Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die Sitzung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung und Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Situation der Kinder und Jugendlichen und die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern
- Neunter Jugendbericht -
mit der Stellungnahme der Bundesregierung zum Neunten Jugendbericht
- Drucksache 13/70 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Sportausschuß
Ausschuß für Gesundheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtehau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Dazu liegen Entschließungsanträge der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Da ich keinen Widerspruch aus Ihren Reihen höre, verfahren wir so.
Es beginnt die Ministerin Frau Claudia Nolte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine erfreuliche und positive Entwicklung, daß die Jugendlichen in den neuen Bundesländern den Vereinigungs- und Umstrukturierungsprozeß weitestgehend gemeistert haben. Der Neunte Jugendbericht stellt an verschiedenen Stellen fest, daß eine deutliche Mehrheit der jungen Menschen der Wiedervereinigung rückhaltlos zustimmt, die Zufriedenheit mit den eigenen Lebensverhältnissen groß und der Zukunftsoptimismus ausgeprägt ist.
Wer von „Verlierern der Einheit" spricht, weiß nicht, wovon er redet, und vergißt eine wesentliche Sache: Kein Problem bei der Bewältigung der anstehenden Aufgaben wiegt schwerer als der Gewinn der Freiheit für die Menschen in den neuen Bundesländern. Die Freiheit gibt jungen Menschen Lebensperspektiven, die sie im Sozialismus nie gehabt hätten. Verloren hat der reale Sozialismus, gewonnen haben die Menschen.
Der Neunte Jugendbericht ist nicht nur am Umfang und Inhalt gemessen ein wichtiges Zeitdokument. Er beschreibt unter jugendpolitischen Gesichtspunkten den historischen Prozeß des Umbruchs und Wandels in den neuen Bundesländern. In vielen Bereichen spiegelt der Bericht auch meine sehr persönlichen Erfahrungen wider. Ich wiederhole daher hier gerne meinen Dank und den Dank der Bundesregierung an die Mitglieder der Kommission und an die Mitarbeiterinnen des Deutschen Jugendinstituts für ihre Arbeit und Mühe.
Es ist wichtig, daß der Jugendbericht sich mit den Verhältnissen vor der friedlichen Revolution in der DDR auseinandersetzt. Er macht deutlich, daß es sich bei dem SED-Staat nicht nur um ein autoritäres Herrschafts- und ein staatsmonopolistisches Wirtschaftssystem handelte, sondern auch um eine „Erziehungsdiktatur". Es ging um die „politisch-ideologische Erziehung der Jugend" als einen umfassenden Erziehungsanspruch von Partei und Staat.
Für nostalgische Sehnsüchte gibt der Bericht nichts her. Dies sollte insbesondere von denen zur Kenntnis genommen werden, die Kritik an der Gegenwart dafür nutzen möchten, ihre Vergangenheit zu verklären.
Junge Menschen waren in der DDR daran gewöhnt, bevormundet und gegängelt, aber auch in hohem Maße versorgt und betreut zu werden. Mit der Demokratisierung brach für die jungen Menschen das bislang verkündete Weltbild zusammen; bislang vermittelte Normen verloren ihre Geltung; die leitenden und kontrollierenden Institutionen fielen weg.
Die jungen Menschen waren auf neue Weise gefordert. Sie konnten und mußten sich eigenständiger entscheiden. Für viele war das ein Gewinn. Aber der
Bundesministerin Claudia Nolte
Prozeß war auch nicht ohne Probleme. Die Vielfalt der Einflüsse und Möglichkeiten einer freien Gesellschaft galt es zu verarbeiten. Unterstützung und Hilfen waren und sind noch in besonderem Maße notwendig.
Kinder- und Jugendhilfe in dem Verständnis, wie es dem Kinder- und Jugendhilfegesetz zugrunde liegt, hatte es in der DDR nicht gegeben. Solche Jugendhilfestrukturen mußten erst neu aufgebaut werden. Neues Recht wollte gelernt und angewendet sein. Es galt, die Voraussetzungen für eine schrittweise Entwicklung der Struktur freier Träger zu schaffen. Die Zusammenarbeit von freien und öffentlichen Trägern spielte sich nach und nach ein. Das weithin neue Personal hatte sich in die bislang unbekannten fachlichen Anforderungen einzuarbeiten.
Wenn der Bericht nun feststellt, daß strukturell wichtige Rahmenbedingungen für eine dem Kinder- und Jugendhilfegesetz konforme Jugendhilfe geschaffen wurden, dann, denke ich, ist das ein gutes Zeugnis für die Arbeit der Verantwortlichen in den neuen Ländern und Kommunen und ein Beleg für die erfolgreiche Unterstützung durch den Bund.
Die Bundesregierung würdigt die Anstrengungen, die in den vergangenen Jahren von den neuen Bundesländern und ihren Kommunen geleistet wurden. Für Aufgaben und Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz wurden im Jahre 1993 in den neuen Bundesländern rund 8,2 Milliarden DM aufgewendet - ein Betrag, der keineswegs hinter dem der alten Bundesländer zurücksteht.
Zwischen 1991 und 1993 haben sich die Ausgaben um schätzungsweise 30 % erhöht.
Auch der Bund hat grolle finanzielle und personelle Anstrengungen unternommen, um die neuen Länder und ihre Kommunen in den Stand zu versetzen, den Auf- und Ausbau von Trägern der freien Jugendhilfe zu fördern. Wesentliche Hilfen in der bisherigen Übergangszeit wurden in den neuen Bundesländern und Kommunen über den Fonds Deutsche Einheit, das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost, die kommunale Investitionspauschale und andere Finanzierungsinstrumente geleistet,
Jenseits aller Kompetenzfragen war der Bund von Anfang an bestrebt, übergangsbedingte Angebots- und Leistungslücken von Ländern und Kommunen durch umfangreiche und gezielte Programme, Zuwendungen und andere Hilfen zu schließen.
Um einige zu nennen: etwa 20 000 Arbeitsstellen für die Kinder- und Jugendhilfe auf ABM-Basis; Qualifikations- und Fortbildungsmaßnahmen auch im Bereich der Kinder-, Jugend-, Familien- und Sozialhilfe; 18 000 Stellen nach § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes in den Arbeitsfeldern der Jugendhilfe und der sozialen Dienste; bis zu 80 % verbilligter Erwerb von Liegenschaften und Gebäuden des Bundes; seit 1991 jährlich zusätzliche 47 Millionen DM im Bundesjugendplan, die zum großen Teil den neuen Bundesländern zugute kommen; gezielte Sonderprogramme des Bundes für die neuen Bundesländer wie das Programm zum Auf- und Ausbau freier Träger der Jugendhilfe und die Informations-, Beratungs- und Fortbildungsdienste Jugendhilfe zur Fortbildung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Jugendämter.
Wir müssen nun das bislang Erreichte mit Blick auf die normale Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern für die Zukunft sichern. Die Kommunen sind weiterhin vor große Aufgaben gestellt.
Die Personalsituation in den Jugendämtern muß vorrangig konsolidiert werden. Gesetzlich vorgeschriebene Aufgaben der Jugendämter können nicht durch ABM-Stellen erfüllt werden, sondern müssen ihren Niederschlag in ordentlichen Stellenplänen finden.
Noch für viele Jahre ist mit einem ebenso hohen wie dringlichen Qualifizierungsbedarf des Fachpersonals der Kinder- und Jugendhilfe zu rechnen. Die hierzu nötigen Angebote haben die zuständigen Landesbehörden und die freien Träger bereitzustellen.
Für den Aufbau freier Träger ist eine weitere öffentliche Förderung durch die zuständigen staatlichen Stellen unverzichtbar.
Der Bund hat das Volumen seines Kinder- und Jugendplans gegenüber 1989 in dem Haushaltsentwurf 1995 von 120 auf 208 Millionen DM erhöht. Darin sind weiterhin Mittel für Sonderaufgaben in den neuen Bundesländern enthalten.
Die örtliche Jugendarbeit braucht dringend Räume und Gebäude.
Hier sind Länder und Kommunen gefordert, wobei gegebenenfalls die Mittel des Investitionsförderungsgesetzes Aufbau Ost des Bundes einzusetzen sind.
Der Neunte Jugendbericht bestätigt meine politische Überzeugung, daß die Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen vorrangig von der Lebensqualität der Familien, in denen sie aufwachsen, insbesondere von der emotionalen Wärme und der verfügbaren Zeit, in der sich Eltern ihren Kindern zuwenden können, und von ihren Einkommensverhältnissen bestimmt werden.
Die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse von Familien mit Kindern in den neuen Bundesländern sind beileibe nicht überall zufriedenstellend. Doch die Daten des Berichts hinken natürlicherweise der aktuellen Entwicklung hinterher.
Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes haben sich die monatlichen Nettoeinkommen der Familien mit Kindern in den neuen Bundesländern und Berlin-Ost deutlich verbessert. Der Anteil der Ehepaare mit Kindern, die ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen von mehr als 3 000 DM aufweisen, hat sich von 25 % im Jahre 1991 auf 68 % im April 1993 erhöht und damit fast verdreifacht. Auch die Einkommenssituation Alleinerziehender hat sich in dieser Zeit fühlbar verbessert.
Trotzdem muß noch mehr zur Entlastung von Familien getan werden. Die Verbesserung der Familienförderung ist nicht von ungefähr ein Schwerpunkt
Bundesministerin Claudia Nolte
der Politik der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode. Kinder und Jugendliche in kinderreichen Familien, von Alleinerziehenden und in Familien, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, wachsen häufig unter schwierigen Bedingungen auf. Die von den Koalitionsfraktionen in diesen Tagen beschlossene Fortentwicklung des Familienlastenausgleichs wird gerade für solche Familien die materiellen Lebensbedingungen verbessern.
Der Neunte Jugendbericht befaßt sich ausführlich mit der Umgestaltung des Bildungswesens in den neuen Bundesländern. Hier sind tiefgreifende Veränderungen vorgenommen worden. Die früheren ideologischen Zwänge wurden abgelegt, und dafür wurde ein differenziertes, Begabung und Leistungsfähigkeiten berücksichtigendes Schulsystem aufgebaut.
Zur Situation im Hochschulbereich stellt der Neunte Jugendbericht fest, daß hier der Veränderungsprozeß von den jungen Menschen am besten bewältigt wurde. Der Ausbildungsnotstand, der nach dem Jugendbericht 1993 angeblich „nun wirklich drohte", fand weder 1993 noch 1994 statt.
Durch ein Bündel verschiedener Maßnahmen der Arbeitsverwaltung, der Länder und des Bundes ist es in den zurückliegenden Jahren gelungen, allen Jugendlichen ein Ausbildungsangebot zu machen; in der Tat nicht immer dort, wo der Wunsch bestand, aber doch so, daß jeder einen Ausbildungsplatz erhalten konnte.
Die Bundesregierung wird auch weiterhin das Ziel, allen Jugendlichen Ausbildungsplätze anzubieten, mit Nachdruck verfolgen und die Berufsausbildung in gemeinsamer Verantwortung mit der Wirtschaft weiter ausbauen und absichern.
Ich halte es für bedenklich, feststellen zu müssen, daß sich immer mehr - vor allem die größeren - Unternehmen der beruflichen Ausbildung entziehen.
Es geht nicht an, daß die öffentliche Hand immer weiter Aufgaben der Wirtschaft übernehmen muß. Dies widerspricht langfristig auch den Interessen der Wirtschaft, die ein eigenes Interesse an qualifiziertem Nachwuchs hat.
Ich appelliere an die Unternehmen:
Schaffen Sie Ausbildungsplätze! Schaffen Sie sie auch dann, wenn Sie keine Chance sehen, die jungen Menschen anschließend weiter bei sich zu beschäftigen. Sie geben damit jungen Menschen eine
Perspektive, und deshalb sind die Bemühungen notwendig.
Die Bundesregierung teilt die Einschätzung der Kommission, daß die Situation auf dem Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern in den nächsten Jahren angespannt bleibt, wenngleich die Arbeitsmarktsituation von jüngeren Erwachsenen insgesamt besser ist als für die übrigen Altersgruppen und die Zahl der Arbeitslosen in dieser Altersgruppe rückläufig ist.
In den Jahren des Übergangs wird dem Arbeitsförderungsgesetz weiterhin eine besondere Bedeutung zukommen, selbst wenn das frühere Höchstniveau mit einem Entlastungseffekt von zeitweilig jahresdurchschnittlich fast 2 Millionen Männern und Frauen sowohl aus finanz- als aus ordnungspolitischen Gründen langfristig nicht gehalten werden konnte.
Probleme, die junge Menschen wegen ihrer Arbeitslosigkeit haben, brauchen unser besonderes Augenmerk . Deshalb wird das Bundesjugendministerium sein Projekt „Arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit" fortführen und dessen Schwerpunkt auf die neuen Bundesländer verlagern. Defizite der Jugendsozialarbeit müssen dringend abgebaut werden.
Der Neunte Jugendbericht diagnostiziert eine emotionale Politikverdrossenheit junger Menschen in Ostdeutschland. Er beschreibt ein sich verschärfendes politisches Integrationsdefizit Jugendlicher, das er mit der deutlichen Bedeutungszunahme der Gleichaltrigengruppen in Verbindung bringt.
Dies sind ernste Befunde. Ähnliche sind uns aus Westdeutschland seit den 70er Jahren bekannt. Vor diesem Hintergrund sollte man auch vorsichtig sein, die Distanz gegenüber den Strukturen der Erwachsenengesellschaft allein auf spezifische Bedingungen, Probleme und Defizite in den neuen Bundesländern zurückzuführen.
Als eine wichtige Ursache der Entfremdung führte der Neunte Jugendbericht an, daß junge Menschen ihre Interessen durch die staatliche Politik nicht hinreichend berücksichtigt und vertreten sehen.
Der Ansicht, daß der Staat nicht genug für die Jugend tut, waren 51,5 % in den alten Bundesländern und beachtliche 71 % in den neuen. Insbesondere zugunsten der Kommunen muß es erlaubt sein, darauf hinzuweisen, daß dieser Eindruck junger Menschen auch eine Folge der subsidiären Organisationsform der Kinder- und Jugendhilfe ist.
Jugendarbeit wird weitgehend von freien Trägern angeboten und durchgeführt. Nur selten wird dabei erkennbar, daß hinter solchen Angeboten freier Träger auch der Staat, insbesondere das kommunale Jugendamt, als fördernde, planende, anregende und koordinierende Instanz steht.
Bundesministerin Claudia Nolte
Nichtsdestotrotz müssen wir in unserem Bemühen, Jugendliche für unsere Demokratie zu gewinnen, fortfahren. Formen von Partizipation für junge Menschen wie z. B. Jugendgemeinderäte sollten erprobt, gefördert und ausgeweitet werden.
Eines ist mir noch wichtig: Wir wissen zwar, daß fast alle Jugendlichen aus den neuen Bundesländern bereits mindestens einmal in den alten Bundesländern waren. Der Anteil der Jugendlichen aus den alten Bundesländern, die bereits die neuen Bundesländer besucht haben, ist dagegen nach meiner Erfahrung noch lange nicht befriedigend. Damit Deutschland weiter zusammenwächst, brauchen wir mehr Treffen und mehr Gespräche zwischen jungen Menschen aus Ost- und aus Westdeutschland. Solche Begegnungen sollten von allen unterstützt werden, insbesondere von Schulen, Kommunen, Vereinen und Verbänden.
Die innere Einheit werden wir nur mit der jungen Generation vollenden, und zwar nur dann, wenn wir ihr die Perspektive auf eine gute Zukunft eröffnen und erhalten. Alle, die im Bund, den Ländern und Gemeinden, in der Wirtschaft und Gesellschaft Verantwortung tragen, müssen hierzu ihren Beitrag leisten.
Der Jugendbericht gibt dazu viele wertvolle Ansatzpunkte. Ich wünsche mir, daß uns Diskussion über ihn in einer breiten Öffentlichkeit und in allen Bereichen dem Ziel der Vollendung der inneren Einheit näherbringt.
Danke schön.
Als nächste spricht die Kollegin Dr. Edith Niehuis.
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Kollegen und Kolleginnen! Der Neunte Jugendbericht beschäftigt sich mit der Situation der Jugendlichen in den neuen Bundesländern und versucht zugleich eine Bewertung der bisher erfolgten jugendpolitischen Arbeit.
Ich möchte der Sachverständigenkommission für den ausführlichen Bericht ausdrücklich danken, insbesondere auch für den Versuch, DDR-Vergangenheit und die politische Entwicklung nach der Vereinigung in einen Zusammenhang zu stellen.
Der Bericht gibt uns in der Politik durch seine ausführliche und abwägende Art eine Möglichkeit, die deutsche Vereinigung und ihre Folgen sowie insbesondere den politischen Handlungsbedarf hinsichtlich der Situation der Jugendlichen noch einmal zu überdenken. Es ist sehr bedauerlich, daß die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme diese Chance nicht ergriffen hat und im Niveau gegenüber dem Sachverständigenbericht deutlich abfällt.
In ihrer Stellungnahme zeigt sich die Bundesregierung unfähig, die Lebenssituation junger Menschen in den neuen Bundesländern in ihrer Differenziertheit überhaupt wahrzunehmen. Die Stellungnahme verkommt zu einer äußerst platten Regierungspropaganda.
Junge Menschen haben einen Anspruch darauf, daß eine Bundesregierung Probleme zur Kenntnis nimmt und alles politisch Mögliche tut, zur Problemlösung beizutragen. Das gravierendste Problem ist die Ausbildungsplatz- und dann Arbeitsplatznot junger Menschen in den neuen Bundesländern.
Mir ist unverständlich, wie die Bundesregierung den von den Sachverständigen vorhergesagten Ausbildungsnotstand zufrieden mit dem Satz kommentiert - Frau Nolte hat das auch heute getan -, daß dieser auch 1993 abgewendet werden konnte. Sie verschleiern mit diesem Satz die Tatsache, daß in den neuen Bundesländern eine bedenkliche Ausbildungsplatzlücke besteht; denn die Hälfte der sich um einen Ausbildungsplatz bemühenden Jugendlichen bekommt keinen betrieblichen Ausbildungsplatz.
Nur durch staatliche Programme, durch außerbetriebliche Ausbildung, kann die Krise der dualen Berufsausbildung verschleiert werden.
Wir wissen, daß in unserem System außerbetriebliche Ausbildung häufig nur eine Warteschleife ist und daß die Aussicht auf einen Arbeitsplatz am ehesten über einen betrieblichen Ausbildungsplatz gegeben ist.
Junge Menschen können von der Politik erwarten, daß ihre Probleme nicht einfach quantitativ-statistisch wegdiskutiert werden, wie die Bundesregierung es versucht, sondern ernstgenommen werden. Dieses Hinwegsehen über Probleme kann zu Enttäuschungen mit möglicherweise schwierigen gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen führen, insbesondere dann, wenn die Jugendlichen große Erwartungen an die deutsche Vereinigung haben, wie die Studie gezeigt hat.
Junge Menschen wollen spüren, daß die Gesellschaft, daß die Arbeitswelt sie braucht. Das gilt grundsätzlich. Das gilt aber noch mehr, wenn man aus der DDR-Vergangenheit heraus stark arbeitszentrierte Werte gewohnt ist. Daß 38 % der 21- bis
Dr. Edith Niehuis
24jährigen in den neuen Bundesländern Sozialhilfe oder andere Transferleistungen als Haupteinnahmequelle haben und bereits jeder dritte Sozialhilfeempfänger in den neuen Bundesländern jünger als 18 Jahre ist, ist eine bedenkliche Situation.
Doch die Bundesregierung wiegelt ab und verweist darauf, alles sei in Ordnung, weil dank Sozialhilfe Armut und Not gelindert werde. Es ist richtig: Sozialhilfe soll materielle Not lindern. Aber ein Jugendbericht handelt von jungen Menschen. Dann geht es eben nicht nur um den materiellen Aspekt von Sozialhilfe, sondern auch darum, daß junge Menschen Perspektiven brauchen.
Aber gerade Perspektiven - das wissen Sie wie ich - vermitteln Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe und das Fehlen von Ausbildungsplätzen nicht.
Ein besonderes Augenmerk müssen wir dabei auf die noch schwierigere Situation junger Frauen richten. Angesichts der hohen Frauenarbeitslosigkeit, weil Frauen nämlich als erste von Kündigungen betroffen waren, als letzte wieder in die Erwerbstätigkeit integriert werden und schwer Ausbildungsplätze finden, ist es zynisch, wenn die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme darauf verweist, daß Frauen nach der Vereinigung nun endlich eine Wahlmöglichkeit zwischen Familie und Beruf hätten, die ihnen in der DDR verwehrt worden sei.
Muß ich Sie denn wirklich daran erinnern, daß eine von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Studie über „Frauen in mittlerem Alter" hinsichtlich der Wahlmöglichkeit von Frauen bereits vor Jahren feststellte:
Das proklamierte Leitmotiv während der letzten Jahre hieß, „Wahlfreiheit" für verschiedene Lebensentwürfe von Frauen zu erhalten und zu fördern. De facto ging es aber darum, die Wahl zugunsten der „Ganztagshausfrau" zu stützen. Verschwiegen wurde dabei oft, daß mit jeder Wahl erhebliche, z. T. nicht umkehrbare Folgen und Risiken verbunden sind - und zwar materielle, soziale und psychische.
Dieses Grundproblem unserer Gesellschaft erreicht jetzt die jungen Frauen im Osten. Jetzt suggeriert man ihnen die Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf, obwohl sie in der Realität schwer zu finden ist. Junge Frauen im Osten reagieren auf diese Täuschung in der Umbruchsituation sehr konkret. Der Rückgang der Geburtenrate seit 1989 in den neuen Bundesländern um zwei Drittel spricht eine überaus deutliche Sprache.
Vieles, was sich in den neuen Bundesländern in dramatischer Weise als Schwierigkeit zeigt, ist bereits in den alten Bundesländern als Problem angelegt. Das gilt für die Wahlfreiheit zwischen Beruf und Familie. Das gilt aber auch für die angesprochene Ausbildungsnot, die sich als zunehmender Ausbildungsmangel auch im Westen abzeichnet, wie der Entwurf des Berufsausbildungsberichts 1995 der Bundesregierung zeigt. Industrie und Handel versuchen, sich aus ihrer Verantwortung, die sie in der dualen Berufsausbildung haben, zu stehlen. Um der jungen Menschen willen, Frau Nolte, sollten Sie diese Situation nicht verschleiern, sondern endlich Konzepte auf den Tisch legen, die diese bedenkliche Situation abwenden.
Auf Grund dieser schwierigen Ausbildungs- und Arbeitsplatzsituation, aber auch grundsätzlich muß unser Augenmerk besonders auf den Ausbau freier pluraler Träger in der Jugendhilfe gerichtet sein. Dazu eine grundsätzliche Bemerkung, weil sich in Ost und West etwas Ähnliches abzeichnet, wenn auch in unterschiedlicher zeitlicher Folge.
Dadurch, daß das Kinder- und Jugendhilfegesetz Angebote für Kinder und Jugendliche in einem Gesetz zusammenfaßt, kommt es sowohl in Ost als auch in West zu einer nicht wünschenswerten Konkurrenzsituation zwischen Kindern und Jugendlichen auf kommunaler Ebene. Nach der Vereinigung legten die ostdeutschen Länder und Kommunen großen Wert darauf, ihre Kindertagesstätten zu erhalten, was zu Lasten der finanziellen Unterstützung der Jugendhilfe ging. Auf Grund des Rechtsanspruches auf einen Kindergartenplatz müssen wir auch im Westen nun beobachten, daß die Umsetzung dieses Rechtsanspruches zu Lasten der Jugendhilfeangebote geht. Hier liegt eine grundsätzliche Problematik des KJHG oder seiner Implimentation. Diese finanzielle Konkurrenzsituation von Kinder- und Jugendarbeit ist nicht gut. Darum erwarten wir von der Bundesregierung alsbald Vorschläge, die geeignet sind, diese verheerende Entwicklung abzuwenden.
Neben dieser grundsätzlichen Problematik gilt es, hinsichtlich der neuen Bundesländer zu überprüfen, wie die Anstrengungen der Bundesregierung zu beurteilen sind, nach der Einheitsjugend FDJ eine plurale freie Trägerstruktur aufzubauen.
Mit Stolz verweist die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme darauf, daß nach der deutschen Vereinigung ca. 217 Millionen DM in die Programme der freien Jugendhilfe Ost geflossen sind.
Doch, sehr verehrte Damen und Herren, in dieser historischen Umbruchsituation war nicht nur Quantität, sondern auch Qualität gefordert. Es geht um die Frage, wie effektiv die finanziellen Mittel denn eigentlich eingesetzt wurden. Die SPD hat Sie zeitig und immer wieder und von diesem Pult aus vor einer Politik der konzeptionslosen kurzfristigen Sonderpro-
Dr. Edith Niehuis
gramme gewarnt und stets darauf hingewiesen, daß durch diese kurzatmige Jugendpolitik zwar viel Geld in die neuen Bundesländer fließt, aber der langfristige Erfolg nur gering ist.
Der Neunte Jugendbericht bestätigt nun unsere Kritik. Dort heißt es - ich zitiere -:
Der Aufbau der freien Träger der Jugendhilfe in den fünf neuen Bundesländern bedarf einer kontinuierlichen und verläßlichen finanziellen Förderung. Die bisherige Förderpolitik eröffnet den freien Trägern weder klare konzeptionelle noch förderpolitische Perspektiven, von Planungssicherheit kann nahezu nirgendwo die Rede sein.
Deutlicher kann man die konzeptionslose Jugendpolitik der Bundesregierung nicht kritisieren.
Die freie Jugendhilfe Ost steht mitten in der Aufbauphase jetzt vor der Situation, daß nach einer ausgesprochen großzügigen Anfangsförderung nun mangels Anschlußförderung manches Aufgebaute beendet, zerstört werden muß. Da, Frau Nolte, hilft der Appell an die anderen nicht, daß sie etwas tun müssen. Sie haben mit einer ausgesprochen großzügigen Anfangsförderung begonnen; nun können Sie nicht alle vor das Nichts stellen.
Ich will in diesem Zusammenhang auch etwas Kritisches zum Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt sagen. Viele, die dieses Programm loben - es gibt viele, die das tun -, loben es, weil sie aus unterschiedlichen Motiven froh sind, daß überhaupt Geld geflossen ist. Dies kann in einer verantwortlichen Politik aber nicht der alleinige Maßstab sein. Ich bleibe dabei: Es wäre besser gewesen, dieses Geld wäre in den Aufbau einer präventiven Jugendarbeit geflossen, die, wenn sie gut ist, auch zur Aggression neigende Jugendliche mit erfaßt hätte.
Mit diesem Sonderprogramm hingegen haben Sie zweierlei bewirkt: Ganze Regionen haben keine Chance gehabt, daraus Fördermittel zu bekommen, weil ihr Gewaltindex einfach nicht hoch genug war. Das hat mit dem Aufbau flächendeckender pluraler Jugendarbeit nichts zu tun. Zweitens haben Sie eine Antragslyrik erzeugt - so heißt es im Neunten Jugendbericht -, die so manche Jugendliche nur wegen der Fördermittel zu „gewaltbereiten Jugendlichen" abgestempelt hat.
Wenn Sie der SPD und auch dem Neunten Jugendbericht nicht glauben wollen, dann glauben Sie vielleicht dem sächsischen Innenminister Eggert ,
der laut Bericht der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" vom 2. Juli 1994 auf der Dresdner Tagung unter dem Motto „Unterwegs zur Einheit", folgendes sagte - ich zitiere -:
Vor kurzem habe er einen Runden Tisch zum Thema „Gewalt und Jugend" eröffnet. Auch die Frage an die Jugendpfleger, was sie denn alle täten, hätten alle geantwortet, daß sie dieses Thema bearbeiteten. „Gibt's denn so viel Gewalt?" wollte der Innenminister wissen. „Nein, aber so viele Fördertöpfe", lautete die Antwort.
Sie können mir nicht erzählen, daß dies eine sinnvolle Arbeit für Jugendliche ist. Sie werden den Jugendlichen in ihrer Situation damit nicht einmal gerecht.
Nach fünf Jahren deutscher Vereinigung steht die Bundesregierung vor einer schlechten Bilanz, was Jugendpolitik Ost anbetrifft. In dieser Woche schrieb eine Hamburger Wochenzeitung: In Bonn hat das Schönreden Konjunktur.
Ich hoffe sehr, daß wir in der weiteren Ausschußarbeit nicht nur schönreden, sondern die Ergebnisse des Neunten Jugendberichts nehmen und daraus das Beste, für die Jugendlichen in den neuen Bundesländern machen.
Als nächster spricht der Abgeordnete Wolfgang Dehnel.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Damen und Herren Kollegen! Einige von Ihnen werden sich sicher wundern, daß ich als 50jähriger zu Entwicklungschancen der Jugend sprechen möchte.
Da ich aber am letzten Tag der Jalta-Konferenz geboren wurde, als Roosevelt, Churchill und Stalin gerade die Teilung Deutschlands besiegelten, kann ich schon einige Erfahrungen darüber einbringen, was in den jugendlichen Köpfen in Ost und West damals vorgegangen ist.
Das Wichtigste jedoch ist, daß ich gerne mit Jugendlichen zusammenarbeite, aber auch mit ihnen streite, wenn es um die Zukunft geht.
Denn die Jugend von heute und morgen muß mit unseren Entscheidungen von gestern und heute, die wir auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens getroffen haben bzw. noch treffen, leben. Dazu zählen wirtschaftspolitische, umweltpolitische wie wissenschafts- und kulturpolitische, in besonderem Maße auch familienpolitische Entscheidungen.
Wolfgang Dehnel
Wenn wir der Jugendpolitik in diesem Rahmen ausreichend Beachtung und Raum bieten, werden die Verwalter des nächsten Jahrhunderts - von einem Jahrtausend möchte ich hier gar nicht sprechen - gewappnet sein, auf den von uns vorgegebenen Gleisen die richtige Fahrt aufzunehmen, aber auch die wichtigen Stopps und Signale zu erkennen.
Der jetzt vorliegende Neunte Jugendbericht über die Situation der Kinder und Jugendlichen und die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern bietet nach meiner Ansicht eine ausgezeichnete Grundlage, um die Wirksamkeit der bisherigen Maßnahmen auf jugendpolitischem Gebiet im östlichen Teil Deutschlands zu analysieren und Aufschluß für die weitere Arbeit und für kommende Entscheidungen zu erhalten.
Für die wirklich umfassende Fleißarbeit möchte ich dem Erstellerteam im Namen meiner Ausschußgruppe ganz herzlich danken.
- Das glaube ich auch, Herr Fischer.
In vielen Punkten und Sichtweisen stimmt die Auffassung der Bundesregierung mit den Aussagen des Berichtes überein.
Das zeigten die Ausführungen meiner Kollegin Frau Ministerin Claudia Nolte in überzeugender Weise, anders als Sie, Frau Niehuis, das hier darstellen wollten.
Ich selbst aber kann ein in dem Bericht enthaltenes gewisses Bedauern über das Wegbrechen der Geborgenheit in der Ex-DDR nicht nachvollziehen.
Das Leben der Jugendlichen war doch gleichsam eine „Ver" borgenheit, nämlich hinter Mauern und Stacheldraht, weich gebettet in einer verlogenen Ideologie,
fernab von freier Entfaltung und freier Meinungsäußerung, auch fernab von demokratischen Denk- und Handlungsweisen.
liegt doch gerade in dieser verlogenen Geborgenheit begründet. In vielen Trainingsstunden wurden die Hurra-Rufe auf die Parteiführung und das System in die jungen Köpfe eingehämmert. Ist das alles denn schon vergessen?
Ja, auch ich wünschte mir heute mehr Enthusiasmus bei jungen Leuten, die durch ihr Vorbild andere mitreißen, wenn es um den Abbau politischer Fronten, aber nicht um den Aufbau von verhärteten oder gar Gewaltfronten geht.
Das ist ein Problem, das sich letztlich vollständig erst in der nächsten Generation lösen wird. Es ist eine Erblast, die uns die SED hinterlassen hat.
Es werden neue Überlegungen notwendig sein, meine Damen und Herren, um mehr Hilfe zur Selbsthilfe leisten zu können. Gerade die Unterstützung von Initiativen der Basis, also der Jugendlichen selbst, bietet größere Erfolgsaussichten als die Streuung von immer mehr Broschüren und Kongressen. So gesehen ist die Bundesregierung auf dem richtigen Weg seit der schwierigen Umstrukturierung des Ausbildungswesens im besonderen und aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens im allgemeinen seit dem Einheitsprozeß.
Gerade die Jugendlichen haben in vorderster Linie dieser machtvollen, aber friedlichen Bewegung gestanden. Sie wollten Freiheit, Demokratie und Wohlstand in einem Volk.
Weder der Wille noch die ersten freien Wahlen in der Ex-DDR wurden aufgezwungen, sondern erkämpft als logische Folge der im Frühjahr 1990 nicht abebbenden Demonstrationen.
Von den gewaltigen Umwälzungen des Einheitsprozesses wurden auf dem Arbeitsmarkt aber leider auch die Ausbildungsplätze betroffen. Dem sich jährlich abzeichnenden Ausbildungsplatzmangel hat die Bundesregierung aber in zweifacher Hinsicht entgegengewirkt: zum ersten durch Ausbildungsplatzförderprogramme gemeinsam mit den Landesregierungen und zum zweiten durch ständigen direkten Kontakt mit den Verbänden und Unternehmen.
Lehrausbildung ist die beste Investition in die Zukunft eines Unternehmens. Das scheinen viele große und mittelständische Unternehmen zunehmend zu vergessen. Sie warten offensichtlich so lange, bis die
Wolfgang Dehnel
Regierungen politisch gezwungen werden, wieder aus Steuermitteln außerbetriebliche Ausbildungsplätze zu schaffen. Solches Verhalten untergräbt unser bewährtes duales Bildungssystem.
