Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichmöchte Sie zunächst um Zustimmung zu einigen vorge-schlagenen Änderungen unserer Tagesordnung bitten.Interfraktionell ist vereinbart worden, unsere heutigeTagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms,Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENTransparenz herstellen und Verhandlungenüber den Ausstieg aus dem Staatsvertrag überden Bau einer festen Fehmarnbelt-QuerungaufnehmenDrucksache 18/3917Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für TourismusZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten JürgenTrittin, Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDen Deutschen Bundestag in die Entschei-dung über die neue schnelle NATO-Eingreif-truppe einbeziehenDrucksache 18/3922ZP 3 Beratung des Antrags der AbgeordnetenWolfgang Gehrcke, Dr. Alexander S. Neu, Janvan Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEDemilitarisierung statt Eskalation – KeineNATO-Eingreiftruppe im Osten EuropasDrucksache 18/3913ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Agnieszka Brugger, Dr. Franziska Brantner, TomKoenigs, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMehr Anerkennung für Peacekeeper in inter-nationalen FriedenseinsätzenDrucksachen 18/1460, 18/3931Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.Der Tagesordnungspunkt 6 – Gesetzentwurf zur Än-derung des SGB IV – wird heute abgesetzt. Die nachfol-genden Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionenrücken entsprechend vor. Der Tagesordnungspunkt 12– Baukulturbericht 2014/15 – soll nunmehr mit einer Be-ratungszeit von 38 Minuten debattiert werden. Des Wei-teren wird der Tagesordnungspunkt 15 – hier geht es umAnträge zur Menschrechtslage in Mexiko – abgesetzt.Stattdessen soll der Tagesordnungspunkt 9 – Anträge fürein internationales Staateninsolvenzverfahren und zurRestrukturierung von Staatsschulden – mit einer Debat-tenzeit von 25 Minuten aufgerufen werden.Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Veränderungen ein-verstanden sind. – Das ist der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, möchteich Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am letzten Samstagist Richard von Weizsäcker verstorben. Mit ihm hatunser Land eine seiner herausragenden Persönlichkeitenverloren, ein großes Staatsoberhaupt, für viele Menscheneine Identifikationsfigur, in dessen Leben sich ein
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8010 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Präsident Dr. Norbert Lammert
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ganzes Jahrhundert deutscher und europäischer Ge-schichte spiegelt.Zwölf Jahre war er Mitglied dieses Hauses und be-kleidete in dieser Zeit führende Funktionen. Als stellver-tretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfrak-tion gehörte er zu den prominenten Parlamentariern der1970er-Jahre. Zuletzt, von 1979 an, war Richard vonWeizsäcker Vizepräsident des Deutschen Bundestages.Er verließ ihn 1981, um – in seinen Worten – als„Schwabe im Exil“ Regierender Bürgermeister von Ber-lin zu werden, in einer Zeit, als die ideologischen wie dierealen Mauern noch für die Ewigkeit errichtet schienen.Die deutsche Teilung und ihre Überwindung sollten seineAmtszeit als Bundespräsident entscheidend prägen.„Es kommt meinem Amt zu, Fragen zu stellen und dieArbeit für Antworten auf sie zu ermutigen, nicht aberRezepte anzubieten“, sagte er nach seiner Wahl zumStaatsoberhaupt 1984. Sein Amtsverständnis war über-parteilich, aber nicht neutral oder gar meinungslos. Dasspürten gelegentlich auch andere Verfassungsorgane,nicht zuletzt die Parteien. Er schonte sie nicht, wenn ervon ihren besonderen Rechten und Pflichten sprach, da-bei wohl wissend und regelmäßig betonend, welche Be-deutung den Parteien im Gefüge der parlamentarischenDemokratie zukommt.In diesem Parlament, damals noch in Bonn, hieltRichard von Weizsäcker seine vielleicht persönlichste,ganz sicher aber seine politisch bedeutendste Rede. DolfSternberger, der große Publizist, hat ihre Wirkung ge-danklich vorweggenommen, als er über die Einfluss-möglichkeiten eines Bundespräsidenten 1979 schrieb:„Auch Reden sind Taten.“ Die Ansprache vom 8. Mai1985 im Deutschen Bundestag war eine solche – imWortsinn – wegweisende Tat. Dass der 8. Mai ein Tagder Befreiung war, hatten andere schon vor ihm gesagt.Nachhaltig Wirkung entfaltete der Gedanke aber erst inseinen Worten, kraft seines Amtes wie seiner persönli-chen Autorität, seiner Lebenserfahrung, der erlittenenBrüche in seiner Familie, aber auch durch die intellektu-elle Schärfe seiner zugleich berührenden Gedanken. DieRede wirkt nach, weil sie die Deutschen nicht etwa mitder Geschichte versöhnte, sondern sie veranlasste, derWahrheit ins Gesicht zu schauen, auch wenn sie wehtut.Richard von Weizsäcker hat damit einen ganz persönli-chen Beitrag zum nachhaltigen Umgang der Deutschenmit ihrer Geschichte geleistet – und das wird bleiben.In seine Amtszeit fielen mit der Wiederherstellungder deutschen Einheit und dem Ende des Kalten Kriegesweltbewegende Ereignisse. Die deutsche Frage hatte ihnbereits als Parlamentarier bewegt: Er war seinerzeit Mit-glied im Ausschuss für innerdeutsche Beziehungen, under bewies seine Fähigkeit zur wort- und wirkmächtigenIntervention bereits in den kontroversen Debatten um dieOstverträge.Als Richard von Weizsäcker 1990 schließlich dererste Bundespräsident des wiedervereinigten Deutsch-land wurde, erkannte er die unterschiedlichen Befind-lichkeiten der Menschen in Ost und West, und er sah esals seine Aufgabe an, sie zusammenzuführen. Am Tagder Deutschen Einheit formulierte er einen Satz, der dieHerausforderung des inneren Einigungsprozesses aufden Punkt brachte, indem er jedem Einzelnen seine per-sönliche Verantwortung zumaß: „Sich zu vereinen, heißtteilen lernen.“ Es ist sicher in seinem Sinne hinzuzufü-gen, dass dieser Gedanke über die Nation hinaus auch imeuropäischen Einigungsprozess Geltung beanspruchenkann.Für die europäische Integration, insbesondere dieÜberwindung der Teilung in Ost und West, hat sichRichard von Weizsäcker mit hohem persönlichem Ein-satz engagiert – auch nach seinem Abschied vomSchloss Bellevue. In dieser „dritten Amtszeit“, wie diebeträchtliche Wirkung seiner Auftritte als Altbundesprä-sident anerkennend beschrieben wurde, verfolgte erseine Anliegen mit großer Intensität weiter. Dazu zähltenvor allem die freundschaftlichen Beziehungen zu unse-ren östlichen Nachbarn, wie Polen und Tschechen, aberauch sein Einsatz für das deutsch-israelische Verhältnis.Den Staat Israel hatte er als erstes deutsches Staatsober-haupt besucht. Richard von Weizsäcker genoss überall inder Welt höchste Wertschätzung und blieb auch ohneAmt angesehener Botschafter unseres Landes; sein Wort,wo es ihm wichtig und nötig erschien, hatte Gewicht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, am 11. Februarwird unser Land Richard von Weizsäcker die letzte Ehreerweisen; dann werden wir von ihm Abschied nehmen.Als Abgeordnete verneigen wir uns schon heute vor ihm,in großem Respekt und tiefer Dankbarkeit für seine he-rausragende politische Lebensleistung im Dienste unse-res Landes. Richard von Weizsäcker hat sich umDeutschland verdient gemacht.Unsere Gedanken und unser Mitgefühl sind bei seinerFamilie, bei allen Angehörigen, vor allen bei seiner FrauMarianne, die ihm nicht zuletzt im Amt des Bundesprä-sidenten die wichtigste, liebevoll stützende Kraft gewe-sen ist.Ich danke Ihnen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 unserer heuti-gen Plenarsitzung auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Modernisierung der Finanzaufsichtüber VersicherungenDrucksachen 18/2956, 18/3252Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses
Drucksache 18/3900Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 96 Minuten vorgesehen. – Dazu sehe ichkeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenRalph Brinkhaus für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Donners-tagmorgens um zehn nach neun ist für uns die Prime-time, die Zeit der großen Debatten. Es geht um Regie-rungserklärungen, Weltpolitik, Mindestlohn und was esda sonst noch alles gibt. Heute unterhalten wir uns hierüber den Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung derFinanzaufsicht über Versicherungen. Sie hier im Saal,die Gäste auf der Tribüne und unser treues Stammpubli-kum bei Phoenix werden sich fragen: Ist denn diesesThema wirklich so wichtig? Ich kann Ihnen nur sagen:Es ist sehr wichtig. Es geht um Versicherungen. Jedervon uns hat irgendwelche Versicherungen. Wem dasnicht reicht: Es geht auch um Lebensversicherungen. Dareden wir über 90 Millionen Verträge in Deutschland,und wir reden über ein Anlagevolumen von 900 Milliar-den Euro. Wir wollen diese Versicherungen sicherer undbesser machen.Deswegen sagen wir: Versicherungen brauchen mehrKapital, damit sie in Krisenzeiten stärker dastehen. Ver-sicherungen brauchen andere Risikomanagementsys-teme, damit sie weniger Fehler machen. Versicherungenmüssen besser an die Aufseher berichten, damit dieserganze Prozess auch kontrolliert werden kann. Deswegensetzen wir heute die Solvency-II-Richtlinie in deutschesRecht um. Das ist ein Mammutwerk. Über zehn Jahre istauf europäischer Ebene und in Deutschland an diesemProzess gearbeitet worden. Um ganz ehrlich zu sein: Wirwerden mit diesem Gesetz ziemlich vielen Leuten ziem-lich viel Arbeit machen. Denn das, was die Mitarbeite-rinnen und Mitarbeiter der Versicherungen nun umsetzenmüssen, ist wahrlich ein Jahrhundertwerk.Wer infrage stellt, ob das alles so richtig und wichtigist, den möchte ich aus dem Februar 2015 in den Okto-ber 2008 mitnehmen. Wir alle erinnern uns noch, wasdamals geschehen ist: Finanzinstitutionen standen kurzvor der Insolvenz oder sind in die Insolvenz, in diePleite, gegangen. Banken haben anderen Banken keinGeld mehr geliehen. Die Konjunktur ist eingebrochen.Wir hatten eine hohe Arbeitslosigkeit und Steueraus-fälle, die uns alle vor ganz enorme Schwierigkeiten ge-stellt haben. Alle, die damals dabei waren, haben sichgesagt: Wir möchten nie wieder erleben, dass es möglichist, dass Finanzinstitutionen ganze Volkswirtschaften inden Abgrund reißen.Was danach gefolgt ist, ist meines Erachtens eines derbemerkenswertesten Projekte, die die deutsche Politikseit dem Zweiten Weltkrieg gesehen hat. Damals habensich Menschen zusammengesetzt – ich sehe zum Bei-spiel Peer Steinbrück, der im Saal sitzt; die Bundeskanz-lerin und viele andere – und haben in unglaublich kurzerZeit sehr viel auf den Weg gebracht. Sie haben zunächsteinmal den Patienten, den Finanzmarkt, stabilisiert.„Stabilisiert“ heißt, dass wir einen Rettungsfonds aufge-legt haben: mit Investitionssummen, mit Garantien, mitKapitalbeteiligungen von über 200 Milliarden Euro; dasmeiste davon ist übrigens zurückgezahlt worden. DieBundesländer haben sehr viel Geld in die Hand genom-men, um die Landesbanken zu sanieren. Wir alle erin-nern uns auch an die legendäre Pressekonferenz unsererBundeskanzlerin und des damaligen Bundesfinanzminis-ters, in der gesagt worden ist, dass die Spareinlagen vomStaat geschützt werden. Das war der erste Schritt. Aberallen war klar, dass diese Stabilisierung nicht reichenwird, sondern dass wir neue Regeln brauchen.Dann hat man auf internationaler Ebene, auf europäi-scher Ebene und in Deutschland ein Regelpaket auf denWeg gebracht, das seinesgleichen sucht.Damit Sie ein Gefühl dafür bekommen, was in denletzten sechs Jahren passiert ist, nur einige Beispiele:Wir haben die Aufsicht über die Ratingagenturen geän-dert. Wir haben die Vergütungsregeln bei Banken geän-dert. Wir haben Leerverkäufe verboten. Wir haben einBanken-Restrukturierungsgesetz auf den Weg gebracht.Wir haben neue Regeln für Verbriefungen, für Großkre-dite auf den Weg gebracht. Wir haben die Anlagebera-tung bei Banken und bei Finanzanlagevermittlern geän-dert. Wir haben die nationale Finanzaufsicht verändert.Wir haben europäische Institutionen zur Finanzaufsichtauf den Weg gebracht. Wir haben internationale Organi-sationen wie den IWF gestärkt. Wir haben dafür gesorgt,dass Finanzkonglomerate anders beaufsichtigt werden.Wir haben ein neues Börsengesetz auf den Weg ge-bracht. Wir haben Veränderungen bei den besonders to-xischen Derivaten vorgenommen und haben diese aufeine komplett neue Grundlage gestellt. Wir haben denHochfrequenzhandel reguliert. Wir haben Stufe eins derBankenunion umgesetzt, indem wir eine europäischeBankenaufsicht installiert haben. Wir haben Stufe zweider Bankenunion umgesetzt, indem wir einen gemeinsa-men europäischen Restrukturierungsmechanismus aufden Weg gebracht haben. Wir sind dabei, Stufe drei derBankenunion umzusetzen, nämlich eine neue Einlagen-sicherung auf den Weg zu bringen. Wir haben ein Trenn-bankengesetz gemacht. Wir haben die Strafvorschriftenfür Vorstände von Banken verändert. Wir haben Bankengezwungen, Testamente zu machen. Wir haben kürzlicherst die Lebensversicherungen fit gemacht für die Nied-rigzinsphase. Heute werden wir das große Werk Sol-vency II, die komplette Neuordnung der Versicherungs-aufsicht, auf den Weg bringen, übrigens eines der ganzwenigen Projekte, die schon vor der Krise, im Jahr 2005,begonnen worden sind.
Das alles ist sehr erstaunlich. Wir haben europäischesRecht umgesetzt, wir haben uns in die europäischeRechtsetzung eingebracht, indem wir für die Interessenunserer Sparkassen, unserer Volksbanken, unserer mit-telständischen Banken und unseres Mittelstandes ge-kämpft haben, und werden weitere Projekte auf den Wegbringen. Wir werden uns mit Schattenbanken beschäfti-gen und werden uns im Rahmen des Kleinanlegerschutz-gesetzes um den Verbraucherschutz kümmern. Wir ha-ben – davon könnte sich der eine oder andere in Europaeine Scheibe abschneiden – die Zeit, die wir uns 2008mit der Rettung der Finanzsysteme erkauft haben, ge-nutzt. Wir haben sie genutzt, um die Finanzmärkte zu
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8012 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Ralph Brinkhaus
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verändern. Wir haben nicht den Anspruch, dass wir per-fekt sind, und können auch niemandem garantieren, dasses keine weiteren Krisen gibt, aber wir haben daran gear-beitet, dass Finanzinstitutionen weniger Fehler machen,dass sie krisenfester sind, dass sie besser beaufsichtigtwerden, als das in der Vergangenheit der Fall war, dasssie abgewickelt werden können, ohne ganze Wirtschaf-ten mit in den Abgrund zu reißen.
Wenn Sie jetzt das Gefühl haben, dass das alles un-glaublich viel und unglaublich schnell war, dann könnenSie sich ungefähr in die Menschen hineinversetzen, diedas alles umsetzen müssen, nämlich die Mitarbeiterin-nen und Mitarbeiter der Banken und Versicherungen, dieAufseher, die Wirtschaftsprüfer und die Berater, dieZehntausende von Seiten in ihre tägliche praktische Ar-beit einbringen müssen. Das ist wahrhaft ein Mammut-werk.Deswegen wäre meine Bitte, dass wir vielleicht andieser Stelle, an der wir einen ganz großen Schritt nachvorne gekommen sind, innehalten und überlegen: Washaben wir da eigentlich gemacht? War all das so richtig?Welche Auswirkungen hat das auf die Realwirtschaft?Können wir noch Kredite an Mittelständler vergeben?Können Zins- und Währungsrisiken noch vernünftig ab-gesichert werden? Wie sieht es mit der Langfristfinan-zierung aus? Wie sieht es – ein ganz aktuelles Thema –mit der Finanzierung von Unternehmensgründern undVenture Capital aus? Haben wir Widersprüche in diesemSystem, bei diesen unglaublich vielen Initiativen, diegleichzeitig gelaufen sind? Haben wir unnütze Bürokra-tie aufgebaut? Gibt es noch die Möglichkeit, tatsächlichin einer Marktwirtschaft zu agieren, oder ist alles so re-guliert, dass man nichts mehr machen kann? Und vor al-len Dingen: Welche Veränderungen bringt das in derWirtschaftsstruktur mit sich? Was haben wir eigentlichfür Auswirkungen bei mittelständischen Unternehmen,bei Sparkassen, bei Volksbanken, bei kleinen Versiche-rungen? Was bedeutet diese Regulierung für deren Zu-kunft?Um jetzt wieder auf den Gesetzentwurf zurückzu-kommen: Wir haben uns genau des Punktes, den ich alsLetztes angesprochen habe, angenommen, nämlich: Wirwollen durch die unglaubliche Regulierung in diesemGesetz nicht die kleinen und mittleren Versicherungenplattmachen. Sie brauchen Luft zum Atmen, müssenauch weiterhin ihr Geschäft machen können und sollensich nicht den ganzen Tag damit beschäftigen müssen,irgendwelche Meldebögen auszufüllen. Wo wir daskonnten, haben wir das auch in das Gesetz hineinge-schrieben. Weil wir das nicht immer in das Gesetz hi-neinschreiben konnten, haben wir in unserem Aus-schussbericht den Aufsehern der BaFin mit auf den Weggegeben: Behandelt die Kleinen anders als die Großen,erdrückt sie nicht mit Bürokratie, mit Meldevorschrif-ten! Das ist uns ganz wichtig. Wir haben zusammen ver-einbart, dass wir uns in zwei Jahren ansehen werden, obdas auch so gehandhabt wird. Insofern ist eine Nachrichtund eine Erkenntnis aus diesem ganzen Prozess: Wirwerden nicht zulassen, dass bei all diesen Regulierungender deutsche Mittelstand auf der Strecke bleibt.
Um darunter einmal einen Strich zu ziehen: Wir ver-abschieden heute ein großes Gesetzespaket. Das wirdVersicherungen besser und sicherer machen. Das wirddie Anlagen von Ihnen allen bei den Versicherungen bes-ser schützen. Das wird dazu führen, dass im Falle einerKrise eben nicht zuerst der Steuerzahler einspringenmuss, wie es im Jahr 2008 der Fall war. Das ist gut undrichtig. Wir haben dieses Gesetz – ich schaue jetzt dieBerichterstatter Manfred Zöllmer und Anja Karliczekund die Opposition an – in einem, glaube ich, sehr ver-nünftigen Verfahren entwickelt. Dafür herzlichen Dank!Herzlichen Dank auch der Opposition für den konstruk-tiven Teil der Kritik, die geäußert worden ist. HerzlichenDank an die Bundesregierung, aber auch an unsere euro-päischen Kollegen, die die eigentliche Last bei derSchaffung dieses Gesetzes getragen haben, indem sienämlich auf europäischer Ebene mit den entsprechendenRichtlinien vorgearbeitet haben. Wir hätten uns vorstel-len können, dass das ein bisschen schneller und schlan-ker erfolgt; aber okay: Mit so vielen Ländern ist dasnicht ganz einfach. Wir haben jetzt ein Ergebnis. Damitmüssen wir arbeiten, und damit werden wir arbeiten.Wir werden weitermachen. Wir haben die nächstenProjekte – ich habe das bereits erwähnt – vor der Brust.Diese werden wir mit dem gleichen Engagement ange-hen. Ich denke, auch das wird gut und richtig werden.Ich freue mich auf die weiteren Finanzmarktprojekte.Wie gesagt: Das, was in den letzten sechs Jahren er-reicht worden ist, ist sicherlich eines der bemerkenswer-testen Gesamtprojekte, die wir gemacht haben. Noch nieist so schnell so viel gemacht und so viel verändert wor-den. Unsere Aufgabe ist es jetzt, dafür zu sorgen, dassdas auch alles vernünftig umgesetzt wird, dass die Wirt-schaftsstrukturen in Deutschland entsprechend erhaltenbleiben. Dem werden wir uns widmen.Danke schön.
Das Wort erhält nun die Kollegin Karawanskij für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine Damen und Herren! Nachdem es ja ei-nige Zeit etwas ruhig schien, ist in den letzten drei Wo-chen doch wieder einiges in den Zeitungen und Zeit-schriften zum Thema Versicherungen zu lesen, zum Teilmit ganz dramatischen Überschriften wie: „Ausschüttun-gen gestoppt“, „Kunden auf Nulldiät“, „Kunden gehenleer aus“. Oder wie jüngst im Handelsblatt zu lesen war:Lebensversicherer investieren riskanter und schüttendennoch weniger Geld an ihre Kunden aus. – Es zeigt
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Susanna Karawanskij
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sich einmal mehr: Versicherungskunden brauchen einestarke Lobby, die dafür sorgt, dass die Kundenansprücheund die Kundengelder erhalten bleiben und dass dieseGelder nicht der Risikoabsicherung von Versicherungenund deren Gewinnmaximierung dienen.
Die Bundesregierung steht hier an der Seite der Versi-cherungen, der Versicherungslobby. Wir, die Linke, sindan dieser Stelle die Lobby für Versicherte.
Es geht heute um ein Gesetz, welches als Solvency-II-Richtlinie seinen Ursprung auf der europäischen Ebenehat. Diese Richtlinie soll heute mit der Modernisierungder Finanzaufsicht über Versicherungen in deutschesRecht umgesetzt werden. Das Aufsichtsrecht über Versi-cherungen soll harmonisiert werden. Das ist – wir habenes gerade gehört – ohne Zweifel ein Mammutprojekt,das der Versicherungsbranche einiges abverlangt. Natür-lich brauchen diese Umstellungen Zeit. Ob aber die ver-anschlagten 16 Jahre und länger der passende Zeitrah-men dafür sind, steht auf einem anderen Blatt.Als Erkenntnis aus der Finanzmarktkrise sollen dieVersicherungen einen Großteil ihrer Kapitalanlagen nunnach Marktrisiken bewerten und einer strengen und ko-ordinierten europäischen Aufsicht unterstellt werden.Das ist grundsätzlich zu begrüßen. Aber es muss auchdafür gesorgt werden, dass die richtigen Schlussfolge-rungen aus der Krise gezogen werden. Das Gesetz sollhier für dreierlei sorgen: zum Ersten soll es die syste-mischen Finanzmarktrisiken senken, und zwar wir-kungsvoll, zum Zweiten soll die Stabilität des Versi-cherungssystems ohne den Einsatz von Steuermittelngewährleistet werden, zum Dritten sollen die Verlusteder Versicherten weitestgehend reduziert werden, alsoVersichertenschutz betrieben werden. Wenn ich mirdiese Punkte vor Augen führe, komme ich zu demSchluss, dass die Mission gescheitert ist und dass dasZiel verfehlt wurde.
Ich möchte einige Gründe für dieses Scheitern aufzei-gen.Die Eigenmittelanforderungen an die Versicherungensind ein Kernstück, um für mehr Stabilität zu sorgen. DieVersicherungslobby in Brüssel hat dafür gesorgt, dassgenau diese über die Zeit Stück für Stück eingedampftwurden. Sie sind insgesamt zu gering, um im Krisenfallwirken zu können. Wenn es hart auf hart kommt, wirdauch Solvency II nicht vor Insolvenzen in der Versiche-rungsbranche schützen können. Hier wird ein Plan B be-nötigt.Während auf der einen Seite die Eigenmittelanforde-rungen der Unternehmen nach unten gedrückt werden,bleiben auf der anderen Seite mehr Gewinne, die aus-schüttungsfähig sind, im Unternehmen. Das ist für dieAktionäre sehr erfreulich; denn sie profitieren von denGewinnausschüttungen. Sie werden im Gegensatz zuden Kunden, den Versicherten, bevorzugt behandelt. Ja,ich weiß, es gibt eine Ausschüttungssperre für die Divi-denden. Die ist allerdings Augenwischerei geblieben.Sie kann umgangen werden.Sie haben es schon beim Reformgesetz für die Le-bensversicherungen letztes Jahr versäumt, dieses Un-gleichgewicht zu beenden. Sie beenden es auch jetztnicht. Das geht ungerechterweise zulasten der Kunden.Dies ist nicht hinnehmbar. Hier muss der Grundsatz ver-folgt werden, dass die Versicherten bei der Zuweisungund damit der Auskehrung der Gewinne keinesfallsschlechtergestellt werden als Aktionäre.
Es ist ein ganz einfaches und nachvollziehbares Prinzip:Gelder, die den Kunden zustehen, müssen auch an dieKunden ausgezahlt werden – und das nicht nur in ho-möopathischen Dosen.
Auch was die Senkungen der Finanzmarktrisiken be-trifft, bleibt das Gesetz hinter den Erwartungen zurück.Wir Linken lehnen es ab, dass Versicherungen das ihnenanvertraute Geld der Versicherten in hochspekulativeProdukte wie Hedgefonds oder Private Equity Fonds an-legen können. Es besteht doch weiterhin die Gefahr, dassin hochriskante Marktbereiche und Finanzinstrumenteangelegt wird, was sowohl die Marktrisiken nicht senktals auch die Stabilität der Kundengelder gefährdet. Auchdem schiebt Solvency II keinen Riegel vor.Es ist brisant, dass mit diesem Gesetz den Versiche-rungen im Rahmen der Anlagemöglichkeiten weiter derWeg geebnet wird, in den Ausbau der öffentlichen Infra-struktur – Stichwort „Gabriel-Plan“ – zu investieren. Wirsind strikt dagegen, für private Investitionen in Infra-strukturmaßnahmen die Eigenmittelanforderungen derVersicherungen zu senken.
Einer Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorgeund Infrastruktur darf hier nicht weiter Vorschub geleis-tet werden. Versicherungen hoffen, damit ihre Garantie-versprechen leichter erfüllen zu können; aber die Risikentragen letztendlich die Kunden. Hier wird privates Kapi-tal durch die Hintertür zu Risikokapital. Das ist kein Ver-sichertenschutz, und es beeinträchtigt auch die Finanz-marktstabilität.
Ich habe den Eindruck, dass Herr Gabriel – leider ister gerade nicht da – nichts dazugelernt hat. Wie vieledeutsche Kommunen haben sich zum Teil in undurch-sichtige Finanzspekulationen verrannt, die sich im Nach-hinein als grotesk erwiesen haben! Sie stehen nun vorden Scherben. Hier wird weiter dem Irrweg von ÖPP-Projekten – also der privaten Beteiligung an der öffentli-chen Daseinsvorsorge – Vorschub geleistet. Es wird wei-ter der Weg beschritten, dass privates Risikokapital indie öffentliche Hand geleitet wird.Ich frage: Was passiert denn, wenn die Versicherungs-leistungen bei den renditeträchtigen, aber riskanten
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8014 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Susanna Karawanskij
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ÖPP-Projekten ausfallen? Wer trägt denn dann die Ver-luste? Das muss dann wieder die öffentliche Hand über-nehmen. Sie muss die Verluste bzw. Ausfälle ausglei-chen. Die Versicherten tragen also nicht nur als Kundendie Risiken, sondern sie werden gleichzeitig auch alsSteuerzahler zur Kasse gebeten. Daraus muss man dochdie entsprechenden Schlüsse ziehen und darf nicht wei-ter falsche Wege beschreiten!
Seit längerem ist bekannt, dass ein Bereich aus denÜberschusstöpfen, die aus Kundengeldern bestehen– die sogenannten freien Rückstellungen für Beitrags-rückerstattung, also die freien RfB –, von den Versiche-rungen als Eigenmittelersatz genutzt werden kann. Andieser Stelle wird die ganze Intransparenz der Über-schusstöpfe sichtbar.Große Teile der Eigenmittel werden einfach durchKundengelder ersetzt. Dadurch sinkt in der Folge dieÜberschussbeteiligung der Versicherten, sprich: Die Kun-den bekommen weniger Geld. Es bleibt völlig unklar,wann wie viel von diesem Geld wieder an die Versicher-ten zurückfließt und nicht nur in einen Überschusstopf ge-bucht, sondern letztendlich auch wieder ausgezahlt wird.Sie verstecken sich hinter der formulierten Absicht,lediglich die Richtlinie umzusetzen. Jetzt haben Sie dieMöglichkeit, hier nachzusteuern, sich an die Seite derVersicherten zu stellen und für klare Verhältnisse zu sor-gen. Sie haben die Möglichkeit, klarzustellen, wie dieKundengelder, die in den Überschusstöpfen geparktsind, letztendlich wieder zurückfließen. Das kann näm-lich – so, wie es jetzt der Fall ist – nachträglich nichtüberprüft werden. Auch ist das Ganze nicht durchsichtig.Ich möchte es noch einmal betonen: Den Kundenwerden voreilig Bewertungsreserven gekürzt. Sie müs-sen Abstriche hinnehmen, damit Versicherungen überihre freien RfB Eigenmittel bekommen, die sie, wie esscheint, auch behalten. Kunden finanzieren ungewolltauch noch den Reservepuffer namens Zinszusatzreservemit eigenem Geld. Das ist ein Dreiklang des Kunden-schröpfens und keine versichertenfreundliche und trans-parente Politik.Wir Linke lehnen den Gesetzentwurf ab; denn er ver-mag weder Finanzmarktrisiken deutlich zu senken nochfür ausreichende Stabilität und einen verbesserten Versi-chertenschutz zu sorgen. Diesen falschen Weg könnenwir nicht mitgehen.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion erhält der Kollege Manfred
Zöllmer das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dasamerikanische Filmsternchen Lindsay Lohan machtWerbung für eine amerikanische Versicherung. DasHandelsblatt schrieb dazu – ich zitiere –:Bei einer Gesellschaft, die Lohan versichert, seiman ganz offensichtlich in besten Händen, schließ-lich kenne sich das Hollywoodsternchen bestensmit Versicherungen aus – wegen ihrer zahlreichenAutounfälle! …
Wahrscheinlich telefoniert Lindsay Lohan häufigermit ihrer Versicherung als mit ihrer Großmutter.Jetzt stellt sich natürlich die Frage: Was hat die Holly-wood-Skandalnudel mit dem jetzt zu beschließendenGesetz zur Umsetzung von Solvency II zu tun?
Ganz einfach: In beiden Fällen geht es um Risikomini-mierung, um Sicherheit. Versicherungen sind ja einStück Solidarität auf Beitragsbasis. Zudem bringt dasBeispiel Lindsay Lohans etwas Hollywood-Glamour ineine ansonsten doch ziemlich trockene Materie, die füruns alle aber sehr wichtig ist;
denn es ist ein zentrales Bedürfnis von uns Menschen,Risiken, die das Leben mit sich bringt, zu begrenzen.Mit dem Gesetz zur Modernisierung der Finanzauf-sicht über Versicherungen – auch als „Solvency II“ be-zeichnet – werden neue europaeinheitliche Vorschriftenfür Versicherungsunternehmen etabliert. Nicht zuletztdurch die Finanzmarktkrise mit den realen oder mögli-chen Zusammenbrüchen namhafter Finanzinstitute wardie Notwendigkeit staatlicher Regulierung auch im Ver-sicherungssektor gegeben. Es bleibt dabei: Kein Finanz-marktakteur, kein Finanzprodukt und kein Finanzmarktdarf unreguliert bleiben.
Damit ist Solvency II Teil einer umfassenden Reform-agenda zur Stabilisierung der Finanzmärkte.Auch hier gilt, was wir bereits für die Banken wissen:Ein Marktversagen kann nie komplett verhindert undeine systemische Krise nie zu 100 Prozent ausgeschlos-sen werden. Aber mit der Umsetzung der Solvency-II-Richtlinie in deutsches Recht wollen wir dieses Risikominimieren und die notwendigen Lehren aus der Finanz-marktkrise ziehen. Dass dies sehr wichtig ist, erkenntman, wenn man sich vor Augen führt, dass wir in Europaden größten Versicherungsmarkt der Welt haben. LautZahlen des Gesamtverbandes der Deutschen Versiche-rungswirtschaft haben die europäischen Versicherer jähr-liche Prämieneinnahmen in Höhe von rund 1,1 Billionen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8015
Manfred Zöllmer
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Euro und einen Kapitalanlagebestand in Höhe von8,4 Billionen Euro. Da darf nichts ins Wanken kommen,nicht zuletzt im Hinblick auf die Alterssicherung vielerMenschen. Insgesamt gibt es in Deutschland 460 Millio-nen Versicherungsverträge – davon allein 90 MillionenLebensversicherungsverträge – und rund 550 000 Be-schäftigte in dieser Branche. Damit ist diese Branchewahrlich ein ökonomisches Schwergewicht in der deut-schen Wirtschaft.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die neuen Vorgabenbedeuten einen gravierenden und bedeutenden System-wechsel in der Versicherungsaufsicht in Europa. Das bis-herige Aufsichtssystem basierte hauptsächlich auf quan-titativen Anforderungen. Jedoch kann die komplexereale Risikosituation eines Unternehmens durch diesequantitativen Normen alleine nicht vollständig erfasstwerden. Durch eine zusätzliche qualitative Aufsicht wirddiesem Problem Rechnung getragen. Damit wird dieAufsicht intensiver und die Stabilität des Systems grö-ßer.Die Entwicklung von Solvency II hatte einen sehrlangen Vorlauf. Seit vielen Jahren wurde daran gebastelt.Zeitweise kam immer wieder die düstere Prognose auf:Das kommt nie. – Aber das war zum Glück ein Irrtum.Jetzt ist es da.Die Befugnisse für die Versicherungsaufsicht werdennational und europaweit gestärkt. Damit wird gleichzei-tig sichergestellt, dass konzernweite Risiken nicht unbe-achtet bleiben. Denn wir müssen uns vor Augen führen,dass viele Versicherungen nicht nur in einem Land, son-dern europaweit oder gar weltweit agieren. Es wird eineengere Zusammenarbeit zwischen den Aufsichtsbehör-den umgesetzt. In Deutschland ist das die BaFin, in Eu-ropa die EIOPA. Konzernen wird es ermöglicht, kon-zernweite Modelle zu verwenden und die Vorteile derDiversifizierung zu nutzen.Die Aufsichtsregeln werden durch Solvency II euro-paweit vereinheitlicht. Gleichzeitig wird damit auch dieHarmonisierung mit anderen Branchen des Finanzsek-tors, in erster Linie mit der Kreditwirtschaft, vorange-trieben. Ebenso wie bei Basel III, dem Regelwerk für dieBanken, gibt es bei Solvency II einen Dreisäulenansatz.In der ersten Säule finden sich detaillierte Bestim-mungen über die Mindestkapitalanforderungen. Diesewerden über sogenannte Faktormodelle ermittelt. DieAufsichtsbehörde kann wahlweise ein vorgegebenesStandardmodell oder ein internes Risikomodell des Ver-sicherers akzeptieren. An diesem Verfahren wurde ebenKritik geäußert. Wir haben aber im Finanzausschussdazu eine Anhörung durchgeführt, die sehr deutlich ge-macht hat, dass die Versicherungsaufsicht diese internenModelle genau in den Blick nimmt, um Risiken zu be-grenzen, und dass sie an die Versicherer Anforderungenstellt, die weit über das hinausgehen, was gesetzlich vor-geschrieben ist. Damit ist Ihre Kritik an diesem Ansatzunbegründet, Frau Karawanskij.
In der zweiten Säule finden sich im WesentlichenVorschriften für die internen Modelle und Prozesse fürdas Risikomanagement des Versicherungsunternehmenssowie Anforderungen zum Beispiel an die Qualifikationder Vorstände von Versicherungsunternehmen. Ich glaube,auch das ist ein ganz wichtiger Punkt, um zu verhindern,dass das eine reine Laienspielgruppe wird. In der drittenSäule finden sich vor allem Berichterstattungspflichtengegenüber Aufsichtsbehörden und der Öffentlichkeit.Daneben gibt es weitgehende Neuerungen zur Beauf-sichtigung von Versicherungsgruppen. Es wird eine ko-operative Gruppenaufsicht auf europäischer Ebene ge-ben, bei der die Aufsichtsbehörden in Aufsichtsgruppen,den sogenannten Colleges of Supervisors, zusammenar-beiten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Regelwerk gibtden Versicherern mehr Flexibilität, etwa in ihren Anla-geentscheidungen. Aber gleichzeitig müssen die Unter-nehmen mehr Eigenmittel vorhalten, je mehr Risiken sieeingehen, damit die Stabilität der Unternehmen gesichertist.Die Linken fordern, mehr Geld aus dem Unternehmenan die Versicherten auszuzahlen. Gleichzeitig verhindernsie aber mit ihrer Forderung nach ganz engen Regeln,dass die Unternehmen Geld verdienen. Das wird nichtfunktionieren.
Das wird dazu führen, dass die Unternehmen nicht mehrin der Lage sind, ihre Aufgaben als Versicherungen zuerfüllen. Ein Zusammenbruch der Unternehmen wäredann sicher. Das ist das genaue Gegenteil dessen, waswir mit Solvency II erreichen wollen. Das werden wirnicht zulassen.
Die neuen Regeln schaffen ein modernes und einheit-liches Aufsichtssystem für ganz Europa und sorgen sofür eine bessere Vergleichbarkeit der Ergebnisse. Sie sor-gen für mehr ökonomische Stabilität. Gleichzeitig sollendie Bedürfnisse und Besonderheiten der nationalenMärkte angemessen berücksichtigt werden.Es ist völlig normal, dass bei großen Gesetzesvorha-ben die Betroffenen auch entsprechende Wünsche ha-ben. Ich will auf zwei Punkte eingehen.Es geht in dieser Debatte um die Umsetzung einerRichtlinie der Europäischen Union. Die Kollegen im Eu-ropaparlament haben die Hauptarbeit schon erledigt. Wirhaben gesagt, dass bereits bestehende nationale Rege-lungen, die über die Vorgaben dieser Richtlinie hinaus-gehen, beibehalten werden. Es gab den Wunsch hier undda, deutsche Standards zu senken. Diesem Wunsch sindwir nicht gefolgt.In Bezug auf Änderungswünsche beim Datenschutzbei Ausgliederungen haben wir uns – das war einer der
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Manfred Zöllmer
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zentralen Punkte – sehr intensiv beraten. Wir sind zudem Ergebnis gekommen, die bestehende Rechtslagenicht zu verändern. Die Richtlinie stellt ausdrücklichfest, dass Ausgliederungen nicht dazu führen dürfen,dass datenschutzrechtliche Vorgaben unterlaufen wer-den. Wir wissen, dass der Datenschutz ein sehr sensiblerBereich ist. Darüber wird auf europäischer Ebene sehr in-tensiv diskutiert. Hier sind neue Regeln in Vorbereitung.So lange gelten die 2013 von der Versicherungswirtschaftzur Förderung der Beachtung datenschutzrechtlicher Re-gelungen nach dem Bundesdatenschutzgesetz förmlichanerkannten Verhaltensregeln fort. Zusammengefasst:Wir sehen jetzt keine Veranlassung, in diesem Gesetzneue Datenschutzregeln in Deutschland einzuführen.Wir haben in Deutschland eine sehr vielfältige Versi-cherungslandschaft. Es gibt große und sehr große, aberauch viele kleine Unternehmen. Unser Ziel ist, diesevielfältige, sehr wettbewerbsintensive Versicherungs-landschaft auch in Zukunft zu erhalten. Mit diesem Ge-setz werden umfangreiche Regeln für Versicherungenneu eingeführt. Die Versicherungsaufsicht wird zukünf-tig sehr viel intensiver sein. Es gab im Vorfeld diesesGesetzes die Befürchtung vieler kleiner Unternehmennach dem Motto: Das können wir doch als kleine Unter-nehmen gar nicht leisten. – Die Bedenken der kleinenUnternehmen halten wir für berechtigt. Wir haben des-halb bei der Gesetzgebung großen Wert darauf gelegt,den sogenannten Grundsatz der Proportionalität – dasheißt, dass Unternehmen unterschiedlich behandelt wer-den – bei der Umsetzung der neuen Regeln zu betonenund zu beachten.
Diese Regeln müssen von der Versicherungsaufsicht dif-ferenziert angewandt werden, bei einem kleinen Unter-nehmen anders als bei Großkonzernen. Alle Regeln gel-ten also nicht für alle gleich. Es ist die dauernde Aufgabeder Versicherungsaufsicht, dies entsprechend umzuset-zen; der Kollege Brinkhaus hat das eben angesprochen.Wir als Finanzausschuss werden das intensiv verfolgen.Wir haben festgelegt, dass wir das 2017 überprüfen wer-den.Versicherungen haben es momentan nicht leicht inDeutschland. Die Risiken steigen, da die Niedrigzins-phase an den Finanzmärkten uns auf absehbare Zeit er-halten bleibt und die Kapitalpolster vielfach schrumpfen.Hinzu kamen in der Vergangenheit einige sehr unerfreu-liche Skandalmeldungen über die Branche; auf Detailsverzichte ich hier. Das Handelsblatt titelte zu Recht:„Die schönen Jahre sind vorüber“. Die Branche musssich vielfach neu aufstellen. Neue Produkte müssen ent-wickelt werden. Der Wettbewerb wird härter und euro-päischer. Die Gewinnmargen werden kleiner. Es gilt, dasVertrauen der Menschen in die Versicherungswirtschaftweiter zur stärken.
Versicherungen sind unverzichtbare Risikominimierer;das weiß nicht nur Lindsay Lohan, sondern das wissenwir alle.Solvency II ist ein wichtiger Schritt einer guten Regu-lierung, hin zu einer stärkeren, zukunftsfähigen Versi-cherungswirtschaft in Europa. Die Politik hat ihre Haus-aufgaben gemacht. Jetzt ist es Aufgabe der Aufsicht, dieVorgaben klug umzusetzen. Aufgabe der Unternehmenist, aus ihren Fehlern zu lernen sowie die Interessen undWünsche der Kunden niemals aus den Augen zu verlie-ren.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Gerhard Schick fürdie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn europäisches Recht in nationales Recht umgesetztwird, müssen wir bei der Bewertung zwischen dem un-terscheiden, was in Europa schon entschieden wordenist, und dem, was bei der Umsetzung vor Ort zu ent-scheiden gewesen ist. Im Falle des vorliegenden Ver-sicherungsaufsichtsgesetzes ist die Umsetzung inDeutschland ganz in Ordnung. Die Bundesregierunghatte hier auch nicht viele Spielräume, etwas falsch zumachen, sondern nur wenige Wahlmöglichkeiten. Aberdas Problem ist, dass die Richtlinie selber schlecht ist.Deswegen haben wir Grüne sie auf europäischer Ebeneabgelehnt, und deswegen wird auch die grüne Bundes-tagsfraktion diesem Gesetz nicht zustimmen. Wichtigist, zu schauen, wer eigentlich schuld daran ist, dass dieRichtlinie schlecht ist. Da müssen wir gleich auch überdie Rolle der Bundesregierung ausführlich reden.
Zunächst zur Umsetzung in Deutschland. Wir unter-stützen den Ansatz, die weitgehenden Befugnisse derBaFin über die Versicherungen aufrechtzuerhalten, da-mit sie gegen allgemeine Missstände vorgehen kann. DieFinanzaufsichtsbehörde BaFin muss diese Rolle ernstnehmen und vor allem das Hauptziel des Versicherungs-aufsichtsgesetzes stärker in den Fokus rücken, nämlichden Schutz der Versicherten.Richtig ist auch, dass versucht wird, mit der neuenRegulierung keine Konzentrationstendenz im Markt her-vorzurufen, sondern die Anforderungen an die Unter-nehmen an der Größe dieser Unternehmen auszurichten.Wir Grüne haben deswegen unterstützt, dass wir im par-lamentarischen Verfahren Erleichterungen für kleine Un-ternehmen bei den organisatorischen Anforderungenvorgenommen haben und dass wir das evaluieren wol-len. Schwächen bei der Umsetzung gibt es allerdingsnach wie vor bei der Beaufsichtigung der Vermittlungs-tätigkeit.Nun aber zur Richtlinie selbst. Die Logik der neuenRegulierung stammt noch aus der Zeit vor 2008, also vorAusbruch dieser Finanzkrise. Die Anpassungen, die seit-her vorgenommen wurden, haben die Situation teilweisenoch schlimmer gemacht. Ich will das im Einzelnen dar-legen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8017
Dr. Gerhard Schick
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Zunächst ist da die grundlegende Vorgehensweise vonSolvency II. Wir wechseln von einem regelbasierten zueinem prinzipienbasierten Aufsichtsansatz. Es geht umrisikoorientierte Eigenkapitalunterlegung, um die Nut-zung interner Risikomodelle, um Marktpreisbewertungder Anlagen – viele Sachen, die den meisten Menschenwahrscheinlich nicht viel sagen werden. Ich will es des-wegen auf eine Formel bringen: Die Versicherungsregu-lierung wird komplexer, für die Unternehmen flexibler,für die Aufsicht komplizierter, und im Ergebnis leidetdie Stabilität der Finanzmärkte.
Vor allem aber wird eine wichtige Lehre aus der Fi-nanzkrise ignoriert, dass nämlich der Blick auf das ein-zelne Institut – man spricht da von der mikroprudenziel-len Aufsicht – nicht ausreicht, sondern dass man sichauch die Rolle des einzelnen Instituts in dem gesamtenFinanzmarkt anschauen muss; das ist die sogenannte ma-kroprudenzielle Aufsicht. Genau da stimmt Solvency IInicht. So warnt die Bundesbank, dass unter Solvency IIein Spielraum für makroprudenzielles Handeln kaumvorhanden ist. Die Kapitalanforderungen seien nichtdarauf ausgelegt, von Versicherungsunternehmen ausge-hende Risiken für das Finanzsystem direkt einzube-ziehen. – Wir haben damit eine neue Versicherungsregu-lierung, die einer veralteten Logik folgt, und das istrichtig ärgerlich.
Nun wurden nach Ausbruch der Finanzkrise noch Ak-tualisierungen vorgenommen, und es kam dabei zu üblenVerschlimmbesserungen. Erstes Beispiel: Es wurdenErleichterungen bei den langfristigen Garantien einge-führt. Da gab es zwar tatsächlich Korrekturbedarf; dieBewertung langfristiger Garantien wäre aufgrund derMarktpreisbewertung unangemessenen Schwankungenausgesetzt. Deshalb ist richtig, dass die Gefahr einer pro-zyklischen Wirkung gedämpft werden sollte. Doch stattan die Ursache heranzugehen, haben die europäischenRegierungen die Wunschliste der Versicherungslobbyumgesetzt. Insgesamt kam es zu Entlastungen in Höhevon 200 Milliarden Euro bei dem regulatorischen Eigen-kapital. Das ist eine viel zu hohe Entlastung imVergleich zu den ursprünglich durch Solvency II vorge-sehenen Regeln. Das kritisiert auch die Deutsche Bun-desbank, und das kritisiert auch der European SystemicRisk Board, also genau der Rat, den man eingesetzt hat,damit man nach der Finanzkrise endlich zu besserenFinanzmarktregeln kommt.
Die Kritik äußert auch die europäische Versicherungs-aufsicht EIOPA. Sie warnt, dass so Anreize für risikorei-ches Verhalten der Versicherungsunternehmen gesetztwerden.Die Versicherungslobby ist allerdings mit dem neuenRegelwerk ganz zufrieden. Da sehen wir das ganzeDrama der europäischen Versicherungspolitik. Die euro-päischen Regierungen tun zwar so, als wollten sie alleFinanzstabilität; aber wenn es konkret wird, wenn es beider Gesetzgebung um die Details geht, die die Öffent-lichkeit nicht mehr verstehen kann, dann hören sie aufdie Versicherungslobby und nicht auf die Empfehlungunabhängiger Experten und Aufsichtsbehörden. Wozuhaben wir denn diese Gremien eingesetzt, wenn die Re-gierungen nachher doch auf die Lobby hören?
Das zweite Beispiel sind die Festlegungen der Kapi-talanforderungen für Verbriefungsprodukte. Es ist jadurchaus richtig, dass wir den europäischen Verbrie-fungsmarkt nicht kaputtregulieren sollten. Ist es dafüraber notwendig, die von den Versicherungsaufsehern ur-sprünglich vorgeschlagenen Kapitalanforderungen umbis zu 75 Prozent zu reduzieren? Nein, das ist nicht not-wendig.
Auch hierzu die klare Kritik der Bundesbank – ich zi-tiere –:Regulatorische Maßnahmen sollten nicht für anderewirtschaftspolitische Ziele, z. B. die Wiederbele-bung des Verbriefungsmarktes, herangezogen wer-den.Wann hören Sie endlich auf, auf Vorschlag der Lobbyden Finanzmarkt zu pampern? Hören Sie doch auf dieunabhängigen Experten, und setzen Sie stabile Regeln!
Das dritte Beispiel ist die Übergangszeit von 16 Jah-ren. Das ist extrem lang. Da wird ersichtlich, dass esnicht irgendeine andere europäische Regierung war undirgendeine andere Lobby, sondern dass sich hier insbe-sondere die deutsche Versicherungswirtschaft durchge-setzt hat. Ich zitiere erneut aus der Stellungnahme derBundesbank:Die … schrittweise Einführung von Solvency IIdurch eine sogar 16-jährige Übergangsphase stelltinsbesondere für die deutschen Lebensversicherereine bedeutende Entlastung dar. … Allerdings soll-ten die Lebensversicherer bereits jetzt ihre Kapital-basis stärken.Die deutschen Lebensversicherer arbeiten durch-schnittlich mit weniger als 2 Prozent eigenem Kapital.Selbst wenn man die Besonderheiten dieses Geschäfts-modells berücksichtigt, ist das deutlich zu wenig. Unddiese Bundesregierung hat nichts Besseres zu tun, alsden Wünschen der Lobby zu folgen und den nötigen Ei-genkapitalaufbau weiter in die Zukunft zu schieben. Dasist skandalös.
Es ist doch genau wie bei den Banken. Ich habe hierin der letzten Legislaturperiode praktisch in jeder Redegesagt: Die Eigenkapitalbasis der deutschen Banken istzu niedrig. Da müssen Sie etwas tun.
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8018 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Dr. Gerhard Schick
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Sie haben genau das nicht getan. Dann kam die Europäi-sche Zentralbank mit ihrem Bankenstresstest und hat dieAnforderungen noch einmal nach oben geschraubt. Da-mit wurde genau unsere Kritik bestätigt. Inzwischen sindauch Sie dafür, das zu machen.
Sie müssten in diesem Bereich einmal früher agieren.Ich will noch ein weiteres Beispiel nennen, auchwenn es sich jetzt nicht auf den vorliegenden Gesetzent-wurf bezieht; aber das muss in diesem Zusammenhanggesagt werden. Als wir hier vor etwa zwei Jahren dasSEPA-Begleitgesetz verabschiedeten, in dem es ebenauch um Versicherungen ging, lag einer Regelung diesesGesetzes ein Gutachten zugrunde, das der Gesamtver-band der Deutschen Versicherungswirtschaft, GDV, inAuftrag gegeben hatte. In einer gemeinsamen Arbeits-gruppe aus Vertretern der Aufsichtsbehörde BaFin unddes GDV wurde die Gesetzgebung vorbereitet. Unab-hängige Experten, Vertreter der Verbraucherseite odergar die kritische Öffentlichkeit waren bei der Vorberei-tung des Gesetzes nicht vorgesehen. Als uns dann dasGesetz vorgelegt wurde, hat man uns von der Zusam-menarbeit von Lobby und Aufsehern bei der Vorberei-tung des Gesetzes nichts gesagt. Bis heute ist das Gut-achten nicht öffentlich zugänglich. Das sind dieStrukturen der Machtwirtschaft: Staat und Lobby Seitean Seite. Mit einer Marktwirtschaft, wo der Staat die Re-geln für die Unternehmen setzt, hat das alles nichts mehrzu tun.
Wir können hier noch tausend Finanzmarktgesetzeverabschieden: Solange sich diese Kultur nicht ändert, inder die Branche sich quasi selbst die Regeln gibt,
in der Regierung und Lobby traut zusammenarbeitenund gemeinsam Öffentlichkeit und Parlamentarier aus-tricksen, so lange werden wir nie Stabilität am Finanz-markt haben.Ich danke.
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Michael Meister.
D
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Wir haben uns in diesem Haus in den vergangenenJahren intensiv mit der Bekämpfung der Auswirkungender Finanz- und Wirtschaftskrise befasst und dazu aucheine ganze Reihe von Beschlüssen gefasst, um die Fi-nanzmarktstabilität wiederherzustellen.Ein ganz zentraler Punkt ist die Stärkung der Eigen-kapitalsituation der Finanzinstitute. Das haben wir imBankenbereich mit der europäischen Bankenunion, derSchaffung einer gemeinsamen Aufsicht und eines ge-meinsamen Abwicklungsmechanismus vorangebracht.Mit diesem Gesetz wenden wir uns jetzt dem Bereich derVersicherungen zu.Dazu will ich einmal ganz deutlich sagen, Frau Kolle-gin Karawanskij: Die Bundesregierung arbeitet für dieVersicherten in diesem Land.
Uns kommt es darauf an, dass die Versicherten die ga-rantierten Leistungen am Ende der Vertragslaufzeitenauch bekommen. Das schafft Vertrauen. Damit arbeitetdie Bundesregierung für die Versicherten und für Ver-trauen in diesem Land.
Sie halten ein Plädoyer für Gewinnmaximierung vonEinzelnen. Das ist ein typisch kapitalistischer Ansatz.
Wir werben dafür, dass die Solidargemeinschaft ihre An-sprüche erfüllt bekommt,
und wir leben den Solidargedanken in diesem Land.Der Einheitliche Aufsichtsmechanismus für die Ban-ken ist seit einigen Monaten in Kraft. Heute beraten wirdas analog für die Versicherungswirtschaft: stabile Rah-menbedingungen im europäischen Finanzsystem durchdie Reform des Versicherungsaufsichtsrechts. An dieserStelle setzen wir die europäische Richtlinie in nationalesRecht um – da haben Sie recht, Herr Schick –, und wirschaffen ein modernes, europaweit einheitliches Auf-sichtsrecht in Deutschland. Das sorgt für gleiche Wettbe-werbsbedingungen und eine bessere Versicherungsauf-sicht in diesem Land und in Europa insgesamt. DieseAnforderungen gelten ab dem Jahr 2016, meine Damenund Herren.Jetzt wird vorgetragen – Zitat der Bundesbank; Kol-lege Schick hat es eben vorgelesen –: Wir lassen dendeutschen Versicherern 16 Jahre Zeit, um das notwen-dige Eigenkapital aufzubauen. – Es ist unser Interesse,
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8019
Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister
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die Versichertenkollektive nicht zu zerstören, sondernsie deutlich und nachhaltig zu stabilisieren.
Deshalb haben wir von dieser Übergangsmöglichkeit,Herr Schick, Gebrauch gemacht.Mich hat überrascht, was ich gestern von Moody’s ge-lesen habe, und zwar in einer Stellungnahme dazu, wases im deutschen Versicherungsmarkt an Problemen gebe.Zunächst habe ich mich darüber gewundert, dass sogroße Experten an zwei Stellen von fehlerhaften Annah-men ausgehen. Sie haben erstens gesagt, ab dem nächs-ten Jahr müssten die Eigenkapitalvorschriften erfülltsein. Nein, nach einem Übergangszeitraum von 16 Jah-ren!
Zum Zweiten haben diese Experten darauf hingewiesen,dass der Höchstrechnungszins ab dem 1. Januar 2015von den Versicherungsunternehmen heruntergesetztworden sei. Nein, wir im Parlament haben entschieden,den Höchstrechnungszins herunterzusetzen! Deswegenwürde ich solchen Organisationen raten, sich erst einmalmit der Sache zu befassen, bevor sie aufgrund von feh-lerhaften Annahmen für Unsicherheit im Markt sorgen.
Wir haben neben der EU-Kommission, die die Richt-linie vorgelegt hat, die europäische Versicherungsauf-sicht, die EIOPA, die jetzt in den nachgeordneten Regu-larien dafür sorgen wird, dass wir zu einem einheitlichenAufsichtsregime in Deutschland kommen. Neben deneuropäischen und nationalen Aufsehern werden wir Kol-legien haben, die dafür sorgen, dass bei grenzüberschrei-tend tätigen Versicherungsunternehmen eine gemein-same Aufsicht praktiziert wird – auch das ist, wie ichglaube, ein Fortschritt im Interesse der Versicherten,meine Damen und Herren.Natürlich werden wir als Prinzip – das ist der ent-scheidende Punkt – einen konsequent risikobasiertenAnsatz zugrunde legen, der nicht nur nach der Größeschaut, sondern auch nach dem Risiko des Geschäftsmo-dells, das das einzelne Versicherungsunternehmen prak-tiziert. Dabei werden wir jeweils die Risiken aus demMarkt genau abbilden: Wir werden versicherungstechni-sche Risiken abbilden, wir werden Kreditrisiken abbil-den, und wir werden operationale Risiken abbilden. Da-mit kommen wir zu einer wesentlich höheren Qualität inder Aufsicht und der Regulierung, als wir sie in der Ver-gangenheit hatten. Ich glaube, das ist ein Fortschritt imInteresse der Versicherten in diesem Land.
Meine Damen und Herren, ich will auf das ThemaNiedrigzinsumfeld eingehen. Über das Niedrigzinsum-feld müssen wir uns natürlich Gedanken machen; denndas ist die eigentliche Herausforderung, die sich denVersicherungsunternehmen und damit natürlich auch denVersicherungsnehmern in Zukunft stellt. Es geht darum:Wie können die Unternehmen das Geld verdienen, umdie Ansprüche, die die Versicherten haben, in Zukunftadäquat erfüllen zu können? Man muss schon sagen,dass es einen massiven Renditeverfall bei sicheren Kapi-talanlagen gibt. Die große Herausforderung wird sein:Wie können wir das in Zukunft erarbeiten? Wenn eineBundesanleihe mit zehn Jahren Laufzeit aktuell eineRendite von etwa 1 Prozent aufweist, gleichzeitig dieGarantiezinsen bei den Lebensversicherern in etwa drei-facher Höhe liegen, muss man sich doch die Frage stel-len: Wie können wir das auflösen?An dieser Stelle, Herr Schick, machen Sie es sichdoch ein bisschen zu einfach, wenn Sie, während wir unsgenau diese Frage stellen, einfach mit Polemik antwor-ten und sagen, wir seien hier der Knecht der Versiche-rungswirtschaft. Nein, wir sind diejenigen, die überle-gen, wie wir die Ansprüche der Versicherten auch inZukunft sichern können. Wir arbeiten für die Versicher-ten, und Sie machen ein Stück weit billige Polemik andieser Stelle.
Dieser Verantwortung, Herr Schick, haben wir uns imvergangenen Jahr beim Lebensversicherungsreformge-setz gestellt. Wir haben dabei genau das, was ich vorhingesagt habe, gemacht, nämlich die Garantieleistungen,die dem Kollektiv zustehen, für das Kollektiv zu sichern.
Wir haben auch die Aktionäre beteiligt, indem in der Se-kunde, wo Bewertungsreserven angegriffen werden, dieAktionäre keine Dividende bekommen. Das ist genaudie ausgewogene Balance, die in diesem Land erforder-lich ist, meine Damen und Herren.
Wir werden nicht nur darüber nachdenken müssen,wie der Gesetzgeber, der Regulator und der Aufseher re-agieren müssen, vielmehr sind durch das Niedrigzinsum-feld auch die Unternehmen gefordert. Man wird überlegenmüssen, ob man mit den Produkten der Vergangenheit dieHerausforderungen der Zukunft bewältigen kann. Deshalbrufe ich die Versicherer auf, darüber nachzudenken, mitwelchen neuen Produkten sie dieser Herausforderung inZukunft begegnen wollen. Ich glaube, dass die klassi-schen Produkte aus der Vergangenheit das, was wir in Zu-kunft brauchen, nicht werden leisten können. Deshalbsteht dort die Wirtschaft vor einer Herausforderung.
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8020 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Parl. Staatssekretär Dr. Michael Meister
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Sie haben massiv kritisiert, dass wir die Möglichkeitschaffen, zu überlegen, ob Versicherungsunternehmen inZukunft nicht nur in Staatsanleihen investieren können– ich weiß gar nicht, woher das große Vertrauen inStaatsanleihen kommt –, und haben gesagt, andere Anla-geformen seien viel risikobehafteter. Wenn wir uns ein-mal Gedanken machen, ob wir nicht langfristige Investi-tionen in Infrastruktur tätigen müssen, die tatsächlichbenötigt wird – also nicht nur die, die da ist, sondernauch die, die gebraucht wird –, und zwar Infrastruktur imumfassenden Sinne, dann müssen wir doch einmal etwasGehirnschmalz aufwenden, wie wir es ermöglichen, dasslangfristige Kapitalanlagen auf der einen Seite und dieFinanzierung dieser Infrastrukturinvestitionen auf deranderen Seite vernünftig zusammenkommen. Auch dasist ein Beitrag, mit dem Niedrigzinsumfeld umzugehen.
Wer dagegen polemisiert und sich dem verweigert, ver-schließt die Augen vor den Herausforderungen, vor de-nen wir stehen.
Herr Staatssekretär, darf der Kollege Schick noch eine
Zwischenfrage stellen oder eine Bemerkung machen?
D
Sehr geehrter Herr Präsident, selbstverständlich darf
der Kollege Schick eine Frage stellen oder eine Bemer-
kung machen.
Danke schön. – Sie haben gerade argumentiert, dass
es bei Infrastrukturinvestitionen sinnvoll sein könnte,
dass man das praktisch mit Investitionsmöglichkeiten
der Versicherungswirtschaft verknüpft. Jetzt gibt es si-
cher private Infrastrukturen, bei denen es auch eine pri-
vate Finanzierung geben soll. In Bezug auf die öffentli-
che Infrastruktur, die letztlich immer der Nutzer oder der
Steuerzahler zahlt, möchte ich Sie fragen, warum es aus
Sicht der Steuerzahler sinnvoller sein soll, für 5 oder
6 Prozent Rendite das Geld von den Versicherungsunter-
nehmen zu leihen, statt es für zurzeit sehr niedrige Zin-
sen – sagen wir 1 Prozent – am Kapitalmarkt aufzuneh-
men, also die teurere Lösung zu wählen anstatt die
billigere. Warum soll das gut sein?
D
Zunächst einmal, Herr Schick: In beiden Fällen pas-
siert dasselbe. Ob wir eine Staatsanleihe am Markt emit-
tieren und der Versicherer sie kauft oder der Versicherer
direkt das Infrastrukturprojekt finanziert, in beiden Fäl-
len kommt das Geld vom Versicherer ins Infrastruktur-
projekt. Die Frage ist nur, auf welchem Weg und wer das
Risiko trägt. Für mich ist ÖPP – öffentlich-private Part-
nerschaft; damit es auch andere verstehen – nicht einfach
das, was Sie in Ihrer Frage unterstellen, ist nicht nur die
Frage: Wie finanzieren wir? Das ist eine zu eindimensio-
nale Betrachtungsweise, die Sie da haben. Die entschei-
dende Frage ist doch: Wer trägt das Risiko über die ge-
samte Laufzeit eines Infrastrukturprojekts?
Wenn wir nicht nur über Finanzierung, sondern über Ri-
sikotransfer reden, dann muss ich die Prozentzahlen, die
Sie nennen, natürlich auch bezogen auf das zu tragende
Risiko sehen. Dann kann das für die öffentliche Hand
sehr wohl ein rentierliches Geschäft sein. Das ist die
Frage, die wir gemeinsam diskutieren müssen.
An dieser Stelle werbe ich – das sei mein letzter Ge-
danke – ein Stück weit dafür, dass wir in Zukunft eine
regelbasierte, aber flexible Versicherungsaufsicht benö-
tigen. Die Regeln, die wir machen, sind das eine, wie sie
angewendet werden, ist das andere. Deshalb werden wir
eine risikoorientierte Aufsicht benötigen.
Damit kommen wir zur nächsten Aufgabe, die uns als
Bundesregierung bevorsteht, nämlich: Wie gehen wir
mit der Anlageverordnung um? Wir werden uns Gedan-
ken machen müssen und die Anlageverordnung entspre-
chend anpassen müssen, um diese Infrastrukturinvesti-
tionen möglich zu machen. An dieser Stelle werden wir
Vorschläge unterbreiten.
Meine Damen und Herren, mit Solvency II gehen wir
einen gewaltigen Schritt nach vorne, aber es wird nicht
der letzte Schritt sein. Wir müssen das als gemeinsame
Aufgabe verstehen. Wir benötigen eine Eigenverantwor-
tung derjenigen, die das Versicherungsgeschäft machen,
risikoorientierte, nah an den Unternehmen stehende Auf-
seher und eine klar prinzipienbasierte Regulierung. In
diesem Sinne werbe ich dafür, dass Sie diesem Gesetz
heute zustimmen, und hoffe, dass es auch den Bundesrat
passiert.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Matthias Birkwald für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! In einem Song der Kölner Band BAP heißt es:„Besser hätt ich dat jelosse, dann wöhr alles nit passiert“.Vor 15 Jahren versprachen SPD, Grüne und Union denMenschen großspurig: Ja, wir kürzen Ihre gesetzliche
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8021
Matthias W. Birkwald
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Rente, aber mit Lebensversicherung und Riester-Rentewerden Sie im Alter viel besser leben als bisher von derguten gesetzlichen Rente allein. – Liebe Kolleginnenund Kollege, dieses Versprechen war 2001 falsch, es istheute falsch, und es wird auch 2030 falsch sein.
Sie können die Finanzaufsicht über Versicherungenverbessern, so viel Sie wollen, aber dadurch werdenMenschen, die jahrzehntelang gearbeitet haben, kein an-ständiges Alterseinkommen erreichen. Ein Ende derniedrigen Zinsen, Herr Staatssekretär, ist nämlich nichtin Sicht. Mit niedrigen Zinsen können Sie zwar gut eineWohnung kaufen, aber Ihre Lebensversicherung gehtden Bach herunter.Ein Beispiel: Die Bundesbank hat die Folgen derniedrigen Zinsen für 85 deutsche Lebensversicherer mo-dellhaft untersucht. Unter „verschärften Stressbedingun-gen“ würden 32 Unternehmen die Eigenmittelanforde-rungen von Solvency I bis 2023 nicht mehr erfüllen.
Also: Von 85 Versicherern wären dann 32 pleite, HerrZöllmer. Diese Modellrechnung zeigt: Selbst die Bun-desbank kann Lebensversicherungen als Altersvorsorgenicht empfehlen. Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der Großen Koalition, senken den garantiertenZins für Lebensversicherungen auf mickrige 1,25 Pro-zent, und die Lebensversicherer senken ohne Not die Be-teiligung der Kunden an den Überschüssen. Was sind dieFolgen? Am Ende werden Millionen Menschen im Alterschwer enttäuscht, wenn sie sehen, wie tief ihre Ansprü-che aus den Lebensversicherungsverträgen gesunkensein werden. Zum Teil ist das heute schon der Fall. Siemüssen dann die Zeche zahlen, nicht die Unternehmenoder gar die Aktionäre und Aktionärinnen. Das, meineDamen und Herren, ist unverantwortlich.
Mit 1,25 Prozent garantierten Zinsen und völlig unsi-cheren Überschüssen, Herr Flosbach, können Normal-verdienende unmöglich das Loch stopfen, das Sie, liebeKolleginnen und Kollegen von SPD, Grünen und Unionin die gesetzliche Rente gerissen haben. Lebensversiche-rungen und Riester-Verträge taugen nicht als Altersvor-sorge. Zeigen Sie Größe und geben es endlich zu!
Der Präsident der Versicherungswirtschaft, AlexanderErdland, hat das am vergangenen Freitag – unfreiwillig –getan. Er sagte, ein dauerhaft niedrigeres Zinsniveau ma-che eine um 15 Prozent höhere Sparanstrengung nötig,um im Alter das gleiche Versorgungsniveau zu errei-chen. Ich frage Sie: Wer kann denn noch einmal 15 Pro-zent zusätzlich für das Alter zurücklegen und von wel-chem Lohn? Der Leiharbeiter, die Verkäuferin und derTaxifahrer können es jedenfalls nicht.
Die Zeitschrift Öko-Test bringt es in ihrem aktuellenHeft voll auf den Punkt – ich zitiere –: „Schließen Siekeine neue Kapitallebens- oder Rentenversicherungmehr ab!“ Richtig so!
Die Linke schlägt Ihnen deshalb, Herr Michelbach,ein Drei-Punkte-Programm vor: Erstens. Die staatlicheRiester-Förderung, von der die Versicherungen profitie-ren, wird gestoppt. Wer heute schon einen Riester-Ver-trag hat, soll die bisher angesparten Gelder reibungslosund freiwillig auf sein persönliches Rentenkonto bei derDeutschen Rentenversicherung einzahlen können.
Zweitens. Statt jedes Jahr 3,5 Milliarden Euro Steuernfür die Riester-Förderung auszugeben, wird mit demGeld das Rentenniveau stabil gehalten.
Drittens. Alle Kürzungsfaktoren in der Rentenanpas-sungsformel werden gestrichen.
Ziehen Sie endlich Schlussfolgerungen aus der Fi-nanzkrise! Stärken Sie die gesetzliche Rente! StärkenSie das Umlagesystem! Und sorgen Sie dafür, dass diegesetzliche Rente wieder den Lebensstandard sichertund vor Altersarmut schützt! Das wäre zu tun. Deswe-gen: Die Finanzaufsicht bei den Versicherungsdienstleis-tungen zu verbessern, ist ein Schritt; aber hier geht es da-rum, dass die Menschen eine anständige Altersvorsorgeerhalten. Darum müssen Sie sich kümmern.Danke schön.
Das Wort erhält nun die Kollegin Kiziltepe für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Wir stehen hier undheute mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Moderni-sierung der Finanzaufsicht über Versicherungen an ei-nem wichtigen und auch bedeutenden Punkt. Ohne eineordentliche Aufsicht geht es nicht.
Die Finanzmarktkrise hat deutlich gezeigt, wie zerbrech-lich und risikoreich der Markt für Finanzdienstleistun-gen ist, wenn es an einer starken Regulierung fehlt.Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber sie gerät oft in Ver-gessenheit. Nur durch konsequente Regulierung und de-ren Kontrolle durch die Aufsicht können das Risiko und
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Cansel Kiziltepe
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die Größe von Versicherungsunternehmen kritisch be-obachtet werden. Es muss unbedingt vermieden werden,dass uns nach der Bankenkrise eines Tages eine Versi-cherungskrise ereilt und es dann wieder einmal heißt: toobig to fail. – Das darf nie wieder passieren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.
Genau dies soll mit der verbesserten Versicherungsauf-sicht vermieden werden.Die Verabschiedung dieses Gesetzes – das hat sich inder Debatte heute besonders gezeigt – bedeutet einengrundlegenden Paradigmenwechsel. Erst die tiefgrei-fende Finanzkrise hat ihn möglich gemacht. Es hat sichnämlich gezeigt, dass, wenn der Markt sich selbst über-lassen wird, damit große und weitreichende Gefahrenverbunden sein können. Ich freue mich, dass diese Er-kenntnis heute auch in den letzten Reihen angekommenist. Der Schutz der Versicherten wird nun stärker in denBlick genommen; das ist auch richtig. Mit diesemGesetz wird das Verhältnis von Risiko und Kapitalaus-stattung der Unternehmen beaufsichtigt – ein Fortschritthin zu mehr Sicherheit für Versicherungsnehmerinnenund -nehmer. Das bedeutet: Die EU-Richtlinie wird klarim Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher umge-setzt.Nachdem wir im Bankensektor wichtige Schritte hinzu einer besseren Aufsicht und Regulierung getan haben,tun wir dies nun im Bereich der Versicherungen. Es hatsich in den letzten Jahren hinsichtlich der europäischenVersicherungsaufsicht einiges getan. So wurde in derFolge der Finanzkrise eine einheitliche neue Aufsichts-behörde geschaffen, die EIOPA. Es geht also sowohl beiden Banken als auch bei den Versicherungen um mehrKontrolle der Institute und um weniger Risiko für dieVerbraucherinnen und Verbraucher. Hier sind wir aufdem richtigen Weg. Denn eine stärkere Angleichung derRegelungen auf europäischer Ebene ist nicht nur sinn-voll, sondern notwendig und längst überfällig.Eine stärkere Regulierung und eine verbesserte Auf-sicht bedeuten natürlich höheren Aufwand für die Versi-cherungsunternehmen. Dieser Mehraufwand – das warfür uns als SPD-Fraktion wichtig – muss im Verhältniszum Risiko stehen. Dass die großen Versicherungskon-zerne diese neuen Regelungen ohne Mühe umsetzenkönnen, ist klar; das gilt jedoch nicht für alle Versiche-rungsunternehmen. Deshalb haben wir als SPD-Fraktiondarauf gedrungen, dass der Proportionalitätsgrundsatzgewahrt bleibt. In diesem Fall ist die BaFin, die Bundes-anstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, gefordert, inden kommenden Jahren darauf achtzugeben. Wir im Fi-nanzausschuss werden das kontrollieren und die Umset-zung dieses Gesetzes kritisch begleiten. Dazu stehen wir.
Dass wir dazu stehen, ist natürlich kein Selbstzweck. Esgeht vielmehr darum, die Gefahren, die eine möglicheMarktkonzentration mit sich bringen würde, abzuweh-ren, weil eine solche Marktkonzentration den Versiche-rungsnehmerinnen und Versicherungsnehmern schadenwürde, und das wollen wir nicht.Liebe Kolleginnen und Kollegen, grundsätzlich solldie Modernisierung der Versicherungsaufsicht, wie derName bereits sagt, ausschließlich für die Versicherungs-unternehmen gelten. Die Einrichtungen der betrieblichenAltersversorgung sind ausgenommen. Das hat bereitsdas Europäische Parlament so beschlossen, und bei derUmsetzung in deutsches Recht hat es auch keine Ände-rungen gegeben, obwohl in den Beratungen insbesonderedie vorgeschlagenen §§ 23, 26 und 124 des Versiche-rungsaufsichtsgesetzes in der Kritik standen. Vonseitender Pensionsfonds gab es die Befürchtung, dass die auf-sichtsrechtlichen Regelungen durch die Hintertür auchauf die EbAV, also die Einrichtung der betrieblichen Al-tersversorgung, übertragen werden könnten. Dem istnicht so, liebe Kolleginnen und Kollegen. Das möchteich hier noch einmal deutlich sagen.
Wir haben eben eine freie Rede zur Rente gehört; da-rauf gehe ich kurz ein.
In unserem Koalitionsvertrag steht, dass die betrieblicheAltersversorgung gestärkt und geschützt werden soll,und das ist auch richtig; denn bei der zweiten Säule derAlterssicherung in Deutschland handelt es sich um einehistorisch gewachsene und bewährte Säule. Wir werdenuns im laufenden Jahr intensiv damit auseinandersetzen,um eine stärkere Verbreiterung der zweiten Säule zu er-reichen. Allerdings wird dies nicht im Rahmen dieserDebatte erfolgen, sondern im Rahmen der Überarbeitungder Richtlinie zu den Einrichtungen der betrieblichen Al-tersversorgung. In diesem Zusammenhang wird es auchum die Frage gehen, wie diese Einrichtungen beaufsich-tigt werden. Der Vorschlag der Kommission hierzu liegtseit etwa einem Jahr vor. Die Umsetzung in nationalesRecht soll Ende nächsten Jahres erfolgt sein. Daher wer-den wir die Probleme, die bei der betrieblichen Alters-versorgung auftreten können, erkennen und angehen,und wir werden uns im Rahmen dieser Debatte auch fürdie betriebliche Altersversorgung einsetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss möchteich noch ganz kurz auf die wenig beachtete Petition desVersicherungsverbandes Deutscher Eisenbahnen einge-hen. Dieser forderte, im Rahmen der Beratungen von derAufsicht gemäß diesem Gesetz freigestellt zu werden.Jedoch gehört der Versicherungsverband Deutscher Ei-senbahnen vom Wesen und auch vom Umfang seiner Tä-tigkeit her zu den Unternehmen, auf die diese Solvabili-tätsrichtlinie Anwendung findet. Daher wäre es eineVerletzung des EU-Rechtes, wenn man den Versiche-rungsverband Deutscher Eisenbahnen ausnehmen würde.In der heutigen Debatte ist deutlich geworden, wiekomplex und umfangreich die Umsetzung ist. Auch an-gesichts der langen Übergangszeit und im Zuge der wei-teren Beobachtungen durch den Finanzausschuss – da-mit werden wir uns in den nächsten Jahren befassen
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8023
Cansel Kiziltepe
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müssen – wird sich zeigen, welcher Änderungsbedarfnoch vorhanden ist. Doch vor allem eines ist wichtig:Wichtige Schritte sind getan worden hin zu mehr Stabili-tät und hin zu geringerem Risiko für die Verbraucherin-nen und Verbraucher.Vielen Dank.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans Michelbach
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitdem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf wird einweiteres Sicherungsgerüst in unseren Finanzmarkt ein-gezogen. Wir werden die andauernde Leistungsfähigkeitund Sicherheit des deutschen Finanzmarktes erhalten,mit Vernunft, mit Maß und Ziel. Darauf kommt es an,und dafür arbeiten wir: für diese Sicherheit, für diese an-dauernde Leistungsfähigkeit, für die Versicherten undfür die Unternehmen gleichermaßen.
Die Opposition, Linke und Grüne, startet stets denVersuch, den Finanzmarktunternehmen einen möglichsthohen Reputationsschaden zuzufügen.
Damit schaden Sie, meine Damen und Herren, Versi-cherten und Versicherungsunternehmen gleichermaßen.Sie sind nicht die seriöse Lobby, die Lobby der Versi-cherten, wie Sie hier vorgeben. Den Versicherten nutztes gar nichts, wenn Sie die Versicherungsunternehmenüberfordern. Hören Sie auf damit, die millionenfach ab-geschlossenen Versicherungsverträge politisch zu instru-mentalisieren! Das ist schäbig, das ist polemisch. Dasdient niemandem, schon gar nicht den Versicherten.
Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurfwird die europäische Richtlinie über die Aufnahme undAusübung der Versicherungs- und Rückversicherungstä-tigkeit, die sogenannte Solvency-II-Richtlinie, seriösund zielführend in nationales Recht umgesetzt. Damitwird die Versicherungsaufsicht gestärkt und dem Aufbauvon Risiken im Bereich der Versicherungsunternehmenfrühzeitig entgegengewirkt. Ziel der damit verbundenenMaßnahmen ist es, das Risiko der Insolvenz eines Versi-cherungsunternehmens zu verringern. Erreicht wird diesdurch umfassendere, risikoorientiertere Eigenkapital-und Eigenmittelvorschriften für die Versicherungsunter-nehmen. Die Versicherer werden künftig verpflichtetsein, Kapital bereitzustellen, um Markt- und Kreditrisi-ken oder auch operationelle Risiken deutlich besser absi-chern zu können.Dabei geht es nicht nur um mehr Stabilität im Versiche-rungsmarkt. Es geht auch um ein Stück mehr Verbrau-cherschutz – darauf kommt es uns an –, insbesondere imBereich der Lebensversicherer. Der Schwerpunkt deut-scher Versicherer liegt traditionell auf Verträgen mitlangjährigen Zinsgarantien. Damit wird Stabilität er-reicht. Damit komme ich zu einem wesentlichen Punkt:Das derzeitige Niedrigzinsumfeld ist nicht politisch vonuns veranlasst, und wir müssen deutlich sagen, dass auchdie Preisstabilität, die wir im Moment haben, für die Ver-sicherten grundsätzlich positiv ist. 7 Prozent Inflationsind ihm lieber als 5 Millionen Arbeitslose, hat ein Welt-ökonom einmal gesagt.
Das Gegenteil von beidem ist entstanden. Heute habenwir Preisstabilität. Dann ist es selbstverständlich, dassman bei Preisstabilität, wenn es also keine Inflation gibt,auch keine Inflationsdividende einstreichen kann. Dasist in diesem Marktumfeld ganz normal.Ich kann Ihnen nur immer wieder sagen: Sie versu-chen immer wieder, alles Private als Feindbild darzustel-len. Da machen wir nicht mit. Wir brauchen den privatenKapitalmarkt, den privaten Finanzmarkt.
Bei den neuen Regelungen und Bewertungen, die mitdem vorliegenden Gesetzentwurf eingeführt werden sol-len, geht es darum, die Risiken sichtbar zu machen. Dasist ein wesentlicher Punkt. Uns geht es um Transparenz-verbesserung. Die Garantien werden transparent, öffent-lich überprüfbar sein und können letzten Endes auch vonuns immer wieder überprüft werden. Damit wird dasnotwendige Instrumentarium geschaffen, um in ZukunftRisiken besser bewältigen zu können. Das ist angesichtsdes aktuellen Niedrigzinsumfeldes sicher keine leichteAufgabe für die Versicherungsunternehmen; aber es istunausweichlich, dass sich die Versicherer dieser Auf-gabe verstärkt stellen.Die deutschen Lebensversicherungen insgesamt wer-den den Einstieg in die neuen Kapitalanforderungen un-ter dem künftigen Aufsichtsregime bewältigen können.Auch das ist ein wesentliches Ergebnis der Erhebung derBaFin. Sie hat gezeigt, dass bei allen deutschen Lebens-versicherungen die Welt letzten Endes in Ordnung ist. Esgibt einige wenige kleine Unternehmen, die keine aus-reichenden Eigenmittel nachweisen konnten und nach-bessern müssen. Diese machen aber weniger als 1 Pro-zent Marktanteil aus. Dies nun anzuprangern, ist dahervöllig falsch. Ich glaube, auch das ist nur Polemik.
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8024 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Dr. h. c. Hans Michelbach
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Herr Dr. Schick, Sie polemisieren immer wieder überAktionäre. Wir haben Ausschüttungssperren eingeführt.
