Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine erfreuliche und positive Entwicklung, daß die Jugendlichen in den neuen Bundesländern den Vereinigungs- und Umstrukturierungsprozeß weitestgehend gemeistert haben. Der Neunte Jugendbericht stellt an verschiedenen Stellen fest, daß eine deutliche Mehrheit der jungen Menschen der Wiedervereinigung rückhaltlos zustimmt, die Zufriedenheit mit den eigenen Lebensverhältnissen groß und der Zukunftsoptimismus ausgeprägt ist.
Wer von „Verlierern der Einheit" spricht, weiß nicht, wovon er redet, und vergißt eine wesentliche Sache: Kein Problem bei der Bewältigung der anstehenden Aufgaben wiegt schwerer als der Gewinn der Freiheit für die Menschen in den neuen Bundesländern. Die Freiheit gibt jungen Menschen Lebensperspektiven, die sie im Sozialismus nie gehabt hätten. Verloren hat der reale Sozialismus, gewonnen haben die Menschen.
Der Neunte Jugendbericht ist nicht nur am Umfang und Inhalt gemessen ein wichtiges Zeitdokument. Er beschreibt unter jugendpolitischen Gesichtspunkten den historischen Prozeß des Umbruchs und Wandels in den neuen Bundesländern. In vielen Bereichen spiegelt der Bericht auch meine sehr persönlichen Erfahrungen wider. Ich wiederhole daher hier gerne meinen Dank und den Dank der Bundesregierung an die Mitglieder der Kommission und an die Mitarbeiterinnen des Deutschen Jugendinstituts für ihre Arbeit und Mühe.
Es ist wichtig, daß der Jugendbericht sich mit den Verhältnissen vor der friedlichen Revolution in der DDR auseinandersetzt. Er macht deutlich, daß es sich bei dem SED-Staat nicht nur um ein autoritäres Herrschafts- und ein staatsmonopolistisches Wirtschaftssystem handelte, sondern auch um eine „Erziehungsdiktatur". Es ging um die „politisch-ideologische Erziehung der Jugend" als einen umfassenden Erziehungsanspruch von Partei und Staat.
Für nostalgische Sehnsüchte gibt der Bericht nichts her. Dies sollte insbesondere von denen zur Kenntnis genommen werden, die Kritik an der Gegenwart dafür nutzen möchten, ihre Vergangenheit zu verklären.
Junge Menschen waren in der DDR daran gewöhnt, bevormundet und gegängelt, aber auch in hohem Maße versorgt und betreut zu werden. Mit der Demokratisierung brach für die jungen Menschen das bislang verkündete Weltbild zusammen; bislang vermittelte Normen verloren ihre Geltung; die leitenden und kontrollierenden Institutionen fielen weg.
Die jungen Menschen waren auf neue Weise gefordert. Sie konnten und mußten sich eigenständiger entscheiden. Für viele war das ein Gewinn. Aber der
Bundesministerin Claudia Nolte
Prozeß war auch nicht ohne Probleme. Die Vielfalt der Einflüsse und Möglichkeiten einer freien Gesellschaft galt es zu verarbeiten. Unterstützung und Hilfen waren und sind noch in besonderem Maße notwendig.
Kinder- und Jugendhilfe in dem Verständnis, wie es dem Kinder- und Jugendhilfegesetz zugrunde liegt, hatte es in der DDR nicht gegeben. Solche Jugendhilfestrukturen mußten erst neu aufgebaut werden. Neues Recht wollte gelernt und angewendet sein. Es galt, die Voraussetzungen für eine schrittweise Entwicklung der Struktur freier Träger zu schaffen. Die Zusammenarbeit von freien und öffentlichen Trägern spielte sich nach und nach ein. Das weithin neue Personal hatte sich in die bislang unbekannten fachlichen Anforderungen einzuarbeiten.