Dies ist ein Pokerspiel, das sich später durch mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der betreffenden Unternehmen rächen wird.
Meine Damen und Herren, den hohen Stellenwert der Benachteiligtenförderung nach dem Arbeitsförderungsgesetz, auf den die Kommission wie auch die Bundesregierung gleichermaßen sensibel reagieren, habe ich in der vergangenen Woche bei einem Besuch einer entsprechenden Ausbildungsstätte sozusagen vor Ort kennengelernt.
Ich war schon tief beeindruckt, wie der finanzielle Aufwand durch Fördermittel plus menschliche Zuwendung plus Ausbildung gute Ergebnisse in den Zeugnisnoten bringt und - noch wichtiger - Integrationshilfe leistet.
So zeigt sich für mich abschließend, daß nicht das Geld allein die Welt regieren muß, daß Fördermittel und Transferleistungen nicht in den Sand gesetzt werden, sondern zukunftsträchtig - im besten Sinne des Wortes - angewendet werden.
Wenn wir uns über solche positiven Erfahrungen wie auch über negative Erscheinungen national und international durch verstärkte Jugendaustauschprogramme näherkommen, fallen die Mauern der Vorurteile und der Voreingenommenheit wie von selbst, vielleicht auch bei der Opposition.
Danke.
Es spricht jetzt der Kollege Matthias Berninger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Grunde hätten wir uns schon in der letzten Legislaturperiode mit diesem Jugendbericht beschäftigen müssen. Das hat sich ein bißchen verzögert, und das hätte sich auch noch weiter verzögert. Der Bericht ist nämlich schon im Dezember vorgestellt worden. Jetzt sind wir kurz vor der Osterpause und hätten noch immer nicht darüber geredet. Aber wer sich die Haushaltsberatungen, wie sie zur Zeit laufen, einmal genauer anschaut und wer sich auch die Debatte hier genauer anschaut, der weiß, warum wir uns ganz dringend mit der Situation der Jugend in der Bundesrepublik Deutschland und damit natürlich auch in den neuen Ländern beschäftigen müssen.
Zu Anfang gestatten Sie mir noch eine Bemerkung. Jugendpolitik hat sehr viel mit der Ministerin für Jugend, der Frau Nolte, zu tun. Aber sie hat auch eine ganze Menge mit dem Herrn Kanzler zu tun, sie hat außerdem sehr viel mit dem Herrn Finanzminister und mit vielen anderen Leuten im Kabinett zu tun. Ich halte es für ein Unding, daß sie nicht hier sind. Wir haben gestern den Agrarbericht debattiert, da waren mehr von den Damen und Herren von der Regierung anwesend.
Ich hoffe, daß die Präsenz nichts mit deren Interesse an diesem Thema zu tun hat;
denn das wäre ziemlich erschreckend.
Der Neunte Jugendbericht selbst ist ein methodisch sehr vielfältiges, ein sehr ausführliches Werk. Ich halte ihn für sehr fundiert, und ich glaube, darin steht eine Menge Vernünftiges. Meine Erfahrung in Gesprächen mit vielen Leuten, die praktisch in der Jugendarbeit in den neuen Bundesländern tätig sind, zeigt auch, daß er dort großen Respekt genießt. Das weiß auch die Pressestelle des Ministeriums für Jugend; denn die Nachfrage nach diesem Jugendbericht ist sehr groß, und sie konnte anfangs auch kaum gestillt werden.
Sowohl die Stellungnahme der Bundesregierung als auch das, was auf grünem Papier steht - dabei frage ich mich: warum ist das nicht rosa? -, schlägt das Diskursangebot aus. Sie überzeichnet auch die Ergebnisse der eigenen Politik. Ich finde sie beschönigend und vor allem unzureichend.
Hier wird die Politik letzten Endes über den grünen Klee der blühenden Landschaften gelobt. Was Frau Nolte gesagt hat, klang auch ein bißchen wie eine Abschiedsrede aus der Jugendpolitik. Wie oft war das Thema: Was haben wir alles geleistet! Was haben wir alles vollbracht! Wie wenig war Thema, was wir in Zukunft alles leisten müssen. Davon habe ich nur sehr wenig gehört.
Die Grundfragen dieses Berichts - es sind ja nur einige Grundfragen, die er stellt - sind Grundfragen des Generationenverhältnisses. Wir als Parlament dürfen nicht den Fehler der Regierung machen, mit einer kleinen Propagandastellungnahme das Thema schnell abzuhaken und aus der Tagesordnung zu streichen. Dieser Jugendbericht ist Grundlage für die nächsten Jahre. Da gibt es wirklich viel zu tun. Deshalb bitte ich Sie, meine Damen und Herren hier im Parlament, lassen Sie uns einen anderen Weg gehen als den, den die Regierung gegangen ist!
Matthias Berninger
Ich möchte auf einige Bundesprogramme eingehen und beginne mit dem Programm AFT, Aufbau freier Träger. Ziel war es, freie Trägerstrukturen, die in den neuen Ländern Jugendarbeit machen können, zu schaffen. Das bundespolitische Engagegement hat ein jähes Ende gefunden; auch das kann man in den Haushaltsberatungen sehen. Ich habe den Eindruck, Frau Nolte, Sie glauben, nach vier Jahren sei das Problem schon gelöst.
Wir haben aber eine ganze Menge Leute, die auch praktisch arbeiten und die sagen: Bis wir die freien Trägerstrukturen haben, dauert es vielleicht zehn oder 15 Jahre. Das sind keine Pessimisten, die schwarzmalen, sondern Leute, die die konkreten Probleme der Verbände und der vielen anderen Träger vor Ort kennen. Damit werden die Kommunen und die Länder, wie ich finde, verdammt allein gelassen.
Vieles droht endgültig den Bach herunterzugehen. Fragen Sie einmal die Leute, die versuchen, junge Menschen in Verbände hineinzubekommen! Fragen Sie einmal die Leute, die versuchen, mit jungen Menschen etwas aufzubauen! Wenn wir uns hier in finanzieller Hinsicht heraushalten, meine Damen und Herren, dann geht vieles den Bach herunter.
Die Bundesregierung stellt hier auch die falsche Frage. Systemwidrigkeit von Sonderprogrammen ist die zentrale Fragestellung der Bundesregierung im Jugendbericht. Es sei systemwidrig, es sei mit der Verfassung nicht in Einklang zu bringen, wenn wir hier die Sonderprogramme fortsetzten. Ich halte das für falsch. Die Worte, die mich interessiert hätten, wären gewesen: Chancengleichheit, gleichwertige Lebensverhältnisse. Vergleichen Sie die freien Trägerstrukturen in den neuen Ländern mit denen in den alten Ländern; dann wissen Sie, was ich meine.
Zum zweiten Programm, dem Programm gegen Aggression und Gewalt, habe ich eine etwas andere Position als Sie, Frau Kollegin Niehuis.
Es ist viel kritisiert worden. Natürlich ist das Programm nicht präventiv gewesen. Natürlich ist es vor allem dort angelegt worden, wo sozusagen brisante Gewalt offen auftrat. Aber wir kennen alle die Situation, die es gab, als wir die Asylfrage neu regeln mußten. Ich halte die Überlegung der Regierung, das, was Frau Merkel damals gemacht hat, nämlich konkret zu reagieren, nicht für unvernünftig. Das liegt vor allem daran, daß ich mir einige Orte angesehen habe, wo das AgAG-Programm gegriffen hat und wo viele gute Sachen gemacht werden.
Herr Berninger, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegen Niehuis?
Bitte.
Herr Berninger, ich weiß, daß wir da unterschiedlicher Meinung sind, was das Programm gegen Aggression und Gewalt betrifft. Darum folgende Frage: Sind Sie nicht mit mir einer Meinung, daß es ein Unterschied ist, ob man in der Bundesrepublik West, wo eine durchgehend plurale Jugendstruktur vorhanden ist, zusätzlich Fanklubs oder Hooliganklubs macht? Das ist das eine. Wenn Sie dem zustimmten, würde ich mit Ihnen übereinstimmen.
Aber ist es nicht so, daß in den neun Bundesländern, wo die plurale freie Struktur noch nicht vorhanden ist, etwas passiert ist, was nach dem KJHG katastrophal ist, daß nämlich Leute zielgruppenorientierte Arbeit, gewaltorientierte Arbeit gemacht haben, weil es dort Fördertöpfe gibt? Dabei war der allgemeine Aufbau der Jugendstruktur nicht vorhanden. Sind Sie nicht mit mir dieser Meinung?
Was Sie voraussetzen, ist, daß die Mittel so begrenzt sind und daß man nicht beides hätte machen können. Wenn Sie es alternativ diskutieren, sind die freien Trägerstrukturen wichtiger. Das wissen Sie, Aber ich diskutiere es nicht alternativ. Beides hätte gemacht werden müssen, und beides ist halbherzig gemacht worden. Das kritisiere ich auch,
Das AgAG-Programm an sich war aber nicht so schlecht wie sein Ruf. Das sagen mir zum Teil auch die, die damit gearbeitet haben.
Wenn man mit den Rechten, mit rechtsextremen Jugendlichen redet - ich nehme einmal das Beispiel Zittau -, dann stellt man plötzlich fest, daß es ihnen etwas geholfen hat. Das hat auch dazu geführt, daß weniger Gewalt verübt wurde. Ich lasse mich nicht auf die Frage einengen, ob man das eine oder das andere hätte machen müssen. Beides mit mehr Mitteln, das wäre richtig gewesen.
Die Diskussion, die wir hier führen, ist aber ein bißchen feuilletonistisch; denn wenn wir so weitermachen wie die Bundesregierung zur Zeit, dann hinterlassen wir in beiden Bereichen sozialpolitische Bauruinen. Das, was die Bundesregierung dort angestoßen hat, kann so nicht weitergemacht werden, wenn wir uns hier nicht weiter engagieren. Das ist das Kernproblem, nicht die Frage, welches von den beiden Programmen besser oder schlechter ist.
Das Gewaltproblem hat für uns natürlich immer dann eine Dimension, wenn wir die Gewalt sehen, z. B. wenn Scheiben eingeschlagen werden oder wenn geprügelt wird. Ich möchte hier auf einen Punkt eingehen, der auch sehr viel mit Gewalt zu tun
Matthias Berninger
hat, von dem wir aber gar nicht so viel merken. Der Jugendbericht fragt, wie junge Frauen auf die Einigungssituation reagieren, und er sagt, daß Frauen oft mit Gewalt gegen sich selbst reagieren. Sie kennen das: Eßstörungen, Bulimie, Magersucht. In diesem Bereich gibt es - ich finde, das ist ein großes Problem - kein Engagement, auch kein Programm gegen Aggression und Gewalt, obwohl dieses Problem mindestens genauso wichtig ist. Hier, denke ich, muß die Bundesregierung neue Programme entwickeln. Die Gruppe der Frauen, die dort angesprochen wird, ist mir wirklich sehr wichtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will zur Situation der Frauen in den neuen Bundesländern nicht mehr viel sagen. Was zu diesem Thema am Mittwoch zu hören war, und zwar von allen Fraktionen, macht mir Mut, weil es zeigt, daß wir uns in diesem Parlament nicht damit abfinden, daß Frauen zu den Verliererinnen der Einheit werden. Relativ gesehen sind sie auf jeden Fall die Verliererinnen der Einheit, Ich hoffe einmal, daß die Bundesregierung das merkt und daß sie ihre Politik in diesem Bereich ändert.
Die Personalsituation in der Jugendarbeit ist angesprochen worden. Jugendarbeit ist nur durch den zweiten Arbeitsmarkt mit Hilfe von ABM-Programmen und Maßnahmen nach dem Arbeitsförderungsgesetz geschaffen worden. Aber auch hier stehen tiefe Einschnitte bevor. Ich will versuchen, das an einem Beispiel zu erläutern. In Ilmenau gibt es ein Kulturzentrum an der Technischen Universität - früher war das ein Studentenklub -, in dem drei Leute arbeiten, die versuchen, gemeinsam mit Menschen aus dem Landkreis, mit Jugendlichen und mit Studenten Jugendarbeit zu machen. Finanziert wurden sie nach dem § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes. Niemand ist in der Lage, den notwendigen zehnprozentigen Eigenanteil zu erbringen. Das bedeutet, daß dieses kleine Projekt stirbt. Das sind nur drei von tausend Stellen allein in Thüringen, die gefährdet sind.
Ich vermute, daß es da wieder brennen wird. Wenn ich mir das anschaue, kann ich die Hitze schon spüren, die dort entsteht, Wenn wir uns hier hinstellen und sagen, das müssen andere lösen, dann wird es, glaube ich, große Probleme geben.
Damit bin ich beim lieben Geld, und damit bin ich auch bei dem Punkt, daß der Kollege Finanzminister nicht anwesend ist. Es ist völlig richtig: Jugendarbeit muß zu einem großen Teil über Kommunen laufen. Aber das Problem ist, daß die Qualität und die Standards von Jugendarbeit nicht so klar definiert sind wie beispielsweise ein Kindergartenplatz, so daß Jugendzentren letzten Endes ganz oft zum Spielball einer kommunalen Haushaltskonsolidierung werden. Ich will nicht mit dem Finger auf andere zeigen; denn Länder und Bund tragen hier nun einmal die Mitschuld. Wie viele Pflichten werden den Kommunen dauernd aufgebürdet? Darf man sich da wundern, wenn die Kommunen von den neuen Pflichtaufgaben erdrückt werden und die Jugendarbeit nicht in den Griff bekommen?
Es gibt eine Menge Kommunalpolitiker - gerade in den neuen Ländern habe ich viele kennengelernt -, die sich wahnsinnig anstrengen. Es gibt einen breiten Konsens darüber, daß die Jugendarbeit nicht einbrechen darf. Aber es gibt auch eine Finanzsituation bei den Kommunen, die diesen Kurs nicht mehr lange möglich macht. Das müssen wir im Bundestag zur Kenntnis nehmen. Wir müssen Angebote machen und dürfen die Leute nicht im Regen stehenlassen
Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung gesagt: Wir müssen für die kommenden Generationen haushaltspolitisch sparen. „Kommende Generationen" ist eines seiner Lieblingsworte. Ich glaube, auch hier hat er wieder eine ideologische Nebelkerze geworfen. Denn was hier tatsächlich passiert - das Zurückfahren von Bundesprogrammen -, ist nicht das Sparen für, sondern das Sparen bei kommenden Generationen. Das ist im doppelten Sinne, wie ich finde, ziemlich ärgerlich. Man sagt den Leuten, die heute unter dieser Sparpolitik zu leiden haben: Wir sparen für eure Zukunft. Zugleich schafft man es aber nicht - das sollten Sie in Ihre Haushaltsberatungen mitnehmen -, kommenden Generationen - jungen Leuten, die heute schon leben -, einen vernünftigen Haushalt für die nächsten Jahre zu hinterlassen. Daran sieht man auch den Widersinn der Finanzpolitik der Bundesregierung.
Der Jugendbericht setzt sich ja nicht nur mit Problemgruppen auseinander, sondern zeichnet auch ein Bild von jungen Leuten. Da wird gesagt, es gebe eine Menge junger Leute, die optimistisch sind und in diesem Einigungsprozeß etwas bewegen wollen. Das ist völlig richtig; das beruhigt mich allerdings nicht, da diese Bundesregierung keine konkreten Angebote dazu macht, wie junge Leute an diesem Einigungsprozeß teilhaben sollen.
Ich selber mache seit 1989 Politik. Ich kenne Politik nur aus Sicht des vereinten Deutschland. Ich habe das nie vorher gemacht. Ich sehe aber viele meiner Altersgenossinnen und Altersgenossen, die fragen: Was will dieser Bundestag eigentlich von uns? Sie sagen, diese Institution interessiere sie nicht mehr. Die sind nicht politikverdrossen, weil die sehr wohl raffen, was los ist. Die verstehen das. Sie kennen die Probleme; sie sehen, wie mit ihnen umgegangen wird.
Ich bin also ein bißchen in einer kuriosen Situation, weil ich immer sage, der Bundestag schaffe es noch nicht so richtig - das Kabinett scheint ja sowieso nicht interessiert zu sein -, aber wir müßten mehr Angebote machen. Wir müssen deutlicher die Hand reichen, und wir müssen das konkreter machen. Da
Matthias Berninger
sind die Partizipationsangebote, die Sie, Frau Nolte, angesprochen haben, völlig richtig. Das ist ein Weg; aber das ist eben nur einer. Wir sollten uns gemeinsam Gedanken über noch mehr Angebote machen, weil sonst die Wahlbeteiligung noch weiter sinkt, und zwar, wie ich behaupte, ins Bodenlose.
Wenn der Herr Bundeskanzler von Jugend redet, dann spricht er immer davon, daß man die junge Generation mehr in die Pflicht nehmen müsse. Wenn Herr Schäuble über junge Leute schreibt, dann zeichnet er das Bild des folgsamen konservativen Jugendlichen, den er sich so als Traum vorstellt. Im Kleinen gipfelt das dann in Äußerungen wie der des Kollegen Lintner, der zu Beginn dieser Woche gesagt hat, er finde die Techno-Discos sehr suspekt und wolle den Kids verbieten, in diese Techno-Discos zu gehen.
- Ich vermute es nicht.
Es ist Luther zitiert worden, gestern auch Schiller; das fand ich o.k. In diesem Zusammenhang sollten Sie, Frau Nolte, im Kabinett und ich hier im Bundestag aber auch andere zitieren. Ich nehme einmal Pink Floyd. Pink Floyd hat in einem Text geschrieben: „We don't need no education, we don't need no thought control." Das ist Ihre Rolle! Wir sollten nicht die Objektsicht der älteren Herren nach außen verkaufen, sondern dem etwas entgegensetzen und deutlich machen, daß wir eben keine knetbare Masse sind, daß wir auch keine Leute sind, die all das machen, was die älteren Damen und Herren dieses Parlaments ihnen vorschreiben. Vielmehr sollten wir konkret Überlegungen anstellen, wie wir Dinge anders machen wollen.
Nehmen Sie das auch mit, meine Damen und Herren, wenn wir in der nächsten Woche über den Klima-Gipfel diskutieren.
Ich danke Ihnen.
Das Wort erhält jetzt der Kollege Lanfermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Fischer, ich freue mich ja über Ihren Zwischenruf. Aber ich glaube, manchmal sehen Sie gegenüber mir sogar ganz alt aus.
Ich glaube, in dem Bemühen, hier etwas zum Thema beizutragen, können wir uns alle nur übertreffen, auch unabhängig vom Alter. Ich würde Ihnen vorschlagen, sich öfter auf die Rednerliste setzen zu lassen oder sich vielleicht auch einmal aus Ihrem Sitz heraus zu einer Zwischenfrage zu bemühen - das fällt Ihnen ja sichtlich schwer, wenn man Sie so anschaut -; das wäre dann etwas kommunikativer, als wenn Sie hier immer nur dazwischenreden. Aber das nur am Rande!
Meine Damen und Herren, dieser Neunte Jugendbericht hat natürlich ein strukturelles Problem im Hinblick auf die Zukunft. Er beschäftigt sich - es ist richtig, daß das schon etwas spät ist - mit der Situation in den neuen Ländern. Ich glaube, in Zukunft wird es etwas besser sein, wieder Berichte zu haben, die die Gesamtsituation sehen, allerdings auch - selbst wenn es manchmal schwerfällt - im Vergleich zwischen den alten und den neuen Ländern, damit die Aufgaben für die Politik dann auch richtig beschrieben werden können.
Dabei habe ich das Gefühl, wenn ich mir den letzten Beitrag vor Augen halte, daß es leicht ist, sich hier ans Pult zu stellen und dieses und jenes zu fordern, was die Bundesregierung noch alles tun könnte, und zugleich zu sagen, man solle nicht Politik zu Lasten der jungen und der künftigen Generationen machen. Beides geht natürlich nicht. Man kann nicht auf der einen Seite eine Finanzpolitik kritisieren, die sparen muß, und andererseits lauter Forderungen stellen und der Bundesregierung vorwerfen, sie täte nicht genug. Das ist nicht so ganz die ehrliche Haltung.
Frau Niehuis, das gilt auch für Sie. Ich habe mit Interesse vernommen, was Sie gesagt haben, daß man nämlich die Politik für die Jugendlichen, was die finanziellen Zuwendungen angeht, nicht zu Lasten der Politik für Kinder beschränken solle. Wir haben dieses Thema im nordrhein-westfälischen Landtag in den letzten Jahren mehrfach angemahnt, weil die von der SPD geführte Landesregierung dort im Begriff ist, genau dies zu tun. Also manches, was hier gesagt wird, richtet sich vielleicht eher an die Länderregierungen als an die Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, daß Jugendpolitik Zukunftspolitik ist, ist sicher mehr als ein Gemeinplatz, und die Lebensqualität der Familien, in denen Kinder und Jugendliche aufwachsen, ist natürlich zunächst einmal das erste, was wir betrachten sollten.
Erlauben Sie mir, daß ich neben all den kritischen Stimmen, die wir gehört haben, vielleicht auch einmal etwas Positives in diese Debatte einbringe. Da wollen wir zunächst einmal festhalten, daß sich bei allem, was noch zu tun ist, und bei allem, was noch zu kritisieren ist, die Lebenssituation der Menschen und der Familien insgesamt seit dem 1. Juli 1990 auch im Osten qualitativ und materiell entscheidend verbessert hat.
Heinz Lanfermann
Wenn Sie hier kritische Stimmen aufnehmen, an denen natürlich etwas Wahres dran ist, dann möchte ich aber auch sagen, daß sich z. B. allein zwischen 1991 und 1993 der Anteil der Ehepaare mit Kindern, die ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen von mehr als 3 000 DM haben, von 25 % auf 68 % erhöht hat. Das Statistische Bundesamt - das sind ganz unverdächtige Zahlen - hat für Alleinerziehende errechnet, daß 59 % zwischen 1 000 und 2 500 DM zur Verfügung haben und 25 % mehr als 2 500 DM. Das ist noch nicht mit dem Durchschnitt im Westen zu vergleichen, aber es zeigt doch, daß wir auf dem richtigen Wege sind. Man muß die Fakten natürlich innerhalb einer vernünftigen Zeitschiene bewerten und darf nicht einfach nur generell Kritik üben, ohne zu sehen, wie die Situation vorher war.
Ich darf auch daran erinnern, um noch etwas Positives zu sagen, daß immerhin das Bildungssystem komplett umgestellt werden mußte. Da ist ein ganz wichtiger Punkt, wenn wir hier über die Situation von Jugendlichen sprechen. Ich bin auch stolz darauf, daß es immerhin liberale Bildungsminister waren, die es geschafft haben, daß die neuen Länder in das gemeinsame Bildungs-, Wissenschafts- und Forschungssystem im vereinten Deutschland integriert werden konnten.
Meine Damen und Herren, es sind Milliardensummen, die wir auch für Hochschulerneuerungsprogramme und Erhaltungsmaßnahmen in den ostdeutschen Hochschulen ausgegeben haben.
Ich möchte mich jetzt auf ganz wenige Punkte beschränken, weil der Kollege Türk in der nächsten Runde auf die Situation im Osten noch einmal eingehen wird. Ich will nur noch einmal auf das Thema Ausbildungsplätze zurückkommen. Es ist natürlich so, daß man immer den Wunsch hat, es könnte vielleicht noch etwas mehr sein
oder daß jeder wirklich seinen gewünschten Ausbildungsplatz bekommt. Das ist aber nicht einmal im Westen möglich. Es ist ein großer Erfolg, daß man es in den letzten Jahren geschafft hat, in der tatsächlichen Situation die Probleme zu bewältigen.
Frau Kollegin Niehuis, Sie können nicht die Perspektiven, die die Leute an die Wand malen, was Uns droht, in einem Satz bringen zusammen mit dem, was die Bundesregierung tatsächlich getan hat. Es ist ein Unterschied zwischen Perspektiven, selbst wenn sie bedrohlich sind, und dem, was an praktischer Arbeit zunächst einmal geleistet wird. Da zählt das, was getan wird, und nicht das, was Sie für die Zukunft schwarz an die Wand malen.
Meine Damen und Herren, die 440 000 selbständigen Unternehmen, die bis Ende 1993 in Ostdeutschland gegründet worden sind, die 3 Millionen Arbeitnehmer beschäftigen, die 11 000 Unternehmen des
industriellen Mittelstandes mit bis zu 500 Beschäftigten sind natürlich die Punkte, die zählen. Das sind die Ausbildungsplätze, die es tatsächlich gibt und auch auf Dauer gibt.
Ein letztes Wort. Es ist natürlich richtig, daß man in einer Übergangssituation, die wir haben und die natürlich auch länger dauert, durch Arbeitsmarktpolitik und durch Beschaffungsmaßnahmen und Übergangsmaßnahmen natürlich etwas tun muß, damit überhaupt Plätze zur Verfügung stehen. Aber auf Dauer helfen wirklich nur Arbeitsplätze, die sich selbst tragen, die sich am Markt behaupten können, die wirtschaftlich gesund sind. Das sind vornehmlich mittelständische. Es ist unsere Politik, praktisch etwas zu tun, damit sich Arbeitsplätze am Markt behaupten können, die auch wirkliche Zukunftsperspektiven für die Jugend bieten. Auch das ist wichtig. Deswegen wollte ich auch noch etwas Positives in die Debatte einbringen, die leider von der Seite der Opposition meiner Ansicht nach etwas zu negativ geführt worden ist.
Vielen Dank.
Als nächste spricht die Kollegin Rosel Neuhäuser.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem Neunten Jugendbericht und der Stellungnahme der Bundesregierung dazu, die eigentlich Gegenstand parlamentarischer Erörterungen in der letzten, also in der 12. Wahlperiode hätte sein sollen. Ich werde hier keine Vermutungen darüber anstellen, warum das nicht der Fall gewesen ist. Allerdings sollte der Bundestag darauf bestehen, daß der folgende, der Zehnte Jugendbericht noch in der 13. Legislaturperiode ins Parlament kommt.
Es ist vorhin schon mehrfach deutlich geworden, daß die Analyse, die diesem Bericht zugrunde liegt, die realen Situationen einschätzt. Deshalb kann ich es eigentlich nicht verstehen, daß der Kollege Dehnel die Geborgenheit in der ehemaligen DDR derart darstellt. Ich will keine Nostalgie und will auch nichts schönreden. Aber die Zahlen und Fakten, die in diesem Bericht aufgenommen wurden, machen doch eigentlich vieles deutlich.
Der vorliegende Jugendbericht beschreibt in umfassender Form die Situation der Kinder und Jugendlichen in den neuen Bundesländern. Viele Details werden Gegenstand der Diskussion in den Ausschüssen sein, wie dies auch Frau Niehuis vorhin schon zum Ausdruck brachte. Ich denke, auch wir können uns einbringen, vieles unterstreichen oder anderes deutlich machen und fordern.
Die Mehrzahl der Daten und Einschätzungen des Berichtes standen bereits Mitte 1993 fest. Auch wenn die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme einen anderen Eindruck zu vermitteln sucht: Die Lage hat
Rosel Neuhäuser
sich nicht entspannt - im Gegenteil. Sicher, der Bund hat seit 1990 umfangreiche Mittel für den Kinder- und Jugendbereich in den neuen Bundesländern bereitgestellt, und das Geld ist auch geflossen.
Aber effektiver Mitteleinsatz hängt auch und in erster Linie von Konzeptionen ab. Eben da liegt das große Problem der Bundesregierung bzw. des zuständigen Ministeriums.
Wenn Sie versuchen - so wie es auch im Bericht dargestellt -, in 40 Jahren gewachsene Strukturen, Formen und Instrumente unreflektiert auf eine andere gesellschaftliche Realität zu übertragen, die Sie kaum in Ansätzen verstehen oder verstehen wollen, dann kann das nur ins Auge gehen. Ein Beispiel hierfür sind die in der Stellungnahme hochgelobten Sonderprogramme, nämlich das Aufbauprogramm freier Träger.
Entsprechend den Vorgaben des Kinder- und Jugendhilfegesetzes wurden z. B. in Thüringen in den letzten Jahren eine Reihe von Angeboten der Jugendhilfe geschaffen. Die hundertprozentige Förderung der Stellen bei einer Vielzahl von kleinen Trägern, Neugründungen und Jugendinitiativen machte es möglich, mit der Entwicklung von dezentralen, pluralen Strukturen in der Jugendarbeit zu beginnen. Engagiert gingen die Mitarbeiter daran, wesentliche Voraussetzungen für langfristig angelegte Angebote, z. B. im Jugendfreizeitbereich, zu schaffen.
Die Akzeptanz bei den Kindern und Jugendlichen war da, doch die Freude währte nur kurz. Die 1995 auslaufende Förderung bedeutet für viele kleine Träger das gnadenlose Aus.
Hier geht mehr kaputt als ein Jugendtreff oder ein Verein.
Eben mühsam geschaffene Strukturen brechen zusammen, neue haben kaum Chancen auf Entfaltung.
Was bleibt, sind Enttäuschung und Frustration bei allen Beteiligten:
Engagement lohnt sich doch nicht! Auf längere Sicht - die dem Familienministerium aber offensichtlich abgeht - wird der Verlust von Vertrauen in die Politik und die Politiker teurer als eine Fortsetzung der Förderung. Denn was heute an präventiver Jugendarbeit versäumt wird, kostet später beim Reparieren - das wissen wir alle - meist das Doppelte oder das Dreifache.
Ich hoffe daher inständig, daß es uns gelingt, ein Auslaufen des Aufbauprogramms freier Träger und auch der Maßnahmen nach § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes zu verhindern. Jugendpolitik braucht eine kontinuierliche, langfristig gesicherte und großzügige Finanzierung.
Wer in diesem Bereich spart, bezahlt am Ende teuer, mit der Zukunft einer Gesellschaft.
Der Neunte Jugendbericht macht eines deutlich: Es ist dringend an der Zeit, daß das Bundesministerium seine großen Worte von der „Jugendpolitik, die ein Schwerpunkt der Regierungspolitik bleibt", mit tragfähigen Konzepten und angemessenen finanziellen Mitteln untersetzt. Benötigt wird ein Politikansatz, der Jugendpolitik als gesellschaftliche Querschnittsaufgabe begreift und gestaltet. Niemand erwartet von Frau Bundesministerin Nolte, daß sie die in der Tat komplexen Probleme im Kinder- und Jugendbereich allein mit ihrem Ressort bewältigt. Doch sollten wir zumindest erwarten können, daß die Familienministerin jugendpolitisch relevante Probleme gegenüber ihren Amtskollegen offensiv und nachdrücklich vertritt.
Ein solches Problem sind Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Jugendliche. Das ist aus unserer Sicht - wie eben auch schon deutlich geworden - ein jugendpolitisches Schwerpunktthema, das geradezu auf den Nägeln brennt.
Der Streit zwischen Bund und ostdeutschen Ländern über die Lehrstellenfinanzierung ist in vollem Gange. Bei 10 % mehr Ausbildungssuchenden, 3,7 % weniger Ausbildungsplätzen und einer Bundesregierung, die nicht bereit ist, die Aufgaben der Wirtschaft zur Schaffung von Lehrstellen zu übernehmen, bleiben in diesem Jahr die Erwerbs- und Bildungsbiographien Tausender junger Menschen mit Sicherheit auf der Strecke.
Sicher können und müssen der Bund und die Länder auch im öffentlichen Dienst Ausbildungsplätze schaffen. Wichtiger ist allerdings, daß der Bund Unternehmen über Steuer- und Finanz- oder auch andere Maßnahmen zur Schaffung von Ausbildungsplätzen motiviert. Es kann doch nicht sein, daß in dem Opel-Werk in Eisenach - ein Beispiel aus meiner Heimat -, das über 2 000 Beschäftigte hat, ganze zehn Ausbildungsplätze für junge Leute zur Verfügung stehen.
Ich muß allerdings zugeben, daß mich der bisherige Umgang der Bundesregierung mit dem Jugendbericht sehr pessimistisch gestimmt hat. Die unglaubliche Blauäugigkeit, Ignoranz und Selbstzufriedenheit, die aus vielen Einschätzungen spricht, ist schon erschreckend, vor allem angesichts der Vielzahl von drängenden Problemen. So kann ich z. B. die „hohe generelle Zufriedenheit mit dem eigenen Leben" nicht konstatieren.
Rosel Neuhäuser
Kinder und Jugendliche sind sehr wohl geprägt und auch beeinflußt von der Angst der Eltern vor dem Verlust des Arbeitsplatzes; sie erleben wieder, daß Kritik nicht erwünscht ist - also: „Kopf runter und Mund halten! ". Sie sind weiterhin geprägt von dem Erleben, daß Arbeitslosigkeit Resignation und Isolation bedeutet - teilweise auch Verschuldung der Familie -, und von der Unsicherheit sie umgebender Menschen, vor allem der Frauen und Mädchen, die sich in sinkenden Geburtenraten, einer steigenden Zahl von Sterilisationen, einer Arbeitslosigkeit von über 60 % sowie in der Tatsache ausdrückt, daß Frauen mit 31 % überproportional von Sozialhilfe abhängen. 46 % der Kinder in Ostdeutschland leben in Haushalten, die Sozialhilfe erhalten.
Der Bericht informiert über einen deutlichen Wertewandel, auf den die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme nicht eingeht. Wir halten deshalb eine Novellierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes für dringend erforderlich, in der die bisherigen Erfahrungen aus den neuen Bundesländern berücksichtigt werden und in die die entsprechenden ostdeutschen Institutionen und Organisationen einbezogen werden. Wichtig sind hier verbindliche Festlegungen für alle Leistungs- und Aufgabenbereiche der Kinder- und Jugendhilfe.
Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf, daß ihre speziellen Belange in den bundes-, landes- und kommunalpolitischen Entscheidungen berücksichtigt werden. Sie sind keine Verwaltungsgröße, sondern ein aktiver Teil unserer Gesellschaft. Sie brauchen Freiräume, in denen sie Verantwortung übernehmen können, und reale Chancen auf die Mitgestaltung ihrer Lebensumwelt.