Damit ist das Eigentum beschwert worden. Aber Eigen-tumsenteignung geht mit uns nicht, Herr Schick;
das müssen Sie sich einmal merken. Eigentum ist Eigen-tum. Indem Sie immer wieder gegen Eigentum polemi-sieren, zeigen Sie Ihr wahres Gesicht. Das geht mit unsnicht.
Ich sage Ihnen eines: Hören Sie auf, mit den 90 Mil-lionen Lebensversicherungsverträgen politische Agendazu machen. Das ist verwerflich und nicht in Ordnung.
Den Reputationsschaden, der dadurch für die Unterneh-men entsteht, tragen letzten Endes die Versicherten. Dasist die Konsequenz Ihres Tuns, meine Damen und Her-ren.
Es ist richtig: Wir haben es hier heute mit einem Para-digmenwechsel zu tun. Wir gehen weg von den vielenDetailregelungen hin zu einer gesamtrisikoorientiertenBetrachtungsweise; das ist richtig und zielführend unddeshalb notwendig. Das führt keineswegs zwangsläufigdazu, dass sich das Volumen der Anlagen in hochris-kante Marktbereiche und Finanzinstrumente weiter er-höht, wie immer wieder zu hören ist. Ganz im Gegenteilbewirken die neuen Eigenmittelvorschriften, dass es inZukunft weniger bis gar keine hohen Risiken mehr gibt.Denn je höher die eigene Haftung, desto geringer derAnreiz, risikoreiche Investitionen zu tätigen. So funktio-niert Markt. Wenn Sie die eigene Haftung erhöhen, dannist das letzten Endes die beste Vorsorge gegenüber risi-koreichen Investitionen.Sie können, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, denVersicherungen nicht vorschreiben, in welche Anlage-formen sie zu investieren haben. Das wäre ein Rückfallin alte Zeiten. Dass Sie jetzt auch gegen die Möglichkeit,dass das Kapital für die Allgemeinheit und das Gemein-wohl in die Infrastruktur fließt, polemisieren, versteheich überhaupt nicht. Das Geld wird dort benötigt. Esdient allen, wenn es bei den Infrastrukturprojektenschneller vorangeht. Das ist ein wirklicher Paradigmen-wechsel. Das ist ein großer Vorteil für den StandortDeutschland.
Die neuen Vorschriften ermöglichen es den Versiche-rern, künftig ein weiteres Feld zu nutzen. Die Öffnungder Infrastrukturinvestitionen für die Versicherer schafftneue Optionen. Das ist eine Win-win-Situation für dieöffentliche Hand und die Versicherer und damit auch fürderen Kunden. Wir haben unzweifelhaft einen erhebli-chen Investitionsbedarf im Bereich der öffentlichen In-frastruktur. Dieser Investitionsbedarf kann von der öf-fentlichen Hand alleine nicht zeitnah vollständig gedecktwerden. Gleichzeitig sehen wir erhebliche private Mittel,die sinnvoll angelegt werden wollen. Nichts liegt alsonäher, als beides zusammenzubringen.Gewiss wird der Versicherungsbranche mit den neuenRegelungen einiges abverlangt; das muss man deutlichsagen. Von Versicherungslobby ist aber nicht zu reden.Sie können uns mit dieser nebulösen Verdächtigung vonLobbyismus überhaupt nicht gemeint haben.
Sie können uns damit nicht meinen. Es lohnt sich, HerrDr. Schick, sich eine eigene Meinung zu bilden. Wir tundies mit hoher Fachkompetenz. Wir haben Fachleute ausder Fraktion im Finanzausschuss, die sich damit genauauskennen und beschäftigt haben und mit ihrer Fach-kompetenz eine gute Richtlinie in ein deutsches Gesetzumgesetzt haben.
Das ist hervorzuheben. Ich sage herzlichen Dank dafür,dass wir im Finanzausschuss mit dieser Kompetenz ei-nen vorbildlichen Gesetzentwurf für die Versichertenund für die Versicherungsunternehmer erarbeitet haben.Herzlichen Dank.
Christian Petry hat nun das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meinesehr verehrten Damen und Herren! 2015 kann das Jahrdes Verbraucherschutzes werden. 2015 ist ein Jahr, indem es viele neue Regelungen im Bankenbereich, im Fi-nanzbereich generell und – so wie jetzt auch hier mitSolvency II – im Versicherungsbereich gibt, ein Jahr, indem der Verbraucher im Mittelpunkt steht, in dem derVerbraucher geschützt wird, in dem der Verbraucher ge-stärkt wird. So ist auch Solvency II – dies wollen wirheute in nationales Recht umsetzen – zu sehen. 2015 istein Jahr des Verbraucherschutzes.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8025
Christian Petry
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Wir sind damit die Lobby der Verbraucherinnen und derVerbraucher.Es ist ein Mammutgesetz. Das ist vielfach gesagt wor-den. Es hat lange gedauert: Bereits vor der Finanzkriseist es in die Wege geleitet worden. Es musste umgestelltwerden. Das führt dazu, dass wir diese Regelungen,diese Verpflichtungen in einem sehr, sehr langen Über-gangszeitraum von 16 Jahren umsetzen. Ich glaube, da-mit ist ein guter Weg gefunden worden, sowohl den Ver-sicherungsinstituten als auch dem Versicherten gerechtzu werden. Es ist ein wichtiger Schritt zur Harmonisie-rung europäischer Standards im Finanzbereich: eineganzheitliche Risikobetrachtung, neue Bewertungsmög-lichkeiten von Verbindlichkeiten und Vermögenswertenund eine Aufsicht, die nun mit solchen Instrumentarienversehen ist, auf dass die Kapitalausstattung der Versi-cherungen sichergestellt ist.All dies sind Lehren aus der Krise. Bankensanierungund Bankenabwicklung durch Restrukturierungsfondssind Instrumentarien, die sich im Bankensektor bereits inder Umsetzung befinden. Nun wird mit Solvency II auchdie Versicherungswirtschaft auf einen in der EU einheit-lichen Standard gesetzt. Dabei spielt die verbraucher-schutzpolitische Komponente eine wesentliche Rolle.2015 steht also im Zeichen des Verbraucherschutzes. DieHarmonisierung der europäischen Einlagensicherungund der Anlegerentschädigung sind bereits auf den Weggebracht. Ich verweise auch auf das Engagement vonVerbraucherschutzminister Heiko Maas, der mit demKleinanlegerschutzgesetz den grauen Kapitalmarkt regu-lieren will. Das ist ein weiterer Schritt.Ich kann Herrn Dr. Michelbach nur zustimmen. Er hateben gesagt: Das machen wir mit Maß und Ziel. – Dasist im doppelten Sinne so. Denn der Verbraucherschutzsteht bei all diesen Maßnahmen bei uns im Zentrum derPolitik und führt zu einer Stärkung des Verbraucher-schutzes und damit zum Jahr des Verbraucherschutzes2015.
Herr Dr. Schick und Frau Karawanskij, ich bin zwarauch nicht gerade der größte Fan von privaten Investitio-nen im öffentlichen Bereich, aber Sie können nicht– Herr Michelbach hat es eben schon gesagt – alle Mög-lichkeiten, wie man sich refinanziert, wie man Renditeerwirtschaftet, verteufeln, indem Sie sagen: Hedgefonds,Private Equity, das dürfen die alles nicht machen.
– Herr Dr. Schick, das stimmt, ich komme aber noch aufeine andere Aussage von Ihnen. – Wenn wir nun tatsäch-lich in den öffentlichen Finanzen so stehen, wie wir ste-hen, und wenn es auf der anderen Seite eine so hohe Ka-pitalmenge gibt, die möglicherweise verfügbar ist, mitder wir öffentliche Infrastruktur zeitnah realisieren kön-nen – durch die zeitnahe Realisierung ist es natürlichauch wirtschaftlicher, als wenn man 10, 15, 20 Jahrewartet; von daher entsteht auch dadurch eine Rendite –,dann bin ich der Meinung: Wenn Versicherer hier aufeine sehr solide, sichere Anlagestrategie wechseln kön-nen, sollten wir ernsthaft über diese Instrumentarien dis-kutieren und diese Möglichkeit nicht, wie hier gesche-hen, verteufeln. Ich glaube, das ist nicht in Ordnung.
Darf der Kollege Schick noch einmal eine Zwischen-
bemerkung machen?
Ja, gern.
Bitte.
Es bezieht sich zwar nicht im Kern auf den vorliegen-
den Gesetzentwurf, aber ich finde, es ist eine wichtige
Auseinandersetzung. Der Bundesrechnungshof hat für
eine ganze Reihe von Projekten der Vergangenheit
durchgerechnet, ob die These, die Sie aufstellen und die
auch vorhin genannt worden ist, stimmt, nämlich dass es
letztlich aufgrund der Risikoübernahme – Herr Meister
hatte es so ausgeführt – für die Bundesregierung sinnvoll
ist. Der Bundesrechnungshof kommt zu dem vernichten-
den Urteil, dass es für den Steuerzahler schlechter ist.
Warum sollten wir denselben Fehler, den uns der Bun-
desrechnungshof schon einmal bescheinigt hat, noch
einmal machen?
Herr Dr. Schick, herzlichen Dank für diese Zwischen-frage, gibt sie mir doch die Gelegenheit, zu sagen, dassdie Modelle, über die wir jetzt diskutieren, diese Risikenmit Blick auf die Zukunft tatsächlich minimieren. Wirmüssen ein Auge darauf werfen; da gebe ich Ihnen voll-kommen recht. Nicht alles, was irgendwo in Europa indiesem Sinne anzugehen ist, muss unsere Unterstützungfinden. Aber ich halte es generell für eine Versündigungan der Jugend und an der Zukunft, Infrastruktur verfallenzu lassen, wenn man hier eine Finanzierungsmöglichkeithat, die sehr zeitnah auf Vordermann zu bringen ist. Ichglaube, darüber sollten wir alle nachdenken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Kern-ziele der Richtlinie sind im Gesetzentwurf genannt. Dieeuropaweit einheitlichen Anforderungen im Bereich derEigenmittel setzen nun Instrumentarien voraus, die dieAufsicht zur Kontrolle haben muss. Versicherungenmüssen Anlagen nach Marktrisiken bewerten; das halteich für einen Fortschritt. Dass neben Standardmodellen
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8026 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Christian Petry
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auch individuelle Modelle zugelassen sind – dazu kannLothar Binding als Mathematiker viel sagen –, wird dieAufsicht nicht leichter machen; das wissen wir. Dortmuss man sich auf diese Modelle einstellen. Aber letzt-lich ist es doch so: Wenn wir alle Versicherer, alle Versi-cherungsunternehmen, stärken wollen, dann müssen wirletztlich dafür sorgen, dass sie die Bewertungen für ihrespezifischen Produkte vornehmen können, statt aus-schließlich standardisierte Modelle zu benutzen. Deswe-gen ist die Wahlfreiheit sehr zu begrüßen.
Auch eine europaweite Harmonisierung der Aufsichtder Versicherungsunternehmen ist zu begrüßen. Dasmacht die Sache europaweit besser, vergleichbarer und– da in diesem Bereich international gearbeitet wird –auch stabiler. Auch das ist ein wesentlicher Beitrag zurStärkung des Versicherungsschutzes.Schlussendlich geht es auch um Transparenz. Die Be-richtspflicht gegenüber der Öffentlichkeit und gegenüberdem Versicherer im Hinblick auf die Risikosituation, dasKapitalmanagement und die Geschäftstätigkeit wird er-weitert und gestärkt. Auch das ist ein Ziel dieser Richtli-nie und führt zu einer Stärkung dieses Prozesses.
Das Ergebnis liegt uns nun vor. Es ist ein Mammutge-setz. Es reiht sich in eine Vielzahl von Maßnahmen, dieden europäischen Finanzsektor stärken, ein. Das Ver-trauen der Bürgerinnen und Bürger wird nach den Kri-senjahren durch die vielen Maßnahmen, die wir durch-führen, weiter gestärkt. Neben der Einlagensicherung,der Bankenunion und dem Kleinanlegerschutzgesetzträgt auch Solvency II dazu bei, dass 2015 das Jahr desVerbraucherschutzes ist.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Glück auf!
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Anja Karliczek für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Ich bin die Letzte – wir haben esgerade gehört – und mache jetzt den Sack in dieser zwei-ten und dritten Lesung zu.
– Zu diesem Tagesordnungspunkt.
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, meinem KollegenHerrn Zöllmer, mit dem ich in den letzten Monaten undauch beim Thema Lebensversicherungsreformgesetz in-tensiv habe zusammenarbeiten dürfen, dafür Dank zu sa-gen, dass die Zusammenarbeit in der Koalition immer sogut klappt. Deswegen will ich mich jetzt auch nicht aufalle Einzelheiten stürzen, sondern mich mit den wesent-lichen Dingen beschäftigen, die diesem Gesetzentwurfzugrunde liegen, und dann die Gelegenheit nutzen, zu er-klären, warum einige Zusammenhänge, die hier immerwieder in den Raum gestellt werden, falsch sind.Der Abschluss von Solvency II – das haben wir jajetzt schon einige Male gehört – ist etwas Besonderes.Denn seit fast zehn Jahren wird über dieses Gesetz dis-kutiert, und es bleiben noch 16 Jahre zur Umsetzung –ein Vierteljahrhundert für ein Gesetz, das ist schon etwasBesonderes. Allein an der zeitlichen Dimension erken-nen wir die Tragweite dieses Gesetzes, aber eben auchan den massiven Reaktionen unserer Versicherer; dennihre Sorge ist nach wie vor sehr groß. Vor allem bei denkleinen und mittelständischen Versicherungsunterneh-men, die es bei uns ja glücklicherweise noch gibt, sinddie Sorgenfalten angesichts dieses Mammutwerkes tief.Doch ich versichere ihnen: Uns als CDU/CSU-Fraktionsind ein fairer Wettbewerb unter den Marktteilnehmernin Europa und der Erhalt unserer mittelständischen Wirt-schaftsstruktur sehr wichtig.
Deshalb setzten wir eins zu eins um, was uns die euro-päische Richtlinie vorgibt, und haben dabei stets die Au-gen darauf gerichtet, dass die Umsetzung der neuen Vor-schriften für unsere kleinen und mittelständischenUnternehmen machbar bleibt.2007 entstand die Idee einer europaweit einheitlichenRegulierung der Versicherungswirtschaft. Das war vorder Finanzkrise. Seit der Krise nehmen wir die Risikender Finanzmärkte ganz anders wahr. Das hat auch dieVerhandlungen und die Regeln von Solvency II spürbarbeeinflusst. Was sich nicht geändert hat, sind der Leitfa-den und das übergeordnete Ziel der novellierten Versi-cherungsaufsicht, erstens den Schutz der Versichertenvor einer Insolvenz von Versicherungsunternehmen zuverbessern und zweitens eine hohe Risikosensitivität un-serer Versicherungsunternehmen einzufordern.Versicherungsunternehmen sind – das ist heute Gottsei Dank ja schon mehrfach gesagt worden – in ihrer Ge-schäftstätigkeit auf das Solidarprinzip der Versicherten-gemeinschaft ausgelegt, sie bündeln Einzelrisiken undstehen mit den Mitteln der Versicherten solidarisch füreingetretene Risiken ein. Was wir heute beschließen, dieNovellierung eines rund 115 Jahre alten Aufsichtsgeset-zes, ist an dieser Stelle aber noch mehr, nämlich eineVerbesserung des Versichertenschutzes. Es ist ein grund-legender Paradigmenwechsel in der europäischen undder deutschen Versicherungsaufsicht. Wir können esnicht oft genug sagen: Wir starten eine neue Philosophie,die im Kern auf drei Säulen basiert:Erstens. Wir verpflichten die Unternehmen, ihre Ka-pitalanlagen risikoadäquat und nicht mehr dem Ge-schäftsumfang entsprechend mit Eigenkapital zu unterle-gen.Zweitens. Wir verpflichten die Unternehmen, sich in-tern über ein unternehmensinternes Risikomanagementmit ihren Risiken zu beschäftigen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8027
Anja Karliczek
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Drittens. Wir verpflichten die Unternehmen, der Auf-sicht und der Öffentlichkeit regelmäßig über Risiko- undErtragslage zu berichten.Das neue Aufsichtssystem ist prinzipienorientiert.Das bedeutet, dass Ziele vorgegeben werden, nicht aber,wie die Unternehmen diese zu erreichen haben; das ent-scheiden sie selbst.Nach den ersten einer ganzen Reihe von Gesprächenwar relativ schnell klar, dass es weniger die neuen Ka-pitalanforderungen sind als die neue Geschäftsorgani-sation und die erweiterten Berichtspflichten, die insbe-sondere die kleinen und mittleren Versicherer sehrumtreiben; denn das Gesetz bringt einen erheblichenMehraufwand mit sich. Der Aufbau eines vierstufigenRisikomanagements ist bei wenigen Mitarbeitern eineoft kaum überwindbare Barriere. Ein Vertreter eineskleinen Unternehmens sagte einmal: Wir müssen unsereReinigungskräfte einbinden, so viel Personal haben wirgar nicht.Uns ist es deshalb ein großes Anliegen, dass dieBaFin das im Gesetz vorgesehene Proportionalitätsprin-zip wo immer möglich anwendet und dadurch die Unter-nehmen entlastet werden. Wir wollen, dass der Aufwandfür die Unternehmen in einem angemessen Verhältnis zuderen Versicherungsgeschäft steht. Deswegen haben wirim Verlauf der Diskussion zu diesem Gesetz noch zweiPunkte direkt ins Gesetz aufgenommen: Erstens habenwir mit einer Klarstellung im Gesetzestext sichergestellt,dass operative Tätigkeiten von der internen Revision un-abhängig sein müssen, nicht aber Funktionen. Zweitenslegt das Gesetz jetzt zudem fest, dass Geschäftsleiterauch Schlüsselfunktionen wahrnehmen können, eineKoppelung von Schlüsselfunktionen bleibt jedoch auchEU-rechtlich untersagt.Wir gehen davon aus, dass die Versicherungsaufsichtvon den gegebenen Möglichkeiten hinreichend Ge-brauch macht, gerade die kleinen Unternehmen von Be-richtspflichten zu befreien. Wir haben Vertrauen in diesolide Arbeit unserer BaFin. Ich finde es gut, sagen zukönnen, dass unsere Durchführungsorgane oft eher dafürgescholten werden, dass sie Gesetze zu eng und zu ge-nau nehmen, als dass man ihnen vorwirft, sie großzügigauszulegen. Lediglich die Umsetzung des Proportionali-tätsprinzips werden wir – das haben wir auch schon einpaar Mal gesagt – uns nochmals genau anschauen. Daszu erwähnen, ist mir wichtig. Deswegen haben wir auchim Bericht des Finanzausschusses festgehalten, dass unsdie BaFin im Jahr nach der Einführung von Solvency II,also im Jahr 2017, zur Umsetzung des Proportionalitäts-grundsatzes berichten wird; denn wir wollen im Sinneder Kunden die Vielfalt der deutschen Versicherungs-landschaft erhalten und einen fairen Wettbewerb sicher-stellen.
Die umfassende Novellierung des Versicherungsauf-sichtsgesetzes ist von den Versicherungsunternehmenmittlerweile akzeptiert. Die langen Jahre der Diskussionbis zur Einführung dieser Novelle haben daran aus mei-ner Sicht einen großen Anteil. Gerade auch auf dieHerausforderung der Niedrigzinsphase ist Solvency IIgrundsätzlich die richtige Antwort; denn quantitativesund qualitatives Risikomanagement muss sich an denGegebenheiten des Marktes orientieren.Ich will noch einen weiteren wichtigen Punkt der De-batte ansprechen. Immer wieder wurde geäußert, dassder Schutz des einzelnen Verbrauchers gegenüber demSchutz der Unternehmen vor Insolvenz Vorrang habenmüsste. Diese Frage trifft den Kern einer Versicherungs-gemeinschaft und das Prinzip der Versicherung: Es istdie Frage, ob die Interessen der Versicherten oder die derSolidargemeinschaft Vorrang haben. Für uns steht klardie Solidargemeinschaft im Vordergrund.
Ich will das am Beispiel der deutschen Lebensver-sicherung deutlich machen; denn gerade hier wird immerwieder das Prinzip der solidarischen Versichertenge-meinschaft infrage gestellt. Seit mehr als 100 Jahren gibtes die deutsche Lebensversicherung. Von Anfang an undbis in die heutige Zeit liegt ihr die Idee der Solidarge-meinschaft zugrunde. Sie ist privatwirtschaftlich organi-siert, aber dem Solidarprinzip einer Gemeinschaft ver-pflichtet. Sie arbeitet als Kollektiv, das mit einem hohenMaß an Stabilität gemeinsam spart, Sicherheit bietet undüber die Zeit im Verbund die Risiken ausgleicht, undzwar in guten wie in schlechten Zeiten, in Zeiten hoherwie niedriger Zinsen, in Zeiten hoher wie geringer Risi-ken – und das über Generationen hinweg.
Risiken gemeinsam zu übernehmen, bedeutet immer,einen eigenen angemessenen Beitrag zu leisten, wennein Mitglied der Gemeinschaft einen Schaden erlittenhat. Damit werden Lebensrisiken, die jeden von uns tref-fen können, beherrschbar. Damit sind wir solidarisch inder Gemeinschaft der Versicherten. Damit gehen wiraber auch die Verpflichtung ein, uns selbst einzubringen.Es ist das Prinzip der Risikominimierung für jeden Ein-zelnen, nicht das Prinzip der Gewinnmaximierung für je-den Einzelnen, liebe Frau Karawanskij.Das Selbstverständnis als Solidargemeinschaft wurdewährend der Beratungen konkret und intensiv anhandder Funktionsweise der freien RfB, also der Rückstellun-gen für Beitragsrückerstattungen, die Sie eben schon an-gesprochen haben – ein kompliziertes Wort und einkompliziertes Regelwerk –, diskutiert. Ich will hier keinhandelsrechtliches Seminar abhalten, aber es ist wichtig,noch einmal klarzustellen: Die freien Rückstellungen fürBeitragsrückerstattungen sind genau der Posten in derBilanz eines Versicherers, der den Topf abbildet, ausdem über Generationen hinweg das Kollektiv der Versi-cherten mit stabilen Erträgen versorgt wird. Ich sage be-wusst: mit stabilen Erträgen; denn es ist gerade das Prin-zip eines Versicherers, nicht einzelnen Jahrgängen vonVersicherten maximierte Erträge zu garantieren, sondernüber Generationen hinweg möglichst stabile Erträge.
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8028 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Anja Karliczek
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Rückstellungen für Beitragsrückerstattungen speisensich aus Überschüssen; das wissen Sie. Bei der RfB flie-ßen jeweils 90 Prozent der Kapitalanlagegewinne undder Risikogewinne sowie 50 Prozent der Kostengewinneein. Diese Überschüsse kommen den Versicherten zu-gute, und zwar vollständig. Das geschieht jedoch nichtunmittelbar und individuell für jeden einzelnen Ver-sicherten. Die freie RfB ist vielmehr eine Zahlungsver-pflichtung des Versicherers an die Gemeinschaft derVersicherten, nur der Zeitpunkt, die Höhe und der Ein-zeladressat sind in dem Moment noch unbestimmt.Vielfach war die Kritik zu hören, dass die Versicherermithilfe der freien Rückstellung für Beitragsrückerstat-tungen, die ja eigenmittelfähig ist, ihre Eigenmittelquotestärken würden, anstatt die Überschüsse aus der freienRfB unmittelbar an die Kunden auszuschütten. Somitwürden Kundengelder als Eigenmittel eingesetzt. Ichsage es noch einmal: Die Gelder der freien RfB gehörenden Kunden – unwiderruflich. Das steht der Eigenmittel-funktion der freien RfB aber gar nicht entgegen; denn esist die praktische Umsetzung des Modells des kollekti-ven Sparens und Versicherns. Müsste an dieser Stelleechtes Eigenkapital eingesetzt werden, wer sollte das be-zahlen? Kapitalgeber stellen ihr Geld stets nur gegeneine angemessene Rendite zur Verfügung. Die Solidar-gemeinschaft erspart sich damit gegenseitig die Kostenfür externe Kapitalgeber und konnte dadurch in den ver-gangenen Jahren trotz sinkender Zinsen noch eine be-achtliche Rendite erwirtschaften.Ein weiterer Punkt, der immer wieder besonders vonden Linken kritisiert wurde, ist die Klarstellung in Bezugdarauf, dass Versicherungsunternehmen in sogenanntealternative Investmentfonds investieren dürfen. Dazukann ich nur immer wieder sagen: Je breiter die Kapital-investitionen auf verschiedene Investitionszweige ge-streut sind, umso besser. Ich denke, Sie alle kennen dieerste Regel der Kapitalanlage: Lege nicht alle Eier in ei-nen Korb. Zudem sind unter Solvency II die Versichererverpflichtet, ihre Kapitalanlagen adäquat zum Risiko mitEigenkapital zu unterlegen. Gerade das ist eine Säule desneuen Regelwerks.Ich sagte bereits am Anfang meiner Rede, dass dieFinanzkrise diesem Gesetz einen deutlichen Stempelaufgedrückt hat. Das Gesetz ist eine Antwort auf starkveränderte europäische Rahmenbedingungen und einwichtiger Schritt, Vertrauen in eine Branche zu stärken,die wir wesentlich für unsere Altersvorsorge – und damitfür unsere Zukunft – brauchen.Die drei Säulen unserer Altersversorgung – gesetz-lich, betrieblich und privat – sind nur leistungsfähig,wenn wir die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Wirhaben das Glück eines immer länger werdenden Lebens;aber wir werden eben auch immer weniger. Zum Erhaltunseres Lebensstandards werden wir – auch wenn Siedas glauben, Herr Birkwald – nicht allein auf die staatli-che Säule der Altersversorgung bauen können.Wir müssen – ich werde nicht müde, es immer undimmer wieder zu betonen – eigene Vorsorge leisten.Auch wenn es nicht immer einfach ist: Wir müssen miteiner betrieblichen und/oder einer privaten Altersvor-sorge selbst etwas für unseren Lebensabend tun.
Wir dürfen den Staat nicht überfordern, denn wir allesind der Staat. Gemeinsam können wir nur so sozial sein,wie wir es uns leisten können. Deshalb muss es so vielSolidarität wie nötig und so viel eigene Leistung wiemöglich geben.Mit der Novellierung des Versicherungsaufsichtsge-setzes wollen wir das Vertrauen stärken, dass sich die ei-gene Leistung trotz allem lohnt. Diese Debatte fällt ineine Zeit großer Unsicherheit. Wir müssen als europäi-sche Gemeinschaft Geschlossenheit zeigen. Eine Ge-meinschaft braucht gemeinsame Regeln. Die Rücksichtauf nationale Besonderheiten bleibt dabei immer eineHerausforderung. Das war auch in der Diskussion umSolvency II immer wieder ein Thema. Dieses Gesetz be-rücksichtigt beides. Deswegen werden wir als CDU/CSU-Fraktion diesem Gesetz heute zustimmen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurModernisierung der Finanzaufsicht über Versicherungen.Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf der Drucksache 18/3900, den Gesetzentwurfder Bundesregierung auf den Drucksachen 18/2956 und18/3252 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer istdagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Gesetzent-wurf mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen in zweiterBeratung angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? –Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache18/3924. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? –Nach einigem Zögern die gesamte Fraktion der Linken.Wer stimmt gegen diesen Entschließungsantrag? – Werenthält sich der Stimme? – Damit ist dieser Entschlie-ßungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenbei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab-gelehnt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8029
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 4:Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Brigitte Pothmer, Luise Amtsberg,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENFür ein modernes EinwanderungsgesetzDrucksache 18/3915Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionDieser angekündigte Titel führt zur Einwanderungund Auswanderung verschiedener Kolleginnen und Kol-legen aus dem Plenarsaal. Sobald sich das neu sortierthat, eröffne ich die Aussprache. Vorher frage ich, ob esEinvernehmen gibt, dass die Aussprache zu diesem Ta-gesordnungspunkt wiederum 96 Minuten umfassen soll. –Das ist offensichtlich der Fall, wenn auch möglicher-weise gar nicht nötig. Wie auch immer, das diskutierenwir immer wieder aufs Neue.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derKollegin Katrin Göring-Eckardt für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Deutschland ist kein Einwanderungsland“: Dieser Satz,den Helmut Kohl 1991 gesagt hat, hatte eine ziemlichlange politische Halbwertszeit. Er hat die Diskussionüber Einwanderung vergiftet und am Nachdenken gehin-dert. Es gab ein Denkverbot in Bezug auf Regeln, unterdenen Menschen anderer Nationen, Ethnien und Religio-nen einwandern, und in Bezug auf Ideen, wie wir eineoffene Gesellschaft – natürlich auf dem Boden desGrundgesetzes – organisieren können.Übrigens: Als Helmut Kohl diesen Satz sagte, warengerade 18 Millionen Ostdeutsche, so wie ich, zu verkraf-ten gewesen, und es waren viele Aussiedler und Spätaus-siedler, Menschen jenseits der Oder-Neiße-Grenze, zuuns gekommen.
Historisch gesehen war Deutschland seit 1945 eigent-lich immer ein Einwanderungsland:
Nach Kriegsende kamen Flüchtlinge und Vertriebeneaus den Ostgebieten und nach 1949 Flüchtlinge aus derDDR. 1955 hat Deutschland das erste Anwerbeabkom-men mit Italien und nach 1960 mit Spanien, Portugal,Griechenland, der Türkei und sogar mit Südkorea ge-schlossen. Auch der 1973 vom SPD-Arbeitsminister un-terzeichnete Anwerbestopp war nichts anderes als einkleiner Zwischenhalt. Über die Europäische Unionkonnten bald Italiener, Spanier und Portugiesen alsUnionsbürger nach Deutschland kommen.Die ganze Zeit wurde aber gesagt, Deutschland seikein Einwanderungsland. Wenn man so redet, dann hatdas Konsequenzen. Alle sehen die Unterschiede zwi-schen Schein und Sein. In den 90er-Jahren ist es im Hin-blick auf die Migration deshalb zu einer Polarisierunggekommen, die in der Pegida-Bewegung so etwas wieeine späte Sumpfblüte erlebt.
Rassismus hat es in der Bundesrepublik immer gege-ben. Seitdem in den Medien aber Sätze wie: „Man hat janichts gegen Ausländer, aber …“, wieder öffentlich ge-sagt werden können, hat sich die Zahl der fremdenfeind-lichen Übergriffe in Deutschland verdreifacht. MeineDamen und Herren, wir sind ein Einwanderungslandohne „Aber“.
Wir sind ein Land, in dem das Recht auf Asyl gilt, undzwar erst recht ohne jedes „Aber“.
Wahr ist auch, dass der größte Teil unserer Gesell-schaft heute viel offener und einladender als vor 25 Jah-ren ist. Ja, auch wir Grüne haben uns verändert. Die Mi-grantinnen und Migranten haben Rechte, aber eben auchPflichten; das ist klar. Integration muss von allen Seitengeleistet werden. Ich sage das an die Adresse der Union,der SPD und auch derjenigen bei uns selbst, die den al-ten Frontstellungen immer noch nachhängen: Die Le-benslüge von damals und alle daraus folgenden Ideolo-gien haben wir viel zu lange mit uns herumgeschleppt.
Es reicht nicht, sich jetzt davon zu distanzieren undzuzugeben: Na gut, Deutschland ist doch ein Einwande-rungsland. Es reicht in diesem Fall auch nicht, einfachdie Realitäten anzuerkennen, sondern wir müssen sie ge-stalten. Nein, Herr Scheuer, das ist nicht wie Sand in derSahara. Deutschland ohne Einwanderer ist wie das Okto-berfest ohne Dirndl.
Herr Scheuer, wir schaufeln auch nicht den Sand in dieSahara, sondern Sie schaufeln den Sand in das Getriebeder deutschen Wirtschaft. Kommen Sie in der CSU rausaus Ihrer Ecke und machen Sie endlich mit – für ein mo-dernes Einwanderungsland!
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8030 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Katrin Göring-Eckardt
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Es geht darum, dass wir für diejenigen, die hier sind– wann immer sie hierhergekommen sind –, und für die-jenigen, die zu uns kommen – ohne Unterschied, warumund woher –, ein Heimatland werden. Deutschlandbraucht pro Jahr 300 000 Einwanderer. Das sagen alleExperten übereinstimmend. Wir brauchen ein echtesEinwanderungsgesetz und kein Einwanderungsverhinde-rungsgesetz.
Wir brauchen Kriterien. Wir brauchen das Recht aufStaatsbürgerschaft mit der Geburt. Das ist für uns selbst-verständlich. So buchstabieren wir Willkommen. Werhier geboren ist, ist auch Deutsche oder Deutscher,meine Damen und Herren.
Wir müssen uns auf globale Beschäftigte einstellen,die dieses Jahr hier und nächstes Jahr in Australien ar-beiten. Dem syrischen Arzt oder der eritreischen Pflege-kraft, die als Flüchtlinge hierherkamen, muss nicht nurermöglicht werden, hier zu arbeiten, sondern als echterEinwanderer und echte Einwanderin auch die deutscheStaatsbürgerschaft zu erhalten.
Deswegen sagen wir: Kriterienbasierte Einwanderungdarf kein starres System, kein Dauerkatalog und übri-gens auch keine „Ordre de Mutti“ werden. Es geht da-rum, zusammen über Auswahlkriterien und Gewichtungder Punkte eine jährliche Anpassung vorzunehmen unddarüber jedes Mal im Deutschen Bundestag zu diskutie-ren.Ein Einwanderungsgesetz ist aber auch eine doppelteVerpflichtung. Es bedeutet nämlich, sich um Migrationund Integration bzw. um das echte Zusammenleben zukümmern. Das gilt für diejenigen, die schon im Landsind, wie auch für die, die noch kommen. Es geht umZugang zu Bildung ohne Diskriminierung und um Ar-beit. Solange jemand, der Can Erdal heißt, bei der Woh-nungssuche immer noch behauptet, er sei Kai Schuster,stimmt etwas nicht in diesem Land.
Solange eine Frau, die Mürvet heißt, schon bei Eingangder Bewerbung aussortiert wird, ohne dass ihr Lebens-lauf und die Zeugnisse auch nur angeschaut werden,stimmt etwas ganz eindeutig nicht in diesem Land. Daszu ändern, ist die Aufgabe, vor der wir stehen.
Jetzt sagt auch der Bundesinnenminister, dass wirkein Einwanderungsgesetz brauchen. Wer hochqualifi-ziert sei, könne doch kommen. Die Bundesregierung hatin der Tat eine ganze Menge kleine Türen aufgemacht.Ein paar Tausend sind auch gekommen. Die Bundes-agentur für Arbeit gibt dazu eine Hilfe heraus: 26 engbedruckte Seiten. Auf diesen 26 Seiten werden 7 ver-schiedene Aufenthaltstitel erklärt. Es werden Ausnah-men für Schweizer und Kroaten aufgelistet. Es wirddefiniert, was Mangelberufe, Aufenthalts- und Nieder-lassungserlaubnis sind. Und so weiter. Wahrscheinlichhätten wir alle auch Schwierigkeiten, da durchzusteigen,und am Schluss wüssten wir nicht, was für uns zutrifft.Meine Damen und Herren, wenn man jemanden an-werben und einladen will, dann verbreitet man nicht26 Seiten, sondern man macht daraus eine Seite mit derÜberschrift „Kommen Sie zu uns!“.
Dass man einen Arbeitsplatz nachweisen muss, ist in-zwischen überholt. Das ist lebensfremd. Die im Thürin-ger Wald dringend benötigte Pflegekraft wird sich dortnicht bewerben, weil sie den schönen Ort Tabarz garnicht kennt. Wenn man einen Beruf hat, der hier ge-braucht wird, dann muss man hierherkommen könnenund Punkt, meine Damen und Herren.
Deutschland ist derzeit theoretisch das zweitattrak-tivste Land für Einwanderung weltweit. Praktisch attes-tiert uns die OECD wegen der bürokratischen Hürden,das deutsche Zuwanderungssystem sei – ich zitiere –„Anwerbestopp mit Ausnahmen“. Wir müssen dringenddie Perspektive ändern. Viele kleine Türen müssen zugroßen Toren werden, bei denen am Einlassschild ables-bar ist, welche klar definierten Voraussetzungen für Mi-gration gelten. Dann wird dieses Land reicher und viel-fältiger, und es wird mit ziemlicher Sicherheit aucherfolgreicher.Dann werden wir gemeinsam ein anderes Land, undzwar eines, in dem wir uns alle zu Hause fühlen und indem wir uns gegenseitig für unsere Herkunftsgeschichteinteressieren, aber auch wissen: Eine Zukunft haben wirgemeinsam. Das meine ich, wenn ich sage: So versteheich Heimat.
Deswegen fordere ich Sie auf: Machen Sie Schlussmit den Lebenslügen! Machen Sie Schluss mit der Büro-kratie! Hören Sie auf mit dem kleinkarierten Streit in derKoalition! Jetzt ist der richtige Moment. Die Bevölke-rung ist in ihrer übergroßen Mehrheit längst so weit.
Die Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und Kirchen:Alle sind bereit. Wir sollten uns an die Spitze der Bewe-gung stellen.Schluss mit Zaudern und Zögern! Schluss mit Sahara-Vergleichen! Legen wir los und sorgen für ein modernesEinwanderungsland!
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8031
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Vielen Dank, Katrin Göring-Eckardt. – Schönen gu-
ten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Guten
Morgen, liebe Gäste auf der Tribüne! – Nächster Redner
ist für die Bundesregierung Dr. Ole Schröder.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! In den letzten Wochen wurde von verschiedenenSeiten die Forderung nach einem Einwanderungsgesetzerhoben. Was die Zielrichtung eines solchen Gesetzessein soll, blieb dabei weithin unklar. Wenn man sich an-schaut, wer alles diese Forderung erhoben hat, wird ei-nes ganz deutlich: Mit der Forderung nach einem Ein-wanderungsgesetz werden ganz unterschiedliche Zieleverbunden. Die einen verbinden mit einem solchenneuen Gesetz eher eine Beschränkung der jetzigen Zu-wanderungsregelungen. Andere stellen sich dabei ehereine massive Ausweitung der Regelungen vor.Die Frage, die es also zu beantworten gilt, lautet: Wasbrauchen wir, und was haben wir schon? In dem Antragder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen heißt es hierzu:Die Bundesrepublik Deutschland braucht ein Ge-setz, das Einwanderung in ihrem wirtschaftlichenund arbeitsmarktpolitischen Interesse ermöglichtund zugleich ihrer menschenrechtlichen Verantwor-tung gerecht wird.
Ich denke, jeder hier im Saal wird dem zustimmenkönnen. Wir brauchen eine nach den wirtschaftlichenund arbeitsmarktpolitischen Interessen gesteuerte Zu-wanderung. Gleichzeitig ist es natürlich notwendig, dieAufnahme- und Integrationsbereitschaft des Landes zuberücksichtigen.
Mit Blick auf den demografischen Wandel bedeutet das,dass wir uns vor allem um Fachkräfte aus anderen Staa-ten außerhalb der EU bemühen müssen. Gleichzeitigmuss Deutschland natürlich seiner humanitären Verant-wortung gerecht werden. Wer nun einen Blick in § 1 Ab-satz 1 des geltenden Aufenthaltsgesetzes wirft, wird fest-stellen, dass genau das bereits Gegenstand des geltendenAufenthaltsgesetzes ist. Deutschland hat bereits einGesetz, das genau regelt, wer unter welchen Vorausset-zungen nach Deutschland kommen kann und einen Auf-enthaltstitel erhält. Das schließt die Arbeitsmigrationebenso ein wie Ausbildung und Studium, den Familien-nachzug sowie den Aufenthalt aus humanitären Grün-den.Mit unserer jetzigen Regelung ist es auch möglich,flexibel auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zu re-agieren, aber auch die langfristigen Entwicklungen imBlick zu behalten. Wir haben erst vor kurzem die BlaueKarte EU für Hochqualifizierte eingeführt. Die BlaueKarte EU wird sehr schnell in einem unbürokratischenVerfahren vergeben. Das ist der Grund, weshalb sichdiese Blaue Karte hier in Deutschland zu einem Erfolgs-modell entwickelt hat.
Mit dem Visum zur Arbeitsplatzsuche ermöglichen wirFachkräften, nach Deutschland zu kommen, um hierzum Beispiel Bewerbungsgespräche zu führen und inKontakt mit ihren zukünftigen Arbeitgebern zu treten.
Nicht nur für Hochqualifizierte, sondern auch imBereich der klassischen Ausbildungsberufe haben wirumfassende Neuregelungen getroffen. In sogenanntenMangelberufen kann eine Zuwanderung ebenso unbüro-kratisch erfolgen wie bei Hochqualifizierten. Die Berufe,in denen ein Mangel besteht, werden transparent in einerPositivliste veröffentlicht. Derzeit sind das 70 Berufe,insbesondere Gesundheits- und Pflegeberufe sowie Me-chatroniker- und Elektroberufe. Diese Positivliste wirdhalbjährlich überprüft. Die Ergebnisse und die entspre-chenden Anpassungen werden für jeden sichtbar im In-ternet veröffentlicht.Der Zuwanderung von Fachkräften stehen daher inDeutschland keine aufenthaltsrechtlichen Hürden mehrentgegen.
Das hat auch die OECD in ihrem jüngsten Bericht überdie Steuerung der arbeitsmarktorientierten Zuwanderungin Deutschland bestätigt. Sie hat unser System sehr ge-lobt als eines der innovativsten Systeme, die die moder-nen Herausforderungen wirklich anpacken.Wir haben uns aber ganz bewusst – darauf kommt esan – für ein nachfrageorientiertes System entschieden.Das heißt, Voraussetzung dafür, dass jemand nachDeutschland kommen kann, ist, dass ein konkreter Ar-beitsplatz in einem Betrieb nachgewiesen wird.
Das alternative System der Arbeitsmigration, das der-zeit in Deutschland diskutiert wird und das auch Sie inIhrem Antrag fordern, ist das Punktesystem, das geradekeinen nachfrage-, sondern einen angebotsorientiertenAnsatz verfolgt. Der Kerngedanke des Punktesystems istes, Menschen mit bestimmten Merkmalen und Qualifi-kationen unabhängig von einem konkreten Arbeitsplatz-angebot nach Deutschland zu holen. Dadurch entstehtein großer Pool an Arbeitskräften, und aus diesem Poolkann sich die Wirtschaft dann bedienen. Für die Wirt-schaft ist das natürlich höchst komfortabel.
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8032 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
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Aber was passiert denn mit denjenigen, für die dieWirtschaft kein Jobangebot hat? Was passiert mit denje-nigen, die keinen Job bekommen? Anders als in denklassischen Einwanderungsländern – darum geht es ja –überlassen wir mit unserem Sozialsystem diejenigen, diekeinen Job bekommen und die arbeitslos sind, nicht sichselbst, sondern wir haben den Anspruch, dass wir unsauch um diese Menschen kümmern, damit auch sie einwürdevolles Leben führen können. Genau da liegt derUnterschied. Das gilt es zu berücksichtigen.
Zu berücksichtigen gilt natürlich auch, dass eine hoheAnzahl von Menschen ungesteuert über das Asylsystemzuwandert. 200 000 Menschen waren es im letzten Jahr.Hinzu kommt der Zufluss über den EU-Arbeitsmarkt,wo wir null Beschränkung haben, sodass jeder aus derEU nach Deutschland zur Arbeitsaufnahme kommenkann. Zu berücksichtigen ist natürlich auch unsere geo-grafische Lage. Die USA haben zwei Grenzen, Kanadahat nur eine Grenze. Wir machen nicht mit, wenn es da-rum geht, möglichst viele billige Arbeitskräfte ins Landzu holen.
Lohndumping ist die Konsequenz, wenn Arbeitskräfteins Land geholt werden, ohne dass es einen konkretenJob für diese Arbeitskräfte gibt.
Zuwanderung auf Kosten unserer Sozialsysteme leh-nen wir ab.
Zuwanderung muss – das ist wichtig – auch immer mitIntegration einhergehen. Dabei spielt die Integrationsfä-higkeit der Gesellschaft eine Rolle, aber natürlich auchdie Integrationsmöglichkeiten eines jeden Einzelnen. In-tegration findet eben am Arbeitsplatz statt, Integrationfindet nicht in der Arbeitslosigkeit statt.
Unbürokratischer ist ein Punktesystem gerade nicht.Das zeigen die Erfahrungen aus Kanada. Da dauert esMonate, zum Teil sogar Jahre, bis irgendwann jemanddie Möglichkeit hat, ins Land zu kommen.
Vor allen Dingen bringt ein Punktesystem Angebot undNachfrage nicht zusammen. Es ist bürokratisch, es istplanwirtschaftlich und entspricht noch nicht einmal denAnforderungen der Wirtschaft.
Ich halte daher ein solches Punktesystem nicht für denrichtigen Weg.Das bedeutet aber nicht – deshalb ist eine solche De-batte vielleicht auch ganz gut –, dass wir keinen Ver-besserungsbedarf in Deutschland haben. Potenzial fürVerbesserungen sehe ich beispielsweise bei der Kommu-nikation über bestehende Möglichkeiten. Das zeigt auchdas Niveau, auf dem diese Debatte zum Teil geführtwird.
Hier sind aber keine neuen Gesetze gefordert, sondernhier sind wir alle gefordert.
Hier sind vor allen Dingen die Außenhandelskammerngefordert, und hier sind die Botschaften gefordert, umdeutlich zu machen, welche Möglichkeiten es gibt. Wirmüssen gerade die mittelständischen Unternehmen un-terstützen, wenn es darum geht, Fachkräfte in Drittstaa-ten anzuwerben. Wir sollten daher gemeinsam mit derWirtschaft über die Bereitstellung zum Beispiel einerIT-Plattform nachdenken, wo sich ausländische Bewer-ber für Jobs bewerben können. Auf diese Bewerbungenkönnen dann beispielsweise Wirtschaftsunternehmen zu-greifen. Da könnte Kanada in der Tat Vorbild sein.
Auch bei der Anerkennung ausländischer Abschlüssedurch Nachqualifizierung in Deutschland sehe ich Ver-besserungsbedarf. Dazu brauchen wir allerdings keinneues Einwanderungsgesetz. Im Gegenteil: Ein neuesEinwanderungsgesetz mit einem überflüssigen Punkte-system und einem aufwendigen Gesetzgebungsverfahrenwäre das absolute Gegenteil von dem, was wir jetztbrauchen, auch wenn viele hier immer gerne neue Ge-setze machen. Insbesondere Juristen machen gerne neueGesetze. Aber damit ändern wir nicht die Welt. Die Weltändern und unser Land verbessern wir nur dann, wennwir bestehende Gesetze implementieren und anwenden.
Notwendig sind also gemeinsame Anstrengungen vonWirtschaft und Politik, um die bestehenden Möglichkei-ten zu nutzen. Wir haben dabei keine Zeit zu verlieren;denn jeder erfolgreiche Zuwanderer, der sich hier inDeutschland erfolgreich integriert, ist am Ende nicht nurein Gewinn für die Unternehmen, sondern auch für unsergesamtes Land.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8033
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Vielen Dank, Kollege Dr. Schröder. – Nächste Redne-
rin in der Debatte: Petra Pau für die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine erste Debatte im Bundestag über ein Einwande-
rungsgesetz liegt knapp 15 Jahre zurück. Damals
regierte Rot-Grün. Uns lagen Empfehlungen der
Süssmuth-Kommission vor, benannt nach der einstigen
Präsidentin des Bundestages. Der zugrundeliegende
Auftrag stammte vom damaligen Bundesinnenminister
Otto Schily, SPD. Dieser Auftrag war sehr restriktiv
gefasst. Gleichwohl mahnte die Kommission, Zu- und
Einwanderung jeder Art sei nicht auf die Innenpolitik
reduzierbar. Sie sei zudem Prinzipien wie der Menschen-
würde, der Demokratie sowie Werten wie Gerechtigkeit
und Solidarität verpflichtet.
Außerdem gelte es, „für Toleranz, Akzeptanz und wech-
selseitigen Respekt“ innerhalb der Bevölkerung zu wer-
ben; so hieß es im Bericht der Kommission.
Die Widersprüche waren übersichtlich: Ich warb in
der damaligen Debatte für eine Willkommenskultur, die
Union für eine deutsche Leitkultur, was immer das auch
sei. Wir wollten eine menschenrechtliche Einwande-
rung, andere dagegen eine profitable Zuwanderung, und
das Ganze auf Zeit. Alle diese Konflikte sind nicht aus
der Welt – nicht im geltenden Gesetz und nicht in der
Praxis. Auch deshalb begrüßt die Linke eine neue Initia-
tive.
Zum Rückblick gehört auch: Der Gesetzentwurf von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen blieb damals hinter
den Vorschlägen der Süssmuth-Kommission zurück.
CDU und CSU sorgten für weitere Restriktionen. Initia-
tiven und Verbände sprachen damals von einem Einwan-
derungsverhinderungsgesetz. Hinzu kam die „Wowereit-
Panne“ im Bundesrat: Die Brandenburger SPD stimmte
mit Ja, die Brandenburger CDU stimmte mit Nein. Bun-
desratspräsident Wowereit wertete das dennoch als
Brandenburger Ja. Das und damit das ganze Gesetz wur-
den dann vor Gericht kassiert. Es kam zu erneuten Ver-
handlungen zwischen Bundestag und Bundesrat. Heraus
kam 2004/2005 ein noch schlechterer Kompromiss. Seit-
her sind zehn Jahre vergangen. Es wird also höchste Zeit
für ein modernes Einwanderungsrecht mit einer guten
Willkommenskultur.
Bündnis 90/Die Grünen haben dafür einen Antrag
vorgelegt. Etlichen Gedanken und Vorhaben kann die
Linke folgen. Über Details und Differenzen wird in den
Ausschüssen zu sprechen sein. Deshalb möchte ich
heute hier etwas grundsätzlicher bleiben:
Erstens. Einwanderung ist derzeit auch ein gesell-
schaftliches Thema. Ich kann nur hoffen und appellie-
ren: Möge niemand dieses Thema parteipolitisch miss-
deuten, um bei Pegida oder AfD-Wählern auf
Stimmenfang zu gehen. Das käme uns alle ganz schlecht
zu stehen.
Zweitens. Wir reden über Menschen mit Rechten und
nicht über Roboter.
Menschen teilt man nicht in nützlich, unnütz oder gar
schädlich ein.
Wer das dennoch versucht, und sei es über Punktesys-
teme, entfernt sich gedanklich von Artikel 1 Grundge-
setz.
Drittens. Bei alledem geht es auch immer um Integra-
tion. Die wiederum bleibt ein zweiseitiger Prozess. Sie
fordert Einwandernde ebenso wie die aufnehmende Ge-
sellschaft. Maßstab für dieses Miteinander ist das
Grundgesetz und kein deutschnationaler Dünkel.
Viertens. Ein transparentes Einwanderungsrecht und
ein humanes Asylrecht sind zweierlei. Sie dürfen weder
verwechselt noch vermengt werden. Für die Linke heißt
das auch: Ein neues Einwanderungsgesetz ersetzt keine
bessere Flüchtlingspolitik. Diese bleibt überfällig.
Fünftens. Wenn wir über Einwanderung reden, dann
reden wir nicht nur darüber, mit welchem Recht Men-
schen einwandern dürfen, sondern auch darüber, wel-
ches Recht Eingewanderten gebührt. Die Spanne dazu
reicht vom Wahlrecht bis zur doppelten Staatsbürger-
schaft.
Sechstens. Wir erleben derzeit, wie sich rassistisches
Gedankengut enthemmt entlädt. Dem müssen wir ge-
meinsam wehren. Ob dies gelingt, hängt auch von unse-
rer Debattenkultur zum Einwanderungsgesetz ab. Wir
sollten die Gelegenheit ergreifen, Ressentiments abzu-
bauen; und wir sollten sie auf gar keinen Fall bedienen.
Vielen Dank, Petra Pau. – Nächster Redner in der De-batte: Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.
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8034 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich weiß nicht, ob Ihnen das eben aufgefallen ist: Wirspielen hier ein bisschen verkehrte Welt. Der KollegeStaatssekretär Dr. Schröder wandte sich gegen ein Punk-tesystem mit einem Argument, das normalerweise ausder Gewerkschaftssicht hätte kommen können:Lohndumping sei zu befürchten. Die Linkspartei hatauch ihre Probleme mit dem Punktesystem. Jetzt müss-ten wir einmal überlegen, wo welche Positionen mit wel-chen Argumenten bestehen, und das sortieren.Um die Botschaft im Kern vorweg zu bringen: Manmuss nicht jeden Tag das Rad neu erfinden, schon garnicht alle vier Räder. Man muss sich aber manchmal Ge-danken um eine neue Bereifung machen, und man mussdie Räder vielleicht auch manchmal auswuchten. Dasheißt, selbst wenn man ein gutes Recht hat, hindert dasnicht daran, dieses Recht noch besser zu machen. Siewissen ja: Das Bessere ist nun einmal der Feind des Gu-ten.
Von daher gesehen bin ich froh, dass dieses Themajetzt wieder – Kollegin Pau hat ja dankenswerterweiseauf die Historie verwiesen – bei uns und in der Gesell-schaft debattiert wird. Nachdem annähernd zeitgleichunsere Fraktion und unser FraktionsvorsitzenderThomas Oppermann sowie Ihr GeneralsekretärDr. Tauber das zum Thema gemacht haben, ist jetzt auchwieder die Partei Bündnis 90/Die Grünen dabei: Will-kommen im Klub!Wenn ich daran denke, wer vor 13, 14, 15 Jahrenschon dabei war – ich nenne nur Volker Beck,Marieluise Beck, Cem Özdemir und Claudia Roth –,dann wundert mich auch nicht, dass die Ideen, die jetztim Antrag der Grünen stehen, im Wesentlichen auf daszurückgeführt werden können, was wir damals schondiskutiert haben.Jetzt allerdings leidet meine Fröhlichkeit und Freund-lichkeit darunter, dass die Union in dem Gesetzgebungs-verfahren damals leider einige maßgebende Verwässe-rungen und Verschlechterungen durchgesetzt hat. Weiljenes Gesetz im Bundesrat zustimmungsbedürftig war– darauf ist hingewiesen worden –, mussten wir aufdiese Verschlechterungen eingehen. Dazu gehört, dasswir die Kettenduldung nicht wegbekommen haben.Dazu gehört aber auch, dass ein punktegesteuertes Aus-wahlsystem für die Einwanderung – damals § 20 – in derVersenkung verschwunden ist. Höchste Zeit, dass wirdas jetzt wieder einmal diskutieren!
Die Notwendigkeit ist größer geworden. Wir wusstenim Prinzip auch schon damals, dass wir aufgrund der de-mografischen Entwicklung in Deutschland im Jahr 205010 Millionen, 15 Millionen, vielleicht sogar 20 Millio-nen weniger Einwohner in Deutschland haben werden.Heute ist das Problem deswegen dringlicher, weil wir15 Jahre näher an dieser Jahreszahl sind und wissen,dass diejenigen, die heute nicht geboren sind, 2050 auchkeine Eltern sein können und dementsprechend Kinderfehlen.Jetzt könnte man etwas flapsig sagen: Was macht das?Dann haben wir alle mehr Platz! – Wunderbar, aber dieBedrohung für unser gesamtes Gesellschaftssystem isterheblich. Um das zu verdeutlichen, will ich auf Folgen-des aufmerksam machen: Wir werden älter, und wir wer-den weniger. Das bedeutet etwa für das Jahr 2050, dassnicht – wie heute – etwa zwei Arbeitnehmer einen Rent-ner ernähren und finanzieren müssen, sondern dann wirddas Verhältnis eins zu eins sein.
Das heißt im Übrigen auch, dass eine ganze Reihe vonganz wichtigen Versorgungsstrukturen von wenigerMenschen finanziert werden muss.Ich weiß, wovon ich rede; denn nicht nur in Ost-deutschland, sondern sogar in einem Landkreis des Lan-des Hessen – er gehört zur Hälfte zu meinem Wahlkreis– sind heute schon Abwanderung und Bevölkerungs-schwund Realität. Da machen sich die Bürgermeister zuRecht Gedanken über die Frage, wie denn das mit derAufrechterhaltung der Infrastruktur gehen soll; dasreicht von Kanal über Wasser bis hin zum Verkehr. Ichsage aber auch: Wenn die Wege zu Kindergärten undSchulen immer länger werden, weil es aufgrund des Kin-dermangels immer weniger davon gibt, dann ist auch dasein Problem, das uns nicht kaltlassen kann.
In der zusammenfassenden Betrachtung, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, wird klar, dass wir im Jahre 2050etwa 15 Millionen weniger Personen im Erwerbslebenhaben werden. Um das einmal ins Verhältnis zu setzen:Das ist ein Drittel weniger. Spätestens an der Stelle mussbei uns allen das Nachdenken einsetzen; denn wir allehier sind für vorausschauende Politik gewählt, und diemuss sich auch auf solche Situationen einstellen.
Ich will zwei Vorbemerkungen machen, die aus derSicht der SPD-Fraktion ganz besonders wichtig sind.Die erste lautet: Wir müssen uns verstärkt und mit mehrMühe um diejenigen kümmern, die bereits hier sind undals Erwerbspersonen infrage kommen.
Dazu gehören diejenigen, die bisher nicht am Erwerbsle-ben teilnehmen konnten, weil sie dafür nicht qualifiziertgenug waren – Stichwort: zweite, dritte Chance. Dazugehört aber auch das Potenzial derjenigen Frauen, diezum Teil gegen ihren Willen noch nicht in ihren Berufzurückkehren können, weil etwa die Kinderbetreuungs-möglichkeiten noch nicht optimal sind. Auch daraufwerden wir unser Augenmerk legen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8035
Rüdiger Veit
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Die zweite Vorbemerkung ist mindestens genausowichtig: Man kann Nützlichkeitserwägungen bei der Ar-beitsmigration – da stimme ich mit den Vorrednern, ins-besondere mit Petra Pau völlig überein – nicht gegenunsere Verpflichtung aufwiegen, schutzbedürftigeFlüchtlinge in Deutschland aufzunehmen.
Ich setze aber hinzu: Wenn man hier in jeder Hinsichtvorbildlich, korrekt – sicherlich nie ganz ausreichend –seine Verpflichtungen gegenüber den humanitären Zu-wanderungsbewegungen erfüllt, dann muss es, dannkann es angesichts unseres demografischen Aufbaus amRande auch erlaubt sein, Nützlichkeitserwägungen anzu-stellen. Dann ist das erlaubt, meine Damen und Herren.
Es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die einemda in den Sinn kommen, beispielsweise den sogenanntenZweckwechsel vom Flüchtling zum arbeitsmarktorien-tierten Zuwanderer. Den haben wir in der Großen Ko-alition in § 18 a Arbeitsmigrationssteuerungsgesetzübrigens schon eingeführt; das galt für die Hochqualifi-zierten, aber das reicht natürlich nicht. Das ist eine derStellschrauben, die man bedienen kann.Wir müssen uns aber auch Gedanken darüber ma-chen, ob nicht jemand, der hier in Deutschland seineHochschulausbildung oder Berufsausbildung absolvierthat, dann auch für einen längeren Zeitraum hier bleibendarf, um sich adäquate Arbeit zu suchen.
– Herr Kollege Brand, 18 Monate ist vielleicht ein biss-chen wenig. – Auch da können wir noch besser werden.
Wir müssen uns auch Gedanken darüber machen, obwir das im Rahmen der Bluecard-Zuwanderung nichtauch auf diejenigen erstrecken sollten – die europäischeRichtlinie würde das zulassen –, die eine entsprechendeBerufserfahrung, aber keine Spezialausbildung haben.Da gibt es noch eine Regelungslücke, die wir ausfüllenkönnten.Und wir müssen uns – Stichwort: Erschließung derPotenziale – um eine bessere Anerkennung ausländi-scher Abschlüsse kümmern. Auch dort ist einiges liegengeblieben; auch das läuft noch nicht rund.
Nicht zu vergessen: Wir alle haben die Veranlassung,uns vom ersten Tag an um die Integration von Zuwande-rern, gleich aus welchen Gründen, zu kümmern. Er-staunlicherweise bzw. lobenswerterweise steht in derKoalitionsvereinbarung, dass wir uns dies vorgenommenhaben. Wir müssen nur langsam mit der Umsetzung be-ginnen; denn sonst sind es verlorene Jahre für die Betrof-fenen und letztendlich für uns alle. Hier gibt es alsoHandlungsbedarf.
So könnte man die Reihe weiter fortsetzen. Ichstimme im Übrigen zu, dass wir uns in der Außendarstel-lung, in der Werbung und in der Darstellung der Syste-matik noch ein bisschen verbessern könnten. Im Kerngeht es heute darum, einem damals nicht zum Zuge ge-kommenen System, nämlich einer angebotsorientiertenAnwerbung von Arbeitskräften, eine Chance zu geben.Ich sage noch einmal: Das ist nur ein Baustein und er-setzt nicht alle anderen. Er beschränkt nicht alle anderen.Er muss hinzutreten, damit der gewünschte Effekt ein-treten kann.
Wenn in diesem Zusammenhang immer von Kanadadie Rede ist, dann müssen wir uns auch der aktuellenEntwicklung dort zuwenden. Die Kanadier – ähnlich wiedie Australier – haben, was wir alle nicht wollen, eineQuotierung der Zuwanderung aus humanitären Grün-den – übrigens auf eine sehr kleine Zahl. Das ist schonmal gar nicht vergleichbar mit unserem System und denErfordernissen bei uns in Europa. Die Kanadier habenjetzt von dem früheren Punktesystem, bei dem sich jederhinten anstellen musste und irgendwann über seinen An-trag entschieden wurde, zum sogenannten Express-Entry-System gewechselt, das, soweit ich es nachlesenkonnte, bedeutet: Zuwanderungswillige wenden sich andie kanadische Regierung bzw. Einwanderungsbehördeund legen ihre Potenziale, Chancen und Möglichkeitendar. Dies wird in eine Datenbank aufgenommen. Wenndann ein Arbeitgeber in Kanada auf diese Datenbankzugreift und jemanden gefunden hat, der zu dem Profilpasst, das er braucht, dann beginnt der eigentliche Pro-zess. Allein die Tatsache, dass ein Arbeitgeber willensund in der Lage ist, einer bestimmten Person einen be-stimmten Arbeitsplatz anzubieten – hier findet sichwieder die nachfrageorientierte Komponente, und hierhaben wir den Anflug einer Möglichkeit, sich zu eini-gen –, fällt schon mit mehr als der Hälfte der Punkte insGewicht. Wir könnten auch in diesem Bereich von ande-ren lernen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Dinge sagen;leider endet meine Redezeit gleich.
Ja, so ist es.
Jetzt wollte ich gerade anheben, die Kanzlerin zu lo-ben. Das kommt bei mir an dieser Stelle wahrhaft seltenvor.
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8036 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
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Möglicherweise hat das dann jemand zu bezahlen.
Die Kanzlerin ist normalerweise zuwartend in ihren
Entscheidungen und deswegen heute in der Süddeut-
schen Zeitung wieder einmal heftig kritisiert worden. Ich
finde es per saldo gar nicht so schlecht, dass sie, bevor
sie die neu angefachte Debatte zu ersticken versucht, ei-
nen Augenblick zuwartet und dass eine hoffentlich qua-
lifizierte Debatte zu einer eigenen Meinungsbildung
führt. Sie sehen daran, da ist noch Hoffnung.
Am Schluss möchte ich allen Gegnern, die Angst ha-
ben, es könnten zu viele kommen und unsere Sozialsys-
teme oder unseren Arbeitsmarkt bedrohen, ein Zitat des
Präsidenten des Bundesamtes für Migration und Flücht-
linge aus Nürnberg mit auf den Weg geben. Er hat ges-
tern in einem Interview gesagt: Man muss sich auch
einmal entscheiden, ob man den Zuwanderern eher vor-
werfen will, dass sie Sozialleistungen kassieren, oder,
dass sie uns die Jobs wegnehmen. Beides gleichzeitig
können sie schlecht tun.
Vielen Dank, Rüdiger Veit. – Nächster Redner in der
Debatte: Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-
ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist gut, dass wir heute
diese Debatte über das Einwanderungsrecht führen. Es
ist nicht die erste Debatte zum Zuwanderungsrecht, die
ich hier im Deutschen Bundestag bestreiten darf. Meis-
tens sind die Debatten sehr emotional und sehr aufge-
heizt. Ich glaube, angesichts der derzeitigen Stimmung
in unserem Land sollten wir uns alle, egal welcher Frak-
tion wir angehören, daran orientieren, dass wir eine
sachliche, eine objektive Debatte führen. Ich finde es
gut, dass wir heute diese Debatte führen, weil sie wieder
Gelegenheit bietet, klarzumachen, wo wir stehen, wie
die Fakten sind und was eventuell, wenn überhaupt, ge-
ändert werden sollte.
Ich persönlich habe den Eindruck – ich sage dies ganz
offen –, dass der Antrag, den die Grünen heute zur De-
batte stellen, den falschen Eindruck vermittelt. Er ver-
mittelt den Eindruck, wir bräuchten in Deutschland ein
modernes Einwanderungsgesetz.
Ich möchte dem, meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen, ganz klar entgegenhalten: Wir haben schon
längst ein außerordentlich modernes und fortschrittliches
Zuwanderungsrecht.
Sehr verehrte Kollegin Göring-Eckardt, Sie haben auf
die Kritik des CSU-Generalsekretärs Andreas Scheuer
hingewiesen. Ich gebe Ihnen in einem Punkt recht – Sie
werden jetzt wahrscheinlich überrascht sein –: Auch ich
bin der Meinung, dass das Münchner Oktoberfest nicht
ohne Dirndl geht. Ich sage das ganz bewusst, weil die
Kollegin Kotting-Uhl aus Ihren Reihen einmal sehr mas-
siv Kritik am Dirndl geübt hat,
als sie meinte, das Dirndl der Parlamentarischen Staats-
sekretärin Dorothee Bär sei rückständig. Offenbar hat
bei den Grünen schon insoweit ein Umdenken stattge-
funden, als auch Sie Dirndl für essenziell halten und sich
das Oktoberfest nicht ohne Dirndl vorstellen können.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von den
Grünen – –
Herr Kollege, erlauben Sie eine Bemerkung oder
Zwischenfrage einer jüngst Dirndl tragenden Kollegin
namens Kotting-Uhl?
Selbstverständlich, sehr gerne.
Herr Kollege, wenn Sie schon meinen, diese etwasunpassende Debatte hier noch einmal aufwärmen zumüssen, dann will ich Sie schon ein bisschen korrigie-ren. Ich war niemals gegen das Dirndl auf dem Oktober-fest
und habe das auch in dem nun längst beendeten kleinenZwist mit der Kollegin Bär von Anfang an klargemacht.Ich habe gesagt: Es gibt einen gewissen Unterschiedzwischen dem Oktoberfest und dem Deutschen Bundes-tag.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8037
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Sehr verehrte Frau Kollegin Kotting-Uhl, ich bitte
wirklich um Verständnis. Ich wollte Ihnen jetzt auch
nicht zu nahe treten. Es ist nur so:
Sie haben das Dirndl als rückständig bezeichnet. Das ist
kritikwürdig. Ich wollte insoweit nur die Debatte etwas
auflockern, die aus meiner Sicht sehr ernst ist.
Ich möchte in Bezug auf das Oktoberfest noch eines
in aller Ernsthaftigkeit und Seriosität sagen: Wenn man
das Münchner Oktoberfest besucht – gerade auch die
Frau Präsidentin hat immer sehr ansehnliche und fesche
Dirndl an – –
Ja, das stimmt.
Wenn man das Oktoberfest besucht, sieht man auch,was gelebte Integration ist. Denn gerade auf demMünchner Oktoberfest sind Besucher von nah und fernherzlich willkommen.
Gerade das Oktoberfest ist ein Indiz dafür, wie weltoffenund tolerant der Freistaat Bayern ist.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, nunzu den Fakten. Wir haben in Deutschland derzeit diezweithöchste Zuwanderung auf dem gesamten Globus.Nach den USA verzeichnen wir in Deutschland diehöchste Zuwanderung aller Länder.
Sie mögen ja sagen: Wir glauben der CDU/CSUnicht, wenn sie unser Zuwanderungsrecht lobt. – Dannglauben Sie doch zumindest der OECD. Die OECD hatin ihrem Deutschland-Bericht 2013 das deutsche Zuwan-derungsrecht ausdrücklich gelobt. Die OECD hat aus-drücklich darauf hingewiesen, dass unser Zuwande-rungsrecht sehr geringe Hürden für die Zuwanderungvon nichteuropäischen Fachkräften aufweist.Es ist unstreitig, meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen, dass wir auch in den nächsten Jahren undwohl sogar in den nächsten Jahrzehnten verstärkt Fach-kräftezuwanderung benötigen. Aber ich sage dazu auchganz offen: Aus meiner Sicht sind wir mit den geltendenRegelungen, die wir heute haben, durchaus in der Lage,den erhöhten Bedarfen der Wirtschaft entsprechendRechnung zu tragen. Ich möchte auch darauf hinweisen:Wir haben in den letzten Jahren unser Zuwanderungs-recht immer wieder geändert und aus meiner Sicht suk-zessive verbessert.Häufig wird in diesem Zusammenhang Kanada ge-nannt. Es gibt ganz entscheidende Unterschiede zwi-schen Deutschland und Kanada. In Kanada gibt es keineEU-Freizügigkeit. Drei Viertel der Zuwanderer, die nachDeutschland kommen, kommen aus den anderen 27 Mit-gliedsländern der Europäischen Union.
Wir haben seit dem 1. August 2012 ein Bluecard-Gesetz,das wirklich als Erfolgsschlager zu bezeichnen ist.
90 Prozent aller Zuwanderer, die auf Grundlage derBluecard-Richtlinie in die Europäische Union kommen,kommen nach Deutschland. Wir haben die Mindestver-dienstgrenzen deutlich reduziert.
Heute ist es so: Wenn man Angehöriger eines Mangelbe-rufes ist, dann muss man nur ungefähr 37 000 Eurobrutto verdienen, um ohne jegliche Vorrangprüfung nachDeutschland kommen zu können. Ich möchte betonen:Es sind insgesamt 70 Berufe in die sogenannte Positiv-liste aufgenommen worden. Für Akademiker gilt dieMindestverdienstgrenze von 37 000 Euro generell, undfür 70 Berufe aus dem Gesundheits- und Pflegebereich,aus dem Mechatronikbereich und aus dem Bereich desElektroingenieurwesens gilt ebenfalls die Mindestver-dienstgrenze von 37 000 Euro. Ich möchte betonen: Ichbin wirklich sehr wirtschaftsaffin und sehr wirtschafts-freundlich; aber die Wirtschaft darf es sich nicht zuleicht machen: Hochqualifizierte Fachkräfte müssenauch entsprechend bezahlt werden.
Die Mindestverdienstgrenze von 37 000 Euro darf keineBarriere darstellen.Es kann nicht sein – um auch das in aller Deutlichkeitzu sagen –, dass wir es der Wirtschaft leicht machen, in-dem wir die Verdienstgrenzen immer weiter senken. Da-mit erhöhen wir den Anreiz, nach Deutschland zu kom-men. Die Wirtschaft kann sich dann die besten Kräfteheraussuchen, und der Rest liegt der Solidargemein-schaft auf der Tasche und belastet die Sozialkassen.
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8038 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Stephan Mayer
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Wir haben darüber hinaus viele Vorschriften geschaf-fen, die der Zuwanderung von Selbstständigen, Unter-nehmensgründern und Forschern sehr entgegenkommen.Bei Forschern und Wissenschaftlern gelten beispiels-weise überhaupt keine Mindestverdienstgrenzen.Wir haben aus meiner Sicht auch außerordentlich at-traktive Regelungen für Studenten geschaffen. Im Jahr2013 sind 86 000 Menschen aus dem nichteuropäischenAusland allein aufgrund der Bildungsangebote nachDeutschland gekommen. Man kann nicht partout be-haupten, dass dies keine attraktiven Regelungen seien.Wenn jemand in Deutschland sein Hochschulstudiumabsolviert hat, dann hat er 18 Monate Zeit, einen Ar-beitsplatz zu finden. Ich sage ganz offen: Wem es in18 Monaten nicht gelingt, einen Arbeitsplatz zu finden,der findet auch in zwei oder drei Jahren keinen Arbeits-platz.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
Bemerkung einer SPD-Kollegin?
Selbstverständlich.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Vielen Dank, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen. –
Ich habe mich vor allem deshalb zu Wort gemeldet, weil
Sie den Hochschulbereich angesprochen haben. Sie ha-
ben gesagt, dass 18 Monate ausreichen, um einen Ar-
beitsplatz zu finden. Dabei wissen Sie sehr wohl, dass
Studien belegen, dass sich Menschen, die einen auslän-
disch klingenden Namen haben, fünfmal häufiger be-
werben müssen als Menschen, die einen deutschen Na-
men haben. Wie wollen Sie das angesichts der Rhetorik,
die Sie hier vorbringen, ändern? Warum ist es nicht
möglich, die Wirtschaft durch anonymisierte Bewerbun-
gen dazu zu bewegen, diese Diskriminierung sein zu las-
sen?
Meine sehr verehrte Kollegin, um es klar zu sagen:Ich bin kein Anhänger von anonymisierten Bewerbun-gen. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Arbeitge-ber ein Anrecht darauf hat, zu erfahren, mit wem er es zutun hat, wer sich konkret bewirbt.
Ich gestehe aber durchaus zu, dass wir im Bereich derBewerbungen noch das eine oder andere verbessern kön-nen.Nur, werte Kollegen, wie sieht denn die Realität inDeutschland aus? Wir haben in vielen Landesteilen mitt-lerweile Vollbeschäftigung, und zwar nicht nur in Ba-den-Württemberg und auch nicht nur in Bayern. Wennich nach Eisenach blicke, wenn ich nach Oldenburg bli-cke, aber auch, wenn ich in viele Teile Süddeutschlandsblicke, dann stelle ich fest, dass nicht der Arbeitnehmerbzw. der Bewerber in der strukturell benachteiligtenPosition ist. Vielmehr suchen die Arbeitgeber händerin-gend nach geeigneten Bewerbern.Ich bitte Sie darum, nicht den Eindruck zu vermitteln,dass in Deutschland momentan Notstand herrscht. Esstimmt: Wir haben immer noch 3 Millionen Arbeitslose;das gilt es zu betonen, gerade in Bezug auf das wichtigeThema Einwanderungsrecht. Wir müssen doch vor allemmehr dafür tun, dass die 3 Millionen Arbeitslose, die esin Deutschland immer noch gibt – das ist immer noch zuviel –, nachqualifiziert bzw. weitergebildet werden, da-mit sie auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen können.Ich möchte Sie wirklich bitten, hier nicht den Eindruckzu vermitteln, dass es derzeit überaus schwierig sei unddass die Barrieren zu hoch seien, um in Deutschland ei-nen Arbeitsplatz zu bekommen.Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wirhaben aus meiner Sicht ein sehr differenziertes, viel-leicht auch ein sehr kompliziertes Zuwanderungsrecht.Ich bin auch der Meinung, man könnte, was die Über-sichtlichkeit anbelangt, das eine oder andere durchausverbessern. Aber es muss – und das ist die Conclusio ausdieser Debatte – bei dem Grundsatz bleiben, dass die Zu-wanderung von nichteuropäischen Fachkräften nachDeutschland klar an den Nachweis eines konkreten Ar-beitsplatzes gebunden ist.Da Kanada in diesem Zusammenhang so häufig zi-tiert wird: Die Kanadier sind kein gutes Beispiel; dennsie haben gerade eben eine Rolle rückwärts vollzogen.Die Kanadier haben ab dem 1. Januar dieses Jahres ihrPunktesystem dahin gehend geändert,
dass nur 25 000 Zuwanderern ohne konkreten Arbeits-platznachweis die Zuwanderung ermöglicht wird. DieKanadier haben das geändert, weil interessanterweisedie Arbeitslosigkeit in Kanada derzeit höher ist als inDeutschland und es in Kanada sehr viele arbeitsloseAkademiker gibt, die zwar aufgrund des Punktesystemsnach Kanada einreisen durften, dort aber entweder kei-nen Arbeitsplatz gefunden oder ihn schnell wieder verlo-ren haben. Die Kanadier haben ihr nachfrageorientiertesZuwanderungsrecht jetzt also geändert und an das deut-sche Zuwanderungsrecht angenähert. Insofern wäre es,glaube ich, falsch, dem alten kanadischen Vorbild zu fol-gen. Das Gegenteil ist richtig.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8039
Stephan Mayer
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Konkret zum Antrag der Grünen: Ich finde es wirk-lich schade – ich sage das hier in aller Offenheit –, dassSie zwei Rechtsbereiche miteinander verbinden, dieüberhaupt nichts miteinander zu tun haben: Sie verbin-den das Zuwanderungsrecht mit dem Staatsangehörig-keitsrecht.
In Ihrem Antrag lese ich, dass Sie sich zum einen für diekomplette Mehrstaatigkeit aussprechen und zum anderenunser Staatsangehörigkeitsrecht dahin gehend ändernwollen, dass die Kinder von ausländischen Eltern, vondenen sich nur ein Elternteil rechtmäßig in Deutschlandaufhält, automatisch die deutsche Staatsangehörigkeitbekommen.
Dazu sage ich Ihnen hier klipp und klar: Das ist mit uns,das ist mit der CDU/CSU nicht zu machen.
Wir sollten uns wirklich davor hüten, den Bereich desStaatsangehörigkeitsrechts mit dem wichtigen Bereichdes Zuwanderungsrechts zu vermengen. Beides hat zu-nächst überhaupt nichts miteinander zu tun.Wir haben ein gutes Zuwanderungsrecht; aber wir re-den vielleicht noch zu wenig darüber. Das möchte ichzum Abschluss in aller Deutlichkeit sagen.
Diesbezüglich sind viele gefordert. Ich nehme die Politikdabei gar nicht aus, ich sehe aber vor allem die Wirt-schaft, die Außenhandelskammern, die Botschaften unddie Generalkonsulate in der Verantwortung, noch mehrfür unser heutiges Zuwanderungsrecht zu werben und zubetonen, wie gut unser Zuwanderungsrecht ist. Es gibtdurchaus positive Beispiele, zum Beispiel das Projektder GIZ zur Anwerbung von Fachkräften aus Ostasienoder die Make-it-in-Germany-Website und die entspre-chende Kampagne; aber diesbezüglich kann man mit Si-cherheit noch mehr Aufklärungsarbeit leisten. In dennächsten Wochen und Monaten sollte der Fokus daraufgerichtet werden.Wie gesagt, meiner Ansicht nach ist es gut, dass wirdiese Debatte führen, weil sie eine hervorragende Gele-genheit bietet, darzustellen, dass wir ein exzellentes,sehr fortschrittliches und modernes Zuwanderungsrechthaben. Darauf können wir alle stolz sein.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Mayer. – Nächste Redne-
rin in der Debatte: Sabine Zimmermann für die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Zuwanderung ist für unsere Gesellschaft einegroße Bereicherung. Wer aber auf Abschottung setztoder versucht, Menschen, die zu uns kommen, nachNützlichkeit auszuwählen, muss sich fragen lassen, ob erwirklich im Hier und Jetzt lebt und ob er die deutscheGeschichte überhaupt verstanden hat.
In Deutschland leben inzwischen etwa 16 MillionenMenschen mit einem Migrationshintergrund. Fast jededritte Familie hat ausländische Wurzeln. Aber leider hatdiese Regierung das immer noch nicht verstanden. Sietut viel zu wenig für eine offene Willkommenskultur,und sie tut viel zu wenig, um die Menschen, die zu unskommen, mit ordentlichen Angeboten zu versorgen.
Insbesondere seitens der CSU ist immer wieder von So-zialtourismus die Rede. Besonders Starrköpfige unter Ih-nen meinen – und das im 21. Jahrhundert –, dass andereKulturen mit unserer Gesellschaft nicht zu vereinbarenseien.
Meine Damen und Herren, das ist Wasser auf die Müh-len von Pegida und AfD. Das können Sie doch nichtwirklich wollen.
Die Linke sagt klar: Wir sind für eine offene Einwan-derungsgesellschaft, in der die Zugewanderten die glei-chen Rechte und Möglichkeiten bekommen sollen wiealle anderen Menschen, die in Deutschland leben.
Aber statt endlich Klarheit zu schaffen, streitet sichdie Bundesregierung munter weiter – und das auf demRücken der Menschen, die zu uns, die in unser Landkommen.Herr Oppermann von der SPD zum Beispiel – er sitztganz hinten und unterhält sich gerade – sagt, wir brau-chen Zuwanderung, um Fachkräfteengpässe zu stopfen.Herr Stegner, Ihr Genosse, auch von der SPD und dortauf dem linken Flügel zu Hause, mahnt zur Zurückhal-tung und erhält Unterstützung aus der Union. Sie mei-nen, wir müssen mehr auf die Potenziale im Inlandsetzen. Die Wahrheit ist doch aber, dass diese Bundesre-gierung weder für Langzeiterwerbslose noch für Migran-tinnen und Migranten Geld in die Hand nimmt, um zumBeispiel eine ordentliche Qualifizierung zu bezahlen.
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8040 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Sabine Zimmermann
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– Nein. – Ihr arbeitsmarktpolitischer Kahlschlag in denletzten Jahren verbaut vielen Erwerbslosen die Chancen,egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund.
Wieder einmal werden Menschen, die zu uns kommen,und Menschen, die bereits bei uns leben, gegeneinanderausgespielt. Das macht die Linke nicht mit.
Schauen wir uns die Situation einmal genauer an: ImJahr 2013 kamen 1,2 Millionen Menschen neu nachDeutschland, andere zogen weg. Es blieb also ein Zu-wachs von 430 000 Menschen. Ohne diese Menschenwäre unsere Bevölkerung insgesamt geschrumpft.Drei Viertel der Zugewanderten kommen aus der Eu-ropäischen Union. Für sie gilt die EU-Freizügigkeit. Siedürfen ohne Einschränkungen zur Arbeitsaufnahme nachDeutschland kommen. Sie sind von diesem Zuwande-rungsgesetz überhaupt nicht betroffen. An dieser Stellewürde ich mir klare Worte der Regierung wünschen.Denn diese Menschen brauchen die gleichen Rechte,und zwar ohne Wenn und Aber.
Es kann doch nicht sein, dass spanische oder polnischePflegerinnen und Pfleger als billige Arbeitskräfte miss-braucht werden.
