Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alleherzlich zu unserer Sitzung. Ich freue mich, dass Sie alleheute Morgen so früh erschienen sind, nicht nur, um dieHaushaltsberatungen fortzusetzen, sondern insbesondereauch, um unserem Vizepräsidenten Dr. Hermann OttoSolms zu seinem heutigen Geburtstag zu gratulieren.
Lieber Kollege Solms, herzlichen Glückwunsch und alleguten Wünsche für das neue Lebensjahr.Vor Eintritt in unsere Tagesordnung müssen wir eineNachwahl durchführen. Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt,dass die Kollegin Sonja Steffen für den KollegenMichael Hartmann neues Mitglied im Wahlprüfungs-ausschuss werden soll. Können Sie sich damit anfreun-den? – Das sieht so aus. Dann nehme ich Ihre Zustim-mung zur Kenntnis. Damit ist die Kollegin in denWahlprüfungsausschuss gewählt.Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, dieTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt– Drucksachen 17/6277, 17/6853, 17/7065,17/7330, 17/7775 –Berichterstattung:Abgeordneter Stefan Müller
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDFür einen progressiven europäischen Haushalt –Der Mehrjährige Finanzrahmen der EU2014–2020– Drucksache 17/7808 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussInnenausschussSportausschusstzungn 24. November 2011.01 UhrRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktlisteaufmerksam:Der am 9. Juni 2011 überwiesene nachfolgende An-trag soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft undTechnologie zur Mitberatung überwie-sen werden:Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. ErnstDieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, KlausBarthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDAlphabetisierung und Grundbildung inDeutschland fördern– Drucksache 17/5914 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
InnenausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss
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17028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Sind Sie auch mit diesen Vereinbarungen einverstan-den? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Wir setzen nun unsere Haushaltsberatungen – Tages-ordnungspunkt II – fort:a) Zweite Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Bundeshaushaltsplans für dasHaushaltsjahr 2012
– Drucksachen 17/6600, 17/6602 –b) Beratung der Beschlussempfehlung des Haus-haltsausschusses zu der Unterrich-tung durch die BundesregierungFinanzplan des Bundes 2011 bis 2015– Drucksachen 17/6601, 17/6602, 17/7126 –Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BarthleCarsten Schneider
Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz
Ich rufe den Tagesordnungspunkt II.1.4 auf:Einzelplan 09Bundesministerium für Wirtschaft und Tech-nologie– Drucksachen 17/7109, 17/7123 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael LutherKlaus BrandnerFlorian ToncarRoland ClausDr. Tobias LindnerZu diesem Einzelplan liegt ein Änderungsantrag derFraktion Die Linke vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Auch dazuhöre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kol-lege Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.
Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, meinelieben Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich heute zumHaushalt des Ministeriums für Wirtschaft komme,möchte ich mich ganz herzlich bei den Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern des Haushaltsreferats des Ministeriums– an der Spitze die Herren Forwick und Pons – bedan-ken, die uns – das darf ich sehr klar sagen – konstruktiv,informativ und zielführend durch die Haushaltsberatun-gen geführt haben. Mein Dank gilt aber auch dem Kolle-gen Toncar, den ich noch gar nicht sehe und der in die-sem Bereich der Hauptberichterstatter ist.
– Er sitzt normalerweise bei Ihnen. Sie werden ihm aus-richten, was ich jetzt über ihn erzähle.
Er hat als Hauptberichterstatter eine sehr kollegiale undkooperative Arbeitsweise an den Tag gelegt. Ich schätzedas und will das hier zum Ausdruck bringen.Meine Damen und Herren, nun zum Haushalt. Wennwir uns den Etat des Bundeswirtschaftsministeriums an-schauen, wird einiges deutlich: Der Minister befindet sichin einer äußerst komfortablen Situation. Sein Haushaltwird noch immer maßgeblich von einer Kernaufgabe ge-prägt, nämlich dem Auslaufen der Kohleförderung. Damitsieht es immer so aus, als sei der Wirtschaftsetat beimSparen ganz vorne mit dabei. In Wirklichkeit spart essich aber – bedingt durch die Entwicklung der Welt-marktpreise für Kohle und den sozialverträglichen Aus-stieg aus der Kohleförderung – von allein. Aus dieserkomfortablen Situation heraus könnte man von Ihnen,Herr Minister, sichtbarere und klarere wirtschaftlicheImpulse erwarten als die, die Sie in Ihrem Haushalt set-zen. Es mag vielleicht auch an Ihrer kurzen Amtszeit lie-gen, dass Ihre Handschrift noch nicht zu erkennen ist.Warten wir mal ab.Stattdessen muss ich feststellen, dass im Haushaltüberall nur ein bisschen passiert. Es gibt ein bisschendrauf, ein bisschen mehr: zum Beispiel bei der Bundes-netzagentur, aber nicht so viel, wie tatsächlich gebrauchtwird. Auch für die GRW – das ist die Gemeinschaftsauf-gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ –gibt es ein bisschen mehr. Ursprünglich wollten Sie dieMittel dafür ganz zurückfahren. Glücklicherweise habendie vielen Proteste – insbesondere auch die meiner Par-tei, der SPD – dazu geführt, dass das verhindert werdenkonnte. Allerdings wurden die im Regierungsentwurfvorgesehenen Kürzungen nicht völlig zurückgenommen.Und insgesamt reicht der Aufwuchs bei weitem nicht aus– das möchte ich deutlich sagen –, um die Mittel zu er-setzen, die durch das Auslaufen der europäischen Förde-rung für infrastrukturschwache Gebiete wegfallen.Ein bisschen soll auch für Entschädigungszahlungenverwandt werden, die aufgrund der Frequenzversteige-rungen – Stichwort digitale Dividende – fällig werden.Die vorgesehenen Beträge machen aber nur einenBruchteil dessen aus, was wirklich benötigt würde, umeine faire und sozialverträgliche Entschädigungsrege-lung anbieten zu können.
Ein bisschen gibt es auch für die Fachkräftesicherung.Das ist aber so wenig, dass man damit kaum ein sinnvol-les Projekt, geschweige denn längerfristige, nachhaltigeMaßnahmen in Angriff nehmen könnte.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17029
Klaus Brandner
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Sehr geehrter Minister Rösler, ein bisschen bleibt einbisschen. Das reicht bei weitem nicht aus. Dazu will ichzwei konkrete Beispiele anführen.Erstes Beispiel: Fachkräftemangel. Ihnen allen sinddie Zahlen bekannt. Sofern sich nichts ändert, wird dieBevölkerung in Deutschland in den nächsten 40 Jahrenauf insgesamt 75 Millionen Menschen schrumpfen. Dassind 7 Millionen weniger als bisher. Dabei wird die Be-völkerung im Durchschnitt älter. Die Zahl der Menschenim erwerbstätigen Alter wird im gleichen Zeitraum ummehr als ein Fünftel zurückgehen. Laut OECD wird dieZahl der Menschen im erwerbstätigen Alter in den kom-menden zehn Jahren so stark sinken wie in keinem ande-ren Industrieland. Ich freue mich deshalb sehr, dass Siejetzt gegensteuern wollen – zumindest ein bisschen. Siewollen für die Fachkräftesicherung in kleinen und mitt-leren Unternehmen 4 Millionen Euro zusätzlich ausge-ben. Dieses Geld wollen Sie verwenden, um Fachkräfteim Ausland anzuwerben. Das ist natürlich der leichtesteWeg; denn wer die Hände nach Fachkräften im Auslandausstreckt, muss im Inland nicht die Ärmel hochkrem-peln. Doch genau hier liegen die strukturellen Probleme.Ich nenne vier Bereiche, wo Sie zusätzliche Mittelsinnvoller einsetzen können, um den hier lebenden Men-schen Perspektiven zu verschaffen:Erstens. Die Erwerbstätigenquote von Frauen liegtnicht nur deutlich unter der der Männer, sondern auchnoch unter der vieler europäischer Länder. Darüber hi-naus wird es endlich Zeit, die Vereinbarkeit von Familieund Beruf für Frauen und Männer deutlich zu erleich-tern, damit die mitunter hochqualifizierten Frauen nichtlänger unfreiwillig in Teilzeit- oder Minijobverhältnis-sen festgehalten werden.
Zweitens: ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer. Durch die konsequente Förderung des lebenslangenLernens könnten die Potenziale älterer Arbeitnehmerdeutlich besser genutzt werden.Drittens: Jugendliche. Diejenigen Jugendlichen, dieerst auf eine Ausbildung vorbereitet werden müssen,dürfen nicht einfach am Straßenrand zurückgelassenwerden, zum einen aus menschlichen Gründen und zumanderen aufgrund der sich zuspitzenden demografischenLage.Viertens: Langzeitarbeitslose. Diese Bundesregierungstreicht die Mittel für die Wiedereingliederung vonLangzeitarbeitslosen ja ständig zusammen. Gerade hierwären zusätzliche Mittel angebracht, allerdings nicht nurein bisschen. Hier darf es ruhig ein bisschen mehr sein,wie wir das von einem guten Kaufmann kennen.
Jetzt, meine Damen und Herren, können Sie natürlichsagen: Das sind Angelegenheiten, die in die Zuständig-keit des Ministeriums für Arbeit und Soziales, des Fami-lienministeriums, des Finanzministeriums oder des Bil-dungsministeriums fallen. Das stimmt, mal mehr, malweniger. Aber es betrifft immer und vielleicht am deut-lichsten die Wirtschaft, und das vor allem vor dem Hin-tergrund des drohenden Fachkräftemangels. Selbstver-ständlich erwarte ich von Ihnen, Herr Minister, sowohlals Bundeswirtschaftsminister als auch als Vizekanzlerder Bundesrepublik Deutschland, dass Sie Ihre Kabi-nettskollegen an einen Tisch holen und Initiativen star-ten, um Lösungen für diese Herausforderungen zu fin-den. Hier ist Führung gefragt. Sie wollten doch liefern,wie Sie bei Ihrem Amtsantritt gesagt haben. Wenn Auf-träge nicht angenommen werden können, weil Fach-kräfte fehlen und Potenziale nicht genutzt werden, dannlässt das die Wachstumschancen in unserem Landebrachliegen, und es werden wichtige Potenziale vergeu-det. Hier sind Sie gefragt. Ich fordere Sie von dieserStelle aus ausdrücklich auf, zu handeln.
Ein zweites Beispiel für Ihre Ein-bisschen-Politik istdie zweite Energiewende, insbesondere der Netzausbau.Er verlangt neue Hoch- und Höchstspannungsleitungenin Deutschland. Das ist weitgehend unumstritten. Sie ha-ben folgerichtig gleich mehrere Gesetze und Gesetzes-initiativen auf den Weg gebracht. Ob diese immer ziel-führend waren oder nicht, ob sie optimal waren odernicht, sei dahingestellt. Ich hätte mir jedenfalls von ei-nem liberalen Minister gewünscht, dass die Bürgerinnenund Bürger in diesem Prozess ernster genommen undbesser beteiligt werden.Abgesehen davon steht fest: Sie haben die Gesetzeauf den Weg gebracht, jetzt müssen sie durchgeführtwerden, damit Ihre Energiewende gelingt. Stattdessentorpedieren Sie die Bundesnetzagentur, wo es nur geht.
Gerade jetzt, wo sie besonders schlagkräftig sein müsste,liefern Sie sich einen offenen und peinlichen Macht-kampf um eine mögliche Nachfolge von PräsidentKurth. Man kann schon fast nicht zählen, wie viele Per-sonen im Gespräch waren. Selbst politisch völlig unver-dächtige Zeitungen wie das Handelsblatt oder die FAZbescheinigen Ihnen „gefährliches Postengeschacher“,Handelsblatt, oder eine „Hängepartie“, FAZ. DieFinancial Times wirft Ihnen vor, Sie würden schlingernund bei der Bundesnetzagentur für Chaos sorgen.
Das ist in doppelter Hinsicht schlecht: zum einen, weilSie offenbar keinen würdigen Nachfolger für den ange-sehenen Präsidenten Kurth parat haben,
und zum anderen, weil die Bundesnetzagentur weiterverunsichert zurückgelassen wird, und das, obwohl siegerade jetzt dringende Aufgaben erledigen muss und vorgroßen Veränderungen steht.Allein zur Umsetzung des Netzausbaugesetzes wirdein Personalmehrbedarf von 254 Stellen bescheinigt. So-gar das Bundesministerium der Finanzen erkennt bei derAgentur einen Personalmehrbedarf von 794 Stellen. Mit
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Klaus Brandner
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einigen Kniffen und unter expliziter Inkaufnahme vongravierenden Verzögerungen bei der Umsetzung derEnergiewende bekommt die Bundesnetzagentur gegen-über dem Jahr 2011 238 Stellen. 238 Stellen! Allein fürdas Netzausbaugesetz werden aber 254 Stellen ge-braucht. Wer sich diese Zahlen ansieht, der kann nur zudem Schluss kommen, dass es Ihnen mit der Ener-giewende oder mit einer zuverlässigen Energieversor-gung nicht ganz so ernst ist.Man sollte von einem Bundeswirtschaftsminister er-warten können, dass er die Bedeutung einer verlässli-chen Stromversorgung für die Wirtschaft kennt.
Wenn dem so ist, dann erwarte ich, dass er die personel-len und materiellen Vorkehrungen trifft, die notwendigsind, um den Netzausbau und damit die Energiewendeso schnell wie möglich voranzutreiben. Herr Minister,liebe Kolleginnen und Kollegen von der schwarz-gelbenKoalition, ein bisschen mehr reicht da nicht aus.Wir brauchen im Bereich Wirtschaft gerade ange-sichts des Fachkräftemangels, angesichts der Ener-giewende und angesichts der Weltwirtschaftslage keineEin-bisschen-Regierung. Wir brauchen eine Regierungmit Biss, die bei gravierenden Problemen nicht nur ir-gendwelche kleinen Programme auflegt, sondern an dieWurzel des Problems geht.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Michael Luther
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Deutschland geht es gut. Wir können stolzsein auf die Situation in unserem Land. Unsere Nach-barn beneiden uns um unser Wirtschaftswachstum. DieArbeitslosenquote sinkt. Sie ist so niedrig wie seit20 Jahren nicht mehr. Die Beschäftigungsquote steigt.Sie liegt auf einem Rekordniveau. Wenn man fragt, wel-che Probleme wir in Deutschland haben, dann hört manim wirtschaftlichen Bereich zum Beispiel: „Fachkräfte-mangel“,
oder man hört von den Leuten, es sei schwer, Handwer-ker zu bekommen. Das sind Probleme, um die uns un-sere europäischen Nachbarn beneiden.Die Lage ist gut. Sie ist gut für Deutschland, aller-dings, Herr Brandner, offensichtlich schlecht für die Op-position.
Sie sind hier heute als Oppositionspolitiker angetreten,um, wie ich denke, die Regierung zu kritisieren.
Sie haben sie kritisiert, aber nur ein bisschen; denn mehrist Ihnen nicht eingefallen.
Ich will versuchen, Ihnen zu erklären, was in unseremHaushalt steht, da Sie das offensichtlich nicht verstandenhaben. Wir lehnen uns nicht entspannt zurück, sondernwir tun etwas. Wir sagen heute nicht einfach: „Es ist al-les wunderbar; wir können uns also ausruhen“, sondernwir fragen: Was brauchen wir für morgen? Was müssenwir tun, damit der Zug Deutschland auch morgen nochauf dem richtigen Gleis ist? – Dazu müssen wir heute dieWeichen richtig stellen.
Die Themen liegen auf der Hand. Ich will sie auch be-nennen. Zunächst möchte ich aber feststellen: Wir lebenin einer globalen Welt. Deswegen dürfen wir uns auf un-seren Erfolgen nicht ausruhen. Länder wie China undBrasilien – ich nenne nur diese zwei Länder – sind imKommen. Sie wollen mehr. Andere werden ihnen fol-gen. Deutschland ist geografisch gesehen ein kleinesLand, aufgrund seiner Wirtschaftskraft ist es aber ziem-lich bedeutend. Das soll auch in Zukunft so bleiben. Da-für müssen wir etwas tun:Erstens: Auf dem Gebiet der Technologie müssen wirvorne bleiben. Deshalb ist es richtig, dass wir zum Bei-spiel im Bereich Luft- und Raumfahrt im kommendenJahr immerhin 50 Millionen Euro mehr ausgeben. Ichweiß, dass Teile der Opposition das anders sehen. Siewollen an dieser Stelle die Mittel kürzen. Die Grünenund die Linken haben ja entsprechende Anträge gestellt.Ich denke, sie haben nicht verstanden, was es heißt, auchmorgen noch spitze in der Welt zu sein.
Man muss genau in diesem Bereich heute investieren.Zweitens: der Mittelstand. Wir haben in Deutschlandeinen innovativen Mittelstand, und wir brauchen weiter-hin einen innovativen Mittelstand. Deshalb ist ein weite-rer zentraler Aspekt in unserem Haushalt die Förderungdes Mittelstandes. Allein für Forschung und Entwicklungim Bereich der Innovationsförderung, für das ZentraleInnovationsprogramm Mittelstand, sind knapp 500 Mil-lionen Euro vorgesehen. Das sind immerhin 100 Millio-nen Euro mehr als im letzten Jahr.Drittens: Außenhandel. Als größte europäische Wirt-schaftsmacht sind wir in hohem Maße vom Export ab-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17031
Dr. Michael Luther
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hängig. Wir müssen unsere Produkte nicht nur im Inland,sondern eben auch im Ausland verkaufen. Nur so wird esgelingen, dass wir unsere Position halten. Deshalb ist essehr wichtig, dass sich das Ministerium gerade auf inter-nationalen Fach- und Industriemessen engagiert. SolchePlattformen braucht der Mittelstand, um international re-präsentieren zu können.Viertens: Fachkräftemangel. Ich denke, man kanndem Fachkräftemangel zunächst einmal begegnen, in-dem man versucht, seine eigenen Leute zu qualifizieren.Das tun wir. Im Bereich Bildung geben wir über denganzen Haushalt verteilt deutlich mehr Geld als in denletzten Jahren aus, um genau diesem Anspruch gerechtzu werden, unsere eigenen Leute zu qualifizieren. Aberdas wird nicht reichen. Wir werden Deutschland auch fürqualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland interessant ma-chen müssen.
Deshalb sind die Mittel im Titel „Fachkräftesicherungfür kleine und mittlere Unternehmen“ von uns im parla-mentarischen Verfahren aufgestockt worden.Fünftens: Energiewende. Wir haben die Ener-giewende beschlossen. Wir werden aus der Kernenergieaussteigen und in Zukunft auf erneuerbare Energien set-zen. Die dafür notwendigen Gesetze sind bereits verab-schiedet. An dieser Stelle möchte ich nur das Netzaus-baubeschleunigungsgesetz und die Gesetze gegenWettbewerbsbeschränkungen und zur Neuregelung ener-giewirtschaftlicher Vorschriften nennen. Damit man dieMaßnahmen umsetzen kann, haben wir in den Haus-haltsberatungen die nötigen Voraussetzungen im perso-nalwirtschaftlichen Bereich getroffen. Hier sind insbe-sondere die Bundesnetzagentur und das BAFA gefragt.Dort haben wir das Personal entsprechend aufgestockt.
– Natürlich könnte man mehr aufstocken, aber das istschon einmal ein guter Schritt, und wir werden das wei-ter begleiten. Wenn diese Personalaufstockungen imnächsten Jahr umgesetzt werden, dann haben die Behör-den genügend zu tun. Dann müssen wir sehen, wie dieganze Sache weitergeht. Wir machen so viel wie nötig.Das ist ein Schritt in der richtigen Größenordnung in dierichtige Richtung.Sechstens: GRW. Seit 1990 haben wir in Bezug aufden wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundeslän-dern viel erreicht. Heute hat Sachsen eine Arbeitslosen-quote von 9,4 Prozent. 2005 betrug diese über 18 Pro-zent. Die Halbierung der Arbeitslosigkeit in sechs JahrenKanzlerschaft Merkel ist eine tolle Wegmarke.