Wir fordern die Bundesregierung mit allem Nachdruck dazu auf, ihre Stellungnahme zum Neunten Jugendbericht zu überdenken und entsprechende politische Entscheidungen zu treffen. Die Zukunftschancen einer Gesellschaft lassen sich am Umgang mit ihrer Jugend ablesen.
Danke.
Als nächster hat jetzt der Abgeordnete Klaus Riegert das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung unternimmt erhebliche finanzielle Anstrengungen, um die neuen Länder und ihre Gemeinden in die Lage zu versetzen, eine freie Wohlfahrtspflege und eine freie Jugendarbeit aufzubauen.
Verbände, Initiativen und freie Träger sind Rückgrat der Jugendpolitik in einer freien Gesellschaft.
Im Gegensatz zur öffentlichen Jugendhilfe als Aufgabenbereich der kommunalen Selbstverwaltung erweist sich der Aufbau pluraler Trägerstrukturen in den neuen Ländern als schwierig. Warum? Freie Träger spielten in der alten DDR keine Rolle. Im Gegensatz zur Vielfalt der Jugendverbände in der alten Bundesrepublik gab es in der DDR neben kirchlichen Verbänden nur die FDJ als Monopolverband, verpflichtet dem Programm und den Beschlüssen der SED. Hier herrschte das Prinzip der „freiwilligen Zwangsmitgliedschaft" . Durch ihr Leben in der DDR waren junge Menschen daran gewöhnt, nicht nur bevormundet und gegängelt, sondern in hohem Maße auch versorgt und betreut zu werden.
Vor diesem Hintergrund muß der Aufbau der freien Wohlfahrtspflege und einer freien Jugendhilfe gesehen werden. Wesentliche Hilfen wurden den neuen Ländern und Kommunen über den Fonds Deutsche Einheit, das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost und die kommunale Investitionspauschale geleistet. Darüber hinaus hat der Bund - ich betone: übergangsweise - Angebots- und Leistungslücken von Ländern und Kommunen auch im Sozial-, Kultur-, Sport- und Freizeitbereich durch gezielte Förderprogramme, Zuwendungen und andere Hilfen zu überbrücken und auszufüllen versucht. So enthält der Kinder- und Jugendplan des Bundes kommunale und landesspezifische Fördermaßnahmen für die neuen Bundesländer. Er soll die fachlichen und finanziellen Schwierigkeiten dort überwinden helfen.
Die 1991 um rund 48 Millionen DM aufgestockten Mittel im Kinder- und Jugendplan hat das Jugendministerium Jahr für Jahr fortgeschrieben. Danach erhalten auch die Jugendverbände einen erheblichen Anteil für zusätzliche Aufgaben in den neuen Bundesländern.
Es ist ein Erfolg, daß ein großer Teil der bislang vom Bund aufgebrachten Sondermittel in den Kinder- und Jugendplan überführt und fortgeschrieben werden konnte. Dies als Verringerung zu bezeichnen ist eine unzulässige Verkürzung der Wahrheit.
Die SPD kennt die korrekten Zusammenhänge.
Vergleicht man die Fördermittel von 1985 mit dem Volumen 1995, so stellt man fest, daß die Mittel für den Bundesjugendplan um 87 % von 111 Millionen DM auf 208 Millionen DM erhöht wurden. Dies ist mehr als der zwischenzeitliche Zuwachs der Fördersätze.
Meine Damen und Herren, es stand von vornherein fest, daß die Sondermittel mit zunehmender Leistungsfähigkeit von kommunalen Jugendämtern und Landesjugendbehörden reduziert werden sollten. Dies erfordern schon unsere föderale Verfassung und die korrespondierende Finanzverfassung, die für die Kommunen und die Landesparlamente nicht nur eigenständige Aufgaben, sondern auch die dafür erforderlichen Mittel vorsehen.
Klaus Riegert
Mit der von den Ministerpräsidenten der alten und der neuen Bundesländer einheitlich begrüßten Neuordnung des Bund-Länder-Finanzausgleichs ab 1995 ist der Zeitpunkt gekommen, zu dem die neuen Länder nun die Finanzierung ihrer eigenen Aufgaben und Zuständigkeiten zu übernehmen haben. Es geht nicht an, immer neue, zusätzliche Finanzierungsanforderungen an den Bund nachzuschieben, gleichgültig ob mehr Geld für Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit oder Kindergärten gefordert wird.
Sie vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN offenbaren hier ein gestörtes Verhältnis zu unserer Verfassung.
Unsere Hinweise auf die verfassungsgemäße Kompetenzverteilung, auf die Systemwidrigkeit und auf die verfassungsrechtliche Problematik von Sonderprogrammen sind keine - wie Sie in Ihrem Antrag formuliert haben - formalistischen Hinweise und Verweise.
Auch die Sozialdemokraten haben Probleme mit unserer föderalen Ordnung, da sie immer wieder an der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung vorbei Geld vom Bund fordern.
Wir werden solche Vorschläge nicht aufgreifen - Herr Fischer, hören Sie ruhig zu -; ganz abgesehen davon sind offensichtlich genügend Finanzmittel vorhanden. Der Magdeburger SPD-Finanzminister Wolfgang Schaefer entdeckte beim Kassensturz 1,4 Milliarden DM in seinem Haushalt, die 1994 nicht ausgegeben wurden. Mit Blick auf die Transfers in die neuen Bundesländer meinte er: Innerhalb von fünf Jahren kann man so viele hundert Milliarden Mark nicht sinnvoll ausgeben. - Ich meine, man könnte sie sinnvoll ausgeben, zumindest einen Teil in der Jugendhilfe. Auch sonst sind genügend sinnvolle Aufgaben vorhanden.
Die Probleme liegen woanders. Die Bereitschaft junger Menschen, sich in Staat und Gesellschaft zu engagieren, ist nach Auskunft des Neunten Jugendberichts nicht sehr verbreitet. Diesen Sachverhalt illustriert folgendes Beispiel: Nachdem ein Haus für die jugendlichen Punks der Stadt zur Verfügung stand, war keiner der Jugendlichen bereit, die Verantwortung zu übernehmen und den Mietvertrag zu unterschreiben oder sich mit den erforderlichen rechtlichen Bestimmungen auseinanderzusetzen.
Es gibt zwar Ansätze zur Selbstorganisation, aber noch kommt dem Jugendamt die Rolle des Zugpferdes zu.
Mit der Bildungsoffensive Ost haben wir ein Projekt zur umfassenden Vermittlung von Wissen und Können für die Sportjugend in den neuen Bundesländern gestartet. Durch eine Fülle von Bildungsveranstaltungen für ehren- und hauptamtliche Helfer in den neuen Ländern hat diese Maßnahme wesentlich zum Aufbau von Sportjugendverbänden beigetragen.
Die vom Neunten Jugendbericht vorgelegte fachliche Bilanz ist ermutigend. Betrachtet man den heutigen Stand des Aufbaus der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern, so kann festgestellt werden, daß strukturell wichtige Rahmenbedingungen für eine KJHG-konforme Jugendhilfe geschaffen wurden. Nach wie vor müssen jedoch zentrale Prinzipien einer präventiven, plural organisierten und an den Interessen der Betroffenen orientierten Jugendhilfe eingefordert werden. Hier sind besonders die Länder und die Kommunen in der Pflicht. Wir werden sie aus dieser Pflicht nicht entlassen.
Kollege Thomas Krüger hat das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich beginne mit einer kurzen summarischen Aufzählung. 74 Abgeordnete folgen dieser Debatte. Auf den Bänken der Regierung sitzt eine Ministerin. Aus dem Heer der Parlamentarischen Staatssekretäre sind immerhin zwei anwesend. Dieses spiegelt wider, welchen geringen Stellenwert die Jugendpolitik in unserem Land und auch im Bereich der Bundesregierung hat. Das ist sehr bedauerlich.
Ich hätte mir gewünscht, daß der Kanzler aller Deutschen auch der Kanzler aller Jugendlichen ist und hier auf seinem Sitz zu finden ist.
Aber mich tröstet, daß er weiß, daß derjenige, der die Jugend hat, auch die Zukunft hat. Der Kanzler hat aber nicht die Zukunft, und er will sie offenbar auch nicht. Sonst wäre er hier.
Meine Damen und Herren, man kann zwar nicht sagen, daß die Jugend der Verlierer der deutschen Einheit ist - denn Jugendliche nutzen die Chancen
Thomas Krüger
und die neuen Freiheiten -, aber die Jugend ist die vergessene Generation der deutschen Einheit. Das wird aus dem vorliegenden sehr realistischen Bericht der Sachverständigen deutlich.
Herr Riegert, ich frage mich, aus welchem Grund Sie sich durch die Lektüre dieses Berichts ermutigt fühlen können. Wahrscheinlich beruht Ihr Eindruck weniger auf dem Jugendbericht selbst, den Sie offenbar nicht gelesen haben - dann hätten Sie nämlich den einen oder anderen Schrecken bekommen müssen -, sondern vielmehr auf der Stellungnahme der Bundesregierung, die den eigentlichen Sachverhalt systematisch verschleiert und kaschiert und nicht an die Oberfläche läßt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Riegert?
Aber selbstverständlich. Meine erste Zwischenfrage.
Herr Kollege Krüger, da Sie mir gerade vorgeworfen haben, daß ich den Neunten Jugendbericht nicht gelesen hätte, frage ich Sie, ob Sie den Antrag der SPD gelesen haben, weil auch die SPD in ihrem Antrag sehr wohl positive Ansätze in der Jugendarbeit erkannt hat.
Herr Abgeordneter, daß wichtige Ansätze entstanden sind, erklärt sich ganz einfach daraus, daß man im Grunde von Null angefangen hat bzw. den gesamten Jugendhilfebereich umstrukturiert hat. Das ist in der Tat in diesem Bericht erkennbar.
Aber es ist auch erkennbar - das ist das eigentlich Bedauerliche -, daß seitens des Bundes, der Länder und der Kommunen viel zu wenig getan worden ist, um den Charakter der Jugendpolitik als fünftes Rad am Wagen der Politik zu beenden und dem etwas Zukunftweisendes entgegenzusetzen.
Ich stelle fest, daß es so etwas wie eine neue Jugendfeindlichkeit in unserer Gesellschaft gibt. Jugendliche kommen als Störer, als Randalierer, als Graffiti-Schmierer, als diejenigen in den Blick, die laut und rücksichtslos sind und die falschen Parteien wählen. Jugendliche werden vornehmlich zum Objekt der von uns Erwachsenen erlebten und eingebildeten Freiheitseinschränkungen. Das fängt bereits in der Familie an, wenn das kleinste Zimmer zum Spielzimmer der Kinder gemacht wird, geht über den öffentlichen Stadtraum, wenn Jugendliche und Kinder
verdrängt werden, ihnen weniger Platz eingeräumt wird, und endet schließlich dabei, daß Ausbildungs- und Studienplätze abgebaut werden, weil uns beim Sparen die Jugendlichen immer zuerst einfallen.
Wir müssen nicht nur danach fragen, welche Probleme uns die Jugend macht, sondern vielmehr danach, welche Probleme die Jugend selbst hat. Denn Skandale und Provokationen der Jugend haben sehr viel mit uns und unserer Generation und unseren Wertmaßstäben zu tun. Wir dürfen deshalb der jungen Generation nicht in den Rücken fallen, sondern wir müssen ihr den Rücken stärken. Ein breit angelegter Generationenvertrag ist erforderlich. Das fängt beim vieldiskutierten Familienlastenausgleich an und reicht weiter in alle Politikfelder hinein. Jugendpolitik muß Querschnittspolitik sein und darf sich nicht selber in die Situation bringen, in der sich die Jugendlichen bereits befinden, nämlich sich ihr Recht erst einmal erkämpfen zu müssen.
Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme zum Bericht der Sachverständigen gesagt, sie wolle sich der Aktualität der Lage stellen. Man höre genau hin: Sie wolle die Evaluation unabhängiger Sachverständiger nutzen und sich herausfordern lassen. Tun Sie das, Frau Nolte, Sie haben unsere Unterstützung, wenn Sie über Appelle und über die bloßen Ankündigungen hinaus neue Politik machen! Wir brauchen eine neue Politik im Jugendbereich. Sie tragen die Verantwortung. Sie haben Gestaltungsspielraum.
Aber wir wissen alle: Zuständig für die Jugendpolitik sind die Länder und die Kommunen. Im Prozeß der deutschen Einheit hätten wir jedoch alle sagen können, daß die Wende es gebietet, daß der besonderen Situation der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern eine besondere Anstrengung der Bundesregierung entspricht.
An zwei Beispielen will ich Ihnen kurz skizzieren, wo die Bundesregierung dies getan hat, nämlich im Krankenhausbereich durch Ihren Kollegen Seehofer und im Bereich der Seniorenheime durch Ihre Vorgängerin im Seniorenbereich, Frau Rönsch. Dort sind mittelfristige Investitionsprogramme über zehn Jahre aufgelegt worden. Im Jugendhilfebereich ist gar nichts passiert. Die bauliche Substanz der Räume ist katastrophal. Im Grunde fehlen auch Räume. Wir müssen Investitionen im Jugendbereich vornehmen. Die Jugendpolitik umfaßt nicht nur konsumtive Ausgaben, sondern auch investive Ausgaben. Das müssen wir begreifen, um die Chancen der Jugend zum Zuge zu bringen.
Frau Ministerin, Ihre Beamten sprechen die Finanzierungsinstrumente an, die für die Kommunen im Osten unserer Republik bereitgestellt wurden. Da sind das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost, die kommunale Investitionspauschale und der Fonds Deutsche Einheit. Aber Sie wissen alle, daß diese Mittel direkt an die Länder und Kommunen übergeben worden sind und, angekommen in den Ländern
Thomas Krüger
und Kommunen, sich überhaupt nicht im Bereich der Jugendhilfe ausgewirkt haben, weil natürlich die Vertreter, die Dezernenten, die Minister im Jugendbereich keine Chance gehabt haben, von diesem Kuchen etwas abzubekommen. Die Verkehrspolitiker waren stärker, die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitiker waren stärker. Im Jugendhilfebereich ist somit faktisch sehr wenig passiert. Sie bzw. Ihre Vorgängerin hätten versuchen müssen, einen Sockel oder eine Quote bei diesen Investitionspauschalen einzurichten. Dann wäre auch die Garantie dafür gegeben, daß im Jugendbereich etwas ankommt. Angekommen ist jedenfalls herzlich wenig.
Was ABM und Maßnahmen nach § 249h Arbeitsförderungsgesetz betrifft, weiß jeder: Das sind notwendige Instrumente für die Übergangszeit gewesen. Aber die Jugendpolitik braucht Kontinuität und Qualität. Das bieten diese arbeitsmarktpolitischen Instrumente viel zu wenig.
Lassen Sie mich noch etwas zu den Sonderprogrammen sagen. „Sommer der Begegnung"; „Aufbau freier Träger"; zum AgAG-Programm ist schon etwas gesagt worden: Ich fand, „Sommer der Begegnung" und „Aufbau freier Träger" waren - das sage ich aus eigener Erfahrung als früherer Berliner Jugendsenator - Programme, die mit heißer Nadel genäht waren, waren Programme, die am Bedarf in den Kommunen und Ländern oft völlig vorbeigingen.
Da ist dann vielleicht der unionsnahe Jugendverein „Frischluft" auf die Jagd gegangen und hat in Thüringen und in Sachsen-Anhalt Jugendliche gesammelt und sie mit Jugendlichen aus den westdeutschen Bundesländern in Kontakt gebracht. Das ist ja alles ganz in Ordnung. Aber es ist sehr viel Geld dieses Programmes versandet, und das weiß ich durch die Besprechungen im Bereich der Jugendminister und der Beamten, die in diesem Bereich immer wieder darüber geklagt haben,
daß die Mittelansätze viel zu kurzfristig bereitgestellt worden sind und im Grunde überhaupt nicht strukturell gewirkt haben.
Beim „Aufbau freier Träger" gab es den Fortbildungsbereich. Sehr wichtig ist die Fortbildung von Mitarbeitern im Bereich der Jugendhilfe - zweifelsohne -, aber es ist so, daß diese Fortbildungsmaßnahmen die eigenen Ansätze von Fortbildungs- und Bildungsträgern in den neuen Ländern verstellt haben, weil die Tagessätze viel zu hoch waren und deshalb letztendlich die Arbeitsansätze, die vor Ort da waren, kaputtgemacht worden sind.
Ich glaube, daß hier erst am Schluß des Programmes einigermaßen eine Koordination zwischen Bundesprogramm und Ländern stattgefunden hat. Deshalb ist dieser Teil verhältnismäßig vertan gewesen. Man muß doch die Strukturen vor Ort fördern und
aufbauen und nicht durch solche Instrumente kaputtmachen.
Ich möchte schließlich noch ein Wort zum Bereich der Jugendklubs sagen. Es wird immer beklagt, daß in den neuen Ländern, in den großen Städten, in den Plattenbausiedlungen die Jugendklubs kaputtgegangen seien. Die Architektur in diesen Plattenbausiedlungen ist kinder- und jugendfeindlich. Das muß man ganz klar sagen. Es gibt in diesem Bereich keine geschützten Räume für Jugendliche.
Die wenigen vorhandenen Anlaufstellen sind oftmals kaputtgemacht worden. Es waren nicht der wirtschaftliche und ideologische Zusammenbruch, wie die Bundesregierung bzw. die Beamten Ihres Ministeriums, Frau Nolte, in die Stellungnahme hineinschreiben, die daran Schuld tragen, sondern ursächlich war in der Tat die Wende und die Situation, die ich vorhin schon angesprochen habe, nämlich das Recht der Stärkeren: In der Wendezeit hat sich sozusagen das Recht des Stärkeren auf die Tagesordnung gesetzt, und die Stärkeren haben sich natürlich die Jugendräume genommen. Sie haben sich die Räume angeeignet und für andere Zwecke verwandt - sicherlich für wichtige Zwecke -, aber jetzt steht man vor dem Ruin und hat oftmals keine Räume mehr. Das, denke ich, ist ein schwerwiegender Gesichtspunkt.
Sie sollten hier in diesem Bericht weniger kaschieren, als die Probleme beim Namen nennen. Das Problem ist ein strukturelles. Jugendpolitik ist das fünfte Rad am Wagen.
Da muß man etwas entgegensetzen. Ich nehme da keine der Parteien, die in diesem Parlament sind, von der Verantwortung aus; denn auch in Bund, Ländern und Kommunen tragen alle diese Parteien mehr oder weniger Verantwortung.
Ich komme zum Schluß: Die Jugendkulturarbeit, meine Damen und Herren, halte ich für einen ganz wesentlichen Ansatzpunkt. Sie haben gesagt, daß Sie neue Antworten, neue Impulse aufgreifen wollen. Jugendkulturarbeit sagt, daß man bei den Stärken der Kinder und Jugendlichen ansetzen will und nicht bei den Schwächen. Wenn man die Stärken fördert, selbstbewußte Kinder und Jugendliche unterstützt, dann hat Jugendkulturarbeit in der Tat einen Investitionscharakter. Diesen sollten wir versuchen auszubauen.
Für die Jugendsozialarbeit heißt das, daß sie nicht aufgehoben werden sollte, sondern daß ihre Arbeitsbereiche enger umrissen werden sollten, beispielsweise im Bereich der Jugendberufshilfe für benachteiligte Jugendliche. Jugendkulturarbeit ist einer der wesentlichen Gesichtspunkte, die wir fördern können.
Sie haben dazu die Möglichkeit, Frau Nolte. Sie können nämlich im Kinder- und Jugendplan des Bundes für den Bereich der Kinder- und Jugendkulturarbeit mehr Mittel als bisher zur Verfügung stel-
Thomas Krüger
len. Sie haben jedenfalls meine persönliche Unterstützung, wenn Sie sich da auch mit dem einen oder anderen Platzhalter im Bereich der Jugendhilfe anlegen und wirklich umverteilen. Jugendpolitik muß sich die Gestaltung auf die Fahnen schreiben und nicht die Bewahrung des Status quo. Dann wird es nämlich immer schlimmer.
Vielen Dank.
Jetzt erhält das Wort der Abgeordnete Jürgen Türk.
Das sowieso. Aber Sie sehen heute auch nicht unbedingt gerade jung aus - heute früh jedenfalls.
- Manchmal sieht man ganz schön alt aus. Das geht auch mir so.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Neunte Jugendbericht macht Schluß mit der leichtfertigen Bemerkung, daß die Jugendlichen durch ihre Unbefangenheit am leichtesten mit dem tiefgreifenden Wandel durch die deutsche Einheit fertig werden.
Nein, der Jugendbericht fordert: Wer es ernst meint mit der deutschen Einheit, sollte nicht nur Dankbarkeit verlangen, in Freiheit leben zu können, sondern erkennen, daß besonders der Jugend gezielt Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet werden müssen.
Der Bericht zeichnet dankenswerterweise ein differenziertes Bild. Wir müssen uns schon bemühen, die Vielfalt der Situationen genauer anzuschauen. Ich möchte bestimmte Punkte herausgreifen, die mich beim Lesen des Berichts berührt haben. So war ich natürlich neugierig, wie die Jugend die Politiker bewertet.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, unser aller Ruf ist nicht nur schlecht, sondern saumäßig. So urteilen 85 %, daß es sich bei unserer Arbeit nur um Geld und Betrug dreht. Das sollten wir ernst nehmen. Wir sollten sehen, wo die Ursachen dafür liegen. Den Parteien geht es dementsprechend. Es ist kaum Genugtuung, wenn PDS und Reps besonders schlecht abschneiden. Die Ohrfeige sitzt insgesamt.
- Doch, das zeigt der Bericht.
Noch zeigen sie ihren Frust durch Nichtwahl, dabei muß es aber nicht bleiben. Wir müssen die Chance ergreifen, mit den Jugendlichen trotz aller beruflichen Belastung, die wir auch haben - Sie wissen das -, ins Gespräch zu kommen.
- Doch, das hilft schon, um hereinzukommen.
Ich tue das zunehmend in Schulen. Wir führen gute Gespräche, aber die Vervielfältigung durch die Medien fehlt; denn ich kann nicht alle Schulen in Brandenburg besuchen, das ist unmöglich. Randale läßt sich eben in den Medien viel besser verkaufen. Das ist ein Punkt. Es ist nicht der einzige, aber ein Punkt.
Daß wir noch eine Chance besitzen, zeigt, daß die Annahme des demokratischen Systems von einer überwältigenden Mehrheit der ostdeutschen Jugend getragen wird. Über 84 % lehnen Gewalt als Konfliktlösung ab, und Frieden, Familie und Freiheit haben den höchsten Stellenwert.
Die ostdeutsche Jugend ist weit davon entfernt, in politischen Extremismus abzudriften, wie das manchmal behauptet wird. Aber es gibt ein besorgniserregendes politisches Integrationsdefizit. Hier sind wir alle gefordert - ich sagte das bereits -, nachzudenken, woran das liegt.
Wir können Vertrauen zurückgewinnen, wenn wir der Jugend einen noch viel höheren Stellenwert einräumen und nicht erst dann reagieren, wenn gewalttätige Minderheiten spektakuläre und medienwirksame Ereignisse inszenieren.
Da gebe ich Ihnen recht.
Aber der Bericht belegt auch trotz aller Kritik an den Gegebenheiten und an uns, trotz der tiefgreifenden Umbrüche und der schwierigen Wirtschaftslage einen unverrückbaren Optimismus. Die Jugend will die Zukunft meistern, will ihre Chance haben. Dabei sind vor allem die ostdeutschen Jugendlichen von einem Problem betroffen, das ihre Altersgenossen in Westdeutschland so extrem nicht kennen, nämlich von der Arbeitslosigkeit.
- Natürlich ist das ein Problem. - In der Gruppe der jungen Erwachsenen waren im Jahre 1993 mehr als 20 % arbeitslos, in Westdeutschland dagegen nur 3 %. Deshalb sind die Anstrengungen der Bundesregierung für immer mehr Beschäftigung richtig und müssen fortgesetzt werden.
Wir hatten erst vor kurzem die Debatte, daß das nicht mehr so sein sollte. Das ist mit das Wichtigste. Jede Mark, die jungen Menschen eine Perspektive gibt, ist gut ausgegeben.
Jürgen Türk
Wir müssen tatsächlich aufpassen, daß keine Investitionsruinen entstehen. Ich meine das nicht nur aus bautechnischer Sicht. Wie sollen sich diese Jugendlichen sonst mit unserem Staat identifizieren, wenn ihre größte errungene Freiheit die Freiheit von Arbeit ist.
Es beschämt mich, daß sich 36 % der ostdeutschen Jugendlichen als Bürger zweiter Klasse fühlen. Diese vom Bericht als kollektive Selbstdegradierung bezeichnete Gefühlslage verdeutlicht den Druck, der auf ostdeutschen Jugendlichen lastet. Selbstverständlich vergleichen sie sich mit den Jugendlichen im Westen und deren Perspektiven und fordern gleiche Chancen. Ich meine, zu Recht.
Wenn der Bericht die jungen Familien als die Verlierer der Einheit ausweist, die sich nicht zu Wort gemeldet haben, wundert es mich nicht, daß die Geburtenrate in dieser Umbruchphase drastisch zurückgegangen ist und zurückgeht. Die jetzt gefundene Regelung des Familienlastenausgleichs war darum besonders aus ostdeutscher Sicht mehr als richtig.
Notwendig ist auch eine Jugendpolitik, die noch mehr auf die Bedürfnisse der Jugend eingeht. Wenn man sich den Vergleich der Einkommen von Jugendlichen in den alten und neuen Bundesländern ansieht, erkennt man, daß man sich die privaten Freizeiteinrichtungen, die gewachsen sind, nur in begrenztem Umfang leisten kann. Also brauchen wir weiterhin Überbrückungsinstrumente.
Ich hoffe, man wirft mir nicht Verschwendung vor, wenn ich mir die Forderung der Jugend zu eigen mache, daß die Kommunen kommunale Jugendfreizeitstätten schaffen müssen. Weitere Investitionen in die Wirtschaft sind wichtig, sie sind aber nicht alles.
Zum Schluß möchte ich kurz auf den Abschnitt Rechtsradikalität und Ausländerfeindlichkeit bei Jugendlichen im Osten eingehen. Wie meine vorangegangenen Ausführungen schon deutlich machten, handelt es sich um ein Minderheitenproblem. Der Bericht belegt, daß die ostdeutsche Jugend nicht von Rechtsextremismus infiziert ist. Aber ich möchte nichts herunterspielen. Laut Bericht haben 18 % ein gewisses Verständnis für Gewalt gegen ausländische Mitbürger. Das muß nachdenklich machen. Diese Problematik aber nur auf die Jugend abzuwälzen ist unfair, denn Jugend artikuliert ihre Meinung nur drastischer. 40 Jahre DDR-Inselmentalität prägen. Gewürzt mit den derzeitigen Arbeitsplatzängsten und einem geringen Selbstwertgefühl, entstehen daraus dann natürlich Vorurteile. Das entschuldigt keine Gewalttat, aber es erklärt zum Teil deren Entstehung.
Präventions- und Aufklärungsmaßnahmen sind das eine. Das andere sind Arbeitsplätze, Lehrstellen, Studienplätze und Freizeitangebote, sind Entfaltungsmöglichkeiten, die wir den Jugendlichen schaffen müssen.
Es ist - das muß man schon feststellen - in den letzten Jahren viel getan worden, aber es ist noch mehr als bisher zu tun. Packen wir es also gemeinsam an, wie man so schön sagt. Packen wir es mit den Jugendlichen gemeinsam an!
Der Neunte Jugendbericht ist natürlich nicht bequem, aber eine gute Grundlage dafür.
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Monika Brudlewsky.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man soll nicht ständig zurückschauen, aber man muß die Vergangenheit aufzeigen, um die jetzige Situation umfassend zu erklären. Der Jugendbericht gibt dazu auf einigen Seiten eine gute Möglichkeit.
Lebensläufe waren in der DDR vorgegeben. Kinderkrippe, Kindergarten, Hort, Pioniergruppe, FDJ- Nachmittage und Arbeitsgemeinschaften zwängten die Jugendlichen in ein festes Reglement, an das sich jeder gewöhnt hatte. Beim Berufswunsch gab es große Einschränkungen, aber letztlich bekam man eine Lehrstelle, egal ob man diesen Beruf wollte oder nicht. Es gab schließlich das Recht - und die Pflicht - auf Arbeit. Jetzt ist ein Mädchen in der Lage, aus einer Vielzahl von Berufen auswählen zu können.
Eine Lehrstelle ist bei der freien Berufswahl damit allerdings nicht gewährleistet. Während es zu DDR- Zeiten sehr schwierig war, überhaupt einen Studienplatz zu bekommen,
vor allem wenn der politische Standpunkt nicht mit dem Staat konform war - ich habe es selbst erlebt -,
so hat ein junges Mädchen nach dem Abitur heutzutage ein breitgefächertes Studienangebot, das durch die BAföG-Förderung auch bei finanziellen Schwierigkeiten gewährleistet ist.
Außer in das sozialistische Ausland waren Reisen für uns in der Jugend unmöglich. Ganz anders heute. Die Welt steht den jungen Menschen offen. Durch Förderprogramme des Bundes und der EG sind auch Auslandsaufenthalte während der Ausbildung möglich.
Im Gegensatz zu heute, wo sich durch die gründlichen Ausbildungen das Heiratsalter merklich nach hinten verschiebt, erfolgte die Familiengründung in der DDR in sehr jungen Jahren. Der Vergleich im Ju-
Monika Brudlewsky
gendbericht zwischen Schulausbildung von Jungen und Mädchen läßt deutlich werden, daß gerade auch zu DDR-Zeiten die Mädchen in traditionelle Frauenberufe gedrängt wurden. So gab es die geschlechtsspezifische Struktur einzelner Arbeitsbereiche, die durchaus eine Mitschuld hat, daß nach der Wende bei Auflösung solcher Arbeitsbereiche unverhältnismäßig viele Frauen arbeitslos wurden. Frauenbranchen waren auch in der DDR Niedriglohnbranchen. Es ist nicht spezifisch für die Bundesrepublik, daß auf höheren Leitungsebenen weniger Frauen zu finden sind. In der DDR war es nicht anders.
So ist es eine interessante Feststellung, daß Frauen auch von der politischen Macht zu DDR-Zeiten weitgehend ausgeschlossen waren. So gab es z. B. niemals ein weibliches Vollmitglied im Politbüro des ZK der SED.
Frau Brudlewsky, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Krüger.
Ich möchte keine Frage zulassen; nein.
Anerkannt werden die sozialpolitischen Maßnahmen, die wegen der sinkenden Kinderzahl Anfang der 70er Jahre getroffen wurden und den Müttern durchaus die Entscheidung für ein Kind erleichterten, Die sozialpolitischen Maßnahmen der DDR wurden genau wie z. B. die Rentenerhöhungen ein Jahr vorher angekündigt und gefeiert. Es wurde aber verschwiegen, daß sich der SED-Staat damit völlig übernahm, so daß die DDR unmerklich in den Bankrott schlitterte. Auch wenn die Wende nicht gekommen wäre, wäre die DDR spätestens in drei Jahren bankrott gewesen.
Auch bei der Kindererziehung in der DDR lag die Last mehrheitlich bei den Frauen. Eine mögliche Freistellung der Männer zur Erziehung wurde entweder von den Männern nicht wahrgenommen, oder es wurden solche Anträge von den Betrieben abgelehnt.
Für Frauen war es darüber hinaus sehr schwierig, eine Halbtagsstelle zu bekommen. Gerne hätten viele Frauen in der DDR davon Gebrauch gemacht, um mehr Zeit für ihre Kinder oder für zu pflegende Eltern zu haben.
Es ist interessant, wie Autoren des Jugendberichts das Modell der typischen DDR-Familie skizzieren. Es trifft meiner Meinung nach aber nur für rund 70 %
der Haushalte zu. Sicherlich wäre noch manches zu ergänzen, z. B. daß der Urlaub im sozialistischen Ausland für eine normale Familie mit zwei Kindern in der Regel zu teuer war und daß der FDGB-Ferienplatz nur alle zehn Jahre zu bekommen war, es sei denn, man hatte eine höhere Funktion in Staat oder Partei.
- Das können Sie von der PDS natürlich nicht wissen.
Richtig erkannt ist, daß die Familie einen hohen Stellenwert hatte, weil man hier - und nicht im Staat DDR - Geborgenheit erfahren konnte und wenigstens die Familie eine kleine Nische darstellte, in der man meist frei heraus seine Meinung sagen konnte.
Wachsende Konsumwünsche in den letzten Jahren vor der Wende ließen die Unzufriedenheit deutlich ansteigen. Das Herumlaufen und Anstehen beim Einkaufen machte die Menschen, vor allem die betroffenen jungen Frauen, mürbe und raubte Zeit. Auch die Intershops, in denen nur Privilegierte mit Westgeld richtig einkaufen konnten, oder die Exquisit-Läden, die auch nur für Besserverdienende ein Angebot lieferten
und wo man erst recht anstehen und Beziehungen haben mußte, konnten diese Unzufriedenheit nicht mindern. Daher entstand nach der Wende eine extrem hohe Erwartungshaltung, auch bei jungen Menschen. Die Bedürfnisse der jungen Menschen und vor allem auch der jungen Frauen sind in dieser Zeit ungleich gestiegen. Hochwertige Kosmetika und modische Kleidung, die man zu DDR-Zeiten nicht bekommen konnte, sind teuer. Schnell haben sich junge Familien verschuldet.
Es war für mich erstaunlich zu sehen, wie hoch das Gewaltpotential auch bereits zu DDR-Zeiten war. Es lag daran, daß nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Es wurde nicht bekannt. Daher wurde der Mantel des Schweigens darüber gebreitet.
Auch die Magersucht war in der DDR vorhanden, wurde aber totgeschwiegen.
- Die Magersucht wurde vorhin in diesem Zusammenhang erwähnt.