Wenn wir über ein neues Zuwanderungsgesetz reden,dann reden wir über Menschen, die aus Staaten außer-halb der Europäischen Union kommen. Derzeit trifft diesauf etwa jeden vierten Zugewanderten zu. Für diese wol-len nun die Grünen und offenbar auch Teile der SPD einPunktesystem einrichten, mit dem nach wirtschaftlicherNützlichkeit ausgewählt werden soll. Ich betone nocheinmal: nach wirtschaftlicher Nützlichkeit der Men-schen. Das, meine Damen und Herren, findet die Linkeunerträglich.
Schon heute haben wir ein Zuwanderungsgesetz, dasden Zuzug von Menschen nach arbeitsmarktrelevantenund wirtschaftlichen Gesichtspunkten steuert und auchbegrenzt. Was steckt eigentlich hinter dem sogenanntenFachkräftemangel? Klagen über mangelnde Fachkräftehört man doch nur aus Bereichen, in denen die Arbeits-belastung hoch ist und die Verdienste gering sind.
Die Lösung kann doch nicht sein, dass wir billige undflexible Arbeitskräfte aus dem Ausland als Arbeitneh-mer zweiter Klasse in diesem Land beschäftigen. Dasmachen wir nicht mit.
Die Arbeitsbedingungen müssen für alle, die in diesenBereichen arbeiten, verbessert werden.Auch Hochqualifizierte, die bereits heute eine soge-nannte Bluecard haben, werden oft schlechter bezahlt.Uns fehlt kein Einwanderungsgesetz, das die Menschennach Nützlichkeit sortiert und die Zugewanderten als bil-lige Arbeitskräfte missbraucht. Uns fehlt eine offeneEinwanderungskultur in Deutschland.
Wir brauchen außerdem eine bessere Anerkennungvon ausländischen Berufsabschlüssen. Noch immer sinddie Kosten des Anerkennungsverfahrens für viele eineunüberwindbare Hürde. Dieser Zustand gehört endlichabgeschafft.
Jeder vierte Beschäftigte mit Migrationshintergrundwird unterhalb seiner Qualifikation beschäftigt und be-kommt dementsprechend einen niedrigen Lohn. Das istinakzeptabel.
Gut die Hälfte der in Deutschland lebenden Migran-tinnen und Migranten berichtet von einer – die KolleginDe Ridder hat es vorhin, als es um den Hochschulbe-reich ging, angesprochen – Diskriminierung bei der Aus-bildungs- und Arbeitsplatzsuche. Das geht gar nicht.Den Arbeitgebern sage ich ganz deutlich: Nutzen Sieendlich das vorhandene Potenzial hier in Deutschland!Wir haben hier genug Fachleute. Sie müssen nur ordent-lich ausgebildet und qualifiziert werden.
Wir brauchen endlich auch eine Lösung für Flüchtlinge,die oftmals hochqualifiziert sind oder einen Beruf erler-nen wollen.Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Wir als Linke sagen klar Ja zu einer offenen Einwande-rungsgesellschaft. Dazu gehören leichter anzuwendendeEinbürgerungsregelungen. Das schließt zuallererst dasGrundrecht auf ein Familienleben ein. Ein Nachzug vonEhegatten und Kindern muss möglich sein. Denn eskommen Menschen zu uns und keine Arbeitssklaven.Ändern Sie endlich Ihre Einstellung!
Vielen Dank, Kollegin Zimmermann. – Nächste Red-
nerin in der Debatte: Staatsministerin Aydan Özoğuz.
A
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Herr Mayer, ich glaube, ich habe Ihnen von dieserStelle aus noch nie zugestimmt. Ich tue es heute, aberleider stimme ich ausschließlich Ihrem ersten und Ihremletzten Satz zu. Das dazwischen Gesagte war, glaube ich,diskussionswürdig.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8041
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Der erste und der letzte Satz besagten: Wir müssen dieseDebatte intensiv und ausführlich führen. Das finde ichrichtig. Denn ich glaube, es gibt bei kaum einem anderenThemenfeld so viele Widersprüche. Jetzt besteht dieChance, wirklich einmal aufzuklären und auch überflüs-sige oder sich widersprechende Regelungen auszuräu-men.Wir wissen ganz genau, dass damals bei der Debatteüber das Zuwanderungsgesetz – Frau Pau hat daran erin-nert – tatsächlich im Vordergrund stand, die Einwande-rung zu begrenzen; das steht ja so auch im vollen Titeldes Gesetzes. Heute wissen wir alle, dass wir den Fokusviel stärker auf das Gestalten legen müssen und denBlick auf die hiesige Gesellschaft und die Bedürfnissenie verlieren dürfen. Das heißt: Ja, wir brauchen Ein-wanderung. Wir haben in den nächsten Jahren nicht ge-nug Fachkräfte. Wir werden Einwanderung brauchen.
Aber gleichzeitig brauchen wir eben auch stärkereBemühungen um die jungen und übrigens auch die älte-ren Menschen in unserem Land, die ihren Platz auf demArbeitsmarkt entweder finden oder noch behaupten wol-len. Das muss immer zusammengedacht werden.
Klar gesagt: Jeder Jugendliche muss eine Ausbildungmachen können. Jeder braucht einen Berufsabschluss.Wir brauchen auch eine Kultur der zweiten und drittenChance – das haben wir immer wieder betont –, wenn esnicht gleich mit der Berufsausbildung klappt.
Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels undeben auch des Fachkräftemangels müssen wir alle fürden Arbeitsmarkt fit machen. Wir müssen faire Chancenschaffen.Ich glaube, dass der Hinweis von Frau Göring-Eckardt hier noch einmal erwähnt werden sollte – ichlaufe damit schon seit Monaten durch die Lande –: Es istleider mehrfach nachgewiesen worden, dass ein auslän-discher Name zu einer deutlichen Benachteiligung beiBewerbungen führt.
Ich finde, man kann unmöglich sagen: Wir haben Voll-beschäftigung, und damit ist jede Ungleichbehandlunggerechtfertigt. – Das geht nun wirklich gar nicht.
– Man muss schon einmal das Richtige sagen.Gleichzeitig ist es richtig, zu sagen, dass bis 2025 dasErwerbspersonenpotenzial – das ist auch so ein Wort – inunserem Land um viele Millionen zurückgehen wird;wir gehen von über 6 Millionen aus. Wir brauchen dahermehr gut ausgebildete, qualifizierte Einwanderer undmüssen dringend dafür werben. Wir haben im internatio-nalen Vergleich zumindest auf dem Papier wirklich libe-rale Einwanderungsregelungen – das wird uns immerwieder bescheinigt –, zum Beispiel für Fachkräfte. Aberdies ist vielen vollkommen unbekannt. Nicht nur imAusland, sondern auch bei uns in Deutschland verstehtdoch kaum jemand all diese Regelungen, die hier schonvorgetragen wurden. Wem nützen eigentlich so viele un-terschiedliche Regelungen, wenn man einen Rechtsan-walt braucht, um auch nur einen Teil davon zu verste-hen?
Was mich bei dieser Debatte eben umgetrieben hat– das will ich hier deutlich sagen –, ist etwas, das michauch Studierende an einer Universität vor einiger Zeit et-was unbedarft gefragt haben, nämlich: Können wir nichteinfach bei den Flüchtlingen schauen, wer gut ausgebil-det ist und wer nicht, und dann behalten wir die einenhier und schicken die anderen wieder zurück? Das isteine völlige Vermengung von vollkommen unterschied-lichen Themen. Das führt mir unser Dilemma hier sehrstark vor Augen: Wenn wir Flüchtlingspolitik mit derArbeitsmarktsituation in Deutschland rechtfertigen, dannlaufen wir in eine Falle, aus der wir irgendwann nichtmehr herauskommen.
Flüchtlinge nehmen wir auf, weil sie politisch ver-folgt werden, weil sie vor Krieg oder Terror fliehen, undeben nicht, weil sie in irgendeiner Form ausgebildetsind. Dennoch ist es natürlich wichtig – dies zeigt unsdie Erfahrung –, dass wir sehr gut daran tun, jedem undjeder schnell eine Perspektive in der Mitte unserer Ge-sellschaft, in der Mitte unseres Arbeitsmarktes zu geben,jedem die Chance zu geben, schnell Deutsch zu lernenund arbeiten zu gehen. Genau das sind Regelungen, diewir hier im letzten Jahr alle gemeinsam miteinander be-schlossen haben. An dieser Stelle müssen wir weiterma-chen.
Ich finde, dass wir im Koalitionsvertrag richtigeDinge aufgeschrieben haben. Wir haben an diesemThema gearbeitet. Was würde also dagegen sprechen,jetzt einen ordentlichen Gesetzentwurf zu erarbeiten, indem das alles vernünftig aufgelistet wird, und zwar so,dass man es verstehen kann?
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8042 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Staatsministerin Aydan Özoğuz
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Ich glaube schon, dass wir gerade im Einwanderungsbe-reich viel getan haben. Denken Sie zum Beispiel an dasFreizügigkeitsgesetz. Zugang zum Arbeitsmarkt erhaltenAsylbewerber und Geduldete nach drei Monaten Aufent-halt, und die Vorrangprüfung entfällt spätestens nach15 Monaten. Die Residenzpflicht wurde abgeschafft. ImBundesausbildungsförderungsgesetz wurde die Warte-frist für junge Geduldete auf 15 Monate verkürzt. Das al-les sind Dinge, die wir tun, weil wir wissen, dass siewichtig sind.
Wir wissen, dass es in der Vergangenheit ein Fehler war,die Menschen auszugrenzen und ihnen zu sagen: Wartetvier Jahre; dann könnt ihr eine Ausbildung machen. – Dannsitzen die jungen Leute nämlich vier Jahre auf der Straße,anstatt sofort mit einer Ausbildung zu beginnen. Da habenwir also schon die richtigen Dinge angepackt.
Wir müssen auch Lücken füllen; ich will hier garnicht alle Punkte aufzählen. Ich finde, dass manches,was in Ihrem Antrag steht, richtig ist. Über vieles mussman sicher noch diskutieren. Aber wenn der Lebenswegvon Einwanderern in Deutschland anders verläuft, alsursprünglich geplant, dann darf unser Recht nicht voll-kommen unflexibel sein. Das sogenannte Zweckwech-selverbot ist wirklichkeitsfremd. Ich stimme dem Antragder Grünen an dieser Stelle ausdrücklich zu.
Man muss zum Beispiel von einer betrieblichen Ausbil-dung an eine Hochschule wechseln dürfen, ohne dass ge-sagt wird: Reise bitte vorher aus, und stell einen neuenVisumantrag; dann kannst du zurückkommen. – Das istdoch wirklichkeitsfern. Ich glaube, das leuchtet in Wahr-heit auch jedem ein.
Ich stimme Ihrem Antrag auch insoweit zu, als es da-rum geht, eine klare Perspektive in Richtung Einbürge-rung zu vermitteln. Aber wenn ich einen kleinen Kritik-punkt nennen darf – vielleicht wird Herr Beck dazu nochetwas sagen –: Auch ich finde die Formulierung, die Siein Ihrem Antrag gewählt haben, etwas problematisch. Esheißt darin, ein Elternteil müsse sich rechtmäßig inDeutschland aufhalten. Das legt irgendwie nahe, als seidas bei ganz vielen nicht der Fall. Ich nehme an, dass dasgar nicht so gemeint ist, und hoffe, dass Herr Beckgleich noch etwas dazu sagt.
Ein wichtiger Punkt – das möchte ich hier deutlich sa-gen – ist der Sprachnachweis beim Ehegattennachzug.
Das ist für uns alle ein hochemotionales Thema. Ichweiß, dass es vielen, die diese Forderung immer wiedererheben, darum geht, dass das gut für die Frauen sei.Meistens hat man dabei ja im Blick: Wenn auch die Ehe-gatten zu uns kommen, dann sollen sie Deutsch können.Der Gedanke, dass sie Deutsch können sollen, ist natür-lich richtig. Aber macht es wirklich Sinn, zu sagen: „Dumusst erst einen Deutschkurs gemacht haben“ – da ist jaohnehin ein sehr niedriges Niveau gefordert –, „unddann musst du fast ein Jahr auf das Visumverfahren war-ten, bis du überhaupt nach Deutschland kommen darfst,um hier wieder bei null anzufangen“? Wäre es nichtsinnvoller, zu sagen: „Kommt zu uns und fangt hier so-fort mit eurem Sprachkurs an“? Darüber sollten wir nochmiteinander reden.
Mein letzter Punkt. Der Mittelstand ist ja das Herz un-serer Wirtschaft, wenn ich das einmal so sagen darf.Wenn uns Menschen aus dem Mittelstand, etwa Hand-werker, sagen, sie würden gerne junge Leute, die Flücht-linge sind, ausbilden – da ich Hamburgerin bin, weißich, dass das in Hamburg häufiger der Fall ist –, wir ih-nen aber keine Garantie geben, dass diese jungen Men-schen wirklich die gesamte Ausbildungsdauer im Be-trieb bleiben, dann kann kein Mittelständler diesesRisiko eingehen. Das heißt, die Betriebe brauchen dieGarantie, dass diese Auszubildenden ihre Ausbildung zuEnde führen und dann möglicherweise im Betrieb be-schäftigt werden können.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Staatsministerin. – Nächster Red-
ner in der Debatte: Volker Beck für Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha-ben heute eine seltsame Allianz von Linksfraktion undCSU erlebt, die sich wie in einem Wettbewerb in derDisziplin der Realitätsverweigerung überbieten.Deutschland hat einen Zuwanderungsbedarf
von ungefähr 300 000 Menschen im Jahr. In den letztenJahren haben wir einiges davon durch die Entwicklungim Süden der Europäischen Union innereuropäisch kom-pensieren können.
Das wird nicht so bleiben. Wenn sich die Wirtschaft inden südeuropäischen Staaten erholt – das wollen wir
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8043
Volker Beck
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hoffen –, dann werden im Saldo nicht nur keine Men-schen mehr von dort kommen, sondern es werden sogarmehr Menschen dorthin zurückwandern. Darauf müssenwir uns schon heute vorbereiten, ansonsten bezahlen wireinen hohen Preis.
Die Alternative ist: Entweder die Arbeitskräfte kom-men zu uns oder die Arbeit geht zu ihnen.
Wenn das eintritt, dann ist bei uns die Wertschöpfungweg, dann ist bei uns die Basis unserer Sozialversiche-rungssysteme weg.
Doch wer zahlt dann in Zukunft unsere Rente? – Aufdiese Frage haben Sie einfach keine Antwort.
Sie haben sich gerade gegen eine Arbeitskräftezu-wanderung nach Punktesystem gewehrt,
gegen eine Zuwanderung nach Qualifikation.
Herr Beck, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kol-
legin Zimmermann?
Aber gerne, wenn ich nur kurz den Satz zu Ende spre-
chen darf. – Das haben Sie denunziert, als würde man
die Menschen nur noch nach Nützlichkeitskriterien be-
trachten. Nein, wir müssen unterscheiden zwischen
Flüchtlingen, die wir aus humanitären Gründen aufneh-
men – das ist unsere Pflicht –, und Arbeitskräften, die
wir brauchen.
Die können wir dann in der Tat nach unserem Bedarf
auswählen.
Nun bitte, Frau Kollegin.
Das mache ich, Herr Beck. – Bitte, Frau Kollegin
Zimmermann.
Vielen Dank. – Das, was Sie sagen, irritiert mich
schon. Ich habe doch klar und deutlich gesagt, dass wir
für Einwanderung sind.
Aber wir wollen für die Menschen, die zu uns kommen,
die gleichen Rechte, ob am Arbeitsmarkt oder anderswo.
Ich denke, es ist richtig, dass wir darauf hinweisen; denn
viele Menschen, die zu uns kommen, arbeiten bei uns als
billige Arbeitnehmer, als Arbeitnehmer zweiter Klasse
unter wirklich schlechten Bedingungen. Es gibt Bei-
spiele genug. In Zwickau am Rande des Erzgebirges, in
der Stadt, aus der ich komme, arbeiten viele Tschechin-
nen und Tschechen für 2,50 Euro pro Stunde. Es kann
doch nicht sein, dass wir in diesem Haus so etwas wol-
len.
Es ist nicht so, dass wir Einwanderung nicht wollen. Wir
wollen vielmehr gleiche Bedingungen für alle.
Lassen Sie mich mit einer landsmannschaftlichen Ge-meinsamkeit beginnen. Meine Großeltern kommen ausZwickau, genauer gesagt vom Huckel auf der anderenSeite der Mulde; das wird Ihnen etwas sagen. Ich habedort einen Teil meiner Jugend verbracht. Das ist viel-leicht eine Basis für das weitere Gespräch zu IhrerFrage.
Wir sind uns auch einig darin – das hat ja Herr Mayerkritisiert; Sie wollen in diese Richtung gehen, das findeich richtig, das erkenne ich auch an –: Um attraktiv fürZuwanderer zu sein, müssen wir ihnen sagen: Wenn ihrhierher kommt, dann könnt ihr mit uns auf einer Augen-höhe zusammenarbeiten. Das heißt für mich, HerrMayer: Wenn in Deutschland ein Kind von legal hier le-benden Ausländern geboren wird, dann muss es von An-fang an Deutscher sein,
dann dürfen wir es nicht im Kreißsaal ausbürgern. Will-kommenskultur muss schon im Kreißsaal beginnen.
Wir müssen aber auch Menschen, die eine gewisseZeit hier gelebt haben, sich integriert haben, sagen: Ihrkönnt unsere Staatsbürgerschaft bekommen, dürftgleichzeitig aber auch eure alte Staatsbürgerschaft behal-ten und könnt dorthin auch wieder zurückgehen.Ein weiterer wichtiger Punkt, den wir in unserem An-trag ausdrücklich niedergelegt haben, sind die Aufent-haltstitel bei der sogenannten zirkulären Migration. Kon-servative Zuwanderungspolitiker denken, Deutschlandist so attraktiv, dass alle zu uns wollen und auch allebleiben werden, weil es nichts Schöneres auf der Welt
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Volker Beck
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als Deutschland gibt. Dem ist nicht so. Das ist auch garnicht schlimm. Moderne Arbeitskräfte – –
– Bitte bleiben Sie stehen!
Nein, nein. Herr Beck, wer sitzt oder aufsteht – –
Ich bin bei der Aufzählung der Gemeinsamkeiten.
Moment. Ich glaube, Sie haben die Frage der Kolle-
gin umfassend nicht beantwortet. Deswegen kann sie
sich hinsetzen. Machen Sie bitte weiter in Ihrer Rede.
Nun denn, ich möchte trotzdem einen Satz zur zirku-
lären Migration sagen; denn das ist ein entscheidender
Punkt. Moderne Arbeitskräfte, High Potentials wandern
nach Deutschland ein, wandern weiter in die Vereinigten
Staaten, gehen zurück in ihre Herkunftsländer. Nach un-
serem Aufenthaltsrecht verlieren sie so den Zugang zum
deutschen Arbeitsmarkt und ihren Aufenthaltstitel. Wir
sagen: Nein, wenn diese Menschen hier etwas geleistet
haben, dann dürfen sie jederzeit zurückkommen. Wir
wollen gerade für solche hochqualifizierten Menschen
attraktiv sein und bleiben.
Wir müssen auch darüber reden, wie wir die Poten-
ziale, die wir hier in unserem Land haben, besser nutzen;
Stichwort „Statuswechsel“. Warum soll ein Auszubil-
dender, ein Studierender, ein Asylbewerber im Asylver-
fahren oder nach der Ablehnung als Geduldeter, wenn er
hier auf dem Arbeitsmarkt gebraucht wird, wenn er sich
hier selbstständig machen will, das nicht dürfen? Warum
muss unser Aufenthaltsrecht das gegenwärtig unterbin-
den? Das ist ein großer Fehler. Hier können wir Poten-
ziale heben, die schon da sind, und den Menschen zu
gleichen Rechten und gleichen Chancen verhelfen.
Das sind wichtige Punkte. Diese muss man neben dem
Punktesystem im Blick haben. Das Punktesystem ist nur
eine von fünf Forderungen in unserem Antrag, und das
zu Recht.
Außerdem ist es richtig. Sie stellen das einfach falsch
dar, Herr Mayer. Das Punktesystem ist ein lernendes
System. Es ermöglicht, die Punktevergabe für bestimmte
Kriterien Jahr für Jahr neu festzulegen. Es ermöglicht
Bundestag und Bundesrat, die Aufnahmezahl für den
Bereich der Arbeitsmigration Jahr für Jahr entsprechend
der Entwicklung der Migrantenzahlen festzulegen.
Wenn es eine hohe Zahl von Flüchtlingen gibt oder wenn
es viele Zuwanderer aus der Europäischen Union gibt,
braucht man vielleicht keine so hohe Aufnahmezahl. In
einem Land, aus dem viele Menschen wieder wegwan-
dern, braucht man eine hohe Zahl. Lassen Sie uns ein
solch flexibles System einführen, das nicht nur nachfra-
georientiert ist, wie unser jetziges Zuwanderungssystem,
sondern das auch angebotsorientiert ist, wie das Punkte-
system.
Dazu hat ja der Generalsekretär der Union – er durfte
ja offensichtlich noch nicht einmal hier in den Raum; of-
fensichtlich hat man ihn weggesperrt – das Richtige in
der Süddeutschen Zeitung gesagt:
Bisher regeln wir nur die Zuwanderung in den Ar-
beitsmarkt. Wer eine Stelle nachweist, hat eine
Chance – andere nicht.
Andere Länder fragen:
Wer ist ein Gewinn für unser Land?
Diese Frage wollen wir mit Ihnen gemeinsam stellen
und uns daranmachen, unser Aufenthaltsgesetz zu mo-
dernisieren, damit Deutschland auch in 10, 20 oder 30
Jahren ein starker Wirtschaftsstandort ist und wir die
Grundlagen unseres Sozialstaates weiter finanzieren
können. Wer sich dem verweigert, versündigt sich an der
Zukunft unseres Landes.
Vielen Dank, Herr Kollege Beck. – Nächster Redner
in der Debatte: Helmut Brandt für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine geschätzten Kolleginnen undKollegen! Herr Beck, ich gebe ungern Ratschläge, aberich muss Ihnen einmal sagen: Man könnte Ihnen zumin-dest angenehmer zuhören, wenn Sie nicht so lautschreien würden. – Zu Beginn meiner Rede –
Sie schreien ja schon wieder, Herr Beck – möchte ichmich aber an Ihre Kollegin, Frau Göring-Eckardt, wen-den. Wir können und sollten über dieses wichtige Themader Einwanderung sachlich und ruhig debattieren. Daswar auch überwiegend der Fall. Aber wenn Sie sagen:„Deutschland ist ein Einwanderungsland ohne Wenn und
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Helmut Brandt
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Aber“, dann ist das eine gefährliche Aussage, die mögli-cherweise Wasser auf die Mühlen derer ist, die wir ge-rade in Zeiten von Pegida nicht bedienen wollen.
Wir haben im Grunde genommen ein modernes Ein-wanderungsrecht. Wir haben allerdings zugegebenerma-ßen ein kompliziertes Rechtssystem, das für Unkundigeoft nur schwer durchschaubar ist. Aber wir haben in denletzten Jahren immer wieder auf veränderte Bedürfnisse– diese sind ja hier vielfach angesprochen worden – undauch auf EU-rechtliche Vorgaben reagiert. Es liegt an derKomplexität unseres Systems, dass zwischen der Zu-wanderung aus Ländern der Europäischen Union, derEinwanderung aus Drittstaaten, dem Familiennachzugund dem Asylrecht unterschieden werden muss. Jededieser Zuwanderungsarten ist nach unserer Gesetzessys-tematik eigenständig zu betrachten. Das ist im Grundegenommen auch gut so.Für die Zuwanderung aus den Ländern der Europäi-schen Union gilt das Freizügigkeitsgesetz. Hier habenwir allenfalls das Problem der sogenannten Armutsmi-gration, das wir schon vor Monaten diskutiert haben. In-zwischen hat der Europäische Gerichtshof Ende 2014 jaentschieden, dass dies kein Grund ist, ein Land aufzusu-chen und dort sesshaft werden zu wollen. Vielmehr kannein Land von der Möglichkeit Gebrauch machen, jeman-den, der ohne Arbeit ist und der nur in das Sozialsystemeinwandert, des Landes zu verweisen. Freizügigkeit in-nerhalb der EU bedeutet eben nicht, dass man sich dasSozialsystem aussuchen kann, das einem lieb ist.Wir haben, was die Bedingungen für die Zuwandereraus Drittstaaten angeht, in den letzten Jahren sehr vieleMaßnahmen auf den Weg gebracht. Ich möchte sie– auch zur Versachlichung der Debatte – hier einmal auf-zeigen:Die Einführung der Bluecard – dabei geht es um dieZuwanderung Hochqualifizierter aus Drittstaaten in dieEU – ist eine solche Maßnahme. Es ist eben schon ge-sagt worden: 90 Prozent aller Bewilligungen betreffenMenschen, die aus den 27 Staaten der EU nach Deutsch-land gekommen sind. Das zeigt doch, wie attraktiv unserStandort ist. Es zeigt aber auch, dass diese Regelung denmodernen Anforderungen genügt.Die Forderung – sie wird hier innerhalb der Parteien,also auch in der SPD, immer wieder unterschwellig unddurchaus kontrovers diskutiert –, die Einkommens-schraube nach unten zu drehen, ist nach meiner Auffas-sung völlig falsch. Das würde – auch dies ist hier schonkritisiert worden – zu Dumpinglöhnen und damit Zu-wanderung führen, unter der der deutsche Arbeitsmarktleiden würde. Das kann nicht in unserem Sinne sein.Wir haben die Möglichkeit geschaffen, zum Zweckeder Ausbildung nach Deutschland zu kommen. Dies giltfür 70 Ausbildungsberufe. Zudem haben wir die Rege-lung eingeführt, nach der man ein Visum beantragenkann, um hier einen Arbeitsplatz zu suchen. Schließlichhaben wir die Möglichkeit geschaffen, dass ausländischeStudierende nach Abschluss ihres Examens 18 Monate– das sind immerhin eineinhalb Jahre – in Deutschlandbleiben dürfen, um sich einen Arbeitsplatz zu suchen.Ich meine, das ist eine hinreichend lange Zeitspanne.
Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden– auch ich möchte es noch einmal tun –, dass Deutsch-land bei der OECD-Studie sehr positiv abgeschnittenhat. Wir sind das Land, das am meisten für die Freizü-gigkeit gelobt wird. Insofern haben wir, glaube ich, kei-nen akuten Nachholbedarf.Ich will hier aber auch auf das Recht auf Asyl einge-hen; denn das kommt vielleicht etwas zu kurz, und eswird oft mit anderem vermengt. Nach unserem Grundge-setz gibt es – das ist auch unser Selbstverständnis – fürjeden, der politisch verfolgt wird, einen Anspruch da-rauf, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen undauch hierbleiben zu können. Das soll und darf man nichtmit der übrigen Zuwanderung vermengen.
Gut war es insoweit – weil auch Missbrauch mit demAsylrecht getrieben wird –, dass wir gemeinsam mit derSPD und der Mehrheit des Bundesrates Serbien, Maze-donien und Bosnien-Herzegowina als sichere Drittstaa-ten eingestuft haben, sodass Menschen, die aus nichtasylrelevanten Gründen aus diesen Staaten kommen,schneller wieder nach Hause zurückgeschickt werdenkönnen. Sie können hier keine Anerkennung finden. Wirwollen denen Schutz bieten, die diesen Schutz auch tat-sächlich benötigen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es fehlt nach meinerAuffassung nicht an den rechtlichen Grundlagen, son-dern oft an der mangelnden Umsetzung der bestehendenRegelungen. Das gilt insbesondere in Bezug auf dieFrage der Rückführung von nicht anerkannten Asylbe-werbern. Die Nichtrückführung dieser Menschen wirdvon der Bevölkerung oft nicht mehr akzeptiert.Unser Aufenthaltsrecht regelt seit 2005 mit diversenVorschriften im Detail, unter welchen Voraussetzungenjemand legal nach Deutschland kommen und hier blei-ben kann. Ich gebe den Kritikern recht – das ist ebenauch bei Stephan Mayer angeklungen –, dass wir, wasdie eine oder andere Formulierung angeht, sicherlichnoch etwas optimieren oder vielleicht auch konzentrie-ren können.Ich habe aber folgende Befürchtung: Wenn es heißt,dass wir ein modernes Gesetz schaffen müssen, kommtam Ende meist eine Vorschrift heraus, die noch schwererals das zu verstehen ist, was man bisher hatte. Das soll-ten wir auf jeden Fall vermeiden.Nun komme ich zu Kanada und dem dortigen Punkte-system. Auch das ist hier schon gesagt worden: Kanadahat mit dem früheren Punktesystem eine Fehlentwick-lung auf dem Arbeitsmarkt produziert, die weder imSinne Kanadas noch eines anderen Landes sein kann.Wer sich die heutigen kanadischen Regelungen anschaut,wird feststellen, dass es – dies muss man den Linkenauch einmal ganz klar sagen – natürlich auch darauf an-kommt, Zuwanderung arbeitsmarktspezifisch zu steuern.
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Helmut Brandt
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Es kann doch nicht richtig sein, dass man, nur weil mandie Voraussetzungen des Punktesystems erfüllt, als Arztnach Kanada oder auch nach Deutschland kommt undkeine Anstellung findet, sondern als Taxifahrer endet.
Das war aber die Situation in Kanada bei dem Punkte-system, und das kann weder uns noch den Zuwanderernzugemutet werden.
Es wurde zu Recht die Tatsache erwähnt, dass wir inden nächsten Jahren aufgrund der demografischen Ent-wicklung Bevölkerung verlieren. Immer weniger Men-schen werden in Deutschland leben. Wenn wir nicht ge-nügend Arbeitskräfte haben, dann werden darunter auchunsere Sozialsysteme leiden; das ist gar keine Frage. In-sofern brauchen wir Zuwanderung.In den letzten Jahren hatten wir gute Zuwanderungs-zahlen. Allein in 2013 – die Zahlen liegen Ihnen allenvor – hatten wir über 1 Million Zuwanderer. Natürlichgab es auch einige Auswanderer, aber es sind immerhinfast 500 000 Menschen mehr in Deutschland geblieben,als abgewandert sind.
500 000: Das ist eine beachtliche Zahl, und das sindMenschen, die nicht mit den darüber hinaus noch aufge-nommenen 200 000 Asylbewerbern zu verwechselnsind.
Deshalb muss ich darauf hinweisen: Wenn wir unserwohlausgewogenes und anspruchsvolles System auf-rechterhalten wollen, dann müssen wir das immer wie-der beachten.Ich sehe, die Präsidentin zeigt mir an, dass ich zumEnde kommen muss.
Das wäre sehr nett.
Ich will es deshalb etwas abkürzen: Unsere Zuwande-
rungspolitik, unser Ausländerrecht, ist kein weißes Blatt
Papier mehr. Wir haben in den letzten Jahren schon an
sehr vielen Stellschrauben gedreht, und wir werden dies
auch in den nächsten Jahren tun müssen – aber mit Be-
dacht und mit Vorsicht und nicht mit bloßen Parolen, die
modern klingen, am Ende aber nichts nutzen.
Besten Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Brandt. – Nächster Redner
in der Debatte ist Josip Juratovic für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Nach den Zahlen des Instituts für Arbeits-markt- und Berufsforschung werden uns in den nächstenzehn Jahren 6 Millionen Erwerbstätige fehlen. Das be-deutet mehr Rentner, aber auch 6 Millionen wenigerBeitragszahler.Wenn wir die Zahl unserer Erwerbstätigen auf demjetzigen Niveau halten wollen, dann brauchen wir nachder IAB-Studie jährlich 400 000 qualifizierte Einwande-rer.
Das heißt, wenn wir nichts ändern, dann wird uns der de-mografische Wandel eher früher als später einholen. DieFolgen für unsere Wirtschaft und die Sozialsysteme wer-den verheerend sein.
Auf die Frage, ob jetzt der richtige Augenblick ist, umüber ein neues Einwanderungsgesetz zu sprechen, habeich deshalb eine klare Antwort: Ja.
Die Debatte über Neuerungen beim Einwanderungs-gesetz kommt im richtigen Moment. In der bisherigenDebatte über eine mögliche Neuregelung der Einwande-rung kam wiederholt der Vorwurf, dass die Neuregelungden Menschen auf seine Nützlichkeit und Punkte redu-ziert. Ich gebe zu: Im ersten Moment war ich ebenfallsskeptisch. Mittlerweile sehe ich die Lage differenzierter.Wir dürfen die Menschen nicht nur nach ihrer Nützlich-keit beurteilen; darin sind wir uns alle hier einig.
Wir müssen aber sehr wohl darüber sprechen, ob wirselbst glauben, dass sich die Menschen hier bei uns zu-rechtfinden können. Daher finde ich es richtig, sich beider Debatte mit der Einwanderung von qualifizierten Ar-beitskräften zu befassen. Dies sind wir den Einwande-rern, aber auch den Menschen hier vor Ort schuldig.Die 3 Millionen Arbeitslosen in Deutschland brau-chen eine Antwort auf die Frage, warum ein Einwande-rungsgesetz auch für sie gut ist. Die Antwort ist klar: Dieverstärkte Einwanderung von Hochqualifizierten istauch für die bereits hier lebenden Menschen von Vorteil;
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Josip Juratovic
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denn jeder hochqualifizierte Arbeitsplatz bringt zweiqualifizierte und einen niedrigqualifizierten Arbeitsplatzmit sich.
Im Umkehrschluss heißt das: Ohne hochqualifizierte Ar-beitsplätze sind die niedrigqualifizierten Arbeitsplätzegefährdet. Daher lohnt sich gesteuerte Einwanderung füruns alle.Das möglicherweise einzuführende Punktesystemkann ein sinnvolles Mittel sein, um sich nicht aus-schließlich auf Engpassanalysen und Positivlisten zukonzentrieren. Von einer möglichen Einführung desPunktesystems verspreche ich mir deshalb vor allemeine Ausweitung der Möglichkeiten der Einwanderungqualifizierter Arbeitskräfte.Ein weiterer wichtiger Hinweis ist in dem Antrag derGrünen enthalten:Über eine Verknüpfung der Variablen „Berufsquali-fikation“ und „Herkunftsland“ kann das Recht derHerkunftsländer auf Wahrung ihrer Entwicklungs-chancen berücksichtigt werden …Dieser Hinweis bezieht sich auf die Gefahr einesBraindrains in den Herkunftsländern. Diese Gefahr istvorhanden und sehr ernst zu nehmen. UngesteuerterBraindrain aus den Herkunftsländern darf nicht das Er-gebnis unserer Einwanderungspolitik sein. Ein Punkte-system bietet uns eine Möglichkeit, die Migration län-derspezifisch zu steuern. Diese Chance gilt es ernst zunehmen, liebe Kolleginnen und Kollegen.So sinnvoll das Punktesystem sein kann, es ist jedochnicht das Allheilmittel, das die gesamten sonstigen Re-gelungen zur Einwanderung ersetzen soll oder kann.
Vor allem muss eines klar sein: Die Kernelemente derAsyl- und Flüchtlingspolitik müssen unangetastet blei-ben.
Das ist ein hohes Gut unserer Gesellschaft, auf das wirganz unabhängig von der Nützlichkeitsdebatte nie ver-zichten dürfen.Ich finde es wichtig, dass wir beim Thema Einwande-rung gleichzeitig die Integration von Einwanderern nichtaußer Acht lassen. Die Menschen sollen sich hier will-kommen fühlen. Nur dann werden sie auch wirklichkommen und vor allem bleiben. Das ist die einfacheWahrheit.Tatsächlich bleibt aus meiner Sicht für eine verbes-serte Integration von Einwanderern eine Menge zu tun.Die Anerkennung der Berufsabschlüsse muss unbüro-kratischer werden, sowohl auf Bundes- als auch auf Lan-desebene. Nur so werden die Einwanderer ihrer Qualifi-kation entsprechend eingesetzt werden können und nichtdauerhaft im Niedriglohnsektor verharren.
Die Integrationskurse müssen endlich nicht nur quan-titativ, sondern vor allem auch qualitativ ausgebaut wer-den. Das beinhaltet auch eine angemessene Bezahlungder Lehrkräfte.
Nicht zuletzt müssen wir bei den Neuerungen auchVerbesserungen bei der Arbeitsintegration für Asylsu-chende mitbedenken; denn auch ihre Potenziale dürfennicht ungenutzt bleiben. Mit der Ermöglichung der Ar-beitsaufnahme bereits nach drei Monaten bei genehmig-tem Asylantrag ist ein entscheidender Schritt hierzu be-reits erfolgt.Ein Arbeitsplatz ist der beste Ort für eine erfolgreicheIntegration.
Jedoch nur mit entsprechender Begleitung und gezielterVermittlung wird Asylsuchenden tatsächlich die gleich-berechtigte Teilhabe am Arbeitsmarkt ermöglicht. Dasdürfen wir nicht aus den Augen verlieren.Zur Integration gehört aber auch, dass sich unserePolitik nicht nur auf die Zielperson konzentriert. Wirmüssen auch das soziale Umfeld, die Familie und dieKinder im Blick behalten. Für sie brauchen wir gut vor-bereitete Schulen und auf Einwanderung eingestellteAusbildungsstellen. Wir dürfen den Fehler aus der Ver-gangenheit nicht wiederholen, als wir uns um die zweiteund dritte Generation nicht ausreichend gekümmert ha-ben.In dieser Gemengelage müssen wir uns auf das Argu-ment einstellen, es kämen schon 500 000 Kriegsflücht-linge, Asylsuchende und EU-Migranten pro Jahr nachDeutschland. Aber diese Gruppe ist schwer zu steuern.Wir wissen nicht, wie viele dieser Menschen bei unsbleiben. Das heißt: Unabhängig von dieser Einwande-rung brauchen wir in dieser Situation Einwanderer, dienach Bedarf bzw. nach dem Punktesystem in unser Landkommen. Sie sind eine wichtige und verlässlicheGruppe.Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen, habeich einen persönlichen Wunsch, was die aktuelle Debatteum die Reform der Einwanderung betrifft. Ich habekeine Angst, dass die Integration unserer neuen Einwan-derer nicht funktioniert, zumindest nicht was ihren Wil-len zur Integration betrifft. Viel wichtiger ist unsere Dis-kussionskultur beim Thema Einwanderung. UnsereWorte enthalten viel zu oft nicht geahnte Verletzungen,die zu Distanz, Isolierung und Parallelgesellschaftenführen. Sie sind übrigens der ideale Nährboden für Radi-kalisierung. Deshalb kann ich hier nur bitten, unsereVorbildrolle in der Gesellschaft ernst zu nehmen und da-bei besonnen, fair und mit etwas mehr Einfühlungsver-
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mögen mit dem Thema Einwanderung umzugehen. Esliegt an uns allen, dies zu ermöglichen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin in der
Debatte ist Andrea Lindholz für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Die Forderung nach einem neuenEinwanderungsgesetz scheint gerade modern zu sein.Die aktuelle Debatte über ein neues Gesetz löst abernicht die gesellschaftlichen Herausforderungen, vor de-nen wir im Bereich der Integration stehen und über dieheute schon viel gesagt wurde. Die Forderung sollsuggerieren, wir hätten kein funktionierendes Ein-wanderungsrecht im Sinne funktionierender gesetzlicherRegelungen. Deutschland hat aber ein funktionierendesEinwanderungsrecht. Das Statistische Bundesamtschätzt, dass die Bevölkerung im vierten Jahr in Folgegewachsen ist, trotz des hohen Geburtendefizits. Die Zu-wanderung überkompensiert derzeit den demografischenWandel.
Deutschland ist heute weltweit das beliebteste Ziel-land für Migranten nach den USA. Im vergangenen Jahrsind rund 470 000 Menschen mehr eingewandert als aus-gewandert. Im letzten Dezember stellte die OECD fest,dass auch die dauerhafte Zuwanderung, also die Zuwan-derung über mehr als ein Jahr, in keinem Land so starkzunahm wie in Deutschland. Ja, wir sind ein Einwande-rungsland. Die hohe Zuwanderung stellt Deutschlandauch vor einige Herausforderungen. Armutsmigrationaus der EU, überfüllte Flüchtlingsheime und teilweisemisslungene Integration sind nur einige Beispiele. DieseHerausforderungen müssen wir aber separat voneinanderbetrachten und auch lösen. Man darf nicht alle Formender Migration in einen Gesetzestopf werfen und dannglauben, dass man damit Bürokratie beseitigt, wie es derAntrag beschreibt.
Rund 60 Prozent aller Migranten, die heute nachDeutschland kommen, sind EU-Bürger und genießen eu-ropaweite Freizügigkeit. Die im Antrag angedeuteteSteuerung der Arbeitsmigration geht also an der großenMasse der Migranten hierzulande völlig vorbei. DasEuroparecht ist im Übrigen die Hauptursache für dieKomplexität unseres Ausländerrechts. Als EU-Mitgliedmuss Deutschland vorrangig europarechtliche Vorgabenumsetzen. Der Handlungsspielraum des Bundestages imBereich der Migration wird dadurch stark begrenzt. Un-ser Ausländerrecht mag kompliziert sein. Das liegt abervor allem daran, dass die Realität in der globalisiertenWelt kompliziert ist. Die Unterscheidung zwischen Ar-beitsmigration, Flüchtlingsschutz, Familienzusammen-führung und Bildungszuwanderung hat gute Gründe.
Natürlich muss der Flüchtlingsschutz einer anderenLogik folgen als die Arbeitsmigration. Soll etwa der Bil-dungsgrad darüber entscheiden, wer ein Recht auf Asylhat und wer nicht? Natürlich müssen die Anwerbung vonFachkräften und die Ausweisung abgelehnter Asyl-bewerber rechtlich sauber getrennt und separat gelöstwerden. Eine Studentin aus den USA muss doch einenanderen Aufenthaltsstatus haben als ein Asylbewerber,der seine Herkunft verschleiert. Dazu, diese unterschied-lichen Migrationskanäle in ein Gesetz zu packen, wie esder Antrag fordert, kann ich Ihnen als Juristin nur sagen,dass dabei nichts anders als ein bürokratisches Mammut-werk herauskommt, das noch unübersichtlicher ist undkeinesfalls entbürokratisiert ist.
Lieber Rüdiger Veit, ich gebe dir an einer Stelle recht:Ja, jedes Gesetz kann man verbessern. Es ist immerwichtig, besser zu werden. Aber als Jurist zu glauben,mit einem neuen Gesetz ein besseres Einwanderungs-recht zu schaffen bzw. für eine bessere Integration zusorgen, ist eine komplette Illusion und eine Verkennungder tatsächlichen Lage. Vorhin wurde gefordert, die Be-stimmungen des Einwanderungsrechts müssten auf einDIN-A4-Blatt passen. Dies ist nichts anderes als die da-malige Forderung, die Steuererklärung müsse auf einemBierdeckel zu machen sein. Beides ist realitätsfern.
Der Antrag problematisiert auch teilweise Themen,die bereits geregelt sind.
– An Ihrem Protest merke ich schon, dass ich richtigliege. – Ausländische Studenten können nämlich schonheute nach dem Studienabschluss in Deutschland unterbestimmten Voraussetzungen bis zu 18 Monate nach Ar-beit suchen. Für alle anderen gilt eine Frist von 12 Mo-naten.Auch für Flüchtlinge haben wir im letzten Jahr denArbeitsmarktzugang verbessert. Integration findet aufdem Arbeitsmarkt statt und nicht auf dem Arbeitsamt.Natürlich ist es nicht schön, wenn in manchen BereichenAusländer bei der Arbeitssuche benachteiligt werden.Das darf nicht sein. Dafür gibt es das AllgemeineGleichbehandlungsgesetz. Wenn auch das nicht reichensollte, ist hier Änderungsbedarf gegeben; aber deswegenbrauchen wir doch kein neues Einwanderungsgesetz, umdas es hier heute geht.Es ist auch klar, dass wir langfristig einen Fachkräfte-mangel haben werden. Aber wir haben auch jetzt schongrundsätzlich keinen flächendeckenden Mangel, sondernwir haben Engpässe in einzelnen Bereichen. Wir habenbereits eine Positivliste mit 70 Mangelberufen erstellt,um die Anwerbung von Fachkräften für bestimmte Bran-chen zu erleichtern.
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Andrea Lindholz
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Oft, so wie auch heute, wird eben einmal so pauschalbehauptet, unser Zuwanderungsrecht sei zu kompliziertund – jetzt kommt es – wir würden deshalb den globalenWettbewerb um die besten Köpfe verlieren. Die OECDhat uns aber im Jahr 2013 bescheinigt, dass Deutschlandzu den OECD-Ländern mit den geringsten Hürden fürhochqualifizierte Zuwanderer gehört.Dann höre ich heute wieder die Forderung nach demPunktesystem nach kanadischem Vorbild. Ich fragemich, ob man sich damit allen Ernstes auseinander-gesetzt hat. Die Grünen sprechen in ihrem Antrag garvon einem „System der Kriterien-gesteuerten Arbeits-migration“. Solche Wortkreationen tragen nicht dazubei, dass unser Zuwanderungsrecht verständlicher, unbü-rokratischer oder, wie Sie es auch noch fordern, humanerwird. Auch das Punktesystem nach kanadischem Vorbildtut das nicht. Es ist bürokratisch und unflexibel, undnicht umsonst ist Kanada dabei, sein eigenes System zureformieren. Daran wollen wir uns doch nicht allenErnstes orientieren.
Wer in Deutschland über Einwanderung redet, derkann die europäische Dimension nicht einfach ausblen-den.
Europa taucht weder in Ihrem Antrag auf noch in derDiskussion über das Einwanderungsrecht. Die deutschePolitik hat die Pflicht, Fachkräfte zuerst in Deutschland,dann in Europa und dann im Rest der Welt zu suchen.
Mit dieser Auffassung bin ich auch nicht alleine.
Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat im Handels-blatt am 24. Oktober 2010 Folgendes gefordert – ich zi-tiere –:Es reicht nicht, Kriterien für Einwanderung zu defi-nieren, sondern zuerst müssen wir deutlich mehr fürJugendliche ohne Berufsausbildung, ältere Arbeit-nehmer und für die Vereinbarung von Familie undBeruf tun. Vorher dürfen wir den scheinbar leichtenWeg zur Anwerbung von Fachkräften im Auslandnicht begehen.
Dieser Aussage stimme ich auch heute noch zu.Trotz Rekordbeschäftigung haben wir 3 MillionenArbeitslose, darunter viele gut ausgebildete Fachkräfte,die sich seit langem vergeblich bewerben. 2013 haben46 000 Schüler ohne Schulabschluss die Schule verlas-sen. Im letzten November meldete der Deutsche Ge-werkschaftsbund, dass 300 000 Jugendliche keinen dau-erhaften Ausbildungsplatz haben. Die Bundesagentur fürArbeit spricht von über 20 000 Bewerbern ohne Ausbil-dungsplatz. Egal welche Statistik wir heranziehen:Deutschland hat definitiv zu viel ungenutztes Potenzial.Europa setzt noch einmal eins drauf. Wenn wir unsdie Jugendarbeitslosigkeit in Spanien, Griechenland undFrankreich anschauen, dann wird doch klar: Wir müssenuns erst einmal in Europa umsehen. Eurozentrismus andieser Stelle, nämlich bei der Suche nach Fachkräften,ist auch integrationspolitisch sinnvoll; denn ein Spanierbringt nun einmal mehr kulturelle Gemeinsamkeiten mitals beispielsweise ein Chinese.Um Migration zu verbessern, braucht es also wederneue Gesetze noch alte Gesetze mit einem neuen Etikett,sondern wir müssen die geltenden Regelungen besserumsetzen und für Verbesserungen sorgen. Wie wir nochbessere Integration leisten, steht auf einem ganz anderenBlatt Papier. Im Übrigen zeigt auch eine Analyse desBundeswirtschaftsministeriums vom April 2014, dassdas richtig ist. Unternehmen, Fachkräfte und Verwaltungsagen, dass der rechtliche Rahmen zur Anwerbung vonFachkräften positiv ist. Sie sehen Handlungsbedarf beider Umsetzung, in der Praxis und bei der Anerkennungvon beruflichen Qualifikationen und Bildungsabschlüs-sen. Hier müssen wir ansetzen, in der Praxis, und nichtwieder mit einem neuen Gesetz.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit?
Aus meiner Sicht können wir den Antrag ablehnen,
nicht aber die Debatte über eine gute Zuwanderung. An
Sie, liebe Frau Göring-Eckardt, noch ein Schlusswort:
Bayern braucht von Ihnen keine guten Ratschläge. Bay-
ern, seine Menschen und seine Politik stehen für eine
hervorragende Willkommenskultur.
Vielen Dank.
Danke, Frau Kollegin Lindholz. – Letzte Rednerin in
der Debatte: Nina Warken für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wenn ich nach der bisherigen Debatte etwasPositives, etwas Lobendes über die Grünen und ihrenAntrag sagen sollte, dann kann ich das nicht für das tun,was von ihnen bisher dargelegt wurde. Das Einzige, wo-für ich ihnen danken kann, ist die Tatsache, dass sie esgeschafft haben, bereits so frühzeitig, nämlich schonknapp 36 Stunden vor der von ihnen beantragten De-batte, einen Antragswortlaut vorzulegen. Doch diesesThema ist zu ernst für Ironie. Aber schon der Umstandzeitlicher Hektik weist darauf hin, dass wir hier über ei-nen unausgegorenen Schnellschuss debattieren.
Metadaten/Kopzeile:
8050 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Nina Warken
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Meine Bitte an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegenvon den Grünen: Formulieren Sie das nächste Mal bitteeinen Antrag, der etwas weniger vage ist, der Farbe be-kennt, der seriös und solide ist.
Allerdings ahne ich durchaus, warum Sie so vage geblie-ben sind: Bei dem von Ihnen vorgeschlagenen Kriterien-system handelt es sich nämlich um eine Parallele zumkanadischen Modell, und das wird auch von Politikern,die alles andere als links stehen, als Modell für Deutsch-land vorgeschlagen. Diese Tatsache, liebe Grüne, wollenSie natürlich lieber verschweigen.Sie möchten also ein Kriteriensystem. Wer genügendKriterien für Sprachkenntnisse, berufliche Qualifikationund weitere Anforderungen erfüllt, soll ohne ein ver-bindliches Jobangebot ein Aufenthaltsrecht in Deutsch-land bekommen. Mehr als diese blumigen Schlagwortekonnten Sie jedoch nicht liefern.Nun sage ich Ihnen, warum unser Land Ihr Modellnicht braucht: Deutschland ist bei der Fachkräftezuwan-derung sehr gut aufgestellt. Das geht nicht nur aus denZahlen des neuesten Migrationsberichts hervor, sonderndas zeigt sich auch ganz konkret in der Praxis vor Ort.Zwei Beispiele aus meiner Heimat möchte ich nennen:Dort wurde im Sommer vergangenen Jahres durch dasLandratsamt eine Beratungsstelle für ausländische Fach-kräfte und interessierte Unternehmen eingerichtet, durchdie inzwischen zahlreiche Fachkräfte aus den verschie-densten Nationen beraten und erfolgreich an Firmen vorOrt vermittelt werden konnten.Eine andere Kommune in meiner Heimat plant derzeitein Aus- und Weiterbildungszentrum insbesondere fürausländische Facharbeiter.
Das sind nur zwei Beispiele dafür, dass die Fachkräf-tezuwanderung mit den bestehenden Regelungen vor Ortgut funktioniert, wenn wir Unternehmen und Fachkräfteaktiv darüber informieren und wenn wir dafür werben.Auch wenn Sie, liebe Grüne, den Begriff „Kanada“nicht aussprechen wollen, so erlaube ich mir, die von Ih-nen indirekt übernommenen Elemente des kanadischenModells mit Blick auf Deutschland zu betrachten.Eins gleich vorweg: Wer Deutschland mit Kanadavergleicht, kann genauso gut Äpfel mit Birnen verglei-chen. Zum Beispiel hat Kanada kein so umfangreichesSozialsystem wie Deutschland, das für jeden Zuwande-rer aufkommen müsste, der keinen Arbeitsplatz findet.Bei uns ist deshalb die Arbeitszuwanderung aus gutemGrund an ein verbindliches Jobangebot gebunden. InKanada gibt es, anders als bei uns, kein Grundrecht aufAsyl, das jedem, der einreist und schutzbedürftig ist, einAufenthaltsrecht garantiert.Diese unterschiedliche Asylpraxis spielt gerade mitBlick auf die gestiegene Flüchtlingszahl auch in der Zu-wanderungsfrage eine große Rolle; denn häufig bleibenviele der Flüchtlinge dauerhaft bei uns und müssen inden Arbeitsmarkt und die Gesellschaft integriert werden,und das machen wir in Deutschland wirklich gut. AlsKoalition haben wir allein im vergangenen Jahr gleichmehrere Verbesserungen für Asylbewerber und Flücht-linge, aber auch zur Entlastung unserer Kommunen ver-abschiedet. Kanada ist dagegen in Asylfragen sehr vielrestriktiver. Obwohl es dort nur einen Bruchteil der inDeutschland gestellten Asylanträge gibt, wurde 2014 je-der zweite Antrag abgelehnt.
Weiter wird immer wieder behauptet, ein Punkte-system bei der Einwanderung – Sie bezeichnen das inIhrem Antrag als „Kriterien-gesteuertes Einwanderungs-modell“ – sei moderner, liberaler und verständlicher alsunsere bestehenden Zuwanderungsregeln. Seltsamer-weise zählt aber gerade Deutschland seit 2013 lautOECD zu den Ländern mit den günstigsten Zuwande-rungsregelungen für Fachkräfte weltweit. Mir erscheintdaher die harsche Kritik, die derzeit an unserem Einwan-derungsgesetz geübt wird, vollkommen überzogen. ImGegenteil: Unser System ist das modernere, das bedarfs-gerechtere und das liberalere.
Die meisten unserer Zuwanderungsregeln für auslän-dische Fachkräfte haben – im Gegensatz zu Ländern mitKriteriensystem, wo zumeist pro Jahr immer nur eine be-grenzte Anzahl an Visa für bestimmte Mangelberufe ver-geben wird – nach oben keine zahlenmäßige Beschrän-kung. Das gilt sowohl für die Blaue Karte EU, für dieman nur einen Hochschulabschluss und ein verbindli-ches Jobangebot vorweisen muss, als auch für ausländi-sche Fachkräfte mit Berufsabschlüssen, die auf der Listeder 70 Mangelberufe stehen.Hinzu kommt das Visum zur Arbeitsplatzsuche, mitdem man sechs Monate lang vor Ort nach einem geeig-neten Arbeitsplatz suchen kann.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Volker Beck?
Der Kollege hatte, glaube ich, heute schon genug Re-dezeit. Deswegen würde ich lieber in meiner Rede fort-fahren.
Liberaler als mit einem solchen Visum kann in mei-nen Augen ein Zuwanderungssystem kaum sein. Dennwer trotz ernsthafter Suche nach sechs Monaten in
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8051
Nina Warken
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Deutschland immer noch keinen Arbeitsplatz gefundenhat, dem wird dies auch später nicht gelingen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sehen,insgesamt wäre ein Kriteriensystem im Vergleich zu un-serem aktuellen Einwanderungsrecht ein klarer Rück-schritt.
Nebenbei bemerkt hat sich auch das in diesem Zu-sammenhang vielgepriesene Kanada bereits vom klassi-schen Punktesystem verabschiedet. Denn viele Einwan-derer, die darüber nach Kanada kamen, haben denEinstieg in den Arbeitsmarkt nur weit unter ihrem Quali-fikationsniveau geschafft. Deshalb ist mittlerweile auchdort wie in Deutschland für immer mehr Berufe ein ver-bindliches Jobangebot notwendig.Auch die übrigen Forderungen Ihres Antrags, liebeKolleginnen und Kollegen von den Grünen, sind völligüberflüssig. Denn wir haben beim Thema Familiennach-zug, beim Staatsangehörigkeitsrecht, beim Arbeits-marktzugang für Asylbewerber und Flüchtlinge undauch beim Ausbau der Integrationskurse bereits gutfunktionierende Lösungen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt also genugGründe, weshalb wir in Deutschland an dem im Koali-tionsvertrag vereinbarten Grundsatz der bedarfsgerech-ten Zuwanderung festhalten sollten. Konkret heißt das:Wir wollen Menschen nach Deutschland holen, die un-sere Wirtschaft auch braucht. Was wir nicht wollen, isteine Zuwanderung auf Vorrat und in unser Sozialsystem.
Meine Damen und Herren, ich finde es gut, dass derKollege Tauber eine Debatte darüber angestoßen hat,wie Zuwanderung nach Deutschland in Zukunft ausse-hen soll.
Sie können versichert sein, dass wir ihn heute nicht be-wusst ausgesperrt haben.
Denn gerade in Zeiten der Globalisierung und einesschnellen gesellschaftlichen Wandels, der viele Unsi-cherheiten mit sich bringt, erwarten die Bürgerinnen undBürger, dass wir uns mit dieser Frage beschäftigen. Wirwerden in der Union und auch als Koalition diese De-batte ernsthaft führen. Liebe Kolleginnen und Kollegen,das heißt nicht, dass wir hierüber einen Streit führen,sondern wir diskutieren, und das ist in einer Demokratieja auch möglich.
So möchte ich mit den Worten des vor wenigen Tagenverstorbenen Bundespräsidenten Richard von Weizsäckerschließen, der bereits 1994 in der damaligen Zuwande-rungsdebatte gesagt hat – ich zitiere –:Wir brauchen neue Regelungen für Einwanderungund Staatsangehörigkeit, aber natürlich nicht, umunsere Tore für die Wanderer aus aller Welt unbe-grenzt zu öffnen, sondern um die Zuwanderung ge-mäß den Interessen und Verpflichtungen unseresLandes zu steuern. Dann wird die Einwanderung zueiner sinnvollen Vorsorge für die Zukunft.Meine Damen und Herren, mit den zahlreichen Refor-men im Einwanderungsrecht der vergangenen Jahre ha-ben wir Zuwanderungsregelungen ganz im Sinne vonRichard von Weizsäcker geschaffen. Wir sind bereit,über weitere sinnvolle und pragmatische Vorschläge zudiskutieren. Der vorliegende Antrag der Grünen beinhal-tet solche Vorschläge jedoch nicht. Daher lehnen wir ihnab.Vielen Dank.
Danke, Frau Kollegin Warken. – Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/3915 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Vereinbarte Debatte
Arbeitsprogramm der Europäischen Kom-
mission 2015
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
– Wenn Sie bitte entweder Platz nehmen oder den Raum
verlassen würden, könnten wir mit der Debatte begin-
nen.
Erster Redner in der Debatte: Norbert Spinrath für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! KommissionspräsidentJuncker beschrieb in seinen politischen Leitlinien für dieneue Europäische Kommission seine Prioritäten mit fol-genden Worten – ich zitiere –:
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8052 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Norbert Spinrath
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Wieder Wachstum zu schaffen und Menschen zu-rück in Arbeit zu bringen – das wird mein oberstesZiel sein.Er sagte auch, er wolle das Konzept der Kommission füreine vertiefte und echte Wirtschafts- und Währungs-union stützen und die soziale Dimension Europas nie ausden Augen verlieren.Das nun vorgelegte Programm dieser Kommission istsehr viel politischer als das ihrer Vorgänger. Es enthälteine starke Konzentration auf die Kernpunkte Europas:das Investitionspaket, die Energieunion, den Daten-schutz, die Finanztransaktionsteuer, die europäischeNachbarschaftspolitik, die digitale Agenda und den Bü-rokratieabbau.Es überrascht nicht, dass dieses Programm sehr vielprogrammatischer und politischer geworden ist als dieProgramme der Vorgängerkommissionen. Es überraschtnicht nach einem auch sehr politisch geführten Wahl-kampf mit Spitzenkandidaten der beiden großen europäi-schen Parteifamilien.Ich glaube, es ist richtig, sich aus einem Sammelsu-rium von üblicherweise 180 Maßnahmenpaketen auf dieKernpunkte zu konzentrieren; das begrüße ich ausdrück-lich.
Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt eswichtige Themen, die derzeit die Menschen in Europabewegen, Themen, die sich unter den angekündigtenProjekten aber nur unzureichend wiederfinden oder nochfarb- oder konturlos bleiben, so der Kampf gegen dieSteuerhinterziehung und der Kampf gegen die Steuer-flucht gerade von Reichen und Unternehmen.Ganz wesentlich fehlt auf den ersten Blick der ausge-schriebene Begriff „soziales Europa“. Ich kann den Zusi-cherungen der Kommission nur glauben, dass dahinterkeine politische Grundausrichtung steht und sie es ver-stehen wird, die sozialen Aspekte an die Kernpunkte an-zudocken.Besondere Priorität bei der Ausrichtung des Arbeits-programms der Kommission muss deshalb darauf liegen,das wachsende Ungleichgewicht in und zwischen denMitgliedstaaten zu beseitigen, die nach wie vor viel zuhohe Arbeitslosigkeit insbesondere der Jugendlichen ineinigen Ländern Europas zu bekämpfen, das wachsendeLohndumping zu verhindern und die Auswüchse prekä-rer Arbeit bis hin zum massiven Missbrauch von Arbeit-nehmerrechten und zu kriminellen Machenschaften zumBeispiel bei Entsendungen, bei Subunternehmen, bei ge-zielter Ausnutzung von Regelungslücken bei grenzüber-schreitender Beschäftigung zu bekämpfen.
Zu den Auswüchsen prekärer Arbeit: Ich will nichtakzeptieren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass dieMaßeinheiten in Europa neu definiert werden und wiezufällig ab dem 1. Januar – passend zur Einführung desgesetzlichen Mindestlohns – die Stunde plötzlich 90 statt60 Minuten hat, die Stunde plötzlich durch Stückzahlenoder Quadratmeter ersetzt wird, der Taxifahrer plötzlichnur noch für reine Fahrzeiten, nicht aber für Stand- undWartezeiten bezahlt wird. Wo bleibt, frage ich, liebeKolleginnen und Kollegen, hier der Aufstand der An-ständigen, und damit meine ich, auch der Aufstand deranständigen Arbeitgeber?
Dies passiert mitten in Deutschland. Deutschland istmitten in Europa. Auch deshalb brauchen wir ein sozia-les Europa. Und es irrten schon immer diejenigen, diesagten: Sozial ist, was Arbeit schafft. – Es war schon im-mer richtig, dass sozial ist, was gute Arbeit schafft, liebeKolleginnen und Kollegen.
Selbstverständlich zählt zu einem sozialen Europa auchdie Gleichstellung von Frauen und Männern in der EU:Frauenquote, Mutterschutzrichtlinie, Equal Pay. Ge-schlechtsspezifische Differenzen bei den Renten, Frauen,die oft – und sehr viel öfter als Männer – in unsicherenBeschäftigungsverhältnissen, in Teilzeit- und Leiharbeits-verträgen sind – die Liste der strukturellen Geschlechter-diskriminierung ist lang.
Auf freiwilliger Basis hat das alles nicht funktioniert;wir haben es ausprobiert. Auch hier, denke ich, ist dieKommission aufgefordert, das auf europäischer Ebenenachzuarbeiten.
Die Kommission muss bei jedem ihrer 23 Kernpunktedie sozialen Aspekte als zentrales Element verstehen.Das von Kommissionspräsident Juncker vorgestellte In-vestitionspaket soll private und staatliche Investitionenbündeln, Wachstum und Beschäftigung nachhaltig an-kurbeln. Daraus könnte ein immenser Beitrag zur Be-kämpfung der hohen Arbeitslosigkeit entstehen.
Aber selbst wenn es nicht gelingt, Herr Kollege, dannbin ich schon froh darüber, dass Europa, Herr Junckerund die Europäische Kommission nach den letzten Jah-ren verstanden haben, dass es zwingend notwendig ist,neben einem Kurs der Sparpolitik, der Konsolidierungder Haushalte endlich auch Investitionen aufzulegen, ummit den Problemen umzugehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Flüchtlings-politik muss die EU neue Mittel und Wege finden. Auchdas gehört zu einem sozialen Europa. Darüber haben wir
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8053
Norbert Spinrath
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vorhin diskutiert. Es ist nicht der Kern des Problems, nurdie Symptome zu diskutieren. Akute Hilfe ist notwendig,so bei humanitären Katastrophen auf dem Mittelmeer.Wir müssen insgesamt eine menschenwürdige europäi-sche Asyl- und Flüchtlingspolitik finden, die den huma-nitären Bedürfnissen und Grundrechten der flüchtendenMenschen gerecht wird. Wir brauchen eine nachhaltigeund progressive Entwicklungspolitik, um die Lebensbe-dingungen in den Herkunftsländern zu verbessern unddie Fluchtursachen zu beseitigen. Auch hier muss dieKommission für eine echte gemeinsame Flüchtlingspoli-tik nacharbeiten.
Das zentrale Ziel der neuen Kommission muss darinbestehen, das europäische Sozialmodell nachhaltig zuetablieren und widerstandsfähiger zu machen. Sie musses als Modell etablieren, auf das man in der EU stolzsein kann und mit dem man weltweit eine führende Rolleeinnehmen kann; denn eines haben die Krisen undEntwicklungen in den letzten Jahren deutlich gezeigt:Ein rein auf Wirtschaftsfragen reduziertes Europa zer-stört das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in dasProjekt EU.Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. LiebeKolleginnen und Kollegen, verbunden mit dem Dank fürIhre Aufmerksamkeit erinnere ich an dieser Stelle an dieursprüngliche Bedeutung der durch den ehemaligenKommissionspräsidenten Jacques Delors geprägtenBegrifflichkeit ESM. ESM – dafür haben wir heute an-dere Bezeichnungen – stand einmal für das europäischeSozialmodell, mit dem Delors Europa bereits in den90er-Jahren eine soziale Dimension verleihen wollte.Aus der Vergangenheit lernend, um die Probleme derGegenwart zu lösen und die Herausforderungen der Zu-kunft anzunehmen, hat die neue Kommission jetzt dieChance, ein neues Europa der Bürgerinnen und Bürger,ein soziales Europa, zu schaffen,
Danke, Herr Kollege Spinrath. – Nächster Redner in
der Debatte ist Alexander Ulrich für die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Chance, in diesen Tagen, in denen die Medien vielüber die Auswirkungen einer sehr erfolgreichen Wahl inGriechenland berichten, im Bundestag über Griechen-land zu reden, sollten wir nicht an uns vorbeiziehen las-sen. Herr Spinrath, wenn man über ein soziales Europareden will – Sie selbst sagen, dass das Arbeitsprogrammder EU-Kommission noch zu wenig Inhalte für ein so-ziales Europa bietet –, dann ist das Eingeständnis not-wendig, dass die EU-Kommission in den letzten Jahrenmit ihrer verheerenden Troika-Politik kräftig daran mit-gearbeitet hat, dass das soziale Europa ein Stück weitzerstört wurde.
Es muss klar sein: In Griechenland wurde eine Parteigewählt, die im Prinzip das aufräumen muss, was diekorrupten Schwesterparteien von CDU/CSU und SPD inden vergangenen Jahren angestellt haben.
Ihre korrupten Schwesterparteien haben sich Griechen-land zur Beute gemacht. Jetzt muss Syriza versuchen,das Land einigermaßen nach vorne zu bringen.
Dass die Gewerkschaftsspitzen in Deutschland undviele Prominente ein Stück weiter sind als Sie, zeigt einaktueller Aufruf, in dem es heißt: Das, was in Griechen-land passiert, ist tatsächlich eine Chance für ein demo-kratisches und soziales Europa. – Diese Chance solltenicht durch CDU/CSU und SPD bekämpft werden, son-dern wir sollten die griechische Regierung bei diesemWeg unterstützen, ein soziales Europa mitzugestalten.
Der EU-Parlamentspräsident Schulz, ein Sozialdemo-krat, hat letzte Woche im Fernsehen gesagt, er habe kei-nen „Bock“ – das war sein wörtlicher Ausspruch –, übereine notwendige Neuorientierung der Europapolitik mitden Griechen zu reden. Die Gewerkschaftsspitzen in die-sem Land sind hier ein Stück weiter.Syriza tritt an, um die Grundlagen für ein anderes Eu-ropa zu stellen. Das, was Syriza vorschlägt, liebe Sozial-demokraten, ist eigentlich ursozialdemokratisch. Siesollten es unterstützen und nicht bekämpfen.
Die erste und wichtigste Voraussetzung für dieses an-dere Europa ist ein Ende des Kürzungswahns. DiesesEnde wurde bereits in die Wege geleitet. Eine der erstenMaßnahmen von Syriza war es, dass die Troika – hier istdie EU-Kommission dabei – vor die Tür gesetzt wurde.Damit uns klar wird, worum es geht:
Ein Viertel der Griechinnen und Griechen ist heute ar-beitslos. 6 von 11 Millionen Griechen leben in Armutoder sind von Armut bedroht. Das Ganze wurde ja ge-macht, um der Schuldenkrise Herr zu werden. DieSchulden in Griechenland sind aber von 146 Prozent auf176 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen, trotzdieser verheerenden Politik.Die Politik der Troika, der EU-Kommission, angeord-net von Bundeskanzlerin Angela Merkel, ist grandiosgescheitert. Nicht Griechenland ist „Geisterfahrer“ – wieder Spiegel schreibt –; die deutsche Bundesregierungwar jahrelang Geisterfahrer in Europa.
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Alexander Ulrich
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Deshalb ist es jetzt zwingend notwendig, dass wir dieChance ergreifen, die durch die Wahl in Griechenlandmöglich ist. Denn nur so kriegen wir es hin, ein soziale-res Europa zu gestalten. Wer nur will, dass weiter ge-kürzt wird, der wird den Kopf dafür hinhalten müssen,dass die Jugendarbeitslosigkeit, Herr Spinrath, nicht ab-gebaut wird.Wir brauchen tatsächlich eine Schuldenkonferenz, sowie sie 1953 Deutschland geholfen hat.
Wir brauchen einen fairen Ausgleich zwischen den Grie-chen sowie den anderen Schuldnerländern und den Gläu-bigern. Nur so ist eine Chance vorhanden. Gerade wirDeutschen sollten dieser historischen Verantwortung ge-recht werden. Wir hätten nie nach dem Zweiten Welt-krieg diese Chancen gehabt, wenn es nicht auch einenSchuldenerlass für Deutschland gegeben hätte. Das Glei-che muss jetzt Griechenland zugutekommen.
EU-Kommissionspräsident Juncker hat jetzt den Jun-cker-Plan als das Projekt vorgeschlagen. Was wir zwin-gend und dringend brauchen, sind tatsächlich mehr öf-fentliche Investitionen, aber nicht das, was Junckervorschlägt: Er will aus Geldern in Höhe von 21 Milliar-den Euro, die er irgendwie aus den verschiedenen EU-Töpfen auftreibt, 315 Milliarden Euro machen. Das istVoodoo-Ökonomie. Das würde am Schluss nicht zu dengewünschten Ergebnissen führen. Deshalb fordern wirLinke, dass europaweit öffentliche Gelder in Höhe vonmindestens 500 Milliarden Euro in einen sozial-ökologi-schen Umbau investiert werden. Finanziert werdenkönnte das tatsächlich über eine drastische Besteuerungvon Reichtum, Finanzgeschäften an den Börsen und Ver-mögen.
Was Sigmar Gabriel anscheinend auch unterstützt, ist,dass der Juncker-Plan mit PPP-Projekten umgesetztwird. Bei PPP-Projekten ist es am Schluss so, dass dieGewinne der Privatwirtschaft zufließen und die Risikender Steuerzahler zu tragen hat. Solche Programme leh-nen wir Linke ab.
Wir wollen, dass Private haften, wenn sie falsche Ge-schäfte machen.
Deshalb brauchen wir ein Zukunftsinvestitionspro-gramm mit öffentlichen Geldern.
Ganz zum Schluss – ich komme zum Ende, Frau Prä-sidentin –: Wenn die EU-Kommission in diesem Jahrwirklich etwas Vernünftiges hinbekommen will, solltesie sofort die Verhandlungen über TTIP und CETA stop-pen.
Wir brauchen keinen neuen Angriff auf Arbeitnehmer-rechte, Sozialstandards und Verbraucherschutzstandards.Wenn diese Abkommen umgesetzt werden, HerrSpinrath, werden wir ein noch unsozialeres Europa be-kommen. Aber leider reicht die SPD auch da die Hand.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt Detlef Seif, CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! „Ein neuer Start“ –diese ambitionierte Überschrift trägt das Arbeitspro-gramm der Kommission 2015. Die Kommission hat inder Vergangenheit schon einiges auf den Weg gebracht,um zu entbürokratisieren, zu verschlanken, Verfahren zuvereinfachen. Ich nenne nur das REFIT-Programm. Inden vergangenen Jahren hat die Kommission erkannt: Esgibt viel zu viele neue Initiativen. Deshalb wurde dieZahl der Initiativen von 316 im Jahr 2010 auf 58 im Jahr2013 reduziert.Ein Riesenproblem, das auch von uns immer disku-tiert wird, ist die Größe der Kommission: Wir haben28 Kommissionsmitglieder. So viele Kompetenzen gibtes gar nicht. Die Arbeitsprogramme der letzten Jahre ha-ben gezeigt: Man arbeitet gegeneinander und nicht mit-einander. Deshalb war es clever von Juncker, auf derGrundlage des EU-Vertrags eine Neustrukturierung vor-zunehmen, sieben Vizepräsidenten zu benennen, ihnenjeweils ein Projektteam – man nennt das „Cluster“ – zu-zuordnen und zukünftig neue Initiativen nur noch zuzu-lassen, wenn sie intern zwischen Kommissar und Vizeabgestimmt sind.Das Arbeitsprogramm 2015 ist mit 23 neuen Initiati-ven weiter abgespeckt worden. Es ist sicherlich zu früh,die Arbeit abschließend zu bewerten, aber eines kannman sagen: Das, was die Juncker-Kommission mit denVorschlägen zur Organisationsstruktur und dem vorlie-genden Arbeitsprogramm auf den Weg gebracht hat,kann sich sehen lassen. Wenn Juncker und sein Team soweitermachen, dann werden sie von Deutschland zu100 Prozent unterstützt.
Auch inhaltlich ist der Schwerpunkt richtig gelegt – HerrKollege Spinrath hat es in seiner Rede angesprochen –:Beschäftigung, Wachstum und Investitionen stehen ganzoben auf der Agenda.Der Juncker-Plan wird oft belächelt, auch teilweise inunserem Hause: Wie will man – ist die Frage – aus16 Milliarden Euro EU-Mittel und 5 Milliarden EuroMittel der Europäischen Investitionsbank mindestens
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Detlef Seif
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315 Milliarden Euro Investitionen generieren? Aber manmuss bedenken: Die Europäische Investitionsbank hat inder Vergangenheit bewiesen, dass von ihr vergebeneKredite teilweise das 25- oder 30-Fache an Investitionenhebeln können. Deshalb bin ich der Meinung, dass wirzunächst abwarten sollten. Aber eines ist ganz wichtig:Voraussetzung ist ein gutes Investitionsklima in Europainsgesamt, insbesondere in den Mitgliedstaaten, die dieDarlehen beanspruchen möchten.Herr Ulrich, damit bin ich bei Griechenland. Sie allekennen die griechische Sage von Sisyphos, dem Königvon Korinth. Er war bei den Göttern in Ungnade gefal-len, und es ist ihm nie gelungen, einen großen schwerenStein den Berg hinauf zu hieven.
Nun komme ich zu Alexis Tsipras. Er traut den Men-schen in seinem eigenen Land nicht die Schaffenskraftzu, aus dieser Krise herauszukommen, und das ist bedau-erlich. Griechenland war auf einem guten Weg. Die vonder Troika prognostizierten Entwicklungsdaten für Grie-chenland wurden übertroffen.
Um bei der Sage von Sisyphos zu bleiben: Tsipras undVaroufakis, sein Finanzminister, sollten jetzt nicht vonoben auf den Stein springen, sondern sie sollten liebervon unten nachdrücken, damit die Entwicklung in dierichtige Richtung geht.
Es ist schon eine bodenlose Dreistigkeit, Ursache undWirkung zu verwechseln. Wo kommt denn die Krise inGriechenland her?
– Weder durch die Bankenrettung
noch durch die Unterstützungsleistungen der Mitglied-staaten und auch nicht durch die aufgelegten Pro-gramme. Sie ist auf die letzten Jahrzehnte zurückzufüh-ren.Denken Sie sich die Programme, die aufgelegt wurden,einmal weg. Was meinen Sie, was dann in Griechenlandjetzt los wäre? Dann würde nicht nur ein Viertel der Men-schen in Armut leben, sondern ganz Griechenland würdebrachliegen.
Griechenland ist in Gefahr, dahin zu kommen. Wenndie Politik nicht abgestimmt ist, wenn die Minister nichtmiteinander reden und jeder am Tag drei unterschiedli-che Auffassungen hat: Wo soll denn das Vertrauen her-kommen, um Investitionen zu tätigen? Aber genau diesind wichtig.
Ich komme wieder zum Arbeitsprogramm 2015. Grie-chenland hat nur dann eine gute Zukunft, wenn die wirt-schaftspolitische Philosophie, wie sie im Arbeitspro-gramm 2015 verankert ist, auch umgesetzt wird. Dazugehören nun einmal die Strukturreformen. Dazu gehörteine solide Haushaltspolitik. Natürlich müssen Investi-tionen hinzukommen. Deshalb sind Investitionsimpulsedas A und O, um Griechenland nach vorne zu bringen.Leider ist Griechenland bei den Strukturreformen aufhalber Strecke stehengeblieben. Das brauchen Sie dochkeinem zu sagen. Es geht um effiziente Verwaltung, Be-kämpfung der Korruption. Viele Grüße an Anel, den Ko-alitionspartner von Syriza! Sie reden hier so nett, aber esist eine rechtspopulistische Partei, korrupt bis ins Mark,homophob und rassistisch.
– Ich wusste ja, dass Sie auf dem linken Auge blind sind,aber mittlerweile sollten Sie Ihre Sehstärke auch auf derrechten Seite überprüfen lassen.
Jetzt kommen wir zum entscheidenden Thema. Wich-tig ist eine klare Orientierung. Ein Schuldenschnitt odereine ähnliche Maßnahme ist nicht erforderlich und recht-lich – Stichwort „Bail-out“ – wie politisch auch nichtdurchsetzbar. Jeder Verzicht zugunsten Griechenlands– gehen Sie einmal von 50 Prozent aus – würde fürDeutschland jetzt und sofort einen Verlust von 40 Mil-liarden Euro bedeuten. Für das schwache Portugal – diesind ja froh, wenn sie irgendwo noch einen Euro herbe-kommen – würde das einen Verlust von 3,7 MilliardenEuro bedeuten. Und für Estland würde das einen Verlustvon 270 Millionen Euro bedeuten; überlegen Sie sichdas einmal. Das wäre die Belastung, wenn wir Griechen-land großzügig einen Nachlass einräumten, der über-haupt nicht erforderlich ist. Eine Krise, die durch billigesGeld produziert wurde, kann man nicht dadurch lösen,dass man tonnenweise, unbegrenzt billiges Geld in dieMärkte pumpt, ohne das an wirtschaftspolitische Kondi-tionen zu binden.
Meine Damen und Herren, mein Herz brennt für Eu-ropa, auch für Griechenland; aber die Griechen müssenin die richtige Richtung gehen.
Von unserem Verhalten wird es abhängen, ob die Euro-päische Union eine Gemeinschaft mit festen, vorherseh-baren Regeln ist oder ob Begehrlichkeiten geweckt wer-den, die wir nicht mehr unter Kontrolle haben werden,
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8056 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Detlef Seif
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ob Beliebigkeit gilt und wir wieder eine Union werden– eine solche Union waren wir einmal –, die sich durch-wurschtelt, eine Muddling-through-Union. Das gilt es zuvermeiden.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen erhältjetzt das Wort Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission istmit „Ein neuer Start“ überschrieben. Ich kann jetzt nichtauf alles eingehen, möchte aber sagen: Einiges, was derKollege Spinrath als positiv benannt hat, kann mandurchaus teilen; aber man muss deutlich hinzufügen: Beiden Punkten des Arbeitsprogramms, die durchaus posi-tiv sind, war es immer die Bundesregierung, die da aufeuropäischer Ebene gebremst hat. Die EuropäischeKommission ist also deutlich weiter als diese Bundesre-gierung.
Von einem neuen Start war eben in der Rede des Kolle-gen Seif nicht viel zu merken. Auch das klang wiedereher nach einem Bremsen. Tatsächlich ist aber eine an-dere Richtung notwendig.Dabei ist es wichtig, die Probleme, die wir haben, zubeschreiben: Wir haben nach wie vor eine ökonomischeKrise in Europa. Diese Krise hält an und ist keine reineStaatsschuldenkrise, die durch billiges Geld verursachtwurde; Ursache dieser Krise ist immer noch die Finanz-krise von 2008/2009. Außerdem ist, zumindest andeu-tungsweise, eine politische Krise zu erkennen: Die EUhat Risse bekommen dadurch, dass viele Mitgliedstaatennur noch ihre nationalen Interessen verfolgen, allen vo-ran diese Bundesregierung. Viele Bürgerinnen undBürger wenden sich leider ab, wählen nationale oder na-tionalistische Parteien, in manchen Ländern sogar fa-schistische Parteien. Der Zusammenhalt in Europa istgefährdet. Die Frage nach einem sozialen Europa – auchda stimme ich dem Kollegen Spinrath voll zu – ist dahertatsächlich eine Kernfrage. Sie wird in dem Arbeitspro-gramm aber ein bisschen dünn beantwortet.
Wir müssen jetzt beide Probleme angehen. Dazubrauchen wir eine Vision von Europa. Wo soll es eigent-lich hingehen? „Neuer Start“ ist daher, glaube ich, dierichtige Überschrift für das Arbeitsprogramm. Für unsist wichtig, dass wir die Vision mit konkreten Schrittenverbinden, dass wir Ökologie, Ökonomie und Sozialesmiteinander verbinden. Wir nennen das Ganze GrünerNew Deal. Das ist in der Tat das, was jetzt in Europa not-wendig ist.
