Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Eine Gesellschaft, die ihre Kinder und Jugendlichen vernachlässigt, ist am Ende." Ich glaube, vernichtender kann ein Urteil über die heutige Jugendpolitik nicht ausfallen. Professor HansUwe Otto, Vorsitzender der Sachverständigenkommission, die den Neunten Jugendbericht erstellt hat, sprach diesen Satz bereits vor zwei Jahren bei einer Anhörung der SPD-Fraktion in diesem Hause.
Die „Verslumung der Jugendhilfe in den neuen Ländern", die er seinerzeit beschrieb, hat nichts an Aktualität eingebüßt. Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, eine angemessene Antwort auf diese Herausforderung zu formulieren.
Offensichtlich beschränkt sich für Sie der Aufschwung Ost auf den Straßenbau und auf Industrieanlagen.
Jugendliche und junge Erwachsene in den neuen Ländern finden keine Ausbildungsstelle,
auch wenn die Bundesregierung diesen Mißstand bis
heute beharrlich leugnet. Ihre Eltern sind selbst von
harten Problemen geplagt. Sie sind in vielen Fällen
Ursula Mogg
arbeits- und damit perspektivlos. Sie haben kaum Geld. Ihre Nerven sind angespannt, und sie können ihren Kindern oft nicht die Hilfe geben, die sie brauchen.
Die Entwicklung der Geburtenzahlen beleuchtet dieses Feld besorgniserregend. Von dem von Ihnen, Frau Nolte, zitierten Optimismus ist da wenig zu spüren.
Die Frage ist nicht nur, von was ich frei bin, sondern vor allem, für was ich frei bin. Darauf, Frau Nolte, geben Sie keine Antwort. Ihre Hymne an die Freiheit erinnert mich mit Blick auf den Jugendbericht eher an Janis Joplin.
Freizeitangebote fehlen. Die alten Strukturen gibt es nicht mehr - der Kollege hat auf diesen Umstand hingewiesen -, neue sind nicht oder so gut wie nicht vorhanden. Freizeit spielt sich auf der Straße ab. Die strukturelle Gewalt und der harte Faustschlag auf dem Kiez stehen im Widerspruch zu dem Wunsch nach Geborgenheit und Nähe. Sie lösen Frustrationen aus und explodieren eruptionsartig, Ereignisse, über die dann die Republik spricht und über die sich nur die wundern, die die Verhältnisse nicht kennen, auf die die Bundesregierung mit Programmen reagiert, die sehr bald wieder enden: Problem erledigt.
Weitergehende Maßnahmen - die solide inhaltliche und finanzielle Ausgestaltung - werden vor allem an die Kommunen und Träger von Jugendarbeit delegiert, wissend, daß „ohne Moos nix los" ist: Verantwortung abgehakt. Was bleibt dann noch?
Jugendpolitik ist keine originär bundespolitische Aufgabe. Das wissen wir. Wo aber die Jugendpolitik zu einer veritablen Frage des deutschen Einigungsprozesses wird, da steht die Bundesregierung weit mehr als nur zu 5 % in der Pflicht. Aus dieser Pflicht stiehlt sich diese Bundesregierung seit dem Einigungsprozeß heraus.
Die Kommunen sind, auch in Ostdeutschland, so gut wie pleite. So wenden sie sich vertrauensvoll - es ist schließlich so, daß das Problem vor Ort am meisten drückt - an die freien Träger. Einrichtungen sollen von diesen erhalten und finanziert werden. Aber auch diese wissen nicht, woher sie das Geld für diese Aufgabe nehmen sollen. An der untersten Sprosse der Leiter wird dann den letzten Ungläubigen deutlich, daß das System der Delegation von Verantwortung, das sich durch die Stellungnahme der Bundesregierung wie ein roter Faden verfolgen läßt, nicht funktionieren kann.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie werden nicht leugnen, daß Art und Umfang Ihrer Jugendpolitik seit mindestens drei oder vier Jahren im wesentlichen davon abhängig gemacht werden, wie die finanzielle Situation im Hause Waigel aussieht. Kaum jemals haben die sachlichen Erfordernisse selbst eine Rolle gespielt.
Wie sonst könnte es angehen, daß Sie die Aufgabenstellung für die Jugendverbände, die in den Richtlinien für den Bundesjugendplan formuliert sind, zwar deutlich und auch berechtigt ausgeweitet haben, die finanziellen Zuwendungen aber nicht? In diesem Jahr wollen Sie die Mittel für den Kinder-und Jugendplan des Bundes sogar von 223 auf 208 Millionen DM kürzen.
In einer Situation, wie sie der Neunte Jugendbericht für die neuen Bundesländer beschreibt, ist dies fahrlässig und ignorant.
