Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Link, ich muß leider etwas Wasser in Ihren Wein schütten.
Ich habe gestern an dieser Stelle versucht zu erklären, daß die rund 40 Milliarden DM, die für den Familienlastenausgleich ausgegeben werden, keine Förderung der Familien darstellen, sondern daß es sich lediglich um die steuerliche Gleichbehandlung von und um Gerechtigkeit für Familien handelt. Denn es ist ein Verfassungsgebot, daß das Existenz-
Hildegard Wester
minimum der Kinder freigestellt bleibt, und um nichts anderes handelt es sich bei unserem Kindergeld und beim Freibetrag. Es ist noch nicht einmal die Summe der Freistellung des Existenzminimums, wie gestern auch Ihr Kollege Fell zugegeben hat.
- Wir sprechen von heutigen Zeiten. Ich bin mir sicher, wenn es überprüft worden wäre, hätten wir nicht so lange gebraucht wie Sie, in die Tat umzusetzen, daß endlich Verbesserungen eintreten.
- Leider wird die Zeit für unser Zwischengeplänkel von meiner Redezeit abgezogen. Deswegen möchte ich gerne zum vorliegenden Gesetzentwurf reden. Wir können die Diskussion dann später im Ausschuß fortsetzen.
Für die Kinder, die seit dem 1. Juli 1993 geboren wurden, gelten die Bestimmungen, die im Föderalen Konsolidierungsprogramm und seinen Umsetzungsgesetzen durchgesetzt wurden. Diese neuen Bestimmungen sollten allein für das Jahr 1993 146 Millionen DM Haushaltsmittel einsparen. Sparen ist sicherlich nicht nur eine sinnvolle, sondern im Augenblick auch eine gebotene Maßnahme. Aber müßte man sich als politisch Verantwortliche nicht fragen, wem man solche Leistungskürzungen zumutet? Diejenigen, die von diesen Kürzungen betroffen sind, sind nämlich die Familien. Es sind genau die Familien, meine Damen und Herren, die im vergangenen Jahr im Mittelpunkt von zahlreichen Sonntagsreden und lauwarmen Absichtserklärungen gestanden haben.
Zur Erinnerung: 1994 war das Internationale Jahr der Familie. Bis heute gibt es aber aus den Reihen der Bundesregierung oder der Regierungsfraktionen keine parlamentarischen Initiativen, um die vielen Versprechungen des vergangenen Jahres zu erfüllen. Das von gestern war keine parlamentarische Initiative.
Statt dessen haben die Familien kräftig sparen geholfen. 1993 überstieg der eingesparte Betrag beim Erziehungsgeld die angesetzte Größe um rund 40 Millionen DM. Familien sind also ein Spartopf der Nation. Es ist höchste Zeit, darüber nachzudenken, wie das Gesetz wieder auf solide Füße gestellt werden kann. Dazu ist es sicher zuerst nötig, daß wir uns noch einmal angucken, was denn im Jahre 1993 eigentlich geändert worden ist.
Anstelle der Einkünfte aus dem vorvergangenen Jahr vor der Geburt des Kindes wird das Einkommen des Geburtsjahres berücksichtigt. Dadurch ist es nicht mehr möglich, das Einkommen mit dem Einkommen- oder Lohnsteuerbescheid nachzuweisen. Vielmehr muß jetzt eine Einkommensprognose erstellt werden, die für die Antragsteller das Herbeischaffen vielfältiger Bescheinigungen und Unterlagen bedeutet und für die ausführenden Ämter einen erheblichen Mehraufwand mit sich bringt. Dieser Mehraufwand ist vor allem auch dadurch gegeben, daß die Erstellung von Einkommensprognosen eher eine finanzamtstypische Tätigkeit ist. Diese sind aber nicht mit der Durchführung des Bundeserziehungsgeldgesetzes beauftragt.
Die Berechnung des Erziehungsgeldes gilt nach der Novelle vom 1. Juli 1993 nur für ein Jahr. Für das zweite Lebensjahr des Kindes muß ein weiterer Antrag gestellt werden.
