gibt Millionenunterschiedlichster Biografien: von Opfern, aber auchvon Tätern, von Mitläufern wie von unschuldig in denStrudel eines verbrecherischen Krieges Hineingerissenen.Erlittenes Leid und Unrecht lassen sich aber nicht wiedergutmachen. Gerade in diesem Zusammenhang gilt auch:Gerechtigkeit lässt sich nicht durch Aufrechnung herstel-len.Den tiefen Respekt vor dem Schicksal aller Betroffe-nen, den Heimkehrern und Verschleppten, hat der Deut-sche Bundestag zum Ausdruck gebracht. Im Namen mei-ner Fraktion möchte ich diese Würdigung ausdrücklichbekräftigen. Ich möchte nachdrücklich würdigen, dassdie damaligen Heimkehrer in die sowjetische Besat-zungszone bzw. in die ehemalige DDR ein wesentlichschwereres Schicksal als ihre Kameraden hatten, die indie alte Bundesrepublik zurückkehrten. Ihnen wurdenicht in dem Maße bei der Wiedereingliederung in einLeben nach dem Krieg geholfen. Diese Tatsache gilt eszu würdigen. Unredlich ist es aber, so zu tun, als ließesich durch ein Gesetz das Rad der Geschichte zurückdre-hen.Was wir tun können, ist, soziale Härten, die durch dasKriegsschicksal entstanden sind, auszugleichen. Das tunwir. Dafür steht die Heimkehrerstiftung, die von uns fi-nanziell aufgestockt wurde. Das ist der richtige Weg. Aufdiesem Weg bleiben wir.
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Haupt, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt den vor uns liegen-den Gesetzentwurf des Bundesrates uneingeschränkt;denn er beseitigt eine auch noch nach mehr als zwölf Jah-ren nach der Wiedervereinigung bestehende Gerechtig-keitslücke.
Worum geht es? Es gab mehr als 11 Millionen deutscheKriegsgefangene, die über die ganze Welt verstreut wa-ren. Ich erinnere hier nur an die sowjetischen Gulags; siewaren aber ebenso in anderen Ländern interniert. Nach ih-rer Haftentlassung sind diese Kriegsgefangenen entwederin die Westzonen bzw. in die Bundesrepublik Deutschlandoder in die SBZ bzw. in die DDR zurückgekehrt. Letzterehaben nichts erhalten. Erstere sind entschädigt worden.
Die Kriegsgefangenen, die das Glück hatten, in denWesten entlassen zu werden, haben nach dem dort be-schlossenen Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz eine
2208
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2209
Abfindung erhalten – darauf wurde verwiesen –, nicht nurals Eingliederungshilfe, sondern auch als Anerkennungfür den Schaden, den sie erlitten haben, und für ihr schwe-res Schicksal. In der DDR wurde diese Tatsache – wie sovieles andere auch – im wahrsten Sinne des Wortes tot-geschwiegen. Diese Ungerechtigkeit darf man heute, fast60 Jahre nach Kriegsende und über zwölf Jahre nach derdeutschen Wiedervereinigung, so nicht mehr stehen las-sen.
Bei den Opfern handelt es sich übrigens nicht nur umMänner. Auch viele Frauen mussten Zwangsarbeit leisten.Diesen damals jungen und missbrauchten Frauen undMännern kann man nicht pauschal die Schuld Nazi-deutschlands aufladen, auch wenn dies manche aus ideo-logischen Gründen heute immer noch tun. Auch sie warenOpfer und keine Täter. Das haben viele von uns bewusstoder unbewusst verdrängt.Ich halte es daher für notwendig und richtig, dass sichder Deutsche Bundestag jetzt, nachdem die Frage der Ent-schädigung ausländischer Zwangsarbeiter gelöst werdenkonnte, endlich auch der deutschen Zwangsarbeiter er-innert. Die Feststellung, dass es auch deutsche Zwangsar-beiter gegeben hat, ist aus Sicht der FDP-Fraktion legitimund notwendig.Aber es bringt uns nicht weiter, die Geschichte zu ver-drängen; wir müssen uns ihr stellen, und zwar nach Mög-lichkeit gemeinsam. Zur Aufarbeitung unserer Geschichtegehört, dass wir nach mehr als 50 Jahren nicht nur denausländischen Zwangsarbeitern Gerechtigkeit widerfah-ren lassen, sondern auch den deutschen, die bislang nurdeshalb leer ausgingen, weil sie in den Osten entlassenworden sind.Es ist ein sehr formales Argument, KollegeReichenbach, wenn die Bundesregierung in ihrer Stellung-nahme zu dem Gesetzentwurf darauf verweist, dass überdiesen Sachverhalt schon einmal befunden worden ist.Mit dem Heimkehrerstiftungsgesetz von 1993 war mander Ansicht, mit der Kriegsfolgenentschädigung zu einemAbschluss gekommen zu sein. Das ist zwar richtig, aberes ist nur die halbe Wahrheit; denn die Umsetzung des Ge-setzes in der Praxis gestaltet sich schwierig.Ich meine, es ist zu formal, sich darauf zu berufen.Wenn ein Problem in der Vergangenheit falsch behandeltworden ist, ist dies doch keine Berechtigung dafür, in dergleichen Weise fortzufahren. Vielmehr muss endlich eineLösung erreicht werden.
Das, was bisher getan wurde, reicht nach Auffassungder FDP nicht aus. Das Parlament muss endlich die not-wendigen Mittel bereitstellen, um den Betroffenen nochzu Lebzeiten Gerechtigkeit durch ein wenig Entschädi-gung für das Erlittene widerfahren zu lassen. Darauf hatmein Kollege sehr emotional und eindrucksvoll hinge-wiesen. Gestatten Sie mir als Sachsen eine kurze Be-merkung: Damit könnte der Deutsche Bundestag dazubeitragen, die innere Einheit, die wir alle wollen und– so hoffe ich – gemeinsam anstreben, weiter zu vollen-den.Danke.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar vonNeuforn, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LassenSie mich damit beginnen: Wir Grüne bekennen uns zu derVerantwortung gegenüber den Opfern von Krieg undGewalt. Ich möchte aber auch betonen: Ich meine, dass esfür die Opfer – unabhängig davon, um welche Opfer essich handelt – besonders wichtig ist, dass sie über ihre Op-ferrolle reden können und als Opfer des furchtbaren Zwei-ten Weltkrieges angenommen werden.Ich hatte gehofft, dass wir in dieser 15. Wahlperiode et-was weiter sein würden als in den Debatten der 14. Wahl-periode. Ich habe das Protokoll über die Debatte in der14. Wahlperiode zu demselben Thema gelesen. Mir liegtauch die Rede meines Kollegen Cem Özdemir vor. Ichhätte es mir jetzt auch leicht machen und dieselbe Redehalten können, so wie Sie es gemacht haben.Ich würde gern darüber reden, ob wir in der Diskus-sion um die Anerkennung von Opfern des Zweiten Welt-kriegs – dabei handelt es sich um eine sehr aktuelle Dis-kussion – nicht den Schritt weiter gehen sollten, der zumBeispiel in dem Buch „Der Brand“ aufgezeigt wordenist, nämlich noch einmal von vorne mit der Diskussionzu beginnen: Wer waren die deutschen Opfer diesesKrieges?Ich kann mit meiner Familie beginnen, und zwar mitmeiner Mutter, die die Bombennacht in Dresden mitge-macht hat, oder mit meiner Großmutter, die als Trägerindes Mutterverdienstkreuzes mit neun Kindern vieleJahre auf ihren Mann gewartet hat. Ich selber bin 1953geboren, in dem Jahr, als Stalin – ich sage dies be-wusst – endlich starb und als Adenauer große Anstren-gungen unternommen hat – das ist eines seiner größtenVerdienste gewesen –, die vielen Tausende von ver-schwiegenen, unterschlagenen Kriegsgefangenen zu-rückzuholen.Meine Damen und Herren, ich glaube, dass es den Op-fern nicht gerecht wird, wenn wir uns hier die einschlägi-gen Gesetze um die Ohren hauen. Deshalb will ich michan dieser Debatte nicht beteiligen. Zimmermann undKanther waren diejenigen, die sich gegen jede finanzielleEntschädigung für die erlittenen Kriegsfolgeschicksaleausgesprochen haben. Das waren ja nicht wir, sondernihre Innenminister.