Die Medienvertreter haben sich damals brav einen Maulkorb umhängen lassen und nur über das berichtet, was die SED erlaubte.
So ist zu DDR-Zeiten jede 20. Frau von ihrem Partner geschlagen worden, und jedes fünfte Mädchen hatte bereits einen Vergewaltigungsversuch erlebt
Monika Brudlewsky
bzw. war Opfer einer Vergewaltigung geworden. Beratung und Hilfe für diese Opfer waren in der DDR unbekannt, eben weil die Verbrechen offiziell gar nicht existierten.
So gab es keine Frauenhäuser, und die Opfer mußten zu Hause ausharren, bis z. B. eine Scheidung erfolgte.
Es gibt den Slogan: „Junge Frauen sind die Verlierer der deutschen Einheit". Es gab schon einmal einen ähnlichen Slogan, der besagte, daß die Rentner die „Verlierer der deutschen Einheit" seien. Man mußte ihn aber zurücknehmen, weil die Rentner selbst ihn mehrheitlich zurückwiesen. Sicher gibt es bei den Frauen sehr viele unzufriedene, so daß dieser Slogan aufrechterhalten und weiter verbreitet wird. Uns macht dieser Slogan sehr betroffen. Es gibt keine Verlierer. Wir alle haben die Freiheit gewonnen.
Gerade junge Menschen haben alle Chancen, sie zu nutzen. Das kostet nicht nur Geld, sondern auch eigenes Zutun. Sprechen wir den jungen Menschen diesen Optimismus nicht ab!
Ich danke Ihnen.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Thomas Krüger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Abgeordnete, ich hätte mir gewünscht, daß Sie bei Ihrer Vergangenheitsbewältigung auch die Frei- und Spielräume, die Jugendliche zu DDR-Zeiten zweifelsohne hatten, beim Namen genannt hätten; dies ist nicht geschehen. Die Jugendlichen wären, wie vorhin gesagt, gar nicht zu den Akteuren im Wendeprozeß geworden, wenn sie nicht den Mut und die Hoffnung gewonnen hätten, sich aus dieser Nische herauszuwagen.
Ich möchte eine Bemerkung aufgreifen. Sie belegen die These, die auch die Stellungnahme der Bundesregierung enthält, daß die Frauen und Mädchen nicht die Verlierer der deutschen Einheit sind. Ich möchte Ihnen an Hand eines Beispieles kurz das Gegenteil erläutern: Im Bericht der Sachverständigenkommission wird nachgewiesen, daß über 90 % der Mitarbeiter im Jugendhilfebereich Frauen sind. Diese Frauen, die zu DDR-Zeiten auf festen Stellen saßen, befinden sich jetzt oftmals auf ABM- oder Arbeitsförderungsgesetz-Stellen. Diese Stellen laufen aus. Gerade durch die Einsparmaßnahmen und Rückführungen sind es z. B. Arbeitskräfte im Jugendhilfebereich, nämlich größtenteils Frauen, die darunter leiden. Dies wirkt sich mittelbar auf die Mädchen und Jungen aus, für die die Arbeit gerade geleistet werden soll.
Meine Damen und Herren, an dieser Stelle muß ganz deutlich gesagt werden: Auch Frauen und Mädchen sind Verliererinnen der Einheit. Vor allem dieser Bereich, der Jugendhilfebereich, leidet darunter, daß sie hier nicht mehr tätig sind.
Eine Entgegnung durch Frau Brudlewsky.
Ich brauche dazu nicht viel zu sagen.
Das alles, was der Herr Krüger eben gesagt hat, widerlegt meine Ausführungen durchaus nicht.
Zur dritten Jungfernrede heute morgen erteile ich der Kollegin Ursula Mogg das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Eine Gesellschaft, die ihre Kinder und Jugendlichen vernachlässigt, ist am Ende." Ich glaube, vernichtender kann ein Urteil über die heutige Jugendpolitik nicht ausfallen. Professor HansUwe Otto, Vorsitzender der Sachverständigenkommission, die den Neunten Jugendbericht erstellt hat, sprach diesen Satz bereits vor zwei Jahren bei einer Anhörung der SPD-Fraktion in diesem Hause.
Die „Verslumung der Jugendhilfe in den neuen Ländern", die er seinerzeit beschrieb, hat nichts an Aktualität eingebüßt. Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, eine angemessene Antwort auf diese Herausforderung zu formulieren.
Offensichtlich beschränkt sich für Sie der Aufschwung Ost auf den Straßenbau und auf Industrieanlagen.
Jugendliche und junge Erwachsene in den neuen Ländern finden keine Ausbildungsstelle,
auch wenn die Bundesregierung diesen Mißstand bis
heute beharrlich leugnet. Ihre Eltern sind selbst von
harten Problemen geplagt. Sie sind in vielen Fällen
Ursula Mogg
arbeits- und damit perspektivlos. Sie haben kaum Geld. Ihre Nerven sind angespannt, und sie können ihren Kindern oft nicht die Hilfe geben, die sie brauchen.
Die Entwicklung der Geburtenzahlen beleuchtet dieses Feld besorgniserregend. Von dem von Ihnen, Frau Nolte, zitierten Optimismus ist da wenig zu spüren.
Die Frage ist nicht nur, von was ich frei bin, sondern vor allem, für was ich frei bin. Darauf, Frau Nolte, geben Sie keine Antwort. Ihre Hymne an die Freiheit erinnert mich mit Blick auf den Jugendbericht eher an Janis Joplin.
Freizeitangebote fehlen. Die alten Strukturen gibt es nicht mehr - der Kollege hat auf diesen Umstand hingewiesen -, neue sind nicht oder so gut wie nicht vorhanden. Freizeit spielt sich auf der Straße ab. Die strukturelle Gewalt und der harte Faustschlag auf dem Kiez stehen im Widerspruch zu dem Wunsch nach Geborgenheit und Nähe. Sie lösen Frustrationen aus und explodieren eruptionsartig, Ereignisse, über die dann die Republik spricht und über die sich nur die wundern, die die Verhältnisse nicht kennen, auf die die Bundesregierung mit Programmen reagiert, die sehr bald wieder enden: Problem erledigt.
Weitergehende Maßnahmen - die solide inhaltliche und finanzielle Ausgestaltung - werden vor allem an die Kommunen und Träger von Jugendarbeit delegiert, wissend, daß „ohne Moos nix los" ist: Verantwortung abgehakt. Was bleibt dann noch?
Jugendpolitik ist keine originär bundespolitische Aufgabe. Das wissen wir. Wo aber die Jugendpolitik zu einer veritablen Frage des deutschen Einigungsprozesses wird, da steht die Bundesregierung weit mehr als nur zu 5 % in der Pflicht. Aus dieser Pflicht stiehlt sich diese Bundesregierung seit dem Einigungsprozeß heraus.
Die Kommunen sind, auch in Ostdeutschland, so gut wie pleite. So wenden sie sich vertrauensvoll - es ist schließlich so, daß das Problem vor Ort am meisten drückt - an die freien Träger. Einrichtungen sollen von diesen erhalten und finanziert werden. Aber auch diese wissen nicht, woher sie das Geld für diese Aufgabe nehmen sollen. An der untersten Sprosse der Leiter wird dann den letzten Ungläubigen deutlich, daß das System der Delegation von Verantwortung, das sich durch die Stellungnahme der Bundesregierung wie ein roter Faden verfolgen läßt, nicht funktionieren kann.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie werden nicht leugnen, daß Art und Umfang Ihrer Jugendpolitik seit mindestens drei oder vier Jahren im wesentlichen davon abhängig gemacht werden, wie die finanzielle Situation im Hause Waigel aussieht. Kaum jemals haben die sachlichen Erfordernisse selbst eine Rolle gespielt.
Wie sonst könnte es angehen, daß Sie die Aufgabenstellung für die Jugendverbände, die in den Richtlinien für den Bundesjugendplan formuliert sind, zwar deutlich und auch berechtigt ausgeweitet haben, die finanziellen Zuwendungen aber nicht? In diesem Jahr wollen Sie die Mittel für den Kinder-und Jugendplan des Bundes sogar von 223 auf 208 Millionen DM kürzen.
In einer Situation, wie sie der Neunte Jugendbericht für die neuen Bundesländer beschreibt, ist dies fahrlässig und ignorant.
Wir benötigen einen forcierten Aufbau von Strukturen der Jugendhilfe im Osten. Wir benötigen einen weitaus stärkeren Anteil der freien Träger an Maßnahmen der Jugendarbeit und finanzielle Angebote zu deren Umsetzung. Wir benötigen eine Jugendsozialarbeit, die frühzeitig Konfliktsituationen erkennt und entsprechende Maßnahmen präventiv einleitet. Eine solche Jugendsozialarbeit bedürfte allerdings angesichts der realen Erfordernisse erheblicher finanzieller Mittel, die die Länder und Kommunen alleine nicht aufbringen können.
Das Wort „präventiv" führt auch die Bundesregierung im Zusammenhang mit ihren immer neuen Sonderprogrammen gerne ins Feld. Inzwischen dürfte aber klargeworden sein, daß hektische Bewilligungen und Transaktionen dorthin, wo es gerade einmal wieder brennt, nichts mit Prävention zu tun haben. Präventiv ist in der Tat die Schaffung einer jugendpolitischen Infrastruktur, das Angebot von Regelleistungen ohne die ständig dahinterstehende Drohung, die Maßnahme aber im nächsten oder spätestens im übernächsten Jahr wieder auslaufen zu lassen.
Präventiv ist die Förderung von Erfahrungen bei der friedlichen und demokratischen Regelung von Konflikten, wie sie in der Jugendarbeit der freien Träger schon immer eine Rolle gespielt hat. Präventiv ist die Unterstützung von Initiativen. Präventiv ist schließlich auch die Förderung der politischen Bildung Jugendlicher.
Die Demokratie darf den jungen Leuten aber nicht nur salbungsvoll gepredigt werden. Sie muß für sie auch erfahrbar werden, und ihr unmittelbarer Nutzen muß erkennbar sein. Der arbeits- und ausbildungslosen jungen Frau und dem jungen Mann, die zu Hause von einem frustrierten, weil ebenfalls arbeitslosen Vater geprügelt werden und die nicht wissen, wohin sie gehen sollen, weil ihr Jugendzentrum wegen Geldmangels von der Gemeinde gerade geschlossen wurde, brauchen wir auch mit dem Hohenlied der Demokratie nicht mehr zu kommen. Das steht wohl fest.
Ursula Mogg
Jugendpolitik bedarf der Kreativität, geeigneter Programme und Konzepte. Daran wird es nicht mangeln. Sie kommt bei der Umsetzung aber nicht ohne Geld aus. Die Jugendpolitik einzuschränken, wenn das Geld weniger wird, das wird sich schon heute und erst recht mittelfristig als verheerend erweisen. Was dort heute unter maßgeblicher Verantwortung der Bundesregierung verschlampt wird - ich erwähne nur die sukzessive Liquidierung von AFT -, wird nie wiedergutzumachen sein. Gerade AFT war ein richtiger Ansatz. Bund, Ländern und Gemeinden muß doch an einer effizienten Struktur freier Träger gelegen sein, schon aus finanziellen Gründen. Leider waren diese Programme nur befristet.
Die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement gerade in diesem Bereich und der Umfang, den diese Ehrenamtlichkeit annimmt - das alles wäre doch gar nicht zu finanzieren, wenn es der Staat als Träger leisten sollte. Aber nicht einmal dies, nicht einmal das ehrenamtliche Engagement wird hinreichend gefördert. Man mag es kaum glauben: Jede Mark zur Förderung ehrenamtlicher Jugendarbeit hätte einen Anstoßeffekt, so daß sie sich zigfach amortisieren würde.
Meinen Sie nicht, Sie sollten vielleicht besser ein paar Ihrer Hochglanzbroschüren einstellen und an deren Stelle eine effizientere Förderung der Jugendarbeit ermöglichen?
Man muß Kindern und Jugendlichen Möglichkeiten anbieten, sich zu treffen und in eigener Verantwortung zu organisieren. Dazu bedarf es eines Daches über dem Kopf. Gerade die Raumfrage ist ja in den neuen Bundesländern nach wie vor äußerst prekär - und nicht nur dort. Man muß nur ihre Initiative ermutigen, dann gibt es auch viel gute Jugendarbeit im Sinne von Selbstorganisation.
Auf Betreuung reagieren Jugendliche nicht zu Unrecht gereizt. Das wird ihrem Selbstwertgefühl und ihren tatsächlichen Fähigkeiten nicht gerecht. Aber sie brauchen Unterstützung, und die bekommen sie zur Zeit nicht oder nicht ausreichend.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, aus dieser Verantwortung, die eine gesamtdeutsche ist, werden wir die Bundesregierung nicht entlassen. Der Neunte Jugendbericht ist mit Blick auf die neuen Bundesländer ein historisches Dokument. Deshalb sollten wir auch die historische Chance nicht tatenlos verstreichen lassen. Gute Konzepte sind gefragt - im Interesse der Bewältigung einer Situation, die in der Tat eine Herausforderung ist.
Blühende Landschaften werden wir aber nur haben, wenn junge Menschen den Eindruck gewinnen, daß sie diesem Staat etwas wert sind, daß es sich lohnt, in ihm und für ihn zu streiten. Besinnungsaufsätze und politische Lyrik helfen uns nicht weiter.
Als nächster spricht jetzt der Abgeordnete Kersten Wetzel.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider muß ich hier mit Bedauern feststellen, daß unser 713 Seiten schmaler Neunter Jugendbericht nicht ganz vollständig ist. Ich habe Ihnen deshalb in einem Ordner einmal die geltenden Jugendförderrichtlinien für Deutschland und die gesamten Länder mitgebracht.
Ich muß Ihnen ganz ehrlich gestehen: Ich habe beides nicht vollständig lesen können. Ich habe auch meine Zweifel, ob alle freien Träger der Jugendarbeit und die Jugendlichen das wirklich intensiv studieren.
Ideenreichtum und Kreativität sollten wir nicht einfach nach Seitenzahlen messen. Mein Eindruck ist, daß vielerorts Jugendarbeit oftmals mehr verwaltet als gestaltet wird. Bund und Länder sollten hier in Zusammenarbeit mit den Kommunen und den Trägern der Jugendarbeit überflüssige Bürokratie abbauen. Ich hoffe, daß dieser Ordner mit der Angabe von Fördermitteltöpfen künftig nicht noch weiter anwächst; denn selbst große freie Träger verlieren mittlerweile die Übersicht über die Fördermittel und laufen zunehmend den Ministerialbeamten in Bund und Ländern die Türen ein, um zu fragen, wo es denn noch Gelder und welche Fördermöglichkeiten es noch gibt.
Kleinere Träger, die oftmals viel über ehrenamtliche Jugendarbeit leisten, haben es da natürlich noch wesentlich schwerer. Immer wieder bekomme ich gerade von denen zu hören, daß sie manche Förderrichtlinien eher als Verhinderungsrichtlinien betrachten, weil diese oft der aktuellen Entwicklung sehr weit hinterherhinken.
Jugendarbeit muß einfach mehr sein, als in verschiedenen Broschüren nachzuschlagen, um herauszufinden, welche finanziellen Fördermöglichkeiten es gibt. Hier muß angesetzt und auch einmal entschlackt werden. Heilige Kühe in Bund und Ländern - das wissen auch Sie - kann man nur gemeinsam schlachten. Dazu möchte ich Sie alle, die Sie von den demokratischen Parteien hier sitzen, recht herzlich einladen.
In der vergangenen Legislaturperiode wurden durch den Bund speziell für die neuen Länder verschiedene Modellprojekte geschaffen, die auch von den Jugendlichen gut angenommen worden sind. Auch wir im Parlament haben einige initiiert und mitbegleitet. Gemeinsam mit den Trägern der Jugendarbeit sollten wir als Bundespolitiker nun den Ländern und Kommunen helfen, diese Initiativen wirklich aufzugreifen und weiterzuführen. Wir wissen natürlich
Kersten Wetzel
um die Argumente der Länder und Kommunen, die meist mit dem Ruf nach mehr Fördermitteln vom Bund enden. Aber Geld allein schafft noch keine effizientere Jugendarbeit.
Ich denke an verkrustete Institutionen und traditionsreiche Jugendprojekte, die große Summen verschlingen, während für die Unterstützung von ehrenamtlicher Jugendarbeit vor Ort oft die Mittel fehlen. Das sollte uns bedenklich stimmen. Ich bin auch der Meinung, daß Flötenspielgruppen und Bastelstraßen nicht immer der richtige Weg sind, um der zunehmenden Gewaltbereitschaft von Jugendlichen entgegenzuwirken. Ich fordere deshalb vor allen Dingen die Träger auf, sich der verändernden Situation neu zu stellen und Jugendarbeit nicht nur für Jugendliche, sondern auch mit Jugendlichen zu machen.
Es gibt eine ganze Reihe von Projekten, bei denen das gut gelungen ist. Ich denke dabei an zahlreiche Streetworker-Projekte, die seit langem erfolgreich sind und auch von den Jugendlichen gut angenommen werden. Diese Projekte sollten wir aber nicht einfach unter Denkmalschutz stellen, sondern wir sollten gezielt darauf hinwirken, daß sie innerhalb der Kommunen und der Länder verbreitet und die Erfahrungen genutzt werden.
Gestatten Sie mir bitte noch ein paar Bemerkungen zum Jugendaustausch, zunächst zum deutschdeutschen. Es wird immer sehr viel von den Mauern in den Köpfen unserer jungen Leute gesprochen, analysiert und auch diskutiert. Mit Jugendprojekten allein ist aber dieses sehr sensible Problem nicht zu lösen. Der „Sommer der Begegnung", der damals von uns in der letzten Volkskammer initiiert und dann vom Bundestag weiter getragen worden ist, war zwar für die ersten Jahre sehr hilfreich, und vor allem junge Leute aus den neuen Bundesländern nutzten diese Chance zum Jugendaustausch. Leider gelang es aber nicht im selben Maße, Jugendliche aus den alten Bundesländern für einen Gegenbesuch in den neuen Bundesländern zu begeistern. Das ist bis heute ein Problem, das alle, die mit Jugendlichen arbeiten, gemeinsam angehen müssen. Da schließe ich wiederum die in diesem Hause vertretenen demokratischen Parteien sehr großzügig mit ein.
Verschiedene Formen der Begegnung und gemeinsame Veranstaltungen gerade auch im schulischen und berufsbildenden Bereich sollten noch stärker dazu genutzt werden. So könnten Schulen und Berufsbildungseinrichtungen analog den damals sehr populären Berlinfahrten im alten Bundesgebiet - und übrigens auch in der DDR - Klassenfahrten in den jeweils anderen Teil Deutschlands wiederaufnehmen, um dort Partnerschaften und Kontakte herzustellen. In diesem sehr ausbaufähigen Bereich appelliere ich vor allen Dingen auch an die Phantasie und die Verantwortung unserer Kultusminister in den Ländern.
Vor allem möchte ich aber die zahlreichen Jugendverbände und Organisationen der Jugendarbeit ansprechen. Diese besitzen ein großes Potential, Jugendliche einander näherzubringen. Man kann sich ja auch überlegen, über die Ländergrenzen hinweg gemeinsame Projekte zu initiieren und die Jugendlichen zum gemeinsamen Leben und Arbeiten einzuladen.
Mit einem gehobenen Zeigefinger aus den alten Bundesländern kann man aber weder die Situation der Jugendlichen in den neuen Ländern einschätzen noch die richtigen Hilfen geben. Ein Aufeinanderzugehen und gemeinsames Lernen - übrigens auch für uns Politiker - sind hier sehr gefragt.
Für die politische Bildung und die internationale Jugendarbeit gilt dies ebenfalls. Auch hier eilt oftmals die politische Entwicklung den Richtlinien voraus. Gerade wir in Deutschland haben nach der Vereinigung der beiden deutschen Teile eine entscheidende Verantwortung für das künftige Haus Europa übernommen. Auch Jugendliche aus Osteuropa haben ein Recht darauf, unsere Hilfestellung zu bekommen, so wie wir aus den neuen Bundesländern damals Hilfe und Unterstützung aus dem anderen Teil, der demokratischen Welt, erhalten haben.
Abschließend möchte ich an die Bundesregierung appellieren, in den Ministerien, die sich in der nächsten Zeit häufiger mit Osteuropa beschäftigen, gemeinsame Strategien für Jugendaustausch und Jugendprojekte zu entwickeln. Vielleicht geht das ja auch ohne mehrbändige Förderrichtlinien.
Ich danke Ihnen recht herzlich.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Hagemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
- Danke schön, Herr Kollege, für die Unterstützung.
Eigentlich müßten bei Ihnen, sehr geehrte Frau Ministerin Nolte, und bei uns allen die Alarmglocken läuten und die Alarmlampen aufleuchten, wenn wir sehen, daß an Wahlen immerhin nur noch 30 bis 40 % der jungen Menschen teilnehmen und daß ein allgemeines Desinteresse an der Politik besteht, das unter den jungen Menschen weit verbreitet ist. Daß dieser meist passive Protest eine Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen und ungelöste Probleme ist, darin sind wir uns einig. Das zeigt sicherlich auch der Neunte Jugendbericht, den wir heute behandeln.
Die Aussagen in ihm beziehen sich in erster Linie auf die neuen Länder. Aber es gibt viele Tendenzen, Linien und Entwicklungen, die auf die ganze Republik hindeuten und die wir hier betrachten sollten.
Klaus Hagemann
Wenn man bereit ist, mit jungen Menschen zu reden - das sollten wir als Politikerinnen und Politiker wesentlich öfter tun -, dann hört man Aussagen, die deutlich machen: An unseren Meinungen und Bedürfnissen besteht bei euch Politikern überhaupt kein Interesse, und um uns kümmert ihr euch erst, wenn wir mit Gewalt und Brutalität auftreten und zuschlagen. Erst dann wird plötzlich sehr viel Geld zur Verfügung gestellt, dann wird auch in Aktionismus gemacht und einiges mit heißer Nadel gestrickt.
Diese Frustrationen und fehlende Anerkennung führen sicherlich oft zu Haß - gerade in den neuen Ländern können wir das beobachten, aber auch in den alten - und zu Gewalt. Wenn dann noch die einfachen Rezepte aus der rechtsextremen Ecke, die angeblich so einfachen Lösungen, hinzukommen, dann können wir das Entstehen extremistischer Gewalt erklären. Ich meine, wir sollten aufpassen, Gewaltakzeptanz nicht zu verharmlosen, wie wir es heute auch gehört haben.
Wir haben vor kurzem im Ausschuß über den Medienbericht der Bundesregierung geredet. Auch hier war immer wieder nur der Appell zu verzeichnen, Gewalt müsse zurückgeschraubt werden. Hier muß eben auch die Regierung insbesondere den privaten Fernsehsendern deutlich machen, daß andere Wege gegangen werden müssen.
Meine Damen und Herren, die Alarmzeichen, von denen ich vorhin gesprochen habe, schreien sozusagen nach neuen Wegen und nach neuen politischen Ansätzen. Deshalb kann das von Ihnen politisch geäußerte „Weiter so", wie es auch einmal ein Wahlslogan von Ihnen deutlich gemacht hat, nicht länger gelten. Das große Lob, das sich die Regierung in ihrer Stellungnahme zum Jugendbericht selbst ausspricht, kann unsererseits nicht akzeptiert werden.
Das wird natürlich auch in anderen Untersuchungen deutlich als nur im Neunten Jugendbericht. Ich möchte eine nicht gerade sozialdemokratisch orientierte Veröffentlichung zitieren, nämlich eine Broschüre der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft. Der Kollege Rupert Scholz ist dort im Aufsichtsrat. Die hat im Oktober 1994, also vor wenigen Monaten, folgendes geschrieben:
Die Angst der Jugendlichen, daß die Zukunft in manchen lebensnotwendigen Bereichen gefährdet ist, die Einschätzung, daß die Politik, aber auch die Wirtschaft den Einzelnen zu wenig Gestaltungsmöglichkeiten bietet und falsche Lösungswege beschritten werden, relativieren die Rede von einer zufriedenen oder zufriedengestellten Generation.
Recht hat die Alfred-Herrhausen-Gesellschaft.
Gefordert sind langfristige, auf Prävention aufgebaute politische Ansätze, bei denen junge Menschen politisches Handeln selbst erfahren können, so wie es auch im Jugendbericht deutlich gemacht worden ist. Dies ist nur über aktive, ehrenamtlich aufgebaute Jugendverbände möglich, genauso aber auch bei freien Initiativen, über politische und gesellschaftliche Aktivitäten oder in einer demokratisch organisierten Schule sowie durch mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz. Deshalb ist der Ansatz notwendig, das AFT-Programm weiterzuführen und nicht abzubauen.
Meine Damen und Herren, vorhin hat ein Kollege der F.D.P. gesagt, der Ruf der Politikerinnen und Politiker sei „saumäßig". Sicherlich ist hier etwas dran. Wir aber sind - ich wiederhole mich - aufgefordert, wieder mehr mit Kindern zu reden, mit Jugendlichen zu reden, ihre Anliegen aufzunehmen und sie ernst zu nehmen. Wir dürfen nicht übereinander, über die Generationen, sondern wir müssen miteinander reden.
Darüber hinaus möchte ich noch die politische Bildung ansprechen, die einen höheren Stellenwert, insbesondere auch in den neuen Ländern, verdient. Hier ist besonders darauf zu achten, daß die Trägerstrukturen bei den Jugendbildungsstätten wegbrechen, weil, bedingt durch eine beschränkte Anzahl von ABM-Stellen und nur durch Projektförderung, die Kontinuität der Konzepte weggefallen ist und deshalb viele Einrichtungen zur Zeit schließen müssen. Ich hatte gerade gestern mit einer Vertreterin der Jugendbildungsstättenorganisation ein Gespräch, die darauf noch einmal deutlich hingewiesen hat.
Insgesamt ist aus Finanzsicht zu fordern, daß Kinder- und Jugendpolitik nicht der haushaltspolitische Steinbruch sein darf.
Bei Haushaltsberatungen die wir zur Zeit für den Haushalt 1995 führen, hat man aber manchmal das Gefühl, daß es so ist. Im Haushalt gilt es zu sparen. Das ist richtig. Aber es gilt auch, wie vorhin gesagt wurde, daß wir die Mittel umschichten müssen zugunsten der Jugend und der Kinder. Die Förderrichtlinien müssen so konzentriert werden, daß sie nicht, wie vorhin von dem Kollegen Wetzel dargestellt, einen ganzen Leitz-Ordner ausmachen, sondern sie müssen so gestaltet werden, daß eine Konzentration der Mittel, beispielsweise im Bundesjugendplan, entsteht.
Wenn Kommunen in Ost und West zur Zeit oft gezwungen sind, die Jugendförderung zu kürzen, Jugendeinrichtungen zu schließen, dann ist das natür-
Klaus Hagemann
lich falsch. Wir müssen aber auch deutlich sehen, daß es die Bundespolitik ist, die Gemeinden oft im Stich läßt, die die Gemeinden stark belastet. Es sind die ständig steigenden Soziallasten, die den Gemeinden jegliche finanzielle Luft zum Atmen und zum eigenständigen politischen Gestalten nehmen. Wenn ich an das Bundessozialhilfegesetz denke, dann müßte es eigentlich nicht BSHG, sondern KSHG heißen; denn es ist von der Finanzierung her ein kommunal finanziertes Programm. Es ist auch nicht vorgesehen, hier eine Änderung vorzunehmen.
Lassen Sie mich noch kurz, meine Damen und Herren, die berufliche Bildung ansprechen. Auch hier haben die Jugendlichen in den neuen Ländern das Gefühl, nicht gebraucht zu werden oder, wie es heißt, Menschen zweiter Klasse zu sein. Obwohl wir die Lehrstellengarantie des Bundeskanzlers haben, finden nicht alle ausbildungswilligen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz im Rahmen des dualen Systems. 1993 standen 171 000 Bewerbern 87 500 betriebliche Ausbildungsstellen gegenüber. Das sind 83 500 Stellen, die gefehlt haben. Viele Jugendliche heben also keine Möglichkeit, über das duale System ausgebildet zu werden.
Es ist zwar richtig, daß die Regierung im außerbetrieblichen Bereich ein Programm gestartet hat, aber in diesem Ausbildungssystem fehlt eben der betriebliche Teil. Hier richtet sich der Vorwurf an die Wirtschaft, vor allem an die Großunternehmen, daß nicht genügend Ausbildungsplätze in Betrieben zur Verfügung gestellt werden.
Diese Betriebe haben sich aus der dualen Ausbildung verabschiedet bzw. ihre Kapazitäten deutlich eingeschränkt. Hier müssen immer wieder deutliche Forderungen des Bundeskanzlers und von Ihnen, Frau Ministerin, an die Wirtschaft gerichtet werden.
Aber Appelle alleine reichen nicht; wir müssen neue Systeme finden, die vom Bundestag her gesteuert werden. Wenn wir das Konzept in der Bauwirtschaft sehen, dann wissen wir, daß es der richtige Weg ist, daß die Betriebe, die bereit sind, Ausbildung zu gestalten, Zuschüsse bekommen von anderen, die nicht ausbilden.
Hier müssen wir weiter arbeiten. Das gilt nicht nur für den Ostteil unseres Landes, sondern genauso für den Westen, die alten Bundesländer. Damit das duale System auch zukünftig wirklich dual bleiben kann - auch das gilt für Ost und West -, müssen die Arbeitgeber von der Bundesregierung und vom Bundestag stärker in die Pflicht genommen werden.
Meine Damen und Herren, meine Redezeit ist abgelaufen. Deshalb darf ich schließen mit dem Hinweis: Wir haben in den nächsten Wochen Zeit, all die Vorschläge und Anregungen im Ausschuß zu beraten und neue Konzepte mit den Jugendlichen, mit
Jugendverbänden und anderen Organisationen zu erarbeiten, die längerfristig angelegt sind, damit die Jugendpolitik nicht nur ein Reparaturbetrieb gesellschaftlicher Probleme bleibt.
Herzlichen Dank.
Herr Kollege Hagemann, ebenso wie bei Frau Mogg war das Ihre erste Rede. Ich möchte Ihnen im Namen des Hauses dazu herzlich gratulieren.
Ich erteile nun dem Abgeordneten Helmut Jawurek das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Befrachten wir die heutige Jugend, so finden wir ein wirklich bemerkenswertes Engagement Hunderttausender Jugendlicher in sozialen, karitativen, kirchlichen, sportlichen und politischen Vereinen und Organisationen und darüber hinaus. Diese jungen Menschen leisten einen wertvollen Beitrag für uns alle, für die Allgemeinheit. Hierfür soll Ihnen an dieser Stelle einmal ganz, ganz herzlich und ausdrücklich gedankt werden.
Was müssen sich diese jungen Menschen aber denken, wenn sie heute die Debatte verfolgen und hören, wie schlecht es angeblich um die Jugend in unserem Land bestellt ist.
Ein Blick in die Shell-Jugendstudie gibt Aufschluß über die Situation der jungen Generation zu Beginn der 80er Jahre. Die Situation damals war durch einen ausgeprägten Zukunftspessimismus geprägt. Apokalyptische Untergangsvisionen beherrschten die Szene: Kriegsangst - daraus resultierten die großen Friedensdemonstrationen -, atomare Bedrohung, Aufrüstung - Symbol war der NATO-Doppelbeschluß -, Umweltkatastrophen und vieles mehr. Übrigens: Was wären die GRÜNEN heute ohne das damalige düstere Bild?
Zehn Jahre später, zu Beginn der 90er Jahre, bringt die neue Shell-Studie sehr interessante Ergebnisse. Die Regierung Kohl hat einen weitgehenden Stimmungsumschwung, eine Wende bewirkt.
- Sie brauchen nur die Zahlen nachzuschauen. Die
Shell-Jugendstudie ist zwar etwas umfangreicher -
es sind acht Bände - als der Jugendbericht, der mit
Helmut Jawurek
seinen 713 Seiten schon sehr umfangreich ist, aber ich empfehle Ihnen, dort nachzulesen.
Die Jugend nimmt Abschied vom Pessimismus und wendet sich deutlich zum Optimismus hin.
71 % der jungen Menschen in Deutschland beurteilen ihre persönliche Zukunft sehr gut oder gut.
- Die Zahlen sind nicht gravierend unterschiedlich; der Anteil ist dort etwas niedriger, aber nicht gravierend.
Leider ist dieser Optimismus häufig mit einem Rückgang von persönlichem Engagement verbunden, nach dem Motto: Soziales Engagement ja, aber bitte ohne mich.
- Ich erwähne das, Herr Kollege, und ich bedaure dies auch.
Betroffen macht mich aber, daß die SPD in ihrem heutigen Entschließungsantrag Kinder und Jugendliche primär zu einem - ich zitiere - „kalkulierenden Kostenfaktor" und an anderer Stelle - ich zitiere wieder - gar zu einem „Armutsfaktor" abstempelt. Wer wie die SPD Kinder- und Jugendpolitik und wer Politik für Familien - wie das übrigens auch bei der gestrigen Debatte zum Familienleistungsausgleich geschehen ist - vorwiegend als Geld- und Bezuschussungsproblem hinstellt, der zeugt von einem schrägen Verständnis.
Bemerkenswert ist immerhin, daß sich die SPD in ihrem Antrag - zumindest an einer Stelle - zu subsidiären Strukturen bekennt.
Selbsthilfe geht vor Fremdhilfe. Vereine und Institutionen müssen Vorrang vor staatlichem Engagement haben.
- Ich zitierte. - Zu diesen Prinzipien haben sich CDU und CSU schon immer bekannt.
Aber, verehrte Kollegin, wie ein roter Faden zieht sich durch den SPD-Antrag die Forderung nach mehr Staat.
Dabei ist nirgendwo staatlicher Dirigismus so fehl am Platz wie bei der Jugend- und Jugendverbandsarbeit. Jugendarbeit braucht Freiräume.
Herr Kollege Jawurek, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krüger?
Bitte.