Aber wir sind noch nicht am Ziel. Wir müssen weiterar-beiten. Deswegen haben wir uns dafür eingesetzt, dassdie Mittel für die GRW wieder aufgestockt werden, auchwenn es im Regierungsentwurf ursprünglich anders vor-gesehen war. Ich sage ganz klar: Mein Ziel, unser Zielist, in Sachsen die Arbeitslosenzahlen von Baden-Württemberg zu erreichen, nämlich 3,7 Prozent. Diesesind deshalb so niedrig, weil Baden-Württemberg über60 Jahre lang gut regiert wurde. Ich setze mich also im-mer wieder für die GRW ein. Wir haben die Mittel fürdie GRW in großem Einvernehmen um 40 Millionenaufgestockt. An dieser Stelle bitte ich das Ministerium,unseren politischen Willen als Haushaltsausschuss auf-zunehmen und den Mittelansatz in Zukunft auf diesemNiveau fortzuschreiben.Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelledie Gelegenheit nutzen, noch einmal Danke zu sagen fürdas große Engagement des Bundes bei der Sanierung derWismut-Altlasten. Anfang September konnte zu diesemThema ein Folgeabkommen paraphiert werden. Damitwird die Sanierung der Wismut über das Jahr 2022 hi-naus gesichert sein. Wir geben viel Geld für die Fortset-zung der Sanierung und Rekultivierung des ehemaligenUranbergbaus in Sachsen und Thüringen aus. Dafür ste-hen im Haushalt die erforderlichen Mittel bereit. DieWismut-Sanierung ist eine echte Erfolgsgeschichte, aufdie wir stolz sein können. Es geht hier darum, eine Hin-terlassenschaft des real existierenden Sozialismus in un-serem Land Stück für Stück zu beseitigen; und langsamverschwinden die Spuren. Dafür recht herzlichen Dank.An dieser Stelle möchte ich noch einen weiterenPunkt erwähnen, nämlich die Umstrukturierung, die derEinzelplan in diesem Jahr erfahren hat. Er ist jetzt über-sichtlicher und klarer. Der viel geschmähte Bauchladendes Bundeswirtschaftsministeriums ist Geschichte. DieFörderprogramme wurden gestrafft und neu ausgerich-tet. Unrentable Programme wurden gestrichen. Die Aus-richtung auf einzelne Zielgruppen wie den Mittelstandwurde gestärkt. Der neue Aufbau macht das Ministeriumbereit für die Herausforderungen der Zukunft. Das warkeine leichte Aufgabe. Es hat mich und auch meine Kol-legen Berichterstatter sehr gefreut, dass es uns gelungenist, gemeinsam diese Herausforderung zu bewältigen.Ich hoffe, dass diese Neustrukturierung des Haushaltesvielleicht auch als Vorbild für andere Haushalte dienenkönnte.Ich komme zum Schluss. Ich will an dieser Stelle denMitarbeitern des Bundeswirtschaftsministeriums rechtherzlich Dank sagen. Sie haben uns in den Haushaltsbe-ratungen verlässlich begleitet und gut informiert. DieZusammenarbeit ist wirklich gut. Dafür recht herzlichenDank. Ich möchte natürlich auch den Mitberichterstat-tern danken. Ich denke, wir sind ein gutes Team und ha-ben insgesamt gute Arbeit geleistet. Ich sage auch demHauptberichterstatter, Herrn Toncar, recht herzlichenDank.Zum Schluss noch die überraschende Bemerkung:Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird dem Haushaltzustimmen.
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17032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
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Nun sind wir gespannt, ob der Kollege Roland Claus
sich für die Fraktion der Linken dieser Empfehlung an-
schließt. Bitte schön, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ver-ehrter Herr Bundestagspräsident, die Werbung warfreundlich, aber vergeblich. – Auf dem Weg vom Bahn-hof Friedrichstraße zum Bundestag kommt man am Bun-despresseamt vorbei, vor dem die Bundesregierung stetsdie Losung der Woche auf Großplakaten veröffentlicht.
– Na klar. – Die Losung dieser Woche lautet – jetzt hö-ren Sie gut zu –: Der Aufschwung ist bei den Menschenangekommen.Meine Damen und Herren, ich führe seit sehr vielenJahren meine Sprechstunden als Abgeordneter auch imöffentlichen Raum durch, im Sommer auf Marktplätzenund im Winter in Verkaufseinrichtungen. In Verkaufsein-richtungen kommt man sich noch ein bisschen näher alsauf Marktplätzen. Man erlebt dann, dass Bürgerinnenund Bürger – völlig unabhängig von der parteipoliti-schen Ausrichtung – ihre Wut und ihren Frust ausbrei-ten. Ich werde insbesondere gefragt: Herr Claus, ichhabe in großen Annoncen gelesen, dass der Aufschwungbei den Menschen angekommen ist, aber bei mir kommtnichts an. – Ich sage Ihnen: Mit einem solchen Zynismuserzeugen Sie noch mehr Politikverdrossenheit und Frust.Dem wollten wir doch eigentlich gemeinsam entgegen-wirken.
Ein reales Ergebnis Ihrer Wirtschaftspolitik ist ein in-zwischen fest etablierter Niedriglohnsektor. Sie habengemerkt, dass dieser Weg in die falsche Richtung führt.Sie haben aber den Zug so fest auf die Gleise gesetzt,dass Sie jetzt nicht mehr in der Lage sind, ihn umzulen-ken. Wir haben im Osten Deutschlands einen doppelt sohohen Anteil an Leiharbeit und Niedriglohn. Insbeson-dere junge Menschen werden beim Eintritt in ihr Berufs-leben dadurch verunsichert, dass sie in aller Regel nurZeitverträge bekommen. Sie werden zehn Monate vonihrem Arbeitgeber entlohnt und dann zur Arbeitsagenturgeschickt. Dadurch sind sie nicht wirklich in der Lage,eine Lebensplanung vorzunehmen. Bei der Familienpla-nung steht nämlich immer im Raum, dass Kinder mit Ar-mutsrisiko verbunden sind.Wir haben eine hohe Erwerbsmigration – das ist Ih-nen bekannt –, und die Situation bei der Kinderbetreu-ung ist im Westen der Republik miserabel. Wir habeneine zwischen Ost und West gespaltene Wirtschaftspoli-tik; ich will erinnern: Nicht eine einzige Firmenzentraleist im Osten anzutreffen.
Zudem haben wir auch eine gespaltene Arbeitsmarkt-politik.Nun haben Sie, Herr Bundesminister Rösler, bei derEinbringung dieses Etats die Tatsache gefeiert, dass im-merhin 50 Prozent der neu geschaffenen Jobs Vollzeit-jobs sind. Ich muss Ihnen sagen: Das ist kein Erfolg,sondern ein Skandal. Denn das bedeutet auf der anderenSeite, dass über die Hälfte der Jobs keine Vollzeitjobssind, und auch die befristeten Jobs sind in diesen 50 Pro-zent ja noch enthalten.Sie können mit diesem bescheidenen Etat natürlichkeine Wunder vollbringen. Der Etat des Bundeswirt-schaftsministers macht gerade einmal 1 Prozent des Ge-samthaushaltes aus, wenn man die Subventionen fürSteinkohle und Luftfahrt abzieht. Wirkliche Industrie-politik kann man damit nicht machen.Da Sie sich so sehr für das Programm der Linken inte-ressieren,
verweise ich darauf: Die Linke will eine Wirtschaftspoli-tik, die dem Mittelstand und Existenzgründern Zukunfts-chancen eröffnet und nicht verbaut, die Arbeit schafft,von der Beschäftigte sorgenfrei leben können, und die sozu mehr wirtschaftlicher Stabilität und sozialer Gerech-tigkeit gleichermaßen beiträgt.
Die Linke hat im Zuge dieser Haushaltsberatungeneine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht; über einigewerden wir heute auch abstimmen. Entgegen der land-läufigen und von Ihnen verbreiteten Meinung kann mansagen: Die Linke wirkt. Öffentlich lehnen Sie zwar fastalle unsere Anträge ab, aber intern kommen Sie an vie-len unserer Vorschläge einfach nicht vorbei. Ich will Ih-nen dafür zwei Beispiele nennen.Für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der re-gionalen Wirtschaftsstruktur“, die hier schon angespro-chen worden ist und die zu einem ganz überwiegendenTeil den ostdeutschen Bundesländern zugutekommt, wo-für wir werben, hat die Linke eine Erhöhung um 54 Mil-lionen Euro beantragt.
Den Antrag der Linken haben Sie abgelehnt. Sie habenaber jetzt eine Erhöhung um 39 Millionen Euro be-schlossen. Das ist insgesamt immer noch weniger als un-sere Forderung, aber es beweist: Links wirkt. In kleinenSchritten bewegen Sie sich in die richtige Richtung.
Es gibt ein zweites Beispiel: das Bundeskartellamt,das wir jetzt an vielen Stellen tatsächlich brauchen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17033
Roland Claus
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Hier hat die Linke einen Aufwuchs von 20 MillionenEuro vorgeschlagen. Das hat die Koalition abgelehnt. Indem jetzt vorliegenden Entwurf haben Sie aber 12 Mil-lionen Euro draufgepackt. Das ist deshalb gut und rich-tig, weil sich eine Ausgabenerhöhung beim Bundeskar-tellamt allemal rechnet. Denn die zu erwartendenEinnahmen durch die Strafen, die das Bundeskartellamtverhängen kann, sind wesentlich höher als die Ausga-ben, die dort anfallen. Den gleichen Vorschlag haben wirIhnen schon vor Jahren auch im Hinblick auf das Bun-despatentamt gemacht. Da sind Sie unserem Weg ge-folgt. Jetzt haben Sie es auch beim Bundeskartellamt ge-tan. Sie merken: Links wirkt.
Ich will auf eines Ihrer gepflegten Lieblingskindereingehen: auf die Raum- und Luftfahrt. Hier haben wires – das ist angesichts eines FDP-Ministers besonders er-wähnenswert – mit der Subventionierung staatsnaherMonopolisten zu tun.
Diese staatsnahen Monopolisten haben eine wirklichnette Angewohnheit. Sie kassieren nämlich zweimal. Siekassieren am Anfang bei den Zuwendungen durch denBundeshaushalt, und sie kassieren zum zweiten Mal– nachdem der Staat ihnen einen Auftrag erteilt, den sie,in aller Regel verspätet, erfüllen – durch überzogene undüberteuerte Leistungsabrechnungen. Meine Damen undHerren, dazu sagen wir Ihnen: Das kann so nicht weiter-gehen.
Leider geht es aber so weiter, Stichwort EADS-Kon-zern. Bekanntlich wird Daimler aus dem Konzern aus-steigen. Daimler hält im Moment 7,5 Prozent der EADS-Aktien. Nun höre und staune man, was unter der Feder-führung eines liberalen Wirtschaftsministers geschieht:Dieser von Daimler abgestoßene Aktienteil wird von derstaatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau übernommen,ohne dass – nun kommt es noch dicker – der Staat damitdie Stimmrechte übernimmt; denn die sollen bei Daimlerverbleiben. Meine Damen und Herren, das, was Sie hiertun, schlägt wirklich dem Fass den Boden aus.
Ich lerne daraus: Liberale Wirtschaftspolitik bedeutet,dass ein staatsnaher Monopolist unter Führung einesFDP-Ministers weiter verstaatlicht wird und der Staat da-nach nichts mehr zu sagen hat. Dazu, Herr Minister, passtnur noch Ihre Aussage in der Süddeutschen Zeitung, woSie meinten, mitteilen zu müssen, dass Sie bei Wirt-schaftsministertreffen auf internationaler Ebene der ein-zige Wirtschaftsminister seien, der sich über Außenhan-delsüberschüsse freue. Herr Minister, wer globalisierteÖkonomie so denkt und wer Europa nur als Konkurrenz-handelsraum versteht, der hat von zukunftsfähiger Öko-nomie nichts verstanden.
Nun meinen Sie, im Haushalt Rösler alles neu regelnzu müssen. Bisher, um auf meinen Vorredner einzuge-hen, gibt es nur frische Überschriften. Alles ist neu sor-tiert. Jetzt wird uns versprochen: Bei der Wirtschaftsför-derung kehrt viel mehr Ordnung ein. Wenn ich in meinerFunktion als Berichterstatter nicht schon drei Ihrer Vor-gänger, Herr Bundesminister Rösler, erlebt hätte, die mirgenau das Gleiche versprochen, es aber niemals einge-halten haben, dann würde ich auf diese Aussage viel-leicht etwas geben. Aber das ist nicht der Fall.Einer der Knüller, den Sie jetzt anbieten, ist Ihr Pro-gramm zur Fachkräftesicherung.
Das können Sie nun leider nicht mehr erläutern, Herr
Kollege Claus.
Es ist auch nicht wirklich wert, erläutert zu werden,
Herr Präsident. Das ist ein solches Pillepalle-Programm,
dass es keinen Sinn macht, dafür Redezeit zu ver-
schwenden.
Sie werden gemerkt haben, dass ich Ihrer gefälligen
Werbung, dem Etat zuzustimmen und es damit meinem
Vorredner gleichzutun, nicht folgen kann.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nun hat der Bundesminister für Wirtschaft und Tech-nologie, Philipp Rösler, das Wort.
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Der deutschen Wirtschaft geht esgut. Ihr verdanken wir ein enormes Wachstum im Jahre2010 von 3,6 Prozent und ein gutes Wachstum für 2011von 2,9 Prozent. Selbst in dem schwieriger werdendenJahr 2012 erwarten wir ein positives Wachstum von1 Prozent. Eines ist ebenso klar: Deutschland bleibtWachstumslokomotive in Europa. Diese Regierungsko-alition aus CDU, CSU und FDP wird dafür sorgen, dassdies auch in Zukunft so bleibt.
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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Sehr geehrter Herr Abgeordneter Claus, ich werdemich als deutscher Wirtschaftsminister niemals dafür ent-schuldigen, dass wir Außenhandelsbilanzüberschüsse ha-ben, weder bei Ihnen im Ausschuss noch auf europäischerEbene; denn diese Überschüsse sind keine Schwäche,sondern sie sind Ausdruck der Stärke und der wirtschaft-lichen Leistungsfähigkeit unserer deutschen Volkswirt-schaft.
Diese gilt es zu stärken: durch Fachkräftesicherung,kluge Energiepolitik, ein klares Bekenntnis zur sozialenMarktwirtschaft und Stabilisierung unserer gemeinsa-men Währung, des Euro. Sie sind leider nicht mehr zumThema Fachkräftesicherung gekommen. Es ist einegroßartige Leistung aller beteiligten Partner in der sozia-len Marktwirtschaft, der Sozialpartner und auch derPolitik, dass durch kluge Politik in diesem Jahr und auchin den Folgejahren gerade junge ausbildungsschwacheMenschen eine deutlich größere Chance auf einen Aus-bildungsplatz und in der Folge auf einen Arbeitsplatz ha-ben als zu Ihren Regierungszeiten. Von Ihnen von derLinksfraktion wollen wir erst gar nicht sprechen.
Europaweit haben wir die niedrigste Jugendarbeitslo-sigkeit. Schauen Sie einmal nach Frankreich, Italien odernach Spanien mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 46 Pro-zent. Hier in Deutschland ist es zum Glück anders. Ichsage Ihnen ausdrücklich: ohne einen flächendeckendengesetzlichen Mindestlohn.
Wenn wir bei den jungen Menschen erfolgreich seinkönnen, dann – da gebe ich Ihnen recht – müssen wir ge-nauso erfolgreich sein, wenn es darum geht, junge Elternoder auch ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerstärker in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Das wird abernicht durch Quoten oder durch gesetzliche Vorgabenfunktionieren, sondern nur, indem wir die Vereinbarkeitvon Familie und Beruf verbessern, indem wir auch andieser Stelle nochmals einen klaren Appell an die deut-sche Wirtschaft senden, dass sie sich nicht über Fach-kräftemangel beklagen darf, wenn sie gleichzeitig daraufverzichtet, jungen und gut ausgebildeten Menschen einePerspektive, eine Chance durch bessere Vereinbarkeitvon Familie und Beruf zu geben, und wenn sie bei Kün-digungen zuallererst an die älteren Menschen denkt. Wirhalten das für falsch. Wer den Fachkräftemangel sieht,der muss etwas dagegen unternehmen. Er kann es tun,indem er jungen Menschen und älteren Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmern in Deutschland eine Chancegibt.
Erstmalig schaffen wir ein System der gesteuertenZuwanderung in den ersten Arbeitsmarkt in Deutsch-land. Wir setzen die Blue-Card-Richtlinie der EU um.Sie enthält klare Regeln für die Zuwanderung, gestaffeltnach Gehalt, Beruf und jeweiliger Qualifikation. Ichsage Ihnen: Wir haben jahrelang darum gestritten undjahrelang dafür gekämpft. Jetzt ist es endlich gelungen.Das ist tatsächlich ein Paradigmenwechsel in der deut-schen Zuwanderungspolitik.
Herr Minister, darf Ihnen der Kollege Seifert eineZwischenfrage stellen?Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:Nein, vielen Dank. – Wirtschaftspolitik heißt auch In-dustriepolitik. Industriepolitik heißt auch Energiepolitik.Das bedeutet: Wir müssen die Energieversorgung einesIndustrielandes wie Deutschland sichern. Das wird nichtmit naiv-romantischen energiepolitischen Vorstellungenfunktionieren. Wenn wir die Energiewende in Deutsch-land erfolgreich umsetzen wollen, dann müssen wir mitgrünen Träumereien Schluss machen.
Die Bundesnetzagentur, die Sie eben so gescholtenhaben, arbeitet mit Hochdruck an einem deutschen Netz-ausbauplan. Wir arbeiten an einem Förderprogramm fürhocheffiziente neue Kraftwerke und bauen Kraft-Wärme-Kopplung aus. Wir wollen Forschung und Inno-vationen gerade im Energiebereich: neue Netze, Spei-chertechnologien und Elektromobilität.Ich erwarte von all denjenigen, die in den letzten 20,30 Jahren gegen Kernenergie demonstriert haben, dasssie jetzt fest an meiner Seite stehen, wenn wir neue Koh-lekraftwerke, Gaskraftwerke und 4 500 Kilometer neueNetze bauen. Wer aus der Kernenergie aussteigen will,der muss in fossile Kraftwerke einsteigen. Alles anderewäre unehrlich.
Ich bin sehr gespannt. Ich habe die Umweltverbändeangeschrieben, mich beim Bau von Kohlekraftwerkenund Gaskraftwerken zu unterstützen. Da scheint es beiden Umweltverbänden noch Nachholbedarf zu geben.Auf die Antworten bin ich sehr gespannt.
Mit Ihrer Politik jedenfalls wird es nicht weitergehen.Wir brauchen endlich wieder eine realistische Energie-politik, eine gute Industriepolitik und eine starke Wirt-schaftspolitik in Deutschland.
Wir brauchen auch Vertrauen in unsere Wirtschaftund unser Wirtschaftssystem, also in das System der so-zialen Marktwirtschaft. Wir alle sehen, dass dieses Ver-trauen zunehmend schwindet.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17035
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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Das zeigen nicht nur die Demonstrationen, sondern auchGespräche mit Unternehmerinnen und Unternehmern.Sie stellen uns immer wieder eine Frage: Was machtPolitik tatsächlich für die Regulierung der Finanzmärktein Deutschland, in Europa und weltweit?
– Ich will es Ihnen sagen. – Die Finanzmärkte werdengebraucht. Sie müssen Liquidität für die Unternehmenzur Verfügung stellen. Sie haben eine dienende Funk-tion.
Aber auch wir sehen selbstverständlich, dass sich die Fi-nanzmärkte mit vielen ihrer Produkte und Verfahrenlängst von dieser dienenden Funktion entfernt haben. Siehaben sich verselbstständigt. Genau das müssen wir ge-meinsam stoppen.
Ich habe null Verständnis, wenn Sie mit fallenden Ak-tien, die Ihnen nicht einmal gehören und die Sie sichnoch nicht einmal geliehen haben, Gewinne machenkönnen.
Deswegen ist es klug, ungedeckte Leerverkäufe zu ver-bieten. Genau das hat die Bundesregierung getan. Wirsetzen uns dafür ein, dieses Verbot von ungedecktenLeerverkäufen nicht national, sondern international, alsoeuropaweit und weltweit, durchzusetzen.
Wir hoffen sehr, dass Sie auch an dieser Stelle an unsererSeite stehen. Denn wir brauchen noch weitere Regulie-rungen auf dem Finanzmarkt.Ihre Antwort auf die Frage der Regulierung ist eineFinanztransaktionsteuer.
Das ist mir zu wenig. Das ist nur Abkassieren und keinRegulieren. Wir brauchen mehr, wenn wir die Finanz-märkte weltweit in den Griff bekommen wollen.
Wir brauchen mehr Transparenz im Derivatehandel.Wieso gibt es eigentlich keine Anrechnung von Staatsan-leihen auf das Eigenkapital von Banken? Jeder Mittel-standskredit muss angerechnet werden. Damit werdengeradezu Anreize gesetzt, unsolide Staatsanleihen zukaufen. Ich will, dass es künftig wieder attraktiv wird, anden Mittelstand Kredite zu vergeben, statt unsolide,faule Staatsanleihen zu kaufen. Daran müssen wir etwasändern, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Wenn wir Vertrauen schaffen wollen, dann ist das dieAufgabe für die Vertreter der sozialen Marktwirtschaft.So wie Ludwig Erhard damals mit dem Kartellrecht ei-nen wesentlichen Baustein in das Fundamt der sozialenMarktwirtschaft eingefügt hat, muss die jetzige Politi-kergeneration, die sich der sozialen Marktwirtschaft ver-pflichtet fühlt, eine kluge Finanzmarktregulierung in dasSystem der sozialen Marktwirtschaft mit einfügen.
Das ist eine Aufgabe für die Vertreter der sozialenMarktwirtschaft, also für uns.Genauso müssen wir um Vertrauen werben, wenn esum die Stabilisierung unserer Währung geht. Ich habegestern Ihre Reden genau verfolgt: nicht ein Wort derEntschuldigung und des Bedauerns, dass Sie mit demAufweichen der Maastricht-Kriterien das Vertrauen derMenschen in unsere Währung massiv enttäuscht haben.
Das war die Ursache für die aktuelle Krise. Dagegen ha-ben Sie nichts getan. Stattdessen kommen von Ihnenjetzt gute Ratschläge, wie die Haushalte in den Griff zubekommen sind. Ausgerechnet von Rot und von Grünbrauchen wir solche Ratschläge nicht.
Jeder weiß: Da, wo Sie regieren, werden Schulden ge-macht, bis es kracht. Ich glaube, Sie sollten sich etwaszurückhalten, wenn es darum geht, mit uns gemeinsamüber Haushaltskonsolidierung zu reden.
