Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Streik in der bayerischen Metall- und Elektroindustrie lieferte eine exemplarische Begründung für den Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion zur Wiederherstellung der Neutralität der Arbeitsverwaltung bei Arbeitskämpfen. Meine Fraktion fordert daher, daß noch vor dem Ende der Tarifrunde 1995 wieder ein normales Verhältnis zwischen den Mitteln hergestellt wird, die einerseits den Gewerkschaften und die andererseits den Arbeitgebern im Tarifstreit zur Verfügung stehen.
Der Streik ist die letzte Möglichkeit der Arbeitnehmerschaft, sich gegen Unternehmerdiktate zur Wehr zu setzen. Erst dieses Instrument schafft Waffengleichheit. Die Aussperrung mag zwar als das logische Gegenstück zum Streik gesehen werden, aber in Wirklichkeit stellt sie die Unternehmerüberlegenheit bei Auseinandersetzungen wieder her, erst recht mit dem derzeit geltenden § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes; denn zur Zeit sind die Gewerkschaften in der Wahl der Mittel nicht frei. Im Vergleich zu den Arbeitskampfmöglichkeiten der Arbeitgeber sind sie gehandicapt.
Das Beispiel in Bayern belegte dies eindeutig. Die Gewerkschaft hat nach 34 ergebnislosen Verhandlungsrunden, nach Verstreichen der Friedenspflicht und Urabstimmung den Streik ausgerufen. Die bestreikten Betriebe waren sorgfältig ausgewählt worde, denn Auswirkungen auf andere Betriebe in anderen Tarifgebieten sollten gering bleiben. Von der Gewerkschaft war der Tarifstreit ausdrücklich als räumlich wie ökonomisch begrenzte Auseinandersetzung angelegt.
Die Arbeitgeberseite hatte sich daraufhin einen Vorratsbeschluß auf Aussperrung besorgt.
Die trotz der sorgsamen Auswahl der Betriebe immer noch verbleibenden Verflechtungen und Abhängigkeiten hätten den Arbeitgebern gleichwohl jeden Vorwand geliefert, in Bayern eine Aussperrung in Gang zu setzen, die weit über das umkämpfte Tarifgebiet hinausgereicht hätte.
Das Ziel dieses Aussperrungsbeschlusses war, in einem anderen als dem bestreikten Tarifbezirk Beschäftigten die Werkstore vor der Nase zuzuschlagen, sie gleichzeitig von Lohnersatzleistungen auszuschließen, den Zorn von Ausgesperrten auf die Gewerkschaft zu lenken, weil für sie keine Streikunterstützung gezahlt wird, sowie erneut zu dokumentieren, daß der Staat im tariflichen Ernstfall auf der Seite derjenigen steht, die über die Arbeitsplätze bestimmen können.
Rudolf Dreßler
Vor elf Jahren, im Streit um die Einführung der 35-
Stunden-Woche, standen den zeitweise 58 000 streikenden Metallarbeitnehmern rund 530 000 ausgesperrte Arbeitnehmer gegenüber. Das ist ein Verhältnis von 9: 1, meine Damen und Herren. Zwei Drittel dieser Ausgesperrten waren Opfer der Fernwirkungen von Aussperrungen in den bestreikten Tarifgebieten. Vielen Arbeitnehmern wurde damals Lohn entzogen, weil Arbeitgeber ungerechtfertigt behaupteten, die Produktion werde vom Streik in Mitleidenschaft gezogen. In Wirklichkeit wollten sie den sozialen Druck auf Gewerkschaft und Arbeitnehmer rigoros erhöhen.
Der Tarifstreit in Bayern ist zwar mit einem vernünftigen Ergebnis beendet worden, wie wir wissen; es kann aber keine Rede davon sein, daß die Tarifrunde 1995 nun vorbei ist. Ob andere Arbeitgeber über einen Vorratsbeschluß zur Aussperrung hinaus nicht wirklich zur Tat schreiten werden, weiß heute niemand. Daher bleibt es dabei: Der Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion müßte so rasch es geht in Kraft treten.
Der Gesetzentwurf präjudiziert das Bundesverfassungsgericht nicht. Das Gericht wird, wie wir wissen, in wenigen Tagen über eine Verfassungsbeschwerde meiner Fraktion, von vier Landesregierungen sowie der Industriegewerkschaft Metall zur Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit bei Arbeitskämpfen verhandeln. Es bleibt in seiner Entscheidung so frei, wie es bisher war. Es ist nicht zu verstehen, warum sich Arbeitsminister Blüm 1986 dazu verleiten ließ, gegen die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften vorzugehen und die Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit in Arbeitskämpfen zu beseitigen. Eine sachliche Begründung gab es weder damals, noch gibt es sie heute.
