Rede von
Kersten
Wetzel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider muß ich hier mit Bedauern feststellen, daß unser 713 Seiten schmaler Neunter Jugendbericht nicht ganz vollständig ist. Ich habe Ihnen deshalb in einem Ordner einmal die geltenden Jugendförderrichtlinien für Deutschland und die gesamten Länder mitgebracht.
Ich muß Ihnen ganz ehrlich gestehen: Ich habe beides nicht vollständig lesen können. Ich habe auch meine Zweifel, ob alle freien Träger der Jugendarbeit und die Jugendlichen das wirklich intensiv studieren.
Ideenreichtum und Kreativität sollten wir nicht einfach nach Seitenzahlen messen. Mein Eindruck ist, daß vielerorts Jugendarbeit oftmals mehr verwaltet als gestaltet wird. Bund und Länder sollten hier in Zusammenarbeit mit den Kommunen und den Trägern der Jugendarbeit überflüssige Bürokratie abbauen. Ich hoffe, daß dieser Ordner mit der Angabe von Fördermitteltöpfen künftig nicht noch weiter anwächst; denn selbst große freie Träger verlieren mittlerweile die Übersicht über die Fördermittel und laufen zunehmend den Ministerialbeamten in Bund und Ländern die Türen ein, um zu fragen, wo es denn noch Gelder und welche Fördermöglichkeiten es noch gibt.
Kleinere Träger, die oftmals viel über ehrenamtliche Jugendarbeit leisten, haben es da natürlich noch wesentlich schwerer. Immer wieder bekomme ich gerade von denen zu hören, daß sie manche Förderrichtlinien eher als Verhinderungsrichtlinien betrachten, weil diese oft der aktuellen Entwicklung sehr weit hinterherhinken.
Jugendarbeit muß einfach mehr sein, als in verschiedenen Broschüren nachzuschlagen, um herauszufinden, welche finanziellen Fördermöglichkeiten es gibt. Hier muß angesetzt und auch einmal entschlackt werden. Heilige Kühe in Bund und Ländern - das wissen auch Sie - kann man nur gemeinsam schlachten. Dazu möchte ich Sie alle, die Sie von den demokratischen Parteien hier sitzen, recht herzlich einladen.
In der vergangenen Legislaturperiode wurden durch den Bund speziell für die neuen Länder verschiedene Modellprojekte geschaffen, die auch von den Jugendlichen gut angenommen worden sind. Auch wir im Parlament haben einige initiiert und mitbegleitet. Gemeinsam mit den Trägern der Jugendarbeit sollten wir als Bundespolitiker nun den Ländern und Kommunen helfen, diese Initiativen wirklich aufzugreifen und weiterzuführen. Wir wissen natürlich
Kersten Wetzel
um die Argumente der Länder und Kommunen, die meist mit dem Ruf nach mehr Fördermitteln vom Bund enden. Aber Geld allein schafft noch keine effizientere Jugendarbeit.
Ich denke an verkrustete Institutionen und traditionsreiche Jugendprojekte, die große Summen verschlingen, während für die Unterstützung von ehrenamtlicher Jugendarbeit vor Ort oft die Mittel fehlen. Das sollte uns bedenklich stimmen. Ich bin auch der Meinung, daß Flötenspielgruppen und Bastelstraßen nicht immer der richtige Weg sind, um der zunehmenden Gewaltbereitschaft von Jugendlichen entgegenzuwirken. Ich fordere deshalb vor allen Dingen die Träger auf, sich der verändernden Situation neu zu stellen und Jugendarbeit nicht nur für Jugendliche, sondern auch mit Jugendlichen zu machen.
Es gibt eine ganze Reihe von Projekten, bei denen das gut gelungen ist. Ich denke dabei an zahlreiche Streetworker-Projekte, die seit langem erfolgreich sind und auch von den Jugendlichen gut angenommen werden. Diese Projekte sollten wir aber nicht einfach unter Denkmalschutz stellen, sondern wir sollten gezielt darauf hinwirken, daß sie innerhalb der Kommunen und der Länder verbreitet und die Erfahrungen genutzt werden.
Gestatten Sie mir bitte noch ein paar Bemerkungen zum Jugendaustausch, zunächst zum deutschdeutschen. Es wird immer sehr viel von den Mauern in den Köpfen unserer jungen Leute gesprochen, analysiert und auch diskutiert. Mit Jugendprojekten allein ist aber dieses sehr sensible Problem nicht zu lösen. Der „Sommer der Begegnung", der damals von uns in der letzten Volkskammer initiiert und dann vom Bundestag weiter getragen worden ist, war zwar für die ersten Jahre sehr hilfreich, und vor allem junge Leute aus den neuen Bundesländern nutzten diese Chance zum Jugendaustausch. Leider gelang es aber nicht im selben Maße, Jugendliche aus den alten Bundesländern für einen Gegenbesuch in den neuen Bundesländern zu begeistern. Das ist bis heute ein Problem, das alle, die mit Jugendlichen arbeiten, gemeinsam angehen müssen. Da schließe ich wiederum die in diesem Hause vertretenen demokratischen Parteien sehr großzügig mit ein.
Verschiedene Formen der Begegnung und gemeinsame Veranstaltungen gerade auch im schulischen und berufsbildenden Bereich sollten noch stärker dazu genutzt werden. So könnten Schulen und Berufsbildungseinrichtungen analog den damals sehr populären Berlinfahrten im alten Bundesgebiet - und übrigens auch in der DDR - Klassenfahrten in den jeweils anderen Teil Deutschlands wiederaufnehmen, um dort Partnerschaften und Kontakte herzustellen. In diesem sehr ausbaufähigen Bereich appelliere ich vor allen Dingen auch an die Phantasie und die Verantwortung unserer Kultusminister in den Ländern.
Vor allem möchte ich aber die zahlreichen Jugendverbände und Organisationen der Jugendarbeit ansprechen. Diese besitzen ein großes Potential, Jugendliche einander näherzubringen. Man kann sich ja auch überlegen, über die Ländergrenzen hinweg gemeinsame Projekte zu initiieren und die Jugendlichen zum gemeinsamen Leben und Arbeiten einzuladen.
Mit einem gehobenen Zeigefinger aus den alten Bundesländern kann man aber weder die Situation der Jugendlichen in den neuen Ländern einschätzen noch die richtigen Hilfen geben. Ein Aufeinanderzugehen und gemeinsames Lernen - übrigens auch für uns Politiker - sind hier sehr gefragt.
Für die politische Bildung und die internationale Jugendarbeit gilt dies ebenfalls. Auch hier eilt oftmals die politische Entwicklung den Richtlinien voraus. Gerade wir in Deutschland haben nach der Vereinigung der beiden deutschen Teile eine entscheidende Verantwortung für das künftige Haus Europa übernommen. Auch Jugendliche aus Osteuropa haben ein Recht darauf, unsere Hilfestellung zu bekommen, so wie wir aus den neuen Bundesländern damals Hilfe und Unterstützung aus dem anderen Teil, der demokratischen Welt, erhalten haben.
Abschließend möchte ich an die Bundesregierung appellieren, in den Ministerien, die sich in der nächsten Zeit häufiger mit Osteuropa beschäftigen, gemeinsame Strategien für Jugendaustausch und Jugendprojekte zu entwickeln. Vielleicht geht das ja auch ohne mehrbändige Förderrichtlinien.
Ich danke Ihnen recht herzlich.