Wir brauchen von Ihnen keine Ratschläge. Aber ichglaube, wir sollten alle zusammenstehen, wenn es darumgeht, für eine Stabilitätsunion zu kämpfen:
mit einem Schuldenverbot für alle Staaten und einemWettbewerbstest. Alle diejenigen, die bei einem solchenTest durchfallen – das kennen Sie, Frau Künast –, müssenmit harten, automatischen Sanktionsmaßnahmen rech-nen. Dafür brauchen wir Vertragsänderungen. Wir brau-chen, nachdem Sie den Stabilitätspakt I kaputtgemacht
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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haben, einen neuen Stabilitätspakt. Wir brauchen Ver-tragsänderungen, wir brauchen einen Stabilitätspakt II inEuropa zur Stabilisierung unserer gemeinsamen Wäh-rung.
Sie wollen das Gegenteil. Sie wollen eine Transfer-union, Sie wollen Euro-Bonds, und Ihr Kollege, FrauKünast, möchte ja sogar Finanzminister werden. Wirhalten alles drei für falsch.Eine Transferunion wäre falsch, weil wir nicht wol-len, dass der deutsche Steuerzahler für die Schulden inanderen europäischen Staaten aufkommt.
Wir wollen keine Euro-Bonds, weil wir nicht wollen,dass die Zinsen in Deutschland dramatisch steigen. Daswäre zum Nachteil für das Wachstum in Deutschland.Deswegen sage ich Ihnen: Die Menschen können aufdiese Regierungskoalition zählen. Wir werden alles dreiverhindern: die Transferunion, Euro-Bonds und JürgenTrittin als Bundesfinanzminister.
Anstatt sich hier aufzuregen, sollte sich der gesamteDeutsche Bundestag jetzt gemeinsam gegen die Vor-schläge des EU-Kommissars Herrn Barroso stellen.
Er schlägt Euro-Bonds vor und fordert sie. Es wäre nichtnur zum Schaden für unser Land, wenn die Zinsen stei-gen würden, sondern das wäre auch zum Schaden vonEuropa, weil das Vertrauen in die Europäische Unionund in die Stabilität der Europäischen Union verlorengehen würde.
Wir sagen Nein zu Euro-Bonds. Das sollte hier als Si-gnal vom gesamten Deutschen Bundestag gesendet wer-den.
Das ist unsere Aufgabe: Wachstum verstetigen, Fach-kräftesicherung, kluge Energiepolitik, klares Bekenntniszur sozialen Marktwirtschaft und Stabilisierung derWährung. Das sind die richtigen Schritte für die Versteti-gung des Wachstums auch im Jahre 2012.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kol-
lege Seifert. Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das
Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Minister, Sie undIhre Koalition loben die Umstrukturierung Ihres Haus-haltes sehr. Außerdem haben Sie gerade mehrfach großeBekenntnisse zur sozialen Marktwirtschaft abgegebenund gesagt, was Sie so alles erreichen wollen.Mir fehlt in Ihrem Haushalt aber eine Aussage zurUmsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ichkann sie zumindest nicht erkennen. Vielleicht könnenSie mich da aufklären? Der Deutsche Bundestag be-kannte sich dazu. Wie wollen Sie das umsetzen? Sie istimmerhin seit zweieinhalb Jahren geltendes Recht inDeutschland. Für diese Querschnittsaufgabe, die jedesRessort betrifft – auch Ihres –, müsste es doch in jedemHaushalt ein eigenes Kapitel geben. Bei Ihnen steht keinWort davon. Ich kann leider auch keine Zahl finden.Vielleicht können Sie mir sagen, wo ich sie finden kann.
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Ab-geordneter! Wir haben ja schon mehrfach über genaudiesen Punkt diskutiert.
Ich kann mich daran erinnern, dass ich im Tourismus-ausschuss gewesen bin. Dort haben wir Ihnen Antwortenauf die Frage gegeben, was wir gerade in diesem Bereichtun. Tourismus gehört unzweifelhaft mit zur Wirtschafts-politik. Gerade wenn es darum geht, barrierefreies Rei-sen möglich zu machen, ist dieses Haus mit federfüh-rend. Das wissen Sie genauso gut wie alle hier in diesemHause.Sie sind nicht mit jeder Maßnahme meines Ministe-riums zufrieden. Aber das, was in unseren Möglichkei-ten steht – bezogen auf die Querschnittsaufgabe, Gleich-berechtigung für alle Menschen in unserem Lande zuerreichen – und wofür das Wirtschaftsministerium dieVerantwortung hat, beispielsweise auch im Bereich derTourismuswirtschaft, werden wir tun. Das wissen Sie,und ich finde es schade, dass Sie das hier nicht anerkannthaben; denn das haben Sie gemeinsam mit allen Kolle-gen im Tourismusausschuss unter Mitwirkung der Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter beschlossen. Ich würde michfreuen, wenn Sie diese Leistung für alle Menschen inDeutschland anerkennen würden.Vielen Dank.
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Nun hat der Kollege Tobias Lindner das Wort für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Wenn man Ihnen heute Morgen zugehört hat, HerrMinister, dann konnte man feststellen, dass Sie einedurchaus bemerkenswerte Rede gehalten haben.
Wenn man Ihnen zuhört, dann muss man nämlich denEindruck haben, hier in diesem Plenarsaal tue sich einParalleluniversum auf.
Auf der einen Seite erzählen Sie und die Koalitionuns, wie gut es uns in diesem Land geht, wie toll Siesind,
wie erfolgreich Ihre Politik ist und dass Rot-Grün an al-lem schuld ist – am Ende auch noch am schlechten Wet-ter.
Auf der anderen Seite haben dies die Menschen, wennman sich Ihre Umfragewerte anschaut, anscheinendnoch nicht bemerkt.
Der zweite bemerkenswerte Umstand heute Morgenwar: Herr Rösler, Sie haben von Euro-Bonds gespro-chen, Sie haben von einem Mindestlohn gesprochen, Siehaben von einer Finanzmarkttransaktionsteuer gespro-chen. Sie haben dabei immer in unsere Reihen geblickt.Ich rate Ihnen, einmal in die Reihen der CDU/CSU zuschauen. Schauen Sie auf das Gesicht des Bundesfinanz-ministers. Das würde Ihnen Aufschluss über die Einig-keit in Ihrer Koalition geben.
Ein weiterer Punkt. Ich weiß nicht, wie es um dieKochkünste des Bundeswirtschaftsministers bestellt ist.
Ich kann Ihnen aber eines sagen: Wäre die FDP einPizzabringdienst, dann befänden Sie sich schon längst ingeordneter Insolvenz,
aber nicht deswegen, weil das Produkt nicht schmeckenwürde, sondern weil die Menschen in diesem Land bisheute auf diese Lieferung warten, die Sie im Mai ver-sprochen haben.
Das sieht man auch, wenn man in den Etat des Wirt-schaftsministeriums schaut. Die Kollegen vor mir habenes schon erwähnt: Der Etat ist neu strukturiert worden.Es wurden vier neue Kapitel geschaffen. Aber was istpassiert? Die alten Förderprogramme von gestern undvorgestern sind ohne kritische Prüfung in diese Kapiteleinfach neu einsortiert worden. Viele neue Rezepte fin-det man in diesem Etat allerdings nicht. Was man findet,sind neue Stellen in Ihrem Ministerium, bedingt durchden Wechsel an der Spitze.Eines servieren Sie hingegen, und das ist, um in derSprache zu bleiben, kalter Kaffee, nämlich die x-te An-kündigung von Steuersenkungen quasi als Rettungs-schirm für die FDP. Es sind Steuersenkungen auf Pumpin Zeiten, in denen die Konjunktur abflacht. Das ist dasfalsche Signal aus unserer Sicht.
Trotz mehr als 1 Billion Euro Schulden in Deutschland,trotz historisch niedriger Zinsen und großer Risiken indiesem Haushalt investieren Sie 6 Milliarden Euro inSteuersenkungen, die bei der Hälfte der Menschen indiesem Land gar nicht ankommen, statt den Haushalt zukonsolidieren oder dieses Geld dafür einzusetzen, umunsere Wirtschaft zukunftsfähig zu machen und auf dieEnergiewende vorzubereiten.
Kommen wir zur Energiewende. Herr Kauder, Sie sa-gen, die Energiewende werde durchgeführt.
Ist das die Energiewende, wenn Sie auf der einen Seitedamit drohen, die Mittel für den Ausbau der Solarener-gie in Deutschland zu deckeln, aber gleichzeitig neueKohlekraftwerke fordern? Ist das die Energiewende,wenn Sie im Etat des Wirtschaftsministeriums viel zuwenig Geld für den Ausbau der Energienetze, für Sys-temsicherheit und neue Speichertechnologien einstellen?Sie sind es doch, die uns vorwerfen, gegen neue Netzezu sein, aber Sie selbst stellen viel zu wenig Geld dafürim Etat bereit.
– Jetzt kommen wir zum Thema Klientelpolitik.Sie schaffen ein Sondervermögen für die erneuerba-ren Energien, den Energie- und Klimafonds. Das ist ein
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Dr. Tobias Lindner
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Schattenhaushalt, außerhalb des normalen Haushalts-plans, der mit großen Risiken verbunden ist. Es stelltsich die Frage, ob sich das überhaupt finanzieren lässt.Was Sie stattdessen gut absichern, ist die Luft- undRaumfahrt. Sie geben nicht nur 1,3 Milliarden Euro mitdem Argument aus, das sei Grundlagenforschung – beider Energiepolitik zählt dieses Argument offenbar nicht –,nein, Sie führen jetzt auch die Teilverstaatlichung derEADS fort. Sie haben in den Haushalt über 1 MilliardeEuro eingestellt, damit der Bund weitere Anteile vonEADS übernehmen kann. Das wird übrigens begleitetvon Kopfschütteln vieler Vertreter der deutschen Wirt-schaft, insbesondere von EADS selbst, die sich einenprivaten Investor hätte vorstellen können. Nicht nur das:Auf der einen Seite übernehmen Sie Eigentum an diesemUnternehmen und damit Risiko, auf der anderen Seitenehmen Sie aber Ihre Kontrollrechte und Ihre Verant-wortung nicht wahr. Diese Regierung verzichtet aufKontrollrechte im Aufsichtsrat.
Sie investieren hier riesige Summen. Sie sollten sichlieber peu à peu aus der Subvention solcher Unterneh-men zurückziehen, wirkliche Grundlagenforschung undZukunftstechnologien fördern und sich einer Roh-stoffstrategie zuwenden, die nicht nur auf die Ausbeu-tung ausländischer Minen setzt, sondern sich vor allenDingen auf Rohstoffeffizienz, alternative Rohstoffe undmehr Recycling konzentriert.
Herr Rösler, mit diesen Entscheidungen – mit einerTeilverstaatlichung der EADS, mit einem mangelndenSubventionsabbau, mit Schwerpunkten in einem Etat,die aus dem Umsortieren von Förderprogrammen beste-hen – befinden Sie sich auf einer ordnungspolitischenGeisterfahrt. Wie es mit Geisterfahrern nun einmal soist: Entweder bauen sie früher oder später einen Total-schaden, oder sie werden aus dem Verkehr gezogen. DenMenschen in diesem Land und der deutschen Wirtschaftist Letzteres zu wünschen.Ich danke Ihnen.
Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Herr Kollege Lindner, Sie sind grün, ein Grüner, undauch im Haushalt noch grün. Denn allzu viel Ahnung ha-ben Sie mit Ihrer Rede heute nicht bewiesen.
Lassen Sie mich nur einen Satz zur Solarförderungsagen: Die Solarförderung in Deutschland liegt mittler-weile bei 7,1 Milliarden Euro pro Jahr. Für Kohle gebenwir noch 1,42 Milliarden Euro aus. Das zeigt ja wohl,dass andere Schwerpunkte gesetzt worden sind.
Da diese Schwerpunkte mittlerweile überzogen sind,werden wir das korrigieren; daran werden wir gehen.Das hat eine mehr als große Berechtigung.Dass diese Koalition in der Lage ist, den Haushalt zusanieren, möchte ich Ihnen an drei Zahlen klarmachen.Der Kollege Steinbrück hat im Jahr 2009 noch einenHaushalt und auch eine mittelfristige Finanzplanung auf-gestellt, wie sich das gehört. Das ist in Ordnung. Diesemittelfristige Finanzplanung sah folgendermaßen aus:Im Haushalt 2010 war eine Nettokreditaufnahme von86,1 Milliarden Euro geplant. Der Kollege Schäuble– vielen Dank! – hat das mit 44 Milliarden Euro hinbe-kommen, also mit lediglich 51 Prozent des von HerrnSteinbrück, dem Reserveweltökonomen, geplanten Vo-lumens. 2011 war eine Neuverschuldung von 71,7 Mil-liarden Euro geplant. Der Kollege Schäuble wird dasdieses Jahr mit 22 Milliarden Euro hinbekommen; viel-leicht wird es sogar noch ein bisschen weniger. Für 2012hat der Weltökonom 58,7 Milliarden Euro Nettokredit-aufnahme eingeplant. Wir werden den Haushalt mit ma-ximal 26,1 Milliarden Euro Nettokreditaufnahme ab-schließen. Ich gehe davon aus, dass auch das nochweniger wird, wie Sie es in jedem Haushalt hinbekom-men haben, Herr Finanzminister. Ich gratuliere Ihnendazu. Das ist eine solide Haushaltspolitik.
Diese ist auch notwendig; denn die zusätzlichen Ver-schuldungen, die Rot-Grün ganz besonders intensiv be-trieben hat, helfen uns nicht weiter.Sie waren es auch – das gehört immer wieder zurWahrheit dazu; ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören –,die 2003 und 2004 als Allererste zusammen mit den Fran-zosen, mit Chirac, die Maastricht-Kriterien gebrochenhaben. Sie waren es, die nach Brüssel gefahren sind undverhindert haben, dass der berühmte blaue Brief ver-schickt wurde. Es war Herr Eichel, der das zusammen mitHerrn Chirac und Herrn Schröder gemacht hat.
Genau das war der Weg in die Verschuldung Europas.
Das war die Tür, die geöffnet wurde.
Deswegen können Sie von anderen Ländern nicht erwar-ten, dass sie sich an die Planungen halten und dieMaastricht-Kriterien einhalten. Ich empfinde es als eineziemlich schändliche Sache, einfach darüber hinwegzu-gehen und zu sagen: Wir haben damit eigentlich garnichts zu tun. – Sie haben!
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Dr. Michael Fuchs
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Ich bin dem Bundeswirtschaftsminister dankbar da-für, dass er einen sehr seriösen Haushalt aufgestellt hat.Im Bundesministerium sind über 700 Millionen Euro fürForschung und Entwicklung vorgesehen. Herr Minister,das ist gut. Vor allen Dingen freut mich das ZIM-Pro-gramm, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand,dessen Mittel bei 389 Millionen Euro angekommen sind.Das dient einer gezielten Förderung des Mittelstands,des Rückgrats unserer Wirtschaft. Das ist notwendig.Deswegen befindet sich die deutsche Wirtschaft in einersolch guten Verfassung.
Die Wirtschaft ist im letzten Jahr um 3,6 Prozent ge-wachsen. Sie wird dieses Jahr um rund 3 Prozent wach-sen. Sie, Herr Minister, haben gerade 1 Prozent für dasnächste Jahr angedeutet. Ich sage, dass das vielleichtnoch ein bisschen mehr wird.Was mich allerdings besorgt, ist, dass das ModellDeutschland zwar von anderen kopiert wird, aber dasswir uns und unsere soziale Marktwirtschaft ständig in-frage stellen. Warum eigentlich? Es ist schon bedenk-lich, wenn laut einer Emnid-Umfrage mittlerweile40 Prozent der Menschen im Osten Deutschlands demSozialismus noch einmal eine Chance geben würden. Ichverstehe nicht, warum das so ist. Offensichtlich nehmendie Menschen die gute wirtschaftliche Entwicklung ge-wissermaßen als Naturereignis wahr. Dass dahinter aberUnternehmertum sowie qualifizierte und motivierte Ar-beitnehmer stecken, dass diese Entwicklung darauf zu-rückzuführen ist, dass die richtigen politischen Entschei-dungen getroffen wurden, wird anscheinend nicht mehrwahrgenommen. Anders kann ich mir nicht erklären,dass in den Augen vieler die Märkte die Schuldigen ander aktuellen Staatsschuldenkrise sind. Es sind nicht dieMärkte, sondern die Länder, die über ihre Verhältnissegelebt haben.
Es handelt sich auch nicht um eine Euro-Krise, sondernum eine Schuldenkrise in den Euro-Ländern, die einfachzu viele Schulden gemacht haben. Das muss sich jetztändern.
Ich bin der Bundeskanzlerin für ihre gestrige Redeextrem dankbar, in der sie deutlich gemacht hat, dassEuro-Bonds der falsche Weg sind,
dass Money Printing der EZB nicht geht und dass das,was die Amerikaner und auch die Engländer machen,nicht der richtige Weg sein kann, nämlich Geld druckenund glauben, damit die Situation zu entschärfen. WirDeutsche haben in unseren Genen, dass alles, was die In-flation ansteigen lässt, der falsche Weg ist. Ein Anstiegder Inflation muss verhindert werden. Ich bin froh, dassunsere Politik, die Politik der Bundesregierung, die Poli-tik der Bundeskanzlerin, das aufzeigt.
Marktwirtschaft hat uns auf allen Feldern weitergehol-fen und zu dem gemacht, was wir heute sind. Der Staathat nie bewiesen, dass er der bessere Banker – Stichwort„Landesbanken“ – oder der bessere Unternehmer ist.
Er sollte es auch sein lassen, als Unternehmer aufzutre-ten. Manche Bereiche bereiten mir in dieser Hinsicht be-sondere Sorgen, zum Beispiel der Energiemarkt. 1997/98wurde unter dem damaligen BundeswirtschaftsministerGünter Rexrodt der Energiemarkt liberalisiert. Ord-nungspolitisch war das sicher eine richtige Entschei-dung. Heute ist es so, dass die staatlich bestimmten Las-ten beim Strompreis bei 42 Prozent angekommen sind.Hinzu kommen 24 Prozent durch regulierte Netzent-gelte. Damit sind nur noch 34 Prozent des gesamtenStrommarkts im Wettbewerb und marktbestimmend.
Das ist viel zu wenig. Das muss sich ändern. Wir müssendas, was der Staat bestimmt, zurückdrängen.
Das ist schon fast Planwirtschaft.Die Strommengen werden dem Markt entzogen undin ein geregeltes System überführt, nach dem Motto„produce and forget“. Wir stellen Strom her, aber wasdamit passiert, ob ihn einer braucht, interessiert unsüberhaupt nicht mehr. Das ist eine falsche Anreizset-zung. Es kann nicht sein, dass jemand, der heutzutageeine Windkraftanlage aufstellen lässt, sich um den Ab-satz des Stroms überhaupt nicht kümmern muss.
Wenn die Anlage erst einmal installiert ist, bekommt erGeld, ob der Strom gebraucht wird oder nicht. Als Un-ternehmer hätte auch ich mir gewünscht, meine Produkteeinfach auf den Hof stellen zu können, ohne mich darumkümmern zu müssen, was mit meinen Produkten pas-siert. Das ist jedenfalls nicht der richtige Weg. Wir müs-sen Anreize in die richtige Richtung setzen. Es darf nichtjeder so viel produzieren, wie er will, egal ob Strom ge-braucht wird oder nicht.
Zwei Zahlen dazu. In Schleswig-Holstein sind bereitsWindkraftanlagen onshore mit einer Leistung von insge-samt 3 800 Megawatt installiert. Bis Ende 2015 werdenwir wahrscheinlich bei 12 200 Megawatt onshore undoffshore angekommen sein. Aber gebraucht werden inSchleswig-Holstein im Durchschnitt 2 000 Megawatt amTag. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass wir dringenddafür sorgen müssen, dass der Strom dorthin transpor-
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Dr. Michael Fuchs
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tiert wird, wo er gebraucht wird. Anderenfalls werdenWindkraftanlagen permanent abgeschaltet werden müs-sen, und die Betreffenden bekommen Geld, obwohl derStrom nicht gebraucht wird. Dieser Weg ist falsch. Zu-erst müssen die Netze ausgebaut werden, damit derStrom dorthin transportiert werden kann, wo er ge-braucht wird.
Ich habe erhebliche Befürchtungen, dass wir in diefalsche Richtung laufen. Wir alle sind gefordert, gegen-zusteuern und den Netzausbau gemeinsam durchzuset-zen.
Es kann nicht sein, dass wir hier im heiligen Föderalis-mus schwelgen und jedes Land dort baut, wo es will, ob-wohl Kupplungsstellen zwischen den Bundesländernnicht funktionieren. Das funktioniert eher in RichtungAusland als bei uns.
– Daran sind doch die von Ihnen geführten Länder, HerrKollege Heil, genauso beteiligt wie die von uns regier-ten.
Das muss sich ändern, und zwar ganz schnell. Es kannnicht sein, dass wir am Markt vorbei Strom produzierenund die Verbraucher und die Unternehmen das anschlie-ßend bezahlen dürfen.
Wir haben das lange genug falsch gemacht. Ich wün-sche mir, dass wir so schnell wie möglich gemeinsam anden Start gehen. Da sind die Grünen gefordert; denn siemachen das nicht in den Ländern, wo sie mit in der Re-gierung sind, und sie machen schon gar nichts für Spei-cheranlagen. Ich sage nur: Gucken Sie sich Ihre grünenKollegen in Baden-Württemberg an! Die blockierenAtdorf nach wie vor.
Da haben Sie eine große Aufgabe, gemeinsam etwas zutun. Ich würde mir wünschen, das ginge wesentlichschneller nach vorn. Frau Künast, bringen Sie Ihre Leutein Schwung!
Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! In diesen Tagen, Herr MinisterRösler, wird deutlich, dass diese Bundesregierung sichseit zwei Jahren viel zu sehr auf einer durchaus erfreu-lichen wirtschaftspolitischen Entwicklung ausgeruht hat,die vor allen Dingen darauf basiert, dass die Vorgänger-regierung
Entscheidungen getroffen hat,
mit denen sie Deutschland gut durch die Krise geführthat, und Sie haben davon profitiert. Das neiden wir Ih-nen nicht. Das war eine schöne Entwicklung; das wargut für Deutschland.Aber Sie haben jetzt seit zwei Jahren das Ruder in derHand – oder: Sie sollten es zumindest haben. Wir erle-ben jetzt, dass dunkle Wolken am Konjunkturhimmel fürdas kommende Jahr aufziehen.
Wir müssen feststellen: Sie haben keine Zukunftsvor-sorge für das getroffen, was jetzt an Unwetter auf uns zu-kommt, und das wird sich leider Gottes auch in der Real-wirtschaft in Deutschland niederschlagen.
Ich sage Ihnen eines, Herr Kauder: Ich bin keinSchwarzmaler.
Ich wünsche mir, dass wir besser durch die Entwicklungkommen, als manche befürchten. Das ist eine Hoffnung,die wir auch als Opposition haben, weil es uns um dasLand geht, Herr Kauder, nicht um eine kleinkarierte Be-urteilung der Situation.Sie können überhaupt nicht ignorieren, dass die Krise,die wir im Moment erleben, eine Dimension hat, die in-zwischen auch wieder negative Folgen für die Realwirt-schaft in Deutschland hat. Gerade als ein Land mithohem Exportanteil – 60 Prozent dessen, was wir inDeutschland produzieren, exportieren wir in den EU-Raum – sind wir darauf angewiesen, dass wir in Europaeine gemeinsame Entwicklung haben, die nach vornegeht.Deshalb, Herr Rösler, kann ich Ihnen nicht ersparen,Ihnen eines zu sagen: Sie versuchen hier, Pappkamera-den aufzubauen, und sind als Wirtschaftsminister bei derBewältigung dessen, was in Europa notwendig ist, prak-tisch ein Totalausfall. Sie spielen keine Rolle in dieserganzen Debatte.
Das ist vielleicht deshalb kein Wunder, weil Sie sosehr damit zu tun haben, die Debatte mit den National-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17041
Hubertus Heil
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konservativen in der FDP zu führen, die sich jeglicherVerantwortung entziehen. Um das zu tun, bauen Sie andieser Stelle Pappkameraden auf, die Sie dann selbstwieder einsammeln müssen. Das baut kein Vertrauenauf.Ich finde auch Ihre etwas dünne Analyse der Verhält-nisse sehr problematisch; das gilt auch für Sie, HerrFuchs. Wenn wir auf die Ursachen dessen gucken, waswir im Moment erleben, dann erkennen wir: Es gibtnicht nur die eine Ursache. Man kann nicht einfach sa-gen: Die Staaten sind schuld. Sie alle haben über ihreVerhältnisse gelebt.
Richtig, das gab es. Für Griechenland beispielsweise giltdas. Aber Spanien hat bis zum Ausbruch der Krise nichtüber seine Verhältnisse gelebt; das zeigt auch die haus-halterische Entwicklung. Irland hatte ebenfalls keineEntwicklung, in der man im Haushalt kurzfristig überdie Verhältnisse gelebt hat. Das kann es doch wohl nichtgewesen sein.Wir haben vielmehr erlebt, dass Länder aus sehr un-terschiedlichen Gründen zu Defizitländern gewordensind:In Irland ist eine Bankenblase geplatzt, weil manWachstum einseitig auf Finanzdienstleistungen abge-stützt hat. Sie als FDP haben uns früher die irischeVolkswirtschaft geradezu als leuchtendes Beispiel vor-gehalten. „Der keltische Tiger“, das war Ihr Wort.
Die hohen Wachstumsraten sind damals spekulationsbe-gründet gewesen. Man hat uns in Deutschland seinerzeitals kranken Mann Europas bezeichnet, weil wir so alt-modisch waren, auf die industrielle Basis dieses Landeszu setzen, diese zu erneuern, uns aber nicht von ihr zuverabschieden. Sie ignorieren vollständig, dass diese fal-sche Form der einseitigen Orientierung auf Finanz-dienstleistungen die Ursache für die Krise in Irland ist.In Spanien sind es andere Krisenursachen. Da ist,auch durch die Finanzmärkte getrieben, eine Riesenim-mobilienblase geplatzt.Dann gab es haushalterische Misswirtschaft wie inGriechenland.Alles drei hat es gegeben. Deshalb ist es ziemlichideologisch, die Schuld an dieser Stelle auf den Staat zuschieben, nur deshalb, weil es in Ihr Feindbild passt. Siemüssen akzeptieren, dass die Politik, die Demokratie,die Staaten in der Krise es waren, die den Schlamasselaufzuräumen hatten, und dass sich viele aus der Finanz-wirtschaft von der Verantwortung verabschiedet habenund inzwischen gegen Staaten, die sie selbst aus demMist gezogen haben, zu spekulieren anfangen.
Herr Minister, Sie reden von Finanzmarktregulie-rung. Aber wo sind Ihre Taten? Reden wir doch darüber,wie wir mehr Wettbewerb und mehr Transparenz beiden Ratingagenturen hinbekommen. Wo sind Ihre Initia-tiven im Bereich der Risikobewertung? Zum ThemaFinanztransaktionsteuer habe ich eben nur mitbekom-men, dass Sie irgendwie dagegen sind. Während inzwi-schen fast ganz Europa der Überzeugung ist, dass wirdiese Antispekulationsteuer brauchen, weil wir auch dasGeld brauchen, um die Defizite zu minimieren, ist dieFDP der letzte Bremsklotz bei der Finanztransaktion-steuer. Merkel sagt in Brüssel das eine, Sie sagen hierdas andere.
Herr Rösler, ich kann Ihnen das nicht ersparen: WennSie als Totalausfall in diesen Fragen und bestenfalls ausFDP-internen Gründen als Bremsklotz in dieser Bundes-regierung so weitermachen, dann versündigen Sie sichan dem, was auf uns zukommt.Jetzt sage ich etwas zu Ihrem neuen PappkameradenEuro-Bonds. Wir haben mittlerweile eine Situation, inder Sie feststellen müssen, dass all das, was wir in denletzten anderthalb Jahren zum Beispiel durch Rettungs-schirme für Griechenland an Notmaßnahmen ergreifenmussten, offensichtlich – das wird Tag für Tag deut-licher – nicht ausreichen wird. Die Frage ist: Was pas-siert jetzt? Es gibt drei mögliche Szenarien:Erstens kann man so weitermachen wie bisher. Mankann hoffen und bangen und dann erleben, dass dieEuro-Zone auseinanderbricht. Die reale Gefahr ist da;das können Sie nicht ignorieren.Zweitens kann man sagen, man tut nichts, weil mansich die Hände nicht schmutzig machen will. Dann jagtman durch das Nichthandeln, für das Sie Verantwortungtragen, die Europäische Zentralbank immer weiter in denAufkauf von Staatsanleihen. Das ist das, was Sie imMoment machen. Sie beschimpfen die EZB zwar hinter-her für den Aufkauf von Staatsanleihen, aber Sie drän-gen sie geradezu in diese Rolle und nehmen damit billi-gend in Kauf, dass die EZB irgendwann die Notenpresseanwerfen muss. Dann kommt es zu der Inflation, dieviele Menschen befürchten.Die dritte Möglichkeit ist, zu akzeptieren, dass Dingeauf uns zukommen, die wir uns nicht wünschen, für dieman aber Vorsorge treffen muss. Ich habe heute gelesen,Herr Barthle, dass die Front in Sachen Euro-Bonds inIhrer Fraktion offensichtlich bröckelt.
Man sagt ganz deutlich: Es geht nicht darum, diese zufordern, aber man muss sich Gedanken darüber machen,ob man sie ausschließen kann oder ob es nicht sinnvollerist, eine Konstruktion zu entwerfen, nach der diejenigen,die solche Anleihen in Anspruch nehmen, sich hartenAuflagen aussetzen müssen.
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17042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Hubertus Heil
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Sie werden Ihre Worte wieder einmal fressen müssen.Sie brauchen diesen Pappkameraden doch nur für dieUrabstimmung in der FDP.
Sie sind getrieben, und Sie werden im Frühjahr erleben,dass Sie das einholt. Nach all dem, was uns die Fach-leute sagen, gibt es nur diese drei Szenarien.Sie treiben im Moment durch Nichthandeln, Wackelnund einen Zickzackkurs die Europäische Zentralbank indie Rolle der größten Bad Bank in Europa. Das ist dieGefahr, die wir im Moment sehen.
Sie haben keine Initiativen zur wirksamen Regulierungdes Finanzmarktes auf den Tisch gelegt. Sie sind sichnicht einmal innerhalb der Koalition einig, ob Sie eineFinanztransaktionsteuer wollen.
– Wollen Sie eine Frage stellen, Herr Brüderle?
– Bitte schön.
Vielleicht darf ich mich an der Vermittlung dieses
Fragewunsches auch noch beteiligen. Ich stelle Ihre Be-
reitschaft mit Respekt fest. – Bitte schön, Herr Kollege
Brüderle.
Das war ein basisdemokratischer Kontakt zwischen
Herrn Heil und mir, Herr Präsident. Das ist parlamenta-
risch unüblich, aber erfolgreich.
Herr Heil, ist Ihnen bekannt, dass Ihr Fachmann, Ihr
haushaltspolitischer Sprecher Carsten Schneider, gestern
im Morgenmagazin sehr deutlich gemacht hat, dass
Euro-Bonds weder verfassungsrechtlich noch ökono-
misch vertretbar sind? Meines Wissens ist er unverän-
dert Sozialdemokrat.
Herzlichen Dank für die Frage, Herr Brüderle. So
kann ich Sie an dieser Stelle aufklären.
Carsten Schneider ist ein hervorragender Fachmann.
Deshalb zitieren Sie ihn bitte vollständig. Er hat darauf
hingewiesen, dass es rechtlich sehr schwierig sein wird,
sich auf diesen Weg zu machen. Es ist nicht einfach,
auch nicht die Diskussion darüber. Sie tun ja immer so,
als würden wir täglich Euro-Bonds fordern. Was ich
eben gesagt habe, ist etwas anderes: Sie können zu die-
sem Zeitpunkt ein solches Instrument, das im Übrigen
der Sachverständigenrat als Schuldentilgungsfonds, also
unter einem anderen Namen, aber mit derselben Ziel-
richtung, vorgeschlagen hat, überhaupt nicht ausschlie-
ßen.
Wir sagen ganz deutlich: Wir schließen kein Instrument
aus, das hilft, die Euro-Zone zusammenzuhalten; denn
der Zusammenhalt in der Euro-Zone ist im wohlverstan-
denen deutschen wirtschaftlichen Interesse. Sie schlie-
ßen in unverantwortlicher Art und Weise alle möglichen
Maßnahmen aus und erleben dann Monate später, dass
Sie es doch in dieser Richtung machen müssen.
Wir sagen: Euro-Bonds sind kein Allheilmittel und
auch kein Selbstzweck. Sie werden kein Mittel sein, das
per se funktioniert, sondern sie funktionieren nur, wenn
man eine Vorstellung davon hat, wie sie konstruiert sind.
Dazu zählt, dass Länder, die die damit verbundenen
Zinsvorteile in Anspruch nehmen, sich unterwerfen
müssen und an dieser Stelle auch ein Stück nationale
Souveränität abgeben müssen, Herr Brüderle. Denn es
ist ganz klar, dass es einen Zusammenhang zwischen
Haftung und Risiko geben muss. Länder können nicht
Hilfen in Anspruch nehmen und einfach weiterwursch-
teln.
Herr Brüderle, Sie sagen, was Sie nicht wollen. Sie
schließen Dinge aus und erleben dann Monat für Monat,
dass Sie das auffrisst. So hat das Ganze angefangen. Ich
kann mich noch erinnern, dass der Kollege Otto Fricke
– auch ein Haushälter, wenn ich mich richtig erinnere –
sich hier im Parlament hingestellt und mit dem schönen
Satz begonnen hat: Keinen Cent für Griechenland! – Auf
irgendeine Art und Weise hat er sogar Wort gehalten;
denn es war dann kein Cent, sondern es waren Milliar-
den. Wir reden inzwischen über Dimensionen, die sich
kein Mensch mehr richtig vorstellen mag und kann.
Die Situation ist zu ernst, als dass Sie hier FDP-Papp-
kameraden aufbauen könnten, nur um Herrn Schäffler
im Griff zu behalten.
Sie werden sich der Verantwortung stellen müssen. Des-
halb sage ich Ihnen: Machen Sie sich einen Kopf da-
rüber, was wir im Frühjahr erleben werden, wenn das so
weitergeht. Ihre Krisenpolitik, Ihr Zickzackkurs, Ihr He-
rumgeeiere sind gescheitert.
Herr Brüderle, Sie können sich wieder setzen. Herzli-
chen Dank! – Oder wollen Sie noch eine Frage stellen?
Herr Kollege Heil, darf ich den Vorschlag machen
– denn der Kollege Barthle möchte dazu offenkundig
auch eine ergänzende Bemerkung machen –, dass wir
die beiden Wortmeldungen vielleicht zusammen aufru-
fen und Sie dazu dann Stellung nehmen?
Gern. – Aber habe ich noch genug Redezeit?
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Sie bekommen auf diese Weise ungeahnte zusätzliche
Redezeiten, völlig richtig.
Danke. – Dann dürfen Sie stehen bleiben, Herr
Brüderle. Bitte schön.
Kollege Brüderle, dann Herr Barthle.
Herr Kollege Heil, damit Sie den Originaltext von
Herrn Carsten Schneider kennen, –
Guter Mann.
– lese ich Ihnen die Agenturmeldung vor. Er sagte:
Aufgrund der rechtlichen Situation in Deutschland und
der ökonomischen Faktoren ist derzeit eine Einführung
nicht machbar.
Herr Brüderle, ich unterstreiche diesen Satz. Ich sage
Ihnen aber auch: Es kann eine Situation eintreten, in der
wir trotzdem zu einer solchen Lösung kommen müssen.
Darauf müssen Sie sich vorbereiten. Carsten Schneider
hat ja gesagt, dass es im Moment die rechtlichen Mög-
lichkeiten dazu noch nicht gibt. Es kann aber sein, dass
ein solches Instrument wirtschaftspolitisch und ökono-
misch in Zukunft notwendig sein wird. Deshalb müssen
wir dafür die Voraussetzungen schaffen.
Herr Brüderle, Sie denken nicht nach. Das ist der Vor-
wurf, den wir Ihnen machen.
Sie denken einzig und allein an die Frage, wie Sie Ihre
2-Prozent-Partei wieder aufpäppeln können. Aber das ist
unverantwortlich. Es geht nicht um die FDP, sondern es
geht um Europa und die wirtschaftliche Zukunft
Deutschlands, Herr Brüderle. Das ist der Unterschied.
So, jetzt Kollege Barthle.
Herr Kollege Heil, da Sie mich persönlich angespro-
chen haben, möchte ich das Ganze in einen richtigeren
Zusammenhang rücken. Es gibt heute eine Nachricht in
der FTD. Darin wird gemeldet, die Front gegen die
Euro-Bonds bröckele. In dieser Meldung werde ich mit
der Aussage zitiert:
Wir sagen nicht nie. Wir sagen nur: keine Euro-
Bonds unter den gegebenen Voraussetzungen.
Das ist genau die Position, die die Koalition und die
Bundeskanzlerin vertreten.
Die Bundeskanzlerin sagt klipp und klar:
Solange die Voraussetzungen nicht gegeben sind, so-
lange es die notwendigen vertraglichen Änderungen
nicht gibt, braucht man über Euro-Bonds mit uns nicht
zu diskutieren. Man muss zunächst den ersten Schritt
und dann den zweiten machen – und nicht umgekehrt.
Genau dies kommt in dem Zitat zum Ausdruck. Das
wollte ich noch einmal klargestellt haben.
Danke.
Herr Barthle, bleiben Sie bitte stehen, damit ich Ihnenantworten kann. – Ich muss Ihnen ein Kompliment ma-chen. Das klärt dann auch ein bisschen die Frage vonHerrn Brüderle. Herr Schneider, Sie und ich – wir dreizumindest – scheinen in dieser Frage einer Meinung zusein. Der Punkt ist nur: Dann muss man die Vorausset-zungen dafür auch schaffen.Herr Barthle, Sie haben den Mut, das in einer Zeitauszusprechen, in der die FDP „nie“ sagt. Herr Röslerhat vorhin gesagt: Euro-Bonds sind am Ende des TagesSchuldensozialismus.
Sie sind in dieser Situation verantwortungsbewusster,weil Sie ahnen, dass die Situation eintreten kann, dasswir ein solches Instrument brauchen. Wir beide sind unseinig: Dafür muss man Voraussetzungen schaffen. Esgibt keine voraussetzungslosen Regelungen – wederrechtlich noch ökonomisch. Man muss dafür sorgen,dass das Risiko auch von den Defizitländern getragenwird, dass sie ihren Anteil übernehmen.Ich kann Ihnen nur sagen, Herr Barthle: HerzlichenGlückwunsch, dass Sie den Mut und den Verstand ha-ben, einzuräumen, dass wir in eine Situation kommenkönnen, in der man den Einsatz eines solchen Instru-ments nicht ausschließen kann, dass man deshalb jetztdie Voraussetzungen schaffen und dazu Vorschläge vor-legen muss. Das ist nicht nur ein Beleg für einen weite-ren Unterschied in dieser Koalition, sondern leider Got-tes auch dafür, dass sich Schwarz-Gelb in solchenFragen, die von national und international wichtiger Be-deutung sind, wieder einmal nicht einig ist. Das muss ichfeststellen. – Herzlichen Dank, Herr Barthle.
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Also, dass sich Abgeordnete in laufenden Debatten
wechselseitig Mut und Verstand attestieren, halte ich für
einen der eigentlichen Höhepunkte dieser Haushaltsde-
batte, den ich ausdrücklich im Protokoll festhalten
möchte.
Herzlichen Dank. – Herr Präsident, dann darf ich
noch etwas hinzufügen.
– Na ja, das muss man doch an dieser Stelle sagen. – Die
Eigenschaften guter Politik sind nach Max Weber – das
ist gar kein schlechter Anhaltspunkt in Krisenzeiten –
Verantwortung, Leidenschaft und Augenmaß. Genau da-
rum geht es: um die Bereitschaft, Verantwortung zu
übernehmen in einer Zeit, in der es nicht populär ist, für
Lösungen einzustehen, die aber notwendig sind, um das
gemeinsame Europa auch wirtschaftlich zusammenzu-
halten. Deshalb darf man nicht unverantwortlich Papp-
kameraden aufbauen und schwadronieren, wie das Herr
Brüderle tut. Da finde ich Herrn Barthle verantwortungs-
voller, weil er bereit ist, auszusprechen, dass so etwas
auf uns zukommen kann.
Herr Präsident, Max Weber hat zweitens die Leiden-
schaft angeführt. Das bedeutet für uns die Überzeugung,
leidenschaftlich für dieses gemeinsame Europa einzutre-
ten. Dazu will ich sagen: Herr Schäuble, Ihnen nehme
ich das ab, aber vielen Ihrer Kollegen – vor allen Dingen
dem Bundeswirtschaftsminister – nicht, weil er zu lei-
denschaftlich mit der Frage beschäftigt ist, wie er die
FDP zusammenhält.
Ihm fehlt die leidenschaftliche Überzeugung, in Europa
voranzukommen und es stärker zu integrieren. Er lernt in
diesem Zusammenhang nicht, dass die Währungsunion
nicht funktioniert, wenn man einen Währungsraum hat,
in dem die Wirtschafts- und Fiskalpolitik nicht stärker
zusammenwächst. Herr Schäuble, Ihnen nehme ich ab,
dass Sie in diesen schwierigen Zeiten ein leidenschaftli-
cher Europäer sind. Das nehme ich dem Bundeswirt-
schaftsminister nicht ab.
Nach Leidenschaft und Verantwortung nennt Weber
drittens das Augenmaß. Ich erkenne in den Worten der
FDP und des Herrn Brüderle keinerlei Augenmaß. Herr
Rösler, wenn in Wahlkämpfen wie in Berlin so unverant-
wortlich versucht wurde – Gott sei Dank ist es ja ge-
scheitert –, die FDP mit antieuropäischen Ressentiments
über die Fünfprozenthürde zu katapultieren – zu dieser
Zeit waren Sie schon Vorsitzender und haben nichts dazu
gesagt –, dann zeugt das nicht von Augenmaß.
Verantwortung, Leidenschaft und Augenmaß sind
Werte, die eine vernünftige Wirtschafts- und Haushalts-
politik braucht. Genau das vermissen wir. Deshalb, Herr
Rösler – das kann ich Ihnen nicht ersparen –: Die Lage
ist viel zu ernst, als dass man Ihre aus der Zeit gefallenen
FDP-Parolen noch ertragen mag. Wir werden eine aktive
Wirtschaftspolitik brauchen, um die Scherben aufzusam-
meln, die Sie uns hier hinterlassen. Je eher diese Regie-
rung beendet ist, desto besser für die wirtschaftliche Ent-
wicklung in Deutschland und Europa.
