Frau Präsidentin! Sehr geehrter Kollegen und Kolleginnen! Der Neunte Jugendbericht beschäftigt sich mit der Situation der Jugendlichen in den neuen Bundesländern und versucht zugleich eine Bewertung der bisher erfolgten jugendpolitischen Arbeit.
Ich möchte der Sachverständigenkommission für den ausführlichen Bericht ausdrücklich danken, insbesondere auch für den Versuch, DDR-Vergangenheit und die politische Entwicklung nach der Vereinigung in einen Zusammenhang zu stellen.
Der Bericht gibt uns in der Politik durch seine ausführliche und abwägende Art eine Möglichkeit, die deutsche Vereinigung und ihre Folgen sowie insbesondere den politischen Handlungsbedarf hinsichtlich der Situation der Jugendlichen noch einmal zu überdenken. Es ist sehr bedauerlich, daß die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme diese Chance nicht ergriffen hat und im Niveau gegenüber dem Sachverständigenbericht deutlich abfällt.
In ihrer Stellungnahme zeigt sich die Bundesregierung unfähig, die Lebenssituation junger Menschen in den neuen Bundesländern in ihrer Differenziertheit überhaupt wahrzunehmen. Die Stellungnahme verkommt zu einer äußerst platten Regierungspropaganda.
Junge Menschen haben einen Anspruch darauf, daß eine Bundesregierung Probleme zur Kenntnis nimmt und alles politisch Mögliche tut, zur Problemlösung beizutragen. Das gravierendste Problem ist die Ausbildungsplatz- und dann Arbeitsplatznot junger Menschen in den neuen Bundesländern.
Mir ist unverständlich, wie die Bundesregierung den von den Sachverständigen vorhergesagten Ausbildungsnotstand zufrieden mit dem Satz kommentiert - Frau Nolte hat das auch heute getan -, daß dieser auch 1993 abgewendet werden konnte. Sie verschleiern mit diesem Satz die Tatsache, daß in den neuen Bundesländern eine bedenkliche Ausbildungsplatzlücke besteht; denn die Hälfte der sich um einen Ausbildungsplatz bemühenden Jugendlichen bekommt keinen betrieblichen Ausbildungsplatz.
Nur durch staatliche Programme, durch außerbetriebliche Ausbildung, kann die Krise der dualen Berufsausbildung verschleiert werden.
Wir wissen, daß in unserem System außerbetriebliche Ausbildung häufig nur eine Warteschleife ist und daß die Aussicht auf einen Arbeitsplatz am ehesten über einen betrieblichen Ausbildungsplatz gegeben ist.
Junge Menschen können von der Politik erwarten, daß ihre Probleme nicht einfach quantitativ-statistisch wegdiskutiert werden, wie die Bundesregierung es versucht, sondern ernstgenommen werden. Dieses Hinwegsehen über Probleme kann zu Enttäuschungen mit möglicherweise schwierigen gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen führen, insbesondere dann, wenn die Jugendlichen große Erwartungen an die deutsche Vereinigung haben, wie die Studie gezeigt hat.
Junge Menschen wollen spüren, daß die Gesellschaft, daß die Arbeitswelt sie braucht. Das gilt grundsätzlich. Das gilt aber noch mehr, wenn man aus der DDR-Vergangenheit heraus stark arbeitszentrierte Werte gewohnt ist. Daß 38 % der 21- bis
Dr. Edith Niehuis
24jährigen in den neuen Bundesländern Sozialhilfe oder andere Transferleistungen als Haupteinnahmequelle haben und bereits jeder dritte Sozialhilfeempfänger in den neuen Bundesländern jünger als 18 Jahre ist, ist eine bedenkliche Situation.
Doch die Bundesregierung wiegelt ab und verweist darauf, alles sei in Ordnung, weil dank Sozialhilfe Armut und Not gelindert werde. Es ist richtig: Sozialhilfe soll materielle Not lindern. Aber ein Jugendbericht handelt von jungen Menschen. Dann geht es eben nicht nur um den materiellen Aspekt von Sozialhilfe, sondern auch darum, daß junge Menschen Perspektiven brauchen.
Aber gerade Perspektiven - das wissen Sie wie ich - vermitteln Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe und das Fehlen von Ausbildungsplätzen nicht.