Wenn der Bericht nun feststellt, daß strukturell wichtige Rahmenbedingungen für eine dem Kinder- und Jugendhilfegesetz konforme Jugendhilfe geschaffen wurden, dann, denke ich, ist das ein gutes Zeugnis für die Arbeit der Verantwortlichen in den neuen Ländern und Kommunen und ein Beleg für die erfolgreiche Unterstützung durch den Bund.
Die Bundesregierung würdigt die Anstrengungen, die in den vergangenen Jahren von den neuen Bundesländern und ihren Kommunen geleistet wurden. Für Aufgaben und Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz wurden im Jahre 1993 in den neuen Bundesländern rund 8,2 Milliarden DM aufgewendet - ein Betrag, der keineswegs hinter dem der alten Bundesländer zurücksteht.
Zwischen 1991 und 1993 haben sich die Ausgaben um schätzungsweise 30 % erhöht.
Auch der Bund hat grolle finanzielle und personelle Anstrengungen unternommen, um die neuen Länder und ihre Kommunen in den Stand zu versetzen, den Auf- und Ausbau von Trägern der freien Jugendhilfe zu fördern. Wesentliche Hilfen in der bisherigen Übergangszeit wurden in den neuen Bundesländern und Kommunen über den Fonds Deutsche Einheit, das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost, die kommunale Investitionspauschale und andere Finanzierungsinstrumente geleistet,
Jenseits aller Kompetenzfragen war der Bund von Anfang an bestrebt, übergangsbedingte Angebots- und Leistungslücken von Ländern und Kommunen durch umfangreiche und gezielte Programme, Zuwendungen und andere Hilfen zu schließen.
Um einige zu nennen: etwa 20 000 Arbeitsstellen für die Kinder- und Jugendhilfe auf ABM-Basis; Qualifikations- und Fortbildungsmaßnahmen auch im Bereich der Kinder-, Jugend-, Familien- und Sozialhilfe; 18 000 Stellen nach § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes in den Arbeitsfeldern der Jugendhilfe und der sozialen Dienste; bis zu 80 % verbilligter Erwerb von Liegenschaften und Gebäuden des Bundes; seit 1991 jährlich zusätzliche 47 Millionen DM im Bundesjugendplan, die zum großen Teil den neuen Bundesländern zugute kommen; gezielte Sonderprogramme des Bundes für die neuen Bundesländer wie das Programm zum Auf- und Ausbau freier Träger der Jugendhilfe und die Informations-, Beratungs- und Fortbildungsdienste Jugendhilfe zur Fortbildung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Jugendämter.
Wir müssen nun das bislang Erreichte mit Blick auf die normale Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern für die Zukunft sichern. Die Kommunen sind weiterhin vor große Aufgaben gestellt.
Die Personalsituation in den Jugendämtern muß vorrangig konsolidiert werden. Gesetzlich vorgeschriebene Aufgaben der Jugendämter können nicht durch ABM-Stellen erfüllt werden, sondern müssen ihren Niederschlag in ordentlichen Stellenplänen finden.
Noch für viele Jahre ist mit einem ebenso hohen wie dringlichen Qualifizierungsbedarf des Fachpersonals der Kinder- und Jugendhilfe zu rechnen. Die hierzu nötigen Angebote haben die zuständigen Landesbehörden und die freien Träger bereitzustellen.
Für den Aufbau freier Träger ist eine weitere öffentliche Förderung durch die zuständigen staatlichen Stellen unverzichtbar.
Der Bund hat das Volumen seines Kinder- und Jugendplans gegenüber 1989 in dem Haushaltsentwurf 1995 von 120 auf 208 Millionen DM erhöht. Darin sind weiterhin Mittel für Sonderaufgaben in den neuen Bundesländern enthalten.
Die örtliche Jugendarbeit braucht dringend Räume und Gebäude.
Hier sind Länder und Kommunen gefordert, wobei gegebenenfalls die Mittel des Investitionsförderungsgesetzes Aufbau Ost des Bundes einzusetzen sind.