Herzlichen Dank.
Florian Toncar ist der nächste Redner für die FDP-
Fraktion.
Vielen Dank. Herr Präsident! – Lieber Kollege Heil,man wird Ihrer Rede manches attestieren können, aberauf die Leidenschaft musste ich eine ganze Zeit langwarten. Dennoch: Es ist gut, dass Sie so eindeutig gesagthaben, was die SPD will, weil es noch einmal deutlichmacht, wie die politischen Alternativen in Deutschlandaufgestellt sind und dass es sehr unterschiedliche Kon-zepte gibt, wie man solche Krisen bewältigt.Ich will noch einmal daran erinnern, dass Rot-Gründen Stabilitätspakt kaputtgemacht hat. Ebenso will ichdaran erinnern, dass Rot-Grün vier Jahre hintereinanderfür einen Haushalt mit einer Verschuldung oberhalb derMaastricht-Kriterien verantwortlich war.
Das waren Sie. Jetzt stellen Sie fest, dass wir uns in ganzEuropa in einer Situation befinden – weil andere dasnachgemacht haben –, in der wir an Grenzen stoßen.
Es gibt unterschiedliche Gründe, Herr Kollege Heil, wa-rum sich Länder in einer Situation befinden, in der siekein Geld mehr bekommen. Gemeinsam haben sie je-doch eines: Es gibt nicht mehr genügend Geldgeber, dieihr privates Geld noch freiwillig diesen Ländern gebenwollen.
Wer Demokratien nur mit Schulden finanzieren kann,der verletzt am Ende die Regeln der Demokratie und ge-fährdet sie obendrein.
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Florian Toncar
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Deswegen sind die Euro-Bonds auch keine Antwort. Siekönnen Schulden nicht mit noch mehr Schulden be-kämpfen. Euro-Bonds bedeuten nichts anderes, als das,was ohnehin zur Krise geführt hat, zur Dauereinrichtungzu machen, und das Ganze dann auch noch auf alle ande-ren zu verteilen. Das kann dann jahrelang so weiterge-hen.Wenn Sie so vorgehen, ist das einerseits ein Verstoßgegen die Gerechtigkeitsvorstellungen unserer Bevölke-rung, auch gegen meine eigenen. Die Menschen, die sichan neue Situationen anpassen und vielleicht auch mitEinschnitten in ihrem Staat leben müssen, dürfen nichtzusätzlich dadurch bestraft werden, dass sie die Rech-nung für diejenigen bezahlen müssen, die das nicht inKauf genommen haben.Das Ganze verstößt andererseits auch gegen ökono-mische Gesetze. Sie werden mit Ihren Vorschlägen – sieführen zu mehr Schulden; es ist eine Steigerung des glei-chen Problems – am Ende zu keiner Lösung kommen.Das ist das Gefährliche an der Idee, die Sie da vorschla-gen. Das sind keine Pappkameraden; das ist letzten En-des ein untauglicher Vorschlag zur Lösung dieser Krise.
Kann der Kollege Heil eine Zwischenfrage stellen?
Bitte schön.
Herr Kollege Toncar, ich stelle fest, dass es zwischen
der Auffassung von Herrn Barthle und Ihnen einen Un-
terschied gibt;
das will ich an dieser Stelle festhalten. Er sagt: Wir kön-
nen Euro-Bonds in letzter Konsequenz nicht ausschlie-
ßen; aber die Voraussetzungen fehlen.
Sie sagen: Das ist Teufelszeug. – Das ist ein Unterschied
in der Argumentation; das will ich festhalten.
Zweitens. Herr Toncar, ich will Ihnen sagen: Wir sind
alle miteinander der festen Überzeugung, dass man öf-
fentliche Haushalte in Ordnung bringen muss, dass man
sie konsolidieren muss; wir streiten uns über den Weg.
Deshalb dürfen wir uns nicht gegenseitig unterstellen,
dass es uns darum geht, auf Teufel komm raus den Staat
zu verschulden. Ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen.
Wenn Sie so sehr dafür sind, dass man die Staats-
finanzen vor allen Dingen in guten Zeiten in Ordnung
bringt, dann frage ich Sie an dieser Stelle, warum Sie
nach zwei Jahren positiver wirtschaftlicher Entwicklung
und Steuermehreinnahmen in diesem Land im nächsten
Jahr noch mehr neue Schulden machen, als es notwendig
wäre.
Tun Sie nicht so, als seien Sie jemand, der in Europa
andere belehren könnte, wenn Sie in der nationalen Poli-
tik nicht in der Lage sind, in guten Zeiten mehr zu kon-
solidieren, sondern das Geld für so etwas Unsinniges
wie das Betreuungsgeld und Ihre Steuergeschenke für
Ihre Klientel verpulvern, Herr Toncar.
Lieber Kollege Heil, zum einen will ich festhalten,dass sich der Kollege Barthle jetzt von Ihnen zu Unrechtvereinnahmt fühlt; man sollte da dem Kollegen Barthlefolgen. Übrigens hat der Sachverständigenrat, auf denSie sich berufen haben, ausdrücklich Wert darauf gelegt,dass er keine Euro-Bonds vorgeschlagen hat.
Ich will Ihnen aber, nachdem Sie nicht meiner Aus-sage widersprochen haben, dass Rot-Grün viermal gegenden Maastricht-Vertrag verstoßen hat – es stimmt jaauch; man wird dagegen wenig anführen können –,
etwas zur aktuellen Haushaltssituation sagen. Sie kennendie Finanzplanung von Peer Steinbrück, die er vorgelegthat, bevor er das Amt des Finanzministers aufgebenmusste. Sie wissen, dass nach der Finanzplanung, diePeer Steinbrück damals vorgelegt hat, in diesem Jahreine weitaus höhere Neuverschuldung zu erwarten ge-wesen ist.
Sie wissen auch – dafür rühmen Sie sich –, dass Sie inder Großen Koalition – Sie haben eben in Ihrer Redenostalgisch daran zurückgedacht; das muss eine unheim-lich schöne Zeit gewesen sein – zur Zeit der Krise zweiKonjunkturprogramme aufgelegt haben, beide überSchulden finanziert, komplett kreditfinanziert.
– Die Programme waren im Prinzip nötig,
aber nicht jede einzelne Maßnahme.
– Zum Beispiel die Abwrackprämie.
Für die Abwrackprämie bezahlt der deutsche Steuerzah-ler – – Bleiben Sie bitte stehen. Das hat der KollegeBrüderle eben auch getan.
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Florian Toncar
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– Ich gehe jetzt auf den Punkt ein. – Ihre politische Leis-tung in Zeiten der Großen Koalition, an die Sie immernoch gerne denken, bestand im Grunde darin, dass Siesich innerhalb kurzer Zeit darauf geeinigt haben, 80 Mil-liarden Euro neue Schulden zu machen und dann dasentsprechende Geld zu verteilen.
Was diese Koalition machen musste und auch ge-macht hat, ist das komplette Gegenteil: Wir musstennicht neue Schuldenprogramme im Umfang von 80 Mil-liarden Euro zusammenstricken, sondern haben Konsoli-dierungsmaßnahmen im Umfang von 80 Milliarden Euroin vier Jahren beschlossen.
Jetzt frage ich Sie einmal, was denn die größere Leistungist: 80 Milliarden Euro ausgeben oder um 80 MilliardenEuro konsolidieren?
Letzteres hat diese Koalition gemacht. Das hätte keineandere Koalition in dieser Form geschafft, Herr KollegeHeil.Wir bewegen uns deswegen mit einem hohen Tempoin Richtung Einhaltung der Schuldenbremse. Wir kom-men in diesem Jahr einer Neuverschuldung von 20 Mil-liarden Euro nahe. Wir werden im nächsten Jahr einenweiteren deutlichen Abbauschritt machen. Wenn Sie mirvor zwei Jahren gesagt hätten, wie schnell es uns gelingt,den Haushalt zu konsolidieren, dann hätte ich das selbstkaum geglaubt. Wir sind doch weit besser im Zeitplan,als das noch vor zwei Jahren zu erwarten gewesen ist.
Ich möchte die Gelegenheit nicht versäumen, etwaszu dem zu sagen, was wir beim Einzelplan 09 alles be-schlossen haben. In dem Einzelplan sind wichtige Dingeenthalten, mit denen wir in Deutschland dazu beitragenkönnen, dass sich die Wirtschaft stabilisiert und sie wei-ter wachsen kann:Zum einen nenne ich das Thema Fachkräftesicherung.Das ist natürlich ein ganz wichtiges Thema. Im Haushaltdes Wirtschaftsministers ist schon seit längerer Zeit einentsprechender Haushaltstitel enthalten. Es geht hier da-rum, dass man gerade für die mittelständischen Unter-nehmen entsprechende Fachkräfte gewinnt, dass mandem Mittelstand, weil er nicht immer überall präsentsein kann, dabei hilft, an Fachkräfte zu kommen.
Herr Kollege Toncar, darf die Kollegin Paus Ihnen
noch eine Zwischenfrage stellen?
Gern, wenn sie möchte, ob nun zum Thema Fach-
kräfte oder zu anderen Themen. Jederzeit.
Es wäre schon gut, wenn es mit der Haushaltsdebatte
zusammenhängen würde.
Genau. – Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Herr
Toncar, ich habe eine kurze Frage. Sie haben gesagt, Sie
würden beim Konsolidierungspfad weitermachen und
nächstes Jahr weniger Schulden als dieses Jahr aufneh-
men. Das passt nicht zu dem, was ich in Mathematik ge-
lernt habe: Wenn Sie in diesem Jahr 22 Milliarden Euro
Nettoneuverschuldung haben und morgen mit der Verab-
schiedung des Gesamthaushalts 26 Milliarden Euro Neu-
verschuldung planen, wie kommen Sie darauf, dass es
im nächsten Jahr weniger Verschuldung geben wird und
nicht mehr?
Vielen Dank, Frau Kollegin, für diese Frage, weil siemir Gelegenheit gibt, auf einige Grundlagen des Haus-haltsrechts hinzuweisen.
Es gibt im Bundeshaushalt immer ein Soll und ein Ist. InBezug auf das Soll sagen wir am Anfang eines Haus-haltsjahres: Das ist das Maximum dessen, was die Re-gierung ausgeben darf, und es ist das Maximum dessen,was sie an Schulden aufnehmen darf. Das Ist beziehtsich auf das – das stellen Sie dann nach zwölf Monatenfest –, was wirklich ausgegeben oder an Schulden aufge-nommen wurde. Sie können sich vorstellen, dass esmeistens so ist, dass bei einem Haushalt von 300 Milliar-den Euro Soll und Ist nicht gleich groß sind;
denn es gibt immer etwas, was vorher geschätzt werdenmuss. Da können Sie – das ist auch im privaten Haushaltso – nicht jeden Euro vorhersagen.
Schauen Sie sich die Sollzahlen einmal an: In der Tathat Herr Steinbrück seinerzeit vorgeschlagen, für 201086 Milliarden Euro neue Schulden zu machen. Wir ha-ben dann im Parlament beschlossen, dass es maximal80 Milliarden Euro sein sollen. Für 2011 sollen es maxi-mal 48 Milliarden Euro sein, für 2012 maximal 26 Mil-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17047
Florian Toncar
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liarden Euro. Wenn Sie mir zustimmen würden, dass48 weniger als 80 sind und 26 weniger als 48, hätten wirschon ein erstaunliches Maß an Gemeinsamkeit.
Die Istzahlen für 2010 kennen wir schon: Es sind44 Milliarden Euro geworden. Für 2011 erwarten wireine Istzahl von ungefähr 20 bis 25 Milliarden Euro.Auch 20 bzw. 25 dürfte – das ist einfach zu erkennen –kleiner sein als 44. Ich kann daher überhaupt nicht er-kennen, dass irgendeine Verschuldung im Vergleich zumVorjahr nach oben geht. Sie werden beim Haushalt 2012– da wir sehr vorsichtig gerechnet haben – sehen, dass esauch da keine unangenehmen Überraschungen gibt.Wenn es nicht zu externen Ereignissen bzw. Schockskommt – die Krise in Europa kann natürlich großen Ein-fluss auf den Haushalt haben –, werden wir die 26 Mil-liarden Euro, die im Ansatz stehen, für das kommendeJahr nicht brauchen, sondern nochmals deutlich niedri-ger liegen. Aber wir rechnen vorsichtig, weil wir dieBürger vor unangenehmen Überraschungen schützenwollen.
Ich komme zurück zu meinem Thema. Für die Fach-kräftesicherung haben wir einen weiteren Schwerpunktim Haushalt gesetzt. Einen anderen Schwerpunkt habenwir beim Bundeskartellamt. Herr Claus hat gesagt, dassei toll, weil es Einnahmen bringt. Uns geht es eher da-rum, dass das Bundeskartellamt dafür sorgt, dass derWettbewerb fair abläuft, dass es in unserer Volkswirt-schaft keine wettbewerbsfreien Zonen gibt und dass dieVerbraucher von einem schärferen Wettbewerb profitie-ren. Ansonsten haben wir beide offenbar ein Faible fürdas Bundeskartellamt.Ich möchte zuletzt noch ein Thema ansprechen, dasauch der Kollege Brandner in seiner Rede erwähnt hat,nämlich den Netzausbau und die damit zusammenhän-gende Frage, ob die Bundesnetzagentur genug Personalbekommen hat. Wir haben die Bundesnetzagentur umweitere 220 Stellen verstärkt. All diese Mitarbeiter müs-sen erst einmal im Laufe des Jahres eingestellt werden.An Ihrer Kritik kann man, glaube ich, sehr gut sehen,was der Unterschied zwischen einem reinen Atomaus-stieg, den Rot-Grün beschlossen hat, und einer Ener-giewende ist, die wir beschlossen haben. Herr KollegeBrandner, die Laufzeiten der Kernkraftwerke, die Sievorgeschlagen hatten, waren ungefähr die, die jetzt imAtomgesetz stehen.
Offenbar ist beim Netzausbau gar nichts passiert; dennsonst hätten wir die erforderlichen Leute bei der Bundes-netzagentur. Ich frage Sie: Wo sind die denn eigentlich?Wenn Sie das kritisieren, müssen Sie sich doch erst ein-mal an die eigene Nase fassen. All das haben Sie nichtgemacht, sondern Sie haben damals einen isoliertenAtomausstieg, ohne auf die Vernetzung mit den übrigenEnergieversorgungssystemen Rücksicht zu nehmen, ge-plant. Das war sicherlich nicht richtig.
Herr Kollege.
Als Hauptberichterstatter möchte ich – damit der Kol-
lege Brandner zum Abschluss meiner Rede klatschen
muss, weil er gar nicht anders kann – nicht nur dem
Minister und dem Haus, sondern all meinen Kollegen für
die ausgesprochen kollegiale Zusammenarbeit danken.
Es war schön mit euch. Wir machen das nächstes Jahr
wieder.
Vielen herzlichen Dank.
Jetzt klatscht der Kollege Brandner trotz ausdrückli-
cher Aufforderung nicht, was aber – das will ich festhal-
ten – durch das freie Mandat gedeckt ist.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Lötzer für die
Fraktion Die Linke.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Herr Rösler, auch ich sehe das so, dasssich Ihre Wirtschaftspolitik daran messen lassen muss,ob sie einem wirtschaftlichen Abschwung entgegen-wirkt. Stattdessen stelle ich heute ebenso wie gesternfest, dass Sie Schönfärberei betreiben. Sie behaupten,Sie machten wachstumsfördernde Konsolidierungspoli-tik. Aber niemand merkt es.Lassen Sie mich weitere Aspekte anfügen. Die G 20– damit auch Sie – haben kürzlich in Cannes vereinbart:Die wenigen Länder, die noch über finanziellen Spiel-raum verfügten, sollten für Wachstumsimpulse und eineStärkung der Binnenkonjunktur sorgen. Was bleibt da-von in Ihrer Wirtschaftspolitik? Eine Steuersenkung von6 Milliarden Euro. Das ist angesichts der Herausforde-rung und der Lage auf dem Binnenmarkt lächerlich undwird dem überhaupt nicht gerecht.
Wir Linke sind immer für Steuergerechtigkeit einge-treten und haben die Abschaffung der kalten Progressiongefordert. Im Gegensatz zu Ihnen sind wir aber auch im-mer für eine Gegenfinanzierung eingetreten. Sie wollendie Vermögenden weiter schonen. Wir fordern, dass eineGegenfinanzierung über Vermögensabgabe und Vermö-gensteuer durchgeführt wird. Damit könnten Sie übri-gens locker einen Schritt zur Konsolidierung des Haus-halts gehen, Herr Toncar.
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Ulla Lötzer
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Nicht nur, dass die Vermögenden inzwischen selberdarum betteln, nicht nur Warren Buffett und auf interna-tionaler Ebene, auch auf nationaler Ebene gibt es inzwi-schen viele. Auch das DIW hat dazu festgestellt:Mögliche Anpassungs- und Ausweichreaktionenauf höhere Spitzensteuersätze werden häufig über-bewertet.Vermögende zu belasten, hat nicht die von Ihnen immerbehaupteten negativen Auswirkungen auf die Binnen-konjunktur. Die einzige Folge wäre, dass den Finanz-märkten Geld zur Spekulation entzogen würde. Auchdas wäre neben der geforderten Transaktionsteuer einSchritt zur Bereinigung der Finanzmarktkrise.
Es muss für viele Beschäftigte wie Hohn klingen,dass Sie permanent über die hohen Beschäftigungszah-len jubeln. Ja, viel mehr Menschen haben Arbeit, aberviele können davon nicht ohne Zuschuss leben. Oft warvom Aufschwung der Niedriglöhne und der prekärenBeschäftigung etc. die Rede. Lassen Sie mich ergänzen:Frauen müssen neben einem Vollzeitjob noch im Mini-job putzen oder kellnern oder sich und die Kinder mitzwei, drei oder vier Minijobs über Wasser halten. Das istIhr Familienprogramm für Arme. Es gibt so viele Millio-näre wie nie zuvor, gleichzeitig müssen immer mehrMenschen an der Suppenküche anstehen.Diese Entwicklung bleibt nicht beim Niedriglohnsek-tor stehen. Wiederum das DIW hat in seiner Studie zurArbeitsmarktentwicklung nachgewiesen, dass seit 2005die Zuwächse bei mittleren und höheren Lohngruppenlängst durch Kaufkraftschwund aufgefressen werden.Der gesetzliche Mindestlohn, die Zurückdrängung vonLeiharbeit, die Sozialversicherungspflicht von Minijobsab der ersten Stunde und der Grundsatz „Gleicher Lohnfür gleichwertige Arbeit“ sind nicht nur eine Frage derWürde, sondern auch wirtschaftlich dringend notwendig.
Auf europäischer Ebene gießen Sie Öl ins Krisen-feuer, statt zu löschen. Die Binnenmarktschwäche hatauch zur Folge, dass Deutsche nicht mehr Waren ausdem europäischen Ausland importieren, insbesondereaus den Krisenländern. Das wäre unter anderem abernotwendig, um deren Wachstum zu stärken. Stattdessensind EU-weit insbesondere auf Ihre Initiative hin Kür-zungsprogramme im Umfang von 400 Milliarden Euroaufgelegt worden. Mit dem Handelsblatt stellt die Linkefest:Die Frage, woher denn noch Wachstum kommensoll, wenn die gesamte Euro-Zone die Ausgabensenkt, ist mit Blick auf die Konjunkturprognosenfür die Euro-Zone mehr als berechtigt. Doch dieAntwort, die Merkel auf diese Frage gibt, ist nichtüberzeugend. Sie lautet: Wer ohnehin tief in der Re-zession steckt, soll noch weniger ausgeben.Ich füge hinzu: und damit noch tiefer in der Rezessionversinken.Wenn Sie die Binnennachfrage der Euro-Zone aufJahre hinaus ersticken, kehrt das wie ein Bumerang nachDeutschland zurück; denn 60 Prozent der deutschen Ex-porte gehen nach wie vor in die Länder der Euro-Zone.Die anderen Staaten beneiden Deutschland nicht um seineExportstärke. Es geht auch nicht um eine Entschuldigungfür die Exportstärke, Herr Rösler. Im Gegenteil: Die G 20– deren Teil Sie ohne Zweifel sind –, das Europaparla-ment, der Europäische Rat und die EU-Kommission ha-ben sich darauf geeinigt, Länder mit starken Leistungsbi-lanzüberschüssen wie Deutschland müssten Maßnahmenzur Stärkung des Binnenmarktes vorlegen. So massiv SieKrisenländern Sparprogramme aufzwingen, so entschie-den blockieren Sie diese Regelung auf europäischerEbene. Die Bundesregierung will jetzt den Schwellenwertdafür auf 7 Prozent setzen lassen. Damit wird dieses Vor-haben zur Farce. Das ist Ihr wirtschaftspolitisches Ar-mutszeugnis in Europa.
Eine Orientierung auf eine sozial-ökologische Erneu-erung fehlt im Haushalt. Herr Rösler, Ihr Streit mit Um-weltminister Röttgen ist dafür symptomatisch. Verbind-liche Vorgaben für Energieeffizienz soll es nach IhremWillen nicht geben. Verbindliche Schritte zur Erhöhungder Ressourceneffizienz und der massive Ausbau der er-neuerbaren Energien fehlen auch in diesem Haushalt.Wenn sich herausstellt, dass die Klima- und die Effi-zienzziele für 2020 aufgrund Ihrer Verweigerungshal-tung nicht erreicht werden können, zucken Sie mit denSchultern.Die FDP würgt die Erfolgsgeschichte der Unterneh-men im ökologischen Sektor ab. Diese Erfolgsgeschichtewurde geprägt von kommunalen, kleinen und mittlerenUnternehmen und Genossenschaften und nicht von dengroßen Vier. Diese haben die Entwicklung verschlafen.Jetzt versuchen Sie, ihnen dadurch, dass Sie Hochleis-tungsnetze etc. in den Mittelpunkt der Energiewende stel-len, wieder auf die Sprünge zu helfen. Ihre Wirtschafts-politik – Herr Brüderle, wenn Sie schon da sind, sprecheich auch Sie an –
ist nicht der Dreiklang von Investieren, Stabilisieren undEntlasten.
