Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem Neunten Jugendbericht und der Stellungnahme der Bundesregierung dazu, die eigentlich Gegenstand parlamentarischer Erörterungen in der letzten, also in der 12. Wahlperiode hätte sein sollen. Ich werde hier keine Vermutungen darüber anstellen, warum das nicht der Fall gewesen ist. Allerdings sollte der Bundestag darauf bestehen, daß der folgende, der Zehnte Jugendbericht noch in der 13. Legislaturperiode ins Parlament kommt.
Es ist vorhin schon mehrfach deutlich geworden, daß die Analyse, die diesem Bericht zugrunde liegt, die realen Situationen einschätzt. Deshalb kann ich es eigentlich nicht verstehen, daß der Kollege Dehnel die Geborgenheit in der ehemaligen DDR derart darstellt. Ich will keine Nostalgie und will auch nichts schönreden. Aber die Zahlen und Fakten, die in diesem Bericht aufgenommen wurden, machen doch eigentlich vieles deutlich.
Der vorliegende Jugendbericht beschreibt in umfassender Form die Situation der Kinder und Jugendlichen in den neuen Bundesländern. Viele Details werden Gegenstand der Diskussion in den Ausschüssen sein, wie dies auch Frau Niehuis vorhin schon zum Ausdruck brachte. Ich denke, auch wir können uns einbringen, vieles unterstreichen oder anderes deutlich machen und fordern.
Die Mehrzahl der Daten und Einschätzungen des Berichtes standen bereits Mitte 1993 fest. Auch wenn die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme einen anderen Eindruck zu vermitteln sucht: Die Lage hat
Rosel Neuhäuser
sich nicht entspannt - im Gegenteil. Sicher, der Bund hat seit 1990 umfangreiche Mittel für den Kinder- und Jugendbereich in den neuen Bundesländern bereitgestellt, und das Geld ist auch geflossen.
Aber effektiver Mitteleinsatz hängt auch und in erster Linie von Konzeptionen ab. Eben da liegt das große Problem der Bundesregierung bzw. des zuständigen Ministeriums.
Wenn Sie versuchen - so wie es auch im Bericht dargestellt -, in 40 Jahren gewachsene Strukturen, Formen und Instrumente unreflektiert auf eine andere gesellschaftliche Realität zu übertragen, die Sie kaum in Ansätzen verstehen oder verstehen wollen, dann kann das nur ins Auge gehen. Ein Beispiel hierfür sind die in der Stellungnahme hochgelobten Sonderprogramme, nämlich das Aufbauprogramm freier Träger.
Entsprechend den Vorgaben des Kinder- und Jugendhilfegesetzes wurden z. B. in Thüringen in den letzten Jahren eine Reihe von Angeboten der Jugendhilfe geschaffen. Die hundertprozentige Förderung der Stellen bei einer Vielzahl von kleinen Trägern, Neugründungen und Jugendinitiativen machte es möglich, mit der Entwicklung von dezentralen, pluralen Strukturen in der Jugendarbeit zu beginnen. Engagiert gingen die Mitarbeiter daran, wesentliche Voraussetzungen für langfristig angelegte Angebote, z. B. im Jugendfreizeitbereich, zu schaffen.
Die Akzeptanz bei den Kindern und Jugendlichen war da, doch die Freude währte nur kurz. Die 1995 auslaufende Förderung bedeutet für viele kleine Träger das gnadenlose Aus.
Hier geht mehr kaputt als ein Jugendtreff oder ein Verein.
Eben mühsam geschaffene Strukturen brechen zusammen, neue haben kaum Chancen auf Entfaltung.
Was bleibt, sind Enttäuschung und Frustration bei allen Beteiligten:
Engagement lohnt sich doch nicht! Auf längere Sicht - die dem Familienministerium aber offensichtlich abgeht - wird der Verlust von Vertrauen in die Politik und die Politiker teurer als eine Fortsetzung der Förderung. Denn was heute an präventiver Jugendarbeit versäumt wird, kostet später beim Reparieren - das wissen wir alle - meist das Doppelte oder das Dreifache.
Ich hoffe daher inständig, daß es uns gelingt, ein Auslaufen des Aufbauprogramms freier Träger und auch der Maßnahmen nach § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes zu verhindern. Jugendpolitik braucht eine kontinuierliche, langfristig gesicherte und großzügige Finanzierung.
Wer in diesem Bereich spart, bezahlt am Ende teuer, mit der Zukunft einer Gesellschaft.