Ein besonderes Augenmerk müssen wir dabei auf die noch schwierigere Situation junger Frauen richten. Angesichts der hohen Frauenarbeitslosigkeit, weil Frauen nämlich als erste von Kündigungen betroffen waren, als letzte wieder in die Erwerbstätigkeit integriert werden und schwer Ausbildungsplätze finden, ist es zynisch, wenn die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme darauf verweist, daß Frauen nach der Vereinigung nun endlich eine Wahlmöglichkeit zwischen Familie und Beruf hätten, die ihnen in der DDR verwehrt worden sei.
Muß ich Sie denn wirklich daran erinnern, daß eine von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Studie über „Frauen in mittlerem Alter" hinsichtlich der Wahlmöglichkeit von Frauen bereits vor Jahren feststellte:
Das proklamierte Leitmotiv während der letzten Jahre hieß, „Wahlfreiheit" für verschiedene Lebensentwürfe von Frauen zu erhalten und zu fördern. De facto ging es aber darum, die Wahl zugunsten der „Ganztagshausfrau" zu stützen. Verschwiegen wurde dabei oft, daß mit jeder Wahl erhebliche, z. T. nicht umkehrbare Folgen und Risiken verbunden sind - und zwar materielle, soziale und psychische.
Dieses Grundproblem unserer Gesellschaft erreicht jetzt die jungen Frauen im Osten. Jetzt suggeriert man ihnen die Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf, obwohl sie in der Realität schwer zu finden ist. Junge Frauen im Osten reagieren auf diese Täuschung in der Umbruchsituation sehr konkret. Der Rückgang der Geburtenrate seit 1989 in den neuen Bundesländern um zwei Drittel spricht eine überaus deutliche Sprache.
Vieles, was sich in den neuen Bundesländern in dramatischer Weise als Schwierigkeit zeigt, ist bereits in den alten Bundesländern als Problem angelegt. Das gilt für die Wahlfreiheit zwischen Beruf und Familie. Das gilt aber auch für die angesprochene Ausbildungsnot, die sich als zunehmender Ausbildungsmangel auch im Westen abzeichnet, wie der Entwurf des Berufsausbildungsberichts 1995 der Bundesregierung zeigt. Industrie und Handel versuchen, sich aus ihrer Verantwortung, die sie in der dualen Berufsausbildung haben, zu stehlen. Um der jungen Menschen willen, Frau Nolte, sollten Sie diese Situation nicht verschleiern, sondern endlich Konzepte auf den Tisch legen, die diese bedenkliche Situation abwenden.
Auf Grund dieser schwierigen Ausbildungs- und Arbeitsplatzsituation, aber auch grundsätzlich muß unser Augenmerk besonders auf den Ausbau freier pluraler Träger in der Jugendhilfe gerichtet sein. Dazu eine grundsätzliche Bemerkung, weil sich in Ost und West etwas Ähnliches abzeichnet, wenn auch in unterschiedlicher zeitlicher Folge.
Dadurch, daß das Kinder- und Jugendhilfegesetz Angebote für Kinder und Jugendliche in einem Gesetz zusammenfaßt, kommt es sowohl in Ost als auch in West zu einer nicht wünschenswerten Konkurrenzsituation zwischen Kindern und Jugendlichen auf kommunaler Ebene. Nach der Vereinigung legten die ostdeutschen Länder und Kommunen großen Wert darauf, ihre Kindertagesstätten zu erhalten, was zu Lasten der finanziellen Unterstützung der Jugendhilfe ging. Auf Grund des Rechtsanspruches auf einen Kindergartenplatz müssen wir auch im Westen nun beobachten, daß die Umsetzung dieses Rechtsanspruches zu Lasten der Jugendhilfeangebote geht. Hier liegt eine grundsätzliche Problematik des KJHG oder seiner Implimentation. Diese finanzielle Konkurrenzsituation von Kinder- und Jugendarbeit ist nicht gut. Darum erwarten wir von der Bundesregierung alsbald Vorschläge, die geeignet sind, diese verheerende Entwicklung abzuwenden.
Neben dieser grundsätzlichen Problematik gilt es, hinsichtlich der neuen Bundesländer zu überprüfen, wie die Anstrengungen der Bundesregierung zu beurteilen sind, nach der Einheitsjugend FDJ eine plurale freie Trägerstruktur aufzubauen.
Mit Stolz verweist die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme darauf, daß nach der deutschen Vereinigung ca. 217 Millionen DM in die Programme der freien Jugendhilfe Ost geflossen sind.