Damit ist das Maß der Veränderungen noch nicht voll: Ferner müssen Berechtigte im 16. Lebensmonat des Kindes nachweisen, daß sie weiterhin keiner sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen, daß also der Erziehungsurlaub nach wie vor in Anspruch genommen wird.
Ein weiteres Einsparpotential wurde bei den ausländischen Familien gesehen. Denn heute erhalten nur noch Personen mit Aufenthaltserlaubnis oder -berechtigung die Leistungen nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz. Hier ist wieder einmal festzustellen, meine Damen und Herren: An den Schwächsten wird auch bei diesem Gesetz gespart, weil man hier mit der gerinsten Gegenwehr rechnet.
Anstatt nicht nur im Rahmen des Internationalen Jahres der Familie, sondern vor allem auch im Hinblick auf die laufenden Beratungen zum § 218 mit Leistungen für Kinder und Familien besonders sorgfältig und behutsam umzugehen und da, wo es nur eben geht, Leistungen sinnvoll zu erhöhen, strafen die Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen ihre eigenen Absichtserklärungen Lügen.
So ist es. Es wäre angebracht gewesen, das Erziehungsgeld zu erhöhen oder wenigstens die Bemssungsgrundlage. Berücksichtigt man nämlich den Kaufkraftverlust durch die Steigerung der Lebenshaltungskosten seit 1986, müßte das Erziehungsgeld um 100 bis 150 DM höher sein.
Um es zu wiederholen: Seit 1986 ist die Einkommensgrenze von 29 400 DM für eine Familie mit einem Kind - das sind 2 450 DM monatlich - nicht erhöht worden. Der Anstieg der Lebenshaltungskosten und der Einkommen ist in diesem Zeitraum natürlich nicht stehengeblieben. Schon im Jahre 1992 hätte sich bei einer Anpassung der Einkommensgrenze an die Entwicklung der Nettolöhne und -gehälter für die eben genannte Familie ein mögliches Einkommen von 34 075 DM ergeben. Das sind 4 675 DM pro Jahr oder 390 DM pro Monat mehr als im Jahre 1986.
Es ist also allerhöchste Zeit zu handeln. Ich begrüße natürlich sehr, Herr Kollege Link, daß Sie heute angekündigt haben, daß da etwas kommt.
Folgerichtig hat sich der Anteil derjenigen, die nach dem sechsten Lebensmonat ihres Kindes kein Erziehungsgeld mehr erhalten, von 10,5 % im Jahre 1987 auf 12,5 % im Jahre 1992 erhöht. Der Anteil de-
Hildegard Wester
rer, die ein gemindertes Erziehungsgeld erhalten, hat sich von 8,6 % im Jahre 1987 auf 16,5 % im Jahre 1992 erhöht. Dies ist kein Zeichen für die allgemein gute materielle Situation junger Familien, wie es oft zu interpretieren versucht wird, sondern hier liegt ganz klar auf der Hand, daß es einen Zusammenhang zwischen den gestiegenen Lebenshaltungskosten und dem Stillstand in der Leistung bzw. der Bemessungsgrundlage gibt.
Jetzt wird das Einkommen auf der Grundlage des Geburtsjahres des Kindes ermittelt. Dies wird zusammen mit der Einkommensentwicklung dazu führen, daß der Anteil derjenigen, die kein oder ein gemindertes Erziehungsgeld erhalten, im Jahre 1994 von 29 auf 33 % steigt. Ein Drittel aller Sorgeberechtigten erhalten also auf Grund der Überschreitung der Einkommensgrenze keine oder nur noch eine geminderte Leistung nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz. Diese Tatsache allein reicht aus, um sich zu fragen, welche Zielrichtung dieses Gesetz eigentlich verfolgt, ob wir diejenigen erreichen, die wir erreichen wollen, nämlich die Familien mit Kindern.