Herr Abgeordneter, ich habe eine Nachfrage: Woraus leiten Sie das Bemerkenswerte her, daß die SPD subsidiären Strukturen in der Jugendhilfe zugetan ist?
Meines Erachtens war das immer schon so.
Das mögen Sie vielleicht so darstellen. Die SPD hat immer gefordert, den Staat und von oben herab die Gesellschaft zu regulieren, nie von den unteren Einheiten her.
- Nein, ich möchte gern weitermachen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in 40 Jahren DDR haben gerade junge Menschen staatliche Bevormundung genug genossen. Wir sollten uns im wiedervereinigten Deutschland daran wahrlich kein Beispiel nehmen.
Zurück zum vorliegenden Jugendbericht: Zu Recht verweisen diese Untersuchungen - eine Reihe meiner Vorredner haben bereits darauf hingewiesen - auf das Gefahrenpotential des Rechtsradikalismus hin. Ein Manko dieses Berichtes ist aber das Nicht-eingehen auf die Gefahr von linksradikalen Gruppen.
Linksradikalismus wurde nicht untersucht, ja in dem Bericht nicht einmal erwähnt. Dabei ist das Gefahrenpotential von Linksextremisten kaum geringer. Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele kann und darf von Demokraten nicht akzeptiert werden.
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben das Gewaltmonopol des Staates jahrelang in Frage gestellt.
Lachen bei der SPD - Dr. Edith Niehuis
[SPD]: Aschermittwoch ist vorbei!)
Helmut Jawurek
Sie haben versucht, eine künstliche Differenzierung zwischen Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen herbeizuführen.
Erstere haben Sie damit teilweise legitimiert. Wer solche Geister ruft, darf sich nicht wundern, wenn sie dann entgleiten.
- Da kann ich Ihnen aber ganz anderes aus meiner Erfahrung mit der Auseinandersetzung in Wackersdorf beispielsweise bei uns in der Oberpfalz erzählen.
Die überwiegende Zahl der jungen Menschen lehnt Gewalt entschieden ab. Der Jugendbericht der Bundesregierung untermauert dies eindrucksvoll. Gewalt stößt nur bei einem sehr geringen Teil der Jugendlichen auf Verständnis. Dennoch darf das Thema Gewalt bei Jugendlichen nicht verharmlost werden.
Große Verantwortung tragen hierbei auch die Medien, besonders das Fernsehen.
Blutrünstige Horrorfilme haben Hochkonjunktur. Was das Kinderfernsehprogramm betrifft, so stimmt das nicht weniger bedenklich,
angefangen von kämpfenden Steinzeitdinos bis hin zu Laserschlachten der Science-fiction-Roboter. Die meisten Zeichentrickserien werden von Gewalt, Zerstörung und Tod bestimmt. Wen wundert es da noch, wenn die Kids selber zu Helden aufsteigen wollen?
Hier ist die Politik gefordert; ich nehme da niemanden aus. Wir alle, die wir hier sitzen, müssen die Medien wesentlich stärker in die Verantwortung nehmen. Es sind sowohl der Bund wie auch alle Länder gefordert.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Berninger?
Ja.
Herr Kollege, mich würde interessieren, wie Sie sich bei dem Bild, das Sie über die Jugendpolitik hier zeichnen, erklären, daß die ganz überwiegende Mehrheit der jungen Menschen nicht etwa der CDU/ CSU und der F.D.P. das Vertrauen gegeben haben
und geben würden, sondern den Parteien der Opposition.
Herr Kollege, in Bayern haben uns über 50 % der jungen Menschen bei der letzten Wahl unterstützt.
Daß junge Menschen manchmal etwas anders denken, gestehe ich ihnen gerne zu.
Herr Kollege, es kommt noch eine Zwischenfrage.
Ja, bitte.
Lieber Herr Kollege Jawurek, stimmen Sie mir zu, daß die Tatsache, daß die CDU bei der letzten hessischen Landtagswahl bei den jungen Wählern die stärkste Partei war, ebenfalls ein Zeichen der Hoffnung ist, die Sie eben beschrieben haben?
Ganz eindeutig.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich noch eine kurze Anmerkung zur Situation in den neuen Bundesländern machen. Einige meiner Vorredner sind schon ausführlicher darauf eingegangen.
Wer heute nicht bereit ist, die Zeiten des SED-Unrechtsregimes vorbehaltlos aufzuarbeiten, wer die eigene Kungelei mit den dortigen Machthabern unter den Teppich kehren will, der darf sich auch nicht wundern, wenn Jugendliche in Deutschland, speziell aus den neuen Ländern, Probleme haben, Orientierungen zu finden.
Zu einer gewissen Orientierungslosigkeit trägt meines Erachtens auch die Säkularisierung - wenn man es so nennen kann - der DDR-Gesellschaft bei. Der kämpferische Atheismus war seit dem 19. Jahrhundert Programmpunkt der linken deutschen Arbeiterbewegung, fortgeführt von der kommunistischen Partei mit ihrem SED-Staatsapparat. Dieses Erbe bringt sicher die nachhaltigste Wirkung mit sich. Der Wiener Schriftsteller Horvath, ein Verfolgter des NS-Regimes, zeigte schon 1937 in seinem Buch mit dem Titel „Jugend ohne Gott", wohin dies führen kann und letztlich auch geführt hat. Ein Mensch ohne Wertvorstellungen und ohne Glauben ist leicht verführbar für den, aber auch im Nationalsozialismus oder Marxismus.
Daher, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben Jugend- und Jugendverbandsarbeit eine große Bedeutung für unsere Gesellschaft. Nutzen wir den Optimismus der jungen Generation. Jugendpolitik in Deutschland braucht keinen Vergleich mit an-
Helmut Jawurek
deren Staaten zu scheuen. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind ausgezeichnet. Nirgendwo haben junge Menschen bessere Zukunftschancen.
Danke schön.
Herr Kollege Jawurek, das war Ihre erste Rede hier. Auch Ihnen der Glückwunsch des Hauses.
Ich schließe damit die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 13/70 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Die Entschließungsanträge der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 13/709 und 13/726 sollen an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie der Jugendbericht. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 und die Zusatzpunkte 7 und 8 auf:
14. Erste Beratung des von dem Abgeordneten Manfred Müller und der weiteren Abgeordneten der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes (§ 116)
- Drucksache 13/581 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Recht
ZP7 Erste Beratung des von den Abgeordneten Annelie Buntenbach, Kerstin Müller , Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes (§ 116)
- Drucksache 13/691 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
ZP8 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiederherstellung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen
- Drucksache 13/715 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Rudolf Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Streik in der bayerischen Metall- und Elektroindustrie lieferte eine exemplarische Begründung für den Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion zur Wiederherstellung der Neutralität der Arbeitsverwaltung bei Arbeitskämpfen. Meine Fraktion fordert daher, daß noch vor dem Ende der Tarifrunde 1995 wieder ein normales Verhältnis zwischen den Mitteln hergestellt wird, die einerseits den Gewerkschaften und die andererseits den Arbeitgebern im Tarifstreit zur Verfügung stehen.
Der Streik ist die letzte Möglichkeit der Arbeitnehmerschaft, sich gegen Unternehmerdiktate zur Wehr zu setzen. Erst dieses Instrument schafft Waffengleichheit. Die Aussperrung mag zwar als das logische Gegenstück zum Streik gesehen werden, aber in Wirklichkeit stellt sie die Unternehmerüberlegenheit bei Auseinandersetzungen wieder her, erst recht mit dem derzeit geltenden § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes; denn zur Zeit sind die Gewerkschaften in der Wahl der Mittel nicht frei. Im Vergleich zu den Arbeitskampfmöglichkeiten der Arbeitgeber sind sie gehandicapt.
Das Beispiel in Bayern belegte dies eindeutig. Die Gewerkschaft hat nach 34 ergebnislosen Verhandlungsrunden, nach Verstreichen der Friedenspflicht und Urabstimmung den Streik ausgerufen. Die bestreikten Betriebe waren sorgfältig ausgewählt worde, denn Auswirkungen auf andere Betriebe in anderen Tarifgebieten sollten gering bleiben. Von der Gewerkschaft war der Tarifstreit ausdrücklich als räumlich wie ökonomisch begrenzte Auseinandersetzung angelegt.
Die Arbeitgeberseite hatte sich daraufhin einen Vorratsbeschluß auf Aussperrung besorgt.
Die trotz der sorgsamen Auswahl der Betriebe immer noch verbleibenden Verflechtungen und Abhängigkeiten hätten den Arbeitgebern gleichwohl jeden Vorwand geliefert, in Bayern eine Aussperrung in Gang zu setzen, die weit über das umkämpfte Tarifgebiet hinausgereicht hätte.
Das Ziel dieses Aussperrungsbeschlusses war, in einem anderen als dem bestreikten Tarifbezirk Beschäftigten die Werkstore vor der Nase zuzuschlagen, sie gleichzeitig von Lohnersatzleistungen auszuschließen, den Zorn von Ausgesperrten auf die Gewerkschaft zu lenken, weil für sie keine Streikunterstützung gezahlt wird, sowie erneut zu dokumentieren, daß der Staat im tariflichen Ernstfall auf der Seite derjenigen steht, die über die Arbeitsplätze bestimmen können.
Rudolf Dreßler
Vor elf Jahren, im Streit um die Einführung der 35-
Stunden-Woche, standen den zeitweise 58 000 streikenden Metallarbeitnehmern rund 530 000 ausgesperrte Arbeitnehmer gegenüber. Das ist ein Verhältnis von 9: 1, meine Damen und Herren. Zwei Drittel dieser Ausgesperrten waren Opfer der Fernwirkungen von Aussperrungen in den bestreikten Tarifgebieten. Vielen Arbeitnehmern wurde damals Lohn entzogen, weil Arbeitgeber ungerechtfertigt behaupteten, die Produktion werde vom Streik in Mitleidenschaft gezogen. In Wirklichkeit wollten sie den sozialen Druck auf Gewerkschaft und Arbeitnehmer rigoros erhöhen.
Der Tarifstreit in Bayern ist zwar mit einem vernünftigen Ergebnis beendet worden, wie wir wissen; es kann aber keine Rede davon sein, daß die Tarifrunde 1995 nun vorbei ist. Ob andere Arbeitgeber über einen Vorratsbeschluß zur Aussperrung hinaus nicht wirklich zur Tat schreiten werden, weiß heute niemand. Daher bleibt es dabei: Der Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion müßte so rasch es geht in Kraft treten.
Der Gesetzentwurf präjudiziert das Bundesverfassungsgericht nicht. Das Gericht wird, wie wir wissen, in wenigen Tagen über eine Verfassungsbeschwerde meiner Fraktion, von vier Landesregierungen sowie der Industriegewerkschaft Metall zur Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen verhandeln. Es bleibt in seiner Entscheidung so frei, wie es bisher war. Es ist nicht zu verstehen, warum sich Arbeitsminister Blüm 1986 dazu verleiten ließ, gegen die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften vorzugehen und die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit in Arbeitskämpfen zu beseitigen. Eine sachliche Begründung gab es weder damals, noch gibt es sie heute.
Es war damals auch kein Druck aus Richtung des Koalitionspartners F.D.P. zu spüren. Kein Gericht drängte Norbert Blüm zu einer raschen Handlung. Allerdings hatte der damalige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Heinrich Franke, 1984 per Erlaß angeordnet, kalt Ausgesperrten das Kurzarbeitergeld zu verweigern. Franke konnte dies damals mit Rückendeckung von Bundesarbeitsminister Blüm tun.
Dieser sogenannte Franke-Erlaß war der Testlauf für die spätere Beseitigung der Neutralität der Bundesanstalt in Arbeitskämpfen durch Gesetz. Ich habe nichts von dem zurückzunehmen, was ich damals im Deutschen Bundestag gesagt habe. Es war ein eiskalt in Szene gesetzter, wohlgeplanter Coup gegen die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften.
Einer der Vorgänger von Norbert Blüm im Ministeramt, Hans Katzer, sah die Sachlage immer völlig anders als sein Nachfolger Blüm. Katzer war in der Großen Koalition von 1966 bis 1969 Bundesarbeitsminister. Er ist überdies Vorgänger Blüms als Chef der CDU-Sozialausschüsse gewesen. Nicht zuletzt auf Hans Katzers Betreiben hatte die Große Koalition 1969 durchgesetzt, daß § 116 des AFG im Regelfall Lohnersatzleistungen bei mittelbar vom Streik betroffenen Arbeitnehmern nach sich zieht. Norbert Blüm hat das Gesetz von Hans Katzer auf den Kopf gestellt. Die ab dem 15. Mai 1986 geltende Fassung des § 116 AFG erzwingt, daß mittelbar vom Streik Betroffene im Regelfall keine Lohnersatzleistungen erhalten.
Hans Katzer war zudem zutiefst davon überzeugt, daß in unserem sozialen Rechtsstaat die Bundesanstalt für Arbeit während des Tarifstreits weder von Gewerkschaften noch von Arbeitgebern instrumentalisiert werden dürfe. Die Sozialdemokraten teilen diese Überzeugung noch heute - deshalb unser Gesetzentwurf.
Die Nachfolger Katzers auf dem Stuhl des Bundesarbeitsministers, Walter Arendt, Herbert Ehrenberg und Heinz Westphal, blieben der Linie von Hans Katzer treu. Die Folgen des Bruchs mit der Linie von Katzer und anderen sind nicht zu übersehen. Die Ideale der Solidarität und der Freiheit haben es mittlerweile sehr schwer, sich gegen das Denken in Kriegskategorien innerhalb der Tarifpolitik durchzusetzen.
Im einsetzenden und sich dramatisch zuspitzenden wirtschaftlichen Strukturwandel sind die Gewerkschaften nicht mehr frei, was die Wahl der Mittel angeht. Die Bundesregierung hat das gewollt. Sie wollte 1986 eine strategische Entscheidung gegen die Gewerkschaften und gegen die Arbeitnehmer herbeiführen. Das Groteske an der Geschichte ist nur: Mitten im Strukturwandel klärt sich auf, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer mehr Gemeinsamkeiten haben, als die Regierung es bisher offensichtlich geglaubt hat oder wahrhaben wollte. Das gilt für die Aufgabe der Sicherung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, das gilt für den Schutz der Natur sowie für den Abbau der Arbeitslosigkeit. Denn der Weg zu einer befriedigenden wirtschaftlichen Zukunft führt ausschließlich über den Konsens, über Transparenz der Verhältnisse, über Mitentscheidung und über Mitverantwortung. Er führt gewiß nicht über einen fortwährenden, vom Gesetzgeber provozierten Tarifkrieg zwischen den Tarifvertragsparteien.
Ich frage mich: Warum will die heutige Koalition diesen Zusammenhang nicht verstehen? Warum will sie nicht endlich daraus Konsequenzen ziehen?
Rudolf Dreßler
Ist es so schwierig, zu begreifen, daß in einer zivilisierten Gesellschaft der Kopf mehr zählen muß als der Ellenbogen? Wir alle wissen doch: Kluge Arbeitgeber finden längst den Weg zu Betriebsräten, finden längst den Weg zu Gewerkschaften. Kluge Arbeitgeber wissen, daß in den Belegschaften eine ungeheure Bereitschaft und Fähigkeit zu innovativem Denken schlummert. Man muß sie nur wecken, man muß sie fördern und auch fordern, und man muß sich vertrauen können.
Der sogenannte Streikparagraph paßt dazu wie eine Faust aufs Auge. Wer § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes in seiner heutigen Form für richtig hält, der, meine Damen und Herren, steckt ideologisch im 18. Jahrhundert.
Deshalb, Herr Geißler, weil Sie sich ja gerade so forsch
an die zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft machen und sich mit Ihrer Partei anlegen, lade ich Sie ein, sich auch in diesem wichtigen gesellschaftlichen Bereich mit Ihrer Fraktion in den kommenden Beratungen anzulegen.
Ich danke Ihnen.
Ich erteile dem Kollegen Andreas Storm das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nun wirklich nicht das erste Mal, daß sich das Hohe Haus mit der Neuregelung des § 116 AFG befaßt. Herr Dreßler, wenn Sie sagen, daß wir ideologisch zurück in das 18. Jahrhundert gegangen wären, so kann ich Ihnen nur zurufen: Aschermittwoch ist vorbei. Kommen Sie zurück zu den Fakten!
Den drei vorliegenden Gesetzentwürfen liegt die Behauptung zugrunde, die Kampfparität bei Arbeitskämpfen werde durch die Regelung von 1986 zu Lasten der Gewerkschaften verändert. Diese Behauptung, meine Damen und Herren, ist falsch; denn die derzeitige Rechtslage unterscheidet für Arbeitnehmer, die infolge eines Arbeitskampfes arbeitslos werden oder Kurzarbeit leisten, drei Fälle:
Erstens. Alle Arbeitnehmer außerhalb der betroffenen Branche erhalten gegebenenfalls Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit, und zwar ohne jede Einschränkung.
Zweitens. Alle Arbeitnehmer der betroffenen Tarifbranche innerhalb des umkämpften Tarifgebietes erhalten keine Leistungen, und zwar unabhängig davon, ob sie selbst streiken oder ausgesperrt sind.
Drittens. Arbeitnehmer der betroffenen Tarifbranche außerhalb des umkämpften Tarifgebietes erhalten dann keine Leistungen der Bundesanstalt, wenn der Arbeitskampf stellvertretend für ihre Arbeitsbedingungen mitgeführt wird.
Genau das, meine Damen und Herren, ist der Punkt, auf den es ankommt: Wir wollen und wir dürfen den Stellvertreterstreik nicht aus Beitragsmitteln bezahlen. Das wäre ein Griff in die falsche Tasche.
Würde die Bundesanstalt jedes Arbeitskampfrisiko finanzieren, dann würden die Tarifparteien nämlich direkt über die Höhe der Beiträge oder die erforderlichen Zuschüsse der Steuerzahler zur Arbeitslosenversicherung mitentscheiden. Das darf nicht sein!
Es geht hier um die Substanz der Tarifautonomie: Die Zulassung von Arbeitskämpfen soll ein Verhandlungsgleichgewicht herstellen. Deshalb verbietet es sich, daß der Staat in einen Arbeitskampf eingreift, indem er ihn durch Leistungen zugunsten einer einzigen Kampfpartei beeinflußt. Daraus ergibt sich, daß der Staat zur Nichteinmischung und Unparteilichkeit verpflichtet ist. Die jetzige Regelung gewährleistet das. Sie befindet sich auf dem Boden des Grundgesetzes, und da muß sie auch bleiben.
Das Geld der Bundesanstalt für Arbeit ist in erster Linie für die Arbeitslosen da, nicht für die Arbeitsplatzbesitzer. Deswegen erhalten auch jene Arbeitnehmer Unterstützung, die infolge eines Arbeitskampfes keine Arbeit haben, aber weder selbst streiken noch vom Arbeitskampf profitieren. Für diejenigen allerdings, die vom Arbeitskampfergebnis profitieren, kann das Arbeitsamt ebensowenig Unterstützung zahlen wie für die Streikenden selber. Deswegen geht der Streit im Kern nur um die Frage: Wann sind Arbeitnehmer streikbeteiligt?
Die Antwort liegt auf der Hand: Streikbeteiligte sind neben den Streikenden selbst diejenigen, für die stellvertretend mitgestreikt wird, für die eine gleiche Hauptforderung erhoben wird und für die das Streikergebnis in deren Fachbereich übernommen werden soll. Damit wird die grundgesetzlich gebotene Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit vor Umgehung geschützt. Und vor allen Dingen folgt daraus, daß außerhalb des bestreikten Fachbereiches immer gezahlt wird, und zwar unabhängig davon, ob gleiche oder unterschiedliche Forderungen gestellt werden.
Andreas Storm
Was bedeutet das in der Praxis? Ich will das einmal an drei Beispielen klarmachen: Wenn Stahlkocher streiken, erhalten die Automobilarbeiter selbstverständlich Leistungen der Bundesanstalt, denn sie gehören einem anderen Fachbereich an. Wenn Zulieferbetriebe in der Metallverarbeitung streiken, erhalten beispielsweise Werftarbeiter ebenfalls Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit, denn auch sie gehören einem anderen Fachbereich an. Wenn beispielsweise Arbeitnehmer in. der Zuckerindustrie streiken, dann wird in der Süßwarenindustrie ebenfalls Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld bei Bedarf gezahlt.
Lassen Sie mich jetzt zu einem anderen für die Arbeitnehmer ganz wichtigen Punkt kommen. Die Entscheidung darüber, ob ein Leistungsanspruch ruht, wird nach der Regelung von 1986 von einem Neutralitätsausschuß gefällt. Dem gehören gleichberechtigt Vertreter der Gewerkschaften und der Arbeitgeberseite an, und zwar unter dem Vorsitz des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg.
Der Sachverhalt wird unter Beteiligung der Betroffenen ermittelt. Damit wird zugunsten der Arbeitnehmer sichergestellt, daß möglichen Manipulationen auf Arbeitgeberseite ein Riegel vorgeschoben wird. Denn es gilt die Nachweispflicht der Arbeitgeber, daß ein Arbeitsausfall Folge eines Arbeitskampfes ist. So hat seit der Neuregelung im Jahre 1986 kein Betrieb mehr die Möglichkeit, einen Arbeitsausfall nur vorzutäuschen und unter dem Vorwand eines angeblichen Materialmangels Arbeitnehmer „kalt" auszusperren. Denn zum Nachweis des Arbeitsausfalls muß der Arbeitgeber eine Stellungnahme der Betriebsvertretung beifügen. Darüber hinaus kann gegen eine Entscheidung des Neutralitätsausschusses von beiden Seiten, also auch der Arbeitnehmerseite, der Rechtsweg beschritten werden.
Schließlich wurde die Stellung der Arbeitnehmer noch durch eine weitere Maßnahme verbessert, nämlich dadurch, daß in Zweifelsfällen eine Vorleistungspflicht des Arbeitsamtes besteht. Es zahlt zunächst Lohn in Höhe des Kurzarbeitergeldes. Diese Leistung hat der Arbeitgeber zu erstatten, der seiner Lohnleistungspflicht nicht korrekt nachgekommen ist.
Meine Damen und Herren, all das zeigt: Der Streik wird nicht auf dem Rücken der betroffenen Arbeitnehmer ausgetragen.
Zur aktuellen Lage: Nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit im Jahre 1986 hat es zum ersten Mal im Jahre 1993 - also sieben Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes - bei einem Streik in den neuen Bundesländern einen Anlaß gegeben, den Neutralitätsausschuß der Bundesanstalt für Arbeit anzurufen. Gegen die von ihm getroffene Entscheidung zuungunsten der Arbeitnehmerseite hat bekanntlich die IG Metall Klage vor dem Bundessozialgericht erhoben. Das Bundessozialgericht hat mit
dem Urteil vom 4. Oktober des letzten Jahres eindeutig festgestellt: Die prozeß- und materiellrechtlichen Regelungen des § 116 AFG sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß noch eines unmißverständlich klarstellen: Die bisherige Entwicklung hat deutlich gezeigt, daß sich die Neuregelung des § 116 AFG aus dem Jahre 1986 nicht negativ auf die Kampfkraft der Gewerkschaften auswirkt. Niemand wird ernsthaft behaupten können, daß die Arbeitskämpfe seit 1986 oder beispielsweise die Entwicklung der Tariflandschaft in den neuen Bundesländern einseitig zu Lasten der Arbeitnehmer ausgegangen wären. Auch das Ergebnis des jüngsten Arbeitskampfes in der bayerischen Metallindustrie bestätigt das nachdrücklich, Herr Dreßler, wie Sie selbst indirekt zugegeben haben.
Ein bißchen mehr Gelassenheit wäre also an der Tagesordnung; denn für eine Änderung der bewährten Neuregelung des § 116 AFG besteht überhaupt kein Anlaß. Die Wetterfahne darf nicht zum Kompaß der deutschen Politik werden.
Herr Kollege Storm, auch Ihnen gebührt zu Ihrer ersten Rede in diesem Haus unser Glückwunsch.
Ich erteile nun der Kollegin Annelie Buntenbach das Wort,
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Selten hat eine Bundesregierung in der Vergangenheit ihr formuliertes Ziel mit einer Gesetzesinitiative so deutlich verfehlt. Angeblich sollte die Neufassung des § 116 Arbeitsförderungsgesetz eine gesetzliche Verankerung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bringen. Erreicht hat sie das Gegenteil: eine strukturelle Schwächung der Gewerkschaften und damit eine weitere Störung des empfindlichen Gleichgewichts zwischen den Tarifparteien. Genau dieses Gleichgewicht der Kampfmittel ist eine unabdingbare Voraussetzung der Funktionsfähigkeit von Tarifautonomie.
Mir fällt es allerdings schwer, von einem Gleichgewicht zwischen den Tarifparteien in der Bundesrepublik zu sprechen; denn schließlich ist im Unterschied zu den meisten europäischen Ländern die Aussperrung hier nicht verboten.
Unsere Position zu diesem Mittel der Arbeitgeberwillkür kennen Sie. Wir haben das Aussperrungsverbot schon vielfach, auch hier im Bundestag, gefordert. Aber daß die heiße Aussperrung noch immer nicht verboten ist, ist nun wirklich kein Grund, noch einen draufzusetzen und durch § 116 AFG darüber hinaus die kalte Aussperrung zu legalisieren und
Annelle Buntenbach
dann auch noch so zu tun, wie soeben Sie, Herr Storm, und auch Herr Blüm in seinen Reden, als werde damit die Parität im Arbeitskampf wiederhergestellt. Meine Damen und Herren, Sie haben sich in der Richtung ausgesprochen gründlich geirrt. Kalte Aussperrung ist, wenn man sie in Alltagsdeutsch übersetzt, im Klartext eiskalte Erpressung der Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerseite.
Mit ihr können die Arbeitgeber beliebig manipulieren, und zwar heute noch, z. B. durch heiße Aussperrung oder durch zu knappe Lagerhaltung, oder sie behaupten einfach, Lieferanten seien ausgefallen.
Dazu ein Beispiel aus dem Jahre 1984: Damals teilte BMW seinem Getriebezulieferer in Ludwigsburg mit, daß er nicht mehr zu liefern brauche. Dessen Geschäftsführung schrieb ihrem Betriebsrat, daß BMW nichts mehr abnehme. BMW wiederum informierte seinen Betriebsrat, der Lieferant sei ausgefallen. Folge: kalte Aussperrung bei BMW und bei dem Zulieferer. Diese Manipulation, Herr Storm, wäre auch durch eine Stellungnahme des Betriebsrates nicht aufgefallen. Der wußte nämlich, zumindest solange der Streik lief, davon nichts.
Für die Gewerkschaften bedeutet diese Praxis eine enorme Schwächung ihrer Position.
- Sehr exotisch. - Hätte die IG Metall in dem soeben erwähnten Tarifkonflikt an die kalt Ausgesperrten Streikgeld bezahlt, dann hätte sie zusätzlich 859 Millionen DM ausgeben müssen. Wer will da ernsthaft noch von - ohnehin fragwürdiger - Waffengleichheit reden?
- Ja, das wollten die.
Die Dreistigkeit der Arbeitgeber hat - das zeigt der gerade beigelegte Metall-Konflikt - enorm zugenommen. Ohne die katastrophale Fassung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes ist kaum vorstellbar, daß ein Arbeitgeberverband mit Aussperrungen schon droht, bevor er ein Tarifangebot überhaupt vorlegt. So kann doch nur auftreten, wer sich in seiner Rolle als Herr im Hause völlig sicher fühlt.
Daß dieses Kalkül in diesem Jahr nicht aufgegangen ist, hat eine Menge damit zu tun, daß die Konflikte in den Reihen der Arbeitgeber offenkundig beträchtlich waren. Aber das Instrumentarium des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes ist schon vom Ansatz her falsch. Wir fordern: Die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit muß wiederhergestellt werden.
Da hilft ein Blick in die Verfassung. Das Streikrecht ist ein im Rahmen der Koalitionsfreiheit im Grundgesetz verbrieftes Recht. Es zu schützen ist daher eine selbstverständliche Aufgabe unseres Handelns. Mit den heute vorliegenden Gesetzentwürfen wird versucht, einen wichtigen Schritt zur Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen den Tarifparteien zu tun. Dazu sind zwei Dinge erforderlich: erstens in der Substanz den Zustand von 1986 wiederherzustellen und dabei zweitens eine Reihe von unklaren Formulierungen deutlicher zu fassen.
Die Kritik, die im Vorfeld der Neufassung 1986 sowohl von Arbeitgeber- als auch von Gewerkschaftsseite eben wegen dieser unkaren Formulierungen geäußert worden ist, ist von den Regierungsfraktionen und speziell von Herrn Blüm immer wieder dafür ins Feld geführt worden, daß die Änderung des § 116 AFG wirklich nötig gewesen sei. Nach dem vorhin vom Kollegen Dreßler schon erwähnten Franke-Erlaß von 1984 mußte es damit allerdings auch schnell gehen, weil mit Frankes Sperrung der Zahlung von Lohnersatzleistungen an kalt Ausgesperrte versucht wurde, für die Ungerechtigkeit der Änderung des AFG den Weg freizumachen. Der Franke-Erlaß konnte zu dem damaligen Zeitpunkt heute oder morgen für illegal erklärt werden. Leider ist das erst 1991 geschehen.
Nun behauptet Herr Blüm, mit der Neufassung sei
- im Interesse beider Tarifparteien - die Neutralität der Bundesanstalt wiederhergestellt worden. Aber dann soll er doch bitte erklären - oder Sie, Herr Storm -, warum es - das ist zumindest mir bekannt - zahllose Proteste aus den Reihen der Gewerkschaften gegen diese Neufassung des AFG gibt, aber keinen einzigen Protest aus den Reihen der Arbeitgeber. Das ist dann doch verwunderlich!
- Ich halte es nicht für ein Wunder; denn schließlich war es eine Entscheidung, die absolut einseitig und ausschließlich zugunsten der Arbeitgeber ergangen ist.
Wohlverstanden: Auch wir wissen, daß wir mit diesem Schritt, den wir heute vorschlagen, noch nicht am Ziel einer Parität zwischen den Tarifparteien sind. Wir sind heute so bescheiden, weil wir es Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfraktionen, gerne leichtmachen möchten, aus der Sackgasse wieder herauszufinden, in die Sie uns alle mit Ihrer Fassung des § 116 AFG geführt haben.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Uwe Lühr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die um die Änderung
Uwe Lühr
des § 116 Arbeitsförderunsgesetz im Jahr 1986 geführte Debatte ist mir persönlich nicht aus eigenem Erleben präsent, da ich zu dieser Zeit in einem politischen System lebte, dem diese Probleme vermeintlich völlig fremd waren.
„Streik" war per definitionem des sogenannten Arbeiter- und Bauernstaates undenkbar. Die vorgebliche Identität von Arbeitgeber und Arbeitnehmer bedurfte natürlich keiner Instrumente für den Arbeitskampf. Daß die staatsbildende Funktion der Arbeiterklasse eine Fiktion war, die es ermöglichte, daß über vier Jahrzehnte mit dem in Art. 24 der DDR- Verfassung garantierten Recht auf einen Arbeitsplatz und mit anderen Garantien sogenannter sozialistischer Errungenschaften die wirtschaftliche Substanz in Ostdeutschland aufgezehrt wurde, das ist kein Geheimnis mehr.
Die jetzt einheitlich in Deutschland geltende Tarifautonomie ist streitig angelegt. Sie hat sich bewährt. Waffengleichheit ist die Basis der Friedensfähigkeit der Tarifpartner. An der Akzeptanz und der Funktionsfähigkeit des autonomen Tarifvertragssystems gibt es ein identisches Interesse aller Beteiligten und natürlich auch der Politik, deren unmittelbarem Einfluß die Tarifpartner richtigerweise entzogen sind.
Daß nicht durch die Bundesanstalt für Arbeit zugunsten einer Seite die Gewichte während der Tarifauseinandersetzung verschoben werden können, war Anliegen der Änderung des § 116 AFG im Jahr 1986. Seit dieser Novellierung gibt es einen Neutralitätsausschuß, dem je drei Vertreter der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite angehören sowie der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit als Ausschußvorsitzender. Dieser Ausschuß, der angerufen werden kann, wenn eine Partei der Ansicht ist, die Bundesanstalt für Arbeit verletze ihre Neutralitätspflicht, entscheidet, ob ein Stellvertreterarbeitskampf vorliegt oder nicht, nicht mehr der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit allein.
Dieser Ausschuß ist seit seinem Bestehen erst zweimal bemüht worden, anläßlich des Arbeitskampfes in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie 1993, als infolge der fristlosen Kündigung der Metalltarifverträge unbeteiligte Arbeitnehmer in MecklenburgVorpommern wegen des Streiks in Sachsen nicht weiterarbeiten konnten - nicht aus Solidarität, sondern weil die Zulieferung stagnierte.
Die letzte Entscheidung ist auf Antrag der IG Metall gerichtlich überprüft worden. Einige Vorredner haben es schon zu Recht bemerkt: Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung am 4. Oktober letzten Jahres die Klage der IG Metall im wesentlichen abgewiesen. Die IG Metall hält die Entscheidung des Gerichts für verfassungswidrig und hofft, daß das Bundesverfassungsgericht nicht nur das Urteil des Bundessozialgerichts aufhebt, sondern § 116 AFG insgesamt für verfassungswidrig erklärt. In einer Bildunterschrift einer Gewerkschaftspublikation heißt es - ich zitiere -:
Das Urteil des Bundessozialgerichts zum AntiStreikparagraphen macht deutlich: Seine Urheber wollen die Gewerkschaften lähmen.
Das stellt im übrigen eine Gerichtsschelte dar, gegen die man als politisch Handelnder das Gericht nun wirklich in Schutz nehmen muß.