Statt einer Entschädigung gab es damals lediglich eineEingliederungshilfe.Klaus Haupt
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Silke Stokar von NeufornIch gebe zu, dass ich nicht weiß, was der richtige Wegeist, was im Hinblick auf diejenigen gerecht ist, die in diedamalige DDR heimgekehrt sind.
In diesen Zeiten des Kalten Krieges durften sie noch nichteinmal darüber reden. Es gab damals die „guten“ Heim-kehrer in die BRD, die als Opfer von Stalin würdig in dieGesellschaft aufgenommen worden sind, und diejenigen,die ihr Schicksal verschweigen mussten und derenSchicksal tabuisiert wurde. Mein Problem ist, dass ichjetzt, fast 40 Jahre danach, nicht mehr die Entscheidungtreffen kann, wie man diesen Biographien gerecht werdenkann,
die ein Teil der Folgen des Zweiten Weltkriegs sind undetwas mit den zwei unterschiedlichen Staaten zu tun ha-ben. Ich kann dieses DDR-Unrecht heute nicht wiedergutmachen.Meine Damen und Herren, ich halte den von Rot-Grünbeschrittenen Weg, hier mit einem Heimkehrerstiftungs-gesetz zu arbeiten, für den richtigen Weg. Da meine Rede-zeit abläuft, sage ich zum Schluss: Ich glaube, dass es fürdie Opfer viel wichtiger wäre – –
Gestatten Sie trotzdem eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Vaatz?
Ich erlaube eine Zwischenfrage.
Frau Kollegen Stokar, in den vorhergehenden Reden ist
mehrfach erwähnt worden, dass die Vertreter der früheren
Regierungskoalition die Tatsache, dass das Problem un-
gelöst blieb, als ein Versäumnis ihrerseits einräumen. Sind
Sie der Meinung, dass die ausbleibende Korrektur dieses
Versäumnisses die Benachteiligten tragen müssen?
Nein, das bin ich nicht. Werter Herr Kollege, ich bin al-
lerdings nicht davon überzeugt, dass es sich hier um ein
Versäumnis handelt. Ich nehme Ihnen ab, dass Sie bei den
Verhandlungen um den Einigungsvertrag an die Lösung
dieses Problems nicht gedacht haben. Es gibt aber bis in
die 60er-Jahre zurückreichende Äußerungen von CDU-
Innenministern, die immer wieder darauf hingewiesen ha-
ben – diese Überlegung habe auch ich hier eben ange-
stellt –, dass es einfach keine gerechte Entschädigung
dieser fürchterlichen Kriegsfolgen gebe. Das ist nicht
meine Position; das war schon vor der Wiedervereinigung
die Position der Minister Zimmermann und Kanther, die
auch die Grundlage der von Ihrer Mehrheit verabschiede-
ten Gesetze darstellte. Insofern glaube ich nicht daran,
dass es ein Versäumnis war. Vielmehr war es eine durch-
dachte politische Entscheidung. Die Gründe für diese
durchdachte politische Entscheidung gelten heute noch.
Ich mache mir Gedanken darüber, wie wir diesen Opfern
in Würde gerecht werden können. Damit ist Ihre Frage,
wie ich hoffe, beantwortet.
Ich möchte noch auf die Frage zu sprechen kommen,
wie wir, abgesehen von der finanziellen Entschädigung
– ich halte den Weg, den wir diesbezüglich eingeschlagen
haben, für richtig –, die Rolle der Opfer als Zeitzeugen po-
litisch weiterhin unterstützen können. Wie können wir ih-
nen Raum geben, in der Öffentlichkeit in stärkerem Maße
zu berichten?
Damit komme ich zu meinem Schlusssatz: Mein
Wunsch ist es, dass wir in Deutschland nie wieder einen
Heimkehrerverband gründen müssen; deswegen halte ich
es für so wichtig, dass wir denjenigen, die Krieg als bit-
tere Erfahrung erlebt haben und darüber berichten kön-
nen, Möglichkeiten einräumen, dies in den Schulen ge-
genüber der jungen Generation zu tun. Denn ich glaube,
dass solche Berichte von Zeitzeugen der beste Weg sind,
um Friedenspolitik in der Gesellschaft zu verankern.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Sächsische Staatsminister des Innern,
Horst Rasch.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Am 5. April 2001 wurde der Gesetzentwurf derCDU/CSU-Fraktion zur einmaligen Entschädigung derostdeutschen Kriegsheimkehrer in der Sitzung des Bun-destages abgelehnt. Nunmehr steht ein Gesetzentwurf zureinmaligen Entschädigung der ostdeutschen Kriegsheim-kehrer erneut auf der Tagesordnung. Wir wollen mit diesemGesetzentwurf unseren politischen Willen bekräftigen, eineEntschädigung für die benachteiligte Personengruppe derostdeutschen Heimkehrer zu leisten.Heimkehrer, die nach ihrer Gefangenschaft in die ehe-malige sowjetische Besatzungszone bzw. in die DDRzurückgekehrt sind, sollen eine einmalige Entschädigungfür Reparationsleistungen, die sie gewissermaßen durchZwangsarbeit erbracht haben, erhalten.