Ich möchte noch auf einen zweiten wesentlichen Aspekt aufmerksam machen. Das Herbeibringen von Belegen für eine Einkommensprognose belastet die Familien stark und ist in vielen Fällen nicht einmal lückenlos möglich. In letzterer Situation kann das Erziehungsgeld auch nur unter dem Vorbehalt der Rückzahlung ausgezahlt werden. Da sich der gleiche Vorgang zu Beginn des zweiten Lebensjahres des Kindes wiederholt, sind die Antragsteller nicht nur zum zweitenmal mit dem Verwaltungsaufwand konfrontiert, sondern haben praktisch über die gesamte Laufzeit des Erziehungsgeldes eine große Unsicherheit auszuhalten, ob und in welcher Höhe sie überhaupt Erziehungsgeld erhalten werden.
Geradezu skandalös ist es aber, daß sich durch die neue Berechnungsweise ergeben kann, daß Paare, die beide ihre Arbeitszeit reduzieren, um Kinderbetreuung und Berufstätigkeit gemeinsam zu organisieren, gekürzte oder keine Leistungen erhalten, obwohl ihr Einkommen gesunken ist, nämlich dann, wenn das Kind in der zweiten Jahreshälfte geboren und erst dann die Arbeit reduziert wird oder wenn die Reduzierung der Arbeitszeit des Partners nicht als Härtefall, sondern als „selbstverschuldet" bewertet wird.
Ich frage mich, was man mit diesem Gesetz und den Betroffenen noch alles anstellen und trotzdem behaupten kann, es handele sich um ein Gesetz mit der Zielvorgabe der finanziellen Anerkennung der Erziehungsleistung, der Hilfestellung bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und der partnerschaftlichen Gestaltung der beiden vorgenannten Aspekte.
Es wird allerhöchste Zeit, daß eine Korrektur der Richtlinien zur Durchführung des Gesetzes vorgenommen wird, wie Frau Rönsch es für Anfang dieses Jahres versprochen hatte. Es ist sehr wohl bekannt, daß dort eine riesenhafte Lücke klafft. Sie ist immer noch nicht geschlossen.
Die letzte Hürde, die man zu überwinden hat, wenn man Erziehungsgeld beziehen will, ist die, daß man im 16. Lebensmonat des Kindes eine Bescheinigung vorlegen muß, daß der Beurlaubungsstatus fortbesteht. Auch hier gibt es - wie an vielen anderen Stellen im Sozialrecht - den erhobenen Zeigefinger, der vor dem Mißbrauch einer Sozialleistung warnt. Es soll ja nichts anderes als die Frage geprüft werden, ob jemand tatsächlich so dreist ist, Erziehungsgeld zu beziehen, während er gleichzeitig versicherungspflichtig arbeitet.
Ca. 50 % der Leistungsempfängerinnen und -empfänger sind von dieser Situation betroffen. Es ist schon jetzt sicher, daß die ausführenden Ämter sehr viel Kraft und Arbeit investieren müssen, um die Überprüfung der neu beizubringenden Bescheinigungen vorzunehmen und anzumahnen, wenn Bescheinigungen nicht rechtzeitig da sind. Weiter wird es zu Auszahlungsstopps kommen, nämlich für den Fall, daß die Bescheinigungen nicht vorliegen. Dann wird es Widerspruchs- und Wiedereinsetzungsverfahren geben. Das sind alles Maßnahmen, die dazu beigetragen haben, daß die Belastungen der Länder ins Unerträgliche gestiegen sind. Zwei- bis dreifacher Mehraufwand an Personalkosten ist von den Ländern reklamiert worden.
Ich frage mich, warum es, wenn der Bund ein Gesetz zum Einsparen macht, wie in diesem Fall wieder einmal zu Lasten der Länder geht. Wir haben die Länder schon bei der Frage des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz im Regen stehen lassen.
Lassen Sie es uns in diesem Falle nicht tun, vor allen Dingen dann nicht, wenn die Sparmaßnahmen, die wir ergriffen haben, für die Leistungsempfänger alles andere als sinnvoll sind!