Rede von
Andreas
Storm
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist nun wirklich nicht das erste Mal, daß sich das Hohe Haus mit der Neuregelung des § 116 AFG befaßt. Herr Dreßler, wenn Sie sagen, daß wir ideologisch zurück in das 18. Jahrhundert gegangen wären, so kann ich Ihnen nur zurufen: Aschermittwoch ist vorbei. Kommen Sie zurück zu den Fakten!
Den drei vorliegenden Gesetzentwürfen liegt die Behauptung zugrunde, die Kampfparität bei Arbeitskämpfen werde durch die Regelung von 1986 zu Lasten der Gewerkschaften verändert. Diese Behauptung, meine Damen und Herren, ist falsch; denn die derzeitige Rechtslage unterscheidet für Arbeitnehmer, die infolge eines Arbeitskampfes arbeitslos werden oder Kurzarbeit leisten, drei Fälle:
Erstens. Alle Arbeitnehmer außerhalb der betroffenen Branche erhalten gegebenenfalls Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit, und zwar ohne jede Einschränkung.
Zweitens. Alle Arbeitnehmer der betroffenen Tarifbranche innerhalb des umkämpften Tarifgebietes erhalten keine Leistungen, und zwar unabhängig davon, ob sie selbst streiken oder ausgesperrt sind.
Drittens. Arbeitnehmer der betroffenen Tarifbranche außerhalb des umkämpften Tarifgebietes erhalten dann keine Leistungen der Bundesanstalt, wenn der Arbeitskampf stellvertretend für ihre Arbeitsbedingungen mitgeführt wird.
Genau das, meine Damen und Herren, ist der Punkt, auf den es ankommt: Wir wollen und wir dürfen den Stellvertreterstreik nicht aus Beitragsmitteln bezahlen. Das wäre ein Griff in die falsche Tasche.
Würde die Bundesanstalt jedes Arbeitskampfrisiko finanzieren, dann würden die Tarifparteien nämlich direkt über die Höhe der Beiträge oder die erforderlichen Zuschüsse der Steuerzahler zur Arbeitslosenversicherung mitentscheiden. Das darf nicht sein!
Es geht hier um die Substanz der Tarifautonomie: Die Zulassung von Arbeitskämpfen soll ein Verhandlungsgleichgewicht herstellen. Deshalb verbietet es sich, daß der Staat in einen Arbeitskampf eingreift, indem er ihn durch Leistungen zugunsten einer einzigen Kampfpartei beeinflußt. Daraus ergibt sich, daß der Staat zur Nichteinmischung und Unparteilichkeit verpflichtet ist. Die jetzige Regelung gewährleistet das. Sie befindet sich auf dem Boden des Grundgesetzes, und da muß sie auch bleiben.
Das Geld der Bundesanstalt für Arbeit ist in erster Linie für die Arbeitslosen da, nicht für die Arbeitsplatzbesitzer. Deswegen erhalten auch jene Arbeitnehmer Unterstützung, die infolge eines Arbeitskampfes keine Arbeit haben, aber weder selbst streiken noch vom Arbeitskampf profitieren. Für diejenigen allerdings, die vom Arbeitskampfergebnis profitieren, kann das Arbeitsamt ebensowenig Unterstützung zahlen wie für die Streikenden selber. Deswegen geht der Streit im Kern nur um die Frage: Wann sind Arbeitnehmer streikbeteiligt?
Die Antwort liegt auf der Hand: Streikbeteiligte sind neben den Streikenden selbst diejenigen, für die stellvertretend mitgestreikt wird, für die eine gleiche Hauptforderung erhoben wird und für die das Streikergebnis in deren Fachbereich übernommen werden soll. Damit wird die grundgesetzlich gebotene Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit vor Umgehung geschützt. Und vor allen Dingen folgt daraus, daß außerhalb des bestreikten Fachbereiches immer gezahlt wird, und zwar unabhängig davon, ob gleiche oder unterschiedliche Forderungen gestellt werden.