Es ist tatsächlich so, wie auch Kollege Haupt deutlichmachte: Sie haben dort für uns Schuld abgearbeitet. Es istim Interesse der Gerechtigkeit und Menschlichkeit gebo-ten, diesen Sachverhalt anzuerkennen.Mit dem Gesetzentwurf soll die Ungleichbehandlungzwischen den Kriegs- und den Geltungskriegsgefange-nen, die aus dem Gewahrsam in die ehemalige DDR ent-lassen worden sind, im Vergleich zu denen, die in die alte
2210
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2211
Bundesrepublik entlassen worden sind, dem Grunde nachaufgehoben werden. Auf die erheblichen finanziellen Un-terschiede, die dabei eine Rolle gespielt haben und die wirauch nicht mehr egalisieren können, hat Herr KollegeBüttner in seinem Beitrag hingewiesen.Für die Kriegsgefangenen und Zivilinternierten, dienach der Beendigung ihrer Gefangenschaft in die sowje-tische Besatzungszone bzw. die DDR zurückgekehrt sind,kommt neben der fehlenden finanziellen Entschädigungnoch hinzu, dass zu DDR-Zeiten das erlittene Schicksalder Gefangenschaft während des Zweiten Weltkriegesund auch danach von den Machthabern des SED-Regimesignoriert und geleugnet wurde. So wie man die alte Bun-desrepublik als das Staatswesen ansah, das in der alleini-gen Verantwortung für deutsche Kriegsschuld stand – sosahen es die DDR-Machthaber –, war man geneigt, dieje-nigen mit sich und ihrem Schicksal allein zu lassen, die,in die alte DDR zurückgekehrt, auch für die Ostdeutschendieses Stück Kriegsschuld mit abgetragen hatten.Der Zeitzeuge weiß auch um die Zufälligkeiten, nachdenen Männer wie Frauen in Gefangenschaft gerieten undan verschiedenen Orten festgehalten wurden, an denen sieunter extremen Bedingungen arbeiten mussten. Es warauch weitgehend Zufall, wann man den Weg zurück nachHause antreten konnte.Seit 1993 können nun die ostdeutschen HeimkehrerLeistungen nach dem Heimkehrerstiftungsgesetz erhal-ten; das ist richtig. Eine Pflicht zur Zahlung besteht nicht.Es ist eine Kannbestimmung. Es geht nach der individu-ellen Bedürftigkeit der Einzelpersonen. Die Regelungendes Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes sind fürdie Betroffenen in den neuen Ländern dagegen auch wei-terhin nicht zur Anwendung gekommen. Der Zustand derUngleichbehandlung zwischen den Heimkehrern hat bisheute im vereinigten Deutschland keine Änderung erfah-ren. Das ist es, was die Betroffenen als tiefe Kränkungempfinden,
eine tiefe Kränkung, die sie nicht lautstark in der Öffent-lichkeit vortragen, die aber in Gesprächen deutlich wird.Mit unserer Gesetzesinitiative wollen wir endlich, fast13 Jahre nach der Vereinigung Deutschlands, durch eineeinmalige Entschädigungsleistung das erlittene Schicksalder ostdeutschen Heimkehrer würdigen. Neben der materi-ellen Entschädigung, die das Leid der Betroffenen wahrlichnicht aufwiegen kann, ist es für sie wie für uns wichtig, dasswir auch ein politisches Zeichen der Mitmenschlichkeit set-zen. Wir beabsichtigen damit, ein Zeichen der Anerken-nung für den Schaden, den sie erlitten haben – oftmals einGesundheitsschaden –, ein Zeichen der Anerkennung fürerlittenes Schicksal zu setzen.Die Bundesregierung teilt in ihrer Stellungnahme mit,dass der Gesetzentwurf die Umkehrung einer Entschei-dung anstrebe, die der gesamtdeutsche Gesetzgeber 1992im Kriegsfolgenbereinigungsgesetz getroffen habe. Es istrichtig, dass die Funktion der Leistung nach dem Kriegs-gefangenenentschädigungsgesetz darin bestand, den indie Bundesrepublik Deutschland heimgekehrten Kriegs-gefangenen, Aussiedlern oder Sowjetzonenflüchtlingeneine finanzielle Grundlage für ihre Eingliederung in dieaufnehmende Gesellschaft zu verschaffen. Es trifft auchzu, dass die ostdeutschen Heimkehrer in die Gesellschafteingegliedert sind.Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist abernicht Sinn und Zweck dieses Gesetzentwurfs. Sinn undZweck des Gesetzentwurfs ist es, mit einer einmaligenEntschädigungsleistung das erlittene Schicksal der vielenostdeutschen Kriegsheimkehrer und Zivilinterniertenwährend ihrer Gefangenschaft im Zweiten Weltkrieg – fürviele auch lange Zeit danach – in angemessener Form zuwürdigen. Es soll eine einmalige Zahlung sein, gestaffeltnach der Dauer des Gewahrsams, und damit gerade keinewiederkehrende Rentenleistung bzw. Eingliederungsleis-tung und auch keine Unterstützungsleistung entsprechendder individuellen Bedürftigkeit – darum geht es nicht.Es ist für den Freistaat Sachsen und den FreistaatThüringen als Vertreter der neuen Bundesländer ein be-sonderes Anliegen, den ostdeutschen Heimkehrern die ih-nen gebührende symbolische Anerkennung zuteil werdenzu lassen.
Für ein Zeichen der Anerkennung des erlittenen Schick-sals der ostdeutschen Heimkehrer mag es spät sein, bisjetzt ist es aber noch nicht zu spät.Frau Stokar hat von den Erfahrungen ihrer Eltern ge-sprochen. Wir, die Jahrgänge, die wir mitten im Leben ste-hen, können es nur noch aus dem Munde unserer Elternerfahren haben, was sie tatsächlich erlitten haben. Wirmeinen schon, dass es notwendig ist, einen letzten Akt derGerechtigkeit unserer Elterngeneration gegenüber in die-ser Weise auszusprechen und anzuerkennen, welches Leidsie haben ertragen müssen, welches Schicksal sie habenannehmen müssen – ob verschuldet oder unverschuldet.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfes auf Drucksache 15/407 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-sung so beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg vanEssen, Rainer Funke, Otto Fricke, weiteren Ab-geordneten und der Fraktion der FDP eingebrach-ten Entwurfs eines Gesetzes zum verbessertenSchutz der Intimsphäre– Drucksache 15/361 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDPStaatsminister Horst Rasch
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastnerfünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wider-spruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeJörg van Essen, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben diese Thematik bereits vor ziemlich genau ei-
nem Jahr debattiert. Leider ist es nicht zu einem Geset-
zesbeschluss gekommen, sodass die FDP-Bundestags-
fraktion ihre Initiative erneut in den Deutschen Bundestag
eingebracht hat. Dass diese Initiative notwendig ist, haben
wir auch im letzten Jahr wieder erfahren können. Wir ha-
ben Berichte gelesen, wonach zum Beispiel Arbeitgeber
Kameras in den Damentoiletten installiert haben, um da-
mit ihre Mitarbeiterinnen aufzunehmen. Es war auch zu
lesen, dass zum Teil in Solarien entsprechende Einrich-
tungen installiert worden sind, um Personen, die sich dort
bräunen, aufzunehmen. Das alles ist unbefugt erfolgt und
ist völlig inakzeptabel.