Bei § 116 AFG handelt es sich mitnichten um einen „Anti-Streikparagraphen", wie die Metaller ihre Mitglieder glauben machen wollen, sondern um eine Konkretisierung der Waffengleichheit. Daß diese Feststellung auch vom Bundesverfassungsgericht getroffen werden könnte, ist die eigentliche Veranlassung für die Gesetzentwürfe von SPD, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und PDS, die wir heute auf der Tagesordnung haben. Sollte dieses Haus dem - inhaltlich fast Bleichlautenden - Begehren auf Revision der AFG-Novelle von 1986 zustimmen, liefe nämlich das Verfahren in Karlsruhe ins Leere.
Natürlich könnte es nicht unser Interesse sein, einen Verfassungsverstoß auf Dauer hinzunehmen. Aber unser Interesse ist es, das Gleichgewicht zwischen den Tarifpartnern zu erhalten. Wenn es heute den Gewerkschaften gelingt, mit wenigen, die Streikkasse schonenden Schwerpunktmaßnahmen die Wirkung auf nur mittelbar betroffene Wirtschaftsbereiche stärker ausfallen zu lassen als auf die unmittelbar beteiligten im Tarifbezirk, dann war die Novellierung 1986 notwendig. Sie ist heute nicht durch veränderte Produktionsweisen überholt, so daß sie auch zukünftig notwendig ist, um den Arbeitsfrieden am Wirtschaftsstandort Deutschland zu sichern.
Die F.D.P.-Fraktion lehnt die Änderung des § 116 AFG ab.
Danke.
Ich erteile nun dem Abgeordneten Manfred Müller das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! 1986 habe ich zusammen mit Hunderttausenden von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern aus Protest gegen die damals geplante Änderung des Streikparagraphen, § 116 AFG, an Demonstrationsstreiks teilgenommen. Wir sind damals beschuldigt worden, es seien die ersten politischen Streiks in der Bundesrepublik Deutschland gewesen. Die Proteste der Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter haben nicht dazu geführt, daß sich eine parlamentarische Mehrheit gegen diese geplante Änderung des § 116 AFG gefunden hat.
Manfred Müller
Ich kann Ihnen als Verhandlungsführer in Tarifverhandlungen über mehr als zehn Jahre sagen, daß die Änderung des § 116 AFG sehr wohl entscheidenden Einfluß auf das Verhalten der Unternehmerverbände in den Tarifverhandlungen hatte.
Sie saßen plötzlich auf dem hohen Roß, und ihre an sich bestehende Macht, ihre Interessen durchzusetzen, wurde zusätzlich verstärkt.
Es ist geradezu zynisch, wenn den Gewerkschaften in den letzten Jahren vorgeworfen wird, sie hätten es nicht geschafft, wenigstens den Reallohnausgleich zu realisieren, ohne zu berücksichtigen, daß die bis dahin vorhandene Parität bei Arbeitskämpfen durch § 116 AFG seit 1986 entscheidend verändert worden ist.
Am Mittwoch dieser Woche wollte Gesamtmetall aussperren. Ab Mittwoch drohte der durch die IG Metall begrenzte Konflikt zu einem Flächenbrand zu werden. Nach diesem Mittwoch wären wir Zeugen eines sozialen Konflikts geworden, der allen teuer zu stehen gekommen wäre.
Für die Gewerkschaften und mich wird bereits mit der Aussperrung die Kampfparität der Tarifvertragsparteien zugunsten der Unternehmerverbände verletzt.
Nicht ohne Grund ist die Aussperrung in anderen europäischen Ländern verboten; das ist hier schon gesagt worden. Sie ist nicht verboten, weil die Aussperrung das Gegengewicht der Unternehmer zum Streik ist, sondern weil erst der Streik das Gegengewicht zur Macht der Unternehmer bildet.
Die Demokratischen Sozialisten haben deshalb auch das Verbot der Aussperrung in ihrem Programm. Allerdings habe ich heute in der Zeitung gelesen, daß der Berliner Verfassungsschutz diese Forderung, die eine gewerkschaftliche ist, bereits zum Anlaß genommen hat, die PDS zu überwachen, weil diese Forderung für nicht mit der Verfassung vereinbar erklärt wird. Wir sehen also, welche Willkür in solchen aufzulösenden Organisationen noch immer herrscht.
Diese Parität der Tarifvertragsparteien ist aber gänzlich gestört, ja, sie ist durch die 1986 geschaffene Fassung des § 116 AFG in ihrem Kern getroffen. Dem fragwürdigen Mittel der Aussperrung hat die konservative Bundestagsmehrheit 1986 die Möglichkeit der kalten Aussperrung hinzugefügt, die Möglichkeit nämlich, die Beschäftigten ganzer Branchen gewissermaßen in Geiselhaft zu nehmen. Beschäftigte ganz anderer Tarifbezirke, Beschäftigte, die nur punktuell von dem möglichen Ergebnis des Arbeitskampfes profitieren können, werden in den Arbeitskampf hineingezogen, werden auf kaltem Wege ausgesperrt und haben weder einen Anspruch auf gewerkschaftliche Streikunterstützung, weil sie eben keine Streikbeteiligten sind, noch auf der Grundlage des § 116 AFG einen Anspruch auf Arbeitslosengeld.
Die Bundesanstalt für Arbeit ist durch diesen Paragraphen in eine Parteigängerin der Unternehmerverbände verwandelt worden. Dies ist angesichts der Tatsache, daß § 116 AFG ursprünglich die Neutralitätspflicht der Bundesanstalt sichern sollte, geradezu ein Hohn; denn in der vorliegenden Fassung verkehrt er sich in sein Gegenteil und verletzt diese Neutralität so nachhaltig, daß die IG Metall gezwungen war, nach Karlsruhe zu gehen.
Die Tarifautonomie und damit die Koalitionsfreiheit sind durch die damalige Änderung in ihrem Kern getroffen. Wir wollen das rückgängig machen und haben uns auf das politisch Machbare beschränkt, indem wir die alte Fassung zum Gegenstand unserer Forderung gemacht haben.
Meine Redezeit ist leider wieder zu Ende. Es wäre noch viel zu diesem Thema zu sagen, aber in fünf Minuten schafft man das nicht.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich erteile dem Abgeordneten Wolfgang Vogt das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese zehnte Woche in 1995 wird nicht wegen der Anträge, die heute von der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS gestellt werden, sondern wegen verschiedener anderer Ereignisse in Erinnerung bleiben. Zwei sind bedeutsam für das Thema, das wir hier besprechen, nämlich: Der Arbeitskampf in der Metallindustrie wurde durch einen Kompromiß beendet; und die D-Mark genießt weltweit Vertrauen. Beide Ereignisse haben etwas miteinander zu tun.
Die D-Mark ist ein Stabilitätsanker. Das Vertrauen in sie ist stark, ja, so stark, daß es fast zu einer Last geworden ist. Die Härte unserer Währung ist Ausdruck des Vertrauens in die politische und in die soziale Stabilität dieses Landes und in die wirtschaftliche Kraft dieses Landes. Zu dieser Stabilität und zu dieser wirtschaftlichen Kraft trägt die Tarifautonomie ganz wesentlich bei. Sie hat sich in diesen Tagen erneut bewährt. Die produktive Kraft des sozialen Friedens ist gerade in diesen Tagen mit Händen zu greifen gewesen.
Wolfgang Vogt
Ich will die Tarifabschlüsse dieser Tage nicht bewerten, so reizvoll das wäre. Wie immer liegen Licht und Schatten dicht beieinander. Ich will nur auf zwei Tatsachen hinweisen:
Erstens. Die IG Metall war kampffähig. Zweitens. Die IG Metall ist mit dem Tarifabschluß ganz offensichtlich zufrieden.
Mit Ihren Anträgen zur Neufassung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes wollten Sie, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS Schulter an Schulter, in einen aktuellen Arbeitskampf hineinstoßen. Die Tarifvertragsparteien haben Ihnen das Geschäft verdorben.
Heute kann festgehalten werden: Der § 116 AFG hat die Kampfkraft der Gewerkschaften und ihre Verhandlungsmacht nicht behindert; er hat die Höhe des Tarifabschlusses nicht beeinträchtigt. Die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen hat sich bewährt. Sie hat die Tarifautonomie gestärkt, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Im übrigen sollten Sie doch genausogut wie ich eines wissen: Ob es zu einem für Arbeitnehmer und Arbeitslose guten Tarifabschluß kommt, hängt nicht von § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes ab. Bei leeren Auftragsbüchern, schlechten Erlösen, roten Zahlen und hohen Preissteigerungsraten ist für die Arbeitnehmer nichts drin. Wenn es nichts zu verteilen gibt, degeneriert das Gerede über Kampfqualität und Kampfkraft der Gewerkschaften zu ideologischen Sandkastenspielen. Der Kampf um Null ist Vergeudung von Kraft.
Volle Auftragsbücher dagegen, gute Erlöse, schwarze Zahlen und niedrige Preissteigerungsraten - da ist Dampf drin.
Die deutsche Wirtschaft steht wieder unter Dampf. Daran, daß es so ist, hatten die Tarifabschlüsse des Jahres 1994 ganz wesentlich Anteil. Es geht wirtschaftlich aufwärts. Deshalb fällt die Tarifrunde 1995 weitaus besser aus als die Tarifrunde 1994. Jetzt steht bei der Preissteigerungsrate eine Zwei vor dem Komma, beim Tarifabschluß eine Drei, und drei ist ja besser als zwei. Das ist eine gute Nachricht für die Arbeitnehmer. Deshalb sollten Sie sich eigentlich darüber freuen, statt hier und heute darüber zu lamentieren.
Auch Tarifpolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, ist Gratwanderung. Die Tarifabschlüsse dieser Tage sollten insgesamt den Aufschwung stärken, damit in der nächsten Tarifrunde wieder etwas für Arbeitnehmer und Arbeitslose drin ist. Sie vergeuden Ihre Kraft, aber das ist Ihr Bier.
Wir konzentrieren uns darauf, daß überall wieder schwarze Zahlen geschrieben werden. Nur schwarze Zahlen sind gute Zahlen. Sie fördern den sozialen Frieden.
Ich erteile nunmehr dem Abgeordneten Adolf Ostertag das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit unserer Initiative wollen wir - das ist klar - die 1986 eingebrachte und durchgepeitschte Änderung und Novellierung des § 116 AFG rückgängig machen. Es ist natürlich ganz klar, daß die aktuelle tarifliche Auseinandersetzung für uns auch ein Motiv war. Aber, Herr Kollege Vogt, es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, daß wir schon damals zusammen mit den Gewerkschaften Verfassungsklage eingereicht haben. Wir standen damals auf der Seite der Gewerkschaften, und in dieser Frage stehen wir auch heute auf der Seite der Gewerkschaften. Ich glaube, das sollten Sie hier nicht unterschlagen.
Eines ist doch klar, meine Damen und Herren, trotz der grundgesetzlich garantierten Tarifautonomie sind die Gewerkschaften in der Wahl ihrer Mittel seit 1986 nicht mehr frei.
Dieses Damoklesschwert der kalten Aussperrung schwebt über allen ihren Entscheidungen, von der Aufstellung der Tarifforderungen bis zur Auswahl der bestreikten Betriebe. Ich glaube, dazwischen liegt noch ein weites Spektrum von gewerkschaftlichen Aktivitäten in der Tarifbewegung.
Hinter der damaligen Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes stand die Absicht, die Beschäftigten zu entsolidarisieren, durch die kalte Aussperrung die Streikkassen der Gewerkschaften zu plündern und ihre Kampfkraft zu schwächen.
Das ist aber nur ein Stück einer langfristig angelegten Gesamtstrategie Ihrer Politik. Es ist offensichtlich, zu wessen Lasten die Bundesregierung ihre Politik der Deregulierung seit 1982 betrieben hat. Immer mehr Beschäftigte werden in ungesicherte, untertariflich bezahlte Arbeitsverhältnisse gepreßt. Gleichzeitig will man uns weismachen, daß dadurch Arbeitsplätze erhalten oder neu geschaffen werden. Die Massenarbeitslosigkeit nimmt nicht ab, sondern sie verfestigt sich.
Gleichzeitig nehmen Sie die konjunkturelle und strukturelle Krise als Vorwand, um Arbeitnehmer-
Adolf Ostertag
rechte und letzten Endes auch die Tarifautonomie einzuschränken.
- Doch, doch, Herr Fuchtel, genauso ist es. Man muß den Zusammenhang Ihrer unsozialen Politik herstellen und darf nicht immer nur auf Einzelaspekte abheben.
Meine Damen und Herren von der Koalition, die sozialstaatlichen und tariflichen Regelungen sind doch nicht Ursache der ökonomischen Krise, sondern sie garantieren das Funktionieren unseres Wirtschaftssystems. Soziale und wirtschaftliche Stabilität ist ohne Gewerkschaften im Land nicht möglich. Ich glaube, in dieser Position stimmen die demokratischen Parteien überein. Nur haben Sie mit der Änderung des § 116 AFG im Jahre 1986 ein Grundprinzip unserer sozialen Demokratie mißachtet. Sie haben in die Tarifautonomie eingegriffen und offen Partei ergriffen. Das ist das Entscheidende.
Was beim Franke-Erlaß noch durch das Sozialgericht rückgängig gemacht werden konnte, hat die Kohl-Regierung dann gesetzlich zuungunsten der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften im AFG festgelegt. Im Klartext heißt es doch: Wer irgendwo streikt, muß mit aller Härte prinzipiell für alle, auch für mittelbare Konsequenzen einstehen.
Wer wie Sie nach dieser Änderung bei Streik und Aussperrung noch von Waffengleichheit redet, übersieht, daß sich in Tarifauseinandersetzungen die Gewichte erheblich verschoben haben. Der ökonomisch Starke erhält noch einen Knüppel, um auf die sozial Schwachen einzuschlagen. Dieser Knüppel wird zum Vorschlaghammer, wenn die Unternehmer extrem aussperren. So standen in der Tarifrunde 1984 z. B. einem Streikenden neun Ausgesperrte gegenüber. Dieses Ungleichgewicht hätte damals, wenn der § 116 schon in der geänderten Fassung bestanden hätte, das Aus für jede Gewerkschaft bedeutet. Mit dem Machtmittel der Aussperrung können die Unternehmer Hunderttausende von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bewußt zu Geiseln eines Arbeitskampfes machen, der irgendwo anders in der gleichen Branche stattfindet und an dem sie eigentlich nicht beteiligt sind.
Wir Sozialdemokraten wollen volle Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit. Deswegen geht unser Gesetzentwurf in einem Punkt sogar noch über die frühere Rechtslage und auch über das, was die anderen Parteien, insbesondere die PDS, vorlegen, hinaus. Wir wollen, daß die ausschließlich von der Aussperrung, nicht aber vom Streik mittelbar Betroffenen auf jeden Fall Kurzarbeiter- bzw. Arbeitslosengeld erhalten.
Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit und darüber hinaus die Bekräftigung des Prinzips, daß die Verweigerung von Lohnersatzleistungen auch im Arbeitskampf die Ausnahme bleiben muß. Schließlich haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
Beiträge gezahlt, denen eigentumsähnliche Ansprüche gegenüberstehen. Es muß schon ganz gewichtige Gründe geben, diese Leistungen zu verweigern. Dazu kann aber nicht die vom Arbeitgeber verursachte Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit gehören, egal, wie diese motiviert sind.
Letztlich geht es also um den Stellenwert des Streikrechts in dieser Gesellschaft und damit der Tarifautonomie in einer modernen, dialog- und auch konfliktfähigen Gesellschaft. Streik und Tarifautonomie gehören zusammen. Zu Recht hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt: „Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik sind nichts anderes als kollektives Betteln."
Streik ist übrigens kein nationales Übel. Hierzulande gehen die Gewerkschaften mit diesem Instrument verantwortungsbewußt um. Deutschland ist in Europa das streikärmste, aber das aussperrungsreichste Land. Sie sollten die Statistiken einmal nachlesen.
1986 hat diese Regierung mit der Änderung des § 116 letzten Endes eine „Lex IG Metall" durchgepeitscht; denn ihr paßte die ganze Richtung nicht. Schon die Forderung nach der 35-Stunden-Woche, die damals anstand und um die 1984 gestreikt wurde, hat der Kanzler als „absurd, dumm und töricht" gegeißelt. Herausgekommen ist nach dieser Auseinandersetzung, nach dem Streik das beste Stück Sozial- und Beschäftigungspolitik der letzten zehn Jahre. Denn mit dem Einstieg in die 35-Stunden-Woche sind Hunderttausende von Arbeitsplätzen geschaffen und gesichert worden.
Gerade dagegen richtete sich die Änderung des § 116 zwei Jahre später. Sie sollte die Streikfähigkeit der IG Metall brechen. Gemeinsam mit mehreren SPD-geführten Ländern und der IG Metall sind wir deswegen vor das Bundesverfassungsgericht gezogen.
Wir sind überzeugt, daß der § 116 AFG aus folgenden sieben Gründen verfassungswidrig ist:
Erstens, weil er den kalt ausgesperrten Arbeitnehmern mit dem Anspruch auf Kurzarbeitergeld eine Versicherungsleistung der Arbeitslosenversicherung entzieht, die sie gerade vor vorübergehenden Beschäftigungsrisiken schützen soll. Nicht zuletzt deshalb waren die Arbeitnehmer damals über dieses Gesetz so empört; es hat ihr Gerechtigkeitsgefühl zutiefst verletzt.
Zweitens, weil er eine regionale Begrenzung von Arbeitskämpfen kaum mehr zuläßt und dadurch die regionale Tarifstruktur in Frage stellt.
Adolf Ostertag
Drittens, weil der § 116 die gewerkschaftliche Willensbildung in Tarifverhandlungen von der Aufstellung der Forderung bis zur Wahl des Streikgebietes und der Kampfstrategie beeinträchtigt und dadurch ihre Autonomie untergräbt.
Viertens, weil er den Arbeitgebern die Möglichkeit gibt, kalte Aussperrungen gezielt als Kampfmittel einzusetzen.
Fünftens, weil die Gewerkschaften auch bei unterschiedlichen Forderungen in den Tarifgebieten keine Gewißheit haben, daß der § 116 im Falle eines Arbeitskampfes nicht angewendet würde; denn die Bundesanstalt entscheidet erst nach Beginn des Arbeitskampfes darüber, ob die Voraussetzungen für die Anwendung des § 116 vorliegen. Darüber hinaus schaffen die Arbeitgeber ihrerseits Voraussetzungen für die Anwendung des Gesetzes durch die Aufstellung eigener Forderungen. Das, was z. B. in Bayern passiert ist, haben Sie von der Koalition überhaupt nicht begriffen: 34 Verhandlungen und Streik, und dann gab es noch immer kein Angebot der Arbeitgeber - ich glaube, das ist der schlagendste Beweis dafür, wie diese neue Strategie von den Arbeitgebern wirklich genutzt wird.
Sechstens, weil der § 116 einen Arbeitskampf für die Gewerkschaften zu einem existenziellen Risiko macht und das Streikrecht aushöhlt.
Siebtens, weil er die Tarifautonomie in Frage stellt, indem er den Arbeitskampf als notwendigen Konfliktlösungsmechanismus einerseits beeinträchtigt und andererseits unkalkulierbar macht.
Meine Damen und Herren, beinahe zehn Jahre läßt sich das Bundesverfassungsgericht mit seinem Spruch Zeit. Das ist sehr ärgerlich, aber nicht veränderbar. Wir meinen, gerade auch deswegen ist unsere Initiative notwendig und unverzichtbar, das Arbeitsförderungsgesetz durch diesen Vorstoß entsprechend zu ändern. Es darf nicht bei der Verschiebung der einseitigen Machtstrukturen zugunsten der Arbeitgeberverbände bleiben.
Ich erteile nun dem Parlamentarischen Staatssekretär Rudolf Kraus das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit seinem Bestehen hat sich der Staat Bundesrepublik Deutschland immer aus Arbeitskämpfen herausgehalten,
und er wird dies auch in Zukunft tun. Daß diese Grundhaltung richtig ist, das hat sich besonders in den letzten Wochen während der Auseinandersetzungen innerhalb der Metallbranche gezeigt.
Der erfolgreiche Tarifabschluß im Metallbereich hat aber auch bewiesen: Freie und unabhängige Tarifpartner sind der beste Garant für ausgewogene und tragfähige Arbeitsbedingungen.
Sie können die Vereinbarungen darüber besser treffen, als die Politik es je könnte. Dieser Bereitschaft beider Tarifpartner, auch in schwierigen wirtschaftlichen Phasen Verantwortung für unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft zu übernehmen, zollen wir hohen Respekt.
Untrennbar verbunden mit unserer Grundhaltung der Nichteinmischung der Bundesregierung ist die Wahrung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen, die wir 1986 im § 116 AFG klargestellt haben. Das Gesetz zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit hat sich bis heute bewährt, weil seitdem bei Arbeitskämpfen Rechtssicherheit herrscht, weil seitdem garantiert ist, daß die Tarifautonomie unangetastet bleibt und damit auch der soziale Friede und unser Wohlstand erhalten bleiben, und weil sich seitdem die Durchsetzungsfähigkeit und Kampfbereitschaft der Gewerkschaften entgegen vielen Unkenrufen eindrucksvoll entwickelt hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, keiner wird den Arbeitnehmern unseres Landes einreden können, in Deutschland sei die Tarifautonomie gefährdet. Keiner wird den Bürgern im Ernst weismachen wollen, daß die Arbeitsbedingungen, die die Tarifpartner seit 1986 Jahr für Jahr vereinbart haben, unausgewogen, ungerecht und unsachlich ausgefallen seien. Und niemand will im Ernst behaupten, die Streikfähigkeit der Gewerkschaften sei im Kern getroffen worden. Die Wirklichkeit hat Ihre These von der sinkenden Kampfbereitschaft und Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften eindrucksvoll widerlegt.
Da die Vorredner aus der Koalition diese Dinge bereits vorgetragen haben, will ich es mir ersparen, jetzt noch einmal auf jede Einzelheit unserer politischen Haltung zu diesem Thema einzugehen, und meine Rede deshalb mit folgenden Feststellungen abkürzen.
Die Debatte, die wir jetzt geführt haben, hat über weite Teile einen unwirklichen Charakter gehabt. Es wird auch verständlich, wenn man sich überlegt, daß diese Debatte, als sie konzipiert wurde, ja vor einem fürchterlichen Tarifkampfszenario stattfinden sollte. Die Katastrophe fand nicht statt, aber die Debatte muß durchgeführt werden. Jetzt haben die Redner der Opposition natürlich die Schwierigkeit zu argu-
Parl. Staatssekretär Rudolf Kraus
mentieren. Deshalb lief das Ganze unter dem Motto ab: Wenn es so geworden wäre, wie wir dachten, daß es würde, wenn § 116 AFG wirkt, dann wäre dieses und jenes eingetreten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Wirklichkeit hat sich eben erwiesen, daß jedermann mit der jetzigen Situation leben kann.
Für meine Begriffe besonders eindrucksvoll hat das der Herr Dreßler in seiner Rede bewiesen. Man muß ihm dankbar sein. Er hat die Zweckmäßigkeit unserer Politik geradezu hervorragend bestätigt:
Erstens hat er den Gewerkschaften und Arbeitgebern bestätigt, daß deren Gemeinsamkeit in bezug auf die Lösung von Problemen eher gewachsen ist, woran § 116 AFG nichts geändert hat.
Zweitens hat er die Gewerkschaften bestätigt. Es ist gut so, daß sich diese im Sinne einer Minimierung des volkswirtschaftlichen Schadens, vor allem bei dem Metallstreik in Bayern, verantwortungsvoll verhalten haben. Es ist gut so, es ist nicht verboten, sich verantwortungsvoll und vernünftig zu verhalten.
Drittens hat er ausdrücklich gesagt - es ist übrigens nicht seine Beurteilung, sondern die Beurteilung der Betroffenen-, daß trotz des § 116 - vielleicht gerade deswegen - das Ergebnis geradezu ausgezeichnet ist im Sinne der Metallgewerkschaft. Das wird immer wieder gesagt. Weil das mit den Argumenten des Herrn Dreßler so ist, möchte ich mich Ihnen empfehlen und hoffe, daß dieser Antrag abgelehnt wird.
Ich bedanke mich.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 13/581, 13/691 und 13/715 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf der Gruppe PDS soll auch dem Rechtsausschuß überwiesen werden. - Ich sehe keine anderen Vorschläge. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 und Zusatzpunkt 9 auf:
13. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes
- Drucksache 13/204 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita Grießhaber und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Mehr Zeit und Geld für Kinder - Drucksache 13/711 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich stelle hierzu fest, daß sich der Bundesrat zu dem von ihm selbst eingebrachten Gesetzentwurf durch völlige Abwesenheit auszeichnet. Ich bin der Meinung, daß wir demnächst daraus geschäftsordnungsmäßige Folgerungen ziehen sollten.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Rita Grießhaber.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Einstieg in die Freistellung für Erziehungsarbeit mit der Einführung des Erziehungsgeldes war grundsätzlich richtig, und Ihre Regierung hat einen richtigen Schritt gemacht.
Aber es wird Sie natürlich nicht überraschen, daß die Vorstellungen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über die dringend notwendige gesellschaftliche Anerkennung von Erziehungsarbeit wesentlich weitergehen. Wir wollen schon lange den starren Erziehungsurlaub durch die Einführung eines flexiblen Zeitkontos ersetzen. Das heißt konkret: Erziehende - Mütter und Väter - sollen die Möglichkeit haben, sich in den ersten zwölf Lebensjahren ihres Kindes insgesamt drei Jahre für Erziehungsarbeit freistellen zu lassen. Daß das - nebenbei bemerkt - kein Urlaub ist, wissen wohl alle hier.
Diese Freistellung soll nach unseren Vorstellungen nicht starr sein. Wie sich die Eltern das aufteilen, ist ihre Sache: ob daraus eine sechsjährige Halbtagsarbeit, je zur Hälfte für Vater und Mutter wird, eine alleinerziehende Mutter zwölf Jahre dreivierteltags arbeitet mit anteiligem Erziehungsgeld. Die Möglichkeiten sollten so variabel sein, wie die unterschiedlichen Bedürfnisse es erfordern.
Wir wollen mit einer solchen Regelung dazu beitragen, daß die Freistellung keine Frauenangelegenheit bleibt und Männer in die Verantwortung einsteigen. Der Vorschlag von Frau Nolte, beim dritten Jahr des Erziehungsurlaubs eine Flexibilisierung einzuführen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Natürlich wol-
Rita Grießhaber
len viele Mütter bei der Einschulung mehr Zeit für ihr Kind, aber sie wissen doch auch, daß sie dies brauchen, weil wir nicht einmal funktionierende Halbtagsschulen haben.
Die Finanzierung des Erziehungsurlaubs muß die gesamten drei Jahre umfassen und vom Bund geleistet werden. Wir halten die Anhebung der Einkommensgrenzen für dringend erforderlich und arbeiten für die anstehenden Haushaltsberatungen an entsprechenden Deckungsvorschlägen. Deshalb nenne ich hier keine Beträge.
In der aktuellen Situation geht es aber auch darum, den Frauen, die sich freistellen lassen, die Rückkehr zu einem Arbeitsplatz nicht zu verbauen. Denn der Erziehungsurlaub darf nicht der unfreiwillige Einstieg in den Ausstieg aus dem Erwerbsleben werden.
Er darf kein Instrument sein, mit dem Frauen wieder einmal zurück zu Küche und Kindern gebracht werden. Wir wollen Hilfen für das Leben mit Kindern und keine Sackgassen für Mütter.
Meine Damen und Herren, immer noch haben Frauen und Männer so gut wie keine Möglichkeit, zu wählen, wie sie Beruf und Leben mit Kindern vereinbaren. Die Frauen verzichten auf ein Weiterkommen im Beruf und dürfen dafür nicht doppelt bestraft werden. Das bedeutet auch eine andere Anerkennung bei den Renten. Wir wollen, daß statt der geltenden 75 % Rentenanwartschaft 100 % des jährlichen Durchschnittswertes aller Versicherten in der gesetzlichen Rentenversicherung anerkannt werden.
Wenn wir die Anerkennung von Erziehungsarbeit wirklich wollen, muß Schluß sein mit der Aufrechnung von Erwerbsarbeit und Erziehungsarbeit.
Wenn Kinder wirklich unsere Zukunft sein sollen, müssen wir auch die entsprechende Politik machen. Und das heißt für mich - ohne Wenn und Aber -: Zeit und Geld für Kinder!
Vielen Dank.
Ich erteile dem Abgeordneten Walter Link das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub sind großartige Leistungen für die Familien. 1986 hat die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. im Deutschen Bundestag Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub beschlossen. Die damaligen Familienminister, Dr. Heiner Geißler
und danach Frau Professor Rita Süssmuth, haben mit dieser Politik hervorragende Voraussetzungen geschaffen, damit Eltern, Mütter und Väter, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung miteinander verbinden können.
Beim Erziehungsgeld haben wir die Anspruchsdauer von der Vollendung des zehnten Lebensmonats bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres ausgedehnt. Der Erziehungsurlaub wurde von der Vollendung des zehnten Lebensmonats bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres ausgedehnt, zudem eine Arbeitsplatzgarantie geschaffen. Eine Vielzahl von Verbesserungen - für Mehrlinge, kurze Geburtenfolgen, adoptierte Kinder, bei Teilzeitarbeit, um nur einige zu nennen - wurden geschaffen. Die Einführung des Anspruchs für nicht sorgeberechtigte Väter bei Zustimmung der Mutter kommt zu diesen Verbesserungen hinzu.
Im Katalog familienpolitischer Leistungen sind Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub nicht mehr wegzudenken. Von Anfang an haben ca. 97 % das Erziehungsgeld und den Erziehugsurlaub in Anspruch genommen. Ganz besonders wichtig ist mir, hier zu sagen, daß auch nach Einführung des Erziehungsgeldes und des Erziehungsurlaubs in den neuen Ländern ein gleichhoher Prozentsatz, 97 %, der Väter und Mütter diese Leistungen in Anspruch genommen haben. Das zeigt die hohe Akzeptanz dieser Leistungen.
Leider mußten wir wegen der besonderen finanzpolitischen Situation 1993 Einsparungen vornehmen. Damals haben wir uns als CDU/CSU und F.D.P. gegen die Kürzung der 600 DM Erziehungsgeld ausgesprochen. Die notwendigen Einsparungen sind durch strukturelle Änderungen des Bundeserziehungsgeldgesetzes erreicht worden. So wird z. B. bei der Berechnung des Erziehungsgeldes seitdem das aktuelle Einkommen zugrundegelegt. Die Länder wollen nun statt des aktuellen Einkommens wieder das Einkommen aus dem vorletzten Kalenderjahr vor der Geburt für die Minderung des Erziehungsgeldes zur Basis nehmen, ein Einkommen, das in der Regel wesentlich unter dem tatsächlichen Verdienst liegt.
Lassen Sie mich das an einem Beispiel illustrieren. Wenn jemand zwei Jahre vor der Geburt des Kindes in der Ausbildung war, nun aber gut verdient, hätte er trotzdem sowohl im ersten als auch im zweiten Lebensjahr des Kindes Anspruch auf das volle Erziehungsgeld. Hier würde eine Ungerechtigkeit entstehen, die sich ohne eine Umstellung der Berechnungsbasis weiter vergrößern würde.
Aus diesem Grund soll künftig nicht mehr das Einkommen aus weiter zurückliegenden Jahren vor dem Leistungsjahr maßgebend sein. Um dies sicherzustellen, wird für das Erziehungsgeld im zweiten Lebensjahr des Kindes ein neuer Antrag notwendig. Ich meine, daß wir mit den Änderungen mehr Gerechtigkeit geschaffen haben.
Walter Link
Die Überprüfung im zweiten Jahr, ob der Erziehungsurlaub eingehalten wird und ob Teilzeitarbeit geleistet wird oder nicht, soll auf Vorschlag der Länder durch eine Benachrichtigungspflicht der Krankenkassen ersetzt werden. Diese Variante war bereits 1993, vor der Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes, im Rahmen des Föderalen Konsolidierungsprogramms geprüft worden und mußte verworfen werden, da die Krankenkassen in den meisten Fällen nicht in der Lage waren, die erforderlichen Daten zeitnah zur Verfügung zu stellen. Wir prüfen jedoch zur Zeit, ob dennoch auf die Überprüfung im zweiten Jahr des Erziehungsgeldes verzichtet werden kann oder die Erziehungsgeldstellen die Information auf andere Weise erhalten können.
Wir haben noch andere konkrete Vorschläge mit den Ländern diskutiert und beabsichtigen, noch in diesem Jahr Regelungen zur Verwaltungsvereinfachung auf den Weg zu bringen. Das zeigt, daß der Antrag des Bundesrates überflüssig ist.
Da die vom Bundesrat vorgeschlagene Umstellung auf das alte Verfahren einerseits Kosten verursacht und andererseits die Einsparung annähernd bewahrt werden soll, sieht der Gesetzentwurf des Bundesrates vor, die Einkommensgrenzen, die für den Anspruch auf Erziehungsgeld ab dem siebten Lebensmonat gelten, auch für den Anspruch im ersten Lebenshalbjahr des Kindes einzuführen. Dem können wir - jedenfalls zur Zeit - nicht zustimmen.
Bisher haben wir der Verlängerung des Erziehungsgeldbezuges gegenüber der Erhöhung der Einkommensgrenzen Priorität eingeräumt. Neben den Veränderungen bei der Durchführung sind wir nunmehr der Auffassung, daß die Einkommensgrenzen, die ab dem siebten Lebensmonat gelten und seit 1986 unverändert sind, an die wirtschaftliche Entwicklung angepaßt werden müssen. Denn der Anteil der Eltern, der volles Erziehungsgeld erhält, ist seit 1986 - das geben wir zu - kontinuierlich zurückgegangen. Damals erhielten auch nach dem siebten Lebensmonat des Kindes etwa 85 % der Eltern das Erziehungsgeld in voller Höhe von 600 DM. Inzwischen gilt dies nur noch für etwa die Hälfte der Eltern.