Andreas Storm
Was bedeutet das in der Praxis? Ich will das einmal an drei Beispielen klarmachen: Wenn Stahlkocher streiken, erhalten die Automobilarbeiter selbstverständlich Leistungen der Bundesanstalt, denn sie gehören einem anderen Fachbereich an. Wenn Zulieferbetriebe in der Metallverarbeitung streiken, erhalten beispielsweise Werftarbeiter ebenfalls Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit, denn auch sie gehören einem anderen Fachbereich an. Wenn beispielsweise Arbeitnehmer in. der Zuckerindustrie streiken, dann wird in der Süßwarenindustrie ebenfalls Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld bei Bedarf gezahlt.
Lassen Sie mich jetzt zu einem anderen für die Arbeitnehmer ganz wichtigen Punkt kommen. Die Entscheidung darüber, ob ein Leistungsanspruch ruht, wird nach der Regelung von 1986 von einem Neutralitätsausschuß gefällt. Dem gehören gleichberechtigt Vertreter der Gewerkschaften und der Arbeitgeberseite an, und zwar unter dem Vorsitz des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg.
Der Sachverhalt wird unter Beteiligung der Betroffenen ermittelt. Damit wird zugunsten der Arbeitnehmer sichergestellt, daß möglichen Manipulationen auf Arbeitgeberseite ein Riegel vorgeschoben wird. Denn es gilt die Nachweispflicht der Arbeitgeber, daß ein Arbeitsausfall Folge eines Arbeitskampfes ist. So hat seit der Neuregelung im Jahre 1986 kein Betrieb mehr die Möglichkeit, einen Arbeitsausfall nur vorzutäuschen und unter dem Vorwand eines angeblichen Materialmangels Arbeitnehmer „kalt" auszusperren. Denn zum Nachweis des Arbeitsausfalls muß der Arbeitgeber eine Stellungnahme der Betriebsvertretung beifügen. Darüber hinaus kann gegen eine Entscheidung des Neutralitätsausschusses von beiden Seiten, also auch der Arbeitnehmerseite, der Rechtsweg beschritten werden.
Schließlich wurde die Stellung der Arbeitnehmer noch durch eine weitere Maßnahme verbessert, nämlich dadurch, daß in Zweifelsfällen eine Vorleistungspflicht des Arbeitsamtes besteht. Es zahlt zunächst Lohn in Höhe des Kurzarbeitergeldes. Diese Leistung hat der Arbeitgeber zu erstatten, der seiner Lohnleistungspflicht nicht korrekt nachgekommen ist.
Meine Damen und Herren, all das zeigt: Der Streik wird nicht auf dem Rücken der betroffenen Arbeitnehmer ausgetragen.
Zur aktuellen Lage: Nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Sicherung der Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit im Jahre 1986 hat es zum ersten Mal im Jahre 1993 - also sieben Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes - bei einem Streik in den neuen Bundesländern einen Anlaß gegeben, den Neutralitätsausschuß der Bundesanstalt für Arbeit anzurufen. Gegen die von ihm getroffene Entscheidung zuungunsten der Arbeitnehmerseite hat bekanntlich die IG Metall Klage vor dem Bundessozialgericht erhoben. Das Bundessozialgericht hat mit
dem Urteil vom 4. Oktober des letzten Jahres eindeutig festgestellt: Die prozeß- und materiellrechtlichen Regelungen des § 116 AFG sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß noch eines unmißverständlich klarstellen: Die bisherige Entwicklung hat deutlich gezeigt, daß sich die Neuregelung des § 116 AFG aus dem Jahre 1986 nicht negativ auf die Kampfkraft der Gewerkschaften auswirkt. Niemand wird ernsthaft behaupten können, daß die Arbeitskämpfe seit 1986 oder beispielsweise die Entwicklung der Tariflandschaft in den neuen Bundesländern einseitig zu Lasten der Arbeitnehmer ausgegangen wären. Auch das Ergebnis des jüngsten Arbeitskampfes in der bayerischen Metallindustrie bestätigt das nachdrücklich, Herr Dreßler, wie Sie selbst indirekt zugegeben haben.
Ein bißchen mehr Gelassenheit wäre also an der Tagesordnung; denn für eine Änderung der bewährten Neuregelung des § 116 AFG besteht überhaupt kein Anlaß. Die Wetterfahne darf nicht zum Kompaß der deutschen Politik werden.