Rede von
Uwe-Bernd
Lühr
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(F.D.P.)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die um die Änderung
Uwe Lühr
des § 116 Arbeitsförderunsgesetz im Jahr 1986 geführte Debatte ist mir persönlich nicht aus eigenem Erleben präsent, da ich zu dieser Zeit in einem politischen System lebte, dem diese Probleme vermeintlich völlig fremd waren.
„Streik" war per definitionem des sogenannten Arbeiter- und Bauernstaates undenkbar. Die vorgebliche Identität von Arbeitgeber und Arbeitnehmer bedurfte natürlich keiner Instrumente für den Arbeitskampf. Daß die staatsbildende Funktion der Arbeiterklasse eine Fiktion war, die es ermöglichte, daß über vier Jahrzehnte mit dem in Art. 24 der DDR- Verfassung garantierten Recht auf einen Arbeitsplatz und mit anderen Garantien sogenannter sozialistischer Errungenschaften die wirtschaftliche Substanz in Ostdeutschland aufgezehrt wurde, das ist kein Geheimnis mehr.
Die jetzt einheitlich in Deutschland geltende Tarifautonomie ist streitig angelegt. Sie hat sich bewährt. Waffengleichheit ist die Basis der Friedensfähigkeit der Tarifpartner. An der Akzeptanz und der Funktionsfähigkeit des autonomen Tarifvertragssystems gibt es ein identisches Interesse aller Beteiligten und natürlich auch der Politik, deren unmittelbarem Einfluß die Tarifpartner richtigerweise entzogen sind.
Daß nicht durch die Bundesanstalt für Arbeit zugunsten einer Seite die Gewichte während der Tarifauseinandersetzung verschoben werden können, war Anliegen der Änderung des § 116 AFG im Jahr 1986. Seit dieser Novellierung gibt es einen Neutralitätsausschuß, dem je drei Vertreter der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite angehören sowie der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit als Ausschußvorsitzender. Dieser Ausschuß, der angerufen werden kann, wenn eine Partei der Ansicht ist, die Bundesanstalt für Arbeit verletze ihre Neutralitätspflicht, entscheidet, ob ein Stellvertreterarbeitskampf vorliegt oder nicht, nicht mehr der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit allein.
Dieser Ausschuß ist seit seinem Bestehen erst zweimal bemüht worden, anläßlich des Arbeitskampfes in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie 1993, als infolge der fristlosen Kündigung der Metalltarifverträge unbeteiligte Arbeitnehmer in MecklenburgVorpommern wegen des Streiks in Sachsen nicht weiterarbeiten konnten - nicht aus Solidarität, sondern weil die Zulieferung stagnierte.
Die letzte Entscheidung ist auf Antrag der IG Metall gerichtlich überprüft worden. Einige Vorredner haben es schon zu Recht bemerkt: Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung am 4. Oktober letzten Jahres die Klage der IG Metall im wesentlichen abgewiesen. Die IG Metall hält die Entscheidung des Gerichts für verfassungswidrig und hofft, daß das Bundesverfassungsgericht nicht nur das Urteil des Bundessozialgerichts aufhebt, sondern § 116 AFG insgesamt für verfassungswidrig erklärt. In einer Bildunterschrift einer Gewerkschaftspublikation heißt es - ich zitiere -:
Das Urteil des Bundessozialgerichts zum AntiStreikparagraphen macht deutlich: Seine Urheber wollen die Gewerkschaften lähmen.
Das stellt im übrigen eine Gerichtsschelte dar, gegen die man als politisch Handelnder das Gericht nun wirklich in Schutz nehmen muß.
Bei § 116 AFG handelt es sich mitnichten um einen „Anti-Streikparagraphen", wie die Metaller ihre Mitglieder glauben machen wollen, sondern um eine Konkretisierung der Waffengleichheit. Daß diese Feststellung auch vom Bundesverfassungsgericht getroffen werden könnte, ist die eigentliche Veranlassung für die Gesetzentwürfe von SPD, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und PDS, die wir heute auf der Tagesordnung haben. Sollte dieses Haus dem - inhaltlich fast Bleichlautenden - Begehren auf Revision der AFG-Novelle von 1986 zustimmen, liefe nämlich das Verfahren in Karlsruhe ins Leere.
Natürlich könnte es nicht unser Interesse sein, einen Verfassungsverstoß auf Dauer hinzunehmen. Aber unser Interesse ist es, das Gleichgewicht zwischen den Tarifpartnern zu erhalten. Wenn es heute den Gewerkschaften gelingt, mit wenigen, die Streikkasse schonenden Schwerpunktmaßnahmen die Wirkung auf nur mittelbar betroffene Wirtschaftsbereiche stärker ausfallen zu lassen als auf die unmittelbar beteiligten im Tarifbezirk, dann war die Novellierung 1986 notwendig. Sie ist heute nicht durch veränderte Produktionsweisen überholt, so daß sie auch zukünftig notwendig ist, um den Arbeitsfrieden am Wirtschaftsstandort Deutschland zu sichern.
Die F.D.P.-Fraktion lehnt die Änderung des § 116 AFG ab.
Danke.