Es war damals auch kein Druck aus Richtung des Koalitionspartners F.D.P. zu spüren. Kein Gericht drängte Norbert Blüm zu einer raschen Handlung. Allerdings hatte der damalige Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Heinrich Franke, 1984 per Erlaß angeordnet, kalt Ausgesperrten das Kurzarbeitergeld zu verweigern. Franke konnte dies damals mit Rückendeckung von Bundesarbeitsminister Blüm tun.
Dieser sogenannte Franke-Erlaß war der Testlauf für die spätere Beseitigung der Neutralität der Bundesanstalt in Arbeitskämpfen durch Gesetz. Ich habe nichts von dem zurückzunehmen, was ich damals im Deutschen Bundestag gesagt habe. Es war ein eiskalt in Szene gesetzter, wohlgeplanter Coup gegen die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften.
Einer der Vorgänger von Norbert Blüm im Ministeramt, Hans Katzer, sah die Sachlage immer völlig anders als sein Nachfolger Blüm. Katzer war in der Großen Koalition von 1966 bis 1969 Bundesarbeitsminister. Er ist überdies Vorgänger Blüms als Chef der CDU-Sozialausschüsse gewesen. Nicht zuletzt auf Hans Katzers Betreiben hatte die Große Koalition 1969 durchgesetzt, daß § 116 des AFG im Regelfall Lohnersatzleistungen bei mittelbar vom Streik betroffenen Arbeitnehmern nach sich zieht. Norbert Blüm hat das Gesetz von Hans Katzer auf den Kopf gestellt. Die ab dem 15. Mai 1986 geltende Fassung des § 116 AFG erzwingt, daß mittelbar vom Streik Betroffene im Regelfall keine Lohnersatzleistungen erhalten.
Hans Katzer war zudem zutiefst davon überzeugt, daß in unserem sozialen Rechtsstaat die Bundesanstalt für Arbeit während des Tarifstreits weder von Gewerkschaften noch von Arbeitgebern instrumentalisiert werden dürfe. Die Sozialdemokraten teilen diese Überzeugung noch heute - deshalb unser Gesetzentwurf.
Die Nachfolger Katzers auf dem Stuhl des Bundesarbeitsministers, Walter Arendt, Herbert Ehrenberg und Heinz Westphal, blieben der Linie von Hans Katzer treu. Die Folgen des Bruchs mit der Linie von Katzer und anderen sind nicht zu übersehen. Die Ideale der Solidarität und der Freiheit haben es mittlerweile sehr schwer, sich gegen das Denken in Kriegskategorien innerhalb der Tarifpolitik durchzusetzen.
Im einsetzenden und sich dramatisch zuspitzenden wirtschaftlichen Strukturwandel sind die Gewerkschaften nicht mehr frei, was die Wahl der Mittel angeht. Die Bundesregierung hat das gewollt. Sie wollte 1986 eine strategische Entscheidung gegen die Gewerkschaften und gegen die Arbeitnehmer herbeiführen. Das Groteske an der Geschichte ist nur: Mitten im Strukturwandel klärt sich auf, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer mehr Gemeinsamkeiten haben, als die Regierung es bisher offensichtlich geglaubt hat oder wahrhaben wollte. Das gilt für die Aufgabe der Sicherung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, das gilt für den Schutz der Natur sowie für den Abbau der Arbeitslosigkeit. Denn der Weg zu einer befriedigenden wirtschaftlichen Zukunft führt ausschließlich über den Konsens, über Transparenz der Verhältnisse, über Mitentscheidung und über Mitverantwortung. Er führt gewiß nicht über einen fortwährenden, vom Gesetzgeber provozierten Tarifkrieg zwischen den Tarifvertragsparteien.
Ich frage mich: Warum will die heutige Koalition diesen Zusammenhang nicht verstehen? Warum will sie nicht endlich daraus Konsequenzen ziehen?
Rudolf Dreßler
Ist es so schwierig, zu begreifen, daß in einer zivilisierten Gesellschaft der Kopf mehr zählen muß als der Ellenbogen? Wir alle wissen doch: Kluge Arbeitgeber finden längst den Weg zu Betriebsräten, finden längst den Weg zu Gewerkschaften. Kluge Arbeitgeber wissen, daß in den Belegschaften eine ungeheure Bereitschaft und Fähigkeit zu innovativem Denken schlummert. Man muß sie nur wecken, man muß sie fördern und auch fordern, und man muß sich vertrauen können.
Der sogenannte Streikparagraph paßt dazu wie eine Faust aufs Auge. Wer § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes in seiner heutigen Form für richtig hält, der, meine Damen und Herren, steckt ideologisch im 18. Jahrhundert.
Deshalb, Herr Geißler, weil Sie sich ja gerade so forsch
an die zukünftige Entwicklung unserer Gesellschaft machen und sich mit Ihrer Partei anlegen, lade ich Sie ein, sich auch in diesem wichtigen gesellschaftlichen Bereich mit Ihrer Fraktion in den kommenden Beratungen anzulegen.
Ich danke Ihnen.