Es ist nicht nachzuvollziehen, dass die Gespräche, die
beispielsweise an den gerade von mir beschriebenen Ört-
lichkeiten unbefugt aufgenommen worden wären, eine
Strafe zur Folge gehabt hätten, während die Aufnahmen
bisher straflos erfolgen können. Die Rechtsprechung hat
in der Vergangenheit Wege zur Beseitigung dieses Miss-
verhältnisses aufgezeigt. Ich denke etwa an die unbefugte
Veröffentlichung von Fotos Prominenter. Das Hanseati-
sche Oberlandesgericht hat im Fall einer Prinzessin aus
einem Mittelmeeranrainerstaat eine entsprechende Ent-
scheidung getroffen und in der Begründung gesagt, die
zugesprochene Entschädigung sei deshalb so hoch ausge-
fallen, weil man damit eine Sanktion verbinden wolle.
Aber Strafen auszusprechen ist nicht die Aufgabe des Zi-
vilrechts, sondern des Strafrechts. Deshalb schlagen wir
als FDP-Fraktion vor, eine entsprechende Vorschrift in
das Strafgesetzbuch aufzunehmen.
Wir wollen – für diesen Begriff haben wir uns ent-
schieden – die Intimsphäre schützen. Dieser Begriff ist in
der Rechtssprache bekannt und wird beispielsweise vom
Bundesverfassungsgericht immer wieder im Sinne eines
unantastbaren Kernbereichs der privaten Lebensge-
staltung verwendet. Ich denke, dass genau dieser Kern-
bereich geschützt werden muss.
Wir wollen wie im Übrigen schon vor einem Jahr – der
Kollege Manzewski hat das in der damaligen Debatte kri-
tisiert – auch den Versuch, diesen Kernbereich zu verlet-
zen, unter Strafe stellen. Die Begründung ist ganz einfach:
Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, der immer
wieder auf diese Regelungslücke hingewiesen und uns
gebeten hat, im Bundestag für die Schließung dieser
Lücke zu sorgen, hat genau dies angeregt. Ich halte die
Anregungen des Bundesdatenschutzbeauftragten immer
für überlegenswert. Deshalb sind wir auch diesmal seiner
Anregung gefolgt.
Ich weiß aus der letzten Debatte, dass in diesem Hause
große Offenheit dafür besteht, die hier angesprochene
letzte Regelungslücke im Bereich des Schutzes der Pri-
vat- und der Intimsphäre zu schließen. Ich finde, dass wir
jetzt, nachdem wieder ein Jahr ins Land gegangen ist, die
Verpflichtung haben, das schnell umzusetzen. Meine
Hoffnung, dass wir das schaffen werden, ist durchaus be-
rechtigt; denn die Bundesregierung hat vor einem Jahr an-
gekündigt, hier initiativ zu werden. Wie ich aus dem
Hause höre, wird die Formulierung ähnlich der der FDP
sein. Ich denke, dass unsere Bürger einen Anspruch auf
Schließung dieser Regelungslücke haben. Das wird ins-
besondere dann deutlich, wenn man sich die Fälle vor Au-
gen führt, die ich vorhin genannt habe.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Alfred
Hartenbach. – Herr Hartenbach, Sie haben das Wort.
A
Frau Präsidentin, ich bitte um Nachsicht. Ich hielt esfür angebracht, mit den Kollegen von der FDP-Fraktion,die genauso verloren dasitzen wie die meiner Fraktion, einpaar freundliche Worte zu wechseln.
– Ich habe gesagt: genauso verloren dasitzen wie die mei-ner Fraktion.Verehrtes Präsidium! Verehrte Kolleginnen! VerehrteKollegen! Die FDP-Fraktion hat erneut einen Entwurf ei-nes Gesetzes zum verbesserten Schutz der Intimsphäre inden Bundestag eingebracht. Die Bundesregierung stimmt– wie auch schon in der letzten Legislaturperiode – demAnliegen des Gesetzentwurfs in den Grundzügen zu. Esist richtig, dass in den strafrechtlichen Vorschriften zumSchutz des persönlichen Lebens- und Geheimnisbereichseine Strafbarkeitslücke besteht, die durch einen neuen§ 201 a des Strafgesetzbuches geschlossen werden könnte.Es geht darum, den Schutz der Intimsphäre, also deshöchstpersönlichen Lebensbereichs, vor unbefugten Bild-aufnahmen und Beobachtungen zu verbessern. Zu Rechtwird in diesem Gesetzentwurf eine Parallele zu § 201 desStrafgesetzbuches gezogen, der die Verletzung der Ver-traulichkeit des Wortes unter Strafe stellt. Das Recht ameigenen Bild sollte strafrechtlich nicht schlechter als dasRecht am eigenen Wort behandelt werden.Dieser Gesetzentwurf entspricht einer Forderung, die derBundesbeauftragte für den Datenschutz in seinem 18. Tätig-keitsbericht erhoben hat. Schon vor Veröffentlichung die-ses Berichts und unabhängig davon hat das Bundesminis-terium der Justiz einen Entwurf erarbeitet, der sich mit
2212
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2213
dem von der FDP vorgelegten Entwurf in wesentlichenPunkten deckt. Nur ein Schelm würde jetzt sagen: Das istwie in der letzten Legislaturperiode beim Rechtsanwalts-vergütungsgesetz. Aber es ist ja nicht schlimm, wenn mangleiche Gedanken hat.