Der Neunte Jugendbericht bestätigt meine politische Überzeugung, daß die Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen vorrangig von der Lebensqualität der Familien, in denen sie aufwachsen, insbesondere von der emotionalen Wärme und der verfügbaren Zeit, in der sich Eltern ihren Kindern zuwenden können, und von ihren Einkommensverhältnissen bestimmt werden.
Die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse von Familien mit Kindern in den neuen Bundesländern sind beileibe nicht überall zufriedenstellend. Doch die Daten des Berichts hinken natürlicherweise der aktuellen Entwicklung hinterher.
Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes haben sich die monatlichen Nettoeinkommen der Familien mit Kindern in den neuen Bundesländern und Berlin-Ost deutlich verbessert. Der Anteil der Ehepaare mit Kindern, die ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen von mehr als 3 000 DM aufweisen, hat sich von 25 % im Jahre 1991 auf 68 % im April 1993 erhöht und damit fast verdreifacht. Auch die Einkommenssituation Alleinerziehender hat sich in dieser Zeit fühlbar verbessert.
Trotzdem muß noch mehr zur Entlastung von Familien getan werden. Die Verbesserung der Familienförderung ist nicht von ungefähr ein Schwerpunkt
Bundesministerin Claudia Nolte
der Politik der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode. Kinder und Jugendliche in kinderreichen Familien, von Alleinerziehenden und in Familien, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, wachsen häufig unter schwierigen Bedingungen auf. Die von den Koalitionsfraktionen in diesen Tagen beschlossene Fortentwicklung des Familienlastenausgleichs wird gerade für solche Familien die materiellen Lebensbedingungen verbessern.
Der Neunte Jugendbericht befaßt sich ausführlich mit der Umgestaltung des Bildungswesens in den neuen Bundesländern. Hier sind tiefgreifende Veränderungen vorgenommen worden. Die früheren ideologischen Zwänge wurden abgelegt, und dafür wurde ein differenziertes, Begabung und Leistungsfähigkeiten berücksichtigendes Schulsystem aufgebaut.
Zur Situation im Hochschulbereich stellt der Neunte Jugendbericht fest, daß hier der Veränderungsprozeß von den jungen Menschen am besten bewältigt wurde. Der Ausbildungsnotstand, der nach dem Jugendbericht 1993 angeblich „nun wirklich drohte", fand weder 1993 noch 1994 statt.
Durch ein Bündel verschiedener Maßnahmen der Arbeitsverwaltung, der Länder und des Bundes ist es in den zurückliegenden Jahren gelungen, allen Jugendlichen ein Ausbildungsangebot zu machen; in der Tat nicht immer dort, wo der Wunsch bestand, aber doch so, daß jeder einen Ausbildungsplatz erhalten konnte.
Die Bundesregierung wird auch weiterhin das Ziel, allen Jugendlichen Ausbildungsplätze anzubieten, mit Nachdruck verfolgen und die Berufsausbildung in gemeinsamer Verantwortung mit der Wirtschaft weiter ausbauen und absichern.
Ich halte es für bedenklich, feststellen zu müssen, daß sich immer mehr - vor allem die größeren - Unternehmen der beruflichen Ausbildung entziehen.
Es geht nicht an, daß die öffentliche Hand immer weiter Aufgaben der Wirtschaft übernehmen muß. Dies widerspricht langfristig auch den Interessen der Wirtschaft, die ein eigenes Interesse an qualifiziertem Nachwuchs hat.
Ich appelliere an die Unternehmen:
Schaffen Sie Ausbildungsplätze! Schaffen Sie sie auch dann, wenn Sie keine Chance sehen, die jungen Menschen anschließend weiter bei sich zu beschäftigen. Sie geben damit jungen Menschen eine
Perspektive, und deshalb sind die Bemühungen notwendig.
Die Bundesregierung teilt die Einschätzung der Kommission, daß die Situation auf dem Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern in den nächsten Jahren angespannt bleibt, wenngleich die Arbeitsmarktsituation von jüngeren Erwachsenen insgesamt besser ist als für die übrigen Altersgruppen und die Zahl der Arbeitslosen in dieser Altersgruppe rückläufig ist.
