Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
- Danke schön, Herr Kollege, für die Unterstützung.
Eigentlich müßten bei Ihnen, sehr geehrte Frau Ministerin Nolte, und bei uns allen die Alarmglocken läuten und die Alarmlampen aufleuchten, wenn wir sehen, daß an Wahlen immerhin nur noch 30 bis 40 % der jungen Menschen teilnehmen und daß ein allgemeines Desinteresse an der Politik besteht, das unter den jungen Menschen weit verbreitet ist. Daß dieser meist passive Protest eine Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen und ungelöste Probleme ist, darin sind wir uns einig. Das zeigt sicherlich auch der Neunte Jugendbericht, den wir heute behandeln.
Die Aussagen in ihm beziehen sich in erster Linie auf die neuen Länder. Aber es gibt viele Tendenzen, Linien und Entwicklungen, die auf die ganze Republik hindeuten und die wir hier betrachten sollten.
Klaus Hagemann
Wenn man bereit ist, mit jungen Menschen zu reden - das sollten wir als Politikerinnen und Politiker wesentlich öfter tun -, dann hört man Aussagen, die deutlich machen: An unseren Meinungen und Bedürfnissen besteht bei euch Politikern überhaupt kein Interesse, und um uns kümmert ihr euch erst, wenn wir mit Gewalt und Brutalität auftreten und zuschlagen. Erst dann wird plötzlich sehr viel Geld zur Verfügung gestellt, dann wird auch in Aktionismus gemacht und einiges mit heißer Nadel gestrickt.
Diese Frustrationen und fehlende Anerkennung führen sicherlich oft zu Haß - gerade in den neuen Ländern können wir das beobachten, aber auch in den alten - und zu Gewalt. Wenn dann noch die einfachen Rezepte aus der rechtsextremen Ecke, die angeblich so einfachen Lösungen, hinzukommen, dann können wir das Entstehen extremistischer Gewalt erklären. Ich meine, wir sollten aufpassen, Gewaltakzeptanz nicht zu verharmlosen, wie wir es heute auch gehört haben.
Wir haben vor kurzem im Ausschuß über den Medienbericht der Bundesregierung geredet. Auch hier war immer wieder nur der Appell zu verzeichnen, Gewalt müsse zurückgeschraubt werden. Hier muß eben auch die Regierung insbesondere den privaten Fernsehsendern deutlich machen, daß andere Wege gegangen werden müssen.
Meine Damen und Herren, die Alarmzeichen, von denen ich vorhin gesprochen habe, schreien sozusagen nach neuen Wegen und nach neuen politischen Ansätzen. Deshalb kann das von Ihnen politisch geäußerte „Weiter so", wie es auch einmal ein Wahlslogan von Ihnen deutlich gemacht hat, nicht länger gelten. Das große Lob, das sich die Regierung in ihrer Stellungnahme zum Jugendbericht selbst ausspricht, kann unsererseits nicht akzeptiert werden.
Das wird natürlich auch in anderen Untersuchungen deutlich als nur im Neunten Jugendbericht. Ich möchte eine nicht gerade sozialdemokratisch orientierte Veröffentlichung zitieren, nämlich eine Broschüre der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft. Der Kollege Rupert Scholz ist dort im Aufsichtsrat. Die hat im Oktober 1994, also vor wenigen Monaten, folgendes geschrieben:
Die Angst der Jugendlichen, daß die Zukunft in manchen lebensnotwendigen Bereichen gefährdet ist, die Einschätzung, daß die Politik, aber auch die Wirtschaft den Einzelnen zu wenig Gestaltungsmöglichkeiten bietet und falsche Lösungswege beschritten werden, relativieren die Rede von einer zufriedenen oder zufriedengestellten Generation.
Recht hat die Alfred-Herrhausen-Gesellschaft.
Gefordert sind langfristige, auf Prävention aufgebaute politische Ansätze, bei denen junge Menschen politisches Handeln selbst erfahren können, so wie es auch im Jugendbericht deutlich gemacht worden ist. Dies ist nur über aktive, ehrenamtlich aufgebaute Jugendverbände möglich, genauso aber auch bei freien Initiativen, über politische und gesellschaftliche Aktivitäten oder in einer demokratisch organisierten Schule sowie durch mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz. Deshalb ist der Ansatz notwendig, das AFT-Programm weiterzuführen und nicht abzubauen.
Meine Damen und Herren, vorhin hat ein Kollege der F.D.P. gesagt, der Ruf der Politikerinnen und Politiker sei „saumäßig". Sicherlich ist hier etwas dran. Wir aber sind - ich wiederhole mich - aufgefordert, wieder mehr mit Kindern zu reden, mit Jugendlichen zu reden, ihre Anliegen aufzunehmen und sie ernst zu nehmen. Wir dürfen nicht übereinander, über die Generationen, sondern wir müssen miteinander reden.