Der Neunte Jugendbericht macht eines deutlich: Es ist dringend an der Zeit, daß das Bundesministerium seine großen Worte von der „Jugendpolitik, die ein Schwerpunkt der Regierungspolitik bleibt", mit tragfähigen Konzepten und angemessenen finanziellen Mitteln untersetzt. Benötigt wird ein Politikansatz, der Jugendpolitik als gesellschaftliche Querschnittsaufgabe begreift und gestaltet. Niemand erwartet von Frau Bundesministerin Nolte, daß sie die in der Tat komplexen Probleme im Kinder- und Jugendbereich allein mit ihrem Ressort bewältigt. Doch sollten wir zumindest erwarten können, daß die Familienministerin jugendpolitisch relevante Probleme gegenüber ihren Amtskollegen offensiv und nachdrücklich vertritt.
Ein solches Problem sind Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Jugendliche. Das ist aus unserer Sicht - wie eben auch schon deutlich geworden - ein jugendpolitisches Schwerpunktthema, das geradezu auf den Nägeln brennt.
Der Streit zwischen Bund und ostdeutschen Ländern über die Lehrstellenfinanzierung ist in vollem Gange. Bei 10 % mehr Ausbildungssuchenden, 3,7 % weniger Ausbildungsplätzen und einer Bundesregierung, die nicht bereit ist, die Aufgaben der Wirtschaft zur Schaffung von Lehrstellen zu übernehmen, bleiben in diesem Jahr die Erwerbs- und Bildungsbiographien Tausender junger Menschen mit Sicherheit auf der Strecke.
Sicher können und müssen der Bund und die Länder auch im öffentlichen Dienst Ausbildungsplätze schaffen. Wichtiger ist allerdings, daß der Bund Unternehmen über Steuer- und Finanz- oder auch andere Maßnahmen zur Schaffung von Ausbildungsplätzen motiviert. Es kann doch nicht sein, daß in dem Opel-Werk in Eisenach - ein Beispiel aus meiner Heimat -, das über 2 000 Beschäftigte hat, ganze zehn Ausbildungsplätze für junge Leute zur Verfügung stehen.
Ich muß allerdings zugeben, daß mich der bisherige Umgang der Bundesregierung mit dem Jugendbericht sehr pessimistisch gestimmt hat. Die unglaubliche Blauäugigkeit, Ignoranz und Selbstzufriedenheit, die aus vielen Einschätzungen spricht, ist schon erschreckend, vor allem angesichts der Vielzahl von drängenden Problemen. So kann ich z. B. die „hohe generelle Zufriedenheit mit dem eigenen Leben" nicht konstatieren.
Rosel Neuhäuser
Kinder und Jugendliche sind sehr wohl geprägt und auch beeinflußt von der Angst der Eltern vor dem Verlust des Arbeitsplatzes; sie erleben wieder, daß Kritik nicht erwünscht ist - also: „Kopf runter und Mund halten! ". Sie sind weiterhin geprägt von dem Erleben, daß Arbeitslosigkeit Resignation und Isolation bedeutet - teilweise auch Verschuldung der Familie -, und von der Unsicherheit sie umgebender Menschen, vor allem der Frauen und Mädchen, die sich in sinkenden Geburtenraten, einer steigenden Zahl von Sterilisationen, einer Arbeitslosigkeit von über 60 % sowie in der Tatsache ausdrückt, daß Frauen mit 31 % überproportional von Sozialhilfe abhängen. 46 % der Kinder in Ostdeutschland leben in Haushalten, die Sozialhilfe erhalten.
Der Bericht informiert über einen deutlichen Wertewandel, auf den die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme nicht eingeht. Wir halten deshalb eine Novellierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes für dringend erforderlich, in der die bisherigen Erfahrungen aus den neuen Bundesländern berücksichtigt werden und in die die entsprechenden ostdeutschen Institutionen und Organisationen einbezogen werden. Wichtig sind hier verbindliche Festlegungen für alle Leistungs- und Aufgabenbereiche der Kinder- und Jugendhilfe.
Kinder und Jugendliche haben ein Recht darauf, daß ihre speziellen Belange in den bundes-, landes- und kommunalpolitischen Entscheidungen berücksichtigt werden. Sie sind keine Verwaltungsgröße, sondern ein aktiver Teil unserer Gesellschaft. Sie brauchen Freiräume, in denen sie Verantwortung übernehmen können, und reale Chancen auf die Mitgestaltung ihrer Lebensumwelt.
Wir fordern die Bundesregierung mit allem Nachdruck dazu auf, ihre Stellungnahme zum Neunten Jugendbericht zu überdenken und entsprechende politische Entscheidungen zu treffen. Die Zukunftschancen einer Gesellschaft lassen sich am Umgang mit ihrer Jugend ablesen.
Danke.