Zum Juncker-Plan. Der Juncker-Plan könnte tatsäch-lich eine Chance darstellen, aber nur unter folgenden Be-dingungen: Es muss auch mehr öffentliche Investitionengeben; die Investitionen müssen eine Richtung haben; esmüssen ökologische, soziale und vor allem in die Zu-kunft gerichtete Investitionen sein; und die Investitionenmüssen für Europa einen Mehrwert darstellen.
Eine weitere Bedingung ist, dass diese 21 MilliardenEuro durch Gelder der Mitgliedstaaten aufgestockt wer-den. Die Möglichkeit dazu besteht. Die Bundesregierungkönnte da ein Vorbild sein: Wir schlagen vor, zusätzlich12 Milliarden Euro in den Topf zu packen. Doch wassagt die Bundesregierung? Wir geben 0 Euro zusätzlichin diesen Topf. – So wird das nicht funktionieren.
– Stellen Sie eine Frage, dann kann ich darauf antwor-ten.Neben mehr Zukunftsinvestitionen brauchen wir abervor allen Dingen ein sozialeres Europa. Wir müssen end-lich die soziale Schieflage beseitigen, die durch die Kri-senpolitik entstanden ist. Wir brauchen eine stärkere Be-steuerung der Reichen und Vermögenden; aber vor allenDingen müssen wir Maßnahmen gegen Armut ergreifen.
Strukturreformen kann es nämlich nur mit und nicht ge-gen die Menschen geben.
Strukturreformen müssen deshalb die soziale Sicherheitstärken und dürfen sie nicht schwächen, so wie das inGriechenland passiert ist.Wir brauchen insgesamt mehr sichtbare Schritte fürein sozialeres Europa. Die Bundesregierung muss sichdafür einsetzen, dass in der EU eine Mindesteinkom-mensrichtlinie geschaffen wird, um flächendeckendeund angemessene Grundsicherungssysteme in allen EU-Staaten sicherzustellen.Die Bekämpfung der Armut und der Kampf gegen so-ziale Ausgrenzung müssen weiterhin zentrale Ziele derEU sein. Im Moment gibt es auf EU-Ebene eine Debattedarüber. Da wünsche mir die klare Stimme der Bundes-regierung – bisher habe ich diese nicht gehört –, die sagt,dass die Bekämpfung der Armut und der sozialen Aus-grenzung weiterhin Ziele auf EU-Ebene bleiben.
Angesichts der globalen Herausforderungen müssenwir deutlicher machen, dass wir in Europa nur gemein-sam stark sind. Wir sitzen alle in einem Boot. Wenn esirgendwo ein Leck gibt, sind wir alle betroffen. Wir müs-sen gemeinsam daran arbeiten, dass die zu beobachten-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8057
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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den Risse nicht zu einem Auseinanderbrechen der EUführen. Ein soziales Europa ist der Kitt, der die EU zu-sammenhält.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Thomas Dörflinger.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn manwie ich das Vergnügen hat, über mehrere Jahre hinwegdie Berichterstattung zu einem bestimmten Thema zubetreuen, dann schaut man sich in der Vorbereitung sei-ner Plenarrede natürlich an: Was haben wir denn letztesJahr zu diesem Thema erzählt?
Um zur Abwechslung einmal den Redner selbst zu zi-tieren: Da finden sich, bezogen auf das Arbeitspro-gramm der Kommission 2014 und Vorjahre, Formulie-rungen wie: Da hat wohl jemand all das aufgeschrieben,was einem zur Regulierung noch einfällt. Oder: Man ge-winnt den Eindruck, da ist nicht für die nächsten zwölfMonate, sondern für die nächsten zwölf Jahre geplantworden, und das ist auch nur abarbeitbar unter der Vo-raussetzung, dass wir die Wochenenden und Feiertagedurcharbeiten und nächtens nur das Allernötigste schla-fen. – Insofern ist der Untertitel „Ein neuer Start“ desArbeitsprogramms der Kommission 2015 unter Jean-Claude Juncker durchaus berechtigt. Es hebt sich wohl-tuend von den Vorgängerentwürfen aus den Vorjahren2014 und davor ab.Das Programm ist teilweise, so kurz es auch gehaltenist, erstaunlich konkret, etwa im Bereich Finanzen undSteuern, Stichwort Finanztransaktionsteuer und die rich-tigen Schlüsse aus der Finanz- und Bankenkrise 2008 ff.Es ist allerdings auch an einigen Stellen ein bisschenschwammig. Beim Bereich „Integration und Migration“etwa hätte man sich das an einigen Stellen etwas konkre-ter gewünscht. Das muss nicht zwangsläufig zu neuengesetzgeberischen Vorstößen führen – wir haben dasgestern im Ausschuss diskutiert –, aber man hätte ver-stärkt folgende Frage in den Blick nehmen sollen: Gibtes bei schon bestehenden Regelungen – ich nenne alsStichworte das Schengener Informationssystem undDublin – einen Optimierungsbedarf beim Vollzug? Daswäre durchaus ein Thema, dem sich die Kommission inden nächsten Monaten widmen könnte und sollte.Wir kennen aus dem Deutschen Bundestag das Prin-zip der Diskontinuität. Ins Deutsche übersetzt heißt daseinfach: Was bis zum Ende der Legislaturperiode nichtabgearbeitet ist, klopfen wir in die Tonne. – Das hat sichin den vielen Jahren, in denen es den Deutschen Bundes-tag gibt, als Arbeitsprinzip durchaus bewährt. Die Euro-päische Kommission ist noch nicht ganz so weit. Aberich will durchaus anerkennen, dass sich Jean-ClaudeJuncker mit Blick auf das, was die Barroso-Kommissionübrig gelassen hat, wenigstens dem Vorhaben gestellthat, einen Strich zu ziehen und zu sagen: Einige Projekteverfolgen wir weiter, und eine ganze Reihe von Projek-ten – über 80 an der Zahl – verfolgen wir nicht weiter,weil sie uns aus den unterschiedlichsten Gründen nichtsinnvoll erscheinen. – Das ist ein deutlicher Fortschrittgegenüber dem, was in der Vergangenheit gemachtwurde.
Von den Vorrednerinnen und Vorrednern ist verschie-dentlich das Thema Entbürokratisierung angesprochenworden. Nun hatten wir einen nicht unprominentenDeutschen, Edmund Stoiber, der in diesem Sektor – unddas auch nicht ganz ohne Erfolg – unterwegs war.
Allerdings gehört zur Ehrlichkeit auch dazu, festzustel-len, dass manches, was er sich zum Thema Entbürokrati-sierung vorgestellt hat, sich in der Praxis als nicht so ein-fach erwiesen hat.
Was ich Ihnen jetzt vortrage, fällt unter den Bereichder Stilblüten – Zitat –:Die Kommission wird ihr Instrumentarium für eine
ren Katalog neuer Maßnahmen im Rahmen ihresregulatorischen Eignungs- und Leistungspro-gramms erarbeiten. Alle Organe müssen sich denGrundsatz der besseren Rechtsetzung zu eigen ma-chen, wenn wir den Gesetzgebungsprozess auf derEU-Ebene effizienter gestalten wollen. Daher wirddie Kommission eine neue interinstitutionelle Ver-einbarung über eine bessere Rechtsetzung vorschla-gen.Meine Damen und Herren, wer hat das begriffen?
Das Echo ist überschaubar. Ich habe nichts anderes er-wartet. Darin verbirgt sich das Vorhaben, die Arbeit effi-zienter und unbürokratischer zu gestalten.Ich sage nicht nur an die Adresse der Kommission,sondern auch an die eigene Bundesregierung: Kinder,macht es einfach einfacher. Wenn schon bei der Be-schreibung des Vorhabens die Schwierigkeit darin liegt,den Bürgerinnen und Bürgern das, was man vorhat, sozu erklären, dass sie es auch verstehen, wird es unterdem Strich etwas schwierig. Deswegen sage ich: Wenn
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8058 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Thomas Dörflinger
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Entbürokratisierung, dann macht es wirklich einfacher,und schreibt nicht so darüber, dass es niemand versteht!
Gibt es darüber hinaus eine Botschaft, die wir der Eu-ropäischen Kommission für die nächsten zwölf Monatemitgeben möchten? Ich sage, ja. Meine persönliche Bot-schaft – sicherlich spreche ich hier auch im Namen mei-ner Fraktion – ist die folgende: Ich glaube, dass 2015insbesondere bei einem Thema ein entscheidendes Jahrfür die Arbeit der Kommission wird, und das ist dasThema Stabilitäts- und Wachstumspakt. Es gibt aus demvorletzten Jahr eine schöne Übersicht der EuropäischenKommission in Zusammenarbeit mit Eurostat darüber,wer in den vergangenen über zehn Jahren die Vorgabendes Stabilitätspaktes eingehalten hat und wer nicht. MitVerlaub, wir als Bundesrepublik Deutschland haben unsin all den Jahren auch nicht mit Ruhm bekleckert. Dasmuss man der Ehrlichkeit halber dazusagen.
Die Mehrzahl in dieser Übersicht ist orange und rot, dieMinderzahl ist grün markiert.
Das ist ein Zeichen dafür, dass wir, wenn wir Ver-trauen in die Währung, in den Euro, dauerhaft erhaltenbzw. stärken wollen, die Stabilitätskriterien nicht als et-was betrachten dürfen, das irgendjemand auf ein StückPapier geschrieben hat und das der beliebigen Flexibili-sierung unterliegt. Vielmehr müssen dann die Kriterienetwas sein, das für die Zukunft gilt, und zwar egal, umwen es geht. Ich sage das nicht nur mit Blick auf Grie-chenland, sondern auch mit Blick auf das eine oder an-dere Mitgliedsland der Europäischen Union,
mit denen wir über diese Frage im laufenden Jahr 2015noch gelegentlich diskutieren müssen.Es ist eine entscheidende Frage für den Erhalt und fürdie Stärkung des Vertrauens in unsere Währung. Wennwir an dieser Stelle wackeln, dann werden wir am Endezur Kenntnis nehmen müssen, dass wir nicht nur dasVertrauen in die Währung nachhaltig beschädigt haben,sondern dass wir auch einen nachhaltigen Beitrag dazugeleistet haben, dass die Währung per se geschädigt ist.Das kann in niemandes Interesse sein, weder in unseremInteresse als Bundesrepublik Deutschland noch im Inte-resse der anderen Mitgliedstaaten der EuropäischenUnion. Deswegen lautet meine herzliche Bitte sowohl andie Europäische Kommission als auch an die Bundesre-gierung und das Hohe Haus, bei diesem Punkt in dennächsten zwölf Monaten Sorgfalt walten zu lassen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Für die Linke hat jetzt Andrej Hunko
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Seif!
Sie können Länder, die sich mitten in einer Depres-
sion befinden, nicht immer weiter ausquetschen.
Diese Worte von Präsident Obama – Sie stehen doch
sonst immer stramm, wenn er etwas sagt – sollten Sie
sich wirklich einmal zu Herzen nehmen.
Sie haben eben gesagt, das Problem in Griechenland
seien nicht die Programme, sondern es gebe nur inner-
griechische Probleme.
Wissen Sie noch, was das ist? Im Januar 2012 beschlos-
sen wir im Bundestag in namentlicher Abstimmung das
zweite Griechenlandpaket. Ich will Ihnen einmal vorle-
sen, was darin steht:
Die Regierung führt die Umsetzung der 2010 einge-
leiteten umfassenden Reform des Gesundheitssys-
tems fort mit dem Ziel, die öffentlichen Gesund-
heitsausgaben … auf oder unter 6 Prozent des BIP
zu halten.
Was heißt das? Bei uns in Deutschland betragen die Ge-
sundheitsausgaben 11 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts. Griechenland ist gezwungen worden, die Gesund-
heitsausgaben auf unter 6 Prozent zu senken. Es sind
jetzt nach Lancet 4,7 Prozent und nach Angaben der
griechischen Regierung nur noch 3,5 Prozent. Das heißt,
es ist ein katastrophales Programm. Über 30 Prozent ha-
ben keine Krankenversicherung mehr. Krankheiten sind
neu ausgebrochen. Das ist Ausquetschen. Das muss auf-
hören. Ich fordere die Bundesregierung auf, der neuen
griechischen Regierung eine Chance zu geben.
Ich möchte Sie jetzt etwas fragen, Herr Kollege
Hunko: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Sarrazin?
Bitte schön.
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Herr Kollege Sarrazin.
Kollege Hunko, zunächst: Wir haben im Bundestag
nicht das Memorandum beschlossen.
Im Bundestag haben wir Einvernehmen hergestellt, die
Kredite auszuzahlen. Unserer Fraktion war es immer
sehr wichtig, zu betonen: Das Memorandum wurde von
der griechischen Politik beschlossen, und der Bundestag
gibt sein Einvernehmen dafür, dass die Kredite ausge-
zahlt werden können. Das heißt, hier zuzustimmen, ist
immer ein Akt der Solidarität mit Griechenland gewe-
sen.
Hier abzulehnen, kann unterschiedlich interpretiert wer-
den.
Zum Gesundheitssystem. Sie haben total recht, dass
das Gesundheitssystem in Griechenland in einer sehr
schlechten Lage ist und dass wir bereit sein müssen,
Geld auszugeben, um es zu verbessern. Ich glaube nur,
dass Sie in Ihren Redebeiträgen verpassen, zu erwähnen,
dass das Gesundheitssystem in Griechenland schon vor
der Krise in einer schlechten Lage war
– mit den pro Kopf höchsten Ausgaben in ganz Europa,
ohne dabei effizient zu sein oder dass Fakelaki abgestellt
worden wäre –,
dass das Gesundheitssystem durch die Krise erst recht in
eine schlimme Lage gekommen ist und dass man beides
machen muss: Geld dafür ausgeben, aber auch Struktur-
reformen angehen. Das fehlt mir in Ihren Debattenbei-
trägen zum Gesundheitssystem.
In dem gleichen Programm ist festgeschrieben wor-
den, dass eine Gesundheitsreform durchgeführt wird,
in deren Rahmen erstmals in der Geschichte Griechen-
lands eine Primärversorgung eingeführt werden soll. Ich
fände es toll, wenn wir gemeinsam dafür streiten wür-
den, dass die Troika und die Bundesregierung Griechen-
land mehr Zeit lassen, diese Primärversorgung aufzu-
bauen.
– Wissen Sie, Herr Kollege: Die Primärversorgung wird
im Rahmen der griechischen Gesundheitsreform auf den
Weg gebracht. Dass die griechische Regierung bisher
nicht genug gemacht hat, um die Gesundheitsreform an-
zugehen und endlich Hausärzte einzuführen, ist natürlich
ein Mangel. Deutschland und die Troika müssen mehr
darauf drängen, dass das geschieht. Aber man kann die
griechische Politik nicht aus der Verantwortung lassen.
Ich denke, es könnte eine große Chance sein, dass
Herr Tsipras das endlich angeht. Aber dann müssen Sie
Herrn Tsipras auch in die Pflicht nehmen.
Ich habe nicht die Hoffnung, dass Herr Kammenos auf
der Seite derjenigen stehen wird, die diese Reformen
wollen. – Das war eine Zwischenbemerkung; danke.
Jetzt hat überwiegend der Kollege Hunko das Wort.
Ich will auf den ersten Teil Ihrer Bemerkung einge-hen, Herr Sarrazin, nämlich auf die Frage: Worüber ha-ben wir damals eigentlich abgestimmt? Sie sagten, wirhätten nur über Kredite abgestimmt und nicht über dieMemoranden bzw. die Programme.
Das ist falsch.
Die Kredite waren untrennbar verbunden mit den Me-moranden – das haben wir auch damals gesagt –, die of-fensichtlich auch Sie ablehnen. Diese Memorandenhaben die Situation in Griechenland immer weiter ver-schlimmert und das Land in eine humanitäre Krise ge-führt.
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8060 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Andrej Hunko
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Wenn Sie abgewartet hätten: Ich hätte auch noch etwasdazu gesagt, welchen Anteil Griechenland selbst daranhat.Der Kollege Seif hat sich eben der griechischen My-thologie bedient und von Sisyphos gesprochen. Die Si-tuation ist aber eine andere. Wir haben es in Griechen-land mit einem Augiasstall zu tun,
mit einem Augiasstall, für den Ihre SchwesterparteienPasok und Nea Dimokratia verantwortlich sind. Wir sindsehr wohl dafür, diesen Augiasstall aufzuräumen. DieRolle von Tsipras ist nicht die von Sisyphos, sondern dievon Herakles oder, wie er immer genannt wird, Herku-les.
Dieser Augiasstall muss endlich ausgemistet werden.Das muss in Griechenland passieren.
Lassen Sie mich noch ein paar Worte zu dem Investi-tionsplan von Juncker sagen. Immerhin tut Juncker so,als ob erkannt wurde: Das Problem in der Euro-Zone istein Investitionsproblem. Wir brauchen eigentlich öffent-liche Investitionsprogramme. Aber das Programm, dasjetzt aufgelegt wurde – der Kollege hat es eben schon ge-sagt –, ist Voodoo-Ökonomie. Da werden 21 MilliardenEuro öffentlicher Steuergelder zusammengeklaubt, dannsoll das Geld 15-fach gehebelt werden, und private In-vestitionen sollen damit induziert werden. Wenn Ver-luste gemacht werden, werden diese aus öffentlichenGeldern bezahlt; es gibt also eine Risikoabsicherung.Diese Politik der Sozialisierung von Verlusten und derPrivatisierung von Gewinnen lehnen wir ab.
Der Ausgang der Wahlen in Griechenland und dieEntwicklung in anderen südeuropäischen Ländern sindein demokratischer Aufschrei, der deutlich macht, dassdie bisherige Krisenpolitik in der Europäischen Uniongescheitert ist. Wir sollten diesen demokratischen Auf-schrei ernst nehmen und nutzen, um zu dem zu kommen,was Herr Spinrath eben gesagt hat: zu einem sozialenEuropa. Die Hände der griechischen Regierung sind aus-gestreckt. Ich denke, wir sollten sie ergreifen.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Bevor ich der Kollegin Groneberg das
Wort gebe, habe ich zwei Meldungen zu einer Kurzinter-
vention. Als Erster hat sich der Kollege Weinberg ge-
meldet, danach der Kollege Stübgen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich fühle mich durch
die Ausführungen des Kollegen Sarrazin zur Situation
des Gesundheitswesens in Griechenland und die angebli-
chen Reformen doch etwas herausgefordert. In Grie-
chenland wurden im Zuge der Troika-Politik etwa 3 000
Ärztinnen und Ärzte entlassen und Polikliniken ge-
schlossen. Es gab keine Primärversorgung, sondern nur
eine sogenannte Notfallversorgung, die beispielsweise
noch nicht einmal onkologische Erkrankungen im An-
fangsstadium abgedeckt hat, sondern nur im terminalen
Stadium, also im Endstadium.
Man muss sich das einmal vorstellen: Das bedeutet, erst
wenn Menschen im Sterben liegen, bekommen sie eine
Notfallversorgung. Über 30 Prozent der Menschen ha-
ben keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung gehabt.
Wir haben die Gesundheitsversorgung in Griechenland
im Prinzip auf das Niveau eines Entwicklungslandes zu-
rückgebracht. Das ist die reale Situation.
Das Reformprogramm, das dann unter Federführung
der Bundesregierung eingeführt worden ist, bestand im
Kern darin – das muss man sich einmal auf der Zunge
zergehen lassen –, in der Krankenhausfinanzierung die
Finanzierung über sogenannte DRG, also über Fallpau-
schalen, einzuführen. Das war im Wesentlichen nichts
anderes, als dem Institut für das Entgeltsystem im Kran-
kenhaus in Deutschland einen Auftrag zuzuschieben,
was für die Gesundheitsversorgung, die Krankenhaus-
versorgung in Griechenland überhaupt nichts gebracht
hat.
Vielen Dank. – Ich mache darauf aufmerksam, dass
nach unserer Geschäftsordnung die Zwischenbemerkun-
gen kurz, bündig und präzise sein sollten.
Herr Kollege Weinberg, Sie haben den Kollegen
Sarrazin angesprochen. Das entspricht nicht ganz unse-
rer Geschäftsordnung, weil der Kollege Sarrazin seiner-
seits auch nur eine Zwischenfrage gestellt hatte. Da Sie
die Kurzintervention nun aber einmal gemacht haben,
gebe ich dem Kollegen Sarrazin das Wort zur Erwide-
rung. Dann kommt anschließend der Kollege Stübgen. –
Bitte schön, Herr Sarrazin.
Herr Kollege, was ich sagen wollte, war, dass wir esuns nicht zu einfach machen sollten. Wir sollten nicht sotun, als seien die Sparmaßnahmen im Gesundheitssys-tem in Griechenland alleine daran schuld, dass die Lagedort so schlimm ist. Das alte System, das vergleichs-weise teuer war, war auch nicht effizient. Die Troika hatgemeinsam mit der griechischen Regierung erstmals da-für gesorgt, dass eine Primärversorgung eingeführt wird
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Manuel Sarrazin
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– diese ist bis jetzt aber noch nicht in ausreichendemUmfang eingeführt worden –, weil es teuer ist, immernur eine kostenlose Notfallversorgung im Krankenhausanzubieten, die noch dazu mit Fakelaki geregelt wurde.Es ist billiger, wenn Menschen erst zum Hausarzt gehen,gerade bei chronischen Erkrankungen oder wenn sie sichin einem frühen Stadium einer Krankheit befinden. Siemüssen doch erwähnen, dass es Sinn macht, wenigerGeld auszugeben und dafür das Gesundheitssystem, dasvorher wirklich korrupt war, das, wie Kollege Hunko ge-sagt hat, ein Augiusstall war, umzubauen.Aus der Krankenversicherung in Griechenland istGeld herausgeholt worden ohne Ende. Ganz ehrlich: Wirkennen so etwas auch aus Deutschland. Aber hier so zutun, als hätte man das nicht angehen müssen, das werfeich Ihnen vor. Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie gesagthaben, dass man mit Sparen aufhören solle.
Zu dem, was Sie zu den Krankenhäusern gesagt ha-ben. Ich sage es mal ganz ehrlich: Der Vater einer Freun-din von mir war Oberarzt an einem früher städtischenKlinikum in Hamburg. Er musste in den 70er-Jahren indie SPD eintreten, um Oberarzt werden zu können. – Sowar das zum Teil auch in Griechenland. Lassen Sie unsdoch gemeinsam daran arbeiten, dass das Gesundheits-system in Griechenland mit genügend Geld ausgestattetist. Wir müssen aber dafür sorgen, dass es nicht dazu daist, parteipolitische Interessen zu bedienen. Ich habekeine große Hoffnung, dass Ihr neuer Koalitionspartnerdafür steht.
Letzter Punkt. Ich glaube, wir müssen uns vor Augenhalten, dass die wirklich dramatische Lage im Gesund-heitssystem in Griechenland nicht dadurch besser wer-den wird, dass wir jetzt weiter Druck hinsichtlich der Fi-nanzierung ausüben. Die Ausgabenbegrenzung auf6 Prozent sollte auf jeden Fall erreicht werden; das seheich auch so. Aber lassen Sie uns das bitte zusammen for-mulieren, mit dem Anspruch auf Strukturreformen imGesundheitssystem. Lassen Sie die griechische Politiknicht aus der Verantwortung, eine Gesundheitsreformumzusetzen, die auch für mehr Effizienz sorgt.Danke.
Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt der Kollege
Stübgen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Zunächst noch kurz
zum Gesundheitssystem: Wenn Sie im letzten Jahrzehnt
nach Griechenland oder nach Zypern reisen wollten,
wurden Sie gewarnt, unter anderem vom Auswärtigen
Amt, im Falle einer Krankheit das staatliche Gesund-
heitssystem in Anspruch zu nehmen, weil die Gefähr-
dung für Leib und Leben zu groß sei. Das war die Situa-
tion schon vor der Krise. Sie konnten sowohl in Zypern
– übrigens unter einem kommunistischen Präsidenten –
als auch in Griechenland in Privatkliniken sehr gute Ge-
sundheitsleistungen bekommen, wenn Sie diese privat
bezahlt haben. Wenn Sie das Geld nicht hatten, wie die
Masse der Bevölkerung, sind Sie nicht versorgt worden.
Das sollte geändert werden. Das ist noch nicht ausrei-
chend geändert worden, in der Tat. Aber dieser Ansatz
ist nicht falsch, sondern sehr richtig. Da müssen Sie die
ganze Wahrheit sagen.
Ich will noch kurz auf ein Thema von Herrn Hunko
eingehen, die sogenannte Voodoo-Ökonomie. Das ist ja
ein schöner Begriff für das Investitionspaket, bei dem
man davon ausgeht, dass es, wenn es funktioniert, zu ei-
ner 15-fachen Hebelwirkung kommen wird. Herr
Hunko, Sie sollten sich daran erinnern – wir haben das
im Ausschuss mehrfach diskutiert –: Die Europäische
Investitionsbank hat in den letzten vier Jahren eine 18-
fache Hebelwirkung bei den von ihr finanzierten Investi-
tions- und Strukturprojekten erreicht. Es handelt sich
also nicht um Voodoo, sondern es ist nachgewiesen, dass
das geht. Sie wissen sehr genau – da sind wir uns ja,
denke ich, einig; Sie kritisieren es aber merkwürdiger-
weise –: Eines der Hauptprobleme der Krisenländer in
der Euro-Zone ist doch die Tatsache, dass dort kein
Wachstum stattfindet, dass nicht investiert wird, dass das
Bruttoinlandsprodukt nicht steigt.
Wenn es nicht steigt, haben Sie immer das Problem, dass
Sie bei den Ausgaben kürzen müssen. Wenn das Brutto-
inlandsprodukt steigt, können Sie auch mehr für soziale
Leistungen ausgeben.
Keiner kann Ihnen heute sagen – Herr Juncker nicht und
auch niemand von der Bundesregierung –, ob dieses
Investitionsprogramm so funktioniert, wie wir es uns
vorstellen. Aber dass wir versuchen, diese Not zu lin-
dern, Europa voranzubringen und in erster Linie in den
Krisenländern mehr Wachstum, mehr Arbeit und mehr
Sozialausgaben zu generieren, müssten Sie eigentlich
unterstützen und mindestens loben, statt von Voodoo-
Ökonomie zu faseln.
Danke.
Vielen Dank. – Das Wort zur Erwiderung hat jetzt derKollege Hunko.
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8062 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
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Herr Kollege Stübgen, Sie haben zwei Punkte ange-
sprochen: das griechische Gesundheitssystem und den
Investitionsplan von Herrn Juncker.
Zum griechischen Gesundheitssystem. Wir waren mit
dem Ausschuss in der letzten Legislatur zweimal in
Griechenland, das eine Mal mit Ihnen zusammen, das
andere Mal einige Mitglieder mit Herrn Krichbaum. Ich
habe für die zweite Reise dem Ausschuss vorgeschlagen,
dass wir uns dort das Gesundheitssystem anschauen,
dass wir Krankenhäuser besuchen. Leider war niemand
Ihrer Kollegen dazu bereit.
– Ich rede von den Regierungsfraktionen.
Ich musste mir im Rahmen dieser letzten Ausschussreise
alleine ein Krankenhaus in einem Stadtteil von Athen
anschauen. Dort herrschen wirklich Zustände – ich kann
das hier nicht weiter ausführen –, die dringend verändert
werden müssen
und die eben zum Teil auf diese Troika-Programme und
zum Teil auf innergriechische Probleme zurückgehen.
Ich schlage ganz konkret vor: Lassen Sie uns als Delega-
tion des Ausschusses noch einmal gemeinsam nach
Griechenland fahren, um dort das Gesundheitssystem
anzuschauen, um uns damit zu konfrontieren,
wie es da aussieht, und dann auch hier qualifizierter dis-
kutieren zu können.
Zum zweiten Punkt. Ich habe gesagt, ich begrüße es,
dass mindestens erkannt wird, dass wir einen Investiti-
onsstau in der Euro-Zone haben. Wenn Sie aber selbst
sagen: „Ja, das könnte funktionieren“, dann ist mir das
zu wenig. Wir brauchen öffentliche Investitionspro-
gramme, die durch eine Vermögensabgabe und auch
durch eine Besteuerung der Reichen finanziert werden.
Geld ist in der Euro-Zone ausreichend vorhanden. Wir
brauchen diese Investitionsprogramme als echte öffentli-
che Investitionsprogramme und nicht im Rahmen dieser
komischen Konstruktion, wie sie gegenwärtig von Herrn
Juncker geplant ist.
Vielen Dank.
Vielen Dank. – Dann kommen wir jetzt wieder zu un-
serer offiziellen Rednerliste. Das Wort hat Gabriele
Groneberg, SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von demdurchaus spannenden Thema jetzt wieder zurück zumambitionierten Arbeitsprogramm der EU-Kommissionund damit zu zwei gleichfalls spannenden Themen, näm-lich zur geplanten Energieunion und zur digitalen Ge-sellschaft. Uns Sozialdemokraten ist in der Tat klar:Auch da müssen die sozialen Komponenten besser be-achtet werden. Das ist, ich sage einmal, verbesserungs-bedürftig. Herr Dörflinger, Sie haben vollkommen recht:Das Programm läuft in diesem Jahr nicht unter demMotto „Masse ist klasse“; man hat sich auf einige Punktebeschränkt. Dadurch gibt es aber, denke ich, mehr Stoß-wirkung in die richtige Richtung.Zur geplanten Energieunion. Für Leute, die sich nochnicht damit befasst haben: Es geht um die Schaffung ei-nes einheitlichen Binnenmarktes für Energieleistungen.Dazu ist einiges zu sagen. Grund für die Eile bei der Be-ratung ist der Konflikt im Osten der EuropäischenUnion. Der Gasstreit zwischen Russland und derUkraine ist nicht neu; den gab es schon vor einigen Jah-ren in extremer Form. Aber der seit Frühjahr letzten Jah-res bestehende Konflikt zwischen den beiden Ländernufert jetzt aus. Wir sollten uns also damit befassen, dasswir in Europa immer noch zu sehr von Erdöl- und Erd-gaseinfuhren abhängig sind, und für die Zukunft eineRegelung finden, das in den Griff zu bekommen. DerWunsch von Kommissionspräsident Juncker, unsere eu-ropäischen Ressourcen zu bündeln, unsere Infrastruktu-ren zu kombinieren und unsere Verhandlungsmacht ge-genüber Drittländern zu stärken – das ist ganz wichtig –,geht auf den Vorschlag von Polens ehemaligem Minis-terpräsidenten Tusk zurück, die Energieabhängigkeit ab-zubauen und gleichzeitig unseren Energiemarkt für Län-der außerhalb der EU offenzuhalten.Fest steht jedenfalls: Es kann jederzeit in der EU– und die ist sehr groß – zu einer Unterbrechung derEnergieversorgung kommen. Darüber hinaus könnensich mindestens 10 Prozent der Haushalte keine richtigeHeizung leisten. Im Übrigen wird immer noch viel zuviel Energie verschwendet. Allein das zeigt die sozialeKomponente einer gemeinsamen europäischen Energie-politik auf. Energie bzw. Strom für jeden zu einem er-schwinglichen Preis an jeden Ort zu bringen, sollte unserZiel sein. Das ist zugegebenermaßen ziemlich ambitio-niert. Es wird schwierig sein, das zu erreichen. Die Ener-giepolitik ist immer auch mit einer funktionierenden Kli-mapolitik in Einklang zu bringen. Das ist die großeHerausforderung. 28 voneinander getrennte Energiepoli-tiken der Länder müssen unter einen Hut gebracht wer-den. Das allein in Deutschland zu organisieren, ist schonschwierig. Ich verweise in dem Zusammenhang auf die
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8063
Gabriele Groneberg
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Widerspenstigkeit des bayerischen MinisterpräsidentenSeehofer
in Bezug auf den Bau der für den Energietransport inDeutschland notwendigen Stromleitungen. Das ist einschlechtes Beispiel. Davon abgesehen ist die Vernetzungdes europäischen Energiebinnenmarktes unbestritten einhehres Ziel. Wir müssen immer die Tatsache im Hinter-kopf haben, dass wir es noch nicht einmal geschafft ha-ben, einen gut funktionierenden Emissionshandel zu or-ganisieren.Die Beratungen über eine europäische Energieunionnehmen nun Fahrt auf. Der gute Wille aller Beteiligtenwird notwendig sein, um kritische Probleme, wie zumBeispiel die Wahl der Energiequellen der einzelnen Mit-gliedstaaten, zu lösen. Wir sagen beispielsweise: Wirwollen aus der Atomkraft raus. – Andere bauen Atom-kraft aus. Mit Blick auf die Klimakonferenz in ParisEnde 2015 hätten wir uns – das haben wir hier schon desÖfteren gesagt – aus deutscher Sicht durchaus ambitio-niertere Ziele für Klimapolitik im Arbeitsprogramm ge-wünscht.Ich komme zu einem anderen spannenden Thema,nämlich zum vernetzten digitalen Binnenmarkt. Diedigitale Gesellschaft ist nicht nur ein Schlagwort. Siebedeutet heutzutage Zugang zu sozialen Medien, zuInformation und Bildung. Sicherlich bedeutet dies inZukunft auch, dass zum Beispiel die altersgerechte Digi-talisierung einer Wohnung einen längeren Verbleib inden eigenen vier Wänden sichern kann. Digitalisierungstellt für unsere Wirtschaft eine zwingend notwendigeGrundlage für internationalen Wettbewerb dar. DigitaleInfrastrukturen und Breitbandverbindungen müssengrenzüberschreitend verfügbar sein. Unsere Wirtschaftmuss – das ist ganz klar – nicht für ein zweites Googlebereitstehen. Das Know-how aber, Datensicherheit undDatensicherung zu entwickeln, kann durchaus zu einerexponierten Stellung im Weltmarkt führen. Das Paket fürden digitalen Binnenmarkt ist daher eine sinnvolle Prio-risierung im Arbeitsprogramm. GrenzüberschreitenderZugang zu digitalen Diensten und gleiche Ausgangsbe-dingungen für über 500 Millionen Verbraucherinnen undVerbraucher in der Europäischen Union, aber auch fürunsere Wirtschaft bzw. unsere Unternehmen, sind in ei-nem gemeinsamen Europa einfach unerlässlich. So weit,so gut.Fest steht aber auch, dass die fortschreitende Digitali-sierung untrennbar mit dem Schutz unserer Daten ver-bunden ist. Unser europäisches Datenschutzrecht von1995 ist restlos überholt. Es befindet sich mindestens imdigitalen Mittelalter. Daher brauchen wir dringend eineneue Datenschutzverordnung. Die Dominanz derjenigenUnternehmen, die unsere Daten benutzen und zum Teilvielleicht unrechtmäßig weitergeben, muss durch einevernünftige Grundverordnung gebändigt werden. Ge-rade nach den Anschlägen in Paris und angesichts deraktuellen Entwicklung muss die EU auch Antworten aufdie terroristischen Herausforderungen geben, die beste-hende Datenschutzrichtlinie überarbeiten und Konse-quenzen aus der NSA-Affäre ziehen. Um geistiges Ei-gentum und technische Patente zu schützen, wird eineModernisierung des Urheberrechts ebenso unabdingbarsein.Die Schaffung eines digitalen europäischen Binnen-marktes bietet soziale Chancen und auch Herausforde-rungen. Das Potenzial des europäischen Arbeitsmarktesund die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit könnenin diesem Zusammenhang nicht einfach außer Acht ge-lassen werden. Die Medienkompetenz in allen Alters-gruppen und in allen sozialen Schichten zu fördern, heißteben auch, die digitale Spaltung unserer Gesellschaft zuverhindern. In diesem Sinne ist das Arbeitsprogrammder Kommission sicherlich ein richtiger Schritt auf die-sem Weg, und das 315-Milliarden-Euro-Investitionspro-gramm ist hier eine sehr gute Untermauerung.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist AnnalenaBaerbock, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich glaube, dieser kleine Schlagabtausch hierhat sehr deutlich gemacht, was Europa eben auch aus-zeichnet, nämlich, dass ein einfaches Bashing nicht sim-pel ist, weil das Mehrebenensystem verschiedene Ver-antwortungsträger hat. Hier macht nicht nur die böse EUoder das böse Land Fehler, sondern das ist immer einZusammenwirken. Mich irritiert deshalb sehr, dass Sievon der CDU/CSU hier noch einmal deutlich gemachthaben: Die letzte Kommission hat die ganzen Projektenicht hinbekommen. Jetzt soll sie mehr liefern. – DieKommission formuliert nur Arbeitsaufträge, auch in die-sem Programm. Umgesetzt wird das dann von dem Eu-ropäischen Parlament und den Mitgliedstaaten. Dasheißt, alle Arbeitsaufträge, die in diesem Arbeitspro-gramm stehen, richten sich vor allen Dingen an Sie alsKoalitionsfraktionen.
Wenn Herr Juncker mit dem Investitionsprogramm end-lich ein großes Projekt in Europa angeht, kann man hiernicht schwarz-weiß sagen: „Alles scheiße, wir wollendas nicht so haben“, sondern muss konstruktiv daran ar-beiten und sagen, wie man das eigentlich umsetzen will.Hier stehen Sie in der Verantwortung.
– Ja, das kann man.
– Ich rede gerade; Sie können nachher gerne noch etwassagen.
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8064 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Annalena Baerbock
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Sie können dann auch nicht einfach sagen: Wir müs-sen mal gucken, was wir damit machen.Sie haben versucht, Herrn Juncker gleich bei seinemersten großen Projekt ein Bein zu stellen. Als Erstes ha-ben Sie eine Ramschliste nach Europa geschickt, umdieses große Projekt anzugehen. Mittlerweile haben wirSie zum Glück überzeugt, dass das nicht sehr sinnvollwar, und im Ausschuss wurde mehrfach betont – dieListe ist jetzt vom Tisch –, dass das nur eine Idee war.Ihre nächste Nebelkerze war – Herr Seif, Sie haben of-fensichtlich nicht verstanden, was das für eine Nebel-kerze ist –, dass Sie verkündet haben, jetzt 8 MilliardenEuro in dieses Investitionsprogramm zu stecken. Leiderstecken Sie dieses Geld aber nicht dort hinein, wo inves-tiert werden müsste, nämlich in öffentliche große Pro-jekte, sondern Sie entziehen Herrn Juncker einfach seineArbeitsgrundlage und sagen: Wir investieren nur in derzweiten Stufe, um mit der KfW selber Rendite machenzu können. Die Investitionen, die in anderen Ländern ge-braucht werden, sind uns herzlich egal. – So funktioniertdas aber eben nicht. Wenn man fordert, dass EuropaGroßes leistet, kann es nicht sein, dass die Großen kei-nen Beitrag dazu leisten.
Der zweite Punkt, bei dem Sie ganz stark in der Ver-antwortung stehen, sind die – Herr Dörflinger und HerrSeif haben das hier sehr gelobt – REFIT-Vorschläge imArbeitsprogramm. Man will jetzt einzelne Projekte einfachvom Tisch nehmen. Was wird vom Tisch genommen? Eineder größten Errungenschaften Europas, nämlich das euro-päische Umweltschutzprogramm. Die Kommission hatvorgeschlagen, dass das Maßnahmenpaket für saubereLuft in Europa und das Paket zur Kreislaufwirtschafteingestellt werden sollen. Das ist nicht nur eine kleineAktion, sondern ein Angriff auf die Ziele der Europäi-schen Union, die gemäß Artikel 3 des Vertrages über dieEuropäische Union für den Schutz der sauberen Umweltin Europa zu sorgen hat. Hier müssen Sie als Bundesre-gierung sagen: So geht das nicht!
Die Streichung dieser Punkte steht auch im Wider-spruch zu dem von Ihnen vor zwei Jahren mit beschlosse-nen Umweltaktionsprogramm. Dieses Programm habenSie nicht nur aus nachhaltigen Gründen mit beschlossen,sondern auch, um Investitionen in Europa anzuregen.Diese beiden Pakete hätten zusammen 180 000 neueJobs in Europa gebracht, und es könnten 40 MilliardenEuro gespart werden und in nachhaltige Projekte inves-tiert werden. Das soll jetzt gekillt werden. Dafür kannder Deutsche Bundestag doch nicht seine Zustimmunggeben.
Der dritte Punkt, bei dem die Bundesregierung aktivwerden muss – Frau Groneberg hat es angesprochen;aber es ist nicht allein Aufgabe der Europäischen Kom-mission, sondern der Rat spielt dabei eine entscheidendeRolle –, betrifft den Emissionshandel, der ein entschei-dendes Element Ihrer Klimaschutzmaßnahmen ist, unddie Energieunion. Bisher stehen Sie leider an der Außen-linie und warten ab, was in Europa so passieren soll. Sogeht es nicht. Wenn wir nicht weiter auf Importe fossilerEnergien setzen wollen – die Importe fossiler Energiennach Europa werden mit 400 Milliarden Euro jährlichfinanziert –, dann müssen wir als Deutscher Bundestagmit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz klarmachen:„Diese Energieunion kann es nur geben, wenn sie zu ei-ner Klimaunion wird“, wie es einer der großen altenKommissare der Kommission ins Stammbuch geschrie-ben hat. Er hat zur Energieunion gesagt – ich zitiere –:Es ist an der Zeit, den Enthusiasmus für eine Ideewiederzufinden, die utopisch bleibt, aber verwirk-licht werden kann. Es gibt keine Zeit mehr zu ver-lieren.In diesem Sinne: Denken Sie groß, und denken Sie dieEnergieunion als Klimaunion!Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Baerbock. Es wäre schön,
wenn wir in Zukunft auch in sprachlicher Hinsicht bei
den parlamentarischen Gepflogenheiten bleiben würden.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Dr. Christoph Bergner,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir dis-kutieren als nationales Parlament den Arbeitsplan derEuropäischen Kommission. Kollege Spinrath hat die De-batte eröffnet und die Prioritäten und entsprechendenKernpunkte genannt, und Sie sind in der nachfolgendenDebatte zu einer, wie zu erwarten war, unterschiedlichenBewertung gekommen.Ich möchte die Aufmerksamkeit auf einen anderenPunkt lenken, der mir diesen Neuanfang der Kommis-sion besonders wertvoll macht. Ich zitiere aus der Eröff-nungsrede des neuen Kommissionspräsidenten im Juli:Die Beziehungen zu den nationalen Parlamentensind für mich von großer Bedeutung, insbesonderebei der Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips.Ich werde erkunden, wie die Interaktion mit den na-tionalen Parlamenten als eine Möglichkeit zur An-näherung der Europäischen Union an ihre Bürgerin-nen und Bürger verbessert werden kann.Dieses Zitat ist mir nicht nur deshalb wichtig, weilwir hier in einem nationalen Parlament diskutieren unddamit gewissermaßen auch eine besondere Ermunterungdurch den Kommissionspräsidenten erhalten, sondern
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Dr. Christoph Bergner
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weil in diesem Zitat ein Problem der Europäischen Unionangesprochen ist, das wir nicht unterschätzen dürfen,nämlich dass – im Umkehrschluss zu Junckers Zitat –die Annäherung der Bürgerinnen und Bürger an die Eu-ropäische Union offenkundig verbesserungswürdig ist.Wir sind in einer Situation, in der sich, wie in Demo-kratien nicht überraschend, in den unterschiedlichenLändern auch europafeindliche Parteien entwickeln.Aber ich möchte nicht, dass mit Bürokratie, Bürgerferneoder anderem diesen Parteien noch zusätzliche Argu-mente zuwachsen.
Deshalb ist es außerordentlich wichtig, dass wir uns dieFrage stellen, wie Bürgernähe auch auf europäischerEbene besser organisiert werden kann. Ich habe mit gro-ßer Aufmerksamkeit das Buch „Europa neu erfinden“unseres früheren Bundespräsidenten Roman Herzog ge-lesen, in dem er vor dem Überstaat Europa warnt, vorder Gefahr, dass europäische Institutionen überstaatli-chen Charakter erreichen und die Kontrolle durch denSouverän nicht mehr vorhanden ist.Ich finde, einer der großen Vorzüge dieses Arbeits-programms der Europäischen Kommission besteht darin,dass es eine durchaus selbstkritische Analyse zum Aus-gangspunkt genommen hat. Ich habe in dieser Hinsichtviele Aussagen des Präsidenten Juncker sehr begrüßt.Man hat eine Kommissionsstruktur geschaffen, dieschlanker und wechselseitig besser vernetzt ist; Herr Seifhat das bereits entsprechend erläutert. Auch die Anony-misierung einzelner Kommissarentscheidungen wirdaufgehoben, indem gewissermaßen eine Diskontinuitäteingeführt wird. Das heißt, das gesamte Inventar, daseinmal geschaffen wurde, muss nicht ewig weiterge-schleppt werden. Vielmehr ist man sehr sparsam, wennes um Rechtsetzungsinitiativen geht. Dieser Plan siehtgerade 23 vor. Schließlich wird unter ausdrücklichemHinweis auf die Subsidiarität eine Konzentration aufKernziele vorgenommen.Ich finde – deshalb habe ich das Zitat von HerrnJuncker vorangestellt –, dass wir uns als nationales Par-lament vornehmen sollten, zu prüfen, ob diese Vorsätzedurch die Politik erfüllt werden, ob beispielsweise dieBürgernähe am Ende des Arbeitsplans tatsächlich zuge-nommen hat. Ich bin der Meinung, dass die Akzeptanzunserer europäischen Institutionen in Zukunft wesentlichvon Bürgernähe abhängt. Wir sollten diese Herausforde-rung nicht unterschätzen und als nationales Parlamentdie Kommission dabei unterstützen.
Nun ist über den Arbeitsplan der Kommission nichtzu diskutieren, ohne auf die aktuellen Entwicklungeneinzugehen. Ich will zwei nennen.Erstens. Das Jahr 2015 wartet mit besonderen Heraus-forderungen. Während wir die Ratifizierung der Asso-ziierungsverträge mit Georgien, Moldau und der Ukraineberaten, ist einer unserer Vertragspartner, die Ukraine,unmittelbares Opfer einer hybriden Kriegsführung Mos-kaus. Anliegen und Konzept der EU-Partnerschaftspoli-tik werden hier mit militärischen Mitteln infrage gestellt.Wir sollten diese Herausforderung nicht unterschätzen.
Zweitens. Während wir als deutscher Haushaltsge-setzgeber heute Morgen über die Finanzaufsicht überVersicherungen beraten haben, sind der deutsche und dergriechische Finanzminister zusammengetroffen undkonstituierte sich das neu gewählte Parlament in Athen.Ich habe aus diesem Grund das Bedürfnis, hier in meinerRede Folgendes festzustellen: Ich respektiere die Ent-scheidung des griechischen Wählers und gratuliere par-teiübergreifend den Kolleginnen und Kollegen, die einschwieriges Amt in Griechenland antreten. Aber ichfühle mich vor dem Hintergrund mancher Debatte in denletzten Tagen gedrängt, zu sagen: Auch die Parlamenteder Mitgliedstaaten – auch das deutsche Parlament –sind demokratisch gewählt und demokratisch legitimiert.
– Ja, aber dann respektieren Sie bitte auch, dass vieleEntscheidungen, die nun als Diktat dargestellt und alsBevormundung und Angriffe interpretiert werden,
von frei gewählten Mandatsträgern in Parlamenten ge-troffen wurden.
Ich lege großen Wert darauf, festzustellen, dass wir esuns hier im deutschen Parlament mit den Entscheidun-gen betreffend die Griechenlandpakete – bis hin zu derEntscheidung im Dezember letzten Jahres – nicht leichtgemacht haben.
Die Opposition hat damals gesagt: Lasst sie nur Geldausgeben!
Widerspruch gab es aber auch in meiner Fraktion. Einigemeiner Kollegen waren der Auffassung, diese Haftungkönne dem deutschen Steuerzahler nicht zugemutet wer-den. Wir haben abgewogen, was möglich war, und habenin Verantwortung und vor allem in Solidarität für Grie-chenland entschieden. Aber der Ton, der nun angeschla-gen wird, ist in vielerlei Hinsicht nicht akzeptabel.
Wenn die These stimmt, dass zu einer Währungs-union auch immer eine politische Union gehört, dann ge-
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Dr. Christoph Bergner
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hört dazu, dass Parlamentsentscheidungen in gegenseiti-gem Respekt getroffen und berücksichtigt werden unddass man in Wahlkämpfen nicht so tut, als ob alles vomHimmel gefallen wäre.Herzlichen Dank.
Das war jetzt ein wunderbares Schlusswort. Danke
schön. – Nächster Redner ist Joachim Poß für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich wollte Sie, Herr Kollege Bergner, noch kurz ergän-
zen. Ich glaube, dass sich jeder in der Politik, egal wo er
verortet ist, links, rechts oder in der Mitte, wo immer er
sich sieht, vor Hybris fürchten sollte. Auch für eine de-
mokratisch gewählte griechische Regierung gilt: Mit
Hybris und der Attitüde „Wir wissen es alles besser, aber
wir übernehmen nicht die Verantwortung“ – die sich
durch die Entwicklung in Griechenland ergeben hat –,
mit Dilettantismus und Populismus kann man nicht er-
folgreich sein.
Dann gibt es auch noch die Mischung von linkem und
rechtem Populismus. Diese Mischung ist für die weitere
Entwicklung in Europa hochgefährlich. Das will ich ein-
mal deutlich sagen.
Das ist eine hochgefährliche Mischung. Sie verbündet
sich de facto mit der Partei von Le Pen und ähnlichen
Gruppierungen unter der Oberhoheit von Herrn Putin.
Das ist die Entwicklung, die wir derzeit hier erleben.
Nun zum Arbeitsprogramm der Europäischen Kom-
mission.
Herr Kollege Poß, gestatten Sie vorher noch eine
Zwischenfrage des Kollegen Hunko?
Ja, natürlich.
Bitte schön, Herr Hunko.
Vielen Dank, Herr Kollege Poß. – Ist Ihnen bekannt,
dass die Regierung, die diese Programme vor der Wahl
2012 umgesetzt hatte, eine Regierung war, die sich aus
der griechischen Pasok, also Ihrer Schwesterpartei, aus
der Nea Dimokratia, der Schwesterpartei der Union, und
der wirklich rechtspopulistischen LAOS-Partei zusam-
mensetzte? Mit letzterer Partei hat Ihre Schwesterpartei
eine Koalition gebildet. Damals habe ich überhaupt kei-
nen Aufschrei über diese Regierung gehört, weil die Pro-
gramme umgesetzt wurden. Jetzt regt man sich auf. Das
ist Doppelmoral. Ist Ihnen das bekannt? Können Sie
dazu etwas sagen? Das ist Hybris, Herr Poß.
Mir sind die Regierungen der letzten Jahre und Jahr-zehnte bekannt. Die griechischen Wählerinnen undWähler haben die beiden Parteien, die Sie jetzt genannthaben, die konservative sowie die sozialdemokratische,zu Recht abgewählt. Das darf aber nicht diejenigen, diedemokratisch gewählt wurden, dazu verleiten, in demStil weiter fortzufahren, den sie jetzt an den Tag legen.
Im Interesse der griechischen Bevölkerung sollten sie ei-nen anderen Ton und einen anderen Stil wählen. Sie soll-ten sich um die Probleme kümmern.
Denn das Kernproblem, lieber Kollege, ist doch, dassin den letzten 40 Jahren die beiden politischen Parteien,die Sie zu Recht genannt haben, in Verbindung mit denOligarchen, den Reichen und Mächtigen in Griechen-land systematisch ihr eigenes Land ausgeplündert haben.Das ist der Kern der Krise. Die Parteien haben verzich-tet, die Reichen an der Finanzierung des Gemeinwesenszu beteiligen. Das sollte die jetzige Regierung ändern,
sie sollte aber nicht solche Töne spucken, wie sie es inden letzten Wochen und Tagen getan hat.
Ihr Verhalten bei den Paketen, über die wir hier abge-stimmt haben, habe ich immer als jämmerlich empfun-den. Sie haben sich der Verantwortung für die Existenzder konkreten griechischen Menschen entzogen.
Wir haben die Verantwortung wahrgenommen, auchwenn wir wissen, dass die ersten Rettungspakete wachs-tumsschädlich und sozial unausgewogenen waren.
Das ist unbestritten. Jedenfalls gilt das für die Pakete2010 und 2011.
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Joachim Poß
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Inzwischen muss aber die Einsicht gewachsen sein, dasszum Beispiel durch das Kommissionsarbeitsprogrammund das Investitionspaket, das Juncker angestoßen hat,die Chance besteht, aus dem Gegensatz – der ist ohnehinkünstlich – zwischen übertriebenem Sparen auf der ei-nen Seite und Investieren und Strukturreformen auf deranderen Seite auszubrechen. Was jedes europäischeLand braucht – das gilt auch für Deutschland –, ist einausgewogener Mix von Investitionen und Strukturrefor-men. Auch in Deutschland brauchen wir dringend zu-sätzliche Investitionen.
Darum geht es jetzt.
Das ist der Schwerpunkt auch der neuen Präsident-schaft und der neuen Kommission. Alles das, was mitder Sicherung von Arbeitsplätzen und mit der sozialenSicherheit zu tun hat, muss in den Mittelpunkt der euro-päischen Politik rücken. Die Menschen müssen spüren,dass wir die wirtschaftliche und soziale Realität in Eu-ropa verbessern wollen. Das ist bisher nicht gelungen.Das muss besser gelingen durch ein besseres Zusam-menwirken der Kommission, der Mitgliedstaaten unddes Europäischen Parlaments.
Da müssen wir einen neuen Aufbruch organisieren. Vonideologisch aufgeladenen Sündenbockdiskussionen, wiesie von Ihnen betrieben werden, hat kein Mensch inGriechenland konkret etwas; das nützt niemandem.
Gleichzeitig müssen wir – das betrifft mehr die Mit-gliedstaaten – durch eine Besteuerung der Finanzmärktemit einer Finanztransaktionsteuer auf breiter Grundlagedie Lasten der Krise gerechter verteilen und zusätzlichfinanziellen Spielraum gewinnen. Schließlich müssenwir schon in den nächsten Monaten sicherstellen – dasist wiederum eine Aufgabe der Kommission –, dass dasskandalöse Steuerdumping multinationaler Konzernemit einem Schwerpunkt in den Beneluxländern ein Endenimmt.Zu dieser Stunde wird im Europäischen Parlament be-raten, wie die „Lux-Leaks-Affäre“ im Europäischen Par-lament aufgearbeitet werden sollte. Falsche Rücksicht-nahmen sollte es dabei auf keiner Seite geben.
Herr Juncker, Herr Dijsselbloem, Euro-Gruppen-Chefund Finanzminister in den Niederlanden, und andereVerantwortliche in den Mitgliedstaaten müssen daranmitwirken, dass Großkonzerne in Europa zukünftig ge-nauso wie kleine und mittlere Unternehmen besteuertwerden. Es darf kein Überbietungswettbewerb um diehöchsten Steuerrabatte zwischen europäischen Partnerngeduldet werden. Ein solcher Wettbewerb untergräbt dieAkzeptanz und fördert Nationalismus und Populismus.Das muss verändert werden.
Da haben die Vorgängerkommission und auch Mitglied-staaten manches Mal ein Auge zugedrückt.
Denn es war ja allgemein bekannt, was da lief; nur dieDimension war nicht so bekannt und so transparent, wiesie es in den letzten Wochen Gott sei Dank geworden ist.Bei den drei von mir genannten Themen müssen wirnoch in diesem Jahr sichtbare Fortschritte erzielen. Nurso können wir die Weiterentwicklung der europäischenIdee gegen den Ansturm des nationalistischen rechtenund linken Populismus verteidigen. Dabei kommt es da-rauf an. Wer es mit Europa gut meint, kann es nicht mitrechten oder linken Populisten halten, meine Damen undHerren.
Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord-
nungspunkt ist jetzt die Kollegin Katrin Albsteiger,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Im letzten Jahr fanden die Europawahlen statt. Ich erin-nere mich noch gut daran. Die öffentliche Debatte waretwas einseitig: Auf der einen Seite standen die Medien.Sie haben das Thema Europa von verschiedenen Seitensehr intensiv debattiert. Auf der anderen Seite stand dieÖffentlichkeit. – Na ja, da war die Debatte noch etwasausbaufähig.Das beste Mittel gegen diese asymmetrische Debattekann nur sein, dass Europa näher zu den Menschenkommt. Das geht nur über einen Weg: Die europäischenInstitutionen müssen deutlich machen, dass man denProblemen, die innerhalb der Europäischen Union beste-hen und denen die Menschen ausgesetzt sind, mit kon-kreten Verbesserungen tatsächlich begegnen kann.Ein Blick in das Arbeitsprogramm 2015 zeigt deut-lich: Es kann ein Aufbruchsignal sein. Zwei Punktemöchte ich herausgreifen: Erstens. Die Kommission be-schränkt sich jetzt erstmals – das steht dort schwarz aufweiß – auf ihre Stärken. Sie wird dort aktiv, wo sie ihreStärken hat, wo sie wirklich etwas bewegen kann, wo sieetwas viel besser kann als Einzelstaaten. Sie lässt dieFinger von den Punkten, wo sie nicht so gut ist. Sie über-lässt es im Rahmen der Subsidiarität den Institutionenvor Ort, Probleme zu lösen.
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8068 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Katrin Albsteiger
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Zweitens. Die Kommission stellt den Menschen wie-der in den Mittelpunkt. Sie setzt den Schwerpunkt ganzklar auf die Verbesserung der Lebensbedingungen in derEuropäischen Union. Das heißt in erster Linie, die Wirt-schaft zu stärken und damit gleichzeitig die Arbeitslosig-keit abzubauen.Europa hat das, wie wir alle wissen, dramatischer-weise bitter nötig. Die Arbeitslosigkeit, auch die Jugend-arbeitslosigkeit ist in manchen Ländern Europas erschre-ckend hoch. Sie liegt beispielsweise in Spanien oder inGriechenland bei über 50 Prozent. Da wächst eine jungeGeneration heran, die ohne Perspektive ist. Junge Men-schen, die – wenn ich das so sagen darf – etwa in mei-nem Alter oder ein bisschen jünger als ich sind, habenkeine Perspektive; sie wissen nicht, wie es weitergeht.Ich konnte mich davon selber überzeugen. Im Gesprächmit diesen jungen Menschen wird schon deutlich – daserfährt man, wenn man beispielsweise nach Griechen-land reist –: Da leisten viele Einzelne Herausragendes,um sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Aber siekönnen es manchmal nicht allein schaffen, sondern brau-chen die Europäische Union, die ihnen Hilfestellung bie-tet, Hoffnung bietet und auch konkrete Perspektiven auf-zeigt.Diese Perspektiven und Hoffnungen verspricht, aufdem Papier, auch das Arbeitsprogramm 2015. Wenn manhineinschaut, dann sieht man, dass das Investitionspro-gramm ein Teil des Ganzen ist. Aber als Bildungs- undForschungspolitikerin muss ich auf einen Malus hinwei-sen.Mit dem neuen, weltweit größten Forschungspro-gramm „Horizon 2020“ hat die Europäische Kommis-sion ein sehr gutes Projekt gestartet. Darin stecken vieleMilliarden Euro, und es sind definitiv Investitionen indie Zukunft. Aber leider muss in diesem Zusammenhanggesagt werden, dass aus diesem Programm einige Mil-liarden Euro – 2,7, um genau zu sein – herausgezogenund in das Investitionsprogramm geschoben werden;faktisch wird gekürzt. Es muss uns allen doch klar sein:Diese Milliarden, die herausgezogen werden, müssenweiter für den Forschungsbereich reserviert bleiben. Esist an dieser Stelle ganz wesentlich, dass wir weiter indie technologische Entwicklung investieren, dass wirweiter in Wissenschaft und in Entwicklung investieren.Das sind wesentliche Punkte. Es kann nicht immer nurum Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen gehen; es mussauch um Forschung gehen; denn das bringt uns weiter.
Für die Innovationsfähigkeit und für die Wettbewerbsfä-higkeit Europas in der Welt ist das unumgänglich.Trotz dieses Malusses – ich bin ja Optimistin – kannman unter dem Strich sagen: Das Arbeitsprogramm alsGanzes ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung.Die Schwerpunktsetzung ist ganz deutlich; eine klare Si-gnalwirkung. Ich möchte an dieser Stelle auch jeman-dem danken, der zwar nicht der Kommission angehört,aber trotzdem sehr großen Einfluss darauf genommenhat, insbesondere darauf, dass sich die EuropäischeUnion jetzt auf das Wesentliche konzentriert, und das istder Vorsitzende der EVP-Fraktion, Manfred Weber. Erhat auch dafür gesorgt, dass die Handschrift der CSU indem Programm gewährleistet ist:Erstens. Die Neustrukturierung der Kommission, dieVerschlankung der Arbeitsweise der Kommission – einPunkt aus unserem Programm für die Europawahl. DieKonzentration auf die 23 Schwerpunktbereiche zeigtdeutlich, wie effizient die Kommission arbeiten kann,wenn sie es denn will.Zweitens. Mehr Mitsprache bei der Entstehung desProgramms – auch eine Forderung aus unserem Wahl-kampf. Eine ganz klare Sache war dieses Mal bei derEntstehung des Programms, dass die Mitgliedstaatenund auch das Europäische Parlament mitgenommenworden sind, dass das Programm mit ihnen abgestimmtworden ist. Man hat endlich einmal im Vorfeld darübergesprochen, bevor es präsentiert wurde.Drittens. Weniger Bürokratie – auch eine Forderungaus dem Wahlkampf; ebenfalls umgesetzt. Im Übrigenwurde schon im Vorfeld durch unseren Sonderberater fürBürokratieabbau, Edmund Stoiber, Gutes geleistet. Erhat in seiner Tätigkeit bis 2014 schon für Bürokratiekos-teneinsparungen von über 33 Milliarden Euro gesorgt.Meine Damen und Herren, der selbstgewählte Titeldes Arbeitsprogramms „Ein neuer Start“ ist ein guter Ti-tel. Jetzt muss man dafür sorgen, dass es nicht bei derReklamewirkung bleibt, sondern dass sich in der konkre-ten Umsetzung in der Realität zeigt, wie gut dieses Pro-gramm sein kann.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b so-wie Zusatzpunkt 1 auf:21 a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenStephan Kühn , Lisa Paus,Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENElektromobilität entschlossen fördern –Chance für eine zukunftsfähige MobilitätnutzenDrucksache 18/3912Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und Energieb) Beratung der Unterrichtung durch den Deut-schen EthikratStellungnahme des Deutschen EthikratesBiosicherheit – Freiheit und Verantwor-tung in der WissenschaftDrucksache 18/1380
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8069
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Ernährung und LandwirtschaftAusschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitZP 1 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Dr. Valerie Wilms,Luise Amtsberg, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENTransparenz herstellen und Verhandlungenüber den Ausstieg aus dem Staatsvertrag überden Bau einer festen Fehmarnbelt-QuerungaufnehmenDrucksache 18/3917Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Wirtschaft und EnergieAusschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheitAusschuss für TourismusEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe:Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 f auf.Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 22 a:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Marco Wanderwitz, Ute Bertram, MichaelKretschmer, weiterer Abgeordneter und derFraktion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenSiegmund Ehrmann, Burkhard Blienert, MarcoBülow, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDDie Welt neu denken – Der 100. Jahrestag derGründung des Bauhauses im Jahre 2019Drucksachen 18/3727, 18/3911Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 18/3911, den Antrag der Fraktionender CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/3727 anzu-nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSUund SPD bei Enthaltung der Fraktionen Die Linke undBündnis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkte 22 b bis 22 f. Wir kommen zuden Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.Tagesordnungspunkt 22 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 144 zu PetitionenDrucksache 18/3844Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 144 ist mit den Stimmendes gesamten Hauses angenommen.Tagesordnungspunkt 22 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 145 zu PetitionenDrucksache 18/3845Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 145 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 22 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 146 zu PetitionenDrucksache 18/3846Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 146 ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derFraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 22 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 147 zu PetitionenDrucksache 18/3847Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 147 ist mit den Stimmenaller Fraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 22 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Peti-tionsausschusses
Sammelübersicht 148 zu PetitionenDrucksache 18/3848Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht 148 ist mit den Stim-men von CDU/CSU- und SPD-Fraktion gegen die Stim-men der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset-zes zur Teilumsetzung der Energieeffizienz-richtlinie und zur Verschiebung des Außer-
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8070 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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krafttretens des § 47 g Absatz 2 des Gesetzesgegen WettbewerbsbeschränkungenDrucksachen 18/3373, 18/3788Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses fürWirtschaft und Energie
Drucksache 18/3934Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. – Sind jetztalle da, die an der Debatte teilnehmen wollen?Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hatDr. Nina Scheer, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Wir behandeln heute eine Teilum-setzung der europäischen Energieeffizienzrichtlinie. Esgeht darum, Energieauditpflichten für größere bzw.Nicht-KMU, also nicht kleine und mittelständische Un-ternehmen, einzuführen.Es ist wichtig, dass man, wenn man sich unsere Ener-gieeffizienzziele vor Augen führt, dann auch Maßnah-men einführt, die den Unternehmen – sie sind hier ange-sprochen – verdeutlichen, wo sie stehen und welcheMaßnahmen ergriffen werden können, um Energie ein-zusparen. Anders ist es schwer, die Energieeffizienzzielezu erreichen. Insofern ist es auch wichtig, dass wir feste,klare Standards vorgeben. In der EU-Effizienzrichtlinieist mit dem Energieaudit nach der DIN EN 16247-1 aucheine Mindestvorgabe zur Umsetzung vorgeschlagen.Es ist auch Bestandteil des Gesetzes, dass solcheNicht-KMU von der Energieauditpflicht befreit sein sol-len, die weitergehende Maßnahmen ergreifen, also be-reits Energiemanagementsysteme nach der ISO 50001oder Umweltmanagementsysteme nach EMAS einfüh-ren. Das ist sinnvoll, weil man davon ausgehen kann,dass das Audit ein zu Effizienzmaßnahmen hinführenderSchritt ist. Wenn Effizienzmaßnahmen in Form vonEnergiemanagementsystemen oder Umweltmanage-mentsystemen nach EMAS eingeführt werden, ist alsodavon auszugehen, dass das Audit damit schon umge-setzt ist.Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass es tatsäch-lich um eine Teilumsetzung geht. Wir haben mit demNAPE, dem Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz,schon einige Sofortmaßnahmen auf den Weg gebracht.Vonseiten des Ministeriums sind Programme zu Energie-effizienznetzwerken für Unternehmen und Kommunenauf dem Weg gebracht worden. Es sind bessere Förder-bedingungen für Mikro-KWK-Anlagen, ein Programmzur Beratung von kleinen und mittelständischen Unter-nehmen und Kommunen zum Energieeinspar-Contrac-ting umgesetzt worden. Das sind die ersten Schritte. Beidem vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sich um ei-nen weiteren Schritt, allerdings nur um eine Teilumset-zung der Energieeffizienzrichtline.
Wie schon angeklungen, werden mit diesem Gesetz-entwurf Anreize geschaffen, um zu sehen, wo man imUnternehmen steht. Alleine mit der besseren Informa-tion über die Energieverbräuche in den Unternehmen,die damit einhergeht, ist zu erwarten, dass, unabhängigvon der Einführung von Energiemanagementsystemen,weiterführende Schritte von selbst einsetzen werden.Man kann erwarten, dass allein durch die Auditver-pflichtungen Anreize gesetzt werden, weitere Umsetzun-gen vorzunehmen.Zur Einordnung, weil die Kritik geäußert wurde, dassmit dem Gesetz nur kleine und überschaubare Schritteeingeleitet würden: Es wird prognostiziert, dass mit die-sem Gesetz Einsparungen von 116 Petajoule umgesetztwerden. Zur Orientierung: Das ist ungefähr eine Ein-sparleistung von 7 Prozent der anvisierten Energieein-sparziele. Das hört sich wenig an. Wir diskutieren zur-zeit sehr viel über Energieeinsparmaßnahmen imBereich der energetischen Sanierung und im Bereich dersteuerlichen Förderung der energetischen Sanierung.Auch dort sind es etwas über 7 Prozent der Einsparleis-tung. Es wird immer auf die Summe der Einsparmög-lichkeiten ankommen. Insofern ist jeder einzelne Schritt,auch die Einführung der Auditverpflichtung, ein wert-voller, wenn auch überschaubarer Schritt, der an dieserStelle nicht kleingeredet werden sollte.
Zum Verfahren muss man einige Punkte sagen. Es istsehr wichtig, dass dieses Gesetz schnell umgesetzt wird,die Auditpflicht sehr schnell einsetzt. Wir sind etwasknapp mit der Zeit. Am 5. Dezember muss es eingeführtsein. Das heißt, die Unternehmen müssen bis dahin et-was umgesetzt haben. Deswegen ist es gut, wenn wir mitdiesem Gesetz schnell zum Abschluss kommen. Ichmöchte aber an dieser Stelle auch sagen, dass es Verzö-gerungen und Interventionen vonseiten des Koalitions-partners gab. Das sage ich mit einer bitteren Miene zumKoalitionspartner. Wir haben jetzt ein schnelles Verfah-ren, das nötig ist. Insofern kann man darüber hinwegse-hen, dass mit Blick auf die Umsetzungsfrist nicht alleVorschläge, die vonseiten der Opposition eingebrachtwurden, eingearbeitet werden konnten.Einen weiteren Punkt möchte ich erwähnen, der beiden parlamentarischen Verhandlungen zum Gesetzent-wurf eine Rolle spielte. Es wurde versucht, eine Verän-derung vorzunehmen, die als Verwässerung eingestuftwerden muss, wenn sie gekommen wäre. Ich bin froh da-rüber, dass wir uns nicht darauf verständigen konnten.Es ist vom Koalitionspartner angemerkt worden, dassman auch ein Managementsystem nach ISO 14001 alsAusnahmetatbestand gelten lassen soll, einschließlich ei-nes dann neu zu schaffenden Energieteils, denn nur dannwürde es den Anforderungen genügen. Sie wissen, derEnergieteil hätte neu erstellt werden müssen, es wäre zu
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8071
Dr. Nina Scheer
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einer weiteren Verzögerung gekommen. Es hätte die Sa-che auch sehr intransparent gemacht. Man hätte damiteher eine Schwächung von Qualitätsstandards zu be-fürchten. Ich bin froh, dass wir uns letztendlich daraufeinigen konnten, diese Aufweichung nicht aufzunehmen.
Der Normenkontrollrat hat eine gleichlautende Ein-schätzung abgegeben. Auch er hat sich mit diesem Vor-schlag, die ISO 14001 als mögliche weitere Ausnahmezu den Auditpflichten zuzulassen, explizit auseinander-gesetzt. Er hat das abgelehnt.Ich möchte des Weiteren die Ausnahmetatbeständeüberhaupt ansprechen. Wenn es um die Einführung vonEnergieeffizienzmaßnahmen, aber auch um hinführendeMaßnahmen wie die Einführung von Auditpflichtengeht, wird häufig gesagt, dass sie eine Belastung für dieIndustrie seien. Das wird breit diskutiert. Überall wirdeingeflochten, wir seien in unserem Industrielandschnell die Notleidenden, wenn die Energiekosten stei-gen und steigen. Ich möchte gerne auf dieses Argumenteingehen, weil es immer so unreflektiert angeführt wird.Wenn man einmal genauer hinschaut und nicht nur denVergleich der Energiekosten zwischen den Ländern inden Blick nimmt – da sind wir im internationalen Ver-gleich nun tatsächlich nicht gerade auf dem unterstenLevel –, sondern über den Tellerrand hinausschaut undsich auf die Energiestückkosten konzentriert, also da-rauf, welche Energiekosten in den einzelnen Produktenstecken, dann sieht man, dass wir da ganz gut aufgestelltsind.Das heißt, wir werden unterm Strich nicht durch Maß-nahmen geschädigt, die in puncto Energieeinsparung etwasdrücken und treiben. Ganz im Gegenteil: Die Unternehmenwerden damit konditioniert, sich etwas im technologischenBereich, im Energieeinsparbereich auszudenken, initiativzu werden und damit bei Zukunftstechnologien die Nasevorn zu haben; denn auch Energieeffizienztechnologienzählen zu den Zukunftstechnologien im weitesten Sinne.Insofern verschaffen wir uns mit solchen Maßnahmen,langfristig gesehen, sogar einen Wettbewerbsvorteil. Dennder Energiestückkostenvergleich bedeutet im internationa-len Maßstab nachweisbar, dass es Anreize gibt, Einsparun-gen vorzunehmen, die uns langfristig unempfindlichergegenüber steigenden Energiekosten und einer unüber-schaubaren, unprognostizierbaren Energiekostenentwick-lung machen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Dann möchte ich kurz auf zwei Punkte eingehen, diewir im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens zu be-handeln hatten. Zum einen ging es darum – das wurdevonseiten der Unternehmen teilweise in nachvollziehba-rer Form vorgebracht –: Wie weit ist es vielleicht docheine zu große Belastung für die Unternehmen, auch dannEnergieaudits durchzuführen, wenn es sehr vergleich-bare Standorte gibt, also man wirklich ganz klar sagenkann: „Hier macht es Sinn, Cluster zu bilden“, damitman nicht an jedem einzelnen Standort einen Audit vor-nehmen muss, was ja auch mit Kosten verbunden ist? In-sofern haben wir uns darauf verständigt, dass solcheMulti-Site-Verfahren zur Anwendung kommen, wenn esfür sinnvoll erachtet wird, weil es ohne Einbußen bei derQualität der Auditierung selbst möglich ist. Hier gilt es,die Verhältnismäßigkeit und Repräsentativität bei derUmsetzung durch das Bundesamt für Wirtschaft undAusfuhrkontrolle, BAFA, prüfen zu lassen.Zur Umsetzungsfrist möchte ich kurz sagen – ichhabe es am Anfang schon erwähnt –: Wir haben eineknappe Umsetzungsfrist, die am 5. Dezember ausläuft.Wir sollten bedenken, was ich am Anfang meiner Redegesagt habe: Wenn Unternehmen über die Auditver-pflichtung hinausgehen, mehr machen, Energiemanage-mentsysteme einführen, ehrgeizig sind, deshalb etwasmehr Zeit brauchen, aber schon erste nachweisbare Um-setzungsschritte machen, dann sollen sie nicht benach-teiligt werden. Auch darauf sollte bei der Umsetzung desGesetzes geachtet werden. Wir haben vereinbart – das istBestandteil unserer Änderungen –, dass die Unterneh-men dadurch, dass sie mehr machen, keine Nachteile er-leiden sollen.Jetzt ist meine Zeit schon um. Ich hätte sonst nochkurz zwei Punkte aus dem Entschließungsantrag derGrünen angesprochen. Dafür fehlt mir nun die Zeit.
– Ja, ich hatte elf Minuten Redezeit, aber es ist so. – Ichmache also an dieser Stelle einen Punkt.Ich denke, wir werden mit diesem Gesetz einen gutenSchritt nach vorne machen, auch wenn es hier um eineüberschaubare Materie geht. Die Einführung des Audit-systems ist aber ein wichtiger, wertvoller Schritt.Vielen Dank.
Vielen Dank. – Eva Bulling-Schröter ist die nächste
Rednerin für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir hoffen jetzt, dass das Teilgesetz, das wir heute er-neut debattieren, nicht beispielgebend für die Gesetzeund Verordnungen ist, die in diesem Jahr im BereichEnergieeffizienz – da muss ja noch etwas kommen – zuerwarten sind. Wir sagen Ihnen: Dieses Teilgesetz istStückwerk.
Es ist der erste konkrete Aufschlag, den die Bundesre-gierung nach dem 3. Dezember vergangenen Jahresmacht. Sie wollte sich mit dem Aktionsplan Klimaschutzund dem Nationalen Aktionsplan Energieeffizienz in der
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Eva Bulling-Schröter
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Öffentlichkeit als Klimaretterin in Szene setzen. Das Er-gebnis ist eine harte Landung auf dem Boden der Tatsa-chen. Es ist wirklich nur ein müder Abklatsch von denSonntagsreden zur Energieeffizienz und zu den Energie-effizienzzielen, eine kraftlose und mutlose Minimallö-sung.
Ich frage Sie von der Bundesregierung: Wo ist dennnun der Wille, den schlafenden Riesen namens Energie-effizienz zu wecken? Haben Sie insgeheim schon aufge-geben? Denken Sie, mit einer solchen Zaghaftigkeitkann man einen Riesen wecken? Ich erwarte da mehrSchwung und Begeisterung.
Ich erinnere noch einmal daran, dass vonseiten derEU bereits ein Klageverfahren zur Umsetzung der Ener-gieeffizienzrichtlinie anhängig ist – viele von den Zuhö-rerinnen und Zuhörern wissen das nicht –, weil die Um-setzung bereits im Juni vergangenen Jahres hätte passiertsein müssen. Ich halte es für einen peinlichen Vorgang,wenn in einer sogenannten Teilumsetzung die Energie-audits für größere Unternehmen in Gesetzesform gegos-sen werden, damit wenigstens eine von der EU vorgege-bene Frist – sie endet im Dezember 2015 – eingehaltenwerden kann.Der Gesetzentwurf zur Teilumsetzung fällt wenig am-bitioniert aus. Er erfüllt eins zu eins die Vorgaben derEU; nicht weniger, aber auch nicht mehr. Man könnteauch sagen: Die Bundesregierung macht Dienst nachVorschrift.
Für ein Land, das sich innerhalb der EU gerne immerwieder in Bezug auf Energie- und Klimaziele wie einMusterschüler benimmt, ist diese Leistung – in Notenausgedrückt – gerade einmal ausreichend, also eine Vier.
Wir erwarten von der Bundesregierung aber kein Stück-werk, sondern wir erwarten, dass sie glaubhaften Willenund echten Ehrgeiz zeigt, um die Energiesparziele bis2020 wirklich zu erreichen. Mit Dienst nach Vorschriftwird das nicht gelingen.
Da die Bundesregierung dieses Thema verschleppthat, ergibt sich für die circa 50 000 betroffenen Unter-nehmen nun ein praktisches Problem: Sie müssen ganzschnell handeln, um bis zum 5. Dezember 2015 einEnergieaudit durchzuführen oder zumindest zu begin-nen. In den nächsten Wochen und Monaten wird dannein Run auf die begrenzte Zahl von Auditoren und Inge-nieurbüros einsetzen. Viele von ihnen wissen nicht ein-mal, dass sie spätestens nach zehn Monaten eine Zertifi-zierung durchlaufen müssen. Das ist ein Problem.Wir wissen aber, dass nicht nur in den großen Unter-nehmen Potenziale schlummern, die durch die Umset-zung freigesetzt werden können. Das gilt ebenso für diemittleren und kleinen Unternehmen, die die Masse derUnternehmen in Deutschland bilden. Gerade diejenigenBetriebe, die von Energievergünstigungen profitieren,zum Beispiel bei der EEG-Umlage oder beim Spitzen-ausgleich, sind weniger motiviert, Energie einzusparen.Deshalb sollten sie grundsätzlich zu Energiemanage-mentsystemen und zu Einsparmaßnahmen verpflichtetwerden.
Dann kommen wir zu der eigentlich interessantenFrage: Wie wird gewährleistet, dass die Einsparmaßnah-men auch umgesetzt werden? Keines der auditierten Un-ternehmen ist an irgendwelche Energiesparmaßnahmengebunden. Die Ergebnisse der Audits brauchen nichtumgesetzt zu werden, es gibt nur eine Dokumentations-pflicht. Würde die Bundesregierung hingegen die Kli-maschutzlücke und ihre eigenen Einsparziele ernst neh-men, dann wäre sie ambitionierter vorgegangen.Reden wir über die Sachverständigen, die in der An-hörung festgestellt haben, dass Audits nur ein ersterSchritt sind. Es müsste eigentlich darum gehen, Energie-managementsysteme bei den Unternehmen einzuführen,weil diese wesentlich erfolgversprechender sind. Alsotun Sie es doch!
Sollen wir nun ein Loblied auf die Bundesregierungsingen,
weil sie zwei Jahre nach Inkrafttreten der EU-Energieef-fizienzrichtlinie endlich ein ausreichendes Ergebnis ab-geliefert hat?
Wir sagen: Nein! Auch wenn es Ihnen nicht passt: Dasist eher ein jämmerliches Bild. Wir hätten wirklich mehrerwartet.
Danke schön. – Nächste Rednerin ist Dr. Herlind
Gundelach, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Kollegin von der Fraktion Die Linke hat versucht,
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Dr. Herlind Gundelach
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hier den Eindruck zu erwecken, dass das Thema Ener-gieeffizienz in diesem Haus nicht bekannt ist
und auch in der Bundesrepublik Deutschland und derWirtschaft nicht.
Dazu muss ich sagen: Ich glaube, dem ist nicht so. DieIndustrie hat – so ehrlich sollten wir sein – schon langevor uns verstanden, wie wichtig Energieeffizienz ist.
Deswegen propagiert sie dieses Thema schon seit langerZeit und macht auch schon eine ganze Menge.Viele Unternehmen in Deutschland, vor allen Dingendie Unternehmen, die stromintensiv produzieren, sindweltweit Vorreiter, wenn es um energieeffiziente Lö-sungskonzepte und Produktionsweisen geht. Dafür gibtes auch hinlänglich Belege. Die Gründe dafür sind denk-bar einfach: Das Eigeninteresse der Firmen und derMarkt steuern die Unternehmen fast zwangsläufig indiese Richtung.
Es gibt Firmen, die schon sehr früh auf innovative Tech-nik gesetzt haben, auch aus Überzeugung. So können wirheute feststellen, dass die energieintensiven Industrieun-ternehmen in Deutschland bereits jetzt die Effizienzstan-dardziele von 2050 erreichen.