Darüber hinaus möchte ich noch die politische Bildung ansprechen, die einen höheren Stellenwert, insbesondere auch in den neuen Ländern, verdient. Hier ist besonders darauf zu achten, daß die Trägerstrukturen bei den Jugendbildungsstätten wegbrechen, weil, bedingt durch eine beschränkte Anzahl von ABM-Stellen und nur durch Projektförderung, die Kontinuität der Konzepte weggefallen ist und deshalb viele Einrichtungen zur Zeit schließen müssen. Ich hatte gerade gestern mit einer Vertreterin der Jugendbildungsstättenorganisation ein Gespräch, die darauf noch einmal deutlich hingewiesen hat.
Insgesamt ist aus Finanzsicht zu fordern, daß Kinder- und Jugendpolitik nicht der haushaltspolitische Steinbruch sein darf.
Bei Haushaltsberatungen die wir zur Zeit für den Haushalt 1995 führen, hat man aber manchmal das Gefühl, daß es so ist. Im Haushalt gilt es zu sparen. Das ist richtig. Aber es gilt auch, wie vorhin gesagt wurde, daß wir die Mittel umschichten müssen zugunsten der Jugend und der Kinder. Die Förderrichtlinien müssen so konzentriert werden, daß sie nicht, wie vorhin von dem Kollegen Wetzel dargestellt, einen ganzen Leitz-Ordner ausmachen, sondern sie müssen so gestaltet werden, daß eine Konzentration der Mittel, beispielsweise im Bundesjugendplan, entsteht.
Wenn Kommunen in Ost und West zur Zeit oft gezwungen sind, die Jugendförderung zu kürzen, Jugendeinrichtungen zu schließen, dann ist das natür-
Klaus Hagemann
lich falsch. Wir müssen aber auch deutlich sehen, daß es die Bundespolitik ist, die Gemeinden oft im Stich läßt, die die Gemeinden stark belastet. Es sind die ständig steigenden Soziallasten, die den Gemeinden jegliche finanzielle Luft zum Atmen und zum eigenständigen politischen Gestalten nehmen. Wenn ich an das Bundessozialhilfegesetz denke, dann müßte es eigentlich nicht BSHG, sondern KSHG heißen; denn es ist von der Finanzierung her ein kommunal finanziertes Programm. Es ist auch nicht vorgesehen, hier eine Änderung vorzunehmen.
Lassen Sie mich noch kurz, meine Damen und Herren, die berufliche Bildung ansprechen. Auch hier haben die Jugendlichen in den neuen Ländern das Gefühl, nicht gebraucht zu werden oder, wie es heißt, Menschen zweiter Klasse zu sein. Obwohl wir die Lehrstellengarantie des Bundeskanzlers haben, finden nicht alle ausbildungswilligen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz im Rahmen des dualen Systems. 1993 standen 171 000 Bewerbern 87 500 betriebliche Ausbildungsstellen gegenüber. Das sind 83 500 Stellen, die gefehlt haben. Viele Jugendliche heben also keine Möglichkeit, über das duale System ausgebildet zu werden.
Es ist zwar richtig, daß die Regierung im außerbetrieblichen Bereich ein Programm gestartet hat, aber in diesem Ausbildungssystem fehlt eben der betriebliche Teil. Hier richtet sich der Vorwurf an die Wirtschaft, vor allem an die Großunternehmen, daß nicht genügend Ausbildungsplätze in Betrieben zur Verfügung gestellt werden.
Diese Betriebe haben sich aus der dualen Ausbildung verabschiedet bzw. ihre Kapazitäten deutlich eingeschränkt. Hier müssen immer wieder deutliche Forderungen des Bundeskanzlers und von Ihnen, Frau Ministerin, an die Wirtschaft gerichtet werden.
Aber Appelle alleine reichen nicht; wir müssen neue Systeme finden, die vom Bundestag her gesteuert werden. Wenn wir das Konzept in der Bauwirtschaft sehen, dann wissen wir, daß es der richtige Weg ist, daß die Betriebe, die bereit sind, Ausbildung zu gestalten, Zuschüsse bekommen von anderen, die nicht ausbilden.
Hier müssen wir weiter arbeiten. Das gilt nicht nur für den Ostteil unseres Landes, sondern genauso für den Westen, die alten Bundesländer. Damit das duale System auch zukünftig wirklich dual bleiben kann - auch das gilt für Ost und West -, müssen die Arbeitgeber von der Bundesregierung und vom Bundestag stärker in die Pflicht genommen werden.
Meine Damen und Herren, meine Redezeit ist abgelaufen. Deshalb darf ich schließen mit dem Hinweis: Wir haben in den nächsten Wochen Zeit, all die Vorschläge und Anregungen im Ausschuß zu beraten und neue Konzepte mit den Jugendlichen, mit
Jugendverbänden und anderen Organisationen zu erarbeiten, die längerfristig angelegt sind, damit die Jugendpolitik nicht nur ein Reparaturbetrieb gesellschaftlicher Probleme bleibt.
Herzlichen Dank.