Damit Eltern das Erziehungsgeld als echte Anerkennung ihrer Erziehungsleistung empfinden können, müssen die Einkommensgrenzen nach meiner Ansicht und nach der Ansicht der Fraktion der CDU/ CSU angehoben werden, so daß wieder der größte Teil der Eltern volles Erziehungsgeld beziehen kann. Das werden wir in einem zweiten Paket in 1997 oder 1998 tun.
Ich meine, daß das Erziehungsgeld auf diesem Wege wieder die Bedeutung und Wirkung erlangen sollte, die es für Familien 1986 hatte.
Nachdem wir in dieser Woche in der Koalition den Durchbruch für das Kindergeld erzielt haben und damit auch nach Ansicht der SPD einen Schritt in die richtige Richtung getan haben, werden wir in einem zweiten Paket 1997/98 - wie eben angedeutet - die Verbesserung der familienpolitischen Leistung beim Kindergeld vornehmen.
Außerdem werden wir in diesem zweiten Paket die Einkommensgrenzen beim Erziehungsgeld anheben und eine weitere Verbesserung des Kindergeldes vornehmen. Bei beidem - beim Kindergeld und beim Erziehungsgeld - werden wir uns für eine mögliche Dynamisierung einsetzen. Des weiteren wollen wir Voraussetzungen dafür schaffen, daß Familien mit Kindern besser bezahlbaren Wohnraum erhalten und daß bei den Anerkennungszeiten im Rentenrecht, wie die Kollegin der GRÜNEN das eben vorgeschlagen hat, in Zukunft weitere Verbesserungen eintreten. Dazu gehört auch, mehr Teilzeitarbeit zu ermöglichen. Das alles zusammengenommen ist ein Familienpaket, das ist Familienpolitik aus einem Guß.
Ich will zum Schluß noch einmal sehr deutlich sagen: Mit den sechs Milliarden Verbesserungen ab dem 1. Januar 1996 geben wir jetzt in Deutschland für die Familien mit Kindern - Steuerfreibetrag plus Kindergeld plus die sechs Milliarden, die wir in der Koalition gerade beschlossen haben - im Jahr 43 bis 44 Milliarden DM aus.
Zur Zeit geben wir 8,3 Milliarden DM für das Erziehungsgeld aus. Jetzt addieren Sie bitte 43 bis 44 Milliarden plus 8 Milliarden, dann wird deutlich, daß diese Bundesregierung aus CDU/CSU und F.D.P. über 50 Milliarden DM jährlich für die Familien mit Kindern ausgibt.
Wir sprechen von weiteren Verbesserungen in einem zweiten Paket für 1997/98. Wenn das keine gute Familienpolitik ist, dann weiß ich nicht, wo gute Familienpolitik gemacht wird. Vergleichen Sie es mit den europäischen und allen anderen Ländern: Nirgends finden Sie eine so gute Familienpolitik.
Frau Parlamentarische Staatssekretärin Dempwolf, besprechen Sie doch noch einmal im Familienministerium mit der Ministerin Frau Nolte, daß wir als Koalition von CDU/CSU und F.D.P. in den Jahren 1997/ 98 nach den Beschlüssen für 1996 eine hervorragende Familienpolitik noch in dieser Legislaturperiode verwirklichen können, eine Politik, die sich nicht nur sehen lassen kann, sondern die auch den Familien in Deutschland hilft!
Das Wort hat die Abgeordnete Hildegard Wester.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Link, ich muß leider etwas Wasser in Ihren Wein schütten.
Ich habe gestern an dieser Stelle versucht zu erklären, daß die rund 40 Milliarden DM, die für den Familienlastenausgleich ausgegeben werden, keine Förderung der Familien darstellen, sondern daß es sich lediglich um die steuerliche Gleichbehandlung von und um Gerechtigkeit für Familien handelt. Denn es ist ein Verfassungsgebot, daß das Existenz-
Hildegard Wester
minimum der Kinder freigestellt bleibt, und um nichts anderes handelt es sich bei unserem Kindergeld und beim Freibetrag. Es ist noch nicht einmal die Summe der Freistellung des Existenzminimums, wie gestern auch Ihr Kollege Fell zugegeben hat.
- Wir sprechen von heutigen Zeiten. Ich bin mir sicher, wenn es überprüft worden wäre, hätten wir nicht so lange gebraucht wie Sie, in die Tat umzusetzen, daß endlich Verbesserungen eintreten.
- Leider wird die Zeit für unser Zwischengeplänkel von meiner Redezeit abgezogen. Deswegen möchte ich gerne zum vorliegenden Gesetzentwurf reden. Wir können die Diskussion dann später im Ausschuß fortsetzen.
Für die Kinder, die seit dem 1. Juli 1993 geboren wurden, gelten die Bestimmungen, die im Föderalen Konsolidierungsprogramm und seinen Umsetzungsgesetzen durchgesetzt wurden. Diese neuen Bestimmungen sollten allein für das Jahr 1993 146 Millionen DM Haushaltsmittel einsparen. Sparen ist sicherlich nicht nur eine sinnvolle, sondern im Augenblick auch eine gebotene Maßnahme. Aber müßte man sich als politisch Verantwortliche nicht fragen, wem man solche Leistungskürzungen zumutet? Diejenigen, die von diesen Kürzungen betroffen sind, sind nämlich die Familien. Es sind genau die Familien, meine Damen und Herren, die im vergangenen Jahr im Mittelpunkt von zahlreichen Sonntagsreden und lauwarmen Absichtserklärungen gestanden haben.
Zur Erinnerung: 1994 war das Internationale Jahr der Familie. Bis heute gibt es aber aus den Reihen der Bundesregierung oder der Regierungsfraktionen keine parlamentarischen Initiativen, um die vielen Versprechungen des vergangenen Jahres zu erfüllen. Das von gestern war keine parlamentarische Initiative.
Statt dessen haben die Familien kräftig sparen geholfen. 1993 überstieg der eingesparte Betrag beim Erziehungsgeld die angesetzte Größe um rund 40 Millionen DM. Familien sind also ein Spartopf der Nation. Es ist höchste Zeit, darüber nachzudenken, wie das Gesetz wieder auf solide Füße gestellt werden kann. Dazu ist es sicher zuerst nötig, daß wir uns noch einmal angucken, was denn im Jahre 1993 eigentlich geändert worden ist.
Anstelle der Einkünfte aus dem vorvergangenen Jahr vor der Geburt des Kindes wird das Einkommen des Geburtsjahres berücksichtigt. Dadurch ist es nicht mehr möglich, das Einkommen mit dem Einkommen- oder Lohnsteuerbescheid nachzuweisen. Vielmehr muß jetzt eine Einkommensprognose erstellt werden, die für die Antragsteller das Herbeischaffen vielfältiger Bescheinigungen und Unterlagen bedeutet und für die ausführenden Ämter einen erheblichen Mehraufwand mit sich bringt. Dieser Mehraufwand ist vor allem auch dadurch gegeben, daß die Erstellung von Einkommensprognosen eher eine finanzamtstypische Tätigkeit ist. Diese sind aber nicht mit der Durchführung des Bundeserziehungsgeldgesetzes beauftragt.
Die Berechnung des Erziehungsgeldes gilt nach der Novelle vom 1. Juli 1993 nur für ein Jahr. Für das zweite Lebensjahr des Kindes muß ein weiterer Antrag gestellt werden.
Damit ist das Maß der Veränderungen noch nicht voll: Ferner müssen Berechtigte im 16. Lebensmonat des Kindes nachweisen, daß sie weiterhin keiner sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen, daß also der Erziehungsurlaub nach wie vor in Anspruch genommen wird.
Ein weiteres Einsparpotential wurde bei den ausländischen Familien gesehen. Denn heute erhalten nur noch Personen mit Aufenthaltserlaubnis oder -berechtigung die Leistungen nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz. Hier ist wieder einmal festzustellen, meine Damen und Herren: An den Schwächsten wird auch bei diesem Gesetz gespart, weil man hier mit der gerinsten Gegenwehr rechnet.
Anstatt nicht nur im Rahmen des Internationalen Jahres der Familie, sondern vor allem auch im Hinblick auf die laufenden Beratungen zum § 218 mit Leistungen für Kinder und Familien besonders sorgfältig und behutsam umzugehen und da, wo es nur eben geht, Leistungen sinnvoll zu erhöhen, strafen die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen ihre eigenen Absichtserklärungen Lügen.
So ist es. Es wäre angebracht gewesen, das Erziehungsgeld zu erhöhen oder wenigstens die Bemssungsgrundlage. Berücksichtigt man nämlich den Kaufkraftverlust durch die Steigerung der Lebenshaltungskosten seit 1986, müßte das Erziehungsgeld um 100 bis 150 DM höher sein.
Um es zu wiederholen: Seit 1986 ist die Einkommensgrenze von 29 400 DM für eine Familie mit einem Kind - das sind 2 450 DM monatlich - nicht erhöht worden. Der Anstieg der Lebenshaltungskosten und der Einkommen ist in diesem Zeitraum natürlich nicht stehengeblieben. Schon im Jahre 1992 hätte sich bei einer Anpassung der Einkommensgrenze an die Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter für die eben genannte Familie ein mögliches Einkommen von 34 075 DM ergeben. Das sind 4 675 DM pro Jahr oder 390 DM pro Monat mehr als im Jahre 1986.
Es ist also allerhöchste Zeit zu handeln. Ich begrüße natürlich sehr, Herr Kollege Link, daß Sie heute angekündigt haben, daß da etwas kommt.
Folgerichtig hat sich der Anteil derjenigen, die nach dem sechsten Lebensmonat ihres Kindes kein Erziehungsgeld mehr erhalten, von 10,5 % im Jahre 1987 auf 12,5 % im Jahre 1992 erhöht. Der Anteil de-
Hildegard Wester
rer, die ein gemindertes Erziehungsgeld erhalten, hat sich von 8,6 % im Jahre 1987 auf 16,5 % im Jahre 1992 erhöht. Dies ist kein Zeichen für die allgemein gute materielle Situation junger Familien, wie es oft zu interpretieren versucht wird, sondern hier liegt ganz klar auf der Hand, daß es einen Zusammenhang zwischen den gestiegenen Lebenshaltungskosten und dem Stillstand in der Leistung bzw. der Bemessungsgrundlage gibt.
Jetzt wird das Einkommen auf der Grundlage des Geburtsjahres des Kindes ermittelt. Dies wird zusammen mit der Einkommensentwicklung dazu führen, daß der Anteil derjenigen, die kein oder ein gemindertes Erziehungsgeld erhalten, im Jahre 1994 von 29 auf 33 % steigt. Ein Drittel aller Sorgeberechtigten erhalten also auf Grund der Überschreitung der Einkommensgrenze keine oder nur noch eine geminderte Leistung nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz. Diese Tatsache allein reicht aus, um sich zu fragen, welche Zielrichtung dieses Gesetz eigentlich verfolgt, ob wir diejenigen erreichen, die wir erreichen wollen, nämlich die Familien mit Kindern.
Ich möchte noch auf einen zweiten wesentlichen Aspekt aufmerksam machen. Das Herbeibringen von Belegen für eine Einkommensprognose belastet die Familien stark und ist in vielen Fällen nicht einmal lückenlos möglich. In letzterer Situation kann das Erziehungsgeld auch nur unter dem Vorbehalt der Rückzahlung ausgezahlt werden. Da sich der gleiche Vorgang zu Beginn des zweiten Lebensjahres des Kindes wiederholt, sind die Antragsteller nicht nur zum zweitenmal mit dem Verwaltungsaufwand konfrontiert, sondern haben praktisch über die gesamte Laufzeit des Erziehungsgeldes eine große Unsicherheit auszuhalten, ob und in welcher Höhe sie überhaupt Erziehungsgeld erhalten werden.
Geradezu skandalös ist es aber, daß sich durch die neue Berechnungsweise ergeben kann, daß Paare, die beide ihre Arbeitszeit reduzieren, um Kinderbetreuung und Berufstätigkeit gemeinsam zu organisieren, gekürzte oder keine Leistungen erhalten, obwohl ihr Einkommen gesunken ist, nämlich dann, wenn das Kind in der zweiten Jahreshälfte geboren und erst dann die Arbeit reduziert wird oder wenn die Reduzierung der Arbeitszeit des Partners nicht als Härtefall, sondern als „selbstverschuldet" bewertet wird.
Ich frage mich, was man mit diesem Gesetz und den Betroffenen noch alles anstellen und trotzdem behaupten kann, es handele sich um ein Gesetz mit der Zielvorgabe der finanziellen Anerkennung der Erziehungsleistung, der Hilfestellung bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und der partnerschaftlichen Gestaltung der beiden vorgenannten Aspekte.
Es wird allerhöchste Zeit, daß eine Korrektur der Richtlinien zur Durchführung des Gesetzes vorgenommen wird, wie Frau Rönsch es für Anfang dieses Jahres versprochen hatte. Es ist sehr wohl bekannt, daß dort eine riesenhafte Lücke klafft. Sie ist immer noch nicht geschlossen.
Die letzte Hürde, die man zu überwinden hat, wenn man Erziehungsgeld beziehen will, ist die, daß man im 16. Lebensmonat des Kindes eine Bescheinigung vorlegen muß, daß der Beurlaubungsstatus fortbesteht. Auch hier gibt es - wie an vielen anderen Stellen im Sozialrecht - den erhobenen Zeigefinger, der vor dem Mißbrauch einer Sozialleistung warnt. Es soll ja nichts anderes als die Frage geprüft werden, ob jemand tatsächlich so dreist ist, Erziehungsgeld zu beziehen, während er gleichzeitig versicherungspflichtig arbeitet.
Ca. 50 % der Leistungsempfängerinnen und -empfänger sind von dieser Situation betroffen. Es ist schon jetzt sicher, daß die ausführenden Ämter sehr viel Kraft und Arbeit investieren müssen, um die Überprüfung der neu beizubringenden Bescheinigungen vorzunehmen und anzumahnen, wenn Bescheinigungen nicht rechtzeitig da sind. Weiter wird es zu Auszahlungsstopps kommen, nämlich für den Fall, daß die Bescheinigungen nicht vorliegen. Dann wird es Widerspruchs- und Wiedereinsetzungsverfahren geben. Das sind alles Maßnahmen, die dazu beigetragen haben, daß die Belastungen der Länder ins Unerträgliche gestiegen sind. Zwei- bis dreifacher Mehraufwand an Personalkosten ist von den Ländern reklamiert worden.
Ich frage mich, warum es, wenn der Bund ein Gesetz zum Einsparen macht, wie in diesem Fall wieder einmal zu Lasten der Länder geht. Wir haben die Länder schon bei der Frage des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz im Regen stehen lassen.
Lassen Sie es uns in diesem Falle nicht tun, vor allen Dingen dann nicht, wenn die Sparmaßnahmen, die wir ergriffen haben, für die Leistungsempfänger alles andere als sinnvoll sind!
Ich erteile dem Abgeordneten Heinz Lanfermann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegen haben mich gerade schon darauf aufmerksam gemacht, daß die mir zustehende Redezeit von fünf Minuten auf keinen Fall ausreichen kann, auch nur einen Teil der Dinge zurechtzurücken, die Frau Wester uns soeben dargeboten hat.
Ich will mich deswegen auf einen Punkt beschränken, weil das mittlerweile schon fast zur Legende wird: auf ihre Behauptung, der Bund habe die Länder im Regen stehen lassen, was den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz angeht.
Heinz Lanfermann
Frau Kollegin, so oft Sie es sagen, so oft werden wir es richtigstellen:
Dies ist Angelegenheit der Länder. Es hat einen Finanzausgleich gegeben, bei dem genau dieser Punkt berücksichtigt worden ist. Wenn die Länder mittlerweile über vier Jahre an dieser Geschichte arbeiten, teilweise viel, teilweise aber auch wenig - die SPD- geführten Länder befinden sich leider ganz überwiegend bei denen, die weniger getan haben -, dann ist das deren Schuld. Wir lassen nicht zu, daß Sie vor den Bürgern falsche Nachrichten verbreiten.
Meine Damen und Herren, diese Debatte findet in einer Woche statt, an die sich viele erinnern werden, wenn wir über Familien und Kinder sprechen. Denn in dieser Woche ist ein Durchbruch in der Frage des Familienleistungsausgleichs - wie es jetzt besser heißt - gelungen:
Wir haben in der Koalition nicht nur einen sehr schönen, sondern vor allen Dingen auch einen sehr wirkungsvollen Kompromiß gefunden, um den Familien mit Kindern wirklich zu helfen. Jetzt muß ich eine weitere Falschmeldung korrigieren. Frau Wester, Sie haben vorhin gesagt, es sei nichts hinzugekommen.
6 Milliarden DM sind so wenig nicht, gerade in einer Zeit, in der wir überall einsparen müssen. Der Gesamttopf, der aus Steuerentlastung und Kindergeld besteht und zu dem jetzt noch zusätzliche Leistungen kommen, ist um 6 Milliarden DM gestiegen. Die bessere und intelligentere Verrechnung, die wir vorgenommen haben, bringt eine weitere Entlastung der Haushalte, weil wir einen Entbürokratisierungseffekt eingebaut haben. Das wissen Sie genau. Es gab auch Stellungnahmen aus den Reihen der Opposition, die zeigen, daß man durchaus erkannt hat, daß dies ein guter Wurf der Koalition war.
Wir hoffen jetzt, daß Ihre Parteikolleginnen und -kollegen, die in den Ländern Verantwortung tragen, bei den anstehenden Verhandlungen über die Umsetzung mitziehen werden, damit dieses gute Programm und das zusätzliche Geld für die Familien möglichst schon ab Januar 1996 zur Verfügung gestellt werden kann. Die Länder sind aufgefordert, mitzuhelfen, weil die Verrechnung über die Finanzämter ein gelungener Schritt ist. Es ist der erste Schritt hin auf das, was die F.D.P. gefordert hat -
wir freuen uns, daß wir den Koalitionspartner überzeugen konnten -, nämlich hin auf das, was man unter den Begriff „negative Einkommensteuer" faßt. Das versteht man schon weniger; der Begriff „Bürgergeld" ist natürlich viel besser. Das heißt, daß wir entbürokratisieren, in der Verwaltung Kosten einsparen und dafür dort mehr leisten können, wo es wirklich notwendig ist: bei den Familien, bei den Kindern. Ich denke, dieser erste Einstieg hat schon ein bißchen Geschichte in der Familienpolitik geschrieben. Deswegen sind wir auf einem guten Wege. Ich will und kann jetzt nicht alles wiederholen, was der Kollege Link hier schon richtigerweise ausgeführt hat.
Wenn das Stichwort Entbürokratisierung fällt, dann muß ich Ihnen sagen: Der Vorschlag des Bundesrates hat neben anderem vor allem auch den Nachteil, daß Sie jetzt, nachdem wir gerade ein sinnvolles und gerechtes System gefunden haben, in dem das aktuelle Einkommen zugrunde gelegt wird, wieder die Verwaltung umstellen und damit eine neue Belastung für die Verwaltung aufbauen wollen. Das kann nicht der Sinn der Sache sein.
Die praktischen Schwierigkeiten, die Sie geschildert haben, will ich hier gar nicht unbedingt verneinen oder schönreden, aber ich denke, da gibt es bessere Lösungsmöglichkeiten, als ein schlechteres System einzuführen. Wir sollten uns abgewöhnen, immer die Gesetze zu verändern, während es in Wirklichkeit doch meistens Probleme der Verwaltung und der Verwaltungsdurchführung sind. Und zur Verwaltungsdurchführung sei wiederum der Hinweis erlaubt, daß hier meistens eher die Länder als der Bund betroffen sind.
Meine Damen und Herren, es ist auch richtig, weiterhin das Erziehungsgeld grundsätzlich bedarfsabhängig zu gewähren. Das ist eine Konzentration der Mittel auf diejenigen, die es wirklich brauchen. Das ist das, was wir wollen, und das würde durch den Gesetzentwurf des Bundesrates - zumindest in Teilen - wieder zunichte gemacht, und deswegen findet er auch nicht unsere Zustimmung.
Meine Damen und Herren, ich kann mich ansonsten noch einmal dem anschließen, was der Kollege Link gesagt hat. Wenn wir nach vorne schauen - ich habe vorhin das Bürgergeld schon erwähnt, und vielleicht darf ich jetzt noch einen letzten Satz sagen, Herr Präsident -: Der zweite Schritt hin zum Bürgergeld könnte dann die kombinierte Leistungsberechnung von Kindergeld, Erziehungsgeld und Ausbildungsförderung sein.
So können wir dieses Entbürokratisierungs-Programm in Zukunft sinnvoll weiterführen. Da blicke ich sehr optimistisch in die Zukunft, was die gute Familienpolitik dieser Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen angeht.
Vielen Dank.
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Heidemarie Lüth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lanfermann, so schön, wie Sie Ihre Rede begonnen und wie Sie sie auch beendet haben, können meine paar Worte allerdings nicht sein; denn auch in dieser Debatte geht es eigentlich um die Beseitigung einer Altlast der Bundesregierung, nämlich um die Veränderung eines in der vergangenen Legislaturperiode beschlossenen Gesetzes.
Vor fast genau zwei Jahren, am 5. März 1993, erklärte die damalige Familienministerin Frau Rönsch:
Korrekturen beim Erziehungsgeld bringen mehr Gerechtigkeit - eine Kürzung findet nicht statt.
Hervorgehoben wurden in dieser Erklärung für 1993 Einsparungen von 146 Millionen DM - die Kollegin Wester hat es schon erwähnt -, und für 1994 wurden 575 Millionen DM sowie Einsparungen für 1995 und 1996 von 600 Millionen DM beim Erziehungsgeld benannt.
Am 1. Juni 1994 erklärte Frau Rönsch zur Einbringung der Großen Anfrage der SPD zu diesem Thema:
Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub sind aus dem Leben junger Mütter und Väter nicht mehr wegzudenken. Sie sind eine grundlegende Errungenschaft für Familien und gehören fest zum Leistungskatalog einer humanen Politik.
Das Licht der Familienpolitik in dieser „humanen Politik" brennt meines Erachtens im Kronleuchter der anderen Ministerien, allerdings auf einer sehr flackernden Sparflamme. Ich bin sehr gespannt, wie die Rahmenbedingungen der Regierung, von denen Frau Nolte am 8. März sprach und die Herr Link vorhin angekündigt hat, für diesen Teil der Familienförderung dann wirklich aussehen werden; denn die jetzige Vergabepraxis des Erziehungsgeldes erinnert mehr an einen Gnadenakt, denn an eine humane Politik.
Die dreimalige Antragstellung, die entsprechenden Bearbeitungszeiten und die Unsicherheit, ob Erziehungsgeld gezahlt wird, und nicht zuletzt die Höhe führen dazu, daß Mütter auf die Errungenschaft Erziehungsgeld zum Teil verzichten und, wenn es sich bietet, eine Arbeit aufnehmen.
Alleinerziehende Mütter, die nicht in einer Partnerschaft leben, werden in der Zeit des Erziehungsurlaubes häufig gleich zu Sozialhilfeempfängerinnen.
Antragstellung, Bearbeitung und Kontrolle haben sich zu einer Inflation der Bürokratie entwickelt, die in den Ländern jährlich bis zu ca. 170 Millionen DM kostet. Wenigstens hier hat der schlanke Staat Arbeitsplätze geschaffen.
In diesem Sinne ist der Entwurf des Bundesrats, ist die Rückkehr zum alten Verfahren ein Fortschritt, den sicher auch die betroffenen Mütter so sehen;
denn Überschaubarkeit und Sicherheit sind Ergebnisse dieses Antrags. Die wahren Probleme löst dieser Gesetzentwurf nicht; denn auch hier heißt der Grundtenor Einsparung.
In einem Punkt ist es in der Tat eine Schlechterstellung; denn für die ersten sechs Lebensmonate des Kindes würde das Erziehungsgeld einkommensunabhängig gezahlt. Die Mütter und Väter - die Antragsteller - wird es sicher nicht brüskieren, würde der Begriff Einkommen überschaubarer definiert.
Wirkliche Wahlfreiheit, die ökonomisch abgefedert wird, wird so allerdings nicht erreicht. Denn Erziehungsgeld wird weder an Einkommensgrenzen noch an die Höhe der Lohnentwicklung gekoppelt. Lebenshaltungskosten in ihrer dynamischen Entwicklung spielen dabei natürlich auch keine Rolle.
In der „Frankfurter Rundschau" vom 8. März ist das Durchschnittseinkommen der Arbeiter und Angestellten in Industrie und Baugewerbe Ost mit 3 220 DM und West mit 4 773 DM angegeben. Wehe diesen Durchschnittsverdienern, wenn sie ein Kind bekommen, denn sie brauchen einen Antrag auf Erziehungsgeld überhaupt nicht zu stellen.
Drei Jahre Erziehungsurlaub, drei Jahre Erziehungsgeld - das ist unsere Forderung, angebunden an eine entsprechende Grundsicherung. Als minimal betrachten wir natürlich die Forderung auf eine entsprechende Angleichung an die Lebenshaltungskosten und Lohnentwicklung.
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ich hoffe, daß die Koalition diesmal auch Wort hält und es nicht nur bei dem schönen Wort beläßt, das Herr Link verkündet hat.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/204 und 13/711 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cern Özdemir, Christa Nickels, Amke DietertScheuer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beschränkung der Abschiebungshaft von Ausländerinnen und Ausländern
- Drucksache 13/107 -
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN acht Minuten Redezeit erhalten soll. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann machen wir das so.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Christa Nickels.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verschärfungen im Ausländer- und Asylrecht haben dazu geführt, daß der Umfang der Abschiebehaft in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat. Laut amnesty international sitzen derzeit etwa 3 000 Menschen in Abschiebehaft. 1 020 waren es im Jahre 1994 allein in Nordrhein-Westfalen.
In vielen Fällen sitzen Menschen in Abschiebehaft, obwohl ihre Abschiebung in absehbarer Zeit überhaupt nicht durchführbar ist, und zwar aus Gründen, die sie nicht selber zu vertreten haben, z. B. wenn die Heimatländer keine Papiere ausstellen. Nach ihrer Festnahme werden diese Leute oft ohne entsprechende inhaltliche Prüfung in Abschiebehaft genommen. Flüchtlinge sind ja bekanntlich lediglich zum Zweck der „Sicherung" der bevorstehenden Abschiebung und nicht etwa zur Verbüßung einer Straftat inhaftiert. Sie sind keine Kriminellen.
Tatsächlich werden sie aber genauso behandelt wie Kriminelle und manchmal sogar noch schlechter, weil durch die vielfältigen Nationalitäten der Menschen in solchen Hafthäusern überhaupt keine vernünftige Übersetzung und keine Kommunikation gewährleistet sind. Zur Angst dieser Leute vor der Abschiebung in die Heimat kommen noch die Isolation, die Vereinsamung und die Unmöglichkeit, sich zu äußern, hinzu.
Das Eingesperrtsein in Zellen während einer Haftdauer von mittlerweile bis zu 18 Monaten und die Angst vor den Folgen einer Abschiebung in die ehemaligen Verfolgerländer haben bereits zu zahlreichen Selbstmorden geführt. Ich finde es unheimlich wichtig, daß auch hier im Bundestag, wo in der Regel nur über Paragraphen und Gesetzeswortlaut diskutiert wird, die Menschen wieder in den Blick genommen werden.
Mir ist es wichtig, einige dieser Menschen, die sich aus dieser Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit umgebracht haben, mit Namen zu nennen. Ich möchte an Pfarrer Kwaku aus Ghana erinnern, der am 4. Januar 1993 in der Abschiebehaft in München Selbstmord begangen hat. Herr Massivi Daniel Lopes aus Angola tötete sich selber am 25. Oktober 1993 in der Abschiebehaft in Trier. Herr Emanuel Thomas Tout aus Sudan brachte sich am 25. Dezember 1993 in der Abschiebehaft in Herne um. Herr Emanuel Ehi aus Nigeria beging am 25. Dezember 1993 in der Abschiebehaft in Regensburg Selbstmord. Herr Son-HaHoang aus Vietnam starb am 27. Januar 1994 in München an den Folgen einer Selbstverbrennung aus Angst vor der Abschiebung. Ihnen allen bekannt ist sicherlich der Fall von Herrn Kola Bankole aus Nigeria, der an den Folgen einer Beruhigungsspritze und der Knebelung während der Abschiebung auf dem Frankfurter Flughafen starb.
Die Tatsache, daß die Flucht von Menschen nach Deutschland immer häufiger so endet, wirft ein scharfes Licht auf die Auswirkung des Asylrechts.
Flüchtlinge unter den genannten Bedingungen, und dazu noch aus Gründen, die sie nicht zu verantworten haben, einzusperren, ist eine krasse Verletzung der Menschenrechte. Diesen Zustand möchte meine Fraktion nicht mehr hinnehmen.
Seit dem Inkrafttreten des sogenannten Asylkompromisses stellen die Ausländerbehörden massiv Anträge nach § 57 des Ausländergesetzes. In diesem Paragraphen werden die Voraussetzungen und der Umfang von Abschiebungen geregelt. In der Vorstellungswelt nicht nur der Ausländerbehörden wollen alle Asylsuchenden wegen der drohenden Abschiebung angeblich untertauchen. Wegen dieser pauschal behaupteten, aber im Einzelfall sehr oft überhaupt nicht nachgewiesenen Fluchtgefahr stellen viele Richter auf Antrag der Behörden Haftbefehle aus, ohne die betroffenen Menschen selber überhaupt angehört zu haben. Das derzeitige Asylverfahren ist völlig unzureichend. Das ist nicht - das sage ich an Ihre Seite von der CDU/CSU und der F.D.P. hier im Hause - eine Erfindung von irgendwelchen ideologisch verblendeten GRÜNEN, sondern das belegt ganz klar auch der Erfahrungsbericht der Caritas von 1994. Auch auf der Bischofskonferenz in dieser Woche hat man dazu kritische Töne gehört.
Dieses völlig unzureichende Asylverfahren bewirkt bei den Flüchtlingen Hoffnungslosigkeit, Angst und Verzweiflung dergestalt, daß, weil sie in unseren Rechtsstaat kein Vertrauen mehr haben, immer mehr im Vorfeld tatsächlich in die Illegalität abgleiten. Im Klartext: Ein Teil der Probleme, gegen die mit der inhumanen Abschiebehaftpraxis angeblich vorgegangen wird, ist die Auswirkung der Politik der Bundesregierung. Wir produzieren diese Probleme also selbst. Eine Verbesserung ist bisher leider nicht in Sicht, denn bislang bestehende Abschiebestopps für die meisten Teilstaaten des ehemaligen Jugoslawiens, für die Türkei, Togo, Zaire und einige weitere Länder sind schon abgelaufen oder laufen demnächst ab. Mit diesen Problemen sind wir im Augenblick massivst konfrontiert.
Die Folgen des Asylkompromisses sind bekannt. Wir dürfen diese Folgen nicht feige verdrängen. Vielmehr wird es Zeit, daß wir uns damit auseinandersetzen und auch die einzelnen Menschen in den Blick nehmen. Meiner Meinung nach geht es nicht, daß wir uns als Mitglieder dieses Parlaments, als Gesetzgeber, nur mit dem Wortlaut von Paragraphen und mit Papier befassen. Wir müssen uns auch mit den Auswirkungen bei den lebendigen, real existierenden Menschen befassen und diese Auswirkungen in den Blick nehmen.
Mit dem Grundgesetz und den Menschenrechten ist es unseres Erachtens nicht zu vereinbaren, daß Flüchtlinge über viele Monate hin unter unmenschlichen Haftbedingungen im Gefängnis eingesperrt und ohne Kommunikationsmöglichkeiten „gehalten" werden. Ich benutze dieses Wort, weil es oft einfach so ist. Ich bin in vielen Gefängnissen gewesen und habe auch mit den Bediensteten gesprochen. Sie sind selber unglaublich unglücklich und haben damit auch Probleme. Normalerweise sind sie gewohnt,
Christa Nickels
Straftäter, die etwas auf dem Kerbholz haben, zu betreuen. Aber hier sind sie mit Flüchtlingen, die Angst haben und deren Schicksal sie als Beamte teilweise kennen, konfrontiert. Sie fühlen sich unheimlich mies, wenn sie diesen Job tun müssen und dabei allein gelassen werden. Denken Sie bitte auch an die Beamten, wenn Sie immer Ideologie auffahren!
Wir sind also der Auffassung, daß eine Reform des § 57 des Ausländergesetzes unumgänglich ist. Eine Neuregelung der Abschiebehaft muß die Bedeutung des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Freiheit der Person in den Vordergrund stellen. Die Freiheit der Person, die in unserem Rechtsstaat zu Recht als höchstes Gut gepriesen wird, darf nur aus besonders wichtigen Gründen eingeschränkt werden, und sie müssen nachgewiesen werden. Ich betone: Dieses Grundrecht gilt für alle, die in unserem Land leben, auch für Ausländer, auch für Asylbewerber und auch für solche, die man abschieben will.
Die Abschiebehaft darf nicht mehr, wie bisher möglich, auf 18 Monate ausgedehnt werden können. Wir halten das aus menschenrechtlichen und verfassungsrechtlichen Gründen für nicht tragbar. Wir fordern daher in unserem Antrag, daß die Haftdauer deutlich eingeschränkt wird und drei Monate nicht mehr übersteigen darf. Wir sagen darüber hinaus, daß Flüchtlinge aus humanitären Gründen nicht abgeschoben und daß auch Minderjährige und Kranke nicht mehr in Abschiebehaft genommen werden dürfen.
In unserem Antrag haben wir ganz bewußt keine Maximalposition formuliert, sondern Bedingungen genannt, die eigentlich in einem demokratischen Rechtsstaat selbstverständlich sein müßten.