Im Gegenteil: Das ist ein Haushalt zur Förderung deswirtschaftlichen Abschwungs, der Verarmung vieler unddes Blindflugs im Bereich der sozial-ökologischen Er-neuerung.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun die Kollegin Ingrid Nestle für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17049
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich habe aus den Reihen der Koalition heutefrüh einen klugen Satz gehört.
Herr Luther, Sie haben nämlich gesagt: Wir müssen da-für sorgen, dass Deutschland auch morgen noch gut da-steht. – Vor diesem Hintergrund fand ich Ihre Rede,Minister Rösler – das muss ich sagen –, wirklich gruse-lig.
In Europa brennt die Luft. Alle seriösen Politiker ar-beiten auf Hochtouren, um in Zeiten der Finanzkriseeine Perspektive für die europäische Wirtschaft aufzu-zeigen. Und was tun Sie? Sie äußern einige frommeWünsche:
Ich möchte, dass wir immer weiter viel mehr exportierenals importieren. Dafür müssen andere Länder natürlichSchulden aufbauen, und es sollen keinerlei Transfergel-der fließen. – Ich glaube Ihnen, dass das Ihre frommenWünsche sind. Ich frage Sie aber: Haben Sie überhauptnicht den Ernst der Lage verstanden? Haben Sie über-haupt nicht begriffen, worum es hier gerade geht? Sieleugnen einfach die Realität. Sie nennen Zahlen aus die-sem und dem letzten Jahr und sagen fröhlich: Ich hoffe,es geht alles immer so weiter. – Bestimmt geht alles im-mer so weiter, wenn wir nichts tun. Nein, Herr Rösler,Sie tragen Verantwortung; wirklich Verantwortung. Andieser Stelle geht es nicht um Polemik, sondern darum,die Lage zu erkennen und dementsprechend zu handeln.
Sie haben auch die Energiewende angesprochen. Inletzter Zeit wurde ich öfter von Journalisten gefragt: Wasist eigentlich aus der Energiewende geworden? Man hörtja gar nichts mehr. Was macht denn die Regierung?Habe ich es nur nicht mitbekommen, oder macht siewirklich nichts?
Sie hatten die Chance, mit diesem Haushaltsplan zu zei-gen: Ja, wir machen etwas für die Energiewende. Aberwas passiert tatsächlich? Der Mittelansatz für die Ener-gieforschung wird im Wirtschaftshaushalt sogar leichtgesenkt. Die Mittel für die Förderung der erneuerbarenEnergien werden gekürzt. Mittel für die Stellen für dieBNetzA sind erst nach deutlichem Protest eingestelltworden, obwohl Sie ohne diese Stellen Ihre Gesetze, dieSie vor ein paar Monaten, im Sommer, beschlossen ha-ben, gar nicht umsetzen können.Dann sagen Sie: Wir haben den Energie- und Klima-fonds. – Die Höhe der Einnahmen aus dem Energie- undKlimafonds steht in den Sternen. Die Einnahmen ausdem Emissionshandel sind deutlich zurückgegangen; diesogenannte Brennelementesteuer wurde schon teilweisezurückgezahlt.
Mit diesem Energie- und Klimafonds schaffen Sie ers-tens keine Investitionssicherheit für die Energiewende.Zweitens: Selbst wenn die Gelder so fließen, wie Siesich das erträumen, haben wir weniger Geld für die Ge-bäudesanierung zur Verfügung als 2009. Dazu kommt:Sie fördern mit diesen Geldern energieintensive Unter-nehmen. Sie fördern damit den Stromverbrauch. Welchzynische Verwendung der Mittel aus dem Klimafonds!Außerdem fordern Sie, mehr Geld aus diesem Fonds fürden Neubau von Kohlekraftwerken auszugeben als fürdie Förderung des effizienten Verbrauchs von Strom.Das ist das ewiggestrige Denken: Immer mehr fossileProduktion, aber nicht effizient und zukunftsgewandt.Das ist wirklich zynisch. Das sind die völlig falschenPrioritäten.
Minister Rösler, Sie haben von Ihrem Brief und IhrerBitte an die Umweltverbände berichtet, sich für Kohle-kraftwerke, Gaskraftwerke und Stromnetze einzusetzen.Sie sollten nicht nur Briefe verschicken, sondern auchzuhören, welche Reaktionen Sie bekommen. Es gibtnämlich aus der Umweltbranche durchaus schon Re-aktionen. Ich möchte einen sehr treffenden Satz vonGreenpeace zitieren: Offensichtlich hat Minister Röslerden Sinn der Energiewende nicht verstanden.
Der Sinn der Energiewende ist tatsächlich nicht, neueKohlekraftwerke zu bauen und damit die Klimaziele inunerreichbare Ferne zu rücken. Noch nicht einmal dieEnergiebranche sagt, dass wir neue Kohlekraftwerkebrauchen.
Auch die Energieversorger in Deutschland haben sichschon dahin gehend geäußert: Wir haben genug Kapazi-täten. Man braucht für die nächsten Jahre keine weiterenKapazitäten. – Sie haben an keiner Stelle aufgezeigt, wieSie zu der absurden Vermutung kommen, wir bräuchtenneue Kohlekraftwerke. Ganz im Gegenteil: Alle Studienzeigen, neue Kohlekraftwerke, inflexible Kohlekraft-werke, die zu den flexiblen erneuerbaren Energien nichtpassen, sind eine massive Bremse im Energiesystem.Wir brauchen sie nicht. Wir haben ausreichende Kapazi-täten. Sie machen die Klimaziele vollkommen uner-reichbar. Deswegen ist es klar, dass wir uns genauso wiedie Umweltverbände strikt gegen den Neubau von Koh-lekraftwerken einsetzen.
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17050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Ingrid Nestle
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– Jetzt kommt natürlich die alte Leier von der rechtenSeite des Hauses: Es ist klar, Sie sind immer dagegen. –Das ist auch Teil Ihres Briefes und Ihres Statements,Herr Fuchs, nämlich so zu tun, als würden wir, wenn wiruns gegen Kohlekraftwerke aussprechen, alles blockie-ren, auch Gaskraftwerke und Stromnetze. Ich kann Ihnensagen, dass die Umweltverbände schon geantwortet ha-ben. Sie haben genauso wie wir gesagt: Für einen sinn-vollen Netzausbau setzen wir uns natürlich ein. Voraus-setzung ist jedoch, dass man ein Gaskraftwerk brauchtund den Beweis hat, wo man es braucht. Eine blindeFörderung wie bei Ihnen im Kraftwerksförderprogrammkommt nicht infrage. Sie unterstützen jedes Kraftwerk,ob es nun an der Küste steht, wo kein Mensch esbraucht, oder im Süden Deutschlands, wo es gebrauchtwird. Wenn ein Gaskraftwerk gebraucht wird, dann un-terstützen wir natürlich den Bau dieses Gaskraftwerks.Sie können sich nicht damit abfinden, dass die Ener-giewende funktioniert. Sie können sich nicht damitabfinden, dass wir ein schlüssiges Konzept vorgelegthaben,
dass wir uns für Netzausbau, für Gaskraftwerke ausspre-chen.Herr Fuchs, Sie haben gesagt, man muss dann auchzum Netzausbau stehen.
– Das tue ich. Ich bin ständig in Deutschland unterwegs.Ich war bei vielen Bürgerinitiativen vor Ort.
Ich werbe vor Ort für einen sinnvollen, menschenfreund-lichen Ausbau der Netze. Ich habe von keiner einzigenBürgerinitiative gehört, dass Sie auch nur einmal vor Ortgewesen wären und geworben hätten. Es ist nicht diefeine Art, mit Fingern auf andere zu zeigen, die sich sehrviel mehr einsetzen.
Diese Realitätsverweigerung finde ich sehr interes-sant. Seit zwei Jahren betone ich hier immer wieder, dasswir natürlich zu einem sinnvollen Netzausbau stehen.Trotzdem kommen Sie weiterhin mit dieser Andeutung:Na, Sie sind ja dagegen. – Sie können sich nicht damitabfinden, dass wir einen schlüssigen, sinnvollen Vor-schlag gemacht haben. Sie können das offensichtlichnicht akzeptieren und mit uns auf einer sachlichen Ebenediskutieren, sondern müssen die Generalanschuldigun-gen vorbringen, weil Sie es einfach nicht glauben wol-len, dass die Energiewende funktioniert. Deshalbschwenken Sie immer auf den ewiggestrigen Kurs ein.Immerhin haben Sie es jetzt deutlich und offen gesagt– bisher haben Sie sich immer hinter dem Begriff „fos-sil“ versteckt –, dass Sie neue Kohlekraftwerke wollen.Das ist keine Energiewende! Das ist Rückschritt! Das istdie Vergangenheit; das ist nicht die Zukunft! Und dage-gen werden wir uns wehren!
Das Wort erhält der Kollege Joachim Pfeiffer für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Es ist doch unstrittig – darauf sollten wir stolz sein –,dass Deutschland gut dasteht.
Deutschland steht deshalb gut da, weil wir im letztenJahrzehnt unsere Hausaufgaben gemacht haben. Dasswir heute gut dastehen, ist ein Ergebnis der Politik vonKonsolidieren und Wachsen. In den letzten zwei Jahren– Herr Heil, da hat mit Sicherheit nicht die SPD regiert,die Grünen erst recht nicht; von den Linken wollen wirgar nicht sprechen – haben wir das historisch höchsteWachstum seit der Wiedervereinigung erreicht: 3,6 Pro-zent im letzten Jahr und 3 Prozent in diesem Jahr. Das istdas Ergebnis guter wachstumsorientierter Politik.
Deutschland ist wettbewerbsfähig. Wir sollten dasnicht verstecken. Wir können vielmehr auf unsere Ex-portüberschüsse stolz sein. Das gilt nicht nur fürDeutschland, sondern für ganz Europa. Ohne die deut-schen Exportüberschüsse hätte die Euro-Zone insgesamtein Handelsbilanzdefizit. Dann wären wir in der glei-chen Situation, in der sich jetzt die USA befinden. Daswill ich nicht. Ich will, dass – auch was Güter undDienstleistungen anbelangt – die Euro-Zone wettbe-werbsfähig ist.
Deutschland steht insbesondere am Arbeitsmarkt gutda. Das, was Kollege Claus und manch andere hier vor-tragen, ist schon abwegig. Heute sind 2 Millionen Men-schen mehr in Arbeit als 2005. Es gibt 41,5 MillionenErwerbstätige; das ist die höchste Zahl der Erwerbstäti-gen, die wir jemals in Deutschland hatten. Dies spart unsauch Geld. 100 000 Arbeitslose, die Arbeitslosengeldbekommen, kosten den Bund etwa 1,6 Milliarden Euro.100 000 Hartz-IV-Empfänger kosten den Bund etwa0,5 Milliarden Euro. Durch 100 000 Arbeitnehmer mehrsind rund 2 Milliarden Euro Mehreinnahmen zu ver-zeichnen, weil es mehr Steuereinnahmen gibt und mehrSozialversicherungsbeiträge an die Arbeitslosen- undRentenversicherung gezahlt werden. Heute haben wirinsgesamt mehr als 40 Milliarden Euro mehr zur Verfü-
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Dr. Joachim Pfeiffer
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gung, weil die Situation auf dem Arbeitsmarkt besser ist.Auch das ist das Ergebnis wachstumsorientierter Politik.Das kommt beim Bürger an. Wir entlasten diejenigen,die etwas leisten, die arbeiten. Deshalb wollen wir diekalte Progression abmildern. Deshalb wollen wir denGrundfreibetrag erhöhen.
Deshalb werden wir die Abgaben senken. Wir sind imnächsten Jahr in der Lage, die Rentenversicherungsbei-träge, wenn auch nur leicht, zu senken. Unter Rot-Grünwurden die Abgaben immer erhöht, bei uns bleiben siestabil oder werden sogar gesenkt. Das kommt beim Ar-beitnehmer, beim Bürger an.
Schauen Sie sich die Situation der Bundesagentur fürArbeit an. Ursprünglich rechnete man in diesem Jahr miteinem Defizit in Höhe von 5,4 Milliarden Euro. Jetzt be-trägt es 500 Millionen Euro. Diese Gelder fallen nichtvom Himmel, sondern müssen entweder von den Bei-tragszahlern durch Abgaben aufgebracht werden – siestehen den Beitragszahlern dann nicht zur Verfügung –oder kommen aus dem Haushalt, also aus Steuern, dieauch vom Bürger aufgebracht werden; denn auch dieSteuern fallen nicht vom Himmel.In diesem Jahr – auch das ist eine Mär, wenn Sie sa-gen, es wäre nicht so – ist die Binnennachfrage der Trä-ger des Wachstums. Die Binnennachfrage leistet diesesJahr einen größeren Beitrag zum Wachstum als der Ex-port. Insofern stimmt es nicht, dass der Aufschwungnicht bei den Bürgern ankommt; das Gegenteil ist derFall. Dies ist das Ergebnis. In diesem und im nächstenJahr gibt es Reallohnzuwächse. Auch die Rentner profi-tieren. Das ist das Ergebnis unserer wachstumsorientier-ten Politik.
Wir machen Politik nicht zur Alimentierung vonHartz-IV-Empfängern – das machen Sie –,
sondern wir betreiben Politik so, dass es weniger Hartz-IV-Empfänger gibt, dass die Menschen eine Perspektivehaben, dass sie über Zeitarbeit, über Flexibilität eineBrücke in den Arbeitsmarkt bekommen. Dann wird einSchuh daraus.
Es gibt keinen Anstieg der Zahl der prekären Arbeitsver-hältnisse. Wir sind nicht das Land der Lohndrücker.Ganz im Gegenteil: Wir haben den höchsten Anteil dersozialversicherungspflichtigen Vollzeiterwerbstätigkeit,den es jemals in dieser Republik gab. Also behauptenSie hier nicht ständig wider besseres Wissen das Gegen-teil!
Wir bleiben aber nicht stehen, wir ruhen uns nichtaus, sondern wir arbeiten weiter, beispielsweise am Ar-beitsmarkt. Das Thema Fachkräfte ist vorhin schon an-gesprochen worden. Wir unterlassen auch nichts, das Po-tenzial, das sich aus der demografischen Entwicklungergibt, weiter auszuschöpfen. Hinzu kommen die Ver-besserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie,
die Förderung qualifizierter Frauen am Arbeitsmarkt,
die Förderung von Schulabbrechern, Migranten undMenschen mit geringerem Qualifizierungsniveau. Wirkönnen es uns nicht mehr leisten, Menschen zurückzu-lassen.
Vor allem ist es gelungen – diese Zahlen werden wirweiter steigern –, die Erwerbstätigkeit der Älteren zu er-höhen. Während noch im Jahr 2000 gerade einmal28 Prozent der Männer und 12 Prozent der Frauen in derGruppe der 60- bis 64-Jährigen erwerbstätig waren, wa-ren es im Jahr 2010 49 Prozent der Männer, also über20 Prozentpunkte mehr, und 33 Prozent der Frauen; dasentspricht fast einer Verdreifachung. Das heißt, die Men-schen gehen später in Rente,
die Männer im Schnitt eineinhalb Jahre später und dieFrauen über ein Jahr später. Auch dies trägt zur Stabili-sierung des Arbeitsmarktes bei, schafft Wirtschafts-wachstum und sorgt dafür, dass wir auch in Zukunft dienotwendigen Arbeitskräfte für unsere Wirtschaft habenund die Sozialversicherungsbeiträge stabil halten kön-nen.Bevor ich zu Bildung und Forschung komme, möchteich noch in aller Deutlichkeit ein Wort zu Euro-Bondssagen.
Euro-Bonds sind definitiv kein Kriseninstrument.
Ich wiederhole: Sie sind definitiv kein Kriseninstrument.
Euro-Bonds sind süßes Gift, Sozialismus und Teufels-zeug,
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weil sie in der Tat Anreize setzen, sich nicht anzustren-gen, um besser zu werden. Vielmehr tragen sie dazu bei,diejenigen, die es haben schleifen lassen, in ihrer Situa-tion zu belassen.
Der Druck muss im Kessel gehalten werden. Euro-Bonds sind mit Sicherheit kein Kriseninstrument.
Euro-Bonds wird es mit uns als CDU/CSU und in dieserRegierung auch mit der FDP nicht geben.
Euro-Bonds können maximal der Schlussstein einererfolgreichen europäischen Integration
in der Finanz-, Wirtschafts- und Haushaltspolitik sein,aber kein Kriseninstrument. Ein solcher Schlusssteinkann vielleicht in 10, 15 Jahren gesetzt werden, wennwir all unsere Vorhaben erreicht haben, aber sicher nichtjetzt und sicher nicht in den nächsten Jahren. Das ist fürmich eine absolute Selbstverständlichkeit.
Wo kommt das Wachstum von morgen her? Werheute nicht sät, kann morgen und übermorgen nicht ern-ten. Deshalb steigern wir die Forschungsausgaben be-trächtlich. Es wurde gerade von Frau Nestle behauptet,die Mittel für die Energieforschung gingen zurück. Ichweiß ja nicht, ob Sie den rot-grünen Haushalt von 2005gelesen haben. Bei unserem Haushalt jedenfalls ist dasGegenteil der Fall: Wir steigern die Ausgaben für dieEnergieforschung von 2011 bis 2014 auf 3,5 MilliardenEuro. Das entspricht, verglichen mit der entsprechendenPeriode unter Rot-Grün, einer Steigerung um 75 Prozent.Dennoch stellen Sie sich hier hin und sagen, wir würdenweniger Geld für die Energieforschung ausgeben. Also,entweder behaupten Sie das wider besseres Wissen, oderSie versuchen, die Leute in die Irre zu führen.Von Bedeutung sind auch weitere Technologien, imEnergiebereich, aber auch in anderen Bereichen. Ichkann nur die Überschriften nennen: Weltraumforschung,Weltraumtechnik, Energieforschung, Biotechnologie,Forschung und Technologie im Mobilitätsbereich – einweiterer Schwerpunkt, für den wir über 1 Milliarde Eurozusätzlich bereitstellen –, Geowissenschaften und Bil-dungsforschung. Insgesamt stellen wir hierfür 16 Mil-liarden Euro zur Verfügung. Wir geben fast 50 Prozentmehr für den Forschungsbereich aus, als Sie es 2002 ge-tan haben. Damit sind wir schon fast dort, wo wir hin-wollen. Im nächsten Jahr geben wir 9,3 bis 9,4 Prozentdes Bruttosozialprodukts für Bildung und Forschungaus; 10 Prozent haben wir uns zum Ziel gesetzt.Das heißt, die Richtung und der Weg stimmen, nichtnur was die Haushaltskonsolidierung und die heutigenWachstumszahlen angeht, sondern auch mit Blick aufdie Zukunft. Wir legen die Grundlagen dafür, dassDeutschland auch weiterhin erfolgreich ist und wachsenkann und wir in diesem Land eine Perspektive fürWachstum und Beschäftigung haben. Deshalb stimmenwir diesem Haushalt mit großer Freude zu.Vielen Dank.
Der Kollege Duin hat nun das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr MinisterRösler, als ich Ihrer Rede zugehört habe, habe ich michwie auch andere Kolleginnen und Kollegen gefragt, inwelcher Welt Sie eigentlich leben. Sich hier hinzustellenund ein Bild zu malen, das sich mit den Worten zusam-menfassen lässt: „Alles ist wunderbar“, das wird IhremAmt und der Verantwortung, die Sie damit übernommenhaben, nicht gerecht. Ob Sie in der FDP erfolgreich sindoder nicht, kann uns allen in Deutschland komplett egalsein. Aber ob Sie als Wirtschaftsminister Ihrer Verant-wortung gerecht werden, das darf diesem Land nichtegal sein. Durch Ihre Rede haben Sie deutlich gemacht,dass Sie dieser Verantwortung nicht gerecht werden.
Sie haben offensichtlich überhaupt nicht zur Kenntnisgenommen, was zum Beispiel die Wirtschaftsweisen erstvor wenigen Wochen uns allen ins Stammbuch geschrie-ben haben. Sie haben überhaupt nicht zur Kenntnis ge-nommen, wie die reale Lage in ganz vielen Branchen ist.Nehmen Sie nur einmal – sie ist für Deutschland nichtganz unwichtig – die Automobilbranche. Sie hat inDeutschland und in Europa die geringste Nachfrage seit16 Jahren. So ist es auch in vielen anderen Branchen. Wirsind in einer konjunkturellen Phase, die mit Verlangsa-mung noch schön umschrieben ist. Nach den erfolgrei-chen Zeiten kommen wir jetzt in eine Lage, in der präven-
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Garrelt Duin
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tives Handeln erforderlich ist. Sie sind doch ausgebildeterMediziner. Sie wissen doch, wie wichtig Prävention ist.Warum spielt das in Ihrer Politik überhaupt keine Rolle?Sie wollen immer erst handeln, wenn das Kind in denBrunnen gefallen ist.
