Rede von
Manfred
Müller
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(PDS)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS)
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! 1986 habe ich zusammen mit Hunderttausenden von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern aus Protest gegen die damals geplante Änderung des Streikparagraphen, § 116 AFG, an Demonstrationsstreiks teilgenommen. Wir sind damals beschuldigt worden, es seien die ersten politischen Streiks in der Bundesrepublik Deutschland gewesen. Die Proteste der Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter haben nicht dazu geführt, daß sich eine parlamentarische Mehrheit gegen diese geplante Änderung des § 116 AFG gefunden hat.
Manfred Müller
Ich kann Ihnen als Verhandlungsführer in Tarifverhandlungen über mehr als zehn Jahre sagen, daß die Änderung des § 116 AFG sehr wohl entscheidenden Einfluß auf das Verhalten der Unternehmerverbände in den Tarifverhandlungen hatte.
Sie saßen plötzlich auf dem hohen Roß, und ihre an sich bestehende Macht, ihre Interessen durchzusetzen, wurde zusätzlich verstärkt.
Es ist geradezu zynisch, wenn den Gewerkschaften in den letzten Jahren vorgeworfen wird, sie hätten es nicht geschafft, wenigstens den Reallohnausgleich zu realisieren, ohne zu berücksichtigen, daß die bis dahin vorhandene Parität bei Arbeitskämpfen durch § 116 AFG seit 1986 entscheidend verändert worden ist.
Am Mittwoch dieser Woche wollte Gesamtmetall aussperren. Ab Mittwoch drohte der durch die IG Metall begrenzte Konflikt zu einem Flächenbrand zu werden. Nach diesem Mittwoch wären wir Zeugen eines sozialen Konflikts geworden, der allen teuer zu stehen gekommen wäre.
Für die Gewerkschaften und mich wird bereits mit der Aussperrung die Kampfparität der Tarifvertragsparteien zugunsten der Unternehmerverbände verletzt.
Nicht ohne Grund ist die Aussperrung in anderen europäischen Ländern verboten; das ist hier schon gesagt worden. Sie ist nicht verboten, weil die Aussperrung das Gegengewicht der Unternehmer zum Streik ist, sondern weil erst der Streik das Gegengewicht zur Macht der Unternehmer bildet.
Die Demokratischen Sozialisten haben deshalb auch das Verbot der Aussperrung in ihrem Programm. Allerdings habe ich heute in der Zeitung gelesen, daß der Berliner Verfassungsschutz diese Forderung, die eine gewerkschaftliche ist, bereits zum Anlaß genommen hat, die PDS zu überwachen, weil diese Forderung für nicht mit der Verfassung vereinbar erklärt wird. Wir sehen also, welche Willkür in solchen aufzulösenden Organisationen noch immer herrscht.
Diese Parität der Tarifvertragsparteien ist aber gänzlich gestört, ja, sie ist durch die 1986 geschaffene Fassung des § 116 AFG in ihrem Kern getroffen. Dem fragwürdigen Mittel der Aussperrung hat die konservative Bundestagsmehrheit 1986 die Möglichkeit der kalten Aussperrung hinzugefügt, die Möglichkeit nämlich, die Beschäftigten ganzer Branchen gewissermaßen in Geiselhaft zu nehmen. Beschäftigte ganz anderer Tarifbezirke, Beschäftigte, die nur punktuell von dem möglichen Ergebnis des Arbeitskampfes profitieren können, werden in den Arbeitskampf hineingezogen, werden auf kaltem Wege ausgesperrt und haben weder einen Anspruch auf gewerkschaftliche Streikunterstützung, weil sie eben keine Streikbeteiligten sind, noch auf der Grundlage des § 116 AFG einen Anspruch auf Arbeitslosengeld.
Die Bundesanstalt für Arbeit ist durch diesen Paragraphen in eine Parteigängerin der Unternehmerverbände verwandelt worden. Dies ist angesichts der Tatsache, daß § 116 AFG ursprünglich die Neutralitätspflicht der Bundesanstalt sichern sollte, geradezu ein Hohn; denn in der vorliegenden Fassung verkehrt er sich in sein Gegenteil und verletzt diese Neutralität so nachhaltig, daß die IG Metall gezwungen war, nach Karlsruhe zu gehen.
Die Tarifautonomie und damit die Koalitionsfreiheit sind durch die damalige Änderung in ihrem Kern getroffen. Wir wollen das rückgängig machen und haben uns auf das politisch Machbare beschränkt, indem wir die alte Fassung zum Gegenstand unserer Forderung gemacht haben.
Meine Redezeit ist leider wieder zu Ende. Es wäre noch viel zu diesem Thema zu sagen, aber in fünf Minuten schafft man das nicht.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.