Nur so haben wir es in der Bundesrepublik Deutsch-land geschafft, das Wirtschaftswachstum vom Energie-verbrauch abzukoppeln. Das ist uns übrigens schon imletzten Jahrhundert – jetzt darf man das ja sagen – gelun-gen. In den letzten Jahren haben das Gewerbe, der Han-del und die Industrie jährlich durchschnittlich 10 ProzentEnergie einsparen können. Das ist meines Erachtensüberaus erfreulich. Dennoch gibt es selbstverständlichnoch immer erhebliche ungenutzte Potenziale. Genauhier setzen die europäische Effizienzrichtlinie und derim Dezember letzten Jahres verabschiedete NationaleAktionsplan Energieeffizienz an.Ich denke, wir sind uns darüber im Klaren, dass, wennman bereits energieeffiziente Lösungen nutzt, es nicht soganz einfach ist, sich zu steigern, als wenn man bei nullanfängt. Es bedarf daher einer ganz genauen Analyse,welche Hemmnisse und Barrieren bestehen. Die Rah-menbedingungen in Deutschland sind, insgesamt be-trachtet, gut. Man muss vor allem aufpassen, dass mandie erzielten Erfolge nicht durch neue Regelungen zu-nichtemacht. Augenmaß ist hier ganz besonders wichtig.Die Vergangenheit hat eines ganz klar gezeigt: Beiden Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienzmuss man auch auf die Wirtschaftlichkeit achten. DieseMaßgabe ist für uns, die CDU/CSU-Fraktion, nicht ver-handelbar. Deshalb haben wir darauf auch bei der Ausar-beitung des heute zu verabschiedenden Gesetzentwurfsunser Augenmerk gelegt. Die Koalitionsfraktionen flan-kieren den Gesetzentwurf durch einen gemeinsamenEntschließungsantrag und einen Änderungsantrag.Ich glaube, ich brauche nicht konkret darauf einzuge-hen, was mit diesem Gesetz geregelt werden soll. Startsoll – die Kollegin Scheer hat das hier schon gesagt – imDezember dieses Jahres sein. Das stellt für die Unterneh-men die erste Hürde dar. Da wir aus den unterschied-lichsten Gründen hinsichtlich der Umsetzung der EED– das muss man zugeben – ein wenig der Zeit hinterher-hinken, ist jetzt natürlich auch die Umsetzungsfrist fürdie Unternehmen etwas kurz. Darauf haben wir reagiert;das werde ich gleich noch erläutern.Die Anhörung in der vergangenen Woche hat gezeigt,dass es auch an weiteren Punkten der Klarstellung be-darf. Worum geht es dabei? Wie schon erwähnt, werdenNicht-KMU, ausgehend von einer eigenständigen EU-Definition von KMU, verpflichtet, ein Energieauditdurchzuführen. Konkret sind nach EU-Definition kleineund mittelständische Unternehmen, die, die weniger als250 Beschäftigte haben, maximal 50 Millionen EuroUmsatzerlös oder maximal 43 Millionen Euro Bilanz-summe. Unsere Nachbarn in Frankreich haben eine ei-genständige Definition gewählt und diese ins Gesetz ge-schrieben. Das dient der Reduzierung der Zahl der inFrankreich betroffenen Unternehmen. Nach unserer Auf-fassung ist dies nicht europarechtskonform. Deswegenhaben wir uns für eine klassische Eins-zu-eins-Umset-zung entschieden, was wir im Übrigen auch in vielen an-deren Fällen machen.Auf der Grundlage des Gesetzes müssen in Deutsch-land jetzt circa 50 000 Unternehmen Energieauditsdurchführen. Im Rahmen eines Energieaudits werden an-hand anerkannter Standards die Verbräuche eines Unter-nehmens festgestellt und Handlungsempfehlungen fürEinsparungen verfasst. Schätzungen zufolge können Ener-gieaudits Energieeinsparpotenziale von bis zu 20 Prozentaufzeigen. Man muss aber beachten, wie ich schon aus-geführt habe, dass viele der betroffenen Unternehmenaus Eigeninteresse bereits höchst energieeffizient arbei-ten. Überdies werden im Rahmen eines Audits – dastimme ich Ihnen zu, Frau Bulling-Schröter – nur dieVerbräuche festgestellt. Damit wird noch nichts einge-spart. Man sollte daher nicht zu hohe Erwartungen an dieAuditpflicht haben.Grundsätzlich sind Audits ein wichtiger Schritt in dierichtige Richtung. Denn auf der Grundlage dieser aner-kannten Standards verbessern wir die Datenlage erheb-lich und erlangen nunmehr vor allen Dingen eine genaueErkenntnis über die spezifischen Energieverbräuche dereinzelnen Unternehmen. Daraus wiederum lassen sichwichtige Schlüsse ziehen.Audits sind ein guter Zwischenschritt für die Errei-chung unserer Effizienzziele. In der Regel – das hat die
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Vergangenheit auch gezeigt – sind sie ein Ansporn fürUnternehmen, die noch nicht gehobenen Potenziale auchtatsächlich zu nutzen, wie uns die Implementierung vonEMAS schon vor vielen Jahren eindrucksvoll bewiesenhat.Audits führen, wie gesagt, nicht zwangsläufig zu Ein-sparungen. Um aus der Einführung von verpflichtendenEnergieaudits einen möglichst hohen Nutzen zur Steige-rung der Energieeffizienz zu ziehen, ist es von Bedeu-tung, dass wir kein Kapital unnötig binden. Folglich istes richtig, den bürokratischen Aufwand so gering wiemöglich zu halten. Darüber hinaus sollten nicht zielfüh-rende Maßnahmen tunlichst vermieden werden. Denn esist ganz einfach: Geld, das für den bürokratischen Auf-wand ausgegeben wird, ist in der Regel nicht mehr da,um es in die Energieeffizienzsteigerung zu investieren.
Genau an diesem Gedanken setzen unser Entschlie-ßungs- und unser Änderungsantrag an. Wir möchten da-mit erreichen, dass im Vollzug die Hauptzielrichtungnicht außer Acht gelassen wird. So fordern wir, dass esfür Unternehmen mit einer Filialstruktur, sofern diesegleichartige Standorte haben, möglich sein muss, die Er-kenntnisse aus den Untersuchungen zu übertragen unddie notwendigen Daten im Rahmen eines Multi-Site-Verfahrens zu erfassen. Ich glaube, das bedeutet für vieledieser Betriebe eine Erleichterung.Ebenso erachten wir es beim Vollzug für sinnvoll,Amortisationszeiten mit Lebenszykluskostenanalysengleichzusetzen, sofern die Erstellung von Lebenszyklus-kostenanalysen einen nicht vertretbaren Mehraufwandbedeutet.Genauso wichtig ist es uns, dass qualifiziertes Perso-nal in den Unternehmen auch weiterhin Audits durch-führen kann. Denn hier muss eine praxisgerechte Lösunggefunden werden, da auch sonst unnötige Kosten verur-sacht werden.Ich habe bereits erwähnt, dass wir ein wenig in Ver-zug sind. Deswegen sprechen wir uns dafür aus, dass imVollzug darauf geachtet wird, dass Unternehmen, dieumfassende Energiemanagementsysteme als Antwortauf die Auditpflicht einführen wollen – Freu Scheer hatdarauf schon hingewiesen – und damit sogar noch einenSchritt weiter gehen, als durch die Richtlinie von ihnengefordert, nicht für die Verzögerung durch uns bestraftwerden.Aber auch diejenigen, die nur das geforderte Auditdurchführen, sollen, sofern sie nachweisen können, dassdie Verzögerung nicht durch Eigenverschulden herbeige-führt wurde, nicht mit Pönalen belegt werden, wie sie dieEED im Übrigen vorsieht. Ich denke, das sind praktika-ble Vorschläge, die wir gemacht haben, die auch dasBundeswirtschaftsministerium – so hat man uns zuge-sagt – im Rahmen des Vollzugs berücksichtigen wird.
Energieeffizienz ist zweifellos eine Chance. An die-sem Gedanken sollten wir festhalten. Deswegen hoffeund setze ich darauf, dass wir im Rahmen der Umset-zung des NAPE und der vielen Maßnahmen und Rege-lungen, die noch vor uns stehen, weiterhin konstruktivzusammenarbeiten.Herzlichen Dank.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Julia
Verlinden, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Zum vorliegenden Gesetzentwurfhatten wir letzte Woche eine sehr interessante Experten-anhörung im Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Da-bei haben wir, so finde ich, sehr wertvolle Hinweise be-kommen, wie das Gesetz noch effektiver werden könnte.Wir Grüne haben zahlreiche dieser Punkte, die von denExperten an uns herangetragen wurden, in unserem An-trag aufgegriffen. Wir fordern, die Umsetzung von Arti-kel 8 der Energieeffizienzrichtlinie jetzt endlich dafür zunutzen, in der Energieeffizienzpolitik einen entscheiden-den Schritt voranzukommen und mehr als nur das Aller-nötigste zu tun.
Schade, dass die Fachpolitikerinnen und Fachpoliti-ker aus der SPD- und Unionsfraktion dem jetzt nicht fol-gen. Ich dachte eigentlich, es wäre auch bei Ihnen Kon-sens, dass wir die hohen Energieeinsparpotenziale in denUnternehmen heben wollen. Sie verpassen damit zumwiederholten Male die Chance, den selbstgestecktenZielen der Bundesregierung zum Energiesparen etwasnäher zu kommen, wenigstens bis zum Jahr 2020.
– Ich glaube eben nicht, dass Sie das schaffen. Ich will eseinmal so sagen: Es wäre nicht so tragisch, wenn es nurdarum ginge, ob Sie im Jahr 2020 in Ihrem Monitoring-bericht zur Energiewende, wenn Ihre Energiesparzieleevaluiert worden sind, ein paar Häkchen machen könnenoder nicht. Um diese Häkchen geht es mir ja überhauptnicht. Das ist nicht der Punkt. Es geht vielmehr um dieFrage, ob Sie den Klimaschutz ernst nehmen. Wenn dasso ist, dann müssen Sie auch danach handeln, und dasheißt: keine ambitionslosen Minimallösungen beimEnergiesparen, sondern schlüssige und zukunftsorien-tierte Energieeffizienzpolitik.
Sie lassen aber die Gelegenheit wie auch schon letztesJahr verstreichen, als Sie den Bundeshaushalt nicht mitden ausreichenden Mitteln für die Energieeffizienz aus-gestattet haben. Es bleibt weiterhin unklar, wann Sie dieMaßnahmen aus dem NAPE, aus dem Nationalen Ak-
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Dr. Julia Verlinden
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tionsplan Energieeffizienz, die haushaltsrelevant sind,überhaupt umsetzen können. Sie schieben die Energieef-fizienz auf die lange Bank, übrigens genau wie die drin-gend notwendige Novellierung des Kraft-Wärme-Kopp-lungsgesetzes.
Ich sage Ihnen: So kann das nicht weitergehen. Übri-gens, den Zeitdruck, den Frau Gundelach eben angespro-chen hat – sie sagte, dass wir ein wenig in Verzug sindund viele Unternehmen jetzt unter Zeitdruck sind, weilsie ihre Pflichten natürlich rechtzeitig erfüllen wollenund sollen –, haben natürlich Sie zu verantworten; denndie Bundesregierung hätte die Umsetzung der Richtlinieschon viel früher vornehmen können.
Unser Entschließungsantrag, den wir zu dieser Geset-zesnovelle gestellt haben, enthält die richtigen Antwor-ten, um die Energieeffizienzziele zu erreichen. Wir mer-ken ja, dass Energieeffizienzmaßnahmen oft nicht vonallein passieren, selbst wenn sie sich rechnen; das ist jadas Problem. Es gibt zwar – das wurde schon angespro-chen – viele Unternehmen, die sehr konsequent an demThema dran sind, die bereits große Energieeffizienz-sprünge geschafft haben, die ein Energiemanagement-system eingeführt haben, denen das Thema wichtig ist,die es als Zukunftsaufgabe und auch als betriebswirt-schaftliche Notwendigkeit erkannt haben, aber es gibteben auch Betriebe – dazu gehören vor allen Dingenviele kleine und mittlere Betriebe –, denen es an Infor-mationen fehlt, denen Personal und Ressourcen fehlen,um sich darum zu kümmern. Genau da hilft gute Bera-tung.Was spricht also eigentlich dagegen, auch diese klei-nen und mittleren Unternehmen in die Auditpflichteinzubeziehen, insbesondere wenn sie einen hohen Ener-giekostenanteil haben? Es ist doch gerade für die ener-gieintensiven Unternehmen wichtig, ihre Wettbewerbs-fähigkeit durch einen effizienteren Umgang mit Energiezu verbessern. Hier machten sich jede Analyse und Be-ratung bezahlt.
Energieaudits, die den Energieverbrauch in einemUnternehmen untersuchen, sind ein erster Schritt – dasist klar –, um Energieeffizienzpotenziale zu identifizie-ren. Aber noch viel besser wäre es doch, wenn ein konti-nuierlicher Verbesserungsprozess eingeführt würde,wenn wir den Unternehmen vorgeben, dass sie Einspar-maßnahmen, die wirtschaftlich sinnvoll sind, auch tat-sächlich umsetzen. Genau darum geht es doch. Wasnutzt es uns, wenn die Unternehmen durch ein verpflich-tendes Audit herausfinden, welche Potenziale zum Ener-giesparen geeignet sind, aber diese Maßnahmen dannnicht angepackt werden? Energiemanagementsysteme,bei denen es genau darum geht – denn sie beinhalten ge-nau diesen fortdauernden Prozess –, wären deutlichnachhaltiger und konsequenter.
Überhaupt: Wir wollen keine Energieverschwendungbelohnen. Wenn Unternehmen Vergünstigungen undAusnahmen in Anspruch nehmen, zum Beispiel die Be-sondere Ausgleichsregelung beim EEG oder den Spit-zenausgleich bei der Energiesteuer, dann können wir jawohl von diesen Unternehmen auch erwarten, dass siezunächst sämtliche existierenden Effizienzpotenzialenutzen, anstatt sich darauf auszuruhen, dass andere fürsie mitzahlen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD undvon der Union, ich fordere sie auf: Tun Sie mehr als nurdas Allernötigste, zu dem Sie laut EU-Richtlinie ver-pflichtet sind. Frau Bulling-Schröter hatte eben so schöngesagt: Dienst nach Vorschrift. Das reicht nicht. LösenSie Ihre Versprechen ein. Machen Sie endlich Nägel mitKöpfen in der Effizienzpolitik.
Vielen Dank. – Nächster Redner ist Hansjörg Durz,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am3. Dezember 2014 hat das Kabinett den Nationalen Ak-tionsplan Energieeffizienz beschlossen und damit nichtnur Energieeffizienz und Energieeinsparungen sehr vielstärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, sonderneben auch eine umfassende Strategie für diese zweiteSäule der Energiewende, die Energieeffizienz, vorgelegt.Beim NAPE war es erklärtes Ziel der Unionsfraktion,die Potenziale von Energieeffizienz und -einsparungeneben nicht durch Zwang, sondern durch Information undstarke Anreize zu heben, um somit über Eigenverant-wortlichkeit und Wirtschaftlichkeit Investitionen aus-zulösen. Folgerichtig sind im NAPE nur wenige Maß-nahmen enthalten, die in Form ordnungsrechtlicherVorgaben umgesetzt werden. Über eine dieser Maßnah-men diskutieren wir heute: Artikel 8 der EU-Energieeffi-zienzrichtlinie sieht die Einführung verpflichtenderEnergieaudits für Unternehmen des industriellen Sektorsund des Gewerbes vor. Wir setzen heute diese obligatori-sche Vorgabe durch eine Erweiterung des Energiedienst-leistungsgesetzes in nationales Recht um. Was auf denNAPE insgesamt zutrifft, gilt für die Umsetzung derEnergieeffizienzrichtlinie im Speziellen: Wir wollendiese möglichst unbürokratisch, sachgerecht und zielori-entiert durchführen.
Um ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit amStandort Deutschland aufrechterhalten zu können, opti-
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Hansjörg Durz
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mieren insbesondere energieintensive Unternehmen seitJahrzehnten kontinuierlich und selbstständig ihre Ener-gieeffizienz. Deutschland ist Weltmeister bei der Ener-gieeffizienz. Dennoch bestehen in allen Bereichen im-mer noch erhebliche Einsparpotenziale. Audits sindgeeignet, Energieeinsparpotenziale zu erschließen. Des-wegen fügen wir mit dem heutigen Gesetz einen weite-ren Baustein zur Verbesserung der Energieeffizienz inDeutschland ein.
Ich möchte ausdrücklich hervorheben, dass es mitdem vorliegenden Gesetzentwurf gelungen ist, sich engan den Vorgaben der Richtlinie zu orientieren. Eine Eins-zu-eins-Umsetzung europäischer Vorgaben wird vonuns, der Politik, immer wieder und regelmäßig gefordert.Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein gutes Beispiel,wie dies gelingen kann.Ich möchte anhand von drei Punkten verdeutlichen,weshalb diese enge Orientierung an der EU-Richtliniesinnvoll und richtig ist:Der erste Punkt betrifft die verpflichteten Unterneh-men. Die Richtlinie sieht vor, dass alle nach der Defini-tion der EU nicht als KMU geltenden Unternehmen– wie bereits erwähnt, sind dies Unternehmen, die mehrals 250 Mitarbeiter haben und einen Jahresumsatz vonmehr als 50 Millionen Euro oder eine Bilanzsumme grö-ßer als 43 Millionen Euro aufweisen – oder solche, dieals verbundene Unternehmen gelten, der Auditierungs-pflicht unterworfen sind. Damit sind in Deutschland ins-gesamt 50 000 Unternehmen betroffen. Nun gibt es vonder Opposition die Forderung, über den Wortlaut derEU-Energieeffizienzrichtlinie hinauszugehen, nämlichdie Verpflichtung auf kleine und mittlere energieinten-sive Unternehmen auszudehnen. Meine Damen und Her-ren, das ist einer der Punkte, in denen sich unsere Auf-fassungen – bei aller Einigkeit über die Bedeutung undden Nutzen von Energieeffizienz – grundsätzlich unter-scheiden.
Die Ausdehnung auf KMU geht nicht nur über dieEnergieeffizienzrichtlinie hinaus, sondern ist auch nichtsinnvoll. Denn durch das Gesetz entsteht ein nicht zuunterschätzender Erfüllungsaufwand. Zusätzliche Büro-kratie wollen wir nur dort aufbauen, wo sie zwingend er-forderlich ist. Außerdem ist der Vorschlag, innerhalb desin Deutschland austarierten Systems, in dem KMUdurch Anreize stimuliert werden sollen, freiwillig inEnergiemanagementsysteme zu investieren, auch unterbeihilferechtlichen Aspekten abzulehnen.Für die Union steht insbesondere im Bereich derKMU nicht der Zwang im Vordergrund, sondern dieFreiwilligkeit. Wir wollen Unternehmen durch wett-bewerbliche Anreize auf ihrem Weg zu mehr Energieef-fizienz begleiten. Hier nennt der NAPE eine Reihe vonMaßnahmen wie etwa zinsgünstige Darlehen, Ausfall-bürgschaften für Contracting-Finanzierungen oder dieWeiterentwicklung der Energieberatung Mittelstand.Das ist übrigens, wie in jüngster Zeit berichtet wurde,ein Modell, das sehr gut läuft, auch aufgrund einer neuenOrientierung im Rahmen dieses Projektes. Auch die äu-ßerst positive Resonanz, mit der die Energieeffizienz-netzwerke von der Wirtschaft aufgenommen werden, be-stätigt diesen Weg.Der zweite Punkt betrifft die Anforderungen, die zurErfüllung der Richtlinie an den Prozess des Audits ge-stellt werden. Auch hier übernehmen wir eins zu eins dieVorgaben des Artikels 8 – das ist bereits erwähnt worden –,dass auch Umwelt- und Energiemanagementsystemeentsprechend anerkannt werden.Ein dritter Punkt betrifft die Umsetzungsfristen; auchdiese sind schon genannt worden. Die Richtlinie siehteine Umsetzung bis zum 5. Dezember 2015 vor. DiesesDatum findet sich auch im Gesetzentwurf wieder. Ab-weichend hat die Koalition aber beschlossen, dass einemUnternehmen dann mehr Zeit für die Umsetzung ge-währt wird, falls es sich dazu entschließt, anstelle des ge-forderten Audits gleich mehr umzusetzen. Wir wolleneben diejenigen nicht bestrafen, die im Sinne der Effi-zienz über das geforderte Mindestmaß hinausgehen.Auch das verstehen wir unter sachgerechter Umsetzung.
Das Ministerium hat einen guten Gesetzentwurf vor-gelegt. Den Koalitionsfraktionen ist es im parlamentari-schen Verfahren zudem gelungen, wichtige Punkte zu er-gänzen, die den Unternehmen bei der Einführung helfen.Darüber hinaus haben Union und SPD durch einen Ent-schließungsantrag Hinweise gegeben, den Vollzug mitmöglichst geringen bürokratischen Lasten einhergehenzu lassen. Dies betrifft etwa die Zulassung sogenannterMulti-Site-Verfahren oder die Möglichkeit, dass qualifi-zierte Auditoren auch aus dem eigenen Unternehmenkommen und damit firmeneigene Kompetenz genutztwird. Auch hier haben wir darauf geachtet, dass den Un-ternehmen keine unnötigen zusätzlichen Kosten entste-hen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit demvorliegenden Gesetz schaffen wir für die UnternehmenRechtssicherheit und Klarheit, stellen aber auch einenhohen Qualitätsstandard der Audits sicher. Mit einemEnergieaudit ist – das ist auch mehrfach angeklungen –noch keinerlei Energie eingespart. Voraussetzung fürdie Einsparung ist aber die Kenntnis der vorhandenenPotenziale. Ich bin überzeugt, dass die Wirtschaft diesePotenziale nutzen wird, womit wir unseren Energieein-sparzielen auch ein ganzes Stück näher kommen werden.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurTeilumsetzung der Energieeffizienzrichtlinie und zur
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8077
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
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Verschiebung des Außerkrafttretens des § 47 g Absatz 2des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen.Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehltunter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 18/3934, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksachen 18/3373 und 18/3788 in derAusschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zwei-ter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionengegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grü-nen und Die Linke angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionengegen die Stimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grü-nen und Die Linke angenommen.Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 18/3934 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent-schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Wer enthält sich? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen DieLinke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 18/3937. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmenvon CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktio-nen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke abgelehnt.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten SusannaKarawanskij, Kerstin Kassner, Klaus Ernst, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEEinstieg in die Weiterentwicklung der Gewer-besteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer –Freie Berufe in die Gewerbesteuerpflicht ein-beziehenDrucksache 18/3838Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
InnenausschussHaushaltsausschussb) Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Finanzausschusses
zu dem Antrag der Abgeordneten SusannaKarawanskij, Kerstin Kassner, Klaus Ernst, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEGemeindewirtschaftsteuer einführen – Kom-munalfinanzen stärkenDrucksachen 18/1094, 18/2929Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat SusannaKarawanskij, Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Gäste! Für mich ist es immer wieder er-schreckend, wie viele Koalitionäre immer wieder dieWichtigkeit der Kommunen betonen, das allerdingsnicht in praktische Politik umsetzen, sondern es bei Wor-ten belassen. Da hilft es auch nicht, wie wir es in der De-batte zur Finanzierung der Flüchtlingsunterbringung vorzwei Wochen hier im Deutschen Bundestag gehört ha-ben, aufzuzählen, was Sie alles für Gesetze auf den Weggebracht haben. Entscheidend ist, was am Ende heraus-kommt, was tatsächlich bei den Kommunen ankommt.
Es bleibt bei dem Fakt, dass die Schere zwischen ar-men und reichen Kommunen weiter auseinanderdriftet.Die armen Kommunen kriechen dabei finanziell so aufdem Zahnfleisch, dass sie aus eigener Kraft nicht mehrauf die Beine kommen. Da hilft auch kein Verweis da-rauf, dass die Ausreißer ein paar schlecht wirtschaftendeKommunen in NRW sind, die über ihre Verhältnisse ge-lebt haben.
Die Schuldenhöhe der kommunalen Kernhaushalte liegtlaut dem Gemeindefinanzbericht 2014 des DeutschenStädtetages bei etwa 130 Milliarden Euro. Das ist wahr-lich kein Pappenstiel.
An dieser Stelle ist nun wirklich die Politik gefragt,nachhaltige Lösungen zu finden. Sie mögen zwar schonein paar Gesetze auf den Weg gebracht haben, aber dasändert nichts daran, dass Sie bislang versagt haben, dieKommunen nachhaltig und vor allem dauerhaft zu stär-ken. Dazu muss man nicht nur die Ausgabenseite be-trachten, sondern auch die Einnahmeseite.
Über die Ausgabenseite haben wir hier im Plenum be-reits gesprochen. Wir als Linke haben dabei deutlich ge-macht, dass die Kommunen insbesondere bei den Sozial-ausgaben entlastet werden müssen, und das nicht nurkleckerweise, sondern indem der Bund auch tatsächlichVerantwortung und die entsprechenden Kosten vollstän-dig übernimmt, allen voran die Kosten der Unterkunft,die KdU, aber auch die Kosten der Leistungen für Asyl-bewerber und beim BAföG. Dann wäre auch genug Geldin den Kassen, um beispielsweise die Unterbringung vonFlüchtlingen und Asylsuchenden menschenwürdig undsozial integrativ zu gestalten.
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8078 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Susanna Karawanskij
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Vor allen Dingen bedarf es im gesamten Ausgabenbe-reich der strikten Einhaltung des Konnexitätsprinzips.Das heißt: Wenn der Bund den Kommunen neue Aufga-ben überträgt oder zusätzliche Leistungen aufbürdet,muss er auch für die Finanzierung geradestehen. DieKommunen sind eben nicht nur reine Erfüllungsgehilfendes Bundes ohne Mitspracherechte. Es muss gelten: Werbestellt, muss auch zahlen. Die Kommunen brauchenhier konkrete Mitspracherechte und Mitwirkungsrechte.
Der vorliegende Antrag der Linken setzt genau aufder anderen Seite des Spektrums an, nämlich die Einnah-meseite der Kommunen gezielt zu stärken. Konkret solldie Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuerweiterentwickelt werden. So wollen wir für stabile Ein-nahmen der Kommunen durch eine originäre Kommu-nalsteuer sorgen, die dann eben auch entsprechendenkonjunkturellen Schwankungen trotzen kann und neueHandlungsspielräume für die Kommunen schafft.
Das ist zweifelsohne bitter nötig. Mit einer Gemein-dewirtschaftsteuer wird die Last der Gewerbesteuer aufmehr Schultern verteilt. Das ist gerecht, weil alle unter-nehmerisch Tätigen mit der Absicht, Gewinn zu erzie-len, einbezogen werden.
Das betrifft auch die Freiberufler. Es gab ja dazu auchschon einige Reaktionen. Meines Erachtens sind diesefehl am Platze; denn wir fordern ja gleichzeitig einenFreibetrag in Höhe von 30 000 Euro für Freiberufler,
Existenzgründer und Kleinunternehmer, der dann ent-sprechend vom Gewerbeertrag abgezogen wird. FürFreiberufler, die dennoch der Gewerbesteuer unterlie-gen, bleibt immer noch die Möglichkeit, Gewerbesteuer-zahlungen mit der Einkommensteuer zu verrechnen.Ich möchte einfach an dieser Stelle das Deutsche In-stitut für Wirtschaftsforschung, das DIW, zitieren. Die-ses hat vor einigen Jahren festgestellt:Würde man bei einer Einbeziehung der freien Be-rufe … in die Gewerbesteuer die derzeitige Gewerbe-steueranrechnung auch für diese Einkünfte gewähren,würde – wie schon bei den derzeit gewerbesteuer-pflichtigen Personenunternehmen – ein Großteil derhöheren Gewerbesteuerbelastung nicht bei den Steuer-pflichtigen belastungswirksam werden.Freiberufler nehmen die kommunale Infrastruktur inAnspruch. Folglich können sie auch einen entsprechen-den Anteil leisten. Im Übrigen kommt es nach unseremModell – das muss an dieser Stelle ganz klar gesagt wer-den – in den meisten Fällen jedoch nicht zu Mehrbelas-tungen.
Ich bin froh darüber, dass die Abgeordneten aus allenFraktionen, was diesen Punkt angeht, wohlwollende Be-reitschaft zu Gesprächen im Unterausschuss Kommuna-les signalisiert haben. Ich möchte Sie an dieser Stellenoch einmal auffordern: Setzen Sie sich in Ihren Fraktio-nen ein Stückchen weit durch. Packen wir es gemeinsaman.Mit der Gemeindewirtschaftsteuer soll auch die Be-messungsgrundlage verbreitert werden. Schuldzinsensind von nun an hinzuzurechnen. Mieten und Pachtenmüssen ebenfalls in voller Höhe berücksichtigt werden.Damit eine Kleinrechnung von Gewinnen unterbundenwird, müssen Gewinne und Verluste in der Entstehungs-periode zeitnah geltend gemacht werden. Das hat nocheinen schönen Nebeneffekt: Steuerschlupflöcher für Un-ternehmen werden so geschlossen.
Dem können Sie sich nicht ernsthaft verweigern,meine Damen und Herren. Wir berücksichtigen die so-zialen und wirtschaftlichen Belange von Freiberuflern,Kleinunternehmern und Existenzgründern und versteti-gen dabei die finanziellen Grundlagen unserer Städteund Gemeinden und sorgen für eine gerechtere Besteue-rung.Neben der Aufforderung, hier im Bundestag weiter-hin über einen solidarischen Länderfinanzausgleich zudiskutieren – er betrifft nämlich auch die Kommunen –,möchte ich Ihnen Folgendes ans Herz legen: Wenn Siesich für die Menschen in den Kommunen einsetzen wol-len, stimmen Sie unseren Anträgen zu.Danke.
Das Wort hat der Kollege Philipp Graf Lerchenfeld
für die CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Sehr geehrte Kolle-ginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Karawanskij, ichhabe mich gerade erkundigt. Anscheinend haben Sie dasWohlwollen, das Ihnen gegenüber gezeigt wurde, mitdem vermeintlichen Wohlwollen Ihrem Antrag gegen-über verwechselt. Er wurde im Unterausschuss eindeutigabgelehnt.
Beziehen Sie es insofern nicht auf sich selber, dass derAntrag abgelehnt worden ist.Es wundert mich, mit welcher Regelmäßigkeit vonIhnen immer wieder der gleiche Antrag gestellt wird.
Man könnte sich als Redner das Ganze heute sehrleicht machen und einfach darauf verweisen, dassschon alles – nur noch nicht von uns heute hier – ge-sagt worden ist. Ich glaube aber, wir sollten uns doch
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Philipp Graf Lerchenfeld
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noch einmal ernsthaft mit diesem Thema beschäfti-gen.Ich möchte versuchen, Ihnen noch einmal die Argu-mente darzustellen, die gegen diese Steuer sprechen;denn letztlich hoffe ich, dass Sie nach dem alten Satz„Repetitio est mater studiorum“ ein bisschen lernfähigsind.
– Das hoffe ich. Sie haben es aber anscheinend nicht ver-innerlicht.Zunächst einmal möchte ich festhalten, dass für dieKommunen zuallererst die Länder verantwortlich sind.Der Bund ist für die Kommunen nicht verantwortlich.Sie haben teilweise richtig dargestellt, dass den Kommu-nen durch entsprechende Gesetze Leistungen auferlegtwurden, die vom Bund nicht ausreichend bezahlt wur-den. Dazu kann man heute sagen, dass diese Fehler derVergangenheit behoben worden sind. Mit der Über-nahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs-minderung haben wir allein eine Entlastung von 4,5 Mil-liarden Euro im Jahr geschaffen.
Im Zeitraum 2012 bis 2016 beläuft sich dabei die Entlas-tung der Kommunen auf über 20 Milliarden Euro. ImJahr 2014 wurde die letzte Stufe der Anhebung der Bun-desbeteiligung von 75 auf 100 Prozent durchgezogen.Das wiederum führt zu einer weiteren zusätzlichen Ent-lastung der Kommunen von 1,6 Milliarden Euro jährlich.
Sie haben vielleicht auch noch vergessen, dass wir imletzten Jahr einige enorme zusätzliche Leistungen für dieKommunen beschlossen haben: 1 Milliarde Euro jähr-lich zur Unterstützung im Rahmen der Eingliederungs-hilfe, und zwar über die Übernahme der Kosten der Un-terbringung bzw. über einen erhöhten Anteil an derUmsatzsteuer. In unserem Koalitionsvertrag steht, dasswir selbstverständlich bis zum Ende dieser Legislaturpe-riode die Kommunen noch einmal um weitere 5 Milliar-den Euro entlasten werden. An diese Zusage halten wiruns; das werden wir durchführen. Die Kommunen wis-sen eben, dass sie mit uns einen verlässlichen Partner anihrer Seite haben.
Dass wir den Kommunen darüber hinaus mit den In-vestitionsprogrammen „Kinderbetreuungsfinanzierung“enorme zusätzliche Entlastungen sozusagen geschenkthaben, brauche ich hier, glaube ich, nicht weiter zu er-wähnen. In diesem Jahr – darauf sind Sie vorhin einge-gangen – werden die Kommunen und Länder weiter ent-lastet, und zwar bei den Kosten für Asylbewerber. DerBund wird sich im Jahr 2015 mit 500 Millionen Euro andiesen Kosten beteiligen und im kommenden Jahr, wennweiterhin Bedarf besteht, mit weiteren 500 MillionenEuro. Den Kommunen sind in der letzten Zeit alsoenorme Mittel zugeflossen. Die Bundesregierung unddas Parlament tun hier das Ihrige.Woran liegt es denn, dass manche Kommunen tat-sächlich eine so schlechte Finanzlage haben? Das liegtdoch nicht daran, dass die Gewerbesteuer zu niedrig ist.Die Gewerbesteuer ist seit 2009 immer kontinuierlichangestiegen und hat im Jahr 2014 mit 33 MilliardenEuro einen neuen Höchststand erreicht.
Damit lag sie um fast 9 Milliarden Euro höher als imJahr 2009 und doppelt so hoch wie im Jahr 2003. Seit2012 weisen die Kommunen in Deutschland einen posi-tiven Finanzierungssaldo von 1 Milliarde Euro und mehraus.
– Das ist der Durchschnitt.Es gibt sehr unterschiedliche Kommunen.
Es gibt Kommunen, die gut regiert werden, und es gibtKommunen, die schlecht regiert werden.
Das wird an den unterschiedlichen Kassenkrediten sehrdeutlich. Mich erstaunt es überhaupt nicht, dass sich dieHälfte aller Kommunen mit einer finanziellen Notlage ineinem einzigen Bundesland befindet, nämlich in Nord-rhein-Westfalen.
Anscheinend wirtschaften die Kommunen in diesemLand genauso schlecht wie die dortige Landesregierung,die nicht haushalten kann, sondern ständig neue Schul-den aufhäuft.
Diese Schuldenpolitik auf Landes- und kommunalerEbene ist unverantwortlich – gerade gegenüber dernächsten Generation.
Wenn ich beispielsweise lesen muss, dass sich dasLand Nordrhein-Westfalen nur zu etwa 20 Prozent anden Kosten der Kommunen für Asylbewerber beteiligt,während Hessen bis zu 75 Prozent der Kosten erstattet,wird deutlich, woher die Schieflage kommt. Wenn Gel-der, die der Bund für die Kommunen vorgesehen hat, zurKonsolidierung der Länderhaushalte verwendet werdenoder manche Länder auf Kosten der Kommunen beimkommunalen Finanzausgleich sparen, ist die unter-schiedliche Entwicklung der Kassenkredite kein Wun-der. Nordrhein-Westfalen vernachlässigt seine Verant-
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Philipp Graf Lerchenfeld
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wortung für die eigenen Kommunen tatsächlichvollständig.Ihrem Antrag, aus der Gewerbesteuer eine Gemeinde-wirtschaftsteuer zu machen, können wir natürlich nichtfolgen. Das würde zu Steuererhöhungen und zu einemneuen Bürokratieaufwand für Freiberufler führen. HabenSie sich außerdem einmal die Auswirkungen auf denBundeshaushalt und auf die Landeshaushalte ausgerech-net? Es gibt Berechnungen, wonach genau die Sache, dieSie einführen wollen, zu einer Mindereinnahme von biszu 5 Milliarden Euro beim Bund und bei den Ländernführen würde. Das wären 5 Milliarden Euro mehr beiden Kommunen, also genau der Betrag, den wir denKommunen bis zum Ende der Legislaturperiode von un-serer Seite aus sowieso erstatten werden. Sie wollen dieSteuereinnahmen der Kommunen erhöhen und die Steu-ereinnahmen von Bund und Ländern reduzieren.Letztlich stellt sich für mich auch die Frage, ob tat-sächlich noch eine Gewerbesteuer in der jetzigen Formnotwendig wäre, wenn es eine einheitliche Gemeinde-wirtschaftsteuer geben würde. Für mich stellt es sich da-mit so dar: Wenn alle einbezogen werden, können wirdoch gleich einen Zuschlag zur Einkommensteuer oderzur Umsatzsteuer beschließen,
was darauf hinausläuft, dass das Ganze genau so, wie Siees wollen, funktioniert und die Gewerbesteuer damit ab-geschafft wird.
Man muss sich natürlich auch darüber klar sein, dassdie Infrastruktur von den Freiberuflern wirklich nicht sobelastet wird, wie das bei großen gewerblichen Unter-nehmen der Fall ist. Mit den bei uns geltenden Freibeträ-gen sind die kleinen Gewerbetreibenden, die die Infra-struktur genauso wenig belasten, entsprechend entlastetworden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Politik würdezu massiven Steuererhöhungen für einzelne Branchenund Unternehmen führen.
Darauf werden die nächsten Redner sicherlich noch nä-her eingehen. Wir jedenfalls werden Ihren Antrag ableh-nen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Britta Haßelmann hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren Besucherinnen und Besucher! Liebe Kolleginnenund Kollegen, auch auf der Regierungsbank! HerrLerchenfeld, zum Ersten bin ich froh, dass es weder derUnion noch der FDP in ihrer Koalition in der letzten Le-gislaturperiode gelungen ist, die Gewerbesteuer abzu-schaffen.
Sie sind mit diesem Projekt gnadenlos gescheitert, undaus der großen Gemeindefinanzreform kam letzten En-des ein sehr kleines Ergebnis heraus. Denn landauf,landab sind viele Bundesländer und die Bundestagsfrak-tionen der Grünen, SPD und Linken Ihren Vorschlägennicht gefolgt. Ich wünsche Ihnen frohe Verrichtung undviel Energie, das Projekt noch einmal anzugehen. Eswird aber sicherlich wieder scheitern.
Zum Zweiten erachte ich die Analyse, die HerrLerchenfeld gerade zum Besten gegeben hat, als maxi-mal unterkomplex. Intellektuell unterfordert sie mich.
Gut und schlecht regierte Kommunen: Ist die Welt soeinfach, liebe Kolleginnen und Kollegen? Ist sie nicht, inkeinem einzigen Bundesland. Denn auch in Deutschlandgibt es mittlerweile in jedem Bundesland – selbst in mei-ner wunderschönen Heimat Nordrhein-Westfalen – armeund reiche Kommunen.Die Welt, die Sie nach Ihren Vorstellungen zementie-ren wollen, reicht allenfalls für Ihre Analyse aus, aber siehält einer nüchternen Betrachtung in keiner Weise stand.Ich hoffe, dass es anderswo mehr Vernunft gibt. Dennwenn man von dieser Analyse darauf schließt, was wirals Bundestag zu tun haben, dann werden wir scheitern,und die Kommunen werden leider im Regen stehen blei-ben.
Meine Damen und Herren, es geht heute um den An-trag der Linken zur Gemeindewirtschaftsteuer. Daraufmöchte ich kurz eingehen. Meine Fraktion hat sich im-mer wieder für den Erhalt der Gewerbesteuer und dieVerbreiterung der Bemessungsgrundlage eingesetzt. Ichbin froh, dass in vielen Verbänden, Industrieverbändenwie Kreishandwerkerschaften, eine viel größere Offen-heit und Diskussionsbereitschaft gegenüber der Einbe-ziehung der Freiberufler in die Gewerbesteuer und ge-genüber der Aufhebung einer starren Trennung, die wirüber Jahrzehnte vollzogen haben, entstanden ist. Auchwir wollen die Gewerbesteuer zu einer kommunalenWirtschaftsteuer weiterentwickeln und die Bemessungs-grundlage verbreitern.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8081
Britta Haßelmann
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Wir unterscheiden uns aber in einem Punkt ganz er-heblich von Ihren Vorstellungen, und zwar bei der Ge-werbesteuerumlage. Ich habe immer wieder betont, dassSie die Gewerbesteuerumlage ausklammern sollten.Denn dabei geht es um ein ganz komplexes Geflecht ei-ner Einigung zwischen Bund, Ländern und Kommunen.Änderungen würden Auswirkungen auf andere Steuer-arten nach sich ziehen, die ich für hochproblematischhalte und die letzten Endes den Kommunen nicht helfenwürden.
Deshalb werden wir Ihrem Antrag heute nicht folgen.Denn Sie beantragen die Abschaffung der Gewerbe-steuerumlage. Ich mahne aber immer wieder zur Vor-sicht bei diesem Thema. Denn das berührt viele andereSteuerbereiche und bringt das gesamte Gefüge der Fi-nanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommu-nen durcheinander. Aus diesem Grund ist eine Änderungin diesem Bereich leider nicht so einfach.
Deshalb können wir Ihrem Antrag in dem Punkt nichtfolgen.Wir müssen auch dringend einige andere Themen dis-kutieren, die die Kommunen sehr intensiv berühren. EinThema ist die Zukunft der Regionalisierungsmittel. Wostehen wir heute? Wir haben zum Beispiel massiveSchwierigkeiten, was die „Baustellen“ in den Kommu-nen und die hohen Investitionen angeht, die wir tätigenmüssen. Dafür braucht es Planungssicherheit, eine klareStruktur und eine klare Zusage von uns als Bundestag,dass wir diese Aufgabe anerkennen. Wir müssen ge-meinsam mit den Ländern die Kommunen hinsichtlichder Fortsetzung und Dynamisierung der Regionalisie-rungsmittel unterstützen.
Dritter Punkt, die Bund-Länder-Kommunen-Finanz-beziehungen. Hier wird es ganz entscheidend darauf an-kommen, ob wir die Kommunen im Blick behalten.Wenn wir über die Neuordnung der Bund-Länder-Fi-nanzbeziehungen reden, haben wir über viele einzelneFacetten zu diskutieren, die wichtig sind, wenn es darumgeht, wie wir als Bund gemeinsam mit den Ländern dieKommunen unterstützen können.Das Vierte und Letzte, das ich ansprechen will, sinddie sozialen Kosten. Jeder weiß, dass die Steigerung dersozialen Kosten erheblich ist. 2017 werden die Aufwen-dungen zur Deckung der sozialen Kosten bei 54 Milliar-den Euro liegen. Hierbei handelt es sich um Pflichtauf-gaben und nicht um Aufgaben, die sich die Kommunenselbst gegeben haben und bei denen sie Gestaltungs-spielraum haben. Deshalb sollten Sie, meine Damen undHerren von der Koalition, schon vor 2018 – dann bestehtdiese Regierung nicht mehr – Ihre Zusage einlösen, dieKommunen wie versprochen um 5 Milliarden Euro zuentlasten. Ein Blick in den Haushalt zeigt aber, dass Siediese Entlastung bei den sozialen Kosten erst für 2018vorsehen. Das ist falsch. Sie haben den Kommunen undden Ländern etwas anderes versprochen. Deshalb be-steht hier dringender Handlungsbedarf.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Bernhard Daldrup für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Frau Karawanskij, Sie haben recht: Es ist das Ver-dienst der Linken, dass wir hier regelmäßig über die Si-tuation der Kommunen reden. Aber es ist das Verdienstdieser Koalition, dass wir nicht nur reden, sondern imSinne der Kommunen auch ganz konkret handeln. Dasist einer der zentralen Unterschiede.
Ich muss nicht alles wiederholen, was HerrLerchenfeld gesagt hat: angefangen bei der Übernahmeder Kosten der Grundsicherung, der Übergangsmilliarde,über die Kitaförderung, die Städtebauförderung, diezweimal 500 Millionen Euro für die Flüchtlingsunter-bringung bis hin zur Infrastrukturförderung. Obwohl wireine gute Zwischenbilanz vorzuweisen haben, ignorierenwir – Frau Haßelmann hat auf die Soziallasten hingewie-sen – die schwierigen Probleme der Kommunen nicht.Wir werden darüber mit den 48 Oberbürgermeistern,Bürgermeistern und Stadtkämmerern, die demnächst alsVertreter des Bündnisses „Für die Würde unserer Städte“nach Berlin kommen, sehr offensiv sprechen; darin binich mir ziemlich sicher.Der Antrag der Linken auf Einführung einer Ge-meindewirtschaftsteuer orientiert sich am sogenanntenKommunalmodell, das eine Erweiterung der Bemes-sungsgrundlage und die Ausweitung des Kreises derSteuerpflichtigen vorsieht; darüber kann man reden. Da-rauf komme ich gleich zurück. Aber abzulehnen ist aufjeden Fall der Vorschlag – das hat Frau Haßelmannschon gesagt –, die Gewerbesteuer faktisch zu einer rei-nen Kommunalsteuer zu machen. Sie wollen die sofor-tige Abschaffung der anteiligen Beteiligung des Bundessowie – abgestuft bis 2019 – der Länder an der Gewerbe-steuerumlage. Das ist völlig unverständlich, weil Sie aufdiese Art und Weise ein flexibles Instrument des Finanz-ausgleichs vollständig aus den Händen geben. Dieses In-strument dient unter anderem dazu, die Gleichwertigkeitder Lebensverhältnisse zu steuern.
Sie erhöhen die kommunale Abhängigkeit von derGewerbesteuer. Die Konjunkturabhängigkeit der Kom-munen wird dadurch erhöht. Sie fördern Gewerbesteu-
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Bernhard Daldrup
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erdumping. Monheim lässt grüßen! Wollen Sie das ei-gentlich alles? Sie schwächen zudem im Kern dasInteresse des Bundes am Erhalt der Gewerbesteuer. Wol-len Sie das?Interessant ist, dass für Sie die Bedeutung der Gewer-besteuerumlage für die kommunale Beteiligung an derFinanzierung der deutschen Einheit überhaupt keinThema ist. Die Kommunen sind aber über die Gewerbe-steuerumlage an der Mitfinanzierung der deutschen Ein-heit beteiligt. Soll die Hilfe für die ostdeutschen Kom-munen sofort entfallen? Das ist eine rhetorische Frage;denn ich weiß, dass das nicht Ihre Absicht ist. Aber dazugibt es kein Wort in Ihrem Antrag. Wir erwarten von Ih-nen zwar kein geschlossenes Konzept, aber wenigstensden Hinweis, dass Ihnen das Problem bewusst ist, undeinen Vorschlag, aus dem hervorgeht, wie eine Kompen-sation zum Beispiel für die Länder aussehen soll. WasSie machen, ist nicht seriös.Übrigens, Herr Lerchenfeld, bei aller Sympathie, dieich für Sie hege, ist das, was Sie machen, auch nicht se-riös. Denn die Variante in Nordrhein-Westfalen, die HerrRüttgers gewählt hat, nämlich ein Einheitslastenabrech-nungsgesetz zu machen, war verfassungswidrig undhätte die Kommunen im Zeitraum von 2007 bis 2019 mit1 Milliarde Euro belastet. Das hat die rot-grüne Landes-regierung geändert. Das hat zusammen mit dem Stär-kungspakt in Höhe von 5,85 Milliarden Euro dazu ge-führt, dass von 138 Kommunen – insgesamt sind es400 –, die im Jahre 2010, am Ende der schwarz-gelbenLandesregierung in Nordrhein-Westfalen, einen Not-haushalt hatten, jetzt nur noch 4 einen Nothaushalt ha-ben. Mit anderen Worten: Die Hinterlassenschaft istnicht gut, Herr Brinkhaus, und auch Sie wissen das.
Lassen Sie mich einige Bemerkungen zu dem zweitenAntrag machen, in dem gefordert wird, die freien Berufein die Gewerbesteuer aufzunehmen, ohne ihre Steuerbe-lastung zu erhöhen; denn Gewerbesteuerzahlungen sol-len mit der Einkommensteuerschuld verrechnet werdenkönnen. Das Konzept ist keine Idee der Linken. Es ist inden Kommunen parteipolitisch unumstritten. Das weißjeder, der sich mit den kommunalen Spitzenverbändenunterhält. Wir sagen Ihnen eine konstruktive Beratungzu. Schön ist auch der Hinweis von Frau Haßelmann,dass die Akzeptanz wächst.Aber bedenken Sie eines: Wir haben den Erhalt derGewerbesteuer im Koalitionsvertrag gesichert, und wirhaben ihren Schutz vor Aushöhlung im Koalitionsver-trag gesichert. Das steht für uns im Vordergrund. Damitsichern wir die wichtigste Einnahmequelle der Kommu-nen, geben Planungssicherheit, und wir stabilisieren diekommunale Finanzierungsbasis, weil angesichts der gu-ten Konjunktur die Gewerbesteuer ein hohes Niveau hat.Das ist sehr wichtig.Wer glaubt, dass deswegen bei der GewerbesteuerRuhe im Karton sei, der irrt sich gewaltig. Ich will ausdem Bericht zu Ihrem heutigen Antrag zitieren – den ha-ben Sie als Berichterstatter gemeinsam erstellt –, undzwar zu Ihrer Absicht, die freien Berufe in die Gewerbe-steuer einzubeziehen. Dazu sagt die CDU/CSU, wasHerr Lerchenfeld eben bestätigt hat:… in diesem Fall könnte man einfacher kommunaleZuschläge zur Einkommensteuer erheben, womitdas Ziel einer Verstetigung der Einnahmen bessererreicht werden könnte.Während sich die SPD um den Erhalt und die Stabili-sierung der Gewerbesteuer bemüht, liefern Sie unbeab-sichtigt – das will ich einmal unterstellen – Munition zurAbschaffung der Gewerbesteuer. Wollen Sie das eigent-lich?Ich will eine weitere wichtige Baustelle in diesem Zu-sammenhang benennen. Als Ergebnis der Arbeit derletzten Großen Koalition hat es eine Unternehmensteuer-reform gegeben, die dem Ansinnen der Linken, nämlicheiner Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der Ge-werbesteuer, durchaus entsprochen hat. Gegen die Durch-setzung des Prinzips der Finanzierungsneutralität wirdderzeit allerdings vor allem von der Tourismuswirtschaftheftig gearbeitet. Wie so oft werden kleine Unterneh-men, die aufgrund ihrer Rechtsform gar nicht betroffensind, von großen Unternehmen in Anspruch genommen.Wenn man die Steuerlast der großen Unternehmen imVergleich zu manchen Managergehältern betrachtet,wenn man sieht, dass Vorstandschefs einzelner Unter-nehmen mehrere Millionen Euro im Jahr verdienen undein Kovorstandschef laut FAZ 45 000 Euro am Tag be-kommt, dann bin ich der Auffassung, dass die Hinzu-rechnung bei der Gewerbesteuer keine wirtschaftlicheGefährdung des Tourismus ist. Das zu sagen, bin ich andieser Stelle schuldig.
Wir befürchten ähnlich wie die kommunalen Spitzen-verbände, dass ein Abrücken von den Hinzurechnungen,auch wenn es nur im Bereich des Tourismus passierenwürde, ein Dammbruch wäre. Aber genau das befürwor-tete in einer Anhörung des Tourismusausschusses auchdie Vertreterin der Linken seinerzeit. Deshalb ist meineBitte: Halten Sie auch im Konkreten Kurs, nicht nur imAbstrakten.Wir und auch die Kolleginnen und Kollegen derCDU/CSU-Fraktion werden jedenfalls weiter an der Ge-werbesteuer festhalten und vor allem dafür sorgen, dasseine gute wirtschaftliche Entwicklung die hohen Einnah-men aus der Gewerbesteuer auch in Zukunft sichert.
Herr Kollege Daldrup, darf ich Sie darauf aufmerk-
sam machen, dass Sie jetzt langsam auf Kosten Ihres
Kollegen Junge reden?
Ich bin schon fertig. – Ich habe nichts dagegen, wennSie weiterhin Ihre Anträge zur kommunalen Finanzsitua-tion stellen. Das gibt uns die Gelegenheit, über unserHandeln zu reden.Herzlichen Dank.
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Für die CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin
Margaret Horb das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DieMannheimer Soulsängerin Joy Fleming hat in ihremLied Ich sing ferʼs Finanzamt gesungen – keine Angst,ich singe nicht; ich zitiere nur –:Früher, da hewwe se brutal die Zehnte oigetriwwe,90 Prozent sind übrisch gebliwwe. Des ware nochZeiten. Heut ist das alles umgekehrt. Ma wird heutscho beinah g’stroft, wenn ma schafft, statt dass maschloft.
Inhaltlich würde ich mich den Ausführungen vonFrau Fleming nicht ohne Weiteres anschließen. Früherwar nicht immer alles besser, und ganz so leistungsfeind-lich ist unser Steuerrecht auch nicht.Aber nun ist die Linke angetreten, um diesen Alb-traum von Joy Fleming Wirklichkeit werden zu lassen.Wenn es nach Ihnen geht, dann singen die Künstler inunserem Land wohl wirklich bald für das Finanzamt;denn Sie wollen ja, dass Freiberufler künftig Gewerbe-steuer zahlen. Aber Freiberufler, das sind ja nicht nurKünstler, Ärzte und Anwälte, sondern auch Hebammen,Tagesmütter und Krankengymnasten. Sollen die jetztalle eine Gewerbesteuererklärung abgeben, mit Auf-schlüsselung der Mieten, Pachten und Leasingraten, nurum am Ende festzustellen, dass sie sowieso unter demFreibetrag liegen und sich den ganzen Krempel hättensparen können? Ist Ihnen eigentlich klar, was für ein Bü-rokratiemonster Sie da aus Ihrer Mottenkiste gezogenhaben?
Aber das ist ja nicht Ihre Mottenkiste; das ist IhreSchatzkiste. Denn Sie legen uns einen inhaltsgleichenAntrag nun zum zweiten Mal innerhalb von neun Mona-ten vor. Eine Schatzkiste wie diese möchte ich nicht ha-ben. Ich bin im Finanzausschuss, weil ich Steuerbüro-kratie abbauen und nicht aufbauen möchte.
Das werden wir auch tun, beispielsweise mit dem Ver-fahrensmodernisierungsgesetz, das wir dieses Jahr ein-bringen werden.Wenn es in diesem Hohen Hause künftig um den Ärz-temangel auf dem Land, um die Belastung der freiberuf-lichen Hebammen oder um zu viel Bürokratie im Ge-sundheitsbereich geht, dann braucht sich die Linke nichtmehr zu Wort zu melden; denn Sie, die Linke, sind dieje-nigen, die diese Menschen mit zusätzlicher Bürokratiebelasten wollen.
Die Einbeziehung von freien Berufen in die Gewerbe-steuer begründen Sie ja damit, dass die Freiberufler diekommunale Infrastruktur genauso in Anspruch nehmenwie Gewerbebetriebe. Das ist falsch! Kleine Unterneh-men, die noch am ehesten mit Freiberuflern vergleichbarwären, sind über die Freibeträge sowieso von der Ge-werbesteuer befreit. Große Betriebe aber nehmen diekommunale Infrastruktur sehr wohl deutlich mehr in An-spruch als freie Berufe, etwa bei der Ausweisung vonGewerbegebieten, bei Abwasser, Energie oder Straßen.Deshalb sind die freien Berufe zu Recht von der Gewer-besteuer ausgenommen. Dieser Meinung bin nicht nurich, sondern ist auch das Bundesverfassungsgericht.Aber nicht nur die Freiberufler, sondern auch alleanderen Unternehmer wollen Sie, liebe Kollegen derLinken, kräftig zur Kasse bitten; denn die Hinzurech-nungsbesteuerung soll ja erhöht werden. Diese Besteue-rung ist jetzt schon hochproblematisch. Denn eineBesteuerung von Mieten für Geschäftsräume, von kre-ditfinanzierten Investitionen oder von geleasten Fahr-zeugen ist unabhängig vom Ertrag. Besonders in wirt-schaftlich schweren Zeiten kommt es hier ganz schnellzu einer Belastung der Substanz eines Unternehmens.Bisher gibt es hier noch Grenzen. Leasingraten fürMaschinen werden zum Beispiel zu 20 Prozent in dieBemessungsgrundlage eingerechnet. Aber auch hierschlägt die Linke voll zu. Denn Sie, die Linken, wollenhoch auf 100 Prozent. Besonders in Krisenzeiten würdedas die Existenz von Unternehmen und von Arbeitsplät-zen gefährden.
Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns: Siegehen an die Substanz der Unternehmen, und wir setzenauf Leistungsfähigkeit. Wir vertrauen unseren Unterneh-mern – Unternehmern, die hier in Deutschland Steuernzahlen
und die sich auch sozial vor Ort engagieren.In meinem Heimatland, Baden-Württemberg, denkeich hier beispielshaft an Welt- und Familienunternehmenwie Würth in Künzelsau oder SAP in Walldorf, die unteranderem über die Gewerbesteuer sehr wohl zum Wohl-stand ihrer Gemeinden und ihrer Region beitragen, dievor allem Arbeitsplätze schaffen und sichern und diesich darüber hinaus in ihren Stiftungen massiv für Men-schen, für Kultur und für Sport engagieren. Aber ichdenke genauso an die kleinen Mittelständler in meinerHeimatstadt Osterburken, die sich in Schulpartnerschaf-ten mit dem Ganztagsgymnasium, der Realschule sowieder Grund- und Hauptschule engagieren.
Genau für diese Leute haben Sie in Ihren Anträgen eindickes Steuererhöhungspaket geschnürt.Aber während für Sie die Unternehmer die Packeselund die Kamele in Ihrer Steuererhöhungskarawane sind,
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Margaret Horb
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sind sie für uns die Zugmaschinen, die unsere Wirtschaftziehen und die Verantwortung für unsere Gesellschaftübernehmen.
Und deshalb gilt nach wie vor unsere Zusage: KeineSteuererhöhungen!Angeblich wollen Sie mit Ihren Anträgen die Kom-munen entlasten. Kollege Lerchenfeld hat das Notwen-dige dazu gesagt.
Ich möchte deshalb nur einige Aspekte hervorheben:Natürlich ist es ein Problem, dass die Gewerbesteuer-einnahmen massiv einbrechen, sobald die Konjunkturnachlässt. Und es ist auch ein Problem, dass die Kom-munen so stark von dieser Steuer abhängig sind. AberSie lösen das Problem doch nicht, indem Sie die Gewer-besteuerbemessungsgrundlage vergrößern und den Per-sonenkreis um die freien Berufe erweitern.
Der viel bessere Weg ist, die Kommunen auf der Ausga-benseite zu entlasten und endlich das Prinzip „Wer be-stellt, der bezahlt“ zur Geltung zu bringen.
Genau das haben wir in der letzten Wahlperiode ge-tan, und das tun wir auch jetzt: Wir haben den Kommu-nen die Kosten für die Grundsicherung im Alter und beiErwerbsminderung abgenommen.
Dazu kommt eine Entlastung bei den Kosten der Unter-kunft. Wir beteiligen uns massiv am Betreuungsausbaufür die unter Dreijährigen. Der nächste Schritt wird sein,die Kommunen bei der Eingliederungshilfe zu entlasten.Es waren Wolfgang Schäuble, Angela Merkel und dieCDU/CSU, die das größte kommunale Entlastungspro-gramm in der Geschichte unseres Landes durchgeführthaben.
Und wir können das, ohne Kommunen und Wirtschaftgegeneinander auszuspielen.Zum Schluss noch ein kleiner Literaturtipp für alle. Inder aktuellen Ausgabe der Politischen Vierteljahres-schrift ist ein Artikel zu den Ursachen kommunalerHaushaltsdefizite erschienen. Ergebnis: Kommunen miteinem CDU-Bürgermeister oder einer CDU-Bürger-meisterin machen weniger Schulden
und erwirtschaften höhere Überschüsse als die Kommu-nen, die nicht unionsgeführt sind.
– Zuhören! – Was lernen wir daraus? Hören Sie zu!
Kollegin Horb, das müssen Sie jetzt dem Selbststu-
dium der Kolleginnen und Kollegen überlassen.
Da die hier dazwischenschwätzen, mache ich das
noch fertig.
Sie alle lernen daraus, wir lernen daraus: Die beste
Garantie für solide Kommunalfinanzen ist und bleibt:
CDU/CSU wählen!
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Frank Junge für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hättemir nicht träumen lassen, dass wir eine so muntere undteilweise auch so kontroverse Debatte führen. Schon garnicht hätte ich mir träumen lassen, dass von unseremKoalitionspartner an so vielen Stellen Punkte vorgetra-gen werden, die uns doch die Fragezeichen in die Augentreiben.
Trotzdem möchte ich ganz zu Beginn sagen, FrauKarawanskij: Anträge werden nicht besser, je öfter mansie stellt.
Das, was wir heute debattieren, haben wir hier imPlenum und auch im Finanzausschuss schon mehrfachmiteinander erörtert. Wir haben das nicht nur in dieserWahlperiode getan, sondern auch schon in der davor.Jedes Mal haben wir Ihnen gegenüber zum Ausdruckgebracht, warum Ihre Forderungen so nicht gehen. DieArgumente, die wir heute hier dagegen vorgetragen ha-ben, sind die gleichen, die wir Ihnen schon mehrfachvorgetragen haben. Ich komme also auch nicht umhin,mich an einigen Stellen zu wiederholen, um deutlich zumachen, warum wir gegen Ihre zwei Anträge sind.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8085
Frank Junge
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie michaber eines noch einmal vorausschicken: Der SPD ist dieGewerbesteuer wichtig. Das war so, und das bleibt so.
Aus diesem Grund hat sich die SPD-Fraktion sehr starkfür die Gewerbesteuersicherung eingesetzt.Mit der Unternehmensteuerreform 2008 haben wirnicht nur Maßnahmen getroffen, um die Regelungendazu zu vereinfachen. Wir haben außerdem die Bemes-sungsgrenze für die Gewerbesteuer durch die gewerbe-steuerliche Hinzurechnung unglaublich erweitert.
Davon profitieren die Kommunen heute noch; denn siehaben gegenwärtig – das ist auch auf diese Unterneh-mensteuerreform zurückzuführen – Einnahmen aus derGewerbesteuer, die so hoch sind wie noch nie. Der Deut-sche Städtetag schätzt, dass es 2014 34 Milliarden Eurosind, und das ist einfach ein Fakt.
Damit ist das Aufkommen der Gewerbesteuer – einerSteuer, die für die Kommunen sehr wichtig ist – seitdemnicht nur gewachsen, sondern sie ist auch planungssiche-rer und konjunkturunabhängiger geworden. Auch das istein Aspekt, der den Kommunen zugutekommt, weil siedas unglaublich brauchen.Einer Abschaffung der Gewerbesteuerumlage, FrauKarawanskij, erteilen wir eine ganz klare Absage.
Es ist hier schon an sehr vielen Stellen zum Ausdruckgekommen, trotzdem will ich es noch einmal mit meinenWorten sagen: Das, was Sie da fordern, geht ganz klar indie völlig falsche Richtung; denn mit der Abschaffungwürden die finanzstärkeren Kommunen einseitig be-günstigt und die finanzschwächeren benachteiligt wer-den. Damit hätten genau die das Nachsehen, denen esheute schon am schlechtesten geht. Das kann nicht imInteresse dieses Hauses sein.
Zu „schlechter Letzt“ würden – das wurde hier auchschon gesagt – die Bund-Länder-Finanzbeziehungen inSchieflage geraten, weil nämlich Gelder fehlen, die indie Haushalte der Länder fließen. Damit wäre dasGleichgewicht gefährdet, das zwischen diesen Ebenendurch den Finanzausgleich hergestellt wird.
Aus ebendiesen Gründen – das sagte ich schon – leh-nen wir Ihre Anträge ab.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie michzum Schluss aber noch Folgendes sagen: Vor demHintergrund der wirklich dramatischen Finanzsituationunserer Kommunen hat diese Bundesregierung gehan-delt. Es ist hier schon genannt worden: Die milliarden-schweren Entlastungsmaßnahmen werden ihre Wirkungentfalten. Sie werden dazu beitragen, dass es auch denKommunen vor Ort besser geht.Dennoch darf nicht darüber hinweggetäuscht werden,dass die – in hohem Maße auch unverschuldet zustande-gekommene – Finanzsituation der Kommunen immernoch bedrohliche Züge trägt, und da müssen wir etwastun. Ich freue mich an dieser Stelle wirklich sehr, dasswir uns in diesem Punkt offensichtlich alle einig sindund hier gemeinsam ansetzen. Ich bin aber der Auffas-sung, dass wir nicht in der Form ansetzen können, dasswir hier Aufgüsse von Anträgen diskutieren, die wirschon mehrere Male im Plenum debattiert haben. Ichdenke vielmehr, dass wir bei der Entlastung der Kommu-nen ansetzen müssen.Vor dem Hintergrund dessen, dass wir hier über dieexorbitant gestiegenen Sozialausgaben reden, müssenwir auch darüber reden, wie wir an dieser Stelle weitereEntlastungsmaßnahmen ergreifen können. Ich sage dasauch mit Blick darauf, dass wir im Rahmen der desola-ten Infrastruktur der Kommunen vor Ort darüber redenmüssen, wie wir die Kommunen entlasten und ihnen un-ter die Arme greifen können.Außerdem – das sage ich zum Schluss – steht dieNeuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen be-vor. Ich bin davon überzeugt, dass wir die richtigenInstrumente haben, um die Sorgen und Nöte der Kom-munen einfließen zu lassen. Ich bitte zum Abschluss Siealle, sich an dieser Debatte konstruktiv zu beteiligen.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/3838 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag derFraktion Die Linke mit dem Titel „Gemeindewirtschaft-steuer einführen – Kommunalfinanzen stärken“. DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 18/2929, den Antrag der Fraktion Die Linkeauf Drucksache 18/1094 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die FraktionDie Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen angenommen.
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8086 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Vizepräsidentin Petra Pau
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte an der Militärmissionder Europäischen Union als Beitrag zur Aus-
schen Regierung sowie der Beschlüsse 2013/34/GASP und 2013/87/GASP des Rates derEuropäischen Union vom 17. Januar2013 und vom 18. Februar 2013 in Verbin-dung mit den Resolutionen 2071 , 2085
, 2100 (2013) des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen sowie 2164 vom25. Juni 2014Drucksache 18/3836Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 der GONach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich bitte Sie, die notwendigen Umgruppierungen inden Fraktionen möglichst zügig vorzunehmen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Staats-minister Michael Roth.
Schönen guten Tag, Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Erinnern Sie sich noch an die schrecklichen Er-eignisse vor gut zwei Jahren? Islamistische Gruppen ausdem Norden Malis waren damals auf dem Vormarschnach Süden, in Richtung der Hauptstadt Bamako. Es istnur dem entschlossenen Eingreifen der Franzosen zuverdanken, dass die Terroristen damals aufgehalten wur-den. Niemand will sich ausmalen, was in dieser Regionsonst geschehen wäre.Vieles hat sich in den vergangenen zwei Jahren ver-bessert. Mit den Parlamentswahlen im Herbst 2013 er-folgte die Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnungnach dem Militärputsch des Jahres 2012. Es finden der-zeit wieder politische Verhandlungen statt – zwischenden Rebellengruppen und der malischen Regierung, un-ter der Vermittlung Algeriens. Wir unterstützen dieseBemühungen ausdrücklich und blicken hoffnungsvollauf erste Fortschritte.Doch bis zu einer politischen Lösung ist es noch einlanger und steiniger Weg; denn die Sicherheitslage vorallem im Norden Malis bleibt unbeständig. Terroristi-sche Anschläge auf die malische Armee und die VN-Sta-bilisierungsmission MINUSMA erschüttern das Land.Noch immer verbreiten Terrorbanden Angst und Schre-cken unter den Menschen in Teilen des Nordens.Deutschland will Mali auf dem Weg zu nachhaltigerpolitischer Stabilisierung deshalb weiterhin unterstüt-zen. Wir wollen helfen, weil wir das Leid der Menschenin diesem Konflikt beenden wollen. Sie brauchen Hoff-nung und Perspektive für ein Leben in einem sicherenund stabilen Land. Derzeit sind 80 000 Menschen ausihren Heimatorten vertrieben worden. Mehr als140 000 Menschen sind in die Nachbarländer geflohen.Rund 2,8 Millionen Menschen sind von Hunger bedroht.Wir wollen helfen, weil die Sicherheitslage in der Sahel-region auch Rückwirkungen auf Europa hat. Wir wollenverhindern, dass sich aus der Krisenregion Drogen- undWaffenhandel, Menschenschmuggel und Terrorismus bisnach Europa ausbreiten können.Deutschlands Unterstützung beruht auf zwei Säulen:zum einen auf unserem außen- und sicherheitspoliti-schen Engagement und zum anderen auf einer Fülle vonProjekten im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit.Wir haben im Bereich der Entwicklungszusammenarbeitin den vergangenen beiden Jahren 120 Millionen Eurozur Verfügung gestellt. Wir haben uns in Projekten derDezentralisierung und der nachhaltigen Landwirtschaftengagiert. Wir wollen damit die akute Lebenssituationder Menschen verbessern. Wir wollen den MenschenMut machen und ihnen Wege aufzeigen, wie sie einebessere und sichere Zukunft in ihrem Land eigenverant-wortlich gestalten können. Damit Flüchtlinge in denNorden Malis zurückkehren können, unterstütztDeutschland zudem das malische Ministerium für Ver-söhnung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine Vo-raussetzung dafür, dass unsere Hilfe fruchtet. Das istSicherheit. Deshalb unterstützt die internationale Ge-meinschaft die malische Regierung mit der VN-Mis-sion MINUSMA bei der Wiederherstellung der staatli-chen Autorität im ganzen Land. Das Ziel derAusbildungsmission EUTM Mali und der zivilen EU-Mission EUCAP Sahel Mali ist es, langfristig funktio-nierende malische Sicherheitsstrukturen aufzubauen,damit Mali künftig wieder in der Lage ist, selbst fürStabilität und Sicherheit im Land zu sorgen. Es gehthier sozusagen um Hilfe zur Selbsthilfe.Ja, ich weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen: Das al-les ist ein mühsamer Prozess, der nicht sofort in jederHinsicht Erfolge zeigt. Die bewaffneten Auseinanderset-zungen im Norden des Landes nehmen zurzeit wiederzu. Die VN-Mission MINUSMA versucht, in einemschwierigen Umfeld zu schlichten, sieht sich aber vonbeiden Seiten dem Vorwurf einseitiger Parteinahme aus-gesetzt. Daran erkennen wir, wie schwierig die Lage im-mer noch ist.Unser Ausbildungsengagement mit EUTM Mali hataber klare Erfolge vorzuweisen, an die wir jetzt anknüp-fen wollen. Wir haben inzwischen fünf Gefechtsver-bände mit insgesamt mehr als 3 000 malischen Soldatenausgebildet. Ein sechster Gefechtsverband durchläuftderzeit die Ausbildung, und zwei weitere sollen nochfolgen. Darüber hinaus berät EUTM Mali das malische
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8087
Staatsminister Michael Roth
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Verteidigungsministerium bei der Reform der Streit-kräfte. Auch das ist ein nicht einfaches Unterfangen,liebe Kolleginnen und Kollegen.Wir wollen dieses wichtige Engagement weiter aus-bauen – mit der Übernahme der Führung von EUTMMali ab August 2015. Wir sind auf diese Aufgabe gutvorbereitet: Deutschland verfügt in Mali über jahrelangeErfahrung. Mali ist einer der Schwerpunkte unseres En-gagements auf dem afrikanischen Kontinent. Um unse-rer Verantwortung für Frieden und Sicherheit gerecht zuwerden, wollen wir die Personalobergrenze von 250 auf350 Soldatinnen und Soldaten anheben.Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser um-fassendes Engagement in Mali fördert Frieden, Sicher-heit und Stabilität für die Menschen in Mali, aber auchfür uns in Europa. Deshalb bitte ich Sie im Namen derBundesregierung um Ihre Unterstützung.
Das Wort hat der Kollege Niema Movassat für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir dis-
kutieren einen Bundeswehreinsatz, der laut Bundesre-
gierung „einen Schwerpunkt des deutschen sicherheits-
politischen Engagements in Afrika“ bildet. Es geht um
die Verlängerung des Mandats für die deutsche Beteili-
gung an EUTM Mali, der europäischen Trainingsmis-
s
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es geht auch darum, das Truppenkontingentvon 250 auf 350 Soldaten anwachsen zu lassen und abAugust 2015 die Missionsleitung zu übernehmen.Deutschland reitet sich damit weiter in den Konflikt inMali hinein, und das ist verantwortungslos.
Bei diesem Konflikt stehen auf der einen Seite dermalische Staat und die ausländischen Truppen und aufder anderen Seite verschiedene Rebellen- und Terror-organisationen. Deutschland hat sich mit seinemMali-Einsatz bedingungslos an die Seite der ehemali-gen Kolonialmacht Frankreich gestellt. Wir Linke ha-ben schon im Januar 2013, als Frankreich in Mali interve-niert hat, kritisiert, dass es bei diesem Einsatz – anders alsuns glauben gemacht werden soll – nicht um Menschen-rechte, nicht um die Zivilbevölkerung geht, sondern umgeostrategische Interessen und um den Zugriff auf die vie-len Rohstoffe Malis wie Gold und Uran. Nach allem, waswir bis heute in Mali erleben, war und ist diese Kritik rich-tig.
Es wird immer behauptet, Ziel des internationalen En-gagements sei es, die volle staatliche Souveränität Maliswiederherzustellen. Dass das nicht stimmt, zeigt das Bei-spiel der nordmalischen Stadt Kidal. Sie wurde 2012 vonMNLA-Rebellen, einer Tuareg-Gruppe, die für die Un-abhängigkeit Nordmalis kämpft, blutig eingenommen.Anfang 2013 eroberten französische Soldaten die inzwi-schen von islamistischen Rebellengruppen besetzteStadt. Die MNLA war vorher schon militärisch geschla-gen. Und wer regiert heute in der Region? Nicht etwader malische Staat, sondern wieder die MNLA. Frank-reich hat dafür gesorgt, dass sie wieder nach Kidal zu-rückkommen konnte. Und warum ist das so? Nun, dieFranzosen kämpfen gemeinsam mit der MNLA gegendie Islamisten, sind also Verbündete. Zum anderen sindsie Frankreichs Verhandlungspartner im Hinblick auf dieAusbeutung der Rohstoffe im Norden Malis. Nebenbeibetreiben sie schon lange ein Büro in Frankreich. Mankennt sich.Bringen wir es auf den Punkt: Deutschland bildet ma-lische Soldaten aus. Sie werden in den Kampf gegen dieMNLA geschickt. Die MNLA wiederum ist der Freunddes deutschen EU-Partners Frankreich. Das ist dochWahnsinn! Das kann nicht funktionieren.
Dass die malische Souveränität den ausländischenMilitärkräften egal ist, zeigen zwei weitere Aspekte. Dasist zum einen das durchgedrückte Militärabkommenzwischen Frankreich und Mali. Frankreich darf nun ei-genständige Militäroperationen auf malischem Hoheits-gebiet durchführen. Die Kosten für Schäden muss Malialleine tragen. Das erinnert an einen Kolonialvertrag.Zum anderen wollte die malische Regierung unvorteil-hafte Verträge mit internationalen Bergbaukonzernen,auch europäischen, prüfen und neu ausschreiben. DieEU machte ordentlich Druck, und schon war das vomTisch. So geht man nicht mit Ländern um, die man alsPartner auf Augenhöhe bezeichnet.
Die Ausbildungsmission ist ein Fehler; denn sie setztdarauf, dass mehr Soldaten, die mehr Krieg führen kön-nen, Frieden bringen. Aber das schaffen ja nicht einmaldie rund 12 000 Soldaten des UN-Einsatzes MINUSMAund die 3 000 französischen Soldaten. Vielmehr ist dieLage im Norden Malis noch unsicherer geworden; derStaatsminister hat es eben erwähnt. Die malischen Sol-daten, die für den Krieg ausgebildet werden, werden alsKanonenfutter benutzt. Als diese letztes Jahr versuchthaben, Kidal von der MNLA zurückzuerobern, sind 50von ihnen gestorben; das war ein absolutes Desaster.Wenn hier überhaupt eine Strategie verfolgt wird, dannwohl eher die, deutsche Soldaten für künftige Afrika-Einsätze fit zu machen.Übrigens bestätigen auch die jüngsten Entwicklungendie Kritik an den ausländischen Kräften in Mali. Voretwa einer Woche griffen regierungsnahe Milizen denRebellenstützpunkt in Tabankort an. Daraufhin wollteman gegen den Willen der Menschen vor Ort eine vonder UN-Mission MINUSMA kontrollierte Pufferzoneetablieren. Das ist ein weiterer Akt, der als Schritt zurDe-facto-Spaltung des Landes gesehen wird. Es kam zuProtesten gegen MINUSMA, bei denen mehrere Men-schen starben. Es besteht der Verdacht, dass MINUSMAfür die Toten verantwortlich ist. Das ist doch unfassbar!
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8088 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Niema Movassat
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Ist das der Frieden, den Sie militärisch nach Mali tragenwollen?
Es gab und gibt Möglichkeiten, diesen Konflikt aufdem Weg des Dialogs zu lösen; die malische Zivilgesell-schaft fordert das seit langem ein. Es liegen zahlreicheIndizien vor, dass dies bis heute insbesondere durchFrankreich verhindert wurde. Die Probleme Malis wer-den sich nur lösen lassen, wenn es Gerechtigkeit bei derVermögensverteilung gibt. Der Goldabbau boomt, undbald vielleicht auch der Uranabbau. Die Menschen ha-ben aber nichts davon; sie leben in bitterer Armut.EUTM Mali ist sicherlich kein Beitrag zum Frieden.Deshalb wird die Linke den Einsatz ablehnen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Ralf Brauksiepe.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kollege Roth hat in seinen Ausführungen völlig zuRecht ausdrücklich darauf hingewiesen, welche dramati-sche humanitäre Lage vor rund zwei Jahren in Mali be-standen hat, die Auslöser des internationalen Engage-ments, auch des militärischen Engagements dort war.Ich will daran erinnern, dass das Bundeskabinett imvergangenen Jahr neue Leitlinien für seine Afrika-Poli-tik beschlossen hat. Im Zentrum dieser Afrika-Politiksteht die Unterstützung unserer afrikanischen Partner.Wir wollen die AU, die Regionalorganisationen und dieStaaten Afrikas auf ihrem Weg zur Übernahme von mehrEigenverantwortung für Sicherheit und Frieden beglei-ten und unterstützen. Mehr afrikanische Eigenverant-wortung, also die Hilfe zur Selbsthilfe, die Ertüchtigungunserer afrikanischen Partner – das ist der Schwerpunktunseres sicherheitspolitischen Engagements. Darumgeht es. Da sind wir auf dem richtigen Weg.
Bei der eigenverantwortlichen Bewältigung vonHerausforderungen wurden in den vergangenen Jah-ren – bei allen Rückschlägen, die es gegeben hat –ohne Zweifel auch sichtbare Fortschritte erzielt.Gleichzeitig ist aufgrund der fortbestehenden Kon-flikte und Herausforderungen die internationale Ge-meinschaft weiterhin für die Unterstützung der afrika-nischen Staaten unerlässlich.Das Engagement im Rahmen der EU, um die Fähig-keiten unserer afrikanischen Partner zu stärken, ist, ohneFrage, eine langfristige Aufgabe. Dieser Verantwortungwird sich Deutschland auch weiterhin stellen. Mali istvor diesem Hintergrund ein Schwerpunkt unseres sicher-heitspolitischen Engagements in Afrika – und das in vol-ler Übereinstimmung mit unseren französischen Freun-den und unseren internationalen Partnern.Im Rahmen unserer im letzten Jahr formulierten Ab-sicht, unser Engagement in Afrika insgesamt zu steigern,werden wir unsere Anstrengungen im Zuge der militäri-schen Ausbildungsmission der Europäischen Union inMali über die Fortsetzung der Beteiligung bewaffneterdeutscher Streitkräfte hinaus in der Tat ausweiten.Deutschland wird im August dieses Jahres, zunächst biszum derzeitigen voraussichtlichen Ende des EU-Man-datszeitraums im Mai 2016, die Führung von EUTMMali übernehmen. Wir harmonisieren dann auch denZeitraum für das Mandat bis zum Mai 2016.Die geplante Gestellung des Missionskommandeursvon EUTM Mali unterstreicht die herausgehobene Rolle,die unser Land im Rahmen der internationalen Bemü-hungen zur Stabilisierung Malis gegenüber der mali-schen Bevölkerung spielt. Neben der Ausbildung undBeratung der malischen Streitkräfte – auch darauf hatKollege Roth zu Recht hingewiesen – ist die Leitung derzivilen GSVP-Mission EUCAP Sahel Mali durchDeutschland ein sichtbares Zeichen für unser umfassen-des Handeln in dieser Schwerpunktregion in Afrika. Un-ser Beitrag wird über EUTM Mali und EUCAP SahelMali hinaus durch unsere Beteiligung an der VN-geführ-ten Stabilisierungsmission in Mali, MINUSMA, ergänzt.Abgerundet wird unser Engagement – ich will es nurkurz erwähnen – durch die Ausstattungshilfe der Bun-desregierung und eine damit verbundene Beratergruppeder Bundeswehr. Ein entsprechendes Rahmenabkommenmit der malischen Regierung ist im Dezember vergange-nen Jahres unterzeichnet worden.Das breit aufgestellte Engagement Deutschlands – si-cherheitspolitisch, auch mit militärischen Maßnahmen,aber eben auch in entwicklungspolitischer Hinsicht –zeigt das mehrdimensionale Handeln unseres Landes,das in Absprache und in Abstimmung mit internationa-len Akteuren und unseren Partnern vor Ort erfolgt. Indiesem Zusammenhang ist es mir wichtig, darauf hinzu-weisen, dass wir seit März 2013 schrittweise die Ent-wicklungszusammenarbeit wieder aufgenommen habenund damit einen strukturellen, langfristigen Ansatz zurStabilisierung des Landes verfolgen. Damit Mali einefriedliche und stabile Zukunft hat, wird es weiterhin da-rauf ankommen, zum einen den Aussöhnungsprozesszwischen den Konfliktparteien zu fördern, zum anderenaber auch darauf, die staatliche Integrität derart zu festi-gen, dass alle malischen Bevölkerungsgruppen am poli-tischen Prozess partizipieren. Mit der Beratung und Un-terstützung des malischen Versöhnungsministeriums ausMitteln der Krisenprävention tragen wir auch hierzu bei.Wir wollen diesen inklusiven politischen Prozess. Erkann nur langfristig und nachhaltig zu einer Stabilisie-rung führen, wenn sich die Sicherheitslage, auch die mi-litärische Sicherheitslage, verbessert. Es nützt nichts, dieAugen vor dem Problem und den militärischen Heraus-forderungen zu verschließen. Wir brauchen ein sicheres,ein stabiles Umfeld, damit unsere langfristigen Maßnah-men für Stabilisierung und Wiederaufbau auch greifenkönnen. Deswegen ist es wichtig, dass diese verschiede-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8089
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
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nen Komponenten unserer Politik ineinandergreifen. ImRahmen der internationalen Politik die Augen vor dieserNotwendigkeit zu verschließen, wäre unverantwortlich.