Sie machen auch eine Politik – Sie haben das heutenoch einmal verteidigt –, die wirklich überhaupt nichtmehr in die Zeit passt. Nehmen wir nur das Beispiel dersogenannten Steuersenkung mit einem geplanten Volu-men von 6 Milliarden Euro. Dadurch wollen Sie auchWachstumsimpulse setzen. Wenn bei den Menschen, umdie Herr Pfeiffer, wie er gerade hier gesagt hat, ringen will,also den Menschen, die jeden Tag hart arbeiten, 4, 5 oder6 Euro ankommen, dann wird dadurch überhaupt nichtsausgelöst. Wenn man dieses Geld in der gesamtenSumme in den Ausbau der Infrastruktur in Deutschlandinvestieren würde, für Straße, Schiene, Wasserstraße, fürden Ausbau der Energienetze – darauf komme ich gleichnoch zu sprechen –, oder für den Breitbandausbau, dannwäre für die Zukunft in Deutschland etwas getan. Daswäre besser, als das Geld durch Steuersenkungen zu ver-pulvern.
Ich darf an noch etwas erinnern, was Sie selbst oft einge-fordert haben und was auch in der Koalitionsvereinba-rung steht – Herr Professor Riesenhuber streitet immerwieder für dieses Thema –, nämlich die steuerliche For-schungsförderung. Dadurch würden in Deutschland In-vestitionen ausgelöst. Durch Ihre Steuersenkung aufPump passiert gar nichts. Deswegen ist das ein solcherIrrweg.
Ich fand in Ihrer Rede auch sehr bemerkenswert, wasSie zu der europäischen Ebene gesagt haben. Man kannauf Dauer als Bundesregierung, als Koalition so nichtagieren, wenn man diese Ebene ernst nimmt, und dasswir das tun sollten, ist offensichtlich. Man kann sich alsVorsitzender der CDU/CSU-Fraktion nicht auf einemParteitag hinstellen und in unglaublich arroganter Weisedarüber schwadronieren, dass man in Europa jetztDeutsch spreche, während der Wirtschaftsminister in dereuropäischen Szene überhaupt nicht vorkommt.Man kann als Bundesregierung vor allen Dingen nichtmit so gespaltener Zunge reden, wie Sie das tun. HerrSchäuble kämpft in Europa – nach einem gewissen Lern-prozess, er hat diese Steuer nicht erfunden, aber erkämpft inzwischen absolut glaubwürdig; das nehme ichihm wirklich ab – für die Einführung einer Finanztrans-aktionsteuer. Die gleiche Bundesregierung, vertretendurch den Bundeswirtschaftsminister – das bezieht sichaber auch auf viele andere in der FDP; Herr Solms machtdas im Ausschuss jedes Mal –, stellt sich hier hin und er-zählt im Kern genau das Gegenteil. So werden Sie aufder europäischen Ebene keinen Erfolg haben. Das scha-det uns. So kann man nicht agieren.
Lieber Herr Rösler, Sie haben über ein paar Monateals Wirtschaftsminister in Niedersachsen ein bisschenErfahrung sammeln können. Deswegen wissen Sie – dashaben wir in der Großen Koalition damals gemeinsamauf den Weg gebracht –, welch große Bedeutung dasVW-Gesetz hat. Mit dem heutigen Tage legt die EU-Kommission wieder die Axt an dieses Gesetz. Ich er-warte von einem Wirtschaftsminister der Bundesrepu-blik Deutschland, dass er sich zu Wort meldet – nicht nurvom niedersächsischen Ministerpräsidenten; der hat dasbereits getan –, dass er sich hier hinstellt und sagt:Hände weg vom VW-Gesetz! Das, was die Kommissionvorhat, wollen wir nicht.
Lassen Sie mich, weil Sie das in Ihrer Rede aufgegrif-fen haben, das Thema Energiepolitik streifen. Wir sinduns völlig einig, dass der Umbau des Energiesystems einwesentlicher Bestandteil moderner Industriepolitik ist.Das haben Sie sinngemäß gerade gesagt. Wenn das soist, dann duldet vieles im Bereich der Energiepolitik kei-nen Aufschub. Die Energiewende mit den Beschlüssenvom Sommer löst die Probleme nicht. Wir müssen jetztmöglichst schnell und kraftvoll weitere Schritte gehen.Nicht ich, sondern Kurt Lauk – er ist, wie Sie wissen,kein Sozialdemokrat, sondern ein führender Vertretervon Wirtschaftsinteressen innerhalb der CDU – hat am14. November im Handelsblatt festgestellt:Noch immer fehlen klare Antworten: Was ist tech-nisch machbar? Wie wird die Energiewende finan-ziert? Wie schaffen wir die notwendige Akzeptanzin der Bevölkerung? Wann ist die neue Infrastrukturfertig erstellt und leistungsfähig? Wie gehen wir mitden Bürgerprotesten bei den Infrastrukturprojektenum?Das sind Fragen, die sich die ganze Gesellschaft stellt:die Bürgerinnen und Bürger, die Industrie und die Wirt-schaft in diesem Land. Sie aber bleiben jede Antwortschuldig, Herr Minister. Das ist keine verantwortungs-volle Politik.
Wir brauchen – das wird von verschiedener Stelle ein-gefordert, aber von Ihnen kommt nichts – einen Master-plan mit einer konkreten Zeitachse, aus dem hervorgeht,welche Schritte wir in den nächsten Jahren gehen wol-len. Es geht um Versorgungssicherheit in der Übergangs-zeit bis zur Vollversorgung mit erneuerbaren Energien.Dafür braucht man aber eine Strategie. Das kann man alsMinister nicht nur am Pult einfordern, sondern manmuss es auch konkret unterlegen.
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17054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Garrelt Duin
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Sie kennen doch den Brandbrief des NetzbetreibersTenneT, in dem es heißt, dass wir den notwendigenNetzausbau für Offshorewindenergie, den wir nach mei-ner Überzeugung dringend brauchen, nicht hinbekom-men werden, weil bestimmte Voraussetzungen dafürnicht vorliegen. Ein Achselzucken reicht nicht aus. Manmuss einen konkreten Plan vorlegen, wie der Netzaus-bau gestaltet werden soll.
Dasselbe ist bei der Speicherstrategie, der Energiefor-schung und dem KWK-Ausbau festzustellen: überallLeerstellen in Ihrer Politik.Ich will abschließend auf das Thema Akzeptanz zusprechen kommen. Ich habe eine Reihe von Bürgermeis-tern aus meinem Wahlkreis zu Gast. Letzten Freitag ha-ben Sie selbst diesen Wahlkreis besucht. Deswegen darfich darauf Bezug nehmen. In fast jeder dieser Gemein-den gibt es eine Bürgerinitiative, mal gegen die Biogas-anlage, die dort errichtet werden soll, mal gegen denWindpark, mal gegen den Netzausbau.
– Nein, das hat mit den Grünen nichts zu tun. Auch dieBürgermeister können nichts dafür. – Das hat etwas da-mit zu tun, dass durch Ihren Zickzackkurs das Vertrauender Bevölkerung in eine verlässliche Energiewende ver-loren gegangen ist. Das ist der Punkt.
Die Menschen sind nicht bereit, die Belastungen – diedurchaus vorhanden sind, wenn in ihrer Nachbarschaftein Windpark errichtet oder das Netz ausgebaut wird;das wollen wir gar nicht in Abrede stellen – zu akzeptie-ren, wenn ihnen wie heute der Wirtschaftsminister mit-teilt, dass nebenan auch noch ein Kohlekraftwerk gebautwerden soll. Dann geht die Akzeptanz in der Bevölke-rung verloren. Dafür tragen Sie die Verantwortung, nichtdie Sozis, die Grünen oder irgendjemand anders.
Lieber Herr Rösler, nach den paar Monaten, die Sieim Amt sind, haben wir uns gefragt, was von der Politik,die Sie machen, in Erinnerung bleiben wird. Auch inNiedersachsen – ich habe es bereits erwähnt – waren SieWirtschaftsminister. Wenn man dort nachfragt, erinnernsich die Menschen an Sie, insbesondere deswegen, weilSie auf vielen Volksfesten bei Ihren Reden als Handpup-penspieler aufgetreten sind. Sie haben die HandpuppeWilli – so hieß sie, glaube ich – weggelegt, als Sie ausNiedersachsen weggegangen sind und auf BundesebeneIhr Amt angetreten haben. Sie treten nicht mehr damitauf. Lieber Herr Rösler, an Herrn Brüderle können wiruns genau erinnern. Wir wussten, wofür er steht und waser macht, auch wenn wir seine Position, ob bei Opel,Karstadt oder in anderen Fällen, nicht immer geteilt ha-ben. Ich kann Ihnen nur empfehlen, Herr Rösler: HolenSie die Handpuppe wieder heraus, damit wir uns wenigs-tens an etwas erinnern, das mit Ihrer Amtszeit zu tun hat.
Herr Kollege Duin, Sie haben die Zwischenfrage ver-
säumt, die der Kollege Ernst Hinsken stellen wollte.
Aber es war zu spät, Kollege Hinsken.
Nächster Redner ist unser Kollege Dr. Martin Lindner
für die Fraktion der FDP.
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! DieBundesregierung steht zur Energiewende. Die Ener-giewende findet nicht etwa wegen eines angeblichenZickzackkurses bei Teilen der Bevölkerung keinen Wi-derhall, Herr Duin,
sondern wegen Ihres Populismus, den Sie vor Ort in denLändern und Gemeinden, die Sie angesprochen haben,pflegen.
Sie postulieren hier groß die Energiewende, aber dort,wo Sie in der Verantwortung stehen, beispielsweise alsJuniorpartner in Baden-Württemberg, eiern Sie herum.Hier erzeugen Sie ein Gefühl von Unsicherheit, statt ge-meinsam zum Netzausbau und auch zum Ausbau fossilerEnergie zu stehen. Das ist für eine Partei, die sich selbstrühmt, noch Reste von Industriepolitik zu machen, wirk-lich eine Schande. Das kann ich Ihnen an dieser Stellenur sagen.
Wir werden die Energiewende mutig und kraftvollvertreten, aber wir werden nicht zulassen – das sage ichvor allen Dingen in Richtung der Grünen –, dass dieEnergiewende zu einer Deindustrialisierung dieses Lan-des genutzt wird.
Man muss sich einmal die Preise anschauen und sich fra-gen, in welcher Verantwortung wir hier stehen. Wenn Siedie internationalen Strompreise vergleichen, dann stellenSie fest, dass der Strompreis für die Industrie in Nachbar-ländern wie Frankreich 7,5 Eurocent pro Kilowattstundebeträgt, während wir hier bei 11,8 Eurocent liegen. Wirsind deswegen gefordert, uns dafür einzusetzen, dassauch wir bezahlbare Energiepreise haben und keine Fan-tasiepreise, wie es Ihnen vorschwebt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17055
Dr. Martin Lindner
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Deswegen setzt sich diese Koalition für eine Begrenzungder EEG-Umlage auf 3,5 Cent pro Kilowattstunde ein.Wir setzen uns auch dafür ein, die Subventionen zuüberprüfen, sehr geehrter Herr Namenskollege. Das wardoch ein Kabinettstückchen besonderer Art: Sie stellensich hier hin und werfen dieser Bundesregierung vor, zuwenig für den Subventionsabbau zu tun.
Wenn wir aber an die Subventionen für die Photovoltaik-industrie herangehen wollen, dann ist bei Ihnen Schluss,weil Sie ein Klientelpolitiker sind.
Die Solarenergieindustrie kassiert jedes Jahr 7 Milliar-den Euro an Förderung, obwohl der Anteil der Solar-energie an der Stromversorgung gerade einmal 3 Prozentbeträgt. Sie aber stehen wie die Löwen davor, weil es umIhre Klientel, Ihre Spender und um Versorgungspostenfür Ihre Kollegen geht. Da machen wir aber nicht mit;das kann ich Ihnen an dieser Stelle sagen.
Es wäre interessant, zu sehen, ob Sie auch hier so mutigsind, wenn es um Subventionskürzungen geht.Ich finde auch immer spannend, wenn vor allen Din-gen die Linke, teilweise aber auch Sie von den Grünendie hohen Exporte Deutschlands kritisieren, aber auf deranderen Seite Zeter und Mordio schreien, wenn wir dieBinnennachfrage stärken wollen, indem wir etwas fürdie Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen tun, wiedurch die vorgeschlagene Steuerreform. Das ist dochKlientelpolitik, was Sie hier machen. Ich bin einmal ge-spannt, ob Sie uns auch vorhalten, im Haushalt sei keinGeld dafür da, wenn wir an eine Hartz-IV-Erhöhungdenken. So sieht es doch aus: Für die Bezieher kleinerund mittlerer Einkommen ist bei Ihnen nichts zu holen.Wir als Koalition stehen dafür, auch für die Menschenetwas tun, die täglich aufstehen und arbeiten und nichtim Bett liegen bleiben.
Ich komme zum letzten Punkt, zu den Euro-Bonds.Jenseits der Frage, welche Belastung das für uns bedeu-ten würde, würde doch genau diese Maßnahme andereLänder mit weniger soliden Haushalten dazu einladen,wegen der gesunkenen Zinssätze genau das zu tun, wasschon schädlich war, nämlich noch mehr Schulden auf-zunehmen. Euro-Bonds würden auf der einen Seite Zins-mehrbelastungen für unser Land bedeuten; auf der ande-ren Seite stünde eine Zinsvergünstigung für die Länder,die gefordert sind, ihre Haushalte zu sanieren. Das wäreGift für die weitere Entwicklung. Deswegen lehnen wirdas ab.Wir können hier natürlich gerne über die Vorausset-zungen für Euro-Bonds diskutieren; aber das Bundesver-fassungsgericht hat bereits entschieden.
Eine ungedeckelte, nicht bestimmbare Übernahme vonSchulden anderer Länder verbietet uns das Bundesver-fassungsgericht.
Euro-Bonds kommen also auch aus rechtlichen Gründennicht in Betracht für Deutschland, nicht in Betracht fürdiese Bundesregierung und nicht in Betracht für dieseKoalition.
Daran gibt es auch gar nichts zu rütteln. Gestern hat dieBundeskanzlerin in ihrer bemerkenswerten Rede klarge-macht, dass es Euro-Bonds mit dieser Bundesregierungnicht gibt. Wir werden weiter dem Pfad folgen,
andere zu ermuntern und Anreize dafür zu setzen, ihreHaushalte in Ordnung zu bringen, und gleichzeitig Ret-tungsmaßnahmen auflegen, die ausreichen, um die Un-wägbarkeiten abzufedern. Aber das, was die Oppositionmachen will, nämlich den kompletten Zugriff andererLänder auf unsere Kasse zu ermöglichen, wird diese Re-gierung auf keinen Fall mitmachen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der
CDU/CSU ist unser Kollege Dr. Georg Nüßlein. Bitte
schön, Kollege Dr. Georg Nüßlein.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Esist immer noch besser, die Wirtschaft gesundzubeten, alssie totzureden. – Das hat Ludwig Erhard einmal in einervermutlich ähnlich gelagerten Debatte gesagt. Erstens.Er hat recht. Zweitens. Ich bin aber auch der Überzeu-gung, wir sollten beides nicht tun. Die Lage ist zwar gut,aber auch ernst zugleich. Die Menschen haben Sorge umihr Geld und um unsere Währung – und das aus einerhistorischen deutschen Erfahrung heraus, die tief sitzt.Deshalb müssen wir dem klar und unmissverständlicheines entgegenhalten, nämlich Stabilität, Stabilität inDeutschland, aber auch Stabilität in Europa.Ich meine, dass die Bundeskanzlerin die Führungs-verantwortung, die ihr zukommt, auf der europäischen
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17056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Dr. Georg Nüßlein
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Bühne hervorragend wahrnimmt. Ich bin auch der Über-zeugung, dass man Stabilität nicht nur einfordern, son-dern auch vorleben muss. Dieser Haushalt ist eine guteEtappe auf einem richtigen Weg. Das Ziel ist und bleibtein ausgeglichener Haushalt, so wie wir ihn in Bayernbereits erreicht haben.
– Und in Sachsen, sehr gut. Das zeigt: Es geht. – Ichweiß aber auch, dass es demokratisch schwierig ist, die-sen Weg zu gehen. Die Rede von SPD-BerichterstatterBrandner hat das heute wieder gezeigt. Sie haben allge-mein Impulse zum Sparen eingefordert, sind aber dannin einem langen Katalog auf die Bereiche eingegangen,für die Sie persönlich am liebsten noch mehr Geld aus-geben wollen. Das passt nicht zusammen, lieber KollegeBrandner.
Im Übrigen: Was die SPD angeht, so meine ich, dassdie Einführung der Schuldenbremse die große Leistungder Großen Koalition war. Die war vollständig richtig.Mich erschüttert schon, zu erleben, wie immer mehrKollegen von der SPD jetzt mit dieser Großtat hadern.
– Kommen Sie zum Beispiel in die Enquete-Kommis-sion Wirtschaftswachstum. Da können Sie erleben, wasdazu von SPD-Kollegen gesagt wird.
Die haben Angst, dass eine nachfrageorientierte Wirt-schaftspolitik, also staatlich angestoßene Nachfrage, sonicht mehr funktioniert. Ich kann Ihnen zu Ihrer Beruhi-gung sagen: Die hat auch vorher schon nicht funktio-niert, alldieweil die Staaten dann nicht in der Lage sind,in guten Zeiten ordentlich zu sparen.
Dazu muss man sagen: Sie, meine Damen und Herren,bereuen Dinge, die Sie richtig gemacht haben: dieAgenda 2010, Hartz IV, Rente mit 67 und die Schulden-bremse. Ich als Katholik kann Ihnen sagen: Sie solltenSünden bereuen, nicht lichte Momente.
Doch zurück zur Schuldenkrise. Damals, als Deutsch-land den Euro eingeführt hat, haben wir unseren Real-zinsvorteil – das war ein klarer Wettbewerbsvorteil –aufgegeben. Wir haben geglaubt, dass andere Staatendann, wenn wir diesen Wettbewerbsvorteil nicht mehrhaben und wenn sie sich günstig finanzieren können,dieses Geld in Investitionen stecken würden. Die Reali-tät war eine andere. Sie haben Schulden gemacht undkonsumiert. Unsere Hoffnung wurde also nicht erfüllt.Jetzt schöpfen wir schon wieder neue Hoffnung – Sie je-denfalls. Diesmal soll alles anders laufen, wenn wir ge-samtschuldnerisch die Haftung für alle europäischenSchulden übernehmen und den anderen europäischenLändern zulasten der deutschen Bonität niedrige Zinsengarantieren. Dann soll alles besser werden, die Ländersollen nicht mehr Schulden machen, und sie sollen nichtmehr auf Pump konsumieren. Ich habe diese Hoffnungnicht. Ich meine, dass das anders laufen muss. Wir müs-sen das Verhältnis von Solidarität und Eigenverantwor-tung in der Europapolitik neu überdenken, nicht nur,aber auch im Zusammenhang mit der Euro-Krise. Esdarf nicht, wie Sie sich das vorstellen, entweder Solidari-tät oder Eigenverantwortung geben; es muss beides ge-ben. Das ist das, was wir von der Union durchsetzenwollen.Stabilität hat eine Vorbildfunktion; aber das muss sichauch auf die Wettbewerbsfähigkeit beziehen. Wir müs-sen zeigen, dass wir unsere Wettbewerbsfähigkeit vor-bildhaft stärken. Wir tun das auch mit dem Haushalt desWirtschaftsministeriums. Die Gemeinschaftsaufgabe istebenso angesprochen worden wie die vielen Impulse imBereich von Forschung und Entwicklung.Ich glaube, dass ein Thema besonders unterschätztwird, nämlich die Energiepolitik.
Die Energie – insbesondere die Kosten für Energie – istunstrittig ein Standortfaktor. Deshalb haben wir bei derNovellierung des EEG die Entlastung der energieintensi-ven Industrie ganz nach vorne gestellt.
Der Kollege Lindner von der FDP hat vorhin deutlichgemacht, wie die Situation hinsichtlich der Industrie-preise aussieht: 7,5 Cent im europäischen Ausland, inden USA gar 4 Cent und in Deutschland annähernd12 Cent. Das ist die Realität. Deshalb müssen wir dafürSorge tragen, dass die Belastungen, die unstrittig aus derEnergiewende kommen, nicht zulasten der Wettbewerbs-fähigkeit unserer Industrie gehen.
– Subventionieren ist eine komplett andere Diskussion.Wenn Ihr Anliegen eine Deindustrialisierung ist, ein Ver-treiben der Industrie aus Deutschland, nur damit dasKlimaschutzziel unter statistischen Gesichtspunkten er-reicht wird, dann sind wir an der Stelle auf einem fal-schen Weg. Ich halte es für richtig, dass wir sagen: Wirmachen die Energiewende. Wir unterhalten uns aberauch verantwortungsvoll über die Frage, wer welcheLasten tragen muss und tragen kann. Aus meiner Sichtgehört die energieintensive Industrie nicht dazu.Vielfach andiskutiert wurde die Frage, wie sich dieEinspeisung bei Photovoltaik entwickelt hat. Die Proble-
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Dr. Georg Nüßlein
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matik, die das EEG kostenseitig bringt, ist im rot-grünenAusgangsgesetz angelegt. Sie sind mit der Photovoltaikzu früh an den Markt gegangen, als das noch ein Themavon Forschung und Entwicklung war.