Zweifel habe ich allerdings, Herr van Essen, an der imvorliegenden, von der FDP eingebrachten Gesetzentwurfenthaltenen Strafbarkeit des Versuchs und an dem Quali-fikationstatbestand für Amtsträger. Ich meine – ich möchteDirk Manzewski nicht vorgreifen; er wird sicherlich einpaar gute Beispiele präsentieren –, dass die Strafbarkeit daetwas zu weit gehen könnte. Handelt es sich um einen straf-befreienden Rücktritt vom Versuch, wenn ich etwa mit mei-nem elektronischen Fotoapparat zwei Sumpfrallen – dassind Wasservögel; Federvieh – fotografieren möchte, dasaber nicht tue, weil sich im Hintergrund zufällig eine Per-son befindet?Ich denke auch an die wirklich armen Polizeibeamten
– Herr van Essen, jetzt bin ich wieder sehr ernst –, dienoch nicht den mit § 100 StPO ff. verbundenen Auftraghaben. Möglicherweise haben sie noch nicht einmal denAuftrag, jemanden zu beobachten. Wir wissen, dass es imHinblick auf den Beginn von Ermittlungen und auf Ob-servierungen Grauzonen gibt; deswegen glaube ich, dassman sich die Regelung mit den Amtsträgern noch einmalsehr genau überlegen sollte.Das Bundesministerium der Justiz vertritt die Auffas-sung, dass wir trotz dieser Übereinstimmungen sehr sorg-fältig vorgehen müssen. Die bisher bekannt gewordenenReaktionen – es gab sie schon in der letzten Legislaturpe-riode – zeigen durchaus, dass nicht alle mit diesem Vor-schlag einverstanden sind. Wir sollten dieses Vorhabensehr exakt und sehr sorgfältig – möglicherweise auch imRahmen einer Anhörung im Ausschuss und durch behut-same weitere Gespräche – prüfen. Das sind wir demSchutz der Intimsphäre schuldig.Frau Präsidentin, Sie sehen, dass ich mich trotz meinerkleinen Vorrede an die Zeit gehalten habe.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Man darf etwas überrascht sein, dass wir heute über einen– von der FDP dankenswerterweise vorgelegten – Ge-setzentwurf diskutieren.Kommen wir einmal auf den parlamentarischen Vor-lauf zu sprechen. Am 13. März 2001 – nicht 2002! – hatder Bundesbeauftragte für den Datenschutz eine Lücke ineinem Grundrecht festgestellt. Jeder hat das Recht auf diefreie Entfaltung seiner Persönlichkeit.Dieses Recht hatder Staat zu garantieren. Zur freien Entfaltung seiner Per-sönlichkeit gehört auch, dass der Staat die Privatsphäredes Bürgers garantiert. Durch diesen Bericht des Bundes-beauftragten für den Datenschutz war diese Lücke alsobekannt. Der Kollege van Essen hat aufgrund diesesSachverhalts eine Frage an die Bundesregierung gerich-tet. Die Antwort darauf gab Professor Dr. Pick, der dama-lige Parlamentarische Staatssekretär, prompt – ich zitiere –:Im Bundesministerium der Justiz wird derzeit eineVorschrift vorbereitet, wonach unbefugte Bildauf-nahmen und die unbefugte Beobachtung mit einemtechnischen Gerät ... mit Strafe bedroht werden sol-len.Seither lässt man den Bürger, der Anspruch darauf hat,dass seine Privatsphäre umfassend geschützt wird, im Re-gen stehen.
– Herr Stünker, ist Rot-Grün an der Regierung
oder sind wir es?
– Herr Stünker, passen Sie bitte auf. Ich erkläre Ihnenauch, wie es geht. Hören Sie doch bitte wenigstens zu,
wenn ich versuche, Ihnen das beizubringen.
– Sie dürfen doch noch etwas dazu sagen, Frau Kollegin.
Man hätte eigentlich erwarten dürfen, dass die Bun-desregierung einen Gesetzentwurf vorlegt. Das ist nichtgeschehen. Es ist ein Versäumnis,
dass die FDP-Fraktion mit ihrem Gesetzentwurf behebenwill. Dafür muss man ihr dankbar sein.Nun zum Gesetzentwurf selbst. Herr Kollege vanEssen, ich schätze die Art, in der Sie vorgetragen haben.Aber erlauben Sie mir, zu versuchen, Lücken offen zu le-gen, über die wir reden müssen.Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Siegfried Kauder
Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf einen Schutz derIntimsphäre erreichen. Den Begriff der Intimsphäre kenntdas Verfassungsrecht, aber nicht das Strafrecht. Wir tununs viel leichter, wenn wir nicht neue Begriffe kreieren,sondern auf althergebrachte aus dem Strafrecht zurück-greifen. Einen solchen Begriff gibt es in Form der so ge-nannten Privatsphäre. Zum Begriff der Privatsphäre gibtes auch genügend Rechtsprechung, auf die wir dannzurückgreifen können. Deswegen die Bitte, zu überlegen,ob wir den Begriff Intimsphäre nicht gegen den BegriffPrivatsphäre austauschen sollten.
Eine Lücke bleibt in diesem Gesetzentwurf, die wirdringend schließen müssen. Bestraft werden soll nur, werunbefugt etwas auf Bildträger aufnimmt und die Auf-nahme dann verwendet. Es gibt aber auch die folgende Si-tuation: Lebenspartner fotografieren sich gegenseitig;diese Fotos sind dem Intimbereich zuzurechnen. Danngeht die Beziehung auseinander. Es ist also ein befugtaufgenommenes Foto, aber nach der Trennung der priva-ten Beziehung möchte keiner der beiden, dass der anderesein Foto ins Internet stellt.Das sind die Fälle, die wir immer wieder haben. Deswe-gen bitte ich, zu überlegen, in Art. 1 in dem neuen § 201 ain Abs. 1 eine Nr. 3 anzufügen, nach der auch befugt her-gestellte Aufnahmen nicht verbreitet werden dürfen,wenn die Zustimmung nicht gegeben wird.
Dann bitte ich zu bedenken, dass in Abs. 2 ein Ver-suchstatbestand aufgeführt ist. Danach soll ebenso be-straft werden, wer mit einem Bildaufnahmegerät einenDritten beobachtet. Das ist die Vorbereitungshandlung zurAufnahme. Sie wollen dann auch noch den Versuch be-straft wissen. Das heißt, Sie kommen rechtlich zu dem Er-gebnis, dass der Versuch des Versuchs bestraft wird. Daskennen wir in der Rechtspraxis nur in Ausnahmefällen.Ich bitte also, auch darüber nachzudenken, den Abs. 2 völ-lig aus dem Gesetzentwurf herauszunehmen.Noch komplizierter wird es in Abs. 3. Die FDP glaubt,da eine Bagatellklausel einführen zu müssen und dies miteinem Rechtfertigungsgrund verbinden zu können. DieTat soll nur strafbar sein, wenn sie geeignet ist, berech-tigte Interessen der verletzten Person zu beeinträchtigen.Bitte aufpassen! Damit hat wieder einmal das Opfer dieBeweislast. Der Richter wird fragen: Wo sehen Sie sichdenn in Ihrer privaten Sphäre beeinträchtigt? – Das darfnicht sein. Derjenige, der in der Privatsphäre fotografiertund damit ein Grundrecht eines Bürgers verletzt, muss be-legen, warum es aus übergeordneten Interessen notwen-dig war.Wir müssen das Strafgesetzbuch nicht mit immer neuenBegriffen und komplizierten Regelungen aufblasen, wennes einfacher geht – und es geht einfacher. Was Sie von derFDP berechtigterweise wollen, ist schon in anderem Zu-sammenhang im Gesetz dokumentiert. Bei den Straftat-beständen der Beleidigung gibt es in § 193 StGB einenRechtfertigungsgrund. Ein solcher Grund liegt vor, wennder Täter in Wahrnehmung berechtigter Interessen han-delt. Wir brauchen § 193 StGB nur in Abs. 3 Ihres Ge-setzentwurfs zu übernehmen und haben dann das, was Siewollen, und zwar auch juristisch bereits abgesichert, weiles genügend Rechtsprechung zur Abwägung zwischenArt. 2 und Art. 5 Grundgesetz gibt.Herr Staatssekretär, an einer Stelle in der Diskussionhaben Sie zu kurz gegriffen. Sie sagten, wir sollten unsüberlegen, ob das höhere Strafmaß für Amtsträger ge-rechtfertigt sei. – Genau das brauchen wir. Es soll Fällegegeben haben – damit trete ich den Polizeibehördennicht zu nahe –, dass auf Polizeidienststellen Frauen, dieverhört wurden, nackt aufgenommen wurden und dassdiese Fotos verkauft wurden. Das dürfen wir nicht zulas-sen. Das wollen wir nicht zulassen. Gerade Amtsträgerhaben eine besondere Verpflichtung. Deswegen ist dieseserhöhte Strafmaß gerechtfertigt.