Im Wesenskern bleibt das vorliegende Mandat beidem, was wir im Einklang mit unseren Partnern für denzweiten Mandatszeitraum bereits im letzten Jahr verein-bart und in das Mandat eingebracht haben. Das deutscheEinsatzkontingent führt im multinationalen Rahmen vonEUTM Mali Ausbildungsunterstützung und fachlicheBeratung durch. Zusätzlich sollen die Führungsstäbe dermalischen Streitkräfte befähigt werden, ihre Führungs-aufgaben in allen Bereichen, insbesondere im BereichPersonalwesen und Logistik, wahrzunehmen.Falls dieses Hohe Haus dem zustimmt, worum dieBundesregierung Sie bittet, wird die Mandatsobergrenzevon 250 auf 350 deutsche Soldatinnen und Soldaten an-gehoben, um den erwähnten, geänderten Rahmenbedin-gungen, mit der Übernahme der Führungsverantwor-tung, auch gerecht zu werden, um mögliche Vakanzen zufüllen und die notwendige Flexibilität zu erhalten.Die Menschen in Mali verknüpfen mit unserem fort-dauernden Engagement in ihrem Land hohe Erwartun-gen. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten in Mali ei-nen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Landes. Siesind in unserem Auftrag dort und in der gemeinsamenHoffnung, dass die Situation in dem Land besser wird,dass der Hunger bekämpft werden kann, dass es wirt-schaftlich und sozial für die Menschen in Mali aufwärts-geht. Dass dieser Weg fortgesetzt werden kann, ist unserZiel. Unsere Soldatinnen und Soldaten verdienen dieUnterstützung dieses Hohen Hauses, um die ich Sie allebitten möchte.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Agnieszka Brugger für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ange-sichts vieler Krisen auf der ganzen Welt ist Mali in denletzten Monaten aus den Schlagzeilen verschwunden.Doch wer glaubt, dass das bedeutet, dass die Situation inMali ruhig und stabil ist, der unterliegt einem Trug-schluss. Denn wer genau hinschaut, sieht, dass sich dieSicherheitslage in den vergangenen Monaten zugespitzthat und dass die Situation insgesamt höchst fragil bleibt.Gerade im Norden von Mali nimmt die Zahl der An-schläge durch terroristische und dschihadistische Grup-pen zu. Insbesondere die Friedensmission der VereintenNationen, MINUSMA, und ihre Angehörigen sind im-mer wieder Ziel dieser tödlichen Attacken.Zum ersten Mal seit 2012 verschlechtert sich damitdie Sicherheitslage. 2012 war es den französischen Trup-pen und der VN-Friedensmission gelungen, nicht nurden Vormarsch einer Allianz aus islamistischen Organi-sationen und den Tuareg-Rebellen zu stoppen und zu-rückzudrängen, sondern auch im ganzen Land ein Min-destmaß an Sicherheit und Stabilität zu garantieren. Diemalische Armee selbst war dazu nicht in der Lage. Des-halb hat die Europäische Union eine Ausbildungsmis-sion auf den Weg gebracht. Gemeinsam mit der zivilenGSVP-Mission ist sie damit auch ein Pilotprojekt füreine verstärkte europäische Zusammenarbeit im Sicher-heitsbereich und damit natürlich auch ein Zeichen überMali hinaus.Ziel dieser Missionen ist es, Sicherheitsstrukturen zuschaffen, in die alle malischen Gruppen eingebundenwerden, und dafür Sorge zu tragen, dass sie einer klarendemokratischen Kontrolle unterliegen und dass am EndeSicherheitskräfte da sind, die die Zivilbevölkerungschützen können und vor der die Bürgerinnen und Bür-ger Malis, egal welche Hautfarbe sie haben, keine Angsthaben müssen. Diese Mission ist grundsätzlich ein rich-tiger Baustein. Wir haben sie als Grüne in den vergange-nen Jahren unterstützt und ihr immer zugestimmt. Ichempfehle meiner Fraktion, diesem Mandat auch diesesMal zuzustimmen.
Die Bundesregierung kündigt nun an, dass man mitdem neuen Mandat mehr Verantwortung übernehmenwill, dass die Mandatsobergrenze auf 350 Soldatinnenund Soldaten angehoben werden soll und Deutschland inZukunft den Missionskommandeur stellen will. MehrVerantwortung von deutscher Seite kann man aber nichtnur darauf beschränken. Ich muss schon sagen, HerrStaatsminister Roth und Herr Staatssekretär Brauksiepe,ich hätte mir gewünscht, dass Sie in Ihren Reden aucheinen kritischen Blick auf das, was bisher passiert ist, ge-wagt hätten und dass Sie bereit wären, aus dem, was wirdort gesehen haben, Lehren für die Zukunft ziehen, umdas Engagement noch nachhaltiger zu gestalten.
In Deutschland ist kaum wahrgenommen worden,was sich im letzten Jahr in Kidal an dramatischen Ereig-nissen abgespielt hat. Diese sind in Mali aber noch nichtvergessen, sondern sie wirken nach. Dort hat die mali-sche Armee eine Offensive gegen die Rebellen durch-führen wollen. Sie ist aufgrund des eigenen dilettanti-schen Vorgehens einmal mehr geschlagen worden. Andieser Auseinandersetzung waren auch Gefechtsver-bände beteiligt, die durch EUTM Mali ausgebildet wor-den waren. Wenn die Europäische Union die malischenStreitkräfte unterstützt, dann hat man auch eine Mitver-antwortung dafür, was diese dann im Anschluss tun.
Deshalb muss man aus den Vorfällen in Kidal lernen.Die Bundesregierung muss sich hier stärker einbringenund engagieren. Teilweise sind ja auch schon Konse-quenzen gezogen worden. Um mehr Nachhaltigkeit zugewährleisten, werden bereits ausgebildete Verbände einWiederholungstraining durchlaufen. Ich glaube aber,dass man auch noch an anderen Schrauben nachbessernmuss.
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8090 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Agnieszka Brugger
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Fast zeitgleich zu den Vorfällen waren wir mit einerDelegation aus dem Bundestag – Herr StaatssekretärGrübel hatte uns mitgenommen – in Mali. Wir hattenzeitnah die Gelegenheit, auch mit der Führung vonEUTM über dieses Debakel in Kidal zu sprechen. Ichfand es sehr bezeichnend, was der damalige EUTM-Kommandeur gesagt hat. Er hat betont, dass die mali-sche Armee gar nicht in der Lage ist, den Norden lang-fristig zurückzuerobern. Es sei auch gar nicht das Zieldieser Mission, dafür zu sorgen, dass die malische Ar-mee die bewaffneten Gruppen im Norden besiegt. Nein,vielmehr müssten beide Seiten begreifen, dass sie sichnicht militärisch schlagen können, sondern dass sie sichpolitisch einigen und versöhnen müssen. Ich finde, mitdieser Analyse hat er völlig recht.Wenn die Bundesregierung hier mehr Verantwortungübernehmen will, dann muss sie diesen Friedensprozessstärker verfolgen und unterstützen. Ich möchte mich imNamen meiner Fraktion bei allen Menschen bedanken,egal ob sie Uniform tragen oder nicht, die sich für Frie-den und Sicherheit in Mali engagieren.
Aber um es ganz klar zu sagen: Sowohl die Ausbil-dungsmission als auch die Reform des Sicherheitssek-tors und die zahlreichen Projekte in der Entwicklungszu-sammenarbeit können für sich alleine kein Erfolg sein,wenn sie nicht in eine politische Gesamtstrategie einge-bettet sind. Die große Hoffnung hinsichtlich der Stabili-sierung der politischen Lage in Mali, die nach den Parla-ments- und Präsidentschaftswahlen noch bestand, istmittlerweile ziemlich getrübt. Die Lage ist eben nichtwirklich stabil, wie man an zahlreichen Korruptionsfäl-len, Ministerrücktritten und Kabinettsumbildungen se-hen kann.Meine Damen und Herren, mit besonders großerSorge erfüllt mich der stockende Friedensprozess inMali. Denn sowohl die malische Regierung als auch dieRebellengruppen scheinen diesen Prozess immer wiederzwar rhetorisch zu unterstützen; praktisch ist man aber inden letzten Jahren kaum bzw. viel zu wenig vorange-kommen. Hier müssen sich die Europäische Union undgerade Deutschland in Anbetracht des Rufes, den wir inMali genießen, stärker engagieren. Wir müssen alle Ak-teure in die Pflicht nehmen, diesen Friedensprozess ernstzu nehmen und endlich zu einer Einigung zu kommen.
Kollegin Brugger, achten Sie bitte auf die Zeit.
Denn nur wenn man die Konfliktursachen politisch
bearbeitet und wenn es gelingt, funktionierende dezen-
trale staatliche Strukturen zu etablieren, eine gerechte
Verteilung von Ressourcen sicherzustellen und vor allem
die innermalische Aussöhnung zu garantieren, kann
diese Ausbildungsmission ein Erfolg sein, und nur dann
kann eine Grundlage für mehr Frieden und die Chance
auf dauerhafte Stabilität in Mali gewährleistet werden.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dirk Vöpel das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es geht heute nicht nur um eine Verlängerungder deutschen Beteiligung an der europäischen Ausbil-dungs- und Trainingsmission in Mali, sondern die Bun-desregierung beabsichtigt auch, in den kommenden Mo-naten in Mali ein Ausrufezeichen im Hinblick auf ihrsicherheitspolitisches Engagement in Afrika zu setzen.Mit der beantragten Anhebung der Mandatsobergrenzeauf 350 Soldatinnen und Soldaten soll der personelle Ein-satz deutlich verstärkt werden. Ab August dieses Jahreswird Deutschland auch die Führungsverantwortung fürdiese militärische GSVP-Mission übernehmen. Berück-sichtigt man noch den deutschen Beitrag zur zivilenGSVP-Mission EUCAP Sahel Mali und die deutsche Be-teiligung an der MINUSMA-Operation der Vereinten Na-tionen, wird klar: Mali entwickelt sich zum aktuellenSchwerpunkt der deutschen Außen- und Sicherheitspolitikauf dem afrikanischen Kontinent.EUTM Mali ist Europas Beitrag zu einer grundlegen-den Reform des malischen Militärs, und dies mit einersehr breiten europäischen Beteiligung; 23 Mitgliedstaa-ten nehmen teil. Durch die intensive und wiederholteAusbildung von Offizieren und Mannschaften soll diemalische Armee zunächst in die Lage versetzt werden, inabsehbarer Zeit wieder weitgehend selbstständig die Si-cherheit und die staatliche Ordnung in Mali zu gewähr-leisten. Die Mission ist aber auch als echte Hilfe zurSelbsthilfe angelegt. Mit der intensiven Schulung undden jetzt verstärkten Anstrengungen bei der Ausbildungder Ausbilder verbindet sich die begründete Hoffnung,dass bis zum Ende des Mandatierungszeitraums im Mai2016 der weitere Aufbau der malischen Streitkräfte in ei-gener Regie erfolgen kann.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sicherheitslageim Süden Malis scheint im Moment halbwegs stabil zusein; meine Vorredner sind hierauf bereits eingegangen.Aber im Norden des Landes kann man von Stabilität lei-der nicht reden. Die jüngsten Vorkommnisse in Gao ha-ben dies deutlich gemacht.Nach den Krisenjahren 2012 und 2013 wurde 2014von vielen als das entscheidende Jahr im Hinblick aufdie Rückkehr zu Frieden und Stabilität betrachtet. DieBilanz des Jahres 2014 ist aus meiner Sicht allerdingseher ernüchternd. Zwar gelang es, Friedensverhandlun-gen in Algier aufzunehmen; ihr Abschluss steht abernoch aus. Korruptionsskandale haben das Vertrauen der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8091
Dirk Vöpel
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Bevölkerung und der internationalen Gemeinschaft indie malische Regierung erschüttert. Die Sicherheitslagein den nördlichen Landesteilen hat sich deutlich ver-schlechtert. Armut und die enorme soziale Kluft imLand wurden nicht verringert, und nach über einem Jahrim Amt sehen sich der Staatspräsident und fast die ge-samte Regierung einem massiven Vertrauensverlust ge-genüber.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gute und sinn-volle Ausbildungsmission EUTM Mali, die auch in dermalischen Bevölkerung eine sehr hohe Zustimmung ge-nießt, kann nur dann zu einer nachhaltigen StabilisierungMalis beitragen, wenn es auch in den anderen Bereichenzu deutlichen Fortschritten kommt. Der ganzheitlicheAnsatz muss mit aller Kraft weiterverfolgt und erfolg-reich umgesetzt werden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich würdige es ausdrücklich, dass Redezeit eingespart
wurde, auch wenn diese Zeit nicht auf die anderen Frak-
tionen übertragbar ist.
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Motschmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Tatsächlich sind die massiven Probleme von Mali durchdie vielen dramatischen Krisenherde in der Welt in denHintergrund gerückt. Das bedeutet aber keineswegs,dass alles in Ordnung wäre – leider.Es begann ja Ende 2012, als Mali vor einer menschli-chen, gesellschaftlichen und kulturellen Katastrophestand. Es drohten dauerhafte Unterdrückung und Unter-werfung durch Terroristen. Die Zerstörung des kulturel-len Erbes – ich will das hier auch einmal sagen, weil esnoch nicht erwähnt wurde – war ebenfalls ein Drama,etwa in Timbuktu. Es gab von allen Seiten schwersteMenschrechtsverletzungen, insbesondere im Norden desLandes. Hinrichtungen, Auspeitschungen, Verstümme-lungen, Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung.Nun sage ich Ihnen eines, Herr Kollege Movassat:Keine Hinrichtung, keine Verstümmelung, keine Verge-waltigung werden Sie verhindern durch eine Umvertei-lung von Vermögen! Das kann nur ein langfristiger Pro-zess schaffen. Es ist deshalb falsch, hier zu meinen,damit löste man die Probleme dieses Landes.
Anfang 2013 hat die malische Regierung um Hilfegebeten, und zwar noch bevor die Hauptstadt durch isla-mistische Terroristen überrannt und eingenommen wer-den konnte. Dieser Bitte wurde durch ein energischesEingreifen französischer Truppen entsprochen. Ich sagehier ausdrücklich Danke an die französischen Truppen,die diesem schrecklichen Treiben ein Ende gesetzt ha-ben.
Damals wie heute sind sich die Regierung und weiteTeile der Opposition, ausgenommen die Linke, einig,dass eine Unterstützung auch durch deutsche Soldatenrichtig und wichtig ist. Damals hat übrigens – auch dashabe ich mit Schmunzeln festgestellt – Ihre KolleginJutta Krellmann zunächst dafürgestimmt, hat allerdingsdiese Zustimmung später widerrufen. So ganz sichersind Sie sich offenbar auch nicht.Die Unterstützung ist wichtig, weil auch unsere Si-cherheitsinteressen berührt sind. Regelmäßig hören undlesen wir von neuen dramatischen Flüchtlingsströmen.Diese kommen über das Mittelmeer nach Italien oder indie spanische Exklave Melilla. Noch immer befindensich – darauf ist ja hingewiesen worden – 220 000 Men-schen auf der Flucht, davon 140 000 als Vertriebene inden umliegenden Staaten, und knapp 3 Millionen, näm-lich 2,8 Millionen Menschen – 20 Prozent der gesamtenEinwohnerzahl – sind von Hunger bedroht. Das kannuns hier nicht egal sein.
Wir müssen den Menschen eine Perspektive in der ei-genen Heimat mit dem Ziel bieten, befriedete Regionenzu schaffen. Wir müssen für Sicherheit und die Möglich-keit einer staatlichen Ordnung sorgen. Und wir müssendie Menschen unterstützen, dass sie ihre Heimat nachder Zerstörung wieder aufbauen können. Das gilt abernicht nur für das eigene Dach über dem Kopf, sondernauch für die kulturelle Zerstörung, die stattgefunden hat.2006 war Timbuktu Hauptstadt der islamischen Kultur.Ein großer Teil der kulturellen Geschichte des Landesund damit auch der Geschichte des Islams sind unterSchutt und Asche begraben, begraben in gesprengten,eingestürzten und schwer beschädigten Gebäuden.In den vergangen zwei Jahren wurde zwar nicht alles,aber einiges erreicht: Die Lage im Land hat sich verbes-sert, und zwar im Vergleich zum Beginn der Mission. Eswurde darauf hingewiesen, dass 2013 auch Parlaments-wahlen stattgefunden haben. Dennoch ist diese Arbeitnoch nicht abgeschlossen. Gerade jetzt dürfen wir nichtden Fehler machen und die immer noch sehr fragilenStrukturen – Frau Brugger hat darauf hingewiesen – sichselbst überlassen. Wir haben uns engagiert und müssendieses Engagement mit Verantwortung zu Ende bringen.Ab August stellen wir den Kommandeur der Mission.Wir sorgen maßgeblich für eine sanitätsdienstliche Ver-sorgung; auch das ist wichtig. Wir beteiligen uns mitSoldaten und Polizisten an der UN-Mission. Viele mali-sche Ministerien werden direkt von der Bundesregierungunterstützt. Es gibt darüber hinaus viele schützenswertekleinere Projekte in Mali, die gefördert werden müssen.Dies alles beruht übrigens auf einem guten Zusammen-
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Elisabeth Motschmann
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spiel von Entwicklungs-, Sicherheits- und Außenpolitik.Das gehört nämlich zusammen. Dennoch: Die Bedro-hungslage wird noch als erheblich bis hoch eingestuft.Daher ist es auch weiterhin nötig, dass wir mit unserenSoldaten vor Ort sind und Hilfe zur Selbsthilfe leisten.Zwei Ausbildungsrunden sind abgeschlossen, eine wei-tere sieht nun die vertiefende Ausbildung an den Hei-matstandorten vor.
Kollegin Motschmann, Sie können gern noch sechs
Minuten weiterreden, aber das trifft dann Ihren Kollegen
Brandl.
Das will ich nicht. Ich bin auch am Ende meiner
Rede. – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und
möchte am Ende noch den Soldatinnen und Soldaten
danken, die vor Ort diesen schweren Dienst tun.
Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Reinhard Brandl spricht zum Schluss
dieser Debatte für die CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Kollegin Motschmann. – Frau Prä-sidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bis 2012galt Mali als Musterbeispiel für Demokratie in Afrika.Deswegen ist es besonders bitter, anzusehen, wie dasLand heute um seine Existenz kämpft. Nach dem Sturmder Tuareg 2012, dem Militärputsch, ist zwar jetzt zu-mindest auf dem Papier die verfassungsgemäße Ordnungwiederhergestellt – es gab Wahlen; es gab Erfolge beider Korruptionsbekämpfung –, aber die Zukunft Maliswird sich daran entscheiden, ob es erstens gelingt, eineAussöhnung zwischen den verschiedenen Ethnien herzu-stellen – während wir tagen, laufen in Algier gerade Ge-spräche, in die wir große Hoffnungen setzen –, und ob eszweitens gelingt, ein Staatswesen aufzubauen, das Si-cherheit, Rechtsstaatlichkeit und territoriale Integritätfür Mali bietet, das die verschiedenen Ethnien am politi-schen Prozess beteiligt und das alle Bürgerinnen undBürger am Wohlstand und der sozialen Entwicklung teil-haben lässt. Das wird ein langer Weg.Ich kann Ihnen von einem persönlichen Erlebnis er-zählen: Ich war 2013 mit dem damaligen Verteidigungs-minister de Maizière in Mali. Wir hatten ein langes Ge-spräch mit Tuareg. Erstens waren sich diese schonuntereinander gar nicht einig. Zweitens haben sie in derStunde, während der wir zusammensaßen, eine Vielzahlan Problemen aufgezählt: von Problemen mit Wasser,mit Weideland über Konflikte zwischen sesshaften undnicht sesshaften Gruppen bis hin zu Rache, Hass undGewalt, die entstanden sind in einem Konflikt, in demMord und Gewalttaten nicht gesühnt und nicht rechts-staatlich verfolgt worden sind. Nach dem Gespräch warich ziemlich desillusioniert. Es wird sicher Jahre dauern,bis es gelingt, den Versöhnungsprozess mit auf den Wegzu bringen.Es hilft nichts: Wir haben gemeinsam ein Interessedaran, dass Mali wieder stabil wird. Kein Interesse ha-ben wir an einem instabilen Mali, aus dem Terrorismus,organisierte Kriminalität und Instabilität in die Regionund die Welt exportiert werden.Mali ist neben dem Horn von Afrika ein Schwerpunktder deutschen Hilfe in Afrika. Wir sind vielfach engagiert.Zum Beispiel sind wir in der Entwicklungszusammenar-beit stark engagiert. Dabei geht es um Trinkwasserversor-gung, Abwasserentsorgung, Landwirtschaft sowie Auf-bau von dezentralen Strukturen.Die Rebellen in Mali stellen im Moment die Forde-rung, dass der Norden mehr Autonomie erhält. Wenn dasfunktionieren soll, müssen die Kommunen im Nordenauch in die Lage versetzt werden, selbstständig für Da-seinsvorsorge zu sorgen und die staatlichen Aufgaben,die sie zu erledigen haben, wahrnehmen zu können. Da-bei unterstützen wir das Land.Wir sind engagiert bei MINUSMA, der Stabilisie-rungsmission der Vereinten Nationen, bei EUCAP SahelMali, dem Aufbau der Polizeikräfte. Wir stellen mitDr. Conze im Moment den Leiter. Wir sind weiterhinauch bei EUTM Mail engagiert, der Ausbildungsmissionder EU für die dortigen Streitkräfte. Um dieses Mandatgeht es heute. Wir werden das in den kommenden Wo-chen auch in den Ausschüssen beraten.Als wir 2013 mit dem Mandat angefangen haben– ich erinnere mich noch gut daran –, war im Prinzipniemand da, den wir ausbilden konnten. Die malischenStreitkräfte waren am Boden. Es war niemand da, der inirgendeiner Form zum Beispiel etwas sichern konnte,geschweige denn Grenzen.Wir haben mit der Ausbildung schon erste Erfolge er-zielt. Es ist mehrfach angesprochen worden: Mittler-weile befindet sich der sechste Gefechtsverband in derAusbildung. Jeder Gefechtsverband umfasst zwischen600 und 700 Soldaten. Das heißt, wir haben bereits etwa4 000 Soldaten ausgebildet. Zwei von den Verbänden ha-ben bereits eine Wiederholung durchlaufen. Das ist jetztnoch nicht viel, aber besser als nichts.Natürlich sind die, die wir ausbilden, noch keine voll-ausgebildeten Soldaten in unserem Sinne. Es handeltsich um eine Ausbildung, die acht bis zehn Wochen dau-ert. Die Soldaten lernen dort Grundlagen in Logistik undInfanterie, aber auch im Bereich der Menschenrechte.Wir müssen diese Ausbildung weiter durchführen undbrauchen einen langen Atem. Darauf ist unser Engage-ment in Afrika ausgelegt.Ich möchte an dieser Stelle allen Soldatinnen und Sol-daten, aber auch den zivilen Helfern danken, die für unsin Afrika – speziell in Mali – unter sehr schwierigen Be-dingungen Verantwortung übernehmen. Denken Sie nur
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Dr. Reinhard Brandl
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an Ebola, das jetzt Gott sei Dank an Mali vorbeigegan-gen ist. Sie übernehmen die Verantwortung, von der wirheute hier sprechen. Ich wünsche ihnen alles Gute undkann für meine Fraktion bereits ankündigen, dass wirdem Mandat zustimmen werden.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/3836 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe auf die Zusatzpunkte 2 und 3:ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten JürgenTrittin, Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDen Deutschen Bundestag in die Entschei-dung über die neue schnelle NATO-Eingreif-truppe einbeziehenDrucksache 18/3922ZP 3 Beratung des Antrags der AbgeordnetenWolfgang Gehrcke, Dr. Alexander S. Neu, Janvan Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEDemilitarisierung statt Eskalation – KeineNATO-Eingreiftruppe im Osten EuropasDrucksache 18/3913Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeDr. Frithjof Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Dass die NATO über ihre Einsatzbereitschaft berät undStrukturen verändern möchte, ist vor dem Hintergrundder Sicherheitsbedenken östlicher Partnerstaaten – ange-sichts der Situation in der Ukraine – und auch südlicherPartnerstaaten – angesichts der Lage im Mittelmeerraumund im Nahen Osten – ganz nachvollziehbar. Dass dieBundesregierung diese Diskussion im NATO-Rat bishervöllig am Deutschen Bundestag vorbei geführt hat undwir erst am Wochenende der Presse entnehmen mussten,dass heute in Brüssel wichtige konkrete Entscheidungendazu fallen – bzw. gerade gefallen sind –, ohne dass bisgestern auch nur ein Ausschuss genau informiert wurde,ist dagegen überhaupt nicht nachvollziehbar.
Hätte meine Fraktion den Bericht gestern im Verteidi-gungsausschuss nicht kurzfristig beantragt, dann wäregar nichts erfolgt. Dieser Umgang mit dem Parlament istpolitisch schlechter Stil.
Man fragt sich schon, warum es um diese neuen Einsatz-modalitäten der NATO Response Forces so viel Leise-treterei gibt.Wir wissen alle, dass in der NATO heftige Diskussio-nen über eine neue Stationierung größerer Truppenver-bände in östlichen Partnerstaaten und die Vereinbarkeitsolcher Schritte mit der NATO-Russland-Grundaktestattgefunden haben. Die NATO hat hier sehr verant-wortlich und klug gehandelt und auf so etwas mit derklaren Aussage verzichtet, dass die NATO-Russland-Grundakte nicht faktisch aufgekündigt werden soll.Wenn jetzt das Zusammenziehen und die temporäreVerlegung größerer Verbände im Rahmen einer schnel-len Eingreiftruppe theoretisch im ganzen NATO-Gebietermöglicht werden, dann wirft das die politische Frageauf, ob das damit durch die Hintertür zurückgenommenwird. Außerdem wirft die Tatsache, dass hier über Zeit-räume von weniger als 48 Stunden geredet wird, dieFrage nach der politischen Kontrolle der militärischenAbläufe auf. Wir wissen alle, dass Truppenverlegungenund große Manöver eine enorme politische Bedeutungbekommen und eine politische Dynamik der Eskalationauslösen können, also eine hochpolitische Angelegen-heit sind. Wir haben eine Parlamentsarmee. Deshalb ge-hört die Diskussion solcher Konzepte in den Bundestag,bevor darüber in Brüssel beschlossen wird.
In der Presse kursieren teilweise beunruhigende Spe-kulationen über diese neue Very High Readiness JointTask Force – kurz: VJTF. Das ist das Resultat der ganzenGeheimniskrämerei der Bundesregierung. Deswegenfrage ich die Bundesregierung und natürlich auch dieRegierungskoalition:Wann wird das Konzept für die VJTF innerhalb derNATO endgültig verabschiedet, und wie wollen Sie denDeutschen Bundestag im Vorfeld einbinden? Oder wares das heute etwa schon? Wie können Sie ausschließen,dass durch ein Zusammenziehen militärischer Verbändeim Osten des NATO-Gebietes zum Zweck der schnelle-ren Reaktionsfähigkeit – durch die Entscheidung desSACEUR, also des NATO-Oberbefehlshabers – eineTruppenstationierung stattfindet, die nicht im Einklangmit der NATO-Russland-Grundakte steht, und dass diepolitische Kontrolle den militärischen Abläufen hinter-herhinkt? Wann und unter welchen Bedingungen haltenSie den Einsatz der VJTF in anderen Regionen als imöstlichen NATO-Gebiet – zum Beispiel im Mittelmeer-raum – für möglich und geboten? Gibt es dazu schonÜberlegungen oder gar Planungen?
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8094 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Dr. Frithjof Schmidt
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Gerade in der letzten Woche haben wir hier im Bun-destag wieder über das Mandat für die Stationierung vonPatriot-Abwehrraketen innerhalb des NATO-Gebietes– in der östlichen Türkei – diskutiert und abgestimmt.Wir haben also NATO Response Forces de facto an diesüdöstliche Grenze innerhalb der NATO verlegt. DieBundesregierung und alle Fraktionen waren und sindsich bisher einig, dass dafür aufgrund der internationalenpolitischen Rahmenbedingungen außerhalb des NATO-Gebietes ein Mandat des Bundestages politisch erforder-lich ist. Die Parlamentsbeteiligung bei Bundeswehr-einsätzen ist eben nicht nur eine rein rechtliche Frage,sondern auch eine politische Frage der Gefahrenanalyse.Dieser Konsens unseres Parlamentes darf nicht durchneue Einsatzmodalitäten für neue schnelle Eingreiftrup-pen der NATO ausgehebelt werden.
Deswegen sind eine umfassende Information und eineintensive Diskussion im Deutschen Bundestag sowie ge-gebenenfalls auch eine Beschlussfassung vor den Ent-scheidungen der NATO hierzu zentral. Wir fordern Sieauf, das sicherzustellen.Danke für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Roderich Kiesewetter hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kanndurchaus verstehen, dass der Kollege Schmidt und auchdie Opposition ein Informationsinteresse haben. Aberich kann nicht verstehen, dass in diesem Hause dieschnelle Eingreiftruppe als etwas Neues bezeichnetwird.Genau vor einem Jahr, am 4. und 5. Februar 2014, hatdie Krim ihre Zugehörigkeit zur Ukraine verloren. Seit-her wird der Osten der Ukraine zunehmend destabili-siert. Nach OSZE-Angaben sind innerhalb der Ukraine1 Million Menschen auf der Flucht und insgesamt 5 Mil-lionen Menschen betroffen.Die NATO hat vor fünf Monaten, also rund ein halbesJahr nach der Destabilisierung der Krim und derUkraine, erstmals reagiert. Aber warum ist es nichtsNeues? Es sind drei Organisationen, die im Wesentli-chen auf europäischem Boden für Sicherheit sorgen: DieOSZE verfolgt die Umsetzung des Waffenstillstandsab-kommens – leider verfolgt sie sie mehr, als sie durchzu-setzen –; die Europäische Union orchestriert die Sanktio-nen, und die NATO hat – das sage ich an dieser Stelleganz bewusst – in allererster Linie ein Zeichen der Rück-versicherung in die eigenen Reihen zu geben. Es gibtnämlich NATO-Staaten, die verunsichert sind, wie diebaltischen Staaten, die nicht wissen, was die eigentlicheAbsicht hinter dem russischen Vorgehen ist.Insofern möchte ich eine Lanze für die Bundesregie-rung brechen, die gerade bei den Verhandlungen inWales auf den Tag genau vor fünf Monaten durchgesetzthat, dass es nicht zu einer permanenten Stationierungkommt und die NATO-Russland-Grundakte nicht außerKraft gesetzt wird.
Mit Blick auf die schnelle Eingreiftruppe der NATOmüssen wir uns auch in diesem Parlament ehrlich ma-chen, was die Ausstattung unseres Militärs angeht. DieNATO hat bereits 2002 die schnelle Eingreiftruppe be-schlossen. Im Jahr 2007, also nach fünf Jahren des Auf-baus, wurde sie für einsatzfähig erklärt. Im Jahr 2008kam es zur Finanzkrise.Das, was wir jetzt erleben, ist, dass die NATO einenSchritt zurückgeht: Von den 25 000 Soldaten, die für dieschnelle Eingreiftruppe, die NATO Response Force, vor-gesehen waren, sind jetzt gerade einmal 5 000 fürschnell multinational einsatzfähig erklärt worden. Dasist ein Fünftel des vorgesehenen Umfangs. Ich möchtedamit deutlich machen: Es ist viel weniger.Das Einzige, was man anders gemacht hat, ist, dassdiese Eingreiftruppe besonders gut ausgestattet wird.Aber es ist im deutschen Interesse, sie nicht permanentjenseits von Oder und Neiße zu stationieren.Für uns Deutsche kommt hinzu, dass wir zurzeit nachzweijähriger Vorbereitungszeit in Münster die gesamteNATO-Eingreiftruppe kommandieren, und zwar für einJahr. Es fällt auch in dieses Jahr unserer Verantwortung,dass wir mithelfen, das Hauptquartier für diese schnelleEingreiftruppe in Stettin zu befähigen. Worauf kommt esdabei an? Es kommt darauf an, innerhalb weniger Stun-den einsatzbereit zu sein. Das heißt, diejenigen Soldatin-nen und Soldaten, die dort eingesetzt sind, können nichtohne Weiteres in Urlaub gehen. Sie sind binnen 48 Stun-den in einer Alarmierungskette aufzurufen. Aber bis eszu Verlegungen kommt, vergehen zwei oder drei Tage.Das bedeutet: Es ist nichts anderes als das, was es bis-her schon gab. Auch der Parlamentsvorbehalt ist in kei-ner Weise beeinträchtigt.Lassen Sie mich noch ein paar sicherheitspolitischePunkte ansprechen. Es ist in unserem deutschen Inte-resse, dass wir den Zusammenhalt in der NATO bewah-ren und dass wir weder eine NATO der unterschiedli-chen Geschwindigkeiten bekommen noch eine NATO,die in Sorge oder gar in Angst und Schrecken ist, nocheine NATO, die sich zurücklehnt. Deshalb soll diese Ein-greiftruppe multinational sein; denn sie soll übergreifendSolidarität zeigen.Des Weiteren passt sie sich an aktuelle Verfahren undsicherheitspolitische Herausforderungen an. Es ist un-klar, Herr Kollege Schmidt, wo sie eingesetzt wird. Esist aber klar, dass sie für die baltischen Staaten wie auchfür Polen, Rumänien und Bulgarien ein Zeichen derRückversicherung ist.
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Roderich Kiesewetter
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Ein weiterer Punkt, den ich hier ansprechen möchte:Es ist wichtig, dass wir als Bundestag gegenüber unsererBevölkerung deutlich machen, was für eine Form vonSicherheitspolitik wir anstreben. Wir wollen doch aufRussland gerade nicht militärisch reagieren. Wir wei-chen den militärischen Herausforderungen in unseremLuftraum, aber auch anderen Grenzverletzungen aus.Wir antworten nicht militärisch, sondern asymmetrischmit Sanktionen. Wir versuchen, die OSZE wiederzubele-ben. Wir versuchen, die NATO als ein Instrument zu be-greifen, das in erster Linie ein Zeichen nach innen gibt.Es gibt natürlich Kräfte innerhalb der NATO, die et-was anderes wollen. Da ist deutsche Sicherheitspolitikgefordert. Vor einem Jahr auf der Münchner Sicherheits-konferenz, die am kommenden Wochenende erneut statt-findet, haben der Bundespräsident, die Verteidigungs-ministerin und der Außenminister unisono klargemacht,dass wir Verantwortung übernehmen müssen. Verant-wortung bedeutet nicht Aufrüstung, sondern bedeutet,mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, sorgsamumzugehen und auf diplomatischem Parkett, bei Ver-handlungen sowie in den Bereichen der Sanktionen undder militärischen Rückversicherung handlungsfähig zusein.
Wer das angreift wie die Kollegen der Linken, der ge-fährdet unsere Sicherheit.Ich bin dankbar, Herr Kollege Schmidt, für Ihrebehutsamen Fragen. Ich hoffe, dass ich zur Aufklärungbeigetragen habe. Meine Fraktion jedenfalls unterstützteine behutsame Vorgehensweise. Wir wollen weiterhin,dass unser Land in der Lage ist, Frieden zu schaffendurch einen orchestrierten Einsatz unterschiedlicher Or-ganisationen. Wir wollen uns nicht ausschließlich militä-risch orientieren.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege
Dr. Alexander Neu das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Herr Kiesewetter, das war eine tolle Mär-chenstunde, die Sie uns gerade bereitet haben.
– Als Märchen. – Fakt ist doch, dass wir uns derzeit ei-ner wachsenden militärischen Gefährdung in Europaausgesetzt sehen, wie es seit Mitte der 80er-Jahre nichtmehr der Fall war. Russland und der Westen gießenwechselseitig Öl ins Feuer, sowohl mit verschärfter poli-tischer Rhetorik als auch mit militärischen Maßnahmen,natürlich immer nur als Reaktion auf das Verhalten derjeweils anderen Seite, also nur als Verteidigung. Solautet die Rechtfertigung jeder Seite. Die jeweils andereSeite sieht das jedoch anders, nämlich als eine Provo-kation und als einen aggressiven Schritt. Damit verhältes sich, als ob zwei Züge auf einem Gleis aufeinanderzurasten und jede Seite beschleunigte mit dem Hinweis,dass auch die andere Seite beschleunigt. Das Thema derEntschleunigung spielt keine Rolle mehr. So entstehenKriege. Die Gefahr eines Flächenbrandes in Europawächst derzeit, auch durch das Mittun von NATO-Staa-ten.
Der Aufbau und die Verlegung der sogenanntenNATO-Speerspitze und deren Vorhut unter maßgeblicherdeutscher Verantwortung und Beteiligung tragen zu die-ser wachsenden Kriegsgefahr bei. Es mag für Polen unddie baltischen Staaten beruhigend sein, wenn die NATOihre Präsenz auf deren Territorien temporär – vielleichtauch nichttemporär – ausweitet. Aber mehr militärischePräsenz der NATO im Baltikum, in Polen oder auf demöstlichen Balkan stellt keinen realen Sicherheitszuge-winn dar, im Gegenteil.
Russland seinerseits versteht genau das als eine weitereProvokation, auf die es reagieren müsse; so lautet dieInterpretation in Russland. Das darf man nicht beiseite-schieben. Es geht um Wahrnehmung und Empathie vonWahrnehmung.
Die baltischen Staaten, Polen und andere osteuropäischeStaaten müssen lernen und akzeptieren, dass europäischeSicherheit und ihre Sicherheit ohne oder gegen Russlandnicht möglich sind.
Das Gleiche gilt natürlich für Russland. Mehr militäri-sche Präsenz russischer Truppen an der Westgrenzeschafft nicht mehr Sicherheit für Russland.Kommen wir auf den Konflikt als solchen zurück. DieUrsache des zugespitzten Konflikts zwischen demWesten und Russland ist nicht die Ukraine. Der Ukraine-Konflikt ist lediglich der Siedepunkt, an dem Russlandaus seiner Sicht die Reißleine zu ziehen gedenkt. Die Ur-sache ist die Expansionspolitik von NATO und EU imKontext eines geostrategischen und geoökonomischenMachtkampfs um Einflusszonen im postsowjetischenGebiet.
Es gibt eine andere Überlegung seit Anfang der 90er-Jahre, die eines gemeinsamen europäischen Hauses, dievöllig verworfen wurde, Kollege. Darüber können wirgerne noch einmal reden. Sie wissen, dass selbst die SPDAnfang der 90er-Jahre damit geliebäugelt hat. Aber dashat irgendwann keine Rolle mehr gespielt. Es ging nurnoch um NATO-Osterweiterung und EU-Osterweite-rung.
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Dr. Alexander S. Neu
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Statt eines gemeinsamen europäischen Hauses vonLissabon bis Wladiwostok, was von der UdSSR unterGorbatschow seinerzeit vorgeschlagen wurde, geht esum Einflusszonen wie im 19. und 20. Jahrhundert. Manhat offensichtlich auch im Westen nicht aus der Ge-schichte gelernt.
Allein der Georgien-Krieg 2008 hätte ein Warnsignalgegen die westliche Expansionspolitik nach Osten seinmüssen, war es aber nicht. Der Versuch Moskaus 2008,mit dem Vorschlag einer neuen europäischen Sicher-heitsarchitektur Stabilität in Europa, insbesondere inOsteuropa, zu erreichen, wurde in den westlichen Haupt-städten nicht einmal debattiert.
– Das war ein Resultat, Kollege. – Stattdessen gibt esDruck auf osteuropäische Staaten, die eventuell wenigerInteresse haben, der EU beizutreten, siehe die Regierungin Kiew 2013, als sie die Assoziierungsvereinbarungnoch nicht unterzeichnen wollte, wohlgemerkt: nochnicht unterzeichnen wollte. Als sie das letztendlich ver-weigerte, gab es eine massive Einmischung von EU-Staaten in die inneren Angelegenheiten eines sogenann-ten souveränen Staates, und es gab eine definitive Unter-stützung der Demos auf dem Maidan durch europäischeStaaten und europäische Politiker, sogar finanzielle undtechnische Unterstützung des Maidan bis hin zur Unter-stützung des Putsches gegen eine gewählte ukrainischeRegierung.All diese völkerrechtswidrigen Interventionen sindeine Selbstverständlichkeit und gehören zum Instrumen-tenkoffer westlicher Außen- und Sicherheitspolitik. VonSouveränität ist keine Rede mehr, nicht wenn es um an-dere Staaten geht. Souveränität darf lediglich der Westenfür sich beanspruchen.Auf russischer Seite wird ebenfalls ein Konfronta-tionskurs gefahren. Stichworte: Krim, Unterstützung derAufständischen im Osten der Ukraine. Auch das ist nichtzu tolerieren, auch das weisen wir als Linke zurück.
Nun vernehmen wir seit einigen Tagen zunehmendDiskussionen über eventuelle Waffenlieferungen derUSA an die Ukraine. Einmal ja, einmal nein, es gibt ver-schiedene Stimmen, auch in unserem Hause gibt es ver-schiedene Stimmen.
– Bei Russland ist es vielleicht einfacher. – Dennochwird auch in unserem Hause darüber diskutiert, womiteine neue Eskalationsstufe beschritten werden würde,würde man dem nachgeben. Wenn Frau Merkel in dennächsten Tagen nach Washington fliegt, erwarten dieMenschen in diesem Land, dass Frau Merkel Tachelesgegenüber Obama redet und klarmacht, dass Waffenlie-ferungen an die Ukraine tabu sind.
Deutschland muss Vorreiter sein, indem es sich gegenalle Eskalationsschritte wehrt und sich diesen entgegen-stellt. Dazu gehört auch der Verzicht auf die Teilnahmean der NATO-Speerspitze und dem sogenannten Voraus-trupp.
Es wird höchste Zeit, dass Europa erwachsen undsouverän wird. Das heißt, Europa muss die europäischeSicherheit unter Beteiligung Russlands selbst gestalten.Eine europäische Sicherheit darf kein geopolitischesSandkastenspielchen einer außereuropäischen Machtbleiben.
– Ich weiß, dass Sie das nicht verstehen; das kann ichmir vorstellen. – Die Alternative zur bisherigen Sackgas-senpolitik der NATO und zur EU-Osterweiterung führtnämlich weiter. Das System gegenseitiger kollektiver Si-cherheit unter Einschluss Russlands ist eine gangbareOption von Europa und für Europa.Die Linke wird den Antrag der Grünen nicht ableh-nen, aber nicht deshalb, weil wir alle Positionen teilen.Im Gegenteil: Der Antrag streift nur das eigentliche Pro-blem. Man hat bei den Grünen hin und wieder den Ein-druck, dass sie gar nicht so sehr gegen die Konfronta-tionspolitik sind, sondern dass sie in der Opposition nurmitentscheiden möchten. Das greift definitiv zu kurz.
Kollege Neu, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Ende. – Die Linke wird sich dem
Grünen-Antrag nicht widersetzen. Wir werden uns ent-
halten und bringen einen eigenen Antrag ein.
Ich danke Ihnen.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Niels
Annen das Wort.
Liebe Frau Präsidentin, vielen Dank. – Kolleginnenund Kollegen! Herr Kollege Neu, Sie haben hier davongesprochen, über Fakten reden zu wollen, und Sie haben
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Niels Annen
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die verschärfte Rhetorik beklagt. Ich will Ihnen einmalvorlesen, was Ihre Kollegin Christine Buchholz heute ineiner Pressemitteilung zu dieser Debatte geschriebenhat. Sie hat nämlich geschrieben, Deutschland solle überdas Bündnis, also die NATO, durch diese neue Taskforcestrategisch auf einen möglichen – ich zitiere sie – „Land-krieg gegen Russland orientiert“ werden. Lieber KollegeNeu, wenn irgendjemand hier in diesem Hause die Rhe-torik verschärft, dann ist es ja wohl Ihre Fraktion. Ichfinde das wirklich unangemessen.
Ich will auch aus Ihrem Antrag zitieren.
Da steht, es sei „ein gefährlicher Schritt, der entschei-dend zur Dynamik der Feindseligkeiten im Verhältniszwischen Russland und der NATO beiträgt“. Wenn manso etwas liest, wenn man Ihren Reden zuhört, dann hatman manchmal den Eindruck, Sie läsen hier das Manu-skript eines Nachrichtensprechers von Russia Today ab.Wir führen hier wirklich keine konstruktive Debatte.
Sie sind überhaupt nicht darauf eingegangen, dassheute die Nachricht verbreitet worden ist, dass sich dieBundeskanzlerin unseres Landes mit dem französischenPräsidenten auf einer Reise befindet, um in Kiew und inMoskau über eine Lösung dieser Krise zu reden. Dashätten Sie zumindest einmal erwähnen können.Ihr Problem in dieser Debatte ist doch, dass Sie – dasist nicht ganz ungefährlich – Ursache und Wirkung ver-wechseln. Dann kommt man zu falschen Schlussfolge-rungen, Herr Kollege Neu.
Deswegen ist es vielleicht hilfreich, sich an dem zuorientieren, was die NATO eigentlich beschlossen hat.Der Kollege Kiesewetter hat das hier sehr gut zusam-mengefasst. Der NATO-Gipfel in Wales musste auf eineneue sicherheitspolitische Situation reagieren. Die ersteFeststellung, die man hier doch machen muss, ist: Eswar ja nicht die NATO, die die Grundlage der Koopera-tion aufgekündigt hat, die diese Krise ausgelöst hat, son-dern es war Russland mit seinem Verhalten:
mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim, mitder fortgesetzten Unterstützung der militärischen Opera-tion durch die sogenannten Separatisten in der Ostukra-ine.Ich will noch zu etwas anderem, was in diesen Debat-ten eine Rolle gespielt hat, etwas sagen. Es war ja nichtso, dass sich alle in der NATO von Anfang an auf eineStrategie verständigt haben. Es gab auch innerhalb derNATO Kräfte, die auf eine aggressive, ja, zum Teil auchmilitärische Antwort gedrungen haben. Wir haben die-sem Druck eben nicht nachgegeben.Es war doch der Außenminister, Frank-WalterSteinmeier, der in Wales und in der Vorbereitung vonWales dafür gesorgt hat, dass wir eine ausgewogene, ba-lancierte Antwort erhalten haben: auf der einen Seite– auch das gehört dazu, Herr Kollege Neu – eine Verstär-kung der kollektiven Verteidigungsbemühungen überden sogenannten Readiness Action Plan und auf der an-deren Seite eine Bekräftigung des regelbasierten euro-päischen Systems der Sicherheitsarchitektur, die wir ge-meinsam aufgebaut haben, inklusive der NATO-Russland-Grundakte von 1997, die der eine oder andereBündnispartner durchaus zur Disposition stellen wollte.Gleichzeitig hat dieser Gipfel deutlich gemacht – auchdarüber haben Sie nicht geredet –: Es wird für diesenKonflikt keine militärische Lösung geben. Auch dashätte man einmal erwähnen können.Auch weil wir hier eine Debatte darüber führen, dassaus den Vereinigten Staaten Vorschläge kamen, Waffenzu liefern, will ich noch einmal sagen: Meine Fraktionhat hier eine ganz klare Haltung: Wir sind gegen Waffen-lieferungen an die ukrainische Regierung,
auch weil sie zu einer Verschärfung des Konfliktes bei-tragen würden und weil sie dazu beitragen würden, dasswir möglicherweise noch mehr als die geschätzt schon5 000 Toten in diesem Konflikt zu beklagen hätten. Au-ßerdem wäre die Umsetzung dieses Vorschlages eineGefahr für das wichtigste Gut, das wir in der letzten Zeiterreicht haben, nämlich die Übereinstimmung innerhalbder NATO, innerhalb der Europäischen Union und mitden Partnern in Washington.Wahr ist aber auch – ich finde, auch das muss maneinmal sagen –: Dass wir diese Debatte führen, hängtdoch auch damit zusammen, dass man sich an Verabre-dungen nicht gehalten hat, dass Mariupol beschossenworden ist, dass es weiterhin militärische Operationengibt.
Deswegen bin ich über diese Debatte zwar nicht erfreut;aber ich bin auch nicht überrascht. Ich finde es bedauer-lich, dass die morgen beginnende Münchner Sicherheits-konferenz durch Äußerungen ihres Vorsitzenden überWaffenlieferungen belastet worden ist.Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, zurück zurNATO. Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise muss-ten wir uns – ich habe es gesagt – auf eine neue Situationeinstellen. Es sind vernünftige Beschlüsse gefasst wor-
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Niels Annen
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den. Die sogenannten Reassurance-Maßnahmen sinddoch eine Antwort auf etwas, was man nicht einfachwegdiskutieren kann.Ich will auch eingestehen: Ich freue mich nicht überjede Äußerung, die ich im Baltikum höre; ich bin auchnicht mit jeder Äußerung einverstanden. Aber wenn wirein Bündnis sind, das etwas auf sich hält, dann müssenwir doch dafür sorgen, dass wir die Sorgen und Nöteernst nehmen. Deswegen gehört beides dazu. Die Reas-surance-Maßnahmen – Air Policing im Baltikum, Pa-trouillenfahrten in den baltischen Raum, AWACS-Flügeund jetzt die Very High Readiness Joint Task Force –sind sozusagen ein Teil des Pakets, zu dem auch die Ge-sprächsbereitschaft mit Russland, die Dialogformate, diewir entwickelt haben, und die beständigen diplomati-schen Initiativen unseres Außenministers und der Bun-deskanzlerin gehören. Das gehört zusammen.Ich will am Schluss noch sagen: Herr KollegeSchmidt, ich finde, Sie haben hier wichtige Fragen ge-stellt. Wir diskutieren gerade über diese grundsätzlichenFragen. Die nächste Sitzung der Parlamentsbeteiligungs-kommission ist am 25. Februar. Ich würde mich freuen,wenn Sie sich daran beteiligen würden. Dann könnenwir in Ruhe miteinander auch über diese Fragen spre-chen.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Wilfried Lorenz hat für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Wovon reden wir heute? Wirreden von der Glaubwürdigkeit der Nordatlantischen Al-lianz, und wir reden von Deeskalation durch Prävention.Beim NATO-Gipfel in Wales wurde die schnelle Ein-greiftruppe Very High Readiness Joint Task Force, diesogenannte Speerspitze, beschlossen. Damit setzen dieNATO-Mitgliedstaaten ein deutliches Zeichen der Ent-schlossenheit, Standhaftigkeit und Einigkeit. Dieses Zei-chen geht erstens an sechs Staaten an der Ostgrenze Eu-ropas – Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien undBulgarien – und zweitens an die russische Führung.Auch Deutschland setzt ein klares Zeichen: Wir ste-hen zu unserer Verantwortung in der NATO – nicht nurals militärisches Bündnis, sondern auch als politischeWertegemeinschaft –, und wir machen unsere sicher-heits- und verteidigungspolitischen Hausaufgaben.Meine Damen und Herren, Deeskalation durch Be-reitstellung eines militärischen Kontingents, das in dreibis fünf Tagen einsatzbereit ist, also viel schneller ein-satzbereit ist als die Immediate Response Force: „Wiegeht das?“, werden Sie sich fragen.
Ich bin sicher: Wer glaubwürdig verhandeln will, mussein ernst zu nehmendes Potenzial – politisches, wirt-schaftliches und, wo notwendig, auch militärisches –vorweisen können. Genau dieses Potenzial ist ein er-probtes, wirksames und glaubwürdiges Mittel zur Ver-hinderung von kriegerischen Auseinandersetzungen. Ge-rade Deutschland hat vor dem Fall des EisernenVorhangs von der Präsenz und Glaubwürdigkeit derNATO profitiert und danach von einem Europa in Frie-den und Freiheit.Meine Damen und Herren, zur Glaubwürdigkeit ge-hört zudem eine angemessene Reaktion auf Lageände-rungen. Die NATO hat schnell mit einem außerordent-lich schnellen Instrument reagiert. Die Beschlüsse vonWales sind – inhaltlich wie auch in der zeitlichen Tak-tung – die richtige Antwort auf die Vorstellung Russ-lands, ein Land könne nach Belieben vorgeben, wieGrenzen im 21. Jahrhundert verändert werden.Die aktuelle Lage deckt sich nicht eins zu eins mit derOst-West-Auseinandersetzung im Kalten Krieg. Seitherhaben sich friedliche Revolutionen vollzogen. Ehema-lige Blockstaaten sind unabhängig geworden. Anderer-seits ist Russland wieder eine Bedrohung – ich formu-liere das auch bewusst so –,
eine Bedrohung des internationalen Rechts und der Sou-veränität freier Staaten, um diese Frage klar und deutlichzu beantworten, Herr Neu.
Ansonsten möchte ich auf Ihre Märchenstunde nun wirk-lich nicht weiter eingehen.
Belege dafür – ich liefere sie – sind unter anderem diejüngsten Geländegewinne der moskautreuen Rebellenüber die in Minsk festgelegten Grenzen hinaus. Sie wis-sen, da hat Russland zugestimmt. Das sollten Sie eigent-lich auch einmal klar und deutlich sagen. Ohne militäri-sche Unterstützung Russlands wäre dies nicht möglichgewesen. Dies bestätigt, dass hier ein Machtanspruchmit Waffengewalt durchgesetzt wird, und das zeigt denfehlenden Willen zur Kooperation. Das muss man hier,glaube ich, einmal in aller Deutlichkeit formulieren.Meine Damen und Herren, nach der Annexion derKrim und den sich ständig steigernden militärischen Pro-vokationen an der Grenze der NATO durch die russischeFührung ist der Gedanke der Bündnisverteidigung imRahmen der NATO wieder stärker in den Vordergrundgerückt. Unsere eigene Landesverteidigung ist darin ein-gebunden. Als einzelner Staat, aber auch im Verbund mitunseren Bündnispartnern zeigen wir mit VJTF unsereVerteidigungsbereitschaft und -fähigkeit. Wir zeigen,dass wir für den Artikel-5-Fall in der NATO fest zusam-menstehen. Das bedeutet: Die NATO ist glaubwürdig inWort und Tat. Das, meine Damen und Herren, ist die
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Wilfried Lorenz
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beste Prävention, der beste Schutz vor territorialen Be-gehrlichkeiten im Osten Europas.
– Lieber Herr Gehrcke, ich will jetzt nicht auf Ihr Stu-dium in Moskau zurückkommen.
Aber ich würde jetzt sehr gern einmal auf die Ge-schichte zurückgreifen. Wir werden gleich dazu kom-men, was die NATO damals mit ihrer Standhaftigkeit er-reicht hat, nämlich den Fall der eisernen Grenzen,
die Möglichkeit des Zusammenschlusses von Europaund das, was Sie nun ganz bestimmt nicht hören wollen,nämlich Frieden und Freiheit in vielen ehemaligen Va-sallenstaaten der alten Sowjetunion.
Diese Menschen sind froh und dankbar, dass sie in Frie-den und Freiheit leben, und dafür wird die NATO auchweiter eintreten.
Meine Damen und Herren, gleichzeitig setzen wiraber auf Vernunft und Einsicht des Kremls, auf Einsichtin das Recht frei entscheidender und souveräner Staaten,auf die Einsicht schließlich, dass die internationale Staa-tengemeinschaft militärisch erzwungene Grenzverschie-bungen – wie in den letzten Jahrhunderten – nicht zudulden bereit ist.
Es ist oft formuliert worden, und ich will es hier auchtun: Das Recht des Stärkeren darf nicht wieder dieStärke des Rechts beugen.
– Herr Dr. Neu, wir können uns vielleicht einmal zu ei-nem vernünftigen Gespräch zusammensetzen, nur fehltmir im Moment dazu leider ein bisschen die Hoffnung.
Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin hatder russischen Führung ein klares Zeichen gesandt. Siehat die Bereitschaft zu Gesprächen über eine Zusam-menarbeit des europäischen mit dem euroasiatischenWirtschaftsraum signalisiert – das, was Herr Putin schoneinmal angesprochen hat –, also von Wladiwostok bisLissabon. Wie Sie vorhin gehört haben, sind die führen-den politischen Kräfte bereit und auf dem Wege, in derUkraine darüber zu sprechen, wie die sehr kritisch ge-wordene Lage dort zu entkrampfen ist.In der jüngeren Geschichte wurde schon einmal be-wiesen – jetzt komme ich zu Herrn Gehrcke –, dass dieStärke der Menschen mit dem Streben nach Frieden,Freiheit und Menschenrechten Systeme zum Einsturzbringen kann. Und schon einmal waren Standhaftigkeitund Entschlossenheit der NATO von Erfolg gekrönt: DerEiserne Vorhang fiel, und es entstand ein Europa in Frie-den und Freiheit.
Herr Kollege Lorenz, darf ich Sie an die vereinbarte
Redezeit erinnern?
Danke. – Aus der Geschichte darf, soll und muss man
lernen. Ich will jetzt nicht auf die VJTF eingehen, dazu
ist schon ausgiebig gesprochen worden. Ich möchte nur
zusammenfassen: Wir, Deutschland, tragen unseren Teil
der Verantwortung in der NATO und stärken das ge-
meinsame Vorhaben. Entscheidend ist – das ist auch
mein Schlusswort –: Die Allianz – und mit ihr Deutsch-
land – ist bereit und fähig, allen Verpflichtungen des
NATO-Bündnisses gerecht zu werden. Dazu senden wir
hier und heute aus diesem Haus ein klares Signal.
Ich bedanke mich.
Jetzt hat der Kollege Gehrcke für eine Kurzinterven-
tion das Wort.
Ich möchte dem Kollegen Lorenz eine Antwort nichtschuldig bleiben. Wenn Sie meine Erfahrungen zurGrundlage nehmen: Ich habe immer auf die Stärke derMenschen gebaut, auch dann, wenn sie eine andere Posi-tion hatten als ich. Ich war immer ein Freund von Wan-del durch Annäherung. Ich habe ihn mir anders vorge-stellt, aber man muss doch zugeben, dass ausschließlichEntspannungspolitik, die Bereitschaft, selbst abzurüsten– rhetorisch, politisch –, in Europa Veränderungen ge-bracht hat.Ich möchte nicht, dass wir in den Kalten Krieg zu-rückfallen. Das würde ich unerträglich finden. Dazu ge-hört auch, gegenüber Russland in einer anderen Sprachezu sprechen, sich in einem anderen Verständnis zu nä-hern und zu argumentieren. Wenn man die Interessenauch der anderen Seite nicht in Rechnung stellt, wirdman immer gegen die Wand laufen.
Ich finde, wir sollten hier endlich begreifen, auch rus-sische Interessen in Rechnung zu stellen. Man muss ih-nen nicht nachgeben, man muss sie nicht tolerieren, manmuss sie in Rechnung stellen. Die Erfahrung Russlands
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Wolfgang Gehrcke
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nach der Vereinigung war, dass das, was besprochen undvereinbart war – die NATO wird nicht gen Osten ausge-weitet –, schändlich gebrochen worden ist.
Das hat in Russland das Gefühl hervorgebracht: Wirwerden pausenlos reingelegt. Wir werden betrogen undreingelegt.
Mit einem solchen Gefühl kann man Fragen nicht be-antworten. Sie müssen die Frage beantworten: Müssenwir nicht Interesse an einem starken Russland, einemstarken Präsidenten haben, gerade wenn man Irrationali-täten vermeiden will? Ich möchte, dass mit einem star-ken Russland vernünftige Vereinbarungen für Europagetroffen werden. Man kann Truppen reduzieren, abrüs-ten, auch einseitig abrüsten. Warum überlegen Sie nicht,wie man aus dieser furchtbaren Krise in der Ukraine he-rauskommt? Es mag sein, dass ein eingefrorener Kom-promiss, eine eingefrorene Situation etwas Schlechtesist. Das ist aber allemal besser als eine heiße Lösung.Deswegen bin ich dafür, dass der Konflikt in der Ukraineeingefroren wird.
Das geht nur, wenn die NATO nicht weiter zuspitzt,wenn man auf Russland zugeht. Das müsste man errei-chen.Zu meinem Aufenthalt in Moskau, meinem Studium.Man ist nicht dümmer geworden. Das ist auch nichtschlecht. Man hat die Mentalität der Menschen in einemanderen Land ein bisschen kennengelernt. Diese Erfah-rung geht vielen hier im Hause ab. Ich fordere Sie auf:Versuchen Sie auch ein bisschen, Russland zu studieren.Sie müssen nicht in Russland studieren. Versuchen Sie,zu begreifen, was dort geschieht, damit wir eine klügereund bessere Politik machen. Das wollte ich Ihnen nochsagen.Herzlichen Dank.
Herr Kollege Lorenz, Sie haben die Möglichkeit, da-
rauf zu erwidern.
Herr Präsident! Herr Kollege Gehrcke, natürlich kann
man überall studieren. Man kann überall lernen. Sie ha-
ben gelernt. Das haben Sie mit Ihrer Rede gerade deut-
lich gemacht.
Ich möchte aber noch einmal drei Punkte ansprechen.
Ich habe eine klare, deutliche Sprache. Die ist auch
notwendig, wenn man miteinander verhandeln und spre-
chen will; denn nichts ist schlimmer als Missverständ-
nisse. Da werden Sie mir zumindest recht geben.
Ich möchte eine zweite Bemerkung machen: Im letz-
ten Jahrhundert hat uns Appeasement wirklich nicht ge-
holfen, um das klar und deutlich zu formulieren.
Eine abschließende Bemerkung. Sie haben ganz klar
vom eingefrorenen Konflikt, vom „frozen conflict“ in
der Ukraine gesprochen. Ich bin Ihnen dafür sehr dank-
bar, weil Sie damit aus Ihrer Sicht noch einmal das Ziel
von Putin klar definiert haben.
Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Hellmich,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in Münsterstudiert. Dort war es auch sehr schön.
Im Studium der Geschichte und Sozialwissenschaftenspielte die Militärgeschichte eine nicht unwesentlicheRolle. Im Kontext von militärhistorischen Studien überdie Ursache von Kriegen sollten wir uns sehr differen-ziert darüber unterhalten, wer an welcher Stelle im histo-rischen Kontext mit welchen Maßnahmen dazu beigetra-gen hat, dass Kriege ausgebrochen sind. Ich glaube, wirkommen hier zu einem sehr unterschiedlichen Ergebnis.Die NATO hat auf ihrem Gipfel in Wales angesichtsder historischen Lage, in der sich Europa und die Weltbefanden, genau die richtigen und angemessenen Be-schlüsse gefasst, um den Mitgliedstaaten der NATO dieSicherheit zu geben, die sie angesichts der Aggression,wie wir sie im Osten erleben, brauchen.
Der Readiness Action Plan mit dem Ziel der Steige-rung der Reaktionsschnelligkeit der NATO und alleMaßnahmen, die dadurch entstanden sind, sind eineAusfüllung dieser Beschlüsse von Wales. Sie dienen derFestigung der Sicherheit im Bündnis und des Bündnis-ses. Wir machen klar: Die Beistandsverpflichtung vonArtikel 5 des NATO-Vertrages gilt. Die Vereinbarungender NATO füllen dies mit den angemessenen Instrumen-ten aus. Deutschland leistet mit seinem Beitrag zumMultinationalen Korps Nordost in Stettin, auch aufWunsch der Polen, einen wichtigen Beitrag zum Readi-ness Action Plan. Das ist für die Nachbarn im Osten un-ser sichtbarer Beitrag zu ihrer Sicherheit.Dass Deutschland in diesem Jahr die Führung bei derRealisierung der NATO-Speerspitze übernimmt – der
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8101
Wolfgang Hellmich
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Stab des Deutsch-Niederländischen Korps in Münsterund das Panzergrenadierbataillon aus dem sächsischenMarienberg werden die Speerspitze füllen –, passt genauin den Rahmen, den wir an der Stelle setzen, um mehrSicherheit für die Mitglieder der NATO zu schaffen.Deutschland wird sich auch an dem Aufbau logistischerStützpunkte in sechs Staaten an der Ostflanke der NATObeteiligen, um das Rotationsprinzip realisieren zu kön-nen und unsere Fähigkeiten einzubringen – auch eine an-gemessene und richtige Reaktion.Diese Maßnahmen der NATO sind rein defensiv; siebedrohen keinen Staat.
Sie machen aber auch deutlich, dass es die NATO mitder Sicherheit ihrer Mitgliedstaaten ernst meint und sieauch Ernst macht. Das hat natürlich mit dem VerhaltenRusslands in der Ukraine zu tun. Wir fordern Russlandweiterhin auf, an den Verhandlungstisch zurückzukeh-ren. Denn wir wissen: Militärisch ist der Konflikt nichtzu lösen, durch keine Seite. Es ist deshalb nur zu wün-schen, dass Präsident Hollande und unsere Kanzlerin beiihrem gemeinsamen Besuch in Kiew und Moskau Erfolghaben.Russland führt in der Ukraine einen Krieg mit eige-nen Soldatinnen und Soldaten. Dass in Russland Mütter-vereine gebildet werden, die sich um die Familien dergefallenen russischen Soldaten kümmern, ist eigentlichein sichtbarer Beleg dafür, wie sehr Russland mit eige-nen Kräften in den Konflikt in der Ukraine verstrickt ist.Weil an anderer Stelle so getan wird, als ob da nur mitWattebäuschchen geschmissen würde, müssen wir unsüber die Situation klar werden, in der wir uns befinden:Russische Flugzeuge üben den Anflug auf das NATO-Territorium und auch auf Nicht-NATO-Staaten, um dieReaktionsfähigkeit zu testen. Transponder werden abge-stellt; die drohenden Folgen werden bewusst in Kauf ge-nommen sowie der zivile Luftverkehr in Gefahr ge-bracht. Mobile atomare Mittelstreckenraketen vom TypSS-26 werden ohne eine Ankündigung gegenüber denPartnern, wie sie eigentlich nötig wäre, über die Ostseenach Kaliningrad verbracht. Russland testet neueMarschflugkörper – gegen jede Vereinbarung, gegen in-ternationale Abrüstungsverträge wie den INF-Vertrag.
Zu guter Letzt wird Bosnien und Herzegowina der Gas-hahn zugedreht, damit keine Munitionslieferungen andie ukrainische Regierung mehr erfolgen. – Man musssich all das einmal vor Augen führen, damit man sieht,mit welchen Instrumenten an der Stelle gearbeitet wird.Ist das nur Drohung? Ja, was ist das, was an der Stellegemacht wird? Mit den Begriffen „druschba“ und „mir“,die auch ich bei vielen Besuchen in Russland und in derSowjetunion, in Aserbaidschan gelernt und auch gelebthabe, hat all das, was da passiert, nichts zu tun.
Es handelt sich um das Ausdehnen eines Machtberei-ches.Wir haben gestern im Verteidigungsausschuss überdie Situation gesprochen. Es wurde uns vom GI erklärt,welche Maßnahmen ergriffen werden. Ich verstehe dasAnliegen der Grünen, mit großer Vorsicht an diese Fra-gen heranzugehen. Das tun wir auch in jeder Diskussion.Aber, Herr Schmidt, vor jedem Treffen der NATO-Ver-teidigungsminister gibt es eine vorbereitende Diskussionim Verteidigungsausschuss, nicht nur auf Ihre Initiativehin.
Anders verhält es sich leider mit dem Antrag der Lin-ken. Ein Satz sei zitiert – leider –:Die baltischen Staaten fühlen sich bedroht, aberauch Russland fürchtet um seine Sicherheit undseine Rolle in der Welt …Das sagt alles. Sie legitimieren die Aggression Russ-lands gegen die Ukraine.
Herr Kollege Hellmich, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Brugger?
Aber selbstverständlich.
Vielen Dank, Herr Kollege Hellmich, dass Sie die
Zwischenfrage zulassen. Es ist durchaus üblich, dass wir
im Verteidigungsausschuss vor jedem NATO-Verteidi-
gungsministertreffen unterrichtet werden. In der Regel
gibt es immer einen schriftlichen Bericht. Aber Ihnen
dürfte ja auch nicht entgangen sein, dass er ausgerechnet
bei der letzten Sitzung gefehlt hat.
Es gab nur einen Bericht zum EU-Verteidigungsminis-
tertreffen. Wir haben dann am Montag, als wir die Pres-
seberichterstattung gesehen haben, beantragt, dass die
Bundesregierung Stellung dazu nimmt, bevor irgendwel-
che Festlegungen in der NATO getroffen werden. Dass
es uns skeptisch macht, dass ausgerechnet jetzt der Be-
richt ausnahmsweise nicht vorher vorliegt, ist ja wohl
durchaus berechtigt.
Frau Kollegin, da gebe ich Ihnen ausdrücklich recht.Deshalb sage ich ja: Ich verstehe, dass Sie da mit Vor-sicht herangehen. Die differenzierte Weise der Behandlungder Tagesordnungspunkte – einerseits mit Vorlage, anderer-seits ohne Vorlage, nur mit mündlichem Bericht – habenwir selbstverständlich auch bemerkt. Dennoch hätte es aber
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die Diskussion und die Informationen in der Sitzung ges-tern auf jeden Fall gegeben; so ist das nicht.
Von daher: Ihre Vorsicht verstehe ich, aber es hätte dieInformationen auch so gegeben.Ich fahre mit meiner Rede fort. Sie nehmen den Bruchdes KSZE-Vertrages mit dem lapidaren Hinweis auf dieRolle Russlands in der Welt in Kauf. Das verdeutlichtnur den tiefen Graben, den es – ich glaube, das kann ichso sagen – zwischen Ihnen und dem Rest des Parlamen-tes gibt. Die Position einer Äquidistanz – wenn man esso nennen will – teilen wir nicht.Wir werden beide Anträge ablehnen. Bei allem Ver-ständnis: Der Antrag der Grünen hat sich nach den Infor-mationen, die wir in der gestrigen Sitzung erhalten ha-ben, erledigt. Zum Antrag der Linken habe ich geradedas Nötige gesagt. Man kann ihm auf gar keinen Fall zu-stimmen. Wir lehnen ihn deutlich ab.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Neu, Sie haben sich gemeldet, nachdem
die Redezeit schon abgelaufen ist. Ich vermute, dass Sie
eine Kurzintervention machen wollen? – Dann erteile
ich Ihnen dazu das Wort.
Herr Kollege Hellmich, die Passage in unserem An-
trag zur Rolle Russlands in der Welt hätten wir uns gar
nicht getraut zu schreiben, wenn es nicht eine Erklärung
von 60 Prominenten aus Wirtschaft, Politik und Wissen-
schaft gegeben hätte, die genau das eingefordert haben.
Wir haben also ideell das übernommen, was in dieser Er-
klärung gefordert wurde. Diese Menschen, die aus Ihren
Reihen kommen, nicht aus unseren – darunter sind defi-
nitiv keine Linken –, haben eine ganz vernünftige Posi-
tion dargelegt. Im Übrigen haben wir mit unserer Posi-
tion zwar nicht die Mehrheit im Parlament, aber die
Mehrheit in der Bevölkerung.
Ich danke Ihnen.
Herr Kollege Hellmich, Sie haben die Gelegenheit,
darauf zu erwidern. Wollen Sie diese wahrnehmen?
Herr Präsident, ich nehme die Gelegenheit gerne
wahr; denn Gespräche mit Unternehmen über die Frage
„Wie gehen wir mit der Situation um?“ haben nicht nur
die von Ihnen Genannten geführt. In den einzelnen
Wahlkreisen gibt es viele, die in dieser Situation sehen,
welche Probleme das für die einzelnen Unternehmen mit
sich bringt. Ich kann diese Bedenken verstehen. Ich kann
aber jedem einzelnen Unternehmen nur sagen – ich habe
das jedes Mal getan –, dass die Interessen eines Unter-
nehmens nicht dazu herhalten können, dass der KSZE-
Vertrag, dass die Souveränitätsrechte anderer Staaten
und Länder mit brutaler Gewalt gebrochen werden. Das
müssen auch Unternehmen in diesem unserem Lande
schlichtweg akzeptieren; ganz egal, wie viele einen Auf-
ruf unterschreiben. Bei dieser Position bleibe ich auch.
Ich würde die Unternehmen bitten, doch ihren Beitrag
dazu zu leisten – im Dialog und in Gesprächen mit den
beteiligten Staaten, auch im Dialog mit Russland –, dass
das Töten und Morden im Osten der Ukraine beendet
wird. Das wäre ein guter Beitrag, um die Situation zu
verbessern.
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist der Kollege Florian Hahn, CDU/CSU.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wir wollen eben keine Eskalation – etwa durch dieAufkündigung der NATO-Russland-Akte –, sondern wirwollen eine schnelle Umsetzung der Maßnahmen, die imNovember in Wales zum Schutz unseres Bündnisses be-schlossen worden sind. Wichtigstes Element – das stehtheute im Fokus – ist die schnelle Eingreiftruppe. DasKonzept wird heute von den NATO-Verteidigungsminis-tern beraten. Uns liegen heute zwei Anträge vor, die vonden entsprechenden Fraktionen bereits vorgestellt wur-den.Ich kann nur sagen: Den Antrag der Linken finde ichvöllig absurd und fernab jeglicher Realität.
Sie setzen die Lage der großen Militärmacht Russlandmit der Lage der kleinen baltischen Staaten gleich, diesich nicht selbst schützen können. Das Baltikum be-schreiben Sie als Boden der ehemaligen Sowjetunion,
den deutsche Soldaten nicht betreten sollten. Was wollenSie damit eigentlich zum Ausdruck bringen?
Dass der Kreml hier noch irgendwelche Gebietsansprü-che hat? Oder sind wir uns zumindest an dieser Stelle ei-nig, dass Litauen, Lettland und Estland drei souveräneund selbstbestimmte Demokratien sind?
In Ihrer Beschreibung der Situation in der Ostukrainegibt es nur die Hardliner in Kiew, Donezk und Luhansk,die eine militärische Lösung anstreben und eskalierendwirken.
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Florian Hahn
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Über die zweifelhafte – das zumindest könnte man sagen –Rolle der Politik Putins und des Kremls verlieren Sie keinWort. Sie wollen oder können offensichtlich nicht differen-zieren.
Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Überdenken Sie IhreRolle als Sprachrohr für Putins rückwärtsgewandtesGroßmachtstreben.
Wir wissen doch alle, dass die massive Offensive derSeparatisten in der Ukraine nur mithilfe Moskaus über-haupt möglich ist. Das führt zu einer Eskalation, undnicht die Ertüchtigung einer zahlenmäßig kleinen Ein-greiftruppe der NATO.Der Antrag der Grünen bietet immerhin eine sachli-che Lagebeschreibung. Ich finde es positiv, dass Sie dasKonzept an sich offenbar nicht infrage stellen und überBündnistreue sprechen. Negativ finde ich die Forderung,keine abschließende Entscheidung zu treffen. Das verzö-gert unnötig. Ihr Argument, dass wir Gefahr laufen, dieParlamentsrechte zu umgehen, kann ich nicht nachvoll-ziehen; dabei würden wir als CDU/CSU-Fraktion imÜbrigen auch nicht mitmachen. Wir können doch nichtdie Manövertätigkeit der NATO von 28 Parlamenten be-raten und entscheiden lassen. Das würde uns doch völligunglaubwürdig machen.Diese Debatte über die Aufstellung einer schnellenSpeerspitze, bei der wir eine führende Rolle übernehmensollen, zeigt: Das, was auf der Sicherheitskonferenz2014 in der Theorie vorgedacht wurde, wird jetzt Reali-tät.
Schneller als gedacht muss Deutschland mehr Verant-wortung übernehmen, mehr Engagement zeigen, nichtnur bei den Auslandseinsätzen, sondern auch bei derBündnisverteidigung. Die Teilnahme an der Speerspitzebedeutet mehr Übungen, erhöhte Alarmbereitschaft undDurchhaltefähigkeit. Mehr Übungen verbrauchen mehrMaterial. Alles kostet mehr Geld. Die Praxis zeigt: Esfehlt oft an den notwendigen Mitteln für solche Manö-ver.Der NATO-Generalsekretär Stoltenberg hat bei derCSU-Klausurtagung in Wildbad Kreuth Anfang diesesJahres gesagt: Mehr Führung bedeutet auch mehr Füh-rung im Bereich Haushalt. Mehr Aufgaben können nichtmit weniger Mitteln und weniger Geld geleistet werden.Es sind mehr Investitionen in die äußere Sicherheit nö-tig. – Ich bin da ganz seiner Meinung. Deutschland musssich der Realität stellen. Nach zahlreichen Minderausga-ben in den letzten Jahren braucht die Bundeswehr mehrMittel für gestiegene Anforderungen.
Ich fordere eine Investitionswende.
Um unsere Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit zu si-chern, brauchen wir dringend zusätzliche Mittel vonrund 10 Milliarden Euro bis zum Jahr 2021.
Die für die nächsten Jahre bereits vorgesehenen minima-len Haushaltssteigerungen reichen nicht aus. Die vorher-sehbaren Entwicklungen bei den Kosten für Sold, Mie-ten, Pensionen etc. fressen den minimalen Aufwuchsbereits auf. Wir brauchen aber einen realen Aufwuchs,wir brauchen tatsächlich mehr Geld im System. Einegute Versorgung der Pensionäre ist ein Gebot der Ge-rechtigkeit. Eine angemessene Vergütung der Aktiven,ordentliche Kasernen und geregelte Arbeitszeiten imGrundbetrieb sind richtig und wichtig.
Herr Kollege Hahn, gestatten Sie noch eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Neu?
Er kann danach gerne intervenieren. Ich werde meine
Rede jetzt hier zu Ende bringen.
Diese Mittel stellen wir auch bereit. Das hilft uns aber
nicht direkt bei der Verteidigung unseres Landes und un-
serer Partner. Wir dürfen nicht riskieren, dass das militä-
rische Kerngeschäft weiter leidet. Es muss genug Geld
für Investitionen in die Infrastruktur, für Ausbildung, für
Materialerhalt und für Ausrüstung vorhanden sein. Nötig
ist zusätzliches Geld, das den Wehretat real erhöht, da-
mit unser Beitrag, zum Beispiel bei der neuen schnellen
NATO-Eingreiftruppe, auch wirklich geleistet werden
kann.
Herzlichen Dank.
Herr Kollege Neu, jetzt haben Sie nochmals die Mög-
lichkeit zu einer Kurzintervention. Ich erteile Ihnen das
Wort.
Herr Kollege Hahn, Sie haben vollmundig die Auf-rüstung gefordert. Sie haben auch von mehr Geld ge-sprochen. Wo soll das angesichts der schwarzen Nulldenn herkommen? Wo soll eingespart werden? Bei derBildung, der Gesundheit oder beim Bereich Soziales?Sagen Sie einmal: Wo soll gespart werden?
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Herr Kollege Hahn, Sie haben die Möglichkeit, da-
rauf einzugehen.
Herr Kollege Neu, dank der Koalition von SPD, CDU
und CSU
läuft es wirtschaftlich in unserem Land sehr, sehr gut.
Wir sind sehr erfolgreich. Wir können, wie in den letzten
Jahren auch, steigende Einnahmen verzeichnen. Diese
überplanmäßigen Mittel beispielsweise können wir dafür
zur Verfügung stellen.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antragder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache18/3922 mit dem Titel „Den Deutschen Bundestag in dieEntscheidung über die neue schnelle NATO-Eingreif-truppe einbeziehen“. Wer stimmt für diesen Antrag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist derAntrag mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegendie Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltungder Fraktion Die Linke abgelehnt.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antragder Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/3913 mit demTitel „Demilitarisierung statt Eskalation – Keine NATO-Eingreiftruppe im Osten Europas“. Wer stimmt für die-sen Antrag? – Wer stimmt gegen diesen Antrag? – Werenthält sich? – Damit ist dieser Antrag mit den Stimmenvon CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungBaukulturbericht 2014/15 der BundesstiftungBaukultur und Stellungnahme der Bundesre-gierungDrucksache 18/3020Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau undReaktorsicherheit
Ausschuss für TourismusAusschuss für Kultur und MedienNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich sehekeinerlei Einwände dagegen. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-ministerin Barbara Hendricks.Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um-welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit:Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Wir hatten in der letzten Zeit – das freut mich –durchaus schon mehrere Male Gelegenheit, über dasBauen in Deutschland zu sprechen. Anlass waren zumBeispiel die Fragen, wie wir mehr bezahlbaren Woh-nungsneubau in den Ballungsräumen schaffen oder wiewir mehr Unterkünfte für die zunehmende Zahl vonFlüchtlingen aus Kriegs- und Krisengebieten in unserenStädten bereitstellen können.Auch die Energiewende hat das Thema Bauen beein-flusst. Energieeffiziente Neubauten, zum Beispiel Plus-energiehäuser, und energetisch hochwertig sanierte Be-standsbauten tragen, wie wir wissen, mit dazu bei, dassDeutschland seine Klimaschutzziele wird erreichen kön-nen. Deshalb spielt der Baubereich im Aktionspro-gramm Klimaschutz 2020 neben der Energieerzeugungeine ganz wesentliche Rolle.Das alles zeigt: Bauen ist wieder „in“. Es wird da-rüber gesprochen. Daher wird Bauen in den öffentlichenDebatten völlig zu Recht stärker beachtet. Das freutmich sehr. Das ist, wie ich finde, eine sehr gute und einerichtige Entwicklung. Eines wird dabei immer wiederklar: Neben sozialen, ökologischen und ökonomischenBezügen dürfen wir die Baukultur keineswegs vernach-lässigen. Sie hat immer auch eine emotionale und ästhe-tische Dimension.
Unsere gebaute Umwelt hat einen großen Einfluss aufuns. Gebäude stiften Identität. Die Qualität von Gebäu-den beeinflusst natürlich unsere gesamte Lebensqualität.Die Süddeutsche Zeitung hat dazu geschrieben:Nur Häuser und Städte, die geliebt und geachtetwerden, sind auf Dauer auch … nachhaltig.Wenn wir wollen, dass Häuser und Städte geliebt und ge-achtet werden, dann brauchen wir verlässliche Rahmen-bedingungen für unsere Baukultur.Der Baukulturbericht 2014/15 zeigt unmissverständ-lich auf, dass wir den Herausforderungen planerisch undbaulich begegnen müssen, aber auch begegnen können.Wenn wir zum Beispiel unsere Ziele beim Wohnungs-neubau verfolgen, dann ist es eben gerade nicht egal,welche bauliche Qualität dabei erreicht wird. Wir brau-chen funktional und sozial gemischte Stadtquartiere, diesich durch eine ressourcenschonende Siedlungsweiseauszeichnen. Wenn wir solche Quartiere gezielt stärken,trägt das zur Reduzierung der Zersiedelung und des Flä-chenverbrauchs bei; natürlich ist es auch ressourcen-schonend.
