Rede von
Adolf
Ostertag
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit unserer Initiative wollen wir - das ist klar - die 1986 eingebrachte und durchgepeitschte Änderung und Novellierung des § 116 AFG rückgängig machen. Es ist natürlich ganz klar, daß die aktuelle tarifliche Auseinandersetzung für uns auch ein Motiv war. Aber, Herr Kollege Vogt, es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, daß wir schon damals zusammen mit den Gewerkschaften Verfassungsklage eingereicht haben. Wir standen damals auf der Seite der Gewerkschaften, und in dieser Frage stehen wir auch heute auf der Seite der Gewerkschaften. Ich glaube, das sollten Sie hier nicht unterschlagen.
Eines ist doch klar, meine Damen und Herren, trotz der grundgesetzlich garantierten Tarifautonomie sind die Gewerkschaften in der Wahl ihrer Mittel seit 1986 nicht mehr frei.
Dieses Damoklesschwert der kalten Aussperrung schwebt über allen ihren Entscheidungen, von der Aufstellung der Tarifforderungen bis zur Auswahl der bestreikten Betriebe. Ich glaube, dazwischen liegt noch ein weites Spektrum von gewerkschaftlichen Aktivitäten in der Tarifbewegung.
Hinter der damaligen Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes stand die Absicht, die Beschäftigten zu entsolidarisieren, durch die kalte Aussperrung die Streikkassen der Gewerkschaften zu plündern und ihre Kampfkraft zu schwächen.
Das ist aber nur ein Stück einer langfristig angelegten Gesamtstrategie Ihrer Politik. Es ist offensichtlich, zu wessen Lasten die Bundesregierung ihre Politik der Deregulierung seit 1982 betrieben hat. Immer mehr Beschäftigte werden in ungesicherte, untertariflich bezahlte Arbeitsverhältnisse gepreßt. Gleichzeitig will man uns weismachen, daß dadurch Arbeitsplätze erhalten oder neu geschaffen werden. Die Massenarbeitslosigkeit nimmt nicht ab, sondern sie verfestigt sich.
Gleichzeitig nehmen Sie die konjunkturelle und strukturelle Krise als Vorwand, um Arbeitnehmer-
Adolf Ostertag
rechte und letzten Endes auch die Tarifautonomie einzuschränken.
- Doch, doch, Herr Fuchtel, genauso ist es. Man muß den Zusammenhang Ihrer unsozialen Politik herstellen und darf nicht immer nur auf Einzelaspekte abheben.
Meine Damen und Herren von der Koalition, die sozialstaatlichen und tariflichen Regelungen sind doch nicht Ursache der ökonomischen Krise, sondern sie garantieren das Funktionieren unseres Wirtschaftssystems. Soziale und wirtschaftliche Stabilität ist ohne Gewerkschaften im Land nicht möglich. Ich glaube, in dieser Position stimmen die demokratischen Parteien überein. Nur haben Sie mit der Änderung des § 116 AFG im Jahre 1986 ein Grundprinzip unserer sozialen Demokratie mißachtet. Sie haben in die Tarifautonomie eingegriffen und offen Partei ergriffen. Das ist das Entscheidende.
Was beim Franke-Erlaß noch durch das Sozialgericht rückgängig gemacht werden konnte, hat die Kohl-Regierung dann gesetzlich zuungunsten der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften im AFG festgelegt. Im Klartext heißt es doch: Wer irgendwo streikt, muß mit aller Härte prinzipiell für alle, auch für mittelbare Konsequenzen einstehen.
Wer wie Sie nach dieser Änderung bei Streik und Aussperrung noch von Waffengleichheit redet, übersieht, daß sich in Tarifauseinandersetzungen die Gewichte erheblich verschoben haben. Der ökonomisch Starke erhält noch einen Knüppel, um auf die sozial Schwachen einzuschlagen. Dieser Knüppel wird zum Vorschlaghammer, wenn die Unternehmer extrem aussperren. So standen in der Tarifrunde 1984 z. B. einem Streikenden neun Ausgesperrte gegenüber. Dieses Ungleichgewicht hätte damals, wenn der § 116 schon in der geänderten Fassung bestanden hätte, das Aus für jede Gewerkschaft bedeutet. Mit dem Machtmittel der Aussperrung können die Unternehmer Hunderttausende von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bewußt zu Geiseln eines Arbeitskampfes machen, der irgendwo anders in der gleichen Branche stattfindet und an dem sie eigentlich nicht beteiligt sind.
Wir Sozialdemokraten wollen volle Neutralität der Bundesanstalt für Arbeit. Deswegen geht unser Gesetzentwurf in einem Punkt sogar noch über die frühere Rechtslage und auch über das, was die anderen Parteien, insbesondere die PDS, vorlegen, hinaus. Wir wollen, daß die ausschließlich von der Aussperrung, nicht aber vom Streik mittelbar Betroffenen auf jeden Fall Kurzarbeiter- bzw. Arbeitslosengeld erhalten.
Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit und darüber hinaus die Bekräftigung des Prinzips, daß die Verweigerung von Lohnersatzleistungen auch im Arbeitskampf die Ausnahme bleiben muß. Schließlich haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
Beiträge gezahlt, denen eigentumsähnliche Ansprüche gegenüberstehen. Es muß schon ganz gewichtige Gründe geben, diese Leistungen zu verweigern. Dazu kann aber nicht die vom Arbeitgeber verursachte Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit gehören, egal, wie diese motiviert sind.
Letztlich geht es also um den Stellenwert des Streikrechts in dieser Gesellschaft und damit der Tarifautonomie in einer modernen, dialog- und auch konfliktfähigen Gesellschaft. Streik und Tarifautonomie gehören zusammen. Zu Recht hat das Bundesarbeitsgericht festgestellt: „Tarifverhandlungen ohne das Recht zum Streik sind nichts anderes als kollektives Betteln."
Streik ist übrigens kein nationales Übel. Hierzulande gehen die Gewerkschaften mit diesem Instrument verantwortungsbewußt um. Deutschland ist in Europa das streikärmste, aber das aussperrungsreichste Land. Sie sollten die Statistiken einmal nachlesen.
1986 hat diese Regierung mit der Änderung des § 116 letzten Endes eine „Lex IG Metall" durchgepeitscht; denn ihr paßte die ganze Richtung nicht. Schon die Forderung nach der 35-Stunden-Woche, die damals anstand und um die 1984 gestreikt wurde, hat der Kanzler als „absurd, dumm und töricht" gegeißelt. Herausgekommen ist nach dieser Auseinandersetzung, nach dem Streik das beste Stück Sozial- und Beschäftigungspolitik der letzten zehn Jahre. Denn mit dem Einstieg in die 35-Stunden-Woche sind Hunderttausende von Arbeitsplätzen geschaffen und gesichert worden.
Gerade dagegen richtete sich die Änderung des § 116 zwei Jahre später. Sie sollte die Streikfähigkeit der IG Metall brechen. Gemeinsam mit mehreren SPD-geführten Ländern und der IG Metall sind wir deswegen vor das Bundesverfassungsgericht gezogen.
Wir sind überzeugt, daß der § 116 AFG aus folgenden sieben Gründen verfassungswidrig ist:
Erstens, weil er den kalt ausgesperrten Arbeitnehmern mit dem Anspruch auf Kurzarbeitergeld eine Versicherungsleistung der Arbeitslosenversicherung entzieht, die sie gerade vor vorübergehenden Beschäftigungsrisiken schützen soll. Nicht zuletzt deshalb waren die Arbeitnehmer damals über dieses Gesetz so empört; es hat ihr Gerechtigkeitsgefühl zutiefst verletzt.
Zweitens, weil er eine regionale Begrenzung von Arbeitskämpfen kaum mehr zuläßt und dadurch die regionale Tarifstruktur in Frage stellt.
Adolf Ostertag
Drittens, weil der § 116 die gewerkschaftliche Willensbildung in Tarifverhandlungen von der Aufstellung der Forderung bis zur Wahl des Streikgebietes und der Kampfstrategie beeinträchtigt und dadurch ihre Autonomie untergräbt.
Viertens, weil er den Arbeitgebern die Möglichkeit gibt, kalte Aussperrungen gezielt als Kampfmittel einzusetzen.
Fünftens, weil die Gewerkschaften auch bei unterschiedlichen Forderungen in den Tarifgebieten keine Gewißheit haben, daß der § 116 im Falle eines Arbeitskampfes nicht angewendet würde; denn die Bundesanstalt entscheidet erst nach Beginn des Arbeitskampfes darüber, ob die Voraussetzungen für die Anwendung des § 116 vorliegen. Darüber hinaus schaffen die Arbeitgeber ihrerseits Voraussetzungen für die Anwendung des Gesetzes durch die Aufstellung eigener Forderungen. Das, was z. B. in Bayern passiert ist, haben Sie von der Koalition überhaupt nicht begriffen: 34 Verhandlungen und Streik, und dann gab es noch immer kein Angebot der Arbeitgeber - ich glaube, das ist der schlagendste Beweis dafür, wie diese neue Strategie von den Arbeitgebern wirklich genutzt wird.
Sechstens, weil der § 116 einen Arbeitskampf für die Gewerkschaften zu einem existenziellen Risiko macht und das Streikrecht aushöhlt.
Siebtens, weil er die Tarifautonomie in Frage stellt, indem er den Arbeitskampf als notwendigen Konfliktlösungsmechanismus einerseits beeinträchtigt und andererseits unkalkulierbar macht.
Meine Damen und Herren, beinahe zehn Jahre läßt sich das Bundesverfassungsgericht mit seinem Spruch Zeit. Das ist sehr ärgerlich, aber nicht veränderbar. Wir meinen, gerade auch deswegen ist unsere Initiative notwendig und unverzichtbar, das Arbeitsförderungsgesetz durch diesen Vorstoß entsprechend zu ändern. Es darf nicht bei der Verschiebung der einseitigen Machtstrukturen zugunsten der Arbeitgeberverbände bleiben.