Herr Kollege van Essen, einem Problem müssen wiruns schon stellen. Es gibt bereits eine ähnlich gelagerteVorschrift, die Sie in Ihrer Begründung auch zitiert haben,nämlich § 33 Kunsturhebergesetz. Sie haben das einbisschen mit links abgearbeitet und gesagt, es sei eine alte,überkommene Vorschrift. Das Moderne im Recht ist abernicht immer das Bessere. Wir können nicht so verfahren,dass wir in einem neu zu schaffenden Straftatbestand eineHöchststrafe von zwei Jahren vorsehen und parallel dazueine Vorschrift im Kunsturhebergesetz belassen, die denfast gleichen Straftatbestand mit einem Jahr Freiheits-strafe belegt. Da klafft eine Lücke, die wir schließen müs-sen.Jetzt können wir natürlich sagen: Das richten nachherdie Gerichte; die schalten das im Wege der Gesetzeskon-kurrenz aus. – Das dürfen wir als Gesetzgeber aber nichtzulassen. Es ist unsere Verpflichtung, den Richtern Vor-gaben zu machen. Also müssen wir dieses Spannungsver-hältnis zwischen dem von Ihnen gewünschten § 201 aStrafgesetzbuch und dem bestehenden § 33 Kunsturhe-bergesetz klären. Ich bin der Meinung, auch das lässt sichrelativ einfach lösen. Denn die Vorschriften des Kunstur-hebergesetzes beinhalten nichts anderes als Rechtferti-gungsgründe. Diese Rechtfertigungsgründe können wir,wenn wir Abs. 3 Ihres Gesetzentwurfs abspecken und inetwa inhaltsgleich zu § 193 StGB ausgestalten, dort nocheinfügen.Meine Damen und Herren, Sie sehen: Wenn man sach-lich argumentiert, lassen sich Lösungen erarbeiten. Ichfreue mich, dass ich da Zustimmung auch von Ihrer Seitebekomme. Nur eines ärgert mich – das muss man denMenschen, die draußen zuhören, wenn wir hier diskutie-ren, auch sagen –: Wir haben schlicht und ergreifend seitdem Jahr 2001 Arbeitszeit, die der Bürger bezahlt – er be-zahlt ja auch die Parlamente –, verplempert. Ich bin mirfast sicher: Wenn der Kollege van Essen nicht gewesenwäre, wäre niemand auf der Regierungsbank auf die Ideegekommen, eine bestehende Gesetzeslücke mit einem Ge-setz, das den Konsens in diesem Haus findet, zu schließen.Das darf nicht sein; das dürfen wir nicht zulassen.Ich kann Ihnen versichern: Das ist nicht der einzige Ge-setzentwurf, der in den Schubladen der Ministerien dieser
2214
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2215
Regierung versackt. Dagegen müssen wir vorgehen. DerBürger hat einen Anspruch auf eine zeitnahe Lösung, ins-besondere dann, wenn seine Grundrechte berührt werden.Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn wir auch dazu einenKonsens finden würden.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Kollege van Essen hat gerade darauf hingewiesen:Vor einem Jahr hatten wir eine ähnliche Debatte. Schondamals wurde über den Tätigkeitsbericht des Bundes-beauftragten für den Datenschutz gesprochen. Sinn-gemäß steht darin: Wer sich bewusst der Öffentlichkeitentzieht, muss oder soll sich darauf verlassen können,dass von ihm ohne Einwilligung keine Aufnahmen ge-macht werden und auch keine Aufnahmen in der Öffent-lichkeit verbreitet werden.Mit dieser Formulierung wird ein Aspekt des Rechtsauf informationelle Selbstbestimmung beschrieben. Siealle wissen, dass wir Grüne dem Recht auf informatio-nelle Selbstbestimmung große Bedeutung beimessen. Wirhaben uns immer für den Datenschutz und auch für dieAchtung der Privatsphäre eingesetzt. Für uns handelt essich hier sozusagen um ein Heimspiel. Deshalb verstehtes sich für uns von selbst, dass wir den Bericht des Bun-desbeauftragten ernst nehmen. Dementsprechend lautetdie gute Nachricht, Herr Kollege van Essen: Wir habenSympathie für das Anliegen, das Ihrem Antrag zugrundeliegt.Leider muss ich unmittelbar auch eine schlechte Nach-richt anschließen: Unsere Sympathie für Ihr Bemühen umden Schutz der Privatsphäre hält sich leider in Grenzen.Zu frisch ist bei uns noch die Erinnerung an die Zeiten, indenen Sie als Regierungspartei das Grundrecht auf Un-verletzbarkeit der Wohnung mit dem großen Lauschan-griff mit Füßen getreten haben.
Die Folge war: Die Justizministerin hat ihr Amt aufge-geben. Seitdem hat ja auch nicht etwa ein Gesinnungs-wandel bei den Liberalen stattgefunden. Deutschlandist bereits jetzt Weltmeister im Abhören. Diesen Titelhaben wir – leider, muss ich sagen – der FDP zu ver-danken.
Das hindert jedoch auch die rheinland-pfälzische Landes-regierung nicht daran, in ihrem aktuellen Entwurf zumneuen Polizeigesetz mit tatkräftiger Unterstützung derFDP
die Ausweitung der polizeilichen Befugnisse bei der Te-lekommunikationsüberwachung und beim Lauschangriffzu betreiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns nichtsvor: Vor diesem Hintergrund ist die Ungeduld, mit der dieFDP diesen Antrag im Namen des Schutzes der Privat-sphäre erneut eingebracht hat, wenig überzeugend.Das Strafrecht muss immer Ultima Ratio der Rechts-ordnung sein. Wenn wir in die Begründung zu dem Ge-setzentwurf schauen, stellen wir fest, dass sie wenig auf-schlussreich ist. Wir sind in diesem Fall nicht davonüberzeugt, dass die bestehenden rechtlichen Mittel nichtausreichen. Es gibt für die Betroffenen schon jetzt eineReihe von rechtlichen Mitteln, mit denen sie sich zurWehr setzen können; der Kollege Kauder hatte vorhin aneinige erinnert. Es stehen zivilrechtliche Beseitigungs-und Unterlassungsansprüche sowie Schadensersatz- undSchmerzensgeldansprüche zur Verfügung. Zudem gibt esdie Strafvorschrift in § 33 des Kunsturhebergesetzes, die,wie Herr Kauder ja vorhin erwähnte, das Veröffentlichenvon Abbildungen ohne Einwilligung des Abgebildetenunter Strafe stellt.