Die öffentliche Hand muss natürlich auch hier Vorbildsein. Sie kann mit ihren Projekten zur Unverwechselbar-keit der Städte beitragen und damit lokal und auch natio-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8105
Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks
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nal Identität stiften. Baukultur ist eine Investition in dieLebensräume der Zukunft. Deshalb ist es richtig, dassdie Bundesstiftung versucht, soziale Entwicklungen, denregional unterschiedlichen wirtschaftlichen Struktur-wandel, die Anforderungen von Klimawandel und Ener-giewende und die Möglichkeiten neuer Technologien indie Baukultur zu integrieren.
Das Gesetz zur Errichtung einer „BundesstiftungBaukultur“ wurde 2006 fraktionsübergreifend vomDeutschen Bundestag verabschiedet. Seitdem verfügenwir über eine unabhängige Institution, die sich kritischund konstruktiv für Baukultur einsetzt und den Dialogüber Baukultur auf Bundesebene organisiert; insofernwar diese Entscheidung im Jahre 2006 klug und weit-sichtig. Darüber hinaus trägt die Stiftung dazu bei, dieQualitätsnachfrage im Planungs- und Bauwesen nationalund international zu stärken. Mit Blick auf die Bedeu-tung des Bausektors für die wirtschaftliche Entwicklungkann die Arbeit der Bundesstiftung nicht hoch genugeingeschätzt werden. Für uns als Bundesregierung hatdie Arbeit der Stiftung daher einen hohen fachpoliti-schen Stellenwert.
Wenn wir, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, einenbreiten gesellschaftlichen Dialog über baukulturelle Fra-gen fördern wollen, dann haben wir dafür mit der Bun-desstiftung Baukultur einen wichtigen Partner. DiesenPartner wollen wir weiter stärken.Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Be-richt zur Lage der Baukultur in Deutschland ist ein wich-tiges Instrument. Er versteht sich als Grundlage für denDialog über „gute Wege für ein Mehr an Baukultur inDeutschland“. Der Bericht gibt am Schluss konkreteHandlungsempfehlungen in Richtung der verschiedenenZielgruppen. So empfiehlt er privaten und öffentlichenBauherren, Projekte eben nicht ausschließlich unterkurzfristigen renditeorientierten Aspekten zu ent-wickeln. Baukultur wirkt sich langfristig positiv auf dieLebenszykluskosten und den Marktwert von Immobilienaus und sorgt für eine größere Zufriedenheit der Nutze-rinnen und Nutzer. Dieser langfristige Mehrwert durchBaukultur sollte durchaus stärkere Beachtung finden.
Bund, Länder und Kommunen werden von der Stiftungermutigt, ihre Vorbildrolle bei eigenen Bauvorhabenwahrzunehmen und verstärkt Gestaltungswettbewerbedurchzuführen. Das ist selbstverständlich nicht zuletztein Appell an den Bund als Bauherrn.
Insbesondere im Bereich der Verkehrsbauten und Infra-strukturmaßnahmen, die einen großen Teil unserer Um-welt prägen, sieht die Stiftung einen großen gestalteri-schen Bedarf. Ein ganz wesentlicher Aspekt bleibt dieVermittlung baukultureller Werte, das Werben um Ver-ständnis und Akzeptanz für die Qualität der gebautenUmwelt.
Hier sind natürlich Schulen und Universitäten, aber auchdie Kammern und Verbände gefragt.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn wir inDeutschland wieder mehr bauen, um bezahlbaren Wohn-raum zu schaffen, oder umbauen und sanieren, um Ener-gie einzusparen, dann sollte das Thema Baukultur unserständiger Begleiter sein. Die Bundesstiftung arbeitet da-ran, das baukulturelle Klima in der Bundesrepublik wei-ter zu fördern. Deshalb sollten die Bundesregierung undder Bundestag – auch ihn bitte ich darum – die Stiftungweiterhin tatkräftig unterstützen.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt die Kollegin
Heidrun Bluhm.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Baukultur ist nicht das Sahnehäubchen auf dem sonsteher technischen oder kaufmännischen Prozess des Bau-ens, Baukultur ist auch nicht der Schnörkel an der Fas-sade, sondern sie ist, zumindest nach meinem Verständ-nis, die planvoll gebaute Umwelt für das kulturvolleMiteinander-Leben in der Gesellschaft.
Das ist auch das Credo des Baukulturberichtes 2014/2015 mit dem Titel „Fokus Stadt“.Baukultur sollte demnach eine Grundlage jeglicherPlanung in der Quartiers-, Stadt- und Regionalentwick-lung jeder Gemeinde sein. Sie ist im wahrsten Sinne desWortes lebenswichtig. Ob aber die Bundesregierung denBaukulturbericht so verstanden hat und ob sie ihn ernstnimmt, ist angesichts ihrer äußerst schwachen Stellung-nahme – das gilt zumindest für die, die sie schriftlichformuliert hat – zu bezweifeln. Schon allein der Umfangdieser Stellungnahme – er beträgt etwas mehr als eineSeite – sagt etwas über den Stellenwert aus, den die Bun-desregierung ihrer eigenen Stiftung beimisst. Auch wennFrau Hendricks eben in ihrer Rede versucht hat, einenanderen Eindruck zu vermitteln, geht natürlich das in dieAnnalen ein, was schriftlich von Ihnen vorgelegt wurde.Aber noch mehr als der kärgliche Umfang sagt der In-halt dieser Stellungnahme aus, nämlich: nice to have,
also: Nett, dass wir die Stiftung haben, schön, dass siearbeitet, ein toller Bericht, den sie vorgelegt hat, ja, dasbegrüßen wir. – Aber das war’s, mehr steht nicht drin.Ich wüsste aber schon ganz gern von der Bundesregie-
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Heidrun Bluhm
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rung, wie sie über das Begrüßen hinaus den Inhalt desBaukulturberichts selbst nutzt und wie sie die vielfälti-gen Hinweise und Vorschläge ihrer eigenen Stiftung indie selbst formulierte Stadtentwicklungspolitik dernächsten Jahre einzubinden gedenkt. Genau darum musses uns in der Debatte gehen. Das erfordert, dass dieMinisterin hier klar bekennt, was geht und was noch an-ders gemacht werden muss.Bauen selbst ist eine kulturhistorische Leistung, weilvon der Qualität des Bauens die Qualität des Lebens fürJahrzehnte oder gar Jahrhunderte geprägt ist. Es gehtnicht nur um Häuser, Plätze oder Straßen, sondern auchdarum, wie sich die Menschen in ihrer Stadt bewegenkönnen, wie sie sich ihre Stadt zu eigen machen können,wie sie individuell und gemeinschaftlich in ihren Städtenleben können und sich damit auch entfalten können. Sokönnten wir die Kultur des Bauens über die Unkultur derStandortvermarktung heben. Ich denke, auch darübersollten wir reden.
Wenn das nicht gelingt, haben wir in den Innenstädtenbald nur noch glitzernde Shoppingcenter und Bürotürmeoder langweilige Regierungsviertel, in denen keinMensch mehr wohnt. Aber das Gegenteil davon – dasmacht der Baukulturbericht zu Recht deutlich – ist füruns erforderlich und wichtig: Unsere Städte müssen so-zial und funktional gemischte Quartiere sein.Statt, wie die Bundesregierung es tut, die Vorlage desBaukulturberichts einfach nur zu begrüßen, sollte sie denInhalt zum Anlass nehmen, kritisch Bilanz zu ziehen undneue baupolitische Aufgaben zu formulieren. Das hatFrau Hendricks heute aber versäumt.
Seit 2012 gibt es zum Beispiel das Gesetz zur Stär-kung der Innenentwicklung in den Städten und Gemein-den und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts.Ich wüsste schon gern von Frau Hendricks, wie diesesGesetz auf lebendige, sozial und funktional gemischteInnenstädte seit 2012 gewirkt hat, wo es Probleme gibt,worüber wir reden müssen, was angepasst oder evaluiertwerden muss. Was die Fortentwicklung des Städtebau-rechts angeht, hat die neue Bundesregierung aus meinerSicht bisher lediglich ein Gesetz verabschiedet, nämlichein Gesetz zur Vereinfachung der Unterbringung vonFlüchtlingen in Gewerbegebieten. Das war allerdingskeine Kulturleistung.
Der Baukulturbericht weist mit seinen Forderungen ineine ganz andere Richtung, und zwar mit vollem Recht– ich zitiere –:… die Zuwanderungsraten … nehmen … wiederzu. Im Jahr 2012 konnten über eine Million Zuzügefestgestellt werden.Weiter heißt es:Integration und Inklusion dieser Menschen und einproduktives Miteinander sind eine zentrale gesell-schaftspolitische Aufgabe. Die baukulturellenPotenziale sind allerdings bislang kaum diskutiert.Also diskutieren wir sie doch! Aber dazu gab es von derRegierung bisher keine Ankündigung. Das Abschiebenvon Flüchtlingen und Asylbewerbern in Gewerbege-biete, in denen sonst niemand leben darf und auch nichtleben will, ist die Verhinderung von Integration, also dasGegenteil von dem, was der Bericht uns aufgibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was die eigenenbaukulturellen Gestaltungsmöglichkeiten betrifft,schreibt der Baukulturbericht der Bundesregierung zumBeispiel auch ins Stammbuch:Die Privatisierungswelle von öffentlichen Woh-nungsbeständen …– führt –prinzipiell zu einem Verlust an sozialen und baukul-turellen Steuerungsmöglichkeiten … Damit ver-bunden ist eine Bedeutungsverschiebung der Woh-nungsbestände hin zu einer stärker kurz- undmittelfristigen Renditeerwartung. BaukulturelleZiele treten dem gegenüber häufig zurück und dieinternationalisierten Wohnungsanbieter sind nurschwer für lokale Ziele der Stadt- und Quartiersent-wicklung erreichbar.Was der Baukulturbericht uns allen also aufgibt, ins-besondere Ihnen in der Regierung, ist: Sie vergehen sichmit Ihrer Privatisierungspolitik nicht nur an den sozialenInteressen von Mieterinnen und Mietern, sondern ver-scherbeln gleichzeitig einen Teil unseres gemeinsamenkulturellen Erbes und damit auch die Zukunft unsererStädte. Baukultur und rein marktwirtschaftliche Grund-stücksverwertung zum Höchstgebot – das geht, wie ichfinde, nicht zusammen.
Sie müssen – und auch das sagt Ihnen der Baukulturbe-richt –
Frau Kollegin Bluhm, denken auch Sie an die verein-
barte Redezeit!
– ich bin fertig – grundlegend etwas an den Prioritä-ten verändern.Ich danke Ihnen, aber vor allem denjenigen, die sehraktiv im Prozess der Baukultur mitgearbeitet haben undauch weiter mitarbeiten werden. Ich freue mich auf dieZusammenarbeit auch in Zukunft.Danke schön.
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Nächster Redner ist der Kollege Volkmar Vogel,
CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Baukultur ist das Thema, der Baukulturbericht 2014/15die Grundlage unserer heutigen Debatte. Lassen Siemich gleich zu Anfang allen Danke sagen, die an der Er-arbeitung dieses Berichtes beteiligt waren. Ich finde,diese gute Leistung verdient unseren gemeinsamenDank.
Insbesondere danken möchte ich auch unserer Bundes-stiftung Baukultur, die maßgeblich die Themen des Be-richts vorgegeben und hier eine sehr gute Arbeit abgelie-fert hat.
Für meine Fraktion kann ich sagen, dass wir die Bau-kultur von Anfang an, seit dem Jahre 2006 und davor,hochhalten und stärken. Eine starke Bundesstiftung Bau-kultur ist Ausdruck dessen. Dies ist auch Teil dessen,was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben: Wir wol-len einen breiten Dialog im baukulturellen Bereich un-terstützen, und wir wollen unsere Stiftung stärken.
Es ist nicht selbstverständlich, dass im Haushalt dafür1,3 Millionen Euro zur Verfügung stehen und dass wirauch in diesem Jahr weitere 100 000 Euro dafür bereit-stellen. Das ist gut angelegtes Geld, auch mit Blick aufden Förderverein, der der Bundesstiftung Baukultur zurSeite gestellt ist. Ich denke, die positive Entwicklung,was die Mitgliedschaften im Förderverein angeht, ist einZeichen, dass wir auf einem guten Weg sind, dass Archi-tekten, Verbände und Bauunternehmer bzw. Bauunter-nehmen bereit sind, sich hier zu engagieren, sich für dieBelange der Baukultur einzusetzen und sie auch finan-ziell zu unterstützen. Das entlastet am Ende des Tagesauch ein Stück weit unseren Haushalt und hilft, die Ar-beit weiter zu verstetigen.
Das ist gut angelegtes Geld für die Baukultur; denndie Baukultur ist Teil unserer Kultur, seit Jahrhunderten,seit Jahrtausenden und – aus der heutigen Zeit betrachtet –auch für die nächsten hundert und tausend Jahre. DieBaukultur wird oftmals unterschätzt und leider oft auchwirtschaftlichen Erwägungen geopfert. Aber sie ist na-türlich Teil unserer Lebensqualität. Sie fördert das so-ziale Empfinden genauso wie den Zusammenhalt einerGemeinschaft.Ich möchte als Beispiel dafür, wie Baukultur gut ge-lingt, den Bauhaus-Stil anführen. Wir haben hierzu inder letzten Sitzungswoche eine sehr gute Debatte mit gu-ten Beiträgen von Kollegen aller Fraktionen geführt.Beim Bauhaus merkt man sehr deutlich, dass die Fusionvon Kunst und Technik gelungen ist, dass Baukultur undDesign auf der einen Seite und Kosten auf der anderenSeite kein Gegensatz sein müssen. Nein, im Gegenteil:Mit guten Ideen kann man auch kostengünstig bauen.Die Baukultur schafft auch ein Klima des besserenGemeinschaftsgefühls. Sie stärkt die Identität mit be-stimmten Vorhaben. Wir haben oftmals Probleme, wennes darum geht, für Großprojekte Akzeptanz unter denbetroffenen Bürgern zu schaffen. Wenn wir im Vorfeldmit Modellen zur Umsetzung von baukulturellen Aspek-ten die Betroffenen mehr einbeziehen, dann haben wirauch mehr Identität, mehr Verständnis für das Vorhabenin allen Phasen der Umsetzung.
Vieles ist in dem Bericht sehr gut analysiert und um-gesetzt. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass dervorliegende Bericht als Maßstab und auch als Fahrplandient für Architekten, Planer, aber natürlich auch Bau-herren und Investoren. Er setzt Maßstäbe in der nationa-len und auch in der internationalen Diskussion. Das istgut so. Auch dafür vielen Dank!
Mit den Themenschwerpunkten „Wohnen und ge-mischte Quartiere“, „Öffentlicher Raum und Infrastruk-tur“ sowie „Planungskultur und Prozessqualität“ hat dieBundesstiftung Baukultur den Finger zu Recht auf dieWunde gelegt; denn das sind die Themen, die uns aktuellim Baubereich auf den Nägeln brennen.Wohnungsneubau und Wohnungsumbau sind ebensowie die Stärkung der Quartiere Themen, wenn es darumgeht, den Flächenverbrauch zu reduzieren. Dazu werdenneue Planungsansätze benötigt. Das können wir in demBereich auf Grundlage dieser Untersuchung mit derBaukultur sehr gut bewerkstelligen.Öffentlicher Lebensraum heißt auch Grün in derStadt. Grün in der Stadt ist ein Thema, dessen wir unsbesonders annehmen wollen. Ebenso wollen wir uns dernotwendigen Sanierung von Infrastruktur im Bereich derBrücken und Straßen annehmen. Es gibt jetzt Chancen,auch hier baukulturelle Aspekte mit den notwendigenErfordernissen zu verzahnen bzw. diese einzubeziehen.
Ich finde die Idee, die diesem Bericht innewohnt, sehrgut, wenn es um die Anwendung der HOAI geht. Es gibtin der HOAI die Leistungsphasen 1 bis 9. Es ist gut,wenn man hier zumindest gedanklich eine Planungs-phase 0 voranstellt, in der man das Vorhaben insbeson-dere unter baukulturellen Gesichtspunkten auf den Prüf-stand stellt. Im Vorfeld sollte eine breite Diskussion dazugeführt werden. Das sollte dann in den anderen Phasenverwirklicht werden. Genauso sinnvoll ist es, dass manan die Leistungsphase 9 gedanklich eine Leistungs-
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Volkmar Vogel
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phase 10 hängt, während der man überprüft, ob dies amEnde des Tages gelungen ist und wie es gelingen kann,das zu verstetigen bzw. für die gesamte Lebensphase desObjektes umzusetzen.
Ich finde, das ist ein guter Ansatz. Er ist auch sehr au-genscheinlich. Man kann ihn gut vermitteln. Auch dienter dazu, die Breitenwirkung dieses Berichtes zu verstär-ken, weil natürlich die Mitwirkung aller Akteure gefragtist. Es ist keine Aufgabe von Architekten allein, sondernbedarf der Mitwirkung aller Beteiligten im Baubereich.Dazu gehören insbesondere die Investoren.Wichtig ist die Vorbildwirkung, mit der wir als Bundbeginnen müssen. Es ist daher gut und richtig, dass wirunsere Bundesstiftung Baukultur mehr als bisher auch indie Entwicklung und die Untersuchungen bundeseigenerBauten einbeziehen wollen, damit die Hinweise und Er-kenntnisse, die innerhalb der Stiftung vorliegen, für dieUmsetzung der Bundesbauten besser genutzt werdenkönnen.Wir werden in den nächsten Monaten eine angeregteDiskussion zu den Inhalten dieses Bauberichtes führen.Ich kann aber – einige von Ihnen im Saal waren heutebei der Sitzung des Stiftungsrates mit dabei – sagen: DerBaubericht für die Jahre 2016 und 2017 ist in Vorberei-tung. Ich bin auf die Themen gespannt, die dort bearbei-tet werden. Das zeugt davon, dass unsere BundesstiftungBaukultur auf einem guten Weg ist. Wir werden sie wei-terhin unterstützen und stärken; denn sie ist heute und inder Zukunft ein wichtiges Element für die Baukultur inunserem Land.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Oliver Krischer,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Inder Tat kann man der Stiftung Baukultur ein Kompli-ment machen. Es ist ein umfassender, aber auch fokus-sierter Bericht geschaffen worden, der deutlich macht,dass „Bauen und Baukultur“ kein Luxusthema ist, son-dern ein Thema, welches ganz zentral für unseren Le-bensraum ist. Das gilt für die Zeit, die wir dort, wo wirleben und arbeiten, verbringen. Ganz entscheidend istdas im Hinblick auf Fragen, wie sich unsere Gesellschaftweiterentwickelt.Der Bericht schafft es aber auch, die Herausforderun-gen zu formulieren. Dabei geht es beispielsweise um dieWohnungsknappheit bzw. die Knappheit von bezahl-barem und angemessenem Wohnraum, der flächenscho-nend in gemischten Quartieren geschaffen werden muss.Er stellt die Fragen und formuliert die Herausforderung,dass das erreicht werden muss. Auch stellt er die Fragendes Klimaschutzes, weil klar ist: Ohne energetischeGebäudesanierung bzw. ohne einen CO2-freien Gebäu-debestand werden wir am Ende die Ziele des Klima-schutzes nicht erreichen können. Wir müssen uns auch– das fokussiert der Bericht ebenso – über die Klimaan-passung unterhalten. Was ist hier zu regeln?In dem Bericht werden auch Fragen zum demografi-schen Wandel aufgeworfen: Was bedeutet der demogra-fische Wandel? Was heißt das für eine älter werdendeGesellschaft? Was heißt das für das Bauen? Welche an-dere Bedeutung hat die Baupolitik in schrumpfenden Re-gionen im Vergleich zu wachsenden Regionen?In dem Bericht geht es auch um die ganz großeHerausforderung der Investitionen in Infrastruktur. DerInvestitionsstau in den Kommunen beträgt 128 Milliar-den Euro. Wir haben Bröselbrücken und Schimmelschu-len. Auch das wird in diesem Baukulturbericht benannt,und es wird gefordert, dass hier Antworten gefundenwerden müssen.Nicht zuletzt wird in diesem Bericht auch die Fragenach der Lebensqualität aufgeworfen. Das ist kein Lu-xusthema; denn schlechte Baukultur und ein schlechtesBauumfeld machen die Menschen krank. Wir müssendie Menschen an den Planungs- und Entwicklungs-prozessen beteiligen; sie müssen sich hier einbringenkönnen. Auch in diesem Zusammenhang fokussiert derBericht viele Fragen, und er liefert Analysen und Hand-lungsempfehlungen.Ich kann der Stiftung nur noch einmal für das danken,was sie uns hiermit vorgelegt hat.
Ganz im Gegensatz dazu steht aber die Stellung-nahme der Bundesregierung. Ich muss hier offen sagen:Als ich die dürren eineinhalb Seiten gelesen habe, habeich angesichts des guten Berichtes nicht gewusst, ob ichlachen oder weinen soll. Am Ende der Stellungnahmesteht der Satz: Wir danken der Stiftung Baukultur undbegrüßen den Bericht. – Frau Hendricks, Sie hätten auchgleich schreiben können: Wir haben einen schönen Ak-tenordner; wir machen zwei Löcher in diesen Bericht,und dann stellen wir ihn ins Archiv. – Es ist für eineBundesregierung armselig, wenn sie nicht einmal in derLage ist, Handlungsleitlinien, die sie aus diesem Berichtableitet, in ihrer Stellungnahme zu formulieren. Das gehtnicht; das ist nicht in Ordnung.
Frau Hendricks, ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen:Auch das, was ich gerade hier von Ihnen gehört habe, hatmich nicht unbedingt begeistert. Sie haben keine großenMaßnahmen angekündigt und sind am Ende über einenette Analyse nicht hinausgegangen. Was die Bundes-regierung in diesem Bereich tun will, habe ich bishernicht gehört – von Ihnen nicht und auch in den anderenRedebeiträgen nicht. Wenn Sie das trotz eines solchenBerichtes an dieser Stelle nicht formulieren können,dann ist das am Ende ein Stück weit eine Bankrotterklä-rung in der Baupolitik.
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Oliver Krischer
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Ich will Ihnen drei ganz konkrete Dinge dazu sagen:Erstens geht es mir um die Mietpreisbremse; darüber ha-ben wir in der letzten Woche schon diskutiert. Ich höreaus der Presse, die Einführung der Mietpreisbremse sollbis nach der Sommerpause verschoben werden, weil dieUnion sich nicht darauf verständigen kann, obwohl eshier einen politischen Konsens gibt. Das ist eine ganzzentrale Frage für die gemischten Quartiere, wie es auchim Bericht formuliert wird. Wenn wir es nicht schaffen,bezahlbaren Wohnraum zu erhalten, dann werden wirauch die in dem Baukulturbericht formulierten Ziele fürsozial gemischte Quartiere nicht erreichen. Wir braucheneine Mietpreisbremse. Sie müssen endlich aufhören, hierzu blockieren, und an dieser Stelle liefern.
Zweitens geht es mir um die energetische Quartierssa-nierung; auch das wird im Bericht formuliert. Es ist ganzwichtig, dass wir bei der Gebäudesanierung vorankom-men. Ich muss feststellen: Sie haben die Mittel dafürnoch unter das schwarz-gelbe Niveau gekürzt, auf50 Millionen Euro. Am Ende werden nur Konzepte ge-fördert. Für die Umsetzung fehlt dann das Geld. In Ber-lin sind zum Beispiel von fünf Konzepten vier in derSchublade gelandet. Wenn Sie das unter Baukultur undenergetischer Quartierssanierung verstehen, dann ist daseinfach zu wenig.Drittens. Der allergrößte Skandal – last, not least – istfür mich das Auftreten des Bundes als Immobilieneigen-tümer. Jeder Bürgermeister und jeder kommunale Stadt-oder Gemeinderat kann ein Lied davon singen: Wennman mit der BImA bzw. mit dem Bund als Immobilien-eigentümer zu tun hat, dann geht es null um Baukulturund Stadtentwicklung, sondern nur um die Rendite derImmobilien des Bundes. Der Bund tritt als Immobilien-spekulant auf. Wenn Sie das nicht ändern, dann machenSie alle schönen Berichte und Forderungen der Bundes-stiftung Baukultur zur Makulatur. Handeln Sie endlichbei Ihren eigenen Immobilien! Da gibt es genug zu tun.
Meine Damen und Herren, ein guter Bericht zur Bau-kultur trifft auf eine schlechte oder, besser gesagt, garnicht vorhandene Politik der Bundesregierung.
Herr Kollege Krischer, ich darf auch Sie an die Rede-
zeit erinnern, die kein ungefährer Richtwert ist, sondern
eine präzise Vereinbarung.
Ich komme sofort zum Ende. – Aber vielleicht geben
dieser Bericht und auch die zukünftigen Berichte Anlass
zur Hoffnung auf eine seriöse, vernünftige und zielge-
richtete Baupolitik der Bundesregierung.
Ich danke Ihnen.
Für die SPD spricht jetzt der Kollege Ulrich Hampel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir de-battieren heute den Baukulturbericht 2014/2015. Dieserist nach den beiden ersten Statusberichten aus den Jahren2001 und 2005 der dritte Bericht zur Lage der Baukulturund der erste unter der Federführung der BundesstiftungBaukultur.Mit dem Baukulturbericht erhalten die Bundesregie-rung und der Deutsche Bundestag Anregungen undHandlungsempfehlungen für die Förderung der Baukul-tur in Deutschland. Dass das Thema einen hohen Stel-lenwert innerhalb der Großen Koalition genießt, zeigtbereits der Koalitionsvertrag. Die SPD hat darin mit ih-ren beiden Koalitionspartnern vereinbart, einen breitengesellschaftlichen Dialog zu baukulturellen Fragen zufördern und die Bundesstiftung Baukultur als hierfürwichtigen Partner zu stärken.Mit dem aktuellen Haushalt der Bundesstiftung Bau-kultur, der um 100 000 Euro erhöht wurde, setzen wirdiese Koalitionsvereinbarung ein Stück weiter um.
Mit diesen zusätzlichen Mitteln kann sich die Stiftung indie projektbezogene baukulturelle Diskussion über aus-gewählte Baumaßnahmen des Bundes künftig stärkereinbringen.Der uns vorliegende Baukulturbericht widmet sichden gebauten Lebensräumen der Zukunft unter demFokus Stadt mit drei thematischen Programmschwer-punkten: „Wohnen und gemischte Quartiere“, „Öffent-licher Raum und Infrastruktur“ und „Planungskulturund Prozessqualität“. Weiterhin formuliert der Berichtkonkrete Handlungsempfehlungen an die einzelnenAkteure der Baukultur wie die öffentliche Hand, privateBauherren, Kammern und Verbände. BundesministerinHendricks ist in ihrer Rede bereits detailliert auf dieHandlungsempfehlungen eingegangen.Welche aktuellen Herausforderungen sieht nun derBericht für die Baukultur? Da sind die Globalisierung,der demografische Wandel, die Energiewende und tech-nische und soziale Innovationen zu nennen. Aus meinerSicht stellt hierbei insbesondere der demografische Wan-del, der sich in vielen Bereichen baulich und räumlichauswirkt und weiter auswirken wird, eine enorme He-rausforderung dar.Die immer älter werdende Gesellschaft macht denbarrierefreien Aus- und Umbau des Bestandes immerdrängender. Der Bericht weist darauf hin, dass nur 1 Pro-zent des deutschen Wohnungsbestandes derzeit barriere-frei ist. Der Bedarf liegt aber um ein Vielfaches höher.
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8110 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Ulrich Hampel
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Auch im öffentlichen Raum besteht dringender Hand-lungsbedarf. Der Bericht zeigt auf, dass Bund und Län-der das Problem erkannt haben und mit verschiedenenMaßnahmen, sei es durch die Förderung der barriere-freien Anpassung von öffentlichen Gebäuden oder durchspezielle KfW-Programme, daran arbeiten, diese Lückezu schließen. Uns allen ist aber klar, dass es noch großerAnstrengungen bedarf, ausreichend barrierefreienWohnraum zu schaffen.
Abschließend möchte ich feststellen, dass der Baukul-turbericht 2014/15 ein wichtiger Beitrag ist, die baukul-turelle Situation in Deutschland zu erfassen, und er isteine sehr gute Grundlage für die vor uns liegendenpolitischen Debatten auf diesem Gebiet. Ich danke allenMitarbeiterinnen und Mitarbeitern der BundesstiftungBaukultur und allen darüber hinaus Beteiligten für denfundierten Baukulturbericht, und ich freue mich auf dieweiterhin gute Zusammenarbeit.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wün-sche Ihnen ein herzliches Glückauf.
Abschließender Redner zu diesem Tagesordnungs-
punkt ist der Kollege Kai Wegner, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, die Koali-tion macht sich stark für lebenswerte Städte und für le-bendige Stadtquartiere, in denen die Menschen nicht ne-beneinander, sondern gerne auch miteinander leben. Umdieses Ziel zu erreichen, gewinnt die Baukultur – das,finde ich, wird in dem Bericht noch einmal deutlich –zunehmend an Bedeutung. Wenn ich von Baukulturspreche, dann meine ich natürlich nicht ausschließlichden ästhetischen Aspekt der Architektur. Bei Baukulturgeht es um die Qualität der bebauten Umwelt insgesamt.Es geht um Gebäude, Anlagen der Infrastruktur, ihreEinordnung in das Landschafts- und Siedlungsgebietund in den öffentlichen Raum. Baukultur umfasst damitArchitektur und Ingenieurbaukunst, Stadt- und Regio-nalplanung, Denkmalschutz und Landschaftsarchitektur.Ich begrüße ausdrücklich, dass wir heute die Debatteüber den Baukulturbericht führen; denn ich glaube, dasses wichtig ist, dass auch wir hier im Deutschen Bundes-tag einen Beitrag dazu leisten, für gute Bau- und Pla-nungsleistungen zu sensibilisieren und das Bewusstseinfür die Baukultur bei Bauschaffenden, aber auch bei denBürgerinnen und Bürgern weiter zu stärken.
Die Zahlen verdeutlichen die wachsende Bedeutungvon Fragen des guten Planens und Bauens für ein gutesZusammenleben der Menschen. In den nächsten fünfJahren werden wir in den wachsenden Städten Deutsch-lands vermutlich rund 1 Million neue Wohnungenbauen. Bis zum Jahr 2025 könnte die Zahl auf mehr als3 Millionen steigen. Herr Krischer, da Sie einmal mehrdie Mietpreisbremse angesprochen haben – das höre ichmittlerweile in jeder Debatte –, kann ich nur sagen:Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, dieMietpreisbremse wird kommen.
Machen Sie sich da keine Sorgen. Was Sie in Ihrer Re-gierungstätigkeit nicht geschafft haben, werden wir ma-chen. Aber wir werden es vernünftig machen. Wir brau-chen ein Maßnahmenpaket. Wir brauchen – das habenSie selber angesprochen – mehr bezahlbaren Wohnraum.Mit Verlaub, Herr Krischer, die Mietpreisbremse schafftkeine einzige neue, bezahlbare Wohnung. Wir müssenmehr bauen. Deshalb brauchen wir ein Maßnahmenpa-ket für bezahlbares Wohnen in den Städten und Gemein-den in unserem Land.
Die Herausforderung, vor der wir zusätzlich stehen,ist, attraktive, lebendige und sozial stabile Wohnquar-tiere zu erhalten und zu schaffen. Dies wird in der Tatnur gelingen, indem wir ein Zusammenspiel von Be-standsgebäuden und ergänzender Neubebauung haben.Gerade in Zeiten des ökonomischen, ökologischen unddemografischen Wandels brauchen wir im Baubereichnachhaltige Lösungen. Wir brauchen wohlgestaltete Le-bensräume, die die Lebensqualität in unseren Städtenverbessern, die Identifikation mit dem Stadtteil, in demman lebt, schaffen und die Bereitschaft der Bürgerinnenund Bürger zur Mitgestaltung ihrer Wohnquartiere erhö-hen.Für mich ist eine zentrale Lehre aus dem Baukultur-bericht, dass wir noch stärker auf ein Nebeneinander vonArbeiten, Wohnen, Versorgung, Freizeitgestaltung, öffent-lichen Freiräumen und Grün setzen sollten. Es geht alsoum die verstärkte Förderung von sozial und funktionaldurchmischten Stadtquartieren. Gemischte Stadtquar-tiere sind ein Garant für Lebensqualität und Wohnzufrie-denheit, für Standortbindung und Identitätsbildung. Siereduzieren den Flächenverbrauch, ermöglichen eineStadt der kurzen Wege und sind deshalb besonders ge-eignet für die Integration von älteren und pflegebedürfti-gen Menschen, aber auch von jungen Familien.Es ist die gelebte Vielfalt, die die Quartiere stark undattraktiv machen. Klar ist auch: Gelebte Vielfalt gehörtzur Lebensrealität in den Städten. Aber sie braucht einstarkes, klares Fundament. Es darf in unseren Städtenund Quartieren keine Angsträume geben,
die man nach Einbruch der Dunkelheit besser meidet.Man muss sich in allen Bereichen, in denen man wohnt,
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Kai Wegner
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wohlfühlen und sicher sein. Hier kann die Baukultur vielzum Besseren beitragen.
Pflanzen, Wege, Stadtmöbel und insbesondere das Lichtprägen den Charakter des öffentlichen Raums. Es magsich wie eine Kleinigkeit anhören, aber schon ein zusätz-licher Laternenmast kann dazu beitragen, das subjektiveSicherheitsgefühl der Menschen in den Stadtquartierendeutlich zu erhöhen.
Es muss also darum gehen, durch gezielte baulicheMaßnahmen das Wohnumfeld aufzuwerten. Investitio-nen in die Baukultur sind so gesehen auch Investitionenin mehr Sicherheit und mehr Sauberkeit. Die Menschenin unserem Land müssen sich an allen Orten in unserenStädten geschützt fühlen und wohlfühlen.
Wenn das Schlagwort „Baukultur“ fällt, denken vielevor allem an den Schutz erhaltenswerter Bausubstanz.Aber gerade aufgrund des technischen Fortschritts hatBaukultur mittlerweile auch eine moderne, in die Zu-kunft gerichtete Dimension. So wird es verstärkt darumgehen, bereits vorhandene Infrastruktur in neuer Weisezu vernetzen, aber auch innovative Techniken und Pro-dukte in das städtische Alltagsleben zu integrieren.Architekten und Ingenieure entwickeln schon heuteneuartige Lösungen in Bereichen wie Klimaschutz undEnergie, Mobilität, Verwaltung und Gesundheit. Wennes gelingt, die Strukturen in der bebauten Umwelt kreati-ver, sauberer, gesünder und gleichzeitig effizienter zugestalten, bedeutet das einen enormen Gewinn an Le-bensqualität für die Menschen in unseren Städten.
In diesem Zusammenhang tun wir gut daran, die Güte,die Nachhaltigkeit, die Innovationskraft und die wirt-schaftliche Leistungsfähigkeit des Architektur- und In-genieurwesens in Deutschland besonders herauszustel-len.
Die Förderung der Baukultur ist und bleibt eine ge-sellschaftliche und politische Daueraufgabe; denn Bau-kultur ist auf den ständigen Dialog zwischen Experten,Bürgern, Wirtschaft und natürlich auch der Politik ange-wiesen. Diese Dialogbereitschaft unter allen Beteiligtenwerden wir auch in Zukunft fördern, genauso wie wir esim Koalitionsvertrag vereinbart haben.
Wir werden dabei klarmachen, dass alle Akteure ge-meinsam eine gesamtgesellschaftliche Verantwortunghaben.An dieser Stelle, liebe Frau Bundesministerin, dankeich ausdrücklich der Bundesregierung dafür, dass sie ihreVerantwortung für die Förderung der Baukultur auch invielerlei anderer Hinsicht wahrnimmt, nämlich als Bau-herr, als Gesetzgeber im Bauplanungsrecht, aber natür-lich auch über die Städtebauförderung. Dafür möchte ichIhnen, Frau Hendricks, ganz herzlich danken, und ichsage Ihnen auch weiterhin die Unterstützung unsererFraktion zu.
In diesem Zusammenhang freue ich mich natürlichganz besonders für die Städtebauförderung, wenn ichsage, dass wir in diesem Haushaltsjahr einen Schwer-punkt nicht auf Grüne in den Städten, Herr Krischer,sondern auf Grün in der Stadt legen.
Das finde ich ganz hervorragend; denn das braucht dieStadt für mehr Lebensqualität.
Die Koalition wird weiterhin dafür sorgen, dass bau-kulturelle Fragestellungen auf der Agenda bleiben. Wirwollen, dass sich die Menschen in ihrem Wohnumfeldwohlfühlen können. Deshalb begreifen wir Baukultur alseine Investition in eine lebenswerte Zukunft in unserenStädten und Gemeinden.Herzlichen Dank und einen schönen Abend noch.
Damit schließe ich die Debatte.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 18/3020 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 bauf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten JanKorte, Ulla Jelpke, Dr. Dietmar Bartsch, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEFinanzielle Anerkennung von NS-Unrecht fürsowjetische KriegsgefangeneDrucksache 18/3316Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAusschuss für Kultur und MedienFederführung strittigb) Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Claudia Roth (Augsburg), MarieluiseBeck , weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
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Vizepräsident Johannes Singhammer
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Anerkennung der an den ehemaligen sowjeti-schen Kriegsgefangenen begangenen Verbre-chen als nationalsozialistisches Unrecht undGewährung eines symbolischen finanziellenAnerkennungsbetrages für diese Opfer-gruppeDrucksache 18/2694Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und VerbraucherschutzAuswärtiger AusschussFinanzausschussFederführung strittigNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Es erhebtsich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Jan Korte für die Fraktion Die Linkedas Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor kurzem haben wir hier der 6 Millionen
Opfer der Schoah gedacht, des Zivilisationsbruches
Auschwitz. Dieses Gedenken kam nicht einfach so, son-
dern auch das musste erkämpft werden, etwa durch
Menschen wie Fritz Bauer. Das darf nie vergessen wer-
den.
Heute geht es um eine de facto vergessene Opfer-
gruppe: Es geht um 6 Millionen sowjetische Kriegsge-
fangene. Von diesen 6 Millionen starben 3,3 Millionen
unter der Verantwortung der Wehrmacht durch Hunger,
Krankheiten, Kälte, Zwangsarbeit oder massenweise Er-
schießung. Aus Anlass des 70. Jahrestages gilt es im Üb-
rigen auch und in besonderer Weise, den 27 Millionen
toten Menschen der Sowjetunion, übrigens mit und ohne
Uniform, im Allgemeinen und den 3,3 Millionen toten
sowjetischen Kriegsgefangenen im Speziellen zu danken
und ihre Opfer für die Befreiung Europas zu würdigen.
Der Vernichtungskrieg Nazideutschlands gegen die
Sowjetunion wurde durch die verbrecherischen Kom-
missarbefehle, durch die Richtlinien des OKW von An-
fang an in einer so bestialischen Art und Weise geführt
wie noch kein Krieg zuvor auf der Welt. Daher wurde in
dieser Logik im Vernichtungskrieg gegen den jüdischen
Bolschewismus, wie es hieß, auch den sowjetischen
Kriegsgefangenen ihr international geschützter Status
verwehrt. Kurz, alle völkerrechtlichen und vor allem zi-
vilisatorischen Mindeststandards, die sich die Völker der
Erde gegeben haben, wurden durch die deutsche Kriegs-
führung suspendiert.
70 Jahre danach ist es nun an der Zeit, dieser verges-
senen Opfergruppe zu gedenken und den gerade einmal
noch rund 4 000 Überlebenden zumindest eine kleine
Entschädigung zukommen zulassen. Wann, wenn nicht
jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen?
Es stellt sich natürlich die Frage: Warum eigentlich
erst jetzt? Es gibt natürlich historische und politische
Gründe, warum den sowjetischen Kriegsgefangenen ihre
Würde nicht gegeben wurde, warum sie nicht entschä-
digt wurden. Es gab zum einen in der alten Bundesrepu-
blik einen quasi staatsreligiösen Antikommunismus, in
dessen Klima der Vernichtungskrieg gegen die Sowjet-
union geradezu als legitim in weiten Teilen der Gesell-
schaft angesehen wurde. Es waren natürlich die Legende
und die Lüge von der sauberen Wehrmacht, die dieses
Gedenken verhinderte. Im Übrigen gab es vor 20 Jahren
– auch das ist gerade ein Jubiläum – die wichtige, für un-
sere Gesellschaft notwendige Wehrmachtsausstellung.
Auch daran sollten wir heute erinnern. Ihren Machern
sollten wir für diesen großen Akt der Aufklärung noch
einmal danken.
Nachkriegsdeutschland war logischerweise und be-
kanntermaßen – das ist eigentlich unumstritten – geprägt
von der Abwehr der Schuld und der „Unfähigkeit zu
trauern“, wie es die Mitscherlichs dargelegt haben. Ein
weiterer Grund, warum dieser Opfergruppe auch in Ost-
europa und in der Sowjetunion nicht gedacht wurde,
war, dass sie unter Stalin als Verräter und Kollaborateure
gegolten haben; auch deswegen ist diese Opfergruppe so
in Vergessenheit geraten.
Heute ist es nunmehr an der Zeit, eine Entschädigung
auf den Weg zu bringen und in der Diskussion um das
Ganze insgesamt über ein Konzept für die NS-Opfer in
Osteuropa nachzudenken, also zu überlegen, wie wir ih-
rer besser und angemessener gedenken können. Versu-
chen wir nach so vielen Jahren wenigstens, ein winzig
kleines Stück der von Ralph Giordano treffend als
„zweite Schuld“ charakterisierten Politik Nachkriegs-
deutschlands abzutragen: Entschädigen wir die noch we-
nigen lebenden sowjetischen Kriegsgefangenen. Es sind
wirklich nicht mehr viele. Im Übrigen haben wir kaum
noch Zeit dafür. Wir müssen uns beeilen. Deswegen bitte
ich um Zustimmung zu den heute vorliegenden Anträ-
gen.
Vielen Dank.
Für die CDU/CSU spricht jetzt die Kollegin Erika
Steinbach.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Die sowjetischen Kriegsgefangenen im Nationalso-zialismus waren eine besonders bedauernswerte Gruppe;
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8113
Erika Steinbach
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das will ich hier ausdrücklich konzedieren. Bereits zuBeginn des Krieges mit der Sowjetunion im Jahre 1941gerieten Millionen Rotarmisten in deutsche Kriegsgefan-genschaft, darunter auch der Stalin-Sohn Major JakobDschugaschwili. Die am 16. Juni 1941 erlassenen Be-stimmungen über das Kriegsgefangenenwesen im FallBarbarossa des Oberkommandos der deutschen Wehr-macht verweigerten den Sowjetsoldaten – da haben Sievöllig recht – jeden Anspruch auf Behandlung als ehren-hafte Soldaten nach dem Genfer Abkommen, und daswar völkerrechtswidrig.An Epidemien und Hunger starben Hunderttausendeschon im Herbst 1941. Während des Krieges gerieteninsgesamt – über die Zahlen streiten sich die Gelehrten –5 Millionen, 6 Millionen Männer und Frauen der sowje-tischen Streitkräfte, so vermutet man, in Gefangenschaft.Davon starben rund 2,5 Millionen. 900 000 erlebten dasKriegsende als Zwangsarbeiter in Deutschland. Anderekonnten fliehen oder waren aus unterschiedlichstenGründen entlassen worden – Weißrussen zum Beispielund Ukrainer wurden zum Teil entlassen –, oder sie fie-len noch vor Kriegsende der Roten Armee in die Hände– anders kann man es nicht bezeichnen, weil es ihnendort nicht gutging –; die Zahlen variieren insgesamt sehrstark.Die russischen Kriegsgefangenen hatten ein doppeltschweres Schicksal, vor allen Dingen deshalb, weil dieSowjetunion selber Hass und Verachtung gegen ihre inKriegsgefangenschaft geratenen Soldaten schürte. DieSowjetunion hat als einziger Staat der Welt ihre in Ge-fangenschaft geratenen Soldaten als Schwerverbrecherklassifiziert. Im berüchtigten Befehl Nr. 270 von 1941erklärte Stalin sie zu Vaterlandsverrätern. Das schuf einKlima unglaublicher Angst unter den betroffenenKriegsgefangenen, die unter dem Nationalsozialismuseingesperrt waren. Auch die Familienangehörigen diesersogenannten Verräter wurden verhaftet und in Lager ge-bracht, selbst die Schwiegertochter von Stalin, die Fraudes Gefangenen Dschugaschwili.1 Million der später befreiten sowjetischen Kriegsge-fangenen hatten Zwangsarbeit in Arbeitsbataillonen undLagern der Sowjetunion zu leisten. 1,2 Millionen ehema-lige sowjetische Kriegsgefangene wurden als politischeHäftlinge dem NKWD überstellt. 123 000 ehemaligesowjetische kriegsgefangene Offiziere kamen in Straf-bataillone. 1 Million weitere sowjetische Militärange-hörige wurden von Militärtribunalen verurteilt, davon160 000 zum Tod durch Erschießen.Erst 1955 verkündete das Präsidium des OberstenSowjets eine Amnestie für alle Sowjetbürger, die sichzwischen 1941 und 1945 hatten gefangen nehmenlassen.Nach umfangreichen Reparationsentnahmen aus dersowjetischen Besatzungszone seinerzeit hat die ehema-lige Sowjetunion durch eine Regierungserklärung 1953gegenüber Deutschland ausdrücklich erklärt, auf weitereReparationen zu verzichten.1993 wurden dann zugunsten von Opfern des Natio-nalsozialismus mit den Nachfolgestaaten der Sowjet-union – der Republik Weißrussland, der RussischenFöderation und der Ukraine – Verträge geschlossen.Deutschland stellte dabei den Stiftungen in Minsk, inMoskau und in Kiew 1 Milliarde D-Mark zur Verfügung.Die Mittel waren für sowjetische Bürger bestimmt, diedurch nationalsozialistische Verfolgung schwere Ge-sundheitsschäden erlitten hatten und sich in einer wirt-schaftlichen Notlage befanden. Die Kriterien dafür ha-ben die jeweiligen dortigen Stiftungen oder dortigenRegierungen selber festgelegt. Deutschland hatte auf dieMittelvergabe keinerlei Einfluss. Die Verteilung geschaheigenverantwortlich seitens der Empfängerstaaten.Bei den internationalen Verhandlungen zur Errich-tung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung undZukunft“ unter Beteiligung der Nachfolgestaaten derSowjetunion bestand Einigkeit, vormalige Kriegsgefan-gene von den Leistungen der Stiftung ausdrücklichauszunehmen. Nach Beendigung des Auszahlungs-programms der Stiftung wurden durch einen Beschlussdes Kuratoriums und der Rechtsaufsicht Restmittel fürhumanitäre Maßnahmen zugunsten von NS-Opfern be-reitgestellt. Die Programme beinhalteten verschiedeneDinge: Kuraufenthalte, Augenoperationen, medizinischeHilfe unterschiedlichster Art. Diese Hilfen standen auchden sowjetischen Kriegsgefangenen zur Verfügung.
Unterschiedlich haben die verschiedenen Länder dieseMöglichkeiten ausgeschöpft.Im Rahmen weiterer Programme der Stiftung wurdenaus Mitteln des Fonds einzelne Projekte bewilligt, dieeine Würdigung des Schicksals der sowjetischen Kriegs-gefangen zum Gegenstand hatten, wie Begegnungspro-gramme mit Menschen, mit Zeitzeugen.
Frau Kollegin Steinbach, darf ich Sie an die Redezeit
erinnern?
Ich bedanke mich, Herr Präsident. – Was aber bis
heute überfällig ist, ist eine Entschädigung der ehemali-
gen Kriegsgefangenen der Sowjetunion durch das eigene
Land selber. Sie wurden stigmatisiert, sie wurden ent-
rechtet, sie wurden umgebracht, in Lager verschleppt.
Russland hätte, anstatt die Ukraine zu überfallen, lieber
seine noch lebenden ehemaligen Kriegsgefangenen ent-
schädigen sollen. Das wäre eine humane Geste gewesen,
meine Damen und Herren.
Nächster Redner ist der Kollege Volker Beck, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die letz-ten Worte der Kollegin Steinbach fand ich beschämendfür unser Haus, und ich möchte mich bei den Völkern
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8114 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Volker Beck
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der ehemaligen Sowjetunion ausdrücklich für dieseWorte entschuldigen.
Wir haben letzte Woche gemeinsam im Bundestag– ein Kollege und ich auch gemeinsam mit dem Bundes-präsidenten in Auschwitz – des 70. Jahrestages der Be-freiung von Auschwitz gedacht. Wir werden am 8. Maidieses Jahres auch des 70. Jahrestages der Befreiung Eu-ropas aus den Fängen des nationalsozialistischen Terrorsgedenken. Dabei gilt es Dank zu sagen den Soldatinnenund Soldaten der ehemaligen Westalliierten und den Sol-datinnen und Soldaten der Roten Armee. Diese haben esermöglicht – gerade die Rote Armee hat den höchstenBlutzoll dafür gezahlt –, dass Hitlerdeutschland nieder-gerungen wurde. Dafür schulden wir Dank.
Meine Damen und Herren, ich will das Schicksal ei-nes Menschen schildern, um das ein bisschen greifbar zumachen. Iwan Dmitrijewitsch Solonowitsch wurde imNovember 1940 zur Roten Armee eingezogen, 19 Jahrealt. Er wurde zunächst eingesetzt, konnte sich dann beimÜberfall auf die Sowjetunion dem deutschen Angriffentziehen, wurde neun Monate später an der Front aufder Krim von der deutschen Armee eingekesselt und inein Kriegsgefangenenlager in Hagen verschleppt. Er be-richtet: Die Menschen waren dünn und entkräftet, mitweißen Gesichtern. Täglich gab es Tote. Das Essen warkalorienarm, sehr bescheiden. Es wurden ein bisschenRüben geschnitten, dazu Wasser; das war’s. Die Gefan-genen wurden geschlagen mit einem Gummistock odermit einem Eisenstab.Der Kollege Korte hat es angesprochen: Durch Son-derbefehle war das Genfer Konventionsrecht für sowjeti-sche Kriegsgefangene ausdrücklich außer Kraft gesetzt.Das hatte ganz konkrete Bedeutung. Während die Ster-bequote bei westalliierten Kriegsgefangenen bei 3,5 Pro-zent lag, lag sie bei den sowjetischen Kriegsgefangenenbei 50 Prozent. Das zeigt – dazu kann man auch jedeMenge schriftliche Quellen anführen –: Die Behandlungder sowjetischen Kriegsgefangenen war Teil des natio-nalsozialistischen rassistischen Vernichtungskampfesgegen die slawischen Völker im Osten. Der Krieg unddie Behandlung der Kriegsgefangenen hatte das Ziel derDezimierung dieser Völker. Das war ein Vernichtungs-wunsch, ein Vernichtungswille, und das ist klassischesnationalsozialistisches Unrecht.Das muss der Deutsche Bundestag endlich anerkennen.
Kollegen von der SPD, da dürfen Sie klatschen. Den An-trag, den wir gestellt haben, haben wir in der letztenWahlperiode gemeinsam eingebracht. Bloß wegen derRede von Frau Steinbach müssen Sie sich nicht fürchten,zu dem Richtigen Ja zu sagen.
Ich möchte Sie auch ausdrücklich auffordern – dennes geht hier nicht um Parteipolitik –,
dass wir das dieses Jahr, im 70. Jahr, über die Bühnebringen, gemeinsam, würdig und historisch angemessen.Lassen Sie uns zwischen den vier Fraktionen über dieseFragen offen miteinander reden. Es geht nicht primär umGeld, Frau Steinbach, sondern es geht um eine Geste derVersöhnung, es geht vor allen Dingen um das Anerken-nen des Unrechts, das diesen Menschen zugefügt wurde.Sie haben die Geschichte der Verfolgung geschildert.Das war im Wesentlichen alles richtig.
Das begründet die Aussage des Bundestages: Das warnationalsozialistisches Unrecht, und das erkennen wirjetzt an.Es ist richtig, erst 1995 hat übrigens Russland dieseMenschen rehabilitiert.
Das war für diese Menschen viel wichtiger als ein paarCent. Ehre und Würde am Ende eines Lebens lassen sichnicht mit Geld erkaufen. Wir sollten meines Erachtenseine Geste finden. Es geht nicht um das Geld. Es gehtdarum, den Menschen die Hand zu reichen.
Gerade in der jetzigen außenpolitischen Situation,finde ich, wäre es klug, zu sagen: Wir kritisieren Putinfür das völkerrechtswidrige Vorgehen in der Ukraine,aber wir reichen den Völkern der ehemaligen Sowjet-union, und zwar gleichermaßen den Russen, den Ukrai-nern, den Weißrussen, den Kasachen und den ehemali-gen asiatischen Republiken der Sowjetunion, die Handmit der Bitte um Entschuldigung und um Versöhnung.
Das könnten wir jetzt tun. Dann ist klar: Wir kritisierenPutin, aber wir wollen Frieden zwischen den Völkern inEuropa, und wir wissen um die Verantwortung für diedeutsche Vergangenheit im 20. Jahrhundert.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der KollegeMatthias Schmidt.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8115
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich freue mich, dass ich zu Beginn meinerRede feststellen kann, dass wir uns in der Analyse desnationalsozialistischen Unrechts über alle Fraktionenhinweg einig sind. Herr Kollege Beck, wenn Sie das an-mahnen, dann brauchen wir keine Ermahnungen, wannund warum wir klatschen sollen oder warum nicht. Siehaben völlig recht. Wir haben gemeinsam einen Antraggestellt. Darauf werde ich gleich näher eingehen.In der letzten Woche haben wir an dieser Stelle den70. Jahrestag der Befreiung des VernichtungslagersAuschwitz begangen und an das Leid der MillionenOpfer erinnert. Das ist richtig und notwendig. Mit demErinnern legen wir hier im Bundestag ein Bekenntnisdarüber ab, dass wir uns der aus der Geschichte erwach-senen Verantwortung für die Gegenwart bewusst sind.Bundespräsident Gauck – auch das ist mehrfach erwähntworden – hat in einer würdigen Ansprache, wie ichfinde, einen gelungenen Bogen aus der Vergangenheit indie Gegenwart und in die Zukunft geschlagen. Es ist im-mer das Ziel in der Auseinandersetzung mit dem Natio-nalsozialismus, dass es uns gelingt, den Bogen aus derVergangenheit zu schlagen.Ich selbst bin Jahrgang 1963, also ungefähr 18 Jahrenach Kriegsende geboren. Die Verantwortung meinerGeneration ist es, zu erinnern und die Erinnerung zu be-wahren. Ich glaube, dass meine Generation – hier imParlament sitzen auch viele Vertreter – dies ganz ange-messen macht. Mich selbst hat in der Auseinanderset-zung mit dem Nationalsozialismus ein Satz immer be-sonders beschäftigt. Er steht am Ende der Ausstellungim ehemaligen Konzentrationslager Dachau. Dort steht:Diejenigen, die dies nicht wahrhaben wollen, sind dazuverdammt, es noch mal zu erleben. – Das hat mich inmeiner Erinnerung immer geleitet.70 Jahre nach Kriegsende ist Erinnerung oftmals dasEinzige, was bleibt. Es gibt allerdings auch noch Fälle,in denen eine Form der Wiedergutmachung infragekommt. Eine Opfergruppe – alle Redner haben es be-schrieben –, die in der Zeit des Nationalsozialismus undauch danach viel Leid erfahren hat, ist die der sowjeti-schen Kriegsgefangenen. Ihnen sind die vorliegendenAnträge der Fraktionen Die Linke und des Bündnis-ses 90/Die Grünen gewidmet. Worum es geht, ist auchbeschrieben worden. Mit dem Überfall auf die Sowjet-union im Juni 1941 gerieten rund 6 Millionen sowjeti-sche Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Mehrals 2 Millionen – Kollege Korte, Sie sprachen von 3 Mil-lionen; die Zahlen differieren – starben direkt an denFolgen von Hunger, Kälte und Misshandlung. Gut600 000 wurden nach Deutschland deportiert und inZwangsarbeiterlager gesteckt. In diesen Zwangsarbeiter-lagern mussten sie unter menschenunwürdigen Bedin-gungen arbeiten. Sie hatten wenig Freizeit, niedrigeLöhne; und wenn ich sage, sie hatten einen minimalenArbeitsschutz, dann ist das weit übertrieben.Wer sich damit beschäftigen möchte, der kann nichtweit von hier – nicht viel mehr als 10 Kilometer –, inmeinem Wahlkreis in Schöneweide, das Dokumenta-tionszentrum NS-Zwangsarbeit besuchen. Das Lager inSchöneweide war eines von 3 000 in Berlin. Ich wieder-hole die Zahl: Es war eines von 3 000 Zwangsarbeiterla-gern allein in Berlin. Sie können sich dort eine authenti-sche Ausstellung ansehen. Sie sehen die originalenBaracken. Sie können Biografien nachhören und nachle-sen. Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr ist geöffnet,und der Eintritt ist frei.Das Leiden der sowjetischen Kriegsgefangenen – dashaben die Vorredner richtig beschrieben – ging weiter.Denn auch nach ihrer Heimkehr wurden sie oft als Kol-laborateure beschimpft oder sogar wieder inhaftiert.Zu den Anträgen der Linken und der Grünen. BeideAnträge eint, dass eine außergesetzliche Regelung ange-strebt wird, die über die Stiftung „Erinnerung, Verant-wortung und Zukunft“ abgewickelt werden soll. Die An-träge unterscheiden sich in den Summen: Die Linkenschlagen eine Summe von 7 670 Euro vor, die Grüneneine Summe von 2 500 Euro. Beide berufen sich dabeiauf das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinne-rung, Verantwortung und Zukunft“. Das Stiftungsgesetzselbst schließt übrigens ausdrücklich die Kriegsgefange-nen aus. Deswegen schlagen Sie die außergesetzlicheRegelung vor.Am Antrag der Grünen gefällt mir, dass sie darin for-dern, die Erinnerungskultur zu intensivieren und diesüber die Gedenkstättenkonzeption des Bundes sicherzu-stellen. Ich finde, das ist ein wichtiger Aspekt, den wirnicht vergessen sollten.Sie alle haben auch über die Größe der Gruppe derOpfer gesprochen, die noch am Leben sind. Die Zahlenbasieren immer nur auf Schätzungen. Ich habe mit demVerein Kontakte-Kontakty und auch mit der StiftungEVZ telefoniert. Beide sagen übereinstimmend: Es gehtum nur noch 2 000 zu Begünstigende. Die Zahl wird alsokleiner. Man kann hinzufügen: Sie wird täglich kleiner.Beide Antragsteller wollen die Geldsumme nur alssymbolische Anerkennung verstanden wissen. Das istsehr verständlich, denn – da sind wir uns sicherlich einig– es gibt keine Summe, die so bemessen wäre, dass siedas Leid tatsächlich aufwiegen könnte.
Für die Intention beider Anträge habe ich großes Ver-ständnis. Es ist auch das Recht der Opposition, immerwieder genau die Themen aufzugreifen, bei denen dieRegierung noch nicht tätig geworden ist oder bei denenHandlungsbedarf gesehen wird. Das ist recht und billig;es gehört zum parlamentarischen Verfahren dazu. Es istallerdings die Pflicht der Regierungsfraktionen, dannauch abgewogene Entscheidungen einzufordern.Herr Kollege Beck hat darauf hingewiesen: Wir ha-ben in der vergangenen Legislaturperiode gemeinsam ei-nen Antrag gestellt.
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8116 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Matthias Schmidt
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Sie haben diesen jetzt noch einmal wortgleich einge-reicht. Sie haben nicht einmal die Zahl der noch leben-den Opfer, die Zahl von 4 000, hinterfragt, was möglichgewesen wäre. Insgesamt ist das natürlich ein Antrag,den wir noch immer gut finden. Er ist von der damaligenKoalition, von Schwarz-Gelb, abgelehnt worden. DieBegründung dafür war, dass eine isolierte Lösung fürehemalige sowjetische Kriegsgefangene nicht möglichwäre und eine internationale, umfassende Lösung anzu-streben wäre.
Man muss den Argumenten nicht unbedingt folgen,aber man muss sich ernsthaft damit auseinandersetzen.Genau das sollten wir hier tun. Denn es geht letztendlichnur um eine symbolische Anerkennung. Sie wäre einwichtiges Zeichen auch der Versöhnung. Deswegen ap-pelliere ich an die Vertreterinnen und Vertreter allerFraktionen, dass wir uns noch einmal zusammensetzenund schauen, ob wir nicht eine gemeinsame, parteiüber-greifende Lösung finden, möglicherweise eine Lösung,die in den beiden Anträgen nicht genannt wird – ein Här-tefallfonds könnte infrage kommen –; denn das wäredem Thema sehr angemessen.Vielen herzlichen Dank.
Abschließender Redner in dieser Debatte ist der Kol-
lege Dr. André Berghegger, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die De-batte zu diesem Thema führen wir in diesem Haus in un-regelmäßiger Regelmäßigkeit, und das ist auch richtigso.Bei der Vorbereitung auf diese Debatte habe ich ge-merkt, wie schwierig es insgesamt ist, dieses Thema inWorte zu fassen. Wir spüren auch bei dieser Debatte,welche Emotionen mit diesem Thema verbunden sind.Unser früherer Bundespräsident Richard vonWeizsäcker hat in seiner berühmten Rede zum 40. Jahres-tag der Beendigung des Krieges in Europa und der national-sozialistischen Gewaltherrschaft gesagt:Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, wasdamals geschah. Aber sie sind verantwortlich fürdas, was in der Geschichte daraus wird.Ich denke, dass in der Aufarbeitung und Verarbeitungdieses dunklen Kapitels unserer Geschichte bisher sehrviel geschehen ist.
Das im Zweiten Weltkrieg begangene Unrecht könnenwir nicht in Worte fassen. Es übersteigt unsere Vorstel-lungskraft; insbesondere die Verbrechen, die in deutschemNamen begangen worden sind. Die menschenunwürdigeBehandlung von Kriegsgefangenen war dabei nur einevon zahllosen Menschenrechtsverletzungen, die sich dieKriegsgegner gegenseitig zugefügt haben.Im Bewusstsein ihrer Verantwortung haben sich bis-her alle Bundesregierungen nach Kräften für Wiedergut-machung und Versöhnung eingesetzt. Deutschland istdabei immer bemüht gewesen, keine einseitigen Lösun-gen zu schaffen, sondern sich immer im Dialog mit denbetroffenen Staaten zu bewegen. Das gilt auch für dieAnerkennung des Unrechtes, das Kriegsgefangene erlit-ten haben.Es ist vorhin schon erwähnt worden, aber ich möchtees gerne noch einmal ausführen: Nach allgemeinem Völ-kerrecht wird ein Ausgleich für Kriegsgefangenschaftausschließlich durch Reparationsvereinbarungen zwi-schen den betroffenen Staaten geregelt. Das gilt weltweitohne Abstufung nach der Behandlung der Gefangenen.Es erfolgten umfangreichere Reparationsentnahmen ausder sowjetischen Besatzungszone. 1953 hat die ehema-lige Sowjetunion in einer Regierungserklärung aus-drücklich auf weitere Reparationszahlungen gegenüberDeutschland verzichtet. Dieser Verzicht gilt natürlichauch für die völkerrechtlichen Rechtsnachfolger. Keinerdieser Staaten hat bis heute weitere Ansprüche gegen dieBundesrepublik Deutschland gestellt.Der abschließende Charakter wurde noch einmal imZwei-plus-Vier-Vertrag 1990 bestätigt. Alle Beteiligtenhaben zugestimmt, dass es keine weiteren vertraglichenRegelungen über rechtliche Fragen bezüglich des Zwei-ten Weltkrieges geben wird, einschließlich der Repara-tionsfrage. Die Bundesrepublik Deutschland hat jedochfreiwillig erhebliche Beträge als humanitäre Geste zurWiedergutmachung des nationalsozialistischen Un-rechts geleistet.An dieser Stelle komme auf meine Vorredner zurück:Für ehemalige sowjetische Bürger, welche nach der Ver-folgung schwere Gesundheitsschäden erlitten hatten undsich in einer wirtschaftlich schweren Lage befunden ha-ben, wurden Beiträge geleistet. In Kooperation mitWeißrussland, Russland und der Ukraine wurden 1993Stiftungen in Minsk, Moskau und Kiew gegründet.Diese wurden mit 1 Milliarde D-Mark ausgestattet. DieVerteilung der Gelder erfolgte ausschließlich durch dieStiftungen bzw. die Regierungen vor Ort.Im Jahre 2000 wurde die Stiftung „Erinnerung, Ver-antwortung und Zukunft“ von der Bundesregierung undder Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft ins Le-ben gerufen. Durch sie wurden ehemalige Zwangsarbei-ter des NS-Regimes entschädigt. Die Stiftung wurde mit10 Milliarden D-Mark ausgestattet. Das bisherigeRechtsverständnis wurde auch hier bestätigt. Es warKonsens zwischen allen Beteiligten, Rechtsfolgen ausder Kriegsgefangenschaft grundsätzlich auszuschließen;Ausnahme: Kriegsgefangene, die in Konzentrationsla-gern waren.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8117
Dr. André Berghegger
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Nach Beendigung des Auszahlungsprogramms dieserStiftung wurden Restmittel in Höhe von 40 MillionenEuro für weitere humanitäre Maßnahmen zugunsten vonNS-Opfern im weitesten Sinne bereitgestellt. Diese Pro-gramme standen auch ehemaligen sowjetischen Kriegs-gefangenen offen. Die Partnerorganisationen in Weiß-russland, Russland und der Ukraine haben dieseMöglichkeit unterschiedlich genutzt.Fest steht: Das den Betroffenen zugefügte Leid kannniemals durch finanzielle Leistungen geheilt werden.Fest steht aber auch, dass die Bundesrepublik Deutsch-land sämtliche völkerrechtliche Vorgaben eingehaltenhat. Die Beispiele zeigen, dass über viele Jahrzehnte um-fangreiche Zahlungen geleistet wurden. In den meistenFällen waren es die Staaten in der Rechtsnachfolge derSowjetunion, die diese Zahlungen angemessen verteilthaben. Deshalb müssen wir die hier vorliegenden An-träge leider ablehnen.Schließen möchte ich mit folgendem Gedanken: DieJüngeren trifft keine Schuld an den Verbrechen währendder nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Sinneeiner persönlichen Vorwerfbarkeit, aber wir alle habendie Verantwortung dafür, dass so etwas nie wieder ge-schieht, nirgendwo.Vielen Dank fürs freundliche Zuhören.
Der Kollege Volker Beck hat um eine Kurzinterven-
tion gebeten. Dazu erteile ich ihm das Wort.
Ich wollte dazu Stellung nehmen, dass die Koalition
beantragt, die Anträge federführend an den Haushalts-
ausschuss zu überweisen. Es fällt auf, dass hier im Ho-
hen Hause – zu Recht – nur Innenausschussmitglieder
gesprochen haben. Das hat auch Tradition. Der Innen-
ausschuss hat sich seit Bestehen des Deutschen Bundes-
tages mit den Fragen der Anerkennung von NS-Unrecht,
der Rehabilitierung und der Entschädigung beschäftigt:
vom Bundesentschädigungsgesetz über die Rehabilitie-
rung der Zwangssterilisierten, der Euthanasiegeschädig-
ten, der Homosexuellen bis zur Stiftung „Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft“, die Frau Steinbach vorhin
erwähnt hat. All das wurde im Innenausschuss abgehan-
delt. Warum dieser Antrag jetzt in den Haushaltsaus-
schuss gehen soll, erschließt sich mir nicht und vermut-
lich, abgesehen von den Geschäftsführern der
Koalitionsfraktionen, auch sonst niemandem hier im
Saal. Die Leute, die sich mit diesen Fragen beschäftigen
– von Frau Steinbach bis Jan Korte –, sind alles Innen-
ausschussmitglieder. Deshalb beantragen wir Federfüh-
rung beim Innenausschuss.
Das Einzige, was man wegen der außenpolitischen As-
pekte alternativ machen könnte, wäre, den Auswärtigen
Ausschuss damit zu betrauen. Wegen 5 Millionen Euro –
das wurde gerade von den Rednern der Koalitionsfrak-
tionen vorgerechnet – den Haushaltsausschuss zu bemü-
hen, ist lächerlich. Außerdem geht das an dem Kern die-
ses moralischen, ethischen und historischen Anliegens
vorbei.
Geben Sie sich einen Ruck und lassen Sie uns das
würdig gemeinsam beraten.
Herr Kollege Dr. Berghegger, möchten Sie als letzter
Redner darauf eingehen? – Der Kollege Straubinger
wird das tun.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, dass die ganze Problematik in der Diskussion
verdeutlicht worden ist. Herr Kollege Beck, ich würde
den Haushaltsausschussmitgliedern nicht unterstellen,
dass sie sich der Problematik nicht bewusst sind
und das Thema nicht angemessen und gut behandeln
können. Wir in der Koalition sind uns einig, dass diese
Anträge, da sie Forderungen enthalten, die finanzielle
Auswirkungen haben, federführend im Haushaltsaus-
schuss diskutiert werden sollten. Deshalb plädieren wir
für Federführung beim Haushaltsausschuss.
Vielen Dank. – Ich schließe die Aussprache zu diesemTagesordnungspunkt.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 18/3316 und 18/2694 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Die Vorlage auf Drucksache 18/2694, Tagesordnungs-punkt 11 b, soll zusätzlich an den Auswärtigen Aus-schuss überwiesen werden. Die Federführung ist jeweilsstrittig. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD wün-schen Federführung jeweils beim Haushaltsausschuss.Die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünenwünschen Federführung jeweils beim Innenausschuss.Ich lasse zunächst abstimmen über den Überwei-sungsvorschlag der Fraktionen Die Linke und Bünd-nis 90/Die Grünen, Federführung jeweils beim Innen-ausschuss. Wer für diese Überweisungsvorschlägestimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Damit sind diese Über-weisungsvorschläge abgelehnt mit den Stimmen vonCDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der FraktionenDie Linke und Bündnis 90/Die Grünen bei einer Enthal-tung aus der SPD.
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8118 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Vizepräsident Johannes Singhammer
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Ich lasse nun abstimmen über die Überweisungsvor-schläge der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Feder-führung jeweils beim Haushaltsausschuss. Wer für dieseÜberweisungsvorschläge stimmt, Federführung beimHaushaltsausschuss, den bitte ich um ein Handzeichen. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit sinddiese Überweisungsvorschläge angenommen mit denStimmen von CDU/CSU und SPD bei Ablehnung derFraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen undbei einer Enthaltung aus der Fraktion der SPD.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener-gie zu der Verordnung der Bun-desregierungVerordnung zur Weiterentwicklung des bun-desweiten Ausgleichsmechanismus nach demErneuerbare-Energien-Gesetz und zur Ände-rung anderer VerordnungenDrucksachen 18/3416, 18/3482 Nr. 2, 18/3935Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdiese Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist diese Redezeit so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Johann Saathoff von den So-zialdemokraten.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Den Titel unserer heutigen Debatte muss mansich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen: Verord-nung zur Weiterentwicklung des bundesweiten Aus-gleichsmechanismus nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz und zur Änderung anderer Verordnungen. Ichweiß nicht, ob auf Anhieb jeder weiß, worüber wir heutedebattieren wollen.
Inhalt dieser Verordnung ist eigentlich, dass wir Trans-parenz wollen. Der Titel ist zugegebenermaßen ziemlichsperrig ausgefallen. Dabei haben wir noch Glück gehabt.Denn Begriffe wie Ausführungsverordnung und Anla-genregisterverordnung sind nicht enthalten. Aber dieDebatte im Plenum wird uns sicher helfen, den Men-schen draußen zu erklären, was wir wollen, und dasmöglichst mit den Worten, die sie verstehen. Prooten,watt kloar is und watt wohr is, soll unsere ostfriesischeDevise heute sein.
In der Grundsatzdebatte zur EEG-Umlagepflicht ha-ben wir uns beim letzten Mal schon mit der Frage be-schäftigt. Bei der EEG-Änderung haben wir durchausüber die Eigenstromversorgung und über die Sinnhaftig-keit dieser Eigenstromversorgung in der EEG-Umlage-pflicht debattiert. Die Netzbetreiber sollen die EEG-Um-lage erheben. Aber ich möchte an dieser Stelleklarstellen, dass nicht jeder Besitzer einer Solaranlageauf seinem Einfamilienhaus von der EEG-Umlage be-troffen ist. Denn in diesem Fall gilt die Untergrenze von10 kW. Das heißt, es ist so, dass die allermeisten Besitzervon PV-Anlagen auf ihren Wohndächern nicht davon be-troffen sein können; denn nur ganz wenige Anlagen ha-ben eine Leistung von über 10 kW. Außerdem gilt dieVerordnung erst ab dem 1. August 2014. Bestandsanla-gen sind davon also völlig ausgenommen.
Die Verordnung hat bei dem einen oder anderen denAnschein erweckt, dass ihre Umsetzung einen bürokrati-schen Aufwand darstellen würde. Hier lohnt sich genau-eres Hinsehen. Bislang hätten nämlich die Übertra-gungsnetzbetreiber die Aufgabe erfüllen müssen, unddas hätte einen deutlichen Mehraufwand bedeutet. Denndie Übertragungsnetzbetreiber haben die Daten nicht.Vielmehr verfügen die Verteilnetzbetreiber über die ent-sprechenden Daten, wo im Netz die regenerativen Anla-gen sind. Die Anlagen sind bei den Verteilnetzbetreibernam Netz angeschlossen, und die Verteilnetzbetreiberzahlen den Anlagebetreibern Einspeisevergütung. Es istalso folgerichtig, dass die Verteilnetzbetreiber die Um-lage erheben und nicht die Übertragungsnetzbetreiber.Es ist auch nicht so, dass die Verteilnetzbetreiber da-durch einen Nachteil hätten; denn sie bekommen einevolle Kostenerstattung sowohl für die laufenden Kosten,was das Personal betrifft, als auch für investive Kostenwie Computer und Software.Auch für die Anlagenbetreiber ist diese Verordnungein Vorteil; denn sie haben einen einheitlichen An-sprechpartner. Würden wir das nicht so regeln, müsstensie bei der EEG-Umlage mit den Übertragungsnetzbe-treibern reden, während sie bei der Einspeisevergütungmit den Verteilnetzbetreibern zu sprechen hätten.Wir haben im Ausschuss, meine Damen und Herren,kritische Worte dazu gehört, dass in § 8 der Ausgleichs-mechanismusverordnung der Begriff des ordentlichenund gewissenhaften Kaufmanns steht. Ich will hiermitklarstellen, dass das keine Unterstellung an alle Netzbe-treiber ist, keine ordentlichen und gewissenhaften Kauf-männer zu sein. Aber dieser Begriff tauchte leider schonin § 2 der Verordnung auf, als es um die Übertragungs-netzbetreiber ging. Jetzt steht er auch in § 8 im Hinblickauf die Versorgungsnetzbetreiber. Würden wir das nichtso regeln, dann könnte der eine oder andere spitzfindigeJurist auf die Idee kommen, wir hätten uns etwas dabeigedacht, das bei den Übertragungsnetzbetreibern deut-lich zu machen, bei den Versorgungsnetzbetreibern abernicht. Das wollen wir nicht. Deswegen schaffen wir hierKlarheit.
Ich bin froh darüber, dass wir für die Versorgungs-netzbetreiber keinen zusätzlichen Anreiz, diese Verord-nung einzuhalten, geschaffen haben. Das war ursprüng-
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Johann Saathoff
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lich einmal angedacht. Wir haben das in der Debatte imVorfelde abwenden können. Das wäre ungefähr so, alswürde ein Fußgänger eine Prämie dafür bekommen, dasser die Regel, bei Rot stehen zu bleiben, einhält. Das wäreein Systembruch im deutschen Recht, den wir mit dieserVerordnung nicht begehen wollen.Die Verordnung liefert zusätzliche Informationen fürdie Verbraucher, aber auch für die Wirtschaft, zumBeispiel zur Verteilung der EEG-Umlage auf die ver-schiedenen Verbrauchergruppen und zur Verteilung derEEG-Umlage auf Neu- und Altanlagen. Warum ist daswichtig? Weil die Argumente der Gegner der Energie-wende in der Regel lauteten: Das führt zu einer Kosten-explosion; die Kosten der erneuerbaren Energien werdensich linear nach oben entwickeln. – Der Großteil derKosten der EEG-Umlage, die wir im Moment haben,stammt allerdings von Altanlagen. Die Produktion vonStrom aus Erneuerbare-Energie-Anlagen neuerer Art istheute wesentlich günstiger, als es früher der Fall war,und die Kostenkurve hat sich abgeflacht.
Ich bin auch froh darüber, liebe Kolleginnen und Kol-legen, dass wir in Zukunft auf die Bandbreite hinsicht-lich der Prognose der EEG-Umlage verzichten wollen.Bei der Bandbreite kam es in der Vergangenheit zu einerenormen Streuung. Der Zweck, nämlich die Aussagefä-higkeit der Bandbreite, war aufgrund der großen Ampli-tude nicht mehr erfüllt. Obwohl sie so groß gestreut hat,kam es dann noch vor, dass das tatsächliche Ergebnis derEEG-Umlage über der Streuung lag, also nicht einmaldie Streuung getroffen hat. Sie machte einfach keinenSinn mehr.Deswegen ist es gut, dass wir alternativ, um eine Pla-nungsperspektive für die Industrie und die Wirtschaft,aber auch für die Verbraucher zu schaffen, dem Bundes-wirtschaftsministerium, der Bundesnetzagentur und denÜbertragungsnetzbetreibern im Hinblick auf die Pro-gnose, wohin sich die EEG-Umlage entwickelt, einenAuftrag erteilen. Das alles, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, ist Ziel dieser Verordnung. Ich denke, sie ergibt sichfolgerichtig aus der EEG-Gesetzgebung. Deswegen soll-ten die Fraktionen, die das EEG so mittragen, ihr zustim-men.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Eva Bulling-
Schröter für die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieBelastung des Eigenverbrauchs von Erneuerbare-Ener-gie-Anlagen mit der EEG-Umlage ist immer noch höchstumstritten. Ich möchte jetzt und hier nicht wieder dieDebatte über Pro und Kontra führen. Aber auffällig istschon, dass Industrie und Kohleverstromung bei der Um-lage auf den Eigenverbrauch geschont werden, währenddie Betreiber von größeren Solaranlagen oder Wind-krafträdern nun zahlen müssen.Zur Erinnerung: Sie, die SPD, wollten die EEG-Um-lage im Jahre 2014 ursprünglich auch auf die Bestands-anlagen, die sich selbst versorgen, ausweiten. Damitwären auch bisherige Kohlekraftwerke und Braunkoh-letagebaue umlagepflichtig geworden. Sie konnten sichgegenüber der CDU/CSU in diesem Punkt aber nichtdurchsetzen.Nach wie vor ist auch der Kraftwerkseigenverbrauchnicht umlagepflichtig. Davon profitieren besonders dieemissionsintensiven und ineffizienten Braunkohlekraft-werke, die bei der Erzeugung von Strom aus Braunkohleeinen hohen Stromverbrauch haben. Vorteile aus dem Ei-genverbrauch haben zu 90 Prozent fossile Anlagen.Neue Ökostrom- und KWK-Anlagen hingegen werdenzur Kasse gebeten. Ich finde, das ist eine skandalöseSchieflage zugunsten der überkommenen Energiewirt-schaft.
Aber dieses Problem gehen Sie und die Bundesregierungnicht systematisch an, und schon gar nicht dort, wo esmomentan die meisten dieser Ausfälle gibt, nämlich beider fossilen Erzeugung.Wir reden heute aber über eine kleine Detailregelung,die sich aus der EEG-Reform von 2014 ergibt. Es gehtdarum, wer die Umlage, die für Eigenverbrauch seit dem1. August 2014 anfällt, letztlich eintreiben soll. Dievorliegende Änderung der Ausgleichsmechanismusver-ordnung regelt, dass künftig nicht mehr die Übertra-gungsnetzbetreiber die EEG-Umlage auf Eigenstromeinsammeln, sondern die Verteilnetzbetreiber. Wir spre-chen von erwarteten insgesamt knapp 6 Millionen Eurofür 2015. Jetzt sagen Sie, der Vorteil bestehe darin, dassVerteilnetzbetreiber „näher an den Kunden“ dran seien.Die Verteilnetzbetreiber selbst lehnen die ihnen zuge-dachte neue Aufgabe ab. Die Zuständigkeit solle voll-ständig bei den Übertragungsnetzbetreibern bleiben. Dasist das, was sie gerne möchten. Mit der neuen Regelunghingegen müssten sich statt der bisher 4 Abteilungen dergroßen Übertragungsnetzbetreiber dann insgesamt über800 Unternehmen mit der Abrechnung von Eigenver-brauch auseinandersetzen. Genau darüber reden wir: Dasmachen dann nicht mehr 4, sondern 800, auch die klei-nen Netzbetreiber mit wenig Personal. Diese müsstenihre IT umstellen, die notwendigen Prozesse in Gangbringen und die gesamte Abwicklung bestreiten. AmEnde landet dieses Geld wie auch die „normale“ EEG-Umlage ohnehin beim Übertragungsnetzbetreiber.Aus den Reihen der Bundesregierung hieß es amMittwoch im Ausschuss lapidar, es gebe keinen Zu-wachs an Bürokratie – das haben wir vorher auch schoneinmal gehört –, sondern sogar einen Bürokratieabbau,da die Verteilnetzbetreiber sowieso in Kontakt mit denKunden vor Ort stünden.
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8120 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Eva Bulling-Schröter
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800 statt 4 – das scheint uns wenig überzeugend. Da-rum lehnen wir die Verordnung ab.