Doch, sehr verehrte Damen und Herren, in dieser historischen Umbruchsituation war nicht nur Quantität, sondern auch Qualität gefordert. Es geht um die Frage, wie effektiv die finanziellen Mittel denn eigentlich eingesetzt wurden. Die SPD hat Sie zeitig und immer wieder und von diesem Pult aus vor einer Politik der konzeptionslosen kurzfristigen Sonderpro-
Dr. Edith Niehuis
gramme gewarnt und stets darauf hingewiesen, daß durch diese kurzatmige Jugendpolitik zwar viel Geld in die neuen Bundesländer fließt, aber der langfristige Erfolg nur gering ist.
Der Neunte Jugendbericht bestätigt nun unsere Kritik. Dort heißt es - ich zitiere -:
Der Aufbau der freien Träger der Jugendhilfe in den fünf neuen Bundesländern bedarf einer kontinuierlichen und verläßlichen finanziellen Förderung. Die bisherige Förderpolitik eröffnet den freien Trägern weder klare konzeptionelle noch förderpolitische Perspektiven, von Planungssicherheit kann nahezu nirgendwo die Rede sein.
Deutlicher kann man die konzeptionslose Jugendpolitik der Bundesregierung nicht kritisieren.
Die freie Jugendhilfe Ost steht mitten in der Aufbauphase jetzt vor der Situation, daß nach einer ausgesprochen großzügigen Anfangsförderung nun mangels Anschlußförderung manches Aufgebaute beendet, zerstört werden muß. Da, Frau Nolte, hilft der Appell an die anderen nicht, daß sie etwas tun müssen. Sie haben mit einer ausgesprochen großzügigen Anfangsförderung begonnen; nun können Sie nicht alle vor das Nichts stellen.
Ich will in diesem Zusammenhang auch etwas Kritisches zum Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt sagen. Viele, die dieses Programm loben - es gibt viele, die das tun -, loben es, weil sie aus unterschiedlichen Motiven froh sind, daß überhaupt Geld geflossen ist. Dies kann in einer verantwortlichen Politik aber nicht der alleinige Maßstab sein. Ich bleibe dabei: Es wäre besser gewesen, dieses Geld wäre in den Aufbau einer präventiven Jugendarbeit geflossen, die, wenn sie gut ist, auch zur Aggression neigende Jugendliche mit erfaßt hätte.
Mit diesem Sonderprogramm hingegen haben Sie zweierlei bewirkt: Ganze Regionen haben keine Chance gehabt, daraus Fördermittel zu bekommen, weil ihr Gewaltindex einfach nicht hoch genug war. Das hat mit dem Aufbau flächendeckender pluraler Jugendarbeit nichts zu tun. Zweitens haben Sie eine Antragslyrik erzeugt - so heißt es im Neunten Jugendbericht -, die so manche Jugendliche nur wegen der Fördermittel zu „gewaltbereiten Jugendlichen" abgestempelt hat.
Wenn Sie der SPD und auch dem Neunten Jugendbericht nicht glauben wollen, dann glauben Sie vielleicht dem sächsischen Innenminister Eggert ,
der laut Bericht der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" vom 2. Juli 1994 auf der Dresdner Tagung unter dem Motto „Unterwegs zur Einheit", folgendes sagte - ich zitiere -:
Vor kurzem habe er einen Runden Tisch zum Thema „Gewalt und Jugend" eröffnet. Auch die Frage an die Jugendpfleger, was sie denn alle täten, hätten alle geantwortet, daß sie dieses Thema bearbeiteten. „Gibt's denn so viel Gewalt?" wollte der Innenminister wissen. „Nein, aber so viele Fördertöpfe", lautete die Antwort.
Sie können mir nicht erzählen, daß dies eine sinnvolle Arbeit für Jugendliche ist. Sie werden den Jugendlichen in ihrer Situation damit nicht einmal gerecht.
Nach fünf Jahren deutscher Vereinigung steht die Bundesregierung vor einer schlechten Bilanz, was Jugendpolitik Ost anbetrifft. In dieser Woche schrieb eine Hamburger Wochenzeitung: In Bonn hat das Schönreden Konjunktur.
Ich hoffe sehr, daß wir in der weiteren Ausschußarbeit nicht nur schönreden, sondern die Ergebnisse des Neunten Jugendberichts nehmen und daraus das Beste, für die Jugendlichen in den neuen Bundesländern machen.