Schließlich scheint mir die von Ihnen vorgeschlageneStrafvorschrift an vielen Stellen nicht ganz ausgegoren.Die bereits erwähnte Vorschrift im Kunsturhebergesetzstellt die schwerwiegendste Verletzung des Persönlich-keitsrechts unter Strafe.
Nun wollen Sie nicht nur das Veröffentlichen bestrafen,sondern auch das Herstellen einer Bildaufnahme, undnicht nur das: Sie wollen auch noch den Versuch der Her-stellung unter Strafe stellen.
Der Herr Staatssekretär hat gerade anhand des Beispielsmit den Sumpfrallen – die habe ich erst jetzt kennen ge-lernt, aber es ist ja gut, dass man jeden Tag dazulernt –deutlich gemacht, wie schwer es ist, so etwas überhauptzu machen.
– Jetzt habe ich das Wort, Herr Kollege. – Damit sich nichtjeder, der mit einer Kamera im Park oder in einem Wohn-gebiet spazieren geht, dem Verdacht einer strafbarenHandlung aussetzt, wollen Sie den Anwendungsbereichdes Tatbestandes wieder eingrenzen. Dafür wollen Sie ei-Siegfried Kauder
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003
Irmingard Schewe-Gerigknen neuen unbestimmten Rechtsbegriff einführen, der,wie Sie selbst sagen, bisher nicht in der Gesetzgebungauftaucht. Die Begründung dafür liefern Sie auch gleichmit, indem Sie sagen, die abstrakte Umschreibung der In-timsphäre sei nicht möglich. Ich halte es nicht für sinnvoll– da stimme ich ausdrücklich dem Herrn Kollegen Kauderzu –, hier einen neuen Begriff, nämlich den der Intim-sphäre, einzuführen.Wir wollen keinen Straftatbestand, der eine Vielzahlvon Alltagssituationen erfasst, deren Strafwürdigkeitfraglich ist, und der in der Praxis auch nicht handhabbarist. Stattdessen wollen wir genau prüfen, ob ein zusätzli-cher § 201 a Strafgesetzbuch nötig ist. Dies werden wirmit Bedacht tun. Den geeigneten Rahmen dazu stellt dieÜberarbeitung des Besonderen Teils des Strafgesetz-buchs dar, die die Koalition noch in dieser Legislaturpe-riode vornehmen wird. Dabei wird das sicher ein wichti-ger Punkt sein. Ich freue mich schon sehr auf dieAusschussberatungen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Manzewski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir de-
battieren hier über einen Gesetzentwurf, der ein Thema
berührt, mit dem wir uns schon kurz am Ende der letzten
Legislaturperiode beschäftigt haben, der Kollege van
Essen hat darauf hingewiesen. Das Grundanliegen, Herr
Kollege, wird dabei von uns geteilt, weil sich in der Ver-
gangenheit – da haben Sie völlig Recht – immer wieder
gezeigt hat, dass hier wohl eine Lücke im Strafgesetzbuch
existiert. Zwar ist im Bereich des Persönlichkeitsrechts
im Strafgesetzbuch einiges geregelt, zum Beispiel die Ver-
letzung des Briefgeheimnisses, das unbefugte Ausspähen
von Daten und einiges Weitere; aber es existiert eben
nichts Vergleichbares, das die Menschen wirksam vor dem
unbefugten Aufnehmen von Bildern und deren Veröffent-
lichung schützt. Allein das Zivilrecht gibt den Betroffenen
bislang die Möglichkeit, sich gegen solches Verhalten zu
wehren. Aber in diesen Fällen geht es – das ist von den
Kollegen schon angedeutet worden – allein um Beseiti-
gung, Unterlassen, Schadenersatz oder Schmerzensgeld.
Sie haben völlig Recht: Nicht zuletzt der bekannte Fall
der noch bekannteren Prinzessin – die immerhin ein ho-
hes Schmerzensgeld bekommen hat, weil unbefugt Fotos
von ihrer Privatsphäre aufgenommen worden sind – hat
die Tendenz der Gerichte gezeigt, dass ein Eingriff in die
Privatsphäre in dieser Form nicht akzeptabel ist.
Sie haben auch Recht, wenn Sie sagen, dass die Verun-
sicherung in der Bevölkerung nicht zuletzt dadurch ver-
stärkt worden ist, dass in den Medien in der Vergangen-
heit immer wieder von Fällen berichtet worden ist, in
denen gegen das Persönlichkeitsrecht in geradezu scham-
loser Weise verstoßen wurde. Insbesondere heimliche
Duschaufnahmen oder Aufnahmen aus anderen persön-
lichen Bereichen, die dann vor allem im Internet übertra-
gen wurden und bei denen die Betroffenen weder von der
Aufnahme noch von deren Verbreitung etwas ahnten, ma-
chen die Problematik deutlich.
Aber nicht nur diese medienwirksamen Fälle geben
meiner Auffassung nach Anlass, tätig zu werden. Gerade
die Entwicklungen in der Videotechnik und im Internet,
die es möglich machen, Bilder unbemerkt aufzunehmen
und weltweit zu verbreiten, zwingen uns, den Schutz der
Bürger zu verstärken. Dazu gehören auch die extrem klei-
nen Kameras, sehr weit reichende Teleobjektive und an-
dere Geräte, die dem Eingriff in die Privatsphäre Tür und
Tor geöffnet haben. Das Medium Internet, das die Mög-
lichkeit der kurzfristigen und weltweiten Verbreitung
eröffnet, hat ein Übriges getan. Sie alle haben völlig
Recht, wenn Sie sagen, dass unsere Bürger einen An-
spruch darauf haben, hiervor geschützt zu werden.
Es ist schon öfter angesprochen worden: Der Bundes-
beauftragte für den Datenschutz hat in seinem letzten
Tätigkeitsbericht festgestellt, dass es in diesem Zusam-
menhang immer öfter zu Eingriffen in die Persönlich-
keitsrechte kommt. Ich teile seine Einschätzung, genau
wie ich Ihre Grundeinschätzung teile, dass es hier einer
gesetzlichen Regelung bedarf. Die unterschiedliche Be-
handlung von heimlichen Tonbandaufnahmen und heim-
lichen Bildaufnahmen ist nicht nachzuvollziehen.