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Bareiß,
CDU/CSU.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr ver-ehrten Damen! Meine Herren! Nachdem die KolleginBulling-Schröter einen Großteil ihrer Rede damit ver-bracht hat, Regelungen der EEG-Reform von 2014 anzu-reißen und zu beschreiben, will ich auch noch einmaldarauf eingehen und vielleicht den Grund für dieEEG-Reform von 2014 schildern und auch, was unsereHauptintention für die jetzige Verordnung war. Wir woll-ten zwei Dinge mit der EEG-Reform von 2014 klären.Erstens wollten wir eine konsequente Kostensenkungvoranbringen. Wir haben versucht, die EEG-Vergütun-gen in allen Bereichen Stück für Stück zu senken. Wirhaben es dadurch erstmals in der Geschichte des EEGgeschafft, dass die Umlage nicht automatisch weiter ge-stiegen ist, sondern um 0,07 Cent gesunken ist. Wir ha-ben damit den Trend umgekehrt. Diese EEG-Reformwar somit sinnvoll für die Wirtschaft und für Privatver-braucher, weil das EEG günstiger wurde für die Men-schen.Ein wichtiger Punkt dabei war, den Eigenstromver-brauch einzubinden. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich warebenfalls sehr skeptisch, was das angeht. Aber wennman sich einmal vor Augen führt – die Zahlen liegen jaauf dem Tisch –, dass ansonsten bis zum Jahr 20203 Milliarden Euro für den EEG-Topf verloren gegangenwären, damit also der Solidargemeinschaft entzogenworden wären, ist klar, dass es zu einer riesigen Belas-tung für den Privatverbraucher als auch für die Wirt-schaft und Mittelstand geführt hätte, wenn wir das nichtgemacht hätten. Deshalb mussten wir das Thema anpa-cken und dafür sorgen, dass es nicht immer mehr Mög-lichkeiten zur Flucht aus dem EEG gibt. Das war einwichtiger Punkt. Deshalb haben wir das gemacht. Somitwird bei der EEG-Umlage auch der Eigenstromver-brauch einbezogen, nicht zu 100 oder 80 Prozent, son-dern zu Beginn nur zu 30 oder 35 Prozent, aufwachsendauf 40 Prozent. Eigenstromerzeugung ist damit immernoch günstiger, als sie vor drei oder vier Jahren war. Daswar also eine Reform, die die Weichen richtig gestellthat und die auch dazu geführt hat, dass die finanziellenBelastungen durch das EEG geringer wurden.
Der zweite Punkt ist der Systemwechsel, den wir mitdem EEG eingeleitet haben. Wir haben gesagt, wir wol-len Stück für Stück für mehr Markt und Wettbewerb imEEG sorgen. Stichworte hierfür sind „Ausschreibungs-modell“ und „Direktvermarktung“. Auch da gehen wirjetzt konsequent vor und versuchen, diese Elemente indas EEG einzubauen, um dafür zu sorgen, dass das EEGweiterhin wettbewerbsfähig ist und auch zu einem Ex-portschlager werden kann.
Wir wollen ja, dass die erneuerbaren Energien am Marktstandhalten können, marktfähig und wettbewerbsfähigsind.
Dann wird auch die Energiewende zu einem Erfolgsmo-dell, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europaund auf der Welt. – Das war der zweite Punkt, den wireingebaut haben und der jetzt ebenfalls Stück für Stückumgesetzt wird.
In Bezug auf die Verordnung, die wir heute vorlegen– der Kollege Saathoff hat ja schon die Hauptelementebeschrieben –, will ich noch einmal sagen, wie wichtiguns das Thema Transparenz war. Wir haben es jetzt ge-schafft, dass wir innerhalb des Mechanismus auch dieÜbertragungsnetzbetreiber dazu anhalten, dass sie trans-parenter darstellen, wohin die EEG-Gelder fließen undwoher sie kommen. Ich glaube, auch das wird dazu bei-tragen, dass die Diskussionen um das EEG etwas besserverlaufen, dass wir das Vertrauen in das EEG stärken
und dass man beispielsweise vor dem Hintergrund derimmer wieder von den Grünen vorgebrachten Behaup-tungen, die Industrie zahle nichts, einmal sieht, dass dieIndustrie mit einem Drittel der kompletten EEG-Umlageeinen Hauptteil zahlt, damit diese Energiewende gelingt.
Das wird dazu beitragen, dass die EEG-Diskussionen inden nächsten Jahren vernünftiger und zielorientierterverlaufen.Der dritte Punkt – auch darauf sind die Kollegen vormir schon eingegangen – ist das Thema Prognose hin-sichtlich der EEG-Umlage. Die mittelfristige Prognosein dem Entschließungsantrag, der jetzt ebenfalls demHaus vorliegt, zu thematisieren, war wichtig. Wir wol-len, dass zukünftig eine mittelfristige Prognose erstelltwird, damit man schon im Herbst sehen kann, wohin dieReise in den nächsten zwei Jahren geht. Man sollteschon berechnen können, wie hoch die EEG-Umlage imdarauffolgenden Jahr voraussichtlich ausfallen wird,
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Thomas Bareiß
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auch wenn das einen größeren Aufwand bedeutet unddie Prognose etwas ungenau ist. Aber damit hat manschon einen gewissen Hinweis, wohin die Reise geht.Wir als Politik können dann darauf reagieren und ent-sprechend steuernd einwirken. Auch das war ein Punkt,den in den Entschließungsantrag aufzunehmen uns wich-tig war.Ich glaube, beide Elemente sind richtig und notwen-dig. Mit der Ausgleichsmechanismusverordnung stellenwir die richtigen Weichen. Mit dem Entschließungs-antrag, der jetzt ebenfalls vorliegt, machen wir dieVerordnung noch schlüssiger. Insofern bitte ich Sie umZustimmung für beides.In diesem Sinne: Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Julia Verlinden für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Die Novelle der Ausgleichsmecha-nismusverordnung wurde in erster Linie nötig – eswurde schon gesagt –, um die von Ihnen, sehr geehrteDamen und Herren von der Regierungskoalition, erfun-dene Sonnensteuer, also die EEG-Umlage auf den Ei-genverbrauch, einzuziehen.
– Ist doch so.
Werfen wir doch einmal einen Blick darauf, was IhreSonnensteuer für den Ausbau der Photovoltaik bedeutet:Seit Inkrafttreten der EEG-Novelle im August letztenJahres ist der Ausbau von Sonnenstrom massiv einge-brochen.
Rechnet man die fünf Monate von August bis Dezember2014 auf ein Jahr hoch, dann kommen wir auf einenAusbau von gerade noch knapp 1 300 Megawatt. Dasentspricht nur der Hälfte des von Ihnen sowieso schon zuniedrig angesetzten sogenannten Ausbaukorridors.
Die Photovoltaik kommt unter die Räder, und das habenSie zu verantworten.
Die deutsche Solarindustrie wurde ja schon weitge-hend unter der Vorgängerregierung plattgemacht, aberdie restlichen Betriebe stehen spätestens jetzt mit demRücken an der Wand. Der Wechselrichterhersteller SMAmuss 1 600 weitere Stellen abbauen. Das liegt nicht nurdaran, dass der Heimatmarkt wegfällt; aber das ist einentscheidendes Problem. Q-Cells streicht in Bitterfeldsogar zwei Drittel der verbliebenen Stellen und wird inZukunft nur noch Forschung und Entwicklung inDeutschland betreiben.
Die Reaktion der Bundesregierung auf diese wirt-schaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Entwicklun-gen? Na ja. Die Kanzlerin spricht beim Neujahrsemp-fang des Bundesverbands Erneuerbare Energien voneiner sogenannten Atempause beim Photovoltaikausbau.Frau Merkel, ich finde, das ist eine äußerst zynischeAussage gegenüber den Menschen, die hier ihren Ar-beitsplatz verlieren.
Diese verheerende Solarenergiepolitik von Schwarz-Gelb wird jetzt von der Großen Koalition nicht bessergemacht. Es gibt kein Konzept. Geben Sie doch einfachzu, dass Ihnen die Photovoltaik vollkommen egal ist.
Kommen wir zur Windenergie. Sie sagen ja immer:Dafür haben wir im letzten Jahr mehr beim Ausbau derWindenergie geschafft. – Toller Ausgleich! Wir habenletztes Jahr zwar einen Ausbaurekord bei der Windkraftan Land gesehen, aber das nehmen Sie von der Union –Herr Fuchs hat das letzte Woche hier im Plenum gesagt –natürlich sofort zum Anlass, auf die Bremse zu treten.Dabei ignorieren Sie, dass dieser Ausbaurekord ausdem letzten Jahr nichts mit einer zukunftsfähigen Ener-giepolitik, sondern mit Ihrer verkorksten EEG-Novellezu tun hat. Denn wir erleben jetzt bei der Windenergieden gleichen Ausverkaufseffekt, wie wir ihn damalsschon bei der Photovoltaik hatten. Der jetzige Rekordbei der Windenergie kam nur zustande, weil die Anlage-betreiber fürchten müssen, dass mit den angekündigtenAusschreibungen ab 2017 gar nichts mehr läuft.Herr Fuchs – leider ist er heute nicht anwesend undkann daher auf die Debatte keinen Einfluss nehmen –sollte uns zudem einmal erklären, wie die Bundesregie-rung ihr eigenes Ausbauziel für erneuerbare Energie ei-gentlich erreichen will, wenn die Biogasbranche und diePhotovoltaik schon jetzt platt sind und der Windenergie-ausbau auch noch zurückgefahren werden soll. Ich ver-stehe langsam gar nicht mehr, was Sie da machen.Ich komme zur vorliegenden Novelle der Ausgleichs-mechanismusverordnung: Dass Ihre Sonnensteuer nichtwirklich geliebt wird, haben Sie daran merken können,dass eigentlich niemand diese EEG-Umlage auf den Ei-genverbrauch einsammeln wollte. Da hat es nicht einmalgeholfen, dass die Bundesregierung angekündigt hat,dass die Anschlussnetzbetreiber 5 Prozent der eingezo-genen Umlage behalten könnten. Immerhin haben Sie
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8122 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Dr. Julia Verlinden
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diesen Mitnahmeeffekt noch kurzfristig gestrichen. Dasmacht das Ansinnen der Verordnung trotzdem keinenDeut besser.
Meine Damen und Herren, wir fordern Sie auf, dieserNovelle der Verordnung nicht zuzustimmen. Stattdessenwollen wir, dass Sie die Sonnensteuer wieder abschaf-fen. Außerdem fordern wir Sie auf, endlich einmal einKonzept vorzulegen, das der Photovoltaik in Deutsch-land wieder auf die Beine hilft. Nur durch einen zügigenAusbau aller erneuerbaren Energien werden wir dieEnergiewende schaffen und damit die Klimaschutzzieleerreichen können.
Der Kollege Andreas Lenz hat nun für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieAusgleichsmechanismusverordnung regelt die Ausge-staltung der Förderung von Strom aus erneuerbarenEnergien. Sie legt fest, wie die Übertragungsnetzbetrei-ber EEG-Strom an der Strombörse vermarkten müssen.Außerdem legt sie fest, welche Vorgaben bei der Berech-nung und Veröffentlichung der EEG-Umlage beachtetwerden müssen.Es bedarf jetzt infolge der EEG-Reform vom letztenJahr einiger Anpassungen. Diese dienen einer höherenTransparenz sowie der Bündelung einzelner Vorschrif-ten. Außerdem geht es darum, die anteilige Erhebung derEEG-Umlage auf die Eigenversorgung effizient auszu-gestalten. Wir schaffen so vor allem auch Investitions-sicherheit für neue Anlagen, die der Eigenversorgungdienen.Frau Verlinden, wenn Sie sich die Zahlen des Aus-baus bei der Photovoltaik für 2010 und 2011 anschauen,dann sehen Sie, dass diese Übertreibungen wesentlichdazu beigetragen haben, dass wir die sinnvollenMaßnahmen in der EEG-Novelle 2014 festschreibenmussten.Vielleicht ist an dieser Stelle eine Frage angebracht:Wissen Sie, wie viele Windräder im letzten Jahr inBaden-Württemberg unter der grün-roten Regierung ge-baut wurden?
Ich bitte Sie, sich diese Zahlen bzw. diese Statistik zuGemüte zu führen.
In Bayern wurden 2014 über 200 Windräder gebaut. Dasist ein Rekordwert.
Bisher sollten die Übertragungsnetzbetreiber dieEEG-Umlage auf den Eigenverbrauch erheben. Das än-dert sich. Künftig werden das die Verteilnetzbetreibermachen. Herr Saathoff hat ausgeführt, warum das Sinnmacht. Auch die Verbraucherzentralen, Frau Bulling-Schröter, sagen, dass das der richtige Weg ist.Die Kosten, die den Verteilnetzbetreibern durch ihreneue Pflicht entstehen, können diese wie bisher im Zugeder Anreizregulierung geltend machen. Im ursprüngli-chen Verordnungsentwurf war vorgesehen, dass 5 Pro-zent der Einnahmen als zusätzliche Aufwandsentschädi-gung von den Verteilnetzbetreibern einbehalten werdendürfen. Die Koalitionsfraktionen sind sich einig, diese 5-Prozent-Regelung zu streichen. Es macht keinen Sinn,für die Erfüllung gesetzlicher Pflichten Prämien zu be-zahlen.Es wird in diesem Zusammenhang immer das Ampel-beispiel angeführt. Ein anderes Beispiel ist, dass man dasBundesverdienstkreuz nicht für die normale Pflichterfül-lung am Arbeitsplatz erhalten kann. Das steht in denRichtlinien des Bundespräsidialamtes. Genauso wenigmacht es Sinn, die Verteilnetzbetreiber für die Erfüllungihrer gesetzlichen Pflicht zusätzlich finanziell zu beloh-nen.
Durch die Novellierung der Ausgleichsmechanismus-verordnung schaffen wir außerdem mehr Transparenz.So werden die Kosten der EEG-Umlage getrennt nachAlt- und Neuanlagen ausgewiesen. Außerdem wird eszukünftig eine Aufstellung der Kostenbelastung durchdas EEG bezogen auf Verbraucher geben. So wird nochtransparenter, welcher Sektor welchen Anteil an derEEG-Umlage zahlt. Die Aufteilung erfolgt in die Sekto-ren „Haushalte“, „Industrie“, „Gewerbe, Handel undDienstleistungen“ und „Öffentliche Hand“. Um an dieserStelle einmal mehr auch zur Entmystifizierung beizutra-gen: Die Sektoren „Industrie“ und „Gewerbe, Handelund Dienstleistungen“ bezahlen schon jetzt über dieHälfte der EEG-Umlage.
– Das stimmt natürlich.
Auf eine Prognose der Bandbreite der EEG-Umlagefür das übernächste Jahr wird zukünftig verzichtet. Dervorhergesagte Wert der EEG-Umlage wich in der Ver-gangenheit oft deutlich vom tatsächlichen ab. Wir sinduns als Koalitionsfraktionen einig, dass eine valide Pro-gnose über die zu erwartende Höhe der EEG-Umlage
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8123
Dr. Andreas Lenz
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wichtig ist. Deshalb fordern wir die Bundesregierung ineinem Entschließungsantrag auf, zeitnah einen Vor-schlag dafür zu machen, wie die mittelfristige Entwick-lung der EEG-Umlage angemessen vorhergesagt werdenkann.Meine sehr geehrten Damen und Herren, die EEG-Umlage ist erstmals seit Bestehen des EEG rückläufig.Sie ist in 2015 auf 6,17 Cent pro Kilowattstunde gesun-ken. Millionen Haushalte profitieren erstmals seit14 Jahren von sinkenden Strompreisen. Das von uns no-vellierte EEG wird zu einer weiteren Stabilisierung desPreisniveaus beitragen.
Ebenso wichtig ist es, dass wir für den Industriestand-ort Deutschland einen verlässlichen Rahmen geschaffenhaben. Wir haben die besondere Ausgleichsregelung fürenergieintensive Unternehmen europarechtskonformausgestaltet. So schaffen wir Rechtssicherheit und einePerspektive für die energieintensive Industrie inDeutschland.Wir müssen jetzt die Integration der erneuerbarenEnergien weiter vorantreiben. Beim Ausbau der erneuer-baren Energien müssen wir zukünftig die Systemdien-lichkeit noch stärker berücksichtigen. Die Diskussionüber das zukünftige Strommarktdesign muss zielgerich-tet verlaufen. Marktwirtschaftliche Ansätze zur Ge-währleistung der Versorgungssicherheit, also des Spit-zenausgleichs, dürfen kein Tabu darstellen. Auch aufeuropäischer Ebene müssen wir weitere Fortschritte er-zielen. Das Stichwort heißt „Connecting Europe“.Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Energie-wende ist ohne Zweifel eine Generationenaufgabe. DieNovelle der Ausgleichsmechanismusverordnung ist einsinnvoller Beitrag zum Gelingen. Ich bitte um Zustim-mung.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Energie zu der Verordnung
der Bundesregierung zur Weiterentwicklung des bundes-
weiten Ausgleichsmechanismus nach dem Erneuerbare-
Energien-Gesetz und zur Änderung anderer Verordnun-
gen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3935, der Ver-
ordnung der Bundesregierung auf Drucksache 18/3416
mit der vom Ausschuss beschlossenen Maßgabe zuzu-
stimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/3935 empfiehlt der Ausschuss, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr und digitale
Infrastruktur zu dem Antrag der
Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Beate Walter-
Rosenheimer, Harald Ebner, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Maritime Ausbildung in Kooperation mit den
Küstenländern neu ausrichten
Drucksachen 18/2748, 18/3895
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Hans-Werner Kammer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mit demheute vorliegenden Antrag wollen unsere Kolleginnenund Kollegen von den Grünen den maritimen StandortDeutschland retten. Das ist ein sehr ambitioniertes Ziel.
Den Grünen ist bekannt, dass ich ein bekennenderFreund ihrer Fraktion bin und von daher ihre Anträgesehr sorgfältig lese. Ich habe auch diesen Antrag sehrsorgfältig gelesen und muss mir nun die Frage stellen:Wer rettet uns eigentlich vor den Anträgen der Grünen?
Denn ich habe darin nichts gefunden, was uns noch be-wegen könnte.
Statt diesen Antrag zu verfassen, liebe Frau KolleginWilms, hätten Sie besser einige Briefe an Ihre Gesin-nungsgenossen verfasst, die in Bremen, Niedersachsenund Schleswig-Holstein Regierungsverantwortung tra-gen. Denn maritime Ausbildung ist in erster Linie Län-dersache. Sie wissen selber sehr genau, wie peinlich ge-nau die Bundesländer auf ihre Zuständigkeit achten.
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8124 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Hans-Werner Kammer
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– Es kommt gleich noch schlimmer für Sie. –
Ihr Engagement wäre auf dieser Ebene sicherlich hilfrei-cher gewesen.Aber sei es drum: Schauen wir uns Ihren Antrag ein-mal an. Schon Ihre Zustandsbeschreibung ist falsch.Zwar hat die Zahl der Studierenden und Auszubildendenin maritimen Berufen gegenüber den Boomjahren in derTat deutlich abgenommen. Aber Sie wissen doch genau,dass sich die Situation im letzten Jahr stabilisiert hat. Esgibt wieder immerhin 3 Prozent mehr Neueinsteiger;ihre Zahl ist von 426 auf 441 gestiegen. Die Situation istkeinesfalls rosig, aber auch nicht so schwarz, wie Sie esuns glauben machen. Das liegt insbesondere an der gu-ten Arbeit der Stiftung Schifffahrtsstandort Deutschland,die wir in der vergangenen Legislaturperiode gegen alleWiderstände – auch der Grünen – eingerichtet haben.Nun zu Ihren Forderungen: Der Bund soll ein mariti-mes Ausbildungskonzept erarbeiten und dafür Sorge tra-gen, dass Ausbildungs- und Studiengänge überprüft undüberarbeitet werden. Wie wir alle wissen, ist das Länder-hoheit. In der Bringschuld ist daher nicht der Bund, son-dern es sind die fünf Küstenländer. Ich möchte in diesemZusammenhang eines anmerken: Die maritime Ausbil-dung in Deutschland ist sehr gut und weltweit anerkannt.Das hat uns sogar der Verband Deutscher Reeder vor ei-nigen Tagen bestätigt.Außerdem soll der Bund sich nach Ihren Vorstellun-gen für mehr Praktikumsstellen einsetzen und diese überdie Stiftung Schifffahrtsstandort Deutschland auch nochfördern. Ich denke, hier ist die Schifffahrtsbranche inerster Linie selbst gefordert. Schließlich geht es um ihrzukünftiges Fachpersonal.In Ihrem Antrag sprechen Sie auch die Schifffahrts-beihilfen des Bundes an. Ich denke, dass der Bund seinerPflicht zur Förderung der Seeschifffahrt durch die Ton-nagesteuer, den Lohnsteuereinbehalt, die Zuschüsse zuden Lohnnebenkosten und die Ausbildungsplatzförde-rung auf jeden Fall gerecht wird. Optimierungen sindtrotzdem nicht ausgeschlossen.
Das ist Ihnen bekannt. Beispielsweise wird die Stiftungab diesem Jahr erstmals auch Fortbildungsmaßnahmenvon nautischem und technischem Seepersonal fördern.Bleiben noch Ihre Forderungen zur Behebung desNachwuchsmangels bei den Lotsen und zur Modernisie-rung der Flaggenstaatsverwaltung. Das Bundesverkehrs-ministerium ist in beiden Fragen bereits tätig geworden.Auch da wärmen Sie nur das auf, woran dank Staatsse-kretär Ferlemann schon lange im Ministerium gearbeitetwird.
Brauchbare neue Ideen, die dem SchifffahrtsstandortDeutschland weiterhelfen, beinhaltet Ihr Antrag leidernicht.Meine Damen und Herren, das Problem ist auch einanderes: Wir haben es nicht mit einer Ausbildungskrise,sondern mit einer Krise der Seeschifffahrt im Allgemei-nen zu tun. Der Arbeitsmarkt für deutsche Seeleute istsehr schwierig. Deshalb hat das Interesse der Auszubil-denden an dieser Branche abgenommen. Wir müssen dieBeschäftigung deutscher Seeleute wieder attraktiv ma-chen.
Änderungen an der Ausbildung helfen dabei wenig, FrauWilms. Derzeit laufen Gespräche im maritimen Bündnisdarüber, wie wir die deutsche Flagge wieder attraktiv ge-stalten können; denn nur so schaffen wir wieder einenfunktionierenden Markt für deutsches Seepersonal. Biszur Nationalen Maritimen Konferenz in Bremerhavenwerden wir ein geeignetes Konzept vorlegen.Uns unterscheidet einiges von Ihnen. Während Sievon Parteitag zu Parteitag arbeiten,
arbeiten die Bundesregierung und die CDU/CSU-Frak-tion ständig an der Lösung von Problemen. Gerade diemaritime Wirtschaft liegt uns am Herzen. Sie können si-cher sein, dass wir mit einer besseren Ausbildungsförde-rung insgesamt den maritimen Standort Deutschlandstärken.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der Tat befinden sich die maritime Wirtschaft und da-mit auch die maritime Ausbildung in schwerer See. Siehaben gesagt, die jungen Leute interessierten sich nichtmehr für die Ausbildungsberufe, weil sie nicht genauwissen, ob sie einen Ausbildungsplatz bekommen undob sie dann, wenn sie ihre Ausbildung erfolgreich absol-viert haben, einen Arbeitsplatz bekommen. Das moti-viert keinen jungen Menschen zu Beginn seines Berufs-lebens, zu sagen: Ja, ich will diesen Job machen.Wir müssen die Ausbildung bei den Seeberufen wie-der attraktiv machen. Das heißt, wir müssen den jungenLeuten beweisen, dass es möglich ist, beispielsweisewährend des Studiums zeitnah einen Praktikumsplatz zubekommen. Uns schreiben junge Leute, die in der Aus-
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Herbert Behrens
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bildung an der Hochschule Wismar sind, dass sie einemPraktikumsplatz quasi hinterherschreiben müssen, umeinen der begehrten Plätze zu bekommen. Die Nautiker,die ein Praktikum nachweisen müssen, und die anderen,die während ihres Studiums ein Praktikumssemester ma-chen wollen, müssen sich teilweise monatelang um ei-nen Platz bewerben und verlieren dabei entweder dieLust an ihrer Ausbildung oder lassen sich beim Studiumzurückfallen, weil sie wissen, dass sie den nächstenPraktikumsplatz erst in ferner Zukunft bekommen wer-den. Eine solche Erfahrung sollten junge Leute zu Be-ginn ihrer Ausbildung nicht machen. Sie brauchen einePerspektive, wenn es um einen vernünftigen Arbeits-platz geht. Das sind wir ihnen schuldig.
Damit sind wir am entscheidenden Punkt. Die Reederkommen ihrer Verpflichtung nicht nach.
Das von Ihnen erwähnte maritime Bündnis enthält das,was die Reeder liefern wollten und sollten, wenn sieweiterhin öffentliche Förderung haben wollen. Die Ree-der haben sich verpflichtet, wieder Schiffe unter deut-sche Flagge zu nehmen, damit sie jungen Leuten und aus-gebildeten Seefahrern Jobs bieten können.500 Schiffe seien nötig, sagt die Gewerkschaft Verdi,um dem gesamten nautischen Ausbildungsbedarf gerechtzu werden. 500 Schiffe, das sind 100 weniger, als die Ree-der zu Beginn des maritimen Bündnisses zugesagt haben.600 von 3 000 Schiffen wollten sie unter deutscherFlagge fahren lassen, um jungen Leuten und ausgebilde-ten Seefahrern Perspektiven zu bieten.Das maritime Bündnis, 2003 geschmiedet, bedeutet,dass wir als Bund weitgehend auf Steuereinnahmen ver-zichten, damit die Reeder im Gegenzug bereit sind,Schiffe unter deutscher Flagge fahren zu lassen. DieReeder sind dieser Verpflichtung nicht nachgekommen.Wie mir berichtet wurde, sind es heutzutage 183 Schiffe,die unter deutscher Flagge fahren. Das sind viel zu we-nige, um die Ausbildungsplatzkatastrophe zu verhin-dern. Da müssen wir ansetzen.Der Antrag der Grünen wird aber der Situation nichtgerecht. Wir sind das Bündnis eingegangen in der An-nahme, dass alle drei Seiten – Gewerkschaft, Bund undReeder – ihren Verpflichtungen nachkommen. Wenn eserneut Gespräche im maritimen Bündnis gibt, dann istder Bund gefordert, die Reeder auf ihre Selbstverpflich-tung hinzuweisen. Sie müssen ihren Versprechen nach-kommen. Ohne Leistung gibt es keine Gegenleistung.Das ist doch in der Wirtschaft üblich. Das müssen dieReeder erkennen. An diesem Punkt muss angesetzt wer-den. Es sollte nicht – wie im Antrag der Grünen – derVersuch unternommen werden, die Ausbildung anderszu regeln. Die Reeder sind am Zug.
Die Kollegin Dr. Birgit Malecha-Nissen hat für die
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor eini-gen Tagen habe ich die Geschichte eines Schiffsmecha-nikers gehört: 80 Bewerbungen und keine Aussicht aufAnstellung. Wohin mit seinen Fähigkeiten, seiner Erfah-rung, seiner Energie, wenn es keinen adäquaten Arbeits-platz gibt? Dieses Beispiel zeigt deutlich, in welchemDilemma deutsche Seeleute angesichts ihrer Arbeitssi-tuation stecken.Es ist wichtig und richtig, auf die Probleme bei Aus-bildung und Beschäftigung in der Seefahrt hinzuweisen.Ja, wir müssen dringend einem drohenden Verlust desmaritimen Know-hows entgegenwirken. Schifffahrt undmaritime Wirtschaft gehören zu den wichtigsten Wirt-schaftszweigen in unserem Land und haben Deutsch-lands führende Position im Exportbereich gestärkt. Da-mit liefern sie einen wichtigen Beitrag zu Wachstum undBeschäftigung in unserem ganzen Land. Doch auch diemaritime Wirtschaft, die zudem wie kaum ein andererSektor im globalen Wettbewerb steht, hat die Folgen derFinanzkrise zu spüren bekommen. Deshalb haben wir imKoalitionsvertrag klar formuliert: Wir werden die mari-time Wirtschaft stärken.
Die Arbeitssituation in der deutschen Seeschifffahrtist in Seenot geraten. Gute Arbeit und gute Ausbildunggehören jedoch zusammen. Die maritime Ausbildung inDeutschland wurde in den letzten zwei Jahren neu struk-turiert. Im September 2013 ist die Verordnung über dieBerufsausbildung der Schiffsmechaniker in Kraft getre-ten. Gleichzeitig wurde auf der Kultusministerkonferenzder länderübergreifende Lehrplan der KüstenländerMecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schles-wig-Holstein für den Ausbildungsberuf Schiffsmecha-niker verabschiedet. Ebenso wurde 2014 die neueSeeleute-Befähigungsverordnung erlassen. Auch diesgeschah in enger Abstimmung mit den Küstenländern.Mit diesen neuen Verordnungen wurde die maritimeAusbildung an die international geltenden Vorschriftenangepasst.Kein Schiff kann den Nord-Ostsee-Kanal oder denHamburger Hafen ohne Lotsen befahren. Vor dem Hin-tergrund der bestehenden Personalknappheit, besondersbei den Kanallotsen, wurde bereits 2008 ein verkürzterZugangsweg zum Beruf entwickelt, und zwar in Zusam-menarbeit mit der Bundeslotsenkammer und der Lotsen-brüderschaft des Nord-Ostsee-Kanals. Der neue Ausbil-dungsweg für die Kanallotsenanwärter reduziert dieSeefahrtzeiten von 48 auf 24 Monate. Bisher sind circa40 Anwärter diesen Ausbildungsweg mit großem Erfolggegangen.
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8126 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Dr. Birgit Malecha-Nissen
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Deshalb ist die gemeinsame Arbeitsgruppe des Ver-kehrsministeriums und der Bundeslotsenkammer wich-tig. Hier werden grundsätzlich die Zugangsvorausset-zungen für alle Seelotsen auf den Prüfstand gestellt. Esbleibt allerdings festzuhalten, dass wir dazu auch dasEngagement der Reeder brauchen.Wir brauchen also keine neue Ausrichtung der mariti-men Ausbildung. Wir bilden bereits hervorragendeFachkräfte aus. Das Potenzial ist da. Was wir brauchen,das sind Arbeitsplätze. Die Absolventen der Hochschu-len müssen Anstellungsplätze finden, um die internatio-nal vorgeschriebene Seefahrtzeit und somit auch ihreAusbildung abzuschließen. Wir müssen dafür sorgen,dass die weitere Ausflaggung deutscher Schiffe verhin-dert wird, damit genügend Arbeitsplätze zur Verfügungstehen.
Fuhren im Jahr 2000 noch rund 700 Schiffe unterdeutscher Flagge, hat sich die Zahl heute halbiert. Demsteht insgesamt eine deutsche Handelsflotte mit rund3 500 Schiffen gegenüber. Um den SchifffahrtsstandortDeutschland im internationalen Wettbewerb zu stärken,hat der Bund in den vergangenen Jahren wichtige Wei-chen gestellt. Es wurden bereits die Tonnagesteuer, derLohnsteuereinbehalt, die Fördermittel zur Senkung derLohnnebenkosten, die Ausbildungsförderung und dieSchiffsbesetzungsverordnung genannt. Leider konntendiese Maßnahmen den bisherigen Trend zu weitererAusflaggung nicht aufhalten. So werden wir in Zukunftgenau prüfen müssen, wo wir verbessern und nachbes-sern müssen.Lassen Sie mich das an den Beispielen des Lohnsteu-ereinbehaltes und der Ausbildungsförderung näher aus-führen. Die Einführung des Lohnsteuereinbehaltes von40 Prozent führt bereits zu einer Reduzierung der Perso-nalkosten. Das ist erst einmal gut. Hier muss jedoch wei-tergedacht werden, und das wird auch diskutiert. Einmöglicher Weg wäre, den Lohnsteuereinbehalt auf100 Prozent zu erhöhen, wie das übrigens auch in ande-ren europäischen Ländern passiert. Dazu haben jedochdie Bundesländer ein Mitspracherecht. Aber um es ganzklar zu sagen: Unser Ziel ist, den Verlust von Arbeits-plätzen zu stoppen. Deshalb müsste eine Änderung miteiner klaren, verbindlichen Zusage, zum Beispiel für ta-rifliche Arbeitsverträge, gekoppelt werden.
Bei der Ausbildungsförderung zeigen auch die deut-schen Reeder ihre Verantwortung für die maritime Aus-bildung. Dazu wurde im Jahre 2012 die Stiftung Schiff-fahrtsstandort Deutschland gegründet. 2014 wurden über20 Millionen Euro für die finanzielle Unterstützung derBerufsausbildung ausgezahlt.Wie finanziert sich die Stiftung? Das Flaggenrechtsge-setz – ein schwieriges Wort; auch das Gesetz ist ziemlichumfangreich – verpflichtet die Schifffahrtsunternehmenbei geplanter Ausflaggung, entweder auf dem jeweiligenSchiff auszubilden oder alternativ die Ausbildungsver-pflichtung finanziell zu kompensieren und dann in dieStiftung einzuzahlen. Die Höhe des Betrages richtet sichnach der Schiffsgröße und liegt zwischen 2 000 und16 000 Euro – ein doch relativ kleiner Betrag, gemessenan dem, was ein Ausbildungsplatz kosten würde.Die Bundesregierung wird dem Deutschen Bundestagüber die Erfahrungen mit der Stiftung und den Aus-flaggungsgenehmigungen bis Ende 2016 berichten. Ichpersönlich wünsche mir den Bericht noch bis zur Natio-nalen Maritimen Konferenz im Herbst, um hier gegebe-nenfalls regulativ nachbessern zu können.Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnenund Kollegen, es ist viel für die maritime Ausbildung aufden Weg gebracht. Das Maritime Bündnis für Ausbil-dung und Beschäftigung zwischen Bundesregierung,Küstenländern, Reedern und Gewerkschaften leistet guteArbeit. Allerdings zeigt die Arbeitssituation in dieserBranche: Ausruhen ist nicht. Wir brauchen dringend einUmsteuern aus der Sackgasse. Der Verlust von Arbeits-plätzen muss gestoppt werden.Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zeigtleider keine Problemlösung auf. Mit Praktika und einerNeuausrichtung der maritimen Ausbildung schaffen wireben keine regulären Arbeitsplätze. Deshalb ist uns alsSPD-Fraktion dieser Antrag zu kurz gegriffen. Was wirbrauchen, sind die Sicherung der Arbeitsplätze und da-mit die Sicherung unseres maritimen Know-hows. Füruns gehören gute Ausbildung und gute Arbeit zusam-men.
Unsere jungen Frauen und Männer haben das Recht aufeinen erfolgreichen Start ins Berufsleben.Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Valerie Wilms hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Es sind durchaus auch Gäste da, wenn auch nur in gerin-ger Anzahl. Es ist schön, dass sie sich mit solch einemThema beschäftigen. Vom Kollegen Kammer bin ich jaschon so richtig abgewatscht worden, als ob ich nichtwüsste, was da los ist.Die Situation in der Branche ist absolut katastrophal.
Kollege Behrens sprach von 183 Handelsschiffen unterdeutscher Flagge im sogenannten Monitoring-Bestand;nach meinem heutigen Kenntnisstand sind es nur noch170 Schiffe. Es geht also abwärts. Wenn wir nicht unmit-telbar handeln, gibt es keine deutsch beflaggten Han-delsschiffe mehr – außer unseren Behördenschiffen; diewerden natürlich deutsch beflaggt bleiben. Wenn allerestlichen Handelsschiffe nicht mehr unter deutscherFlagge fahren, brauchen wir uns um deutsche Ausbil-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8127
Dr. Valerie Wilms
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dung und Ähnliches nicht mehr zu kümmern. Ist dasetwa Ihre Absicht? Diesen Verdacht habe ich so ein biss-chen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir so weiter-machen wie bisher, dann ist die deutsche Flagge weg,dann ist auch das deutsche Ausbildungssystem weg, unddann brauchen wir uns um das Ganze eigentlich nichtmehr zu kümmern. Lotsen holen wir dann von den Phi-lippinen. Auch dort bekommt man nämlich eine guteAusbildung. Übrigens waren früher Europäer auf denPhilippinen und anderswo in Asien als Lotsen unter-wegs. Das kann ja auch einmal umgekehrt sein, wenn esso gewünscht ist. Das Ausbluten des deutschen See-schiffsregisters ist wirklich dem fehlenden Reformwillendieser und der Vorgängerregierung geschuldet.Dass es aber auch anders geht, das zeigen uns unsereNachbarn in Europa. Hierzulande werden die frischenAbsolventen erst gar nicht eingestellt. Die Ausbildungist nämlich an Praxiserfahrung auf hoher See geknüpft.Wenn man diese Erfahrung nicht macht, kann man seineAusbildung nicht abschließen. Das heißt, das Patent, dasman für eine gewisse Zeit besaß, verfällt, da man esnicht ausfahren kann. Da Praktikantenplätze an Bordfehlen, ist die Anzahl der Studienanfänger im Fach Nau-tik auf rund ein Dutzend pro Standort und Semester ge-sunken. Das sind harte Fakten, die mir am 23. Januar2015 in Bremen noch einmal bestätigt wurden. HerrKammer, ich weiß nicht, in welcher Welt Sie leben, wo-her Sie diese Daten haben. Vielleicht ist der Sprechzettelaus dem Ministerium nicht immer optimal.
Der Nachwuchs bricht weg und damit auch das nauti-sche Know-how in Deutschland. Hier besteht also wirk-lich dringender Handlungsbedarf. Darum haben wir die-sen Antrag eingebracht.Die Wirtschaft, liebe Kolleginnen und Kollegen,muss wirklich mehr Verantwortung für den maritimenStandort übernehmen. Das bedeutet: mehr Engagementfür eine bedarfsorientierte Ausbildung.
Was können funktionierende Lösungen sein? Be-stimmt nicht die derzeitige Nummer mit der „StiftungSchifffahrtsstandort Deutschland“! Denn Praktikanten-plätze an Bord, die wir dringend benötigen, werden da-rüber nicht gefördert, und zwar deshalb, weil sie von denReedern auch gar nicht so richtig gewünscht werden.Nötig ist eine unmittelbare Verantwortung der Arbeitge-ber – das sind die Reeder – für die Ausbildung, auch anden Hochschulen.Die Wirtschaft an Land macht uns das vor. Sie stelltjunge Menschen ein und ermöglicht ihnen während derArbeitszeit ein Studium. Nur mit diesem dualen Stu-dium, also mit der direkten Verantwortungsübernahmedurch die Reeder, kommen wir aus der Ausbildungskrisein der Nautik und bekommen dann auch vernünftig undgut ausgebildete Nautiker.Bisher, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus denRegierungsfraktionen, habe ich hier noch keinen Ände-rungswillen von Ihnen gesehen – Kollege Ferlemann blät-tert in der Fachzeitschrift –,
keine Vorschläge dazu, wie Sie die maritime Ausbildungerfolgreich neu ausrichten wollen. Fehlanzeige! Dakommt nichts!Es trifft sich in regelmäßigen Abständen die maritimeBranche mit Vertretern der Politik zur Maritimen Konfe-renz, um sogenannte weise Beschlüsse zu fassen. WennSie wollen, dass diese Veranstaltung nicht endgültig zurLachnummer wird, müssen Sie jetzt handeln; ansonstenverkommt sie zu einem Kaffeekränzchen. Das haben wirja schon einmal gehabt: Da gab es ein Kaffeekränzchenmit einer besseren Campingausrüstung in einem neu ge-schaffenen Hafen.Bringen Sie die Bündnispartner Bund, Länder, Reederund Arbeitnehmervertreter an einen Tisch, und stellenSie die maritime Ausbildung auf neue Beine!
Kollegin Wilms, Sie müssen bitte einen Punkt setzen.
Frau Präsidentin, ich bin knapp am Ende.
Im Oktober dieses Jahres wird in Bremerhaven die
nächste Maritime Konferenz stattfinden. Ich vermisse
hier unseren maritimen Koordinator. Wo steckt der?
Nicht vorhanden! Das ist die Aussage, die wir eigentlich
nicht gebrauchen können. Kümmern Sie sich wirklich
ernsthaft um die maritime Branche, und unterstützen Sie
unseren Antrag mit der praktischen Umsetzung! Damit
würden Sie der Branche wirklich etwas Gutes tun.
Danke.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun die Kollegin
Alexandra Dinges-Dierig.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Wilms, meinenSie wirklich – ich war jetzt doch etwas überrascht; ichwar auf eine völlig andere Rede von Ihnen vorbereitet;wir kennen uns ja nun ein bisschen –, dass Sie mit IhremAntrag, mit Ihrer Forderung nach einer Evaluierung derAusbildungs- und Studiengänge – das alles gibt und gabes schon – und mit der Forderung nach Anpassung desSeelotsgesetzes die Anzahl der Schiffe, die unter deut-scher Flagge fahren, erhöhen? Ich glaube, das ist wirk-lich zu kurz gesprungen.
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8128 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Alexandra Dinges-Dierig
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Deshalb möchte ich jetzt an dieser Stelle einmal einenkleinen Schwenk in die Geschichte machen. Einige vonIhnen wissen: Ich komme aus dem schönen Lübeck. Bei„Lübeck“ klingelt es vielleicht auch, und man denkt anSchifffahrt und Maritimes.
Lübeck, auch genannt „Königin der Hanse“, ist untrenn-bar mit dem Aufstieg des deutschen Handels und derdeutschen Seefahrt verbunden. Daran sollten wir uns im-mer erinnern. Auf Kooperation ehrbarer Kaufleute zumWohle der Städte fußend, ist diese Hanse – das meine ichganz bewusst – bis heute ein Vorbild für die maritimeWirtschaft.Ein Merkmal damals war die Verflechtung der unter-schiedlichen maritimen Kompetenzen in den damaligenHansestädten – wohlgemerkt: bis zu 200 –: Kaufleute,Seefahrer, Schiffbauer, sie alle waren auf engem Raummit ihrem städtischen Heimatstandort verbunden. Siewaren gemeinsam aktiv unterwegs, um sich den Heraus-forderungen von außen, die sich im Zuge der Zeit immerwieder geändert haben, zu stellen. Das sind Herausforde-rungen, die vielleicht schon ein bisschen in die heutigeZeit reichten. Auch damals haben sie sich nämlich zu-sammengetan und gesagt: Wie können wir uns gegen-über der wachsenden Konkurrenz aus anderen Staatenaufstellen? Und sie organisierten auch damals schon dieAusbildung ihres Nachwuchses.Ich denke, meine Damen und Herren, dass die Schiff-fahrt damals und heute so international aufgestellt warund ist wie kaum eine andere Branche. Aber es gibt einganz entscheidendes Kennzeichen, wenn wir über Aus-bildung nachdenken, nämlich: In keiner anderen Bran-che orientieren sich die Berufe so stark an internationa-len Standards und an einem internationalen Regelwerkwie in der maritimen Branche. Wohlgemerkt: In eineminternationalen Regelwerk sind auch die Ziele der Aus-bildung festgelegt. Dadurch entsteht ein völlig andererEinfluss auf den internationalen Wettbewerb selber, demwir uns stellen müssen; wir haben heute Abend schon ei-niges darüber gehört.Ich gebe auch gerne zu, liebe Frau Wilms: Die Zu-kunft sieht im Moment, was die maritime Wirtschaft undden Nachwuchs angeht, nicht so ganz leicht aus.
Der Nachwuchsmangel ist spürbar und vor allem auchfür die Zukunft absehbar, wenn wir nicht etwas tun. Werist „wir“? Genau darum geht es. Ihr Antrag – das sagteich zu Beginn – greift zu kurz. Die Lösung des Problemsfinde ich nicht in Ihrem Antrag.
Anstatt ganz klar einen Kurs zu markieren, vertun Siesich in einem Klein-Klein oder in Punkten, die bereitsabgearbeitet sind,
wie wir eben von der Kollegin
bezüglich der Überarbeitung bei den Schiffsmechani-kern gehört haben. Sie sprechen von einem bedarfsorien-tierten maritimen Ausbildungskonzept. Das ist Ihr Text.
Aber Sie sagen nicht dazu, wie Sie das verstehen. Wasich vermisse, liebe Kolleginnen und Kollegen von denGrünen: Wo bleibt denn Ihr Bekenntnis zur Zukunftsper-spektive der deutschen maritimen Wirtschaft?
Wo ist sie im Bereich der Technologie, im systemischenBereich, aber auch im personellen Bereich? Die Sacheist eben komplizierter, als Sie uns mit Ihrem Antrag sug-gerieren wollen.Der Bund hat einige Vorleistungen erbracht; sie wur-den genannt. Wir unterstützen die Ausbildung im mariti-men Bereich. Aber ich muss an dieser Stelle sagen: GuteAusbildung, berufliche Perspektiven können wir nichtallein mit Geld kaufen. So funktioniert es nicht. DerSchlüssel ist, diese Herausforderungen, vor denen wir inder maritimen Wirtschaft stehen, wirklich zunächst ein-mal zu identifizieren, um dann alle zusammen in einBoot zu holen
und gemeinsam zu überlegen, wie wir das maritimeKnow-how Deutschlands sichern können.
Das schließt die Länder genauso ein – wir haben esgehört – wie auch Hochschulen und andere Ausbil-dungsstätten sowie die Reeder und auch uns als Bund.Deshalb, meine Damen und Herren: In meinen Augenwerden wir weder mit neuen Vorschriften noch mitneuen zentralen Vorgaben die Zukunft unseres mariti-men Ausbildungsstandorts Deutschland entscheidendbeeinflussen oder gar sichern.
Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8129
Alexandra Dinges-Dierig
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Die maritime Wirtschaft ist eine Zukunftsbranche undfür Deutschland als Exportnation unverzichtbar.
Unser Ziel muss es deshalb sein, dass wir alle gemein-sam daran arbeiten, unsere jahrhundertealte maritimeWirtschaft in dieser sich verändernden globalen Welt inihrer Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit.
Nur dann, wenn uns das gelingt, werden wir auch
morgen noch Ausbildungsplätze und Auszubildende,
Studienplätze und Studierende in der maritimen Wirt-
schaft haben.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti-
tel „Maritime Ausbildung in Kooperation mit den Küs-
tenländern neu ausrichten“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/3895,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 18/2748 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 b und 9 a auf:
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Niema
Movassat, Dr. Axel Troost, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für ein internationales Staateninsolvenzver-
fahren
Drucksache 18/3743
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Dr. Gerhard Schick, Annalena Baerbock,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Resolution der Vereinten Nationen für ein
multilaterales Rahmenwerk zur Restruktu-
rierung von Staatsschulden umsetzen – Jetzt
aktiv den Arbeitsprozess der Vereinten Natio-
nen mitgestalten
Drucksache 18/3916
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Niema Movassat für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Wenn Unternehmen oder Privatleute pleite sind, greiftein Insolvenzverfahren. Das schützt Schuldner davor,Gläubigern rechtlos ausgesetzt zu sein. Für Staaten, dieüberschuldet sind, gibt es das nicht. Sie sind dem Wohl-wollen der Gläubiger – das sind insbesondere andereStaaten, Banken und Hedgefonds – ausgeliefert. DaGläubiger meist auf unbedingte Rückzahlung pochen,muss der Schuldnerstaat meist Kürzungen vornehmen.Lehrer werden entlassen, Sozialleistungen gestrichen,Kranke nicht behandelt. Die Folgen treffen immer dieärmsten Menschen. Damit das nicht so weitergeht, brau-chen wir endlich ein gerechtes Insolvenzverfahren fürStaaten.
Das sehen auch die Vereinten Nationen so. LetztesJahr beschlossen sie auf Antrag Boliviens und vieler an-derer Länder des Südens, ein Verfahren zur Staateninsol-venz zu schaffen. Deutschland gehörte zu den elf Staa-ten, die mit Nein stimmten. Ich habe dafür keinVerständnis,
vor allem, weil Deutschland wegen des Zweiten Welt-krieges selbst erhebliche Schulden hatte und das Wirt-schaftswunder nur dank der Streichung dieser Schulden1953 durch die internationale Gemeinschaft möglichwar. Deutschland hat sich international mit seinem Neinins Abseits gestellt. Die Linke hat einen Antrag vorge-legt, um das zu korrigieren.
Bisher verfolgt die Bundesregierung die Linie: WerSchulden hat, soll tun, was man ihm sagt. Er hat keineRechte. – Menschen machen das nicht ewig mit.Schauen wir nach Griechenland.
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8130 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Niema Movassat
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Nachdem die Diktate der Gläubiger die Bevölkerung inArmut gestürzt haben, haben sie eine neue Politik ge-wählt. Sie wollen, wie es der neue Ministerpräsident aus-drückt, auf ihren Füßen gehen und nicht auf den Knienrutschen.
Was Griechenland erlebt, kennen viele Länder desSüdens von den desaströsen Strukturanpassungspro-grammen der 80er- und 90er-Jahre:
Schuldenpolitik als Machtpolitik, als Politik, um Ländergefügig zu machen.
Weil Staaten massiv kürzen müssen, um die Kreditezu bedienen, gibt es auch keine Investitionen, keinWachstum. Dadurch wachsen die Schulden erst recht.Wieder Griechenland als Beispiel: Vor dem EU-Kür-zungsdiktat betrug die Staatsschuldenquote 110 Prozent,heute 170 Prozent.In dieser Woche starten bei der UN die Verhandlun-gen zur Ausgestaltung des Staatsinsolvenzverfahrens.Dorthin gehören die Verhandlungen. Dort haben dieSchuldner, insbesondere die Entwicklungsländer, eineStimme. In den von Gläubigern dominierten Organisa-tionen, wie dem Internationalen Währungsfonds, hattensie die nie ausreichend.
Nun gibt es die Chance auf ein gerechtes Verfahren,das nicht von den Gläubigern diktiert wird, wenn Staatenüberschuldet sind. Dann werden hoffentlich alle Gläubi-ger bei einer Staatsinsolvenz verbindlich einbezogensein, damit es nicht noch einmal so läuft wie in Argenti-nien. Dort gab es 2001 eine Staatspleite, danach einUmschuldungsverfahren. Viele Gläubiger machten mit,einige Hedgefonds aber nicht. Die haben Argentinienverklagt, um aus der Zockerei mit Staatsanleihen wahn-witzige 1 600 Prozent Rendite zu erzielen. Mit solcherGier muss Schluss sein.
Oft wird eingeworfen: Wer Schulden macht, ist selbstschuld und muss sie zurückzahlen. Aber auch für Privat-leute und Firmen gibt es dank des Insolvenzrechts Gren-zen. Zum anderen sind viele Schulden der Länder desSüdens illegitime Schulden; denn diese Kredite warennicht immer verantwortungsvoll. Oft standen eigenewirtschaftliche und geostrategische Interessen der Gläu-biger im Vordergrund. Norwegen hat dies erkannt undhat als illegitim eingestufte Schulden erlassen. Das mussDeutschland auch tun.
In diesem Jahr der Entwicklung sollten wir in derLage sein, das Mindeste zu schaffen: den Teufelskreisaus Schulden, Erpressbarkeit, sozialer und wirtschaftli-cher Talfahrt und neuen Schulden, dem viele Länder desSüdens ausgesetzt sind, zu durchbrechen.Vor allem die Griechenland-Debatte zeigt, warum wirein Staatsinsolvenzverfahren brauchen. Denn will eineRegierung erst mal die schlimmste Not der Menschenlindern, wird ihr gesagt, erst seien die Schulden zu be-dienen. Aber der Schutz des Lebens muss Vorrang vorProfiten haben, und dafür kann ein Insolvenzverfahrensorgen.
Das Wort hat der Kollege Dr. Philipp Murmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Brauchen wir ein Staateninsolvenzverfahren?Spontan würde man vielleicht Ja sagen, aber bei genaue-rem Hinsehen, insbesondere nach dem, was wir geradegehört haben, kommen doch wesentliche Zweifel undFragen auf. Auf vier Fragestellungen möchte ich einge-hen. Erstens: Ist der Begriff „Insolvenz“ überhaupt ge-eignet? Zweitens: Was soll das Ziel einer Staateninsol-venz sein?
Drittens: Wie steht es um das Prinzip „Haftung und Ver-antwortung“? Viertens: Welche Instrumente haben wirdenn heute, und wie kann man sie erfolgreich anwen-den?Ist der Begriff „Staateninsolvenz“ überhaupt geeig-net? Sie haben das Beispiel eines Unternehmens ge-bracht. Wie funktioniert es da? Nach unserem Rechtstellt ein Gericht bei der Insolvenzeröffnung einen Insol-venzverwalter. Er ist geschäftskundig, er ist unabhängig,und seine juristischen und wirtschaftlichen Fähigkeitenentsprechen seiner Aufgabe. Seine Aufgabe ist es, dieInsolvenzmasse in Besitz zu nehmen, die Masse zu ver-werten und den Erlös an die Gläubiger zu verteilen. ImFalle eines Staates – das schlagen Sie doch vor – würdeein solcher Insolvenzverwalter natürlich jegliche staatli-che Souveränität der Organe aufheben müssen, weil ersonst gar nicht seiner Aufgabe nachkommen kann.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8131
Dr. Philipp Murmann
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Für mich ist an dieser Stelle schon klar, dass eine solcheLösung daher undenkbar ist. Sie widerspricht – ichdenke, das geht den meisten von uns so – meinem demo-kratischen Verständnis von der Souveränität eines Staa-tes vollständig.Dann gibt es noch weitere Fragen: Was ist eigentlichmit der Insolvenzmasse? Ist das staatliche Vermögenkomplett der Insolvenzmasse zuzurechnen? Wann trittsolch eine Insolvenz tatsächlich ein? Was ist die Rang-folge der Gläubiger? Es gibt noch viele weitere Fragen,die jedenfalls mich zu dem Schluss kommen lassen: Einsolches Verfahren ist nicht geeignet, und der Begriff„Staateninsolvenz“ schon gar nicht.
Kollege Murmann, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Movassat?
Bitte schön. Er hatte zwar gerade schon die Gelegen-
heit, alles zu erklären, aber gut.
Herr Kollege Dr. Murmann, danke für die Zulassung
der Frage. – Ja, ich hatte die Gelegenheit, meine Rede zu
halten; aber ich war nicht darauf gefasst, dass Sie so der-
art an dem vorbeireden, was ich hier gesagt habe.
Das ist das Problem bei der Geschichte.
Erstens. Der Begriff des Staateninsolvenzverfahrens
meint ja nicht, dass man eins zu eins das tut, was man
bei Firmen tut; das ist doch klar. Deswegen wird das
doch gerade bei der UN verhandelt.
Es geht bei unserem Antrag um die Frage, wie sich
Deutschland in diesen Prozess und diese Verhandlungen
einbringt.
Zweitens. Sie haben darauf verwiesen, dass ein sol-
ches Verfahren nicht im Interesse der Staaten sei. Die
Staaten, die den Antrag bei der UN eingebracht haben,
sind Länder, die von Überschuldung betroffen waren
oder sind. Das heißt, es ist das Interesse genau dieser
Staaten, dass es ein geregeltes Verfahren gibt, damit sie
eben nicht der Willkür der Gläubiger ausgeliefert sind.
Darum geht es bei dieser Frage. Es wäre interessant,
wenn Sie dazu etwas sagen würden.
Ich weiß nicht, inwieweit Sie diese UN-Resolution
gelesen haben. Jedenfalls taucht das Wort „Insolvenz“ da
nirgendwo auf. Es geht um „multilateral legal frame-
work for sovereign debt restructuring processes“. Das ist
etwas anderes als ein Insolvenzverfahren.
Ich werde vielleicht gleich noch darauf eingehen. – Sie
können sich ruhig wieder setzen. Ich versuche jetzt, das
in 3 Minuten und 14 Sekunden abzuarbeiten, damit wir
alle irgendwann nach Hause kommen.
Das, was Sie meinen, ist kein Staateninsolvenzverfah-
ren, sondern ein Schuldenschnitt; das möchten Sie. Sie
treibt die Frage um: Wie kann sich ein Staat möglichst
leicht seiner Schulden entledigen,
um dann möglichst so weiterzumachen wie bisher? Das
wäre natürlich schön. Dann könnte man sich als Regie-
rungschef einfach unbegrenzt verschulden, Wohltaten an
das Volk verteilen,
und wenn es nicht mehr weitergeht, dann haften die an-
deren.
In Ihrem Antrag kommt sogar der Begriff der „illegi-
timen“ Schulden vor, nach dem Motto: Die Geldgeber
haben ja sowieso schon gewusst, dass die Rechnung
nicht aufgeht,
und deshalb sind die Schulden sowieso illegitim. Ich
finde, ein solches Ansinnen, ehrlich gesagt, unanständig
und unehrenhaft.
Kollege Murmann, gestatten Sie eine Frage oder Be-
merkung des Kollegen Kekeritz?
Er hat gleich die Möglichkeit, seine Rede zu halten.Insofern würde ich sagen: Wir fahren jetzt fort. Notfallskönnen Sie noch einmal dazwischengehen.
Es mag Zufall sein, dass Sie diesen Punkt just in einerWoche auf die Agenda gesetzt haben, in der eine links-revolutionäre Regierung durch Europa reist und uns al-len weismachen will, dass ein Schuldenschnitt die Lö-sung sei.
Metadaten/Kopzeile:
8132 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Dr. Philipp Murmann
(C)
(B)
– Sie hatten doch schon die Möglichkeit, zu reden. Jetztseien Sie doch einmal still und lassen es über sich erge-hen, so wie wir alle Ihre Rede über uns ergehen lassenmussten.
Ich kann Ihnen sagen: Ein solcher Schuldenschnitt istnicht die Lösung für die griechischen Probleme. Sie wis-sen genauso gut wie wir: Wir haben die Tilgung auf nach2020 verschoben. Insofern wird ein Schuldenschnitt dasProblem nicht lösen. Einen Schuldenschnitt wird es mituns nicht geben;
denn Vereinbarungen sind einzuhalten. Europa basiertauf Recht und Gesetz und auch auf Verlässlichkeit. Da-rum muss es gehen.
Ich stehe hier als Unternehmer.
– Ja, ich bin Unternehmer in der Politik. – Mein Leitge-danke ist: Investitionen zahlen sich dadurch aus, dass sieeinen Ertrag bringen; alles andere sind Ausgaben undeben keine Investitionen. Grundsätzlich gilt für Unter-nehmer das Prinzip von Haftung und Verantwortung. Ichals Unternehmer hafte für meine Entscheidungen und fürmeine Investitionen. Das muss natürlich auch für Staatengelten. Das Prinzip von Haftung und Verantwortungmuss durch Recht und Gesetz geschützt werden.
So ähnlich wird auch die Diskussion bei der UN ge-wesen sein. Deswegen haben sich 41 Länder enthalten.11 Länder haben dagegen gestimmt – gucken Sie sicheinmal an, wer das war –: zum Beispiel Amerika, Groß-britannien und Deutschland, aber auch Italien, und diewerden sich das gut überlegt haben.Das bringt mich zur letzten Frage: Welche Instru-mente haben wir heute? Wir haben den IWF und dieWeltbank, die gute Verfahren entwickelt haben, um Lö-sungen zu erarbeiten. Sie werden mir sicher zustimmen,dass solche Verfahren auch nachhaltig sein müssen. Undwas heißt nachhaltig? Die Verwaltung und die Strukturinsgesamt müssen verbessert werden, und die Ausgabenund Einnahmen müssen sich decken; sonst wird eine Re-strukturierung auch nicht nachhaltig sein.Sie haben Argentinien angesprochen. Argentinien hatsich dem Verfahren entzogen und steht nun wieder voreiner Pleite. Andere Länder wie Irland, Spanien und Por-tugal, die diesen Weg beschritten haben, sind durchauserfolgreich.Griechenland muss nun seinen Weg selbst wählen.Wir werden uns gerne die Vorschläge anhören. Aber amEnde sind wir dem Wähler in Deutschland verpflichtet,der jeden Monat pünktlich seine Steuern zahlt.
Daran werden wir uns orientieren,
Und schon deswegen müssen wir Ihren Antrag ablehnen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Uwe Kekeritz für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Herr Murmann, das war alles sehr interessant. Warumhat eigentlich – diese Frage hätte ich Ihnen gerne ge-stellt – die Bundesregierung Bolivien erst neulich einenNachlass von 387 Millionen Euro gewährt?Verschuldung und Überschuldung gehören zur Ge-schichte der Menschen und der Völker, und daran wirdsich auch nichts ändern. Deswegen beschäftigten sichschon die Bibel, der Koran und die Thora mit dieserThematik. Vor 250 Jahren – man höre und staune – hatAdam Smith deutlich zum Thema Staatsverschuldung ineinem durchaus fortschrittlichen Sinne Stellung bezo-gen.Zwischen 1980 und 2005 gab es an die 160 Staats-pleiten auf diesem Globus. Lassen Sie mich drei Punktenennen, die im Zusammenhang mit diesen Pleiten deut-lich wurden: Staatsinsolvenzen kommen immer häufigerund in immer kürzeren Zeitabständen vor, sie nehmen anIntensität zu, und immer mehr Länder sind davon be-droht.Es ist eine Tatsache, dass Schuldenerlasse heutzutagezum Alltag gehören.
Die Mechanismen eines Schuldenerlasses haben aller-dings enorme Schwächen, da sie allzu oft einem knall-harten politischen Machtspiel geschuldet sind.
Um diese Schwächen abzubauen, tagt seit Dienstag einKomitee der Vereinten Nationen. Es ist absolut erbärm-
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8133
Uwe Kekeritz
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lich, dass ausgerechnet die Bundesregierung durch einevon insgesamt elf Neinstimmen versucht hat, dieses Ko-mitee zu verhindern.
Völlig unverantwortlich ist es, dass Deutschland sichaufgrund einer Weisung des Finanzministers weigert, andiesem Komitee mitzuarbeiten.
Der Boykotteur Schäuble, nicht von Weisheit getragen,will den Prozess torpedieren. Warum? Das ist klar: Eininternational legitimiertes und nach festen Regeln durch-geführtes Umschuldungsverfahren reduziert den westli-chen Einfluss und damit auch die Möglichkeit, geopoliti-sche und ökonomische Ziele zu verfolgen.Herr Murmann, Sie haben den IWF angesprochen.Was macht denn der IWF? Sie sind schlicht nicht infor-miert. Der IWF weigert sich, diesen Prozess zu führen,und zwar, weil er weiß, dass er in der Vergangenheitganz viele Fehler gemacht hat.
„Too late, too little“ war das Motto seiner Entschul-dungspolitik. Um diese zu legitimieren, wurde die mög-liche wirtschaftliche Erholung betroffener Länder viel zuoptimistisch eingeschätzt und die Rückzahlungskapazi-täten der Länder hoffnungslos und ungeachtet allerRealitäten überschätzt. Das führte immer – ich betone:immer – zu einer Verschlechterung der Lage.
Sie tun ja gerade so, als hätten solche Entschuldungspro-gramme tatsächlich Erfolg gehabt. Es gibt eines, und dasist das Programm zur Entschuldung der BundesrepublikDeutschland von 1953.
Wir brauchen doch nur nach Europa zu schauen: Dievermeintlichen Hilfsmaßnahmen führten zu einer drama-tischen Verschlechterung der Verschuldungsquoten.Ganz nebenbei, als hätte man sich das überhaupt nichtvorstellen können, wurden die Sozialsysteme schwer ge-schädigt. Damit hat man auch die Entwicklungschancendieser Länder erheblich verschlechtert.
Global hat die Staatsverschuldung in den letzten sie-ben Jahren – man höre und staune – trotz dieser vielenMaßnahmen um 75 Prozent zugenommen, mit verhee-renden Folgen für viele Entwicklungsländer. Zwei Drit-tel der als arm eingestuften Länder müssten in dennächsten zehn Jahren den größten Teil ihrer Staatsein-nahmen für Schuldentilgung verwenden. Jeder von unsweiß: Das geht überhaupt nicht. Die Destabilisierung derLänder durch das Zerschlagen von Sozialsystemen, wierudimentär sie auch immer sein mögen, ist für die Gläu-bigerländer die teuerste Methode, die Kredite nicht wie-derzubekommen.
So wird die Entwicklungspolitik konterkariert. So wirdEntwicklung verhindert. Wer diese Fakten ignoriert, derwill einfach keine Entwicklung haben, der hält auchnichts vom SDG-Prozess – falls Sie wissen, was das ist –,
der uns auch verpflichtet, für faire Entwicklungschancenzu sorgen.Frau Präsidentin, ich möchte noch einen Kommentarzu Niema Movassats Ausführungen über die deutscheEntschuldung 1953 abgeben: Die Ausführungen warenrichtig, aber das war nur die halbe Wahrheit. Wir müssenuns die Situation von 1953 vergegenwärtigen: Das waracht Jahre nach dem Krieg, der 60 Millionen Tote undzig völlig zerstörte Länder hervorgebracht hatte. Damalshat man nicht nur eine 50-prozentige Reduzierung vor-genommen, sondern man hat sich auch darauf geeinigt,dass Deutschland seine Schulden nur aus den Export-überschüssen finanzieren muss. Man hat damals ganzbewusst gesagt: Eine gute soziale Situation ist dieVoraussetzung dafür, dass sich das Land positiv entwi-ckelt und einen Beitrag zur Schuldentilgung leistenkann. Genau vor diesem Hintergrund finde ich ganzviele Kommentare zur griechischen Politik einfach schä-big.
Der Kollege Manfred Zöllmer hat für die SPD-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der Tat hat das Thema Staatsverschuldung nichts vonseiner Bedeutung verloren.
– Ganz ruhig bleiben. Auf Ihre Argumente gehe ichgleich noch ein. – In der Tat ist es wichtig, darüber zudiskutieren, wie wir in Zukunft mit Staatsverschuldungund übermäßiger Staatsverschuldung umgehen wollen.Das haben wir im Deutschen Bundestag in der letztenLegislaturperiode getan – da ging es im Wesentlichenum die Situation in Europa –, und wir werden jetzt überdie aktuelle Situation diskutieren.Wir haben gehört: Anlass für diese Debatte war eineVollversammlung der Vereinten Nationen. Sie hat sichmit großer Mehrheit einer Resolution der G 77 und Ar-gentiniens angeschlossen. Deutschland und eine Reiheweiterer Staaten haben diese Resolution abgelehnt.
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8134 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Manfred Zöllmer
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Die Frage ist, warum. Ich werde diese Frage beantwor-ten. Die vorliegende Resolution bezieht sich auf die Ent-wicklung in Argentinien im letzten Jahr. Argentinien warsozusagen der Zündmechanismus. Argentinien hatte einProblem. Es war von einem amerikanischen Gericht zurZahlung von 1,3 Milliarden Dollar an einen Hedgefondsverurteilt worden. Dieser Hedgefonds hatte argentini-sche Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt zu günsti-gen Konditionen aufgekauft
und vor einem amerikanischen Gericht dann erstritten,zum vollen Wert entschädigt zu werden. Nur – das mussman fairerweise sagen –: Argentinien hat diese Bonds zuamerikanischem Recht ausgegeben.Nun wollte Argentinien, lanciert über den G-77-Vor-sitz, mithilfe einer Resolution der Generalversammlungder VN die Erarbeitung einer Konvention zur Staatenin-solvenz erzwingen. Das heißt, es ging um ein spezifi-sches argentinisches Problem.
Jetzt muss man eines ganz klar wissen, Herr Kekeritz:Bereits im Vorfeld der Diskussion bei den VereintenNationen hat es massive inhaltliche und prozedurale Be-denken gegeben. Man muss einfach einmal zur Kenntnisnehmen, dass zwischen markigen verbalen Sprüchen, diewir hier heute zur Genüge gehört haben,
und der Realität häufig Welten liegen. Das sehen Sie amBeispiel der griechischen Regierung. Man muss sich janur einmal ansehen, was da in wenigen Tagen an Unsinnverbreitet worden und an Positionswechseln erfolgt ist.
– Ausatmen, dann machen wir weiter.Ich will auf die Probleme hinweisen. Es gibt ja die be-stehenden Verhandlungsstränge zum IWF und zum Pari-ser Club und deren Arbeit bezogen auf die Entschuldungvon Staaten. Es gibt massive rechtliche Probleme. ZumBeispiel stellt sich die Frage: Wie gehen wir mit parla-mentarischen Budgetrechten um? Deutschland hat sichsehr intensiv für eine sinnvolle Regelung zur Staatsinsol-venz eingesetzt, aber Argentinien war nicht bereit, einenergebnisoffenen Prozess mitzutragen. Argentinien warnicht bereit, den üblichen konsensorientierten Weg zugehen. Ausgehandelte Kompromisspapiere zur Festle-gung der Verhandlungsmodalitäten wurden von Argenti-nien zurückgezogen,
und der ursprüngliche Entwurf wurde dann wieder zurAbstimmung gestellt.Lieber Herr Kekeritz, das, was Deutschland dann ge-macht hat, ist nicht erbärmlich. Vielmehr haben wir unsgegen dieses Verfahren gewehrt, und zwar völlig zuRecht.
Im Ergebnis gab es eine gemeinsame europäische Hal-tung gegenüber der mangelnden Kompromissbereit-schaft von Argentinien.
Ich beschäftige mich im Deutschen Bundestag seitlanger Zeit sehr intensiv mit Lateinamerika und weiß,dass argentinische Politik für einen europäischen Politi-ker nicht immer nachvollziehbar ist.
Aktuelle Ereignisse in Argentinien zeigen das sehr deut-lich. Wir haben das sehr bedauert, weil es um ein wichti-ges Thema geht. Das Verhalten von Argentinien hatleider nicht dazu beigetragen, dieses Thema zu versach-lichen und einer Lösung näherzubringen.Deutschland konnte der Resolution aus inhaltlichenund prozeduralen Bedenken nicht zustimmen. Das, wasin dieser Resolution steht, ist in dieser Form rechtlich,politisch und praktisch nicht realisierbar. Wir halten esfür nicht akzeptabel, dass die vorhandenen Gremien, diesich mit diesen Themen beschäftigen – das sind der Pari-ser Club und der IWF –,
nun aus diesem Verfahren ausgegrenzt werden sollen.Der Pariser Club trat erstmals 1956 zusammen, als esum die Bewältigung der Auslandsverschuldung von– Sie erraten es – Argentinien ging. Der Pariser Clubvermittelt zwischen Geberländern und Schuldnerlän-dern. Dieses Vorgehen war in vielen Ländern sehr er-folgreich, zum Beispiel bei der Umsetzung der KölnerSchuldeninitiative – im Übrigen damals von Rot-Grüninitiiert – zugunsten der sogenannten Heavily IndebtedPoor Countries, also der hochverschuldeten armen Län-der. Insgesamt wurden dort Schulden in Höhe von43 Milliarden Dollar erlassen. Es ist natürlich das Gelddes Steuerzahlers gewesen, das hier eingesetzt wurde,Geld des Steuerzahlers, mit dem wir in der Tat sehr sorg-fältig umgehen müssen.
Kollege Zöllmer, gestatten Sie eine Frage oder Be-merkung des Kollegen Movassat?
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Ja, kein Problem.
Danke, Herr Kollege. – Ich will nur eine Frage stel-
len. Sie haben gerade den Pariser Club erwähnt und ge-
sagt, diese Debatte gehöre in den Pariser Club und nicht
in die UN. Auf welcher völkerrechtlichen Grundlage
steht denn der Pariser Club?
Ja, jetzt machen wir ein Quiz. – Der Pariser Club ist
ein informelles Gremium; das wissen Sie.
Aber ich frage Sie: Wenn man informell sehr erfolgreich
arbeitet, wo, bitte schön, ist denn das Problem?
Man hat dort sehr erfolgreich gearbeitet; darauf möchte
ich hinweisen.
Kollege Zöllmer, ich habe die Uhr noch immer ange-
halten. Allerdings wäre die Frage oder Bemerkung des
Kollegen Kekeritz dann auch die letzte, die ich zulasse,
falls Sie sie zulassen.
Wir befinden uns ja in einem Dialogprozess. Das soll-
ten wir also machen.
Mein Problem ist ein ganz anderes: Es gibt hier einen
UN-Prozess. Soll das heißen, dass diese Bundesregie-
rung einen UN-Prozess, wenn er ihr nicht passt, in
Zukunft boykottiert? Wie stellen Sie sich eigentlich die
Zukunft einer gemeinsamen globalen Struktur vor, wenn
Sie im Prinzip sagen: „Ich nehme mir die Sonderrechte
heraus; alles, was mir nicht passt, boykottiere ich ein-
fach“?
Ich muss Ihnen sagen: Ein solches Rechtsverständnis
bzw. ein solcher Unsinn wäre Ihnen in Ihrer Zeit als Op-
positionsmitglied nicht in den Sinn gekommen.
Wissen Sie: Ich kann etwas nur dann boykottieren,wenn es an einem bestimmten Ort stattfindet,
von einem Prozedere begleitet wird, das ergebnisorien-tiert ist,
und in einem Konsensprinzip alle Seiten und all diejeni-gen, die damit zu tun haben, berücksichtigt. Das ist hiernicht der Fall. Ich habe Ihnen eben gesagt, wie agiertworden ist.
– Jetzt sind Sie nicht dran.
– Ja, es ist nicht nur Deutschland. Herr Kekeritz, Sie ha-ben mich gefragt, und ich versuche, Ihnen zu antworten;Entschuldigung.
Stellen Sie sich einmal die Frage, warum nicht nurDeutschland nicht an den Verhandlungen, die jetzt statt-finden, teilnimmt, sondern warum es auch die gesamteEU nicht tut.
Weil alle Länder gesagt haben: Wir lassen uns nicht amNasenring durch die Manege ziehen; es ist nicht mög-lich, dieses komplexe Problem in wenigen Verhand-lungsrunden zu lösen. – Da ich sehr viel mit Finanz-marktregulierung zu tun habe, kann ich Ihnen bestätigen:Dieser Prozess funktioniert in dieser Form nicht. Ermuss über die Institutionen, die sich bisher mit diesenProblemen beschäftigt haben, geführt werden; das ist un-sere Linie.
– Weil sie die Ahnung und die Kompetenz haben.
– Ja, so ist es; in der Tat.
Eine Laienspieltruppe, die sich zufällig zusammensetzt,kann da keine vernünftigen Ergebnisse hinbekommen.
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8136 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015
Manfred Zöllmer
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Ich will darauf hinweisen: Auch der IWF hat sich inten-siv mit diesem Problem beschäftigt, und er hat Vor-schläge gemacht, wie man mit diesem Thema umgehensollte. Er hat gesagt: Wir wollen in Anleihen sogenannteCollective Action Clauses festschreiben, die im Falleeiner drohenden Zahlungsunfähigkeit eine Schulden-restrukturierung erlauben würden. – Es geht dabei um ei-nen geregelten Prozess der Schuldenrestrukturierung,bei dem es klare Anleihebedingungen gibt, die im Kri-senfall von den Gläubigern akzeptiert werden müssen.Das ist ein Verfahren, das wir auch in Europa anwenden;
wir haben da also auch eigene Vorstellungen.
Dieses Verfahren müsste auch von Hedgefonds akzep-tiert werden. Das heißt, es gibt Institutionen, die sich mitdiesem Thema beschäftigen und konkrete Vorschlägegemacht haben. Diese Vorschläge müssen weiterentwi-ckelt werden. Das ist die deutsche Position. In dieserRichtung sollten wir weiterdiskutieren.
Die grundsätzliche Frage bleibt, wie das Verhältnisvon Gläubigern und Schuldnern im Falle von Zahlungs-schwierigkeiten ausgestaltet werden soll. Unserer Mei-nung nach brauchen wir einen fairen und transparentenProzess, der auch die Gläubiger mit einbezieht. Daranmüssen wir weiterarbeiten, und daran wollen wir weiter-arbeiten. Im Rahmen der Vereinten Nationen ist genaudieser Weg nicht beschritten worden. Deshalb haben wirdas damals abgelehnt.Vielen Dank.
Der Kollege Professor Dr. Heribert Hirte aus der
CDU/CSU-Fraktion ist der letzte Redner in dieser De-
batte.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Guten Abend! Ich war erst einmal baff, als ich den An-trag gelesen habe. Insolvenzen sind purer Kapitalismus,und Staatsinsolvenzen zu regeln und abzuwickeln, ist so-zusagen Kapitalismus im Quadrat. Da dachte ich: Jetztwerden die Linken eine marktwirtschaftliche Partei. Daskann doch eigentlich nicht sein.
Dann fängt man an, ein bisschen genauer nachzudenken,und stellt fest – –
– Sie können sich gleich auch noch mit hundert Zwi-schenfragen melden, dann sind wir morgen früh nochdabei;
Sie haben ja schon genug geredet. – Dann schaut man essich genauer an und fragt sich, worum es eigentlich geht.Bei Staatsinsolvenzen, die es natürlich gibt, geht es – daswurde schon völlig zu Recht gesagt – vor allen Dingenum die Frage, wie wir sie regeln und welche Anpassun-gen wir da vornehmen.
– Ja, genau, Herr Kollege. Und da sagen Sie mir, wir sol-len zu den Vereinten Nationen gehen. „Nein!“, sage ich,„dahin wollen wir nicht gehen.“
Wir wollen deshalb nicht dahin gehen, weil die Verein-ten Nationen ausschließlich politische Überlegungen an-stellen, wenn es um Entscheidungen über Staatsinsol-venzen geht
Das ist so ähnlich, als würden wir die Kompetenzen inSachen Geldpolitik statt auf die Europäische Zentral-bank gleich auf die Europäische Kommission übertra-gen. Das wollen wir nicht.
Deshalb ist es richtig, wenn wir die Zuständigkeit fürdiese Fragen bei IWF, Weltbank und Pariser Club belas-sen.
Denn entgegen dem, was Sie gesagt haben, geht es beiInsolvenzverfahren nicht – Sie haben „ausschließlich“gesagt – um den Schutz von insolventen Staaten vorSchuldnern. Nein, es geht um die Durchsetzung von For-derungen gegen diese Staaten. Das ist das, was wir si-cherstellen wollen, und daran halten wir auch nach-drücklich fest.
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Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 85. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 5. Februar 2015 8137
Dr. Heribert Hirte
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Jetzt, liebe Kollegen, eine Zwischenbemerkung: Siehaben dann gesagt, dass diese Verfahren in die Händevon Schiedsgerichten gelegt werden sollen und dort dieZahlungsunfähigkeit geprüft werden soll. Da war ichdoch etwas überrascht
– das steht in einem der Anträge drin –; denn wir habenvor kaum mehr als zwei Wochen hier darüber gespro-chen, dass solche supranationalen Schiedsgerichte abge-schafft werden sollen. Hier steht das Gegenteil drin.
Das zeigt nur: Das eine oder das andere ist nicht in Ord-nung.
Aber lassen Sie uns zur Sache zurückkommen: Bei ei-nem Insolvenzverfahren über Staaten geht es natürlichnicht darum, dass ein Insolvenzverwalter irgendwie dieAkropolis verwertet und dann anschließend irgendwohinverlagert. Darum geht es nicht. Deshalb ist schon die Be-griffsbildung falsch. Ein Kollege, Christoph Paulus, hates einmal sehr schön gesagt: Es geht um „Resolvenzver-fahren“, darum, dass Staaten wieder Schuldentragfähig-keit entwickeln können, sollen und müssen. Das ist eindurchaus richtiger Ansatz.Aber was ist der entscheidende Punkt bei diesem Ver-fahren? Es geht darum, zu sehen, dass die Gläubiger ineiner solchen Situation gleichbehandelt werden. Und da-für – der Kollege Zöllmer hat es schon gesagt – habenwir Instrumente, nämlich die sogenannten CollectiveAction Clauses. Diese Collective Action Clauses habenwir gerade auf europäischer Ebene auf der Grundlagedes ESM-Vertrages in der letzten Legislaturperiode auchbei uns in Deutschland mittelbar eingeführt und umge-setzt. Da muss man nur die Frage stellen – diese Frageist in der Tat legitim –, ob von diesen Klauseln, von die-sen Bestimmungen auch alle Gläubiger erfasst sind.Wenn es da Löcher gibt, muss darüber – –
– Das ist eines der Probleme, in der Tat: Altschuldensind nicht erfasst. Das andere Problem, was es gebenkann, ist, dass möglicherweise Rechtswahlklauseln – dashaben Sie genannt – nicht betroffen sind. Darüber kannman nachdenken, und darüber muss man nachdenken.Aber das sind Sachfragen, die wir zu diskutieren haben.Diese haben allerdings mit der Frage der Verortung beiden Vereinten Nationen – das ist ja das, was Sie in ersterLinie wollen; deshalb werden wir Ihren Antrag auch ab-lehnen – nichts zu tun.Dann kommt noch etwas: Sie suggerieren so ein biss-chen, mit einer Insolvenz seien die Schulden weg; siewürden sich sozusagen in Luft auflösen. Nein! Die Gläu-biger haben die entsprechenden Verluste zu tragen. DieGläubiger hier in Deutschland müssen die Forderungenabschreiben, auch der Staat muss sie abschreiben. Dasbedeutet, der deutsche Steuerzahler trägt das, und wir imDeutschen Bundestag müssen entsprechend daran mit-wirken. Das sagen Sie nicht. Das gehört aber dazu.
Ich komme zum letzten Punkt: Griechenland – eswurde ja schon oft erwähnt – ist letztlich pleite. Es istvornehm damit ausgedrückt worden, dass es umgeschul-det worden ist. Aber eines ist klar: Es werden im Augen-blick kaum Schulden zurückgezahlt, es werden nichteinmal Zinsen gezahlt. Wenn Sie jetzt in diesem Zusam-menhang gegenüber Ihren Parteifreunden von Umschul-dung und Insolvenzverfahren reden, geht es doch nur da-rum, zu ermöglichen, dass neue Schulden gemachtwerden. Dazu sage ich: Das lehnen wir ab.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/3743 und 18/3916 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführungen sind jedoch strittig. Die Fraktionen
der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung jeweils
beim Finanzausschuss. Die Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen wünschen Federführung je-
weils beim Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenar-
beit und Entwicklung.
Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ab-
stimmen, also Federführung jeweils beim Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Wer
stimmt für diese Überweisungsvorschläge? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Überwei-
sungsvorschläge sind durch die Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke
und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD abstimmen, also Fe-
derführung jeweils beim Finanzausschuss. Wer stimmt
für diese Überweisungsvorschläge? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Die Überweisungsvorschläge
sind angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 6. Februar 2015,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen alles
Gute.