Ich möchte darauf hinweisen, daß ich in meiner Arbeit im Petitionsausschuß im Augenblick mit sehr vielen Einzelfällen zu tun habe. Es ist mir darum nicht möglich, daß ich mich hinter Paragraphen verschanze. Jeden Tag sehe ich, was die Leute vorbringen und was für Schicksale sie hinter sich haben. Ich appelliere an Sie alle: Setzen Sie sich bitte mit diesen einzelnen Menschen auseinander! Gehen Sie in die Abschiebegefängnisse! Reden Sie auch mit den Bediensteten! Reden Sie mit den Leuten in Deutschland, die nicht nur auf Kommerz aus sind und mehr haben wollen, sondern sich auch um solche Leute kümmern, im Rahmen von Flüchtlingsgruppen, die ebenfalls zunehmend an unserem Rechtsstaat verzweifeln! Lassen Sie uns gemeinsam eine Lösung finden, die dieser Problematik angemessen ist!
Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Eckart von Klaeden.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Erlauben Sie mir zunächst einige persönlich gefärbte Bemerkungen. Ich bin der Ansicht, daß der Vollzug der Abschiebehaft sicherlich zu den unangenehmsten und schmerzhaftesten Aufgaben gehört, die die deutsche Innenpolitik zu erfüllen hat. Er ist die Folge des Asylkompromisses, der von der ganz großen Mehrheit dieses Hauses und des Bundesrates beschlossen worden ist.
Ich will zugeben, daß der Asylkompromiß bei mir keine Begeisterung ausgelöst hat und daß mir, falls ich im Bundestag gewesen wäre, die Zustimmung sicherlich schwergefallen wäre.
Ich weiß auch, daß es vielen Kolleginnen und Kollegen in meiner Fraktion so geht.
Ich habe viel Verständnis dafür, daß Menschen aus Armut, Hunger oder wegen der Zerstörung ihrer Umwelt oft den einzigen Weg darin sehen, in unser oder ein anderes westeuropäisches Land zu kommen. Ich würde mich in einer solchen Situation sicherlich genauso verhalten.
Andererseits - darauf, meine ich, muß man hier ebenfalls hinweisen - erforderte aber der rasante Anstieg der Asylbewerberzahlen in den Jahren vor dem Asylkompromiß entsprechende Regelungen. Wir konnten und wir können auch heute nicht all diesen Menschen eine Heimstatt bieten. Die Belastungsfähigkeit vor allem der Kommunen und die damit verbundene öffentliche Akzeptanz, die wesentliche Voraussetzung einer Politik in der Demokratie sein muß, wenn sie erfolgreich sein will,
waren auch unter größten Anstrengungen nicht mehr zu erhöhen bzw. zu erreichen.
Ich sage das deshalb am Anfang, weil die Vorbereitung und die Sicherung der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber und derjenigen, die aus anderen Gründen in unser Land gekommen sind und hier kein Bleiberecht erhalten konnten, die notwendige Folge entsprechender ausländer- und asylrechtlicher Verfahren sind. Ein Asylverfahren macht keinen Sinn, wenn im Falle der Ablehnung nicht in der Regel die Abschiebung folgt.
Die Abschiebehaft wird in den Ländern überwiegend durch die Justizvollzugsanstalten als Amtshilfe für die Ausländer- und Polizeibehörden vollzogen. Nach meiner Überzeugung sind die Justizvollzugsanstalten eigentlich nicht der richtige Ort, um Ab-
Eckart von Klaeden
schiebungen zu sichern. Es gibt aber in den Ländern keine Alternative dazu. Ich bin in dieser Frage einer Meinung mit der niedersächsischen Justizministerin Heidi Alm-Merk.
Zum Verfahren will ich zunächst zwei grundsätzliche Bemerkungen machen.
Erstens ist der in der Öffentlichkeit verbreitete Eindruck falsch, als würden alle Asylbewerber, die einen ablehnenden Bescheid bekommen haben, in Abschiebungshaft genommen werden; in Wirklichkeit sind es ungefähr 20 %, nämlich diejenigen, die Tatbestandsvoraussetzungen des § 57 Ausländergesetz erfüllen. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, wird von unabhängigen Richterinnen und Richtern entschieden. Liegen sie aber vor, muß es auf jeden Fall zur Abschiebungshaft kommen. Deshalb laufen auch die Ausführungen in Nr. 5 des Antrags von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ins Leere, weil dazu eine Änderung des Tatbestandes des § 57 notwendig wäre und nicht eine Ausführungsvorschrift nach § 104 Ausländergesetz.
Zweitens will ich darauf hinweisen, daß nach ständiger Rechtsprechung die Verhängung von Abschiebungshaft nur dann zulässig ist, wenn mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß die Abschiebung der Betroffenen ohne ihre Inhaftierung wesentlich erschwert oder vereitelt würde.
Vor diesem Hintergrund will ich nun auf die einzelnen Anträge eingehen.
Die Abschiebung nach § 57 Abs. 2 Satz 3 Ausländergesetz ist bereits heute unzulässig, wenn feststeht, daß die Abschiebung von dem Ausländer oder der Ausländerin aus nicht von ihnen zu vertretenden Gründen innerhalb der nächsten drei Monate nicht vollzogen werden kann. Dazu gehören auch die rechtlichen, humanitären oder politischen Gründe, die in Nr. 1 des Antrags von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erwähnt sind. Eine Beschränkung der Dauer der Abschiebungshaft auf drei Monate, wie in Nr. 2 gefordert, würde diesem Instrument seine Wirksamkeit nehmen und de facto zu seiner Abschaffung führen. Die Dauer der Abschiebungshaft hängt in der Praxis regelmäßig davon ab, in welchem Zeitraum Heimreisedokumente für den Ausreisepflichtigen beschafft werden können. Bestimmte afrikanische Staaten lassen sich dabei sehr viel Zeit. Die Vernichtung der eigenen Ausweispapiere darf aber nicht de facto zu einem unbefristeten Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland führen.
Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß die durchschnittliche Abschiebehaft je nach Bundesland und Jahr zwischen weniger als einem Monat und sechs Wochen schwankt. Die Ausschöpfung des gesetzlichen Höchstrahmens von 18 Monaten ist in der Praxis ein seltener Ausnahmefall und darüber hinaus auch nur dann zulässig, wenn der Auszuweisende seine Abschiebung durch sein Verhalten verhindert.
Die in Nr. 3 unterstellte Inhaftnahme von nicht haftfähigen Kranken und Verletzten ist nicht belegt. Schwangerschaft und Minderjährigkeit schließen als solche eine Haft zwar nicht aus - das ist richtig -; es gibt jedoch keine Haft, wenn auf Grund der
Schwangerschaft die Abschiebung ausgesetzt wird. Allerdings will ich in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, daß etwa jeder dritte Ausbrecher z. B. aus der Jugendanstalt Hameln in Niedersachsen ein Abschiebungsgefangener ist.
Das bringt mich zu Nr. 4 des Antrags vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Die Tatsache, daß im Gegensatz zur Strafhaft die Abschiebehaft keinen Sanktionscharakter hat, muß auch in der Gestaltung der Abschiebehaft deutlich werden. Man muß der sozialen und psychischen Situation, soweit es geht, Rechnung tragen.
Ich will dabei aber auch darauf hinweisen, daß wir - ich komme sofort zum Ende, Herr Präsident - leider einen unübersehbaren Wandel in der Zusammensetzung der Abschiebungsgefangenen während der letzten Jahre feststellen müssen. Nicht wenige osteuropäische Abschiebungsgefangene haben in ihren Heimatländern schon reichlich Hafterfahrung gehabt oder saßen bei uns bereits in Untersuchungs- oder Strafhaft.
Insbesondere bei jungen Menschen führt die Abschiebehaft zu dem Verhalten, alles auf eine Karte zu setzen - Frau Nickels hat darauf hingewiesen - und ungeachtet der eigenen Unversehrtheit von Leib und Leben der des Betreuungspersonals alles zu riskieren, um dem vorgezeichneten Schicksal noch eine andere Wendung zu geben. Hier findet meiner Ansicht nach die berechtigte Forderung nach Information und einer der besonderen Situation gerecht werdenden Inhaftierung ihre natürliche Grenze.
Es erschreckt mich darüber hinaus, immer wieder zu hören, daß diese Abschiebungshäftlinge im Gegensatz zu den meisten Strafgefangenen oftmals schwerwiegende Verletzungen in Kauf nehmen. Damit korrespondiert eine oftmals wesentlich höhere Fluchtbereitschaft. Entsprechende Sicherheitsmaßnahmen schulden wir deshalb nicht zuletzt auch unserem Personal in den Justizvollzugsanstalten.
Insgesamt meine ich daher, daß die bisherigen Vorschriften zur Abschiebehaft eine angemessene Lösung darstellen, wenn sie durch eine entsprechend angemessene und rechtsstaatliche Vollziehung der Länder gewährleistet werden. Es bleibt aber nach wie vor eine sehr schmerzhafte Aufgabe.
Vielen Dank.
Ich erteile der Abgeordneten Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man merkt es schon am Ton dieser Debatte: Zu den schwierigsten
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
und heikelsten Themen, mit denen wir seit Inkrafttreten der Asylrechtsänderung immer wieder zu tun haben, gehört tatsächlich die Abschiebehaft, genauer gesagt: ihre Dauer, ihr Ablauf und die Art und Weise, wie mit den „Schüblingen" - so heißt es im Behördenalltag - umgegangen wird.
Es gibt Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Menschenrechtsorganisationen, die scharfe Kritik üben. Berichte über Selbstmorde, Selbstverstümmelungen und andere Verzweiflungstaten müssen die Öffentlichkeit alarmieren.
Auch Jutta Limbach, die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes, hat das Thema kürzlich im Zusammenhang mit ihrer Auffassung von mutmaßlichen Schwächen des Asylkompromisses angesprochen. Ich finde, dazu hat Frau Limbach das Recht. Wir als Parlamentarier tun gut daran, solche Kritik nicht auf die leichte Schulter zu nehmen;
denn man kann, man muß das alles ernst nehmen und darauf eingehen, ohne gleich, wie es leider nur allzuoft vorkommt, von der Regierungsbank den Vorwurf zu hören, man wolle die Asylrechtsreform kippen oder unterlaufen.
Im Gegenteil, meine Damen und Herren: Auch gut eineinhalb Jahre nach Inkrafttreten sind wir als Parlamentarier verpflichtet, ein so umfangreiches, ein so einschneidendes und schwieriges Gesetzespaket aufmerksam und immer wieder selbstkritisch auf die Wirksamkeit und auch auf die Rechtsstaatlichkeit seiner Einzelteile hin zu überprüfen.
Deshalb haben wir, die Innenpolitiker der SPD, vor, in den nächsten Tagen intensive Gespräche mit Vertretern von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Flüchtlingshilfegruppen zu führen und dabei besonderes Gewicht auf das Problem zu legen, das uns hier heute mittag beschäftigt. Übrigens müssen wir uns auch mit der scharfen Kritik der Deutschen Bischofskonferenz, die wir soeben hören und lesen, auseinandersetzen,
anstatt mit wohlfeilen Stellungnahmen alles im Galopp abzuwiegeln, Herr Marschewski.
Ich will Ihnen einmal eines sagen: Ich bin dem Kollegen, der aus Ihren Reihen eben vor mir gesprochen hat, Herrn von Klaeden, für seine besonnenen Worte ausgesprochen dankbar. Ich wäre froh, wenn ich diesen Ton öfter aus Ihren Reihen, aus den Reihen der Union, hören würde, wenn es um dieses Thema geht.
Die Bischöfe und mit ihnen andere sagen - ich rufe es Ihnen noch einmal in Erinnerung, falls Sie es noch nicht gelesen haben sollten -, daß zu schnell,
zu lange und zu häufig inhaftiert wird. Das heißt, nicht die Abschiebehaft als solche steht zur Disposition; zu fragen ist hier, ob sie zu rabiat vollzogen wird.
Ein Asylbewerber - um auch das klarzustellen - muß es akzeptieren, daß er, wenn sein Antrag rechtskräftig abgelehnt worden ist, daraufhin zur Ausreise verpflichtet wird, unter der Voraussetzung, daß es keine Abschiebungshindernisse oder humanitäre Gesichtspunkte gibt, die dagegen sprechen. Auch die Europäische Menschenrechtskonvention läßt zu, einem Menschen die Freiheit zu entziehen, wenn eine gesetzliche Verpflichtung durchgesetzt werden soll. Dazu gehört z. B., daß die Betroffenen bei der Beschaffung ihrer Ausreisepapiere mitwirken sollen.
Nur, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, entscheidend ist, daß wir alle, die Bevölkerung insgesamt, die zuständigen Ministerien, die Polizisten und die Justizbeamten, uns immer wieder klarmachen: Ein abgelehnter Asylbewerber ist kein Straftäter. Deswegen muß strikt darauf geachtet werden, ob der Entzug der Freiheit wirklich als letztes Mittel zur Durchsetzung eines Verwaltungsaktes nötig ist und ob das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt ist.
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, greift die bedrückende Lage der Menschen in Abschiebehaft auf, und das ist sicherlich wichtig. Aber, mehrere Vorschläge, die Sie machen, entsprechen im Grunde der geltenden Rechtslage.
Sie werden aber nicht oder höchst unzureichend praktiziert. Damit haben wir uns auseinanderzusetzen.
Das will ich jetzt einmal an Beispielen erläutern. Nach Ihrem Antrag sollen diejenigen Menschen, die aus humanitären oder tatsächlichen Gründen ohnehin nicht abgeschoben werden können, nicht in Haft genommen werden. Nimmt man jetzt den Text des § 57 des Ausländergesetzes genau, so darf das tatsächlich nicht geschehen. Es geht aber meistens um fragliche Fälle. Ist die Lage eindeutig, z. B. für Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina, darf die zuständige Ausländerbehörde keine Sicherungshaft beantragen,
Nun wollen Sie außerdem die Abschiebehaft auf höchstens drei Monate beschränken. In der Regel - ich betone: in der Regel - wird nach Auskunft des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge dieser Zeitraum nicht überschritten.
Doch ist es auch richtig, Herr Schlauch, daß Menschen vor allem aus Algerien, Pakistan und Indien oft länger als ein Jahr hinter Gittern sitzen. Ich leugne das ja gar nicht. Oft liegt dann das Problem bei der Paßbeschaffung. Speziell bei Algerien ist das schwie-
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
rig. Das ist außerordentlich belastend. Trotzdem können die Ausländerbehörden aus den Gründen, die ich eben nannte, nicht völlig auf eine mögliche Verlängerung verzichten. Ihrer Forderung nach einer pauschalen Grenze von drei Monaten können wir deswegen so nicht folgen.
Wir fordern aber, was z. B. in Schleswig-Holstein schon so gehandhabt wird, automatisch nach drei Monaten gewissenhaft nachprüfen zu lassen, ob die Haft noch aufrechterhalten werden kann. Sie ist unverzüglich dann aufzuheben, wenn die Abschiebung ohnehin nicht möglich ist.
Die Praxis der Abschiebehaft ist in den einzelnen Bundesländern in der Tat bedrückend und unwürdig. Die Haftanstalten sind vielerorts überfüllt, die Behörden und ihre Beamten sind überfordert. In einigen Bundesländern liegt die Zuständigkeit beim Justiz-, in anderen beim Innenministerium. Vor allen Dingen sind die Abschiebehäftlinge von Straftätern oft nicht getrennt. Das ist schlecht, und das sollte sich so rasch wie möglich ändern.
Die zuständigen Landesbehörden können und müssen sich bemühen, den Menschen in Abschiebehaft trotz ihrer ohnehin traurigen Situation wenigstens das Gefühl zu vermitteln, daß sie keine Strafe verbüßen. So schwierig das auch sein mag, mit Einfühlungsvermögen und Ideen kann das in den Ländern gelingen, z. B. durch getrennte Unterbringung von Abschiebehäftlingen und Strafgefangenen, z. B. durch großzügigere Umschlußregelungen, z. B. durch soziale Hilfen, Gesundheitsfürsorge, Rücksicht auf kulturelle und religiöse Bedürfnisse der Flüchtlinge, vor allem aber dadurch - und darin haben Sie mit Ihrem Antrag recht -, daß Kontakte zu Familienangehörigen, zu Freunden und zu humanitären Organisationen ermöglicht, vermittelt und erleichtert werden.
Das bedeutet gleichzeitig liberale Besuchsregelungen, berufliche und schulische Förderungsangebote. So etwas hat z. B. das Land Niedersachsen in seinen Richtlinien festgeschrieben. So etwas nimmt den Menschen natürlich nicht den Druck in der Abschiebehaft, aber es kann wenigstens Spannungen und Angst abbauen. Es hilft, lindert, erleichtert. Vor allem aber: Es kann dem Selbstwertgefühl und der Würde der Betroffenen dienen; und manchmal ist das, wörtlich gesprochen, lebenswichtig.
Danke schön.
Ich erteile das Wort dem Abgeordneten Dr. Max Stadler.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Begründung des Antrags von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beschreibt ein drängendes Problem weitgehend zutreffend. Wir haben aber erhebliche Zweifel daran, daß die Lösung wirklich in einer Gesetzesänderung zu suchen ist.
Uns scheint, daß die Anwendung des geltenden Rechts nicht immer dem entspricht, was jedenfalls wir von der F.D.P. uns als Gesetzgeber vorgestellt haben. Abschiebungshaft ist notwendig, muß aber ultima ratio bleiben. Anzustreben ist daher vor allem eine restriktive Auslegung des § 57 des Ausländergesetzes schon bei der Antragstellung durch die Ausländerbehörden. Dazu braucht man keine Gesetzesänderung, sondern das kann auf dem Verwaltungsweg erreicht werden.
Ähnliches gilt für andere Punkte des Antrags von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. In dem Antrag werden gewisse Parallelen zwischen der Untersuchungshaft und der Abschiebehaft gezogen. Diese Parallelen liegen durchaus nahe. Beide Institute dienen in ähnlicher Weise übergeordneten Zwecken: Die Untersuchungshaft bezweckt die Sicherung der Durchführung eines Strafverfahrens; die Abschiebehaft soll das berechtigte staatliche Interesse daran sichern, die Ausreise z. B. von nicht anerkannten Asylbewerbern notfalls mit Zwang und möglichst rasch durchzusetzen.
Eine bestimmte Parallele zwischen beiden Haftarten darf es aber nicht geben: Aus der Abschiebehaft darf nicht de facto eine Art verkappter Strafhaft werden, meine Damen und Herren.
Jeder Strafrechtspraktiker weiß, daß Untersuchungshaft oftmals zu einer auch in einer bestimmten Verteidigungsstrategie durchaus geduldeten vorweggenommenen vollzogenen Strafhaft wird. Wenn dies auch nicht dem Gesetzeszweck entspricht, so ist es durchaus akzeptabel, wenn ein Verteidiger etwa auf Haftbeschwerde verzichtet, um dann später leichter eine Bewährungsstrafe für seinen Mandanten zu erwirken.
Herr Kollege Dr. Stadler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer?
Ja, bitte sehr.
Vielen herzlichen Dank, Herr Kollege. Ich wollte Sie nur fragen, ob Ihnen die Karikatur bekannt ist, die ich neulich gesehen habe. Zwei Abschiebegefangene sitzen einander in der Zelle gegenüber. Der eine fragt den anderen: „Weißt du eigentlich, weshalb wir hier sitzen?" Da sagt der andere: „Ja, das weiß ich. Wir sitzen hier im Gefängnis, weil man uns nicht glaubt, daß wir zu Hause, in unserer Heimat, ins Gefängnis müßten." Ich wollte Sie nur fragen, ob Ihnen diese Karikatur bekannt ist, weil sie meines Erachtens sehr erhellend Auskunft gibt.
Diese Karikatur ist sicherlich den meisten Anwesenden bekannt, Herr Kollege Irmer. Sie verweist auf die tiefere Problematik, die hinter dem Problem steht.
Ich möchte gerne fortfahren, darzulegen, daß eine ganz klare Linie gezogen wird zwischen Abschiebehaft und der tatsächlichen Auswirkung als einer Art verkappter Strafhaft dafür, daß ein im Ergebnis unbegründeter Asylantrag gestellt worden ist.
Deswegen und auch aus anderen Gründen, die heute schon dargestellt worden sind, brauchen wir eine klare Trennung im Vollzug zwischen Abschiebehaft und Untersuchungshaft oder Strafhaft. Das ist einer der kritischen Punkte, die derzeit in der Praxis nicht erfüllt sind.
Schon dieser Befund ist bedrückend genug. Noch bedrückender sind selbstverständlich die Selbstmorde in der Abschiebungshaft. Sie zwingen uns vollends zu der Erkenntnis, daß ein bloßes „Weiter so!" nicht die richtige Antwort sein kann.
Ich möchte „Die Zeit" vom 23. Februar 1995 zitieren, wo von Martin Klingst zu Recht gesagt wird:
Wer Asyl verlangt, muß wohl oder übel hinnehmen, daß es auch Ablehnungsgründe gibt und daß abgelehnte Asylbewerber das Land verlassen müssen: notfalls zwangsweise abgeschoben werden und einsitzen, wenn sie untertauchen wollen.
Man darf auch nicht verkennen, daß manche Asylbewerber durch Vernichtung der Ausweispapiere die Verfahren unnötig und besonders lange hinauszögern. Vor allem aber fehlt es an der Kooperationsbereitschaft diverser Herkunftsländer. Das ist ein Problem, auf das wir von der Bundesrepublik Deutschland her wenig Einfluß haben, so daß oft wirklich ein schier unlösbares Dilemma zwischen der Achtung der Persönlichkeitsrechte einerseits und der Durchsetzung der notwendigen Abschiebungen andererseits entsteht.
Was kann also getan werden? Der Antrag vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geht in vielen Punkten zu weit; insbesondere die strikte Dreimonatsgrenze ist absolut unrealistisch. Anderes, was darin verlangt wird, kann durch veränderten Verwaltungsvollzug erreicht werden. Notwendig erscheint uns eine möglichst sorgfältige Prüfung der Haftgründe des § 57 schon bei der Antragstellung, insbesondere für den kritischen Fall des § 57 Abs. 2 Nr. 5, was ich aus Zeitgründen nicht mehr näher ausführen kann. Wir verlangen von der Praxis hierfür die Anlegung eines äußerst strengen Maßstabes.
Schließlich muß der Vollzug der Abschiebungshaft menschenwürdig gestaltet werden; das habe ich schon gesagt.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Nickels?
Ich bin nahezu am Ende meiner Redezeit, so daß ich eine Zwischenfrage jetzt leider nicht mehr zulassen kann.
- Gut. Damit bitte sehr, Frau Nickels.
Eine Sekunde, Herr Abgeordneter. - Nicht ich lasse die Zwischenfrage zu, sondern es liegt beim Redner, ob er die Zwischenfrage zuläßt. - In der Tat haben Sie recht, Herr Kollege Stadler, inzwischen ist Ihre Redezeit abgelaufen.
Ich schließe mit dem Satz: Wir verlangen von der Bundesregierung im Ausschuß eine umfassende Darstellung der tatsächlichen Situation und eine Analyse der bisher ergangenen Rechtsprechung und werden daraus die Folgerungen ziehen, was im Verwaltungsvollzug geändert werden muß. Gesetzesänderungen wird es unserer Meinung nach voraussichtlich nicht bedürfen.
Vielen Dank.
Ich erteile der Abgeordneten Ulla Jelpke das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Ilerren! Eines der dunkelsten Kapitel in diesem vereinigten Deutschland sind meiner Meinung nach die Menschenrechtsverletzungen im gesamten Bereich der Abschiebepolitik und vor allem in den Abschiebeknästen.
Seit der Grundgesetzänderung sind die Zahlen der Abschiebung um über 300 % gestiegen. „Ausländer raus" war und ist die Parole der Rechtsextremisten, und Innenminister Kanther hält sein Wort, deren Politik zur alltäglichen Praxis werden zu lassen.
In diesen Tagen beginnen die Massenabschiebungen von Bürgerkriegsflüchtlingen, und in der nächsten Woche fällt der Abschiebestopp für Kurdinnen und Kurden. 3 000 bis 5 000 Menschen ausländischer Herkunft befinden sich gegenwärtig in deutschen Gefängnissen in Abschiebehaft, die nichts anderes als Strafhaft ist: meist unter unmenschlichsten Bedingungen in Großraumzellen 23 Stunden unter Verschluß, eine Stunde Hofgang, Besuch wie bei Strafgefangenen, keine Telefonate usw., und wer Geld besitzt, muß für diese Abschiebehaft sogar selbst bezahlen. Weil die Frage der Kosten für Dolmetscher und Dolmetscherinnen zwischen den Behörden hin- und hergeschoben wird, bleibt oft die nötige Rechtsberatung für die Betroffenen aus.
Ulla Jelpke
Auch ich habe eine Rundreise durch die Strafvollzugsanstalten von Sachsen-Anhalt gemacht und mir von vielen Anstaltsleitern auch die Abteilung der Abzuschiebenden zeigen lassen. Ich habe in Sachsen-Anhalt keinen einzigen Abzuschiebenden angetroffen, der wegen einer Straftat dort einsaß. Das trifft auch auf Empörung der Anstaltsleiter und Bediensteten.
Nach den Protestaufständen im vergangenen Sommer - wir alle haben das gesehen und gehört - hat Sachsen-Anhalt folgende Taktik gefahren:
Die Abzuschiebenden werden jetzt jeden Monat in einer anderen Haftanstalt untergebracht - sozusagen rotierend -, damit sie erstens keine Kontakte zu Rechtsanwälten und zweitens keine Kontakte zum befreundeten Umfeld halten können. Ich meine, das wird ganz gezielt gemacht. Gezielt ist vor allen Dingen auch, daß man ihnen nicht helfen will, daß man sie mit ihren Problemen einfach alleine läßt. Das halte ich im wahrsten Sinne des Wortes für einen Skandal.
Zum Schluß noch ein Satz zum Antrag der GRÜNEN: Sie wissen, ihr wißt, 20 Menschen haben in Abschiebehaft ihr Leben beendet, und inzwischen wird von Übergriffen gesprochen. Die Bischofskonferenz ist hier schon erwähnt worden. Der Antrag der GRÜNEN macht mir Probleme, weil er die Abschiebehaft nicht grundsätzlich in Frage stellt, sondern auf drei Monate beschränken will. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Realpolitik darf bei Menschenrechten nicht teilbar sein, meine ich. Deswegen werden wir für keinen einzigen Tag dieser organisierten Unmenschlichkeit stimmen.
Frau Kollegin Nickels, es tut mir schrecklich leid. Ich würde Ihnen ja gerne die Gelegenheit zu einer Zwischenfrage verschaffen. Nur müßten Sie sich dann entschließen, sich etwas früher zu melden; denn sonst ist es keine Zwischenfrage, sondern eine Nachfrage.
Ich erteile nun dem Parlamentarischen Staatssekretär Eduard Lintner das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Beschlußantrag gibt eine sehr verzerrte Darstellung der rechtlichen und tatsächlichen Situation im Bereich der Abschiebungshaft. Er erweckt nämlich den Ein-
druck, daß Abschiebungshaft nach den Vorschriften des Ausländergesetzes oftmals leichtfertig, unnötig und gar ohne Beachtung der besonderen Situation des jeweiligen Einzelfalles verhängt werden könnte.
- Könnte, habe ich gesagt, Frau Kollegin Nickels. - Die daran geknüpften Forderungen nach einer Änderung des § 57 des Ausländergesetzes können vor diesem Hintergrund deshalb nicht unsere Unterstützung finden.
Die Abschiebungshaft ist generell ein unverzichtbares Mittel der Verwaltungsvollstreckung, wenn es nämlich um die tatsächliche Durchführung der Abschiebung von Ausländern aus der Bundesrepublik Deutschland geht. Gewiß - das ist zuzugeben -, jede Form der Inhaftierung ist für die Betroffenen selbst ein belastender Vorgang. Es handelt sich ja stets um einen Eingriff in die grundrechtlich garantierte Freiheit des einzelnen.
Aber dieser Eingriff, meine Damen und Herren, ist notwendig, wie wir alle wissen. Abschiebungshaft ist deshalb nichts Anstößiges noch gar etwas ethisch Verwerfliches. Kein Ausländer wird im übrigen von der Abschiebung und der damit eventuell verbundenen Abschiebungshaft unvorbereitet getroffen. Vielmehr setzt die Abschiebung voraus, daß der Ausländer vollziehbar ausreisepflichtig ist und daß sie ihm vorher auch angedroht ist. Grundsätzlich kann daher jeder Ausländer die Abschiebung und damit auch eine etwaige Abschiebungshaft vermeiden, indem er seiner Ausreisepflicht freiwillig nachkommt.
Meine Damen und Herren, Ihnen ist aus der Diskussion um die Abschiebestatistik - so nehme ich an - bekannt, daß sich weit über 30 der betroffenen Ausländer nach negativem Ausgang des Asylverfahrens der Ausreisepflicht durch Untertauchen entziehen. Viele abgelehnte Asylbewerber oder illegal eingereiste Ausländer haben offenbar kein Interesse daran, in ihre Heimatstaaten zurückzukehren, wo sie für sich keine Perspektiven und kein Weiterkommen sehen. Deshalb versuchen viele von ihnen, die Abschiebung zu verhindern, indem sie z. B. ihre Reisedokumente vernichten, ihre Identität nicht offenbaren oder sich weigern, bei der Beschaffung von Reisedokumenten mitzuwirken.
Es käme einer Kapitulation des Rechtsstaates vor derartigen Praktiken gleich, würde er in diesen Fällen, die häufig zu längerer Abschiebehaft führen, generell von einer solchen I laft absehen. In letzter Konsequenz würde dies zu einer sprunghaften Zunahme illegaler Zuwanderung führen, weil die Ausländer davon ausgehen könnten, daß die Nichtbefolgung der bestehenden Ausreisepflicht für sie ohne Folgen bliebe und sie sich weiter, wenn auch illegal, im Bundesgebiet aufhalten könnten.
Herr Staatssekretär Lintner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Staatssekretär Lintner, Sie haben gesagt, daß es einer Kapitulation des Rechtsstaates gleichkommen würde, wenn er hier nachgeben würde. Haben Sie als Mensch eine menschliche Erklärung dafür, daß Menschen, die abgeschoben werden sollen, ihre Reisedokumente verbrennen, alles versuchen, um zu erreichen, daß sie nicht abgeschoben werden können, weil sie vielleicht Gründe haben, anzunehmen, daß das Land, von dem sie aufgenommen würden, nicht etwa keine Sozialhilfe hat und materiell schlechter gestellt ist, sondern daß sie dort mit Folter, Gefängnis und Lebensbedrohung betroffen sind?
Herr Kollege, das letzte, was Sie hier gesagt haben, stimmt einfach nicht. Ich würde Ihnen empfehlen, einmal die grundsätzlichen Regelungen bei uns nachzulesen. Sie wissen, daß, wenn derartige Dinge drohen, im Einzelfall ein Abschiebehindernis besteht und eine Abschiebehaft gar nicht verhängt werden kann.
Im übrigen muß ich Ihnen dazusagen: Die Bundesregierung hat oft Verständnis dafür geäußert, daß auch wirtschaftliche Gründe sehr wohl ein durchaus verständlicher Beweggrund sind, hier bleiben zu dürfen. Nur sind wir uns auch in der Konsequenz darüber im klaren, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht in der Lage ist, all jenen Herberge zu bieten, die sich wirtschaftlich bei uns zugegebenermaßen besser fühlen als in ihrem Heimatstaat. Das kann kein Grund für ein Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland sein.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Herrn Wiefelspütz?
Bitte schön.
Herr Staatssekretär, ich glaube auch, daß wir letzten Endes nicht ohne Abschiebung und auch nicht ohne Abschiebehafteinrichtungen auskommen. Gleichwohl hatten wir in den letzten 12 bis 18 Monaten über 20 Todesfälle in den Abschiebeeinrichtungen. Für diese Einrichtungen sind die Bundesländer verantwortlich, auch sozialdemokratisch geführte Bundesländer. Auch in deren Einrichtungen hat es so etwas gegeben. Meinen Sie nicht, daß wir im Innenausschuß Veranlassung
haben, demnächst kritisch zu prüfen, ob wir nicht die Situation in den Abschiebeeinrichtungen verbessern könnten, ob dort nicht auch Probleme im Bereich des Gesetzesvollzugs vorhanden sind, die wir einfach kritisch aufarbeiten, ohne daß wir uns deswegen hier vorführen müßten,
ohne daß wir hier deswegen große ideologische Debatten führen müßten? Die Situation der Abzuschiebenden, deren Menschenwürde nicht teilbar ist und deren Menschenwürde nicht verletzt werden darf, muß uns doch eine Mahnung sein. Mich bedrückt es sehr, was dort passiert. Diese Bedrückung sollten wir einfach gemeinsam aufgreifen und versuchen, die Situation zu verbessern. Meinen Sie nicht auch, daß hier die Bundesregierung mitwirken könnte?
Herr Kollege Wiefelspütz, ich darf Sie darauf verweisen, daß ich mich mit der rechtlichen Situation beschäftigt habe. Auch aus Ihrem Beitrag, für den ich viel Sympathie empfinde, geht hervor, daß es nicht um eine Änderung der Rechtslage geht, sondern um den Gesetzesvollzug. In der Tat kann ich mich mangels genauer Kenntnis für das, was die Bundesländer zu verantworten haben, nicht hinstellen, um in cumulo die Zustände bei dieser Abschiebungshaft verteidigen oder vertreten zu wollen. Deshalb sehe ich durchaus ein, daß hier ein Beratungs- und Aufklärungsbedarf besteht. Mir ging es aber darum, unter Beachtung unserer Zuständigkeit als Bundesregierung darzutun, daß eine Änderung des § 57, wie sie in dieser Resolution angestrebt wird, dagegen nicht hilft auch unter sonstigen Aspekten unserer Auffassung nach nicht erforderlich ist.
Meine Damen und Herren, dabei möchte ich es belassen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Damit schließe ich die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/107 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich möchte den Schluß dieser Debatte nutzen, um vorzuschlagen, daß wir uns vielleicht in den Ausschüssen einmal darüber verständigen sollten, wie wir Vertreter der Länder an unseren Beratungen zu diesem Punkt beteiligen können.
Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 15. März 1995, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.