In den Jahren des Übergangs wird dem Arbeitsförderungsgesetz weiterhin eine besondere Bedeutung zukommen, selbst wenn das frühere Höchstniveau mit einem Entlastungseffekt von zeitweilig jahresdurchschnittlich fast 2 Millionen Männern und Frauen sowohl aus finanz- als aus ordnungspolitischen Gründen langfristig nicht gehalten werden konnte.
Probleme, die junge Menschen wegen ihrer Arbeitslosigkeit haben, brauchen unser besonderes Augenmerk . Deshalb wird das Bundesjugendministerium sein Projekt „Arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit" fortführen und dessen Schwerpunkt auf die neuen Bundesländer verlagern. Defizite der Jugendsozialarbeit müssen dringend abgebaut werden.
Der Neunte Jugendbericht diagnostiziert eine emotionale Politikverdrossenheit junger Menschen in Ostdeutschland. Er beschreibt ein sich verschärfendes politisches Integrationsdefizit Jugendlicher, das er mit der deutlichen Bedeutungszunahme der Gleichaltrigengruppen in Verbindung bringt.
Dies sind ernste Befunde. Ähnliche sind uns aus Westdeutschland seit den 70er Jahren bekannt. Vor diesem Hintergrund sollte man auch vorsichtig sein, die Distanz gegenüber den Strukturen der Erwachsenengesellschaft allein auf spezifische Bedingungen, Probleme und Defizite in den neuen Bundesländern zurückzuführen.
Als eine wichtige Ursache der Entfremdung führte der Neunte Jugendbericht an, daß junge Menschen ihre Interessen durch die staatliche Politik nicht hinreichend berücksichtigt und vertreten sehen.
Der Ansicht, daß der Staat nicht genug für die Jugend tut, waren 51,5 % in den alten Bundesländern und beachtliche 71 % in den neuen. Insbesondere zugunsten der Kommunen muß es erlaubt sein, darauf hinzuweisen, daß dieser Eindruck junger Menschen auch eine Folge der subsidiären Organisationsform der Kinder- und Jugendhilfe ist.
Jugendarbeit wird weitgehend von freien Trägern angeboten und durchgeführt. Nur selten wird dabei erkennbar, daß hinter solchen Angeboten freier Träger auch der Staat, insbesondere das kommunale Jugendamt, als fördernde, planende, anregende und koordinierende Instanz steht.
Bundesministerin Claudia Nolte
Nichtsdestotrotz müssen wir in unserem Bemühen, Jugendliche für unsere Demokratie zu gewinnen, fortfahren. Formen von Partizipation für junge Menschen wie z. B. Jugendgemeinderäte sollten erprobt, gefördert und ausgeweitet werden.
Eines ist mir noch wichtig: Wir wissen zwar, daß fast alle Jugendlichen aus den neuen Bundesländern bereits mindestens einmal in den alten Bundesländern waren. Der Anteil der Jugendlichen aus den alten Bundesländern, die bereits die neuen Bundesländer besucht haben, ist dagegen nach meiner Erfahrung noch lange nicht befriedigend. Damit Deutschland weiter zusammenwächst, brauchen wir mehr Treffen und mehr Gespräche zwischen jungen Menschen aus Ost- und aus Westdeutschland. Solche Begegnungen sollten von allen unterstützt werden, insbesondere von Schulen, Kommunen, Vereinen und Verbänden.
Die innere Einheit werden wir nur mit der jungen Generation vollenden, und zwar nur dann, wenn wir ihr die Perspektive auf eine gute Zukunft eröffnen und erhalten. Alle, die im Bund, den Ländern und Gemeinden, in der Wirtschaft und Gesellschaft Verantwortung tragen, müssen hierzu ihren Beitrag leisten.
Der Jugendbericht gibt dazu viele wertvolle Ansatzpunkte. Ich wünsche mir, daß uns Diskussion über ihn in einer breiten Öffentlichkeit und in allen Bereichen dem Ziel der Vollendung der inneren Einheit näherbringt.
Danke schön.