Wir benötigen einen forcierten Aufbau von Strukturen der Jugendhilfe im Osten. Wir benötigen einen weitaus stärkeren Anteil der freien Träger an Maßnahmen der Jugendarbeit und finanzielle Angebote zu deren Umsetzung. Wir benötigen eine Jugendsozialarbeit, die frühzeitig Konfliktsituationen erkennt und entsprechende Maßnahmen präventiv einleitet. Eine solche Jugendsozialarbeit bedürfte allerdings angesichts der realen Erfordernisse erheblicher finanzieller Mittel, die die Länder und Kommunen alleine nicht aufbringen können.
Das Wort „präventiv" führt auch die Bundesregierung im Zusammenhang mit ihren immer neuen Sonderprogrammen gerne ins Feld. Inzwischen dürfte aber klargeworden sein, daß hektische Bewilligungen und Transaktionen dorthin, wo es gerade einmal wieder brennt, nichts mit Prävention zu tun haben. Präventiv ist in der Tat die Schaffung einer jugendpolitischen Infrastruktur, das Angebot von Regelleistungen ohne die ständig dahinterstehende Drohung, die Maßnahme aber im nächsten oder spätestens im übernächsten Jahr wieder auslaufen zu lassen.
Präventiv ist die Förderung von Erfahrungen bei der friedlichen und demokratischen Regelung von Konflikten, wie sie in der Jugendarbeit der freien Träger schon immer eine Rolle gespielt hat. Präventiv ist die Unterstützung von Initiativen. Präventiv ist schließlich auch die Förderung der politischen Bildung Jugendlicher.
Die Demokratie darf den jungen Leuten aber nicht nur salbungsvoll gepredigt werden. Sie muß für sie auch erfahrbar werden, und ihr unmittelbarer Nutzen muß erkennbar sein. Der arbeits- und ausbildungslosen jungen Frau und dem jungen Mann, die zu Hause von einem frustrierten, weil ebenfalls arbeitslosen Vater geprügelt werden und die nicht wissen, wohin sie gehen sollen, weil ihr Jugendzentrum wegen Geldmangels von der Gemeinde gerade geschlossen wurde, brauchen wir auch mit dem Hohenlied der Demokratie nicht mehr zu kommen. Das steht wohl fest.
Ursula Mogg
Jugendpolitik bedarf der Kreativität, geeigneter Programme und Konzepte. Daran wird es nicht mangeln. Sie kommt bei der Umsetzung aber nicht ohne Geld aus. Die Jugendpolitik einzuschränken, wenn das Geld weniger wird, das wird sich schon heute und erst recht mittelfristig als verheerend erweisen. Was dort heute unter maßgeblicher Verantwortung der Bundesregierung verschlampt wird - ich erwähne nur die sukzessive Liquidierung von AFT -, wird nie wiedergutzumachen sein. Gerade AFT war ein richtiger Ansatz. Bund, Ländern und Gemeinden muß doch an einer effizienten Struktur freier Träger gelegen sein, schon aus finanziellen Gründen. Leider waren diese Programme nur befristet.
Die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement gerade in diesem Bereich und der Umfang, den diese Ehrenamtlichkeit annimmt - das alles wäre doch gar nicht zu finanzieren, wenn es der Staat als Träger leisten sollte. Aber nicht einmal dies, nicht einmal das ehrenamtliche Engagement wird hinreichend gefördert. Man mag es kaum glauben: Jede Mark zur Förderung ehrenamtlicher Jugendarbeit hätte einen Anstoßeffekt, so daß sie sich zigfach amortisieren würde.
Meinen Sie nicht, Sie sollten vielleicht besser ein paar Ihrer Hochglanzbroschüren einstellen und an deren Stelle eine effizientere Förderung der Jugendarbeit ermöglichen?
Man muß Kindern und Jugendlichen Möglichkeiten anbieten, sich zu treffen und in eigener Verantwortung zu organisieren. Dazu bedarf es eines Daches über dem Kopf. Gerade die Raumfrage ist ja in den neuen Bundesländern nach wie vor äußerst prekär - und nicht nur dort. Man muß nur ihre Initiative ermutigen, dann gibt es auch viel gute Jugendarbeit im Sinne von Selbstorganisation.
Auf Betreuung reagieren Jugendliche nicht zu Unrecht gereizt. Das wird ihrem Selbstwertgefühl und ihren tatsächlichen Fähigkeiten nicht gerecht. Aber sie brauchen Unterstützung, und die bekommen sie zur Zeit nicht oder nicht ausreichend.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, aus dieser Verantwortung, die eine gesamtdeutsche ist, werden wir die Bundesregierung nicht entlassen. Der Neunte Jugendbericht ist mit Blick auf die neuen Bundesländer ein historisches Dokument. Deshalb sollten wir auch die historische Chance nicht tatenlos verstreichen lassen. Gute Konzepte sind gefragt - im Interesse der Bewältigung einer Situation, die in der Tat eine Herausforderung ist.
Blühende Landschaften werden wir aber nur haben, wenn junge Menschen den Eindruck gewinnen, daß sie diesem Staat etwas wert sind, daß es sich lohnt, in ihm und für ihn zu streiten. Besinnungsaufsätze und politische Lyrik helfen uns nicht weiter.