Aber – dazu muss ich noch einiges sagen, Herr Kollege
van Essen – das sieht auch die Bundesregierung so. Be-
reits auf Ihre Anfrage – das ist angesprochen worden – ist
mitgeteilt worden, dass das BMJ an einer entsprechenden
Vorschrift arbeitet, wonach unbefugte Bildaufnahmen
und das unbefugte Beobachten mit einem technischen
Gerät mit Strafe bedroht werden sollen.
– Darauf komme ich jetzt.
Daran hat sich natürlich nichts geändert. Sie und der
Kollege Kauder haben Kritik geübt. Aber bei der Argu-
mentation ist einiges verschwiegen worden. Das BMJ hat
gesagt: Wir schaffen eine entsprechende Regelung, aber
wir halten es nur für sinnvoll, wenn dies in einem großen
Kontext geschieht, weil sich in der Vergangenheit heraus-
gestellt hat, dass in dem einen oder anderen Bereich des
Besonderen Teils des Strafrechts Änderungen notwendig
sind und es eigentlich nicht sinnvoll ist, hier ein be-
stimmtes Einzelproblem herauszunehmen, schon allein
deswegen, weil – das muss man berücksichtigen – Straftat-
bestände häufig ineinander übergehen.
Das Herauslösen oder Vorziehen einzelner Vorschriften
könnte im Nachhinein zu viel größeren Problemen führen,
als wenn man etwas wartet.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des KollegenKauder?
2216
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 28. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Februar 2003 2217
Ja, natürlich.
Herr Kollege, nehmen Sie es mir bitte nicht übel. Sie
sind wie ich Jurist. Können Sie sich vorstellen, dass es ei-
nem Mädchen, das nackt im Internet publiziert wird, völ-
lig egal ist, ob diese Rechtsvorschrift im Kontext mit an-
deren erlassen wird oder nicht? Für dieses Mädchen ist
wichtig, dass es Schutz bekommt. Die Regierung kennt
die Probleme seit dem Jahr 2001. Wie lange muss es noch
dauern?
Herr Kollege, Gesetzgebung ist wichtig und wir müs-
sen auch reagieren. Aber das bedeutet nicht, dass wir in
puren Aktionismus verfallen dürfen.
Es ist zwar mittlerweile ein Jahr seit der Vorlage des Be-
richtes vergangen, Herr Kollege; aber das Problem ist
doch schon länger bekannt. Deshalb müssen sich auch an-
dere fragen lassen, warum sie nicht die Notwendigkeit ge-
sehen haben, etwas zu unternehmen.
Für mich ist es wichtiger, etwas vernünftig auf den Weg
zu bringen, als das voreilig zu tun. Ich hoffe, dass wir das
auch in diesem Zusammenhang tun werden. Ich meine,
dass voreiliges Handeln eher zu Nachteilen für die Be-
troffenen führt und sie im Grunde genommen nicht wei-
terbringt.
Ich möchte noch die Tatsache ansprechen – das geht ja
nicht von meiner Zeit ab –, dass Sie immer nur auf den
Bundesbeauftragten verweisen. Es ist ja gut, dass der
Bundesbeauftragte diesen Bericht veröffentlicht hat; man
muss ihn auch ernst nehmen. Aber die Meinung des Bun-
desbeauftragten, Herr Kollege Kauder, ist ja nun nicht das
Allheilmittel; er ist auch nicht der Allwissende. Das heißt,
wir sollten uns als freie Abgeordnete offen lassen, inwie-
weit wir dies bewerten und in welchem Zusammenhang
wir die von ihm gemachten Vorschläge sinnvoll umsetzen
wollen. Nur allein auf den Bericht des Bundesbeauftrag-
ten zu verweisen, halte ich offen gestanden für nicht ganz
richtig.
– Lassen Sie mich weiter reden. Ich will das zum Ende
bringen.
Gleichwohl, Kollege van Essen, haben Sie diesen Ein-
zelpunkt schon herausgegriffen. Ich meine, es ist völlig in
Ordnung, dass wir darüber diskutieren, weil es uns mög-
licherweise den späteren Ablauf etwas erleichtern kann.
Aber wir werden – ich werde in den verbliebenen andert-
halb Minuten meiner Redezeit noch auf ein paar Einzel-
heiten eingehen – uns dann tatsächlich darüber unterhal-
ten müssen, ob alles, was in Ihrem Gesetzentwurf steht,
richtig ist.
Abgesehen von seiner Kritik an die Bundesregierung
hat Herrn Kauder natürlich zu Recht zwei oder drei in-
haltlich richtige Punkte genannt. Die Polemik hätte ich
mir an seiner Stelle allerdings gespart. Auch ich meine,
dass wir uns noch einmal ganz in Ruhe darüber unterhal-
ten müssen, ob es wirklich Sinn macht, einen Qualifika-
tionstatbestand für Amtsträger zu schaffen. Trotz des
Beispieles von Herrn Kauder ist es mir noch nicht ganz
einsichtig, weil ich glaube, dass man den neu zu schaf-
fenden § 201 a StGB nicht zwingend mit § 201 StGB ver-
gleichen kann, weil diesem eine andere Intention zu-
grunde liegt. Wie gesagt, darüber müssen wir reden.
Möglicherweise wird uns die Diskussion in diesem Zu-
sammenhang dann auch dahin führen, dass meine Zweifel
ausgeräumt werden. Solche habe ich natürlich weiterhin,
Herr Kollege, solange Ihrer Auffassung nach bereits der
Versuch des Delikts unter Strafe gestellt werden soll. Meine
Zweifel habe ich aber insbesondere deshalb, weil ich in der
späteren Praxis erhebliche Probleme sehe, diese Tat zu be-
weisen. Wer wird denn schon nachweisen können, dass
zum Beispiel die Beobachtung mit dem Fernglas nicht der
Natur, sondern dem Liebespaar in dieser dienen sollte?
Wir sind aufgefordert, nur Gesetze zu schaffen, die der
Justiz helfen und die Justiz nicht belasten. Ich bitte ein-
fach darum, dass wir uns darüber noch einmal intensiv un-
terhalten. Wir dürfen uns auch nichts vormachen: Lö-
sungen hängen nicht allein von neuen Gesetzen und
Regelungen ab. Zu Recht verweist der Bundesdaten-
schutzbeauftragte darauf – ich nehme noch einmal Bezug
auf ihn –, dass vielmehr das Verständnis für die Notwen-
digkeit des Respekts vor dem Persönlichkeitsrecht aller
Menschen in Verbindung mit entsprechenden technischen
und organisatorischen Maßnahmen in den Köpfen aller
wachsen muss, die mit personenbezogenen Daten umge-
hen wollen und müssen. Das sollten wir bei den anste-
henden Beratungen nicht unberücksichtigt lassen.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 15/361 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir sind damit zu ungewohnt früher Stunde am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages ein auf morgen, Freitag, den 21. Februar 2003, aus-
nahmsweise erst um 9.15 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.