Sie waren im Jahr 2004 bei einer 30-kW-Dachanlage beieiner Einspeisevergütung von 57,4 Cent. Wir sind imersten Halbjahr des Jahres 2011 bei 28,74 Cent gewesen,Tendenz sinkend. Das, was Sie gemacht haben, istfalsch. Es wäre aber auch falsch, in einer Phase, in dersich die Preise massiv nach unten entwickeln – wir ha-ben ein Instrument eingefügt, das als atmender Deckeldafür sorgt, dass die Belastungen aus dem EEG von Jahrzu Jahr drastisch sinken –, mit Schwung auf die Bremsezu treten.Wir sollten uns vielmehr anderen Themen widmen,nämlich insbesondere der Frage: Wie kann man aus dembloßen Aufbau von Kapazitäten – das haben Sie mit demEEG angestoßen – eine Versorgung entwickeln?
Die Vorschläge, die heute hier beispielsweise von derKollegin Nestle nicht zitiert, sondern nur behauptet wur-den, sind für mich nicht erkennbar. Ich erkenne nur, woSie überall sagen, dass es sinnlose und sinnvolle Infra-struktur gibt; sinnlos ist es dann, wenn Sie dagegen sind.Das ist ein Zusammenhang, der sich mir nicht erschließt.Die Aufteilung zwischen einer guten grünen und einerschlechten anderen Technologie ist überhaupt etwas,was nicht in ein technologiefreundliches Deutschlandpasst.
Ich bin auch erschüttert über das, was beispielsweisezum Thema Luft- und Raumfahrttechnologie, zu EADSgesagt worden ist; denn das macht wieder einmal deut-lich, dass Sie sehr einseitig, geradezu mit einem Tunnel-blick auf die sogenannten grünen Technologien fixiertsind. Sie erkennen nicht, dass das zwar ein wichtigerBeitrag für das Wirtschaftswachstum in Deutschland ist– das ist unstrittig –, aber dass es drum herum noch vieleandere Felder gibt, die wir alle miteinander bearbeitenmüssen und bei denen auch das WirtschaftsministeriumVerantwortung trägt. Ich meine, dass der Wirtschafts-minister in dieser Hinsicht seiner Verantwortung gerechtwird und einen guten Job macht.Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Nüßlein. – Nächster Redner
für die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege
Andreas Lämmel. Bitte schön, Kollege Andreas
Lämmel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren von der Opposition! Sie haben natürlich ein schwe-res Amt; das kann ich verstehen. Ihr KollegeMüntefering hat es einmal klar gesagt: Opposition istMist. – Nun müssen Sie mit finsterem Blick hier amRednerpult stehen und alles hervorziehen, was auch nurim Entferntesten negativ ist. Nicht ein einziges positivesWort habe ich von Ihnen gehört.
Bei Ihnen geht es immer nur um dunkle Wolken und dieschlechte Zukunft, die uns bevorsteht.Herr Heil, Sie verfügen doch sicherlich über moderneTechnologien und werden wahrscheinlich heute dieTickermeldung gelesen haben, dass der Ifo-Geschäftskli-maindex überraschend gestiegen ist.
Das heißt, dass sich das Geschäftsklima nach Einschät-zung der deutschen Wirtschaft verbessert hat.
Es wäre gut gewesen, wenn Sie hier am Rednerpult da-rauf hingewiesen hätten, um etwas Positives in die Dis-kussion einzubringen.
Blicken wir in die Zukunft. Die perspektivische wirt-schaftliche Entwicklung und die Entwicklung im Euro-Raum hängen sicherlich zusammen. Der Wirtschafts-minister und die christlich-liberale Koalition tun genaudas Richtige. Sie haben vier Schwerpunkte im vorliegen-den Haushalt verankert. Meine Damen und Herren vonder Opposition, Sie sind auf alle möglichen Themen aus-gewichen, um nur nicht über den Haushalt sprechen zumüssen. Im Haushalt lassen sich jedenfalls vier Themen-blöcke finden.Erster Punkt: Unterstützung von Forschung und Tech-nologie.
Das ist ein ganz wichtiger Punkt, weil in diesen Berei-chen und insbesondere in der Grundlagenforschung ge-nau das geschaffen wird, was der deutschen Wirtschaftin den nächsten Jahren helfen wird, konkurrenzfähig zubleiben und noch bessere Produkte herzustellen. Sie un-terschlagen einfach dieses extrem wichtige Kapitel imGeschäftsbereich des Wirtschaftsministeriums.Zweiter Punkt: Innovationsförderung. Ich muss Ihnenden Unterschied zwischen Grundlagenforschung undInnovation nicht darlegen; den kennen Sie sicherlich. Siehätten doch einen Satz über die Bedeutung des ZIM-Pro-gramms für den deutschen Mittelstand verlieren können.
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Andreas G. Lämmel
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Gerade in den wirtschaftlich schwierigen Jahren 2008,2009 und 2010 sind die Mittel für dieses Programm auf-gestockt worden und konnten Unternehmen in Gesamt-deutschland von diesem Programm profitieren. Das istkonkrete Politik, die den Unternehmen den Weg in dieZukunft erleichtert.Man muss leider feststellen, dass die Innovationskraftim Moment etwas abnimmt; denn die abgerufenen Mittelaus dem ZIM-Programm sind gesunken. Mehr Geld– danach rufen Sie ständig – ist also kein Wert an sich.Vielmehr ist entscheidend, ob das Geld, das der Staatausgibt, sinnvoll angelegt wird.
Es ist nicht entscheidend, wie hoch ein Etat ist, sondernob die eingestellten Mittel sinnvoll genutzt werden. Wirsind der Meinung, dass ausreichend Mittel für das ZIM-Programm eingestellt sind, um der deutschen Wirtschaftzu helfen.
Dritter Punkt: Investitionsförderung. Hier geht es umdie Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalenWirtschaftsstruktur“, GRW. Das, was die Linke heutewieder abgeliefert hat, ist ziemlich erbärmlich. FrauLötzer, angesichts Ihres Gesellschaftsmodells kann ichnur sagen: Sie reden manchmal wie ein Blinder von derFarbe.
Sie saßen vor 1990 gut situiert im Westen, während sichIhre Brüder und Schwestern im Osten in volkseigenenBetrieben abstrampeln mussten und dort zu nichts ge-kommen sind. Diese hatten nach 1990 kein Geld, um zuinvestieren, und haben heute noch lange nicht so vielGeld wie ihre Brüder und Schwestern im Westen. Nunjammern Sie herum und beklagen, dass die Wirtschafts-entwicklung im Osten noch nicht das Niveau der Ent-wicklung in Westdeutschland erreicht hat.In diesem Zusammenhang komme ich auf HerrnClaus zu sprechen. Er war zu DDR-Zeiten Großfunktio-när. Er war an vorderster Stelle in SED und FDJ – er warüberall dabei – und hat das System im Osten Deutsch-lands mitentwickelt.
Diese Mitleidsarie Ostdeutschland, Herr Claus,
ignoriert ganz einfach die gewaltige Aufbauleistung, dienach 1990 erbracht wurde.
Alles hat eine Ursache. 1990 war der Kapitalstock inOstdeutschland völlig zerstört. Sie haben die Unterneh-mer aus dem Land gejagt oder enteignet.
Es war überhaupt niemand da,
der den Ruin der Wirtschaft hätte auffangen können.
Sie sollten dankbar sein, dass Tausende ostdeutsche Bür-ger ihr Geschick in die eigenen Hände genommen ha-ben, ein Geschäft eröffnet haben und Unternehmer wur-den.
Sie sind für die Vermögenslage in Ostdeutschlandverantwortlich.
Da können Sie hier doch nicht scheinheilig erklären: Wirhaben leider keine Konzernzentralen im Osten. „Warumhaben wir denn keine Konzernzentralen, Herr Claus?“,frage ich Sie!
Weil Sie die Unternehmer enteignet haben und weil Siedie Unternehmer aus dem Land gejagt haben! Das sinddoch die Ursachen!
Man braucht bloß einmal den Blick nach Zwickau zurichten. Ich erinnere an die hervorragende deutscheAutomobilindustrie. Audi ist ein sächsisches Unterneh-men; es ist vom Ursprung her kein bayerisches Unter-nehmen. Sie und Ihre Genossen haben es aus dem Landgejagt. Deswegen wurde der Trabant gebaut. Das mussman einfach immer mal wieder sagen, wenn man Ihrständiges Geleier hört. Das ist ja unerträglich.
Das respektiert einfach die Leistung nicht, die in Ge-samtdeutschland erbracht worden ist.
Dafür steht die Investitionsförderung, über 5 Milliar-den Euro Investitionsförderung. Damit sind betrieblicheInvestitionen im Umfang von über 30 Milliarden Euroangereizt worden. Es ist doch eine gewaltige Leistung,die da erbracht worden ist.
Wir brauchen die Investitionsförderung noch, weil derKapitalstock Ost eben nicht dem Kapitalstock West ent-spricht. Über die Ursachen habe ich geredet. Also, es istunerträglich, was Sie hier bieten.
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Andreas G. Lämmel
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Wir können nur hoffen, dass das Gesellschaftsmodell,das Sie wollen, in Deutschland keine Chance mehr hat,verwirklicht zu werden.
Der vierte Punkt beim Haushalt des Wirtschaftsminis-ters ist das Thema Fachkräfte. Hier haben wir das glei-che Problem. Warum hat sich denn in Ostdeutschland1990 die Geburtenrate sozusagen halbiert? Warumdenn? Weil Sie ein ruiniertes Land hinterlassen haben,das wieder aufgebaut werden musste! Dafür, dass da dieLeute erst einmal anderes zu tun hatten, als die Gebur-tenrate hochzuhalten – sie mussten ihre eigene wirt-schaftliche Existenz sichern –, hat man Verständnis.Herr Claus, noch eines: Schon zu sozialistischen Zei-ten war in Ostdeutschland, in der DDR, die Sterberatehöher als die Geburtenrate.
Diese demografische Entwicklung hat also schon langevorher angefangen. Deswegen stecken wir jetzt natürlichin der Kalamität, dass sich die demografische Entwick-lung zuerst in Ostdeutschland bemerkbar macht. DasThema Fachkräfteentwicklung ist daher gerade in Ost-deutschland ein sehr wichtiges.Abschließend zu Ihnen, Herr Duin, weil Sie heuteeine so schwache Rede abgeliefert haben, wie ich dasvon Ihnen noch nie erlebt habe. Eine Sache fiel mir auf.Ich komme nicht aus Niedersachsen – zum Glück –; ichkomme aus Sachsen,
das einen ausgeglichenen Haushalt hat. Das müssen Sieerst einmal nachmachen: ein ausgeglichener Haushalt inOstdeutschland, Herr Duin!
Eine Sache müssen Sie mir gelegentlich einmal erklä-ren. Da gibt es den großen Weltkonzern Volkswagen, derauch in Sachsen stark verankert ist; darüber sind wirauch sehr froh. Sie sagen jetzt: Wir brauchen das VW-Gesetz noch. – Volkswagen will der weltgrößte Auto-bauer werden. Volkswagen verdient Milliarden, hat Por-sche, Audi, ganz viele Marken integriert. Ein weltweiterKonzern soll mit dieser Beteiligung von Niedersachsenin der Zukunft existieren. Ich denke, Volkswagen iststark genug, auch weiterhin – –
Wollen Sie noch Zwischenfragen zulassen, zunächst
die des Kollegen Garrelt Duin?
Nein, meine Redezeit ist abgelaufen, Herr Präsident.
Vielen Dank.
Er hat die Zwischenfragen – auch der Kollege
Hubertus Heil wollte noch eine Zwischenfrage stellen –
nicht mehr akzeptiert.
– Dann eine Kurzintervention.
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält unser Kol-
lege Hubertus Heil. Bitte schön, Kollege Heil.
Herr Kollege Lämmel, ich habe mich wegen Ihrerletzten Bemerkung zum VW-Gesetz zu Wort gemeldet.Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie das VW-Gesetzfür aus der Zeit gefallen und für etwas halten, wofür mannicht mehr kämpfen sollte? Dann will ich Ihnen an die-ser Stelle ganz deutlich sagen: Das ist eine ganz wichtigeNachricht für die Menschen bei mir in Niedersachsen ineiner Zeit, in der wir – Gott sei Dank gemeinsam mit demCDU-Ministerpräsidenten McAllister, mit dem Betriebs-rat von Volkswagen, mit dem Unternehmen an sich – unsfür dieses historisch, aber auch praktisch bewährte VW-Gesetz einsetzen, das den Einfluss von Kleinaktionärenund der Belegschaft auf Standortfragen regelt.
Wir haben Ihnen in der Großen Koalition abgerungen,nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs einenAnlauf zu nehmen, dieses bewährte, richtige und not-wendige VW-Gesetz hinzubekommen. Wir erleben jetzt,dass das Gesetz von Wirtschaftsradikalen in der Euro-päischen Kommission, die nichts gelernt haben, erneutattackiert wird. Sie fallen nicht nur der niedersächsi-schen Landesregierung, sondern vor allen Dingen denMenschen in meiner Heimatregion und den bei Volkswa-gen Beschäftigten in den Rücken, indem Sie hier solcheReden halten.Herr Lämmel, entweder haben Sie vom VW-Gesetzkeine Ahnung, oder, was schlimmer wäre, Sie sind wirk-lich der Meinung, die Sie eben geäußert haben. Ichwollte Ihnen die Gelegenheit geben, mir bei diesemThema eine einfache Frage zu beantworten – vielleichtkönnen Sie das ja richtigstellen; das würde uns helfen –:Sind Sie für oder gegen das VW-Gesetz? Meine Bitteist: Versuchen Sie, mit Ja oder Nein darauf zu antwor-ten. Dass der Wirtschaftsminister dazu geschwiegen hat,ist – das hat mein Kollege Garrelt Duin vorhin gesagt –an sich schon eine Frechheit, weil wir Druck in Brüsselbrauchen, um dieses wichtige Gesetz durchzubekommenund nicht Gefahr zu laufen, dass es gekippt wird. Aberda Sie den Eindruck erweckt haben, dass Sie uns, denMenschen in Niedersachsen und an anderen Standortenin Deutschland, den bei Volkswagen Beschäftigten, inden Rücken fallen, sollten Sie das jetzt klarstellen.Meine Frage lautet also: Sind Sie für oder gegen dasVW-Gesetz? Stellen Sie das bitte klar.
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17060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Hubertus Heil
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Das Wort zur Entgegnung hat Kollege Andreas
Lämmel.
Wir brauchen keinen Druck, wir brauchen gute Argu-
mente, wenn wir über dieses Thema diskutieren. Sie dis-
kutieren darüber auf eine Art und Weise, als wenn sozu-
sagen das Wohl und Wehe der Menschen in
Niedersachsen vom VW-Gesetz abhinge. Diese Verbin-
dung, die Sie immer wieder versuchen unterschwellig
herzustellen, wird der Diskussion überhaupt nicht zu-
träglich sein. Im Gegenteil: Sie findet auf einer Ebene
statt, die mit dem Gesetz eigentlich nichts zu tun hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 09
– Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie –
in der Ausschussfassung. Hierzu liegt ein Änderungsan-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/7829 vor,
über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? – Das ist die Fraktion Die Linke. Wer
stimmt dagegen? – Das sind die Koalitionsfraktionen.
Enthaltungen? – Fraktionen der Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Der Änderungsantrag ist abge-
lehnt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzel-
plan 09 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage-
gen? – Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthal-
tungen? – Keine. Der Einzelplan 09 ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun Tages-
ordnungspunkt II.15 auf:
Einzelplan 11
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
– Drucksachen 17/7111, 17/7123 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Axel E. Fischer
Bettina Hagedorn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz
Zum Einzelplan 11 liegen ein Änderungsantrag der
Fraktion der SPD, zwei Änderungsanträge der Fraktion
Die Linke sowie zwei Änderungsanträge der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Wi-
derspruch erhebt sich nicht. Dann ist dies so beschlos-
sen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, darf ich die Kolle-
ginnen und Kollegen bitten, die Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat in unserer
Debatte als Erste für die Fraktion der Sozialdemokraten
unsere Kollegin Bettina Hagedorn. – Bitte, Frau Kolle-
gin Bettina Hagedorn.
Frau Ministerin! Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Wer schon länger hier im Plenum sitztund gerade die Aussprache zum Bereich Wirtschaft ver-folgt hat, konnte wieder hören, wie nicht nur der KollegeToncar erneut der SPD unterstellen wollte, dass wir aufder einen Seite immer mehr Ausgaben fordern und aufder anderen Seite keine Vorschläge zur Konsolidierungmachen.
Weil die Menschen oben auf der Tribüne und vor demFernseher das, im Gegensatz zu Ihnen, nicht wissen kön-nen, will ich eingangs darauf hinweisen, dass es hier zuden Beratungen des Bundeshaushaltes einen Antrag derSPD mit der Überschrift „Pakt für Bildung und Ent-schuldung“ gibt, den Sie möglicherweise noch nicht ge-lesen haben. Er beinhaltet, dass wir für 2012 Vorschlägein den Haushaltsausschuss eingebracht haben, die solidegegenfinanziert sind und mit denen wir etwa 5 Milliar-den Euro unter Ihrer Nettokreditaufnahme bleiben. Auchfür die vorgesehenen Mehrausgaben haben wir eine Ge-genfinanzierung.Der Präsident hat schon auf unseren Änderungsantraghingewiesen. Er sieht im Bereich Arbeit und SozialesMehrausgaben in Höhe von 1,5 Milliarden Euro für ak-tive Arbeitsmarktpolitik vor, die wir im Chor nicht nurmit den anderen Oppositionsparteien, sondern auch mitden Kirchen, den Wohlfahrtsverbänden und den Ge-werkschaften fordern.
Es ist also sehr wohl möglich, mehr auszugeben,wenn man intelligent gegenfinanziert. Ich möchte Ihnendazu nur ein Beispiel nennen. Vielleicht haben Sie vonder CDU sich in das Thema auf Ihrem Leipziger Partei-tag ein bisschen eingearbeitet. Wenn man in Deutschlandeinen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro einführenwürde, würde das zu Minderausgaben und zu Mehrein-nahmen in der Summe von über 3,25 Milliarden Euroführen. Das wäre ein vernünftiger Haushaltsbeitrag,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17061
Bettina Hagedorn
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der nicht auf dem Rücken von Menschen ausgetragen,sondern sich zu ihren Gunsten auswirken würde.
Liebe Frau Ministerin, ich kann es Ihnen nicht erspa-ren: Wir sprechen hier seit über einem Jahr über das so-genannte Sparpaket der Regierung. Das hat auch viel mitdem Haushalt zu tun. Der Kollege Toncar hat noch ein-mal gesagt, Sie als Regierung würden angeblich 80 Mil-liarden Euro bis 2014 kürzen, um die Schuldenbremseeinzuhalten. Das ist natürlich ein absoluter Fake – wiewir inzwischen alle wissen –,
weil der größte Teil des Beitrags von 51 MilliardenEuro, den Sie in den Bereichen Verwaltung, also durchEntbürokratisierung, und Wirtschaft erbringen wollen,nicht kommen wird. Mit diesem sogenannten Sparpaket,das von vornherein unsozial und ungerechtfertigt hochangesetzt war, kürzen Sie zulasten der Menschen, die indiesem Land arbeitslos sind, der Langzeitarbeitslosen,aber auch der Bundesagentur für Arbeit und ihrer Bemü-hungen um eine aktive Arbeitsmarktpolitik.Ich möchte allen Kollegen noch einmal zeigen, wasdas, was Sie vor einem Jahr mit Ihrem Haushaltsbegleit-gesetz beschlossen haben, bedeutet.
Knapp 40 Prozent Ihrer – in Tüddelchen – Einspar-summe soll sich in dem Bereich Arbeit und Soziales ab-spielen.Die Kollegen aus der Koalition haben immer so getanund tun immer noch so, als ob es bei Ihrem Etat in Höhevon 126,5 Milliarden Euro, der ungefähr 41 Prozent desGesamtetats ausmacht, super gerecht sei, wenn er auch40 Prozent der Kürzungen schultere. Mit dieser Mär willich einmal aufräumen.Sie vernebeln bei Ihren Kürzungen natürlich, dass al-lein zwei Drittel Ihres Etats – das ist 2012 die stolzeSumme von 84 Milliarden Euro – durch den Zuschusszur Rente und Grundsicherung gesetzlich gebundensind. Damit können Sie – dabei ist es übrigens egal, wergerade Deutschland regiert – in diesem Bereich in keins-ter Weise kürzen, sparen und konsolidieren. Damit kon-zentrieren sich die Kürzungen ausschließlich auf die40 Milliarden Euro, die für die aktive Arbeitsmarktpoli-tik vorgesehen sind, und das macht die soziale Schief-lage in diesem Bereich aus.
Frau Ministerin, es ist schon ganz erstaunlich, dassSie noch vor wenigen Wochen im Berichterstatter-gespräch diese Kürzungen, auf die ich Sie angesprochenhabe, als „notwendig, verständlich und akzeptabel“bezeichnet haben. Das Lob der FDP, dass Sie alsArbeitsministerin dieses Sparpaket in Ihrem Bereichbrav und widerstandslos exekutieren, sollte Sie stutzigmachen. Die FDP nennt das „eine erfreulich schmerz-lose Umsetzung“. Das ist ein vergiftetes Lob.Die Kanzlerin hat noch vor einem Jahr gesagt, dasgroße Sparpaket sei ein einmaliger Kraftakt. HerrWesterwelle hat ihr damals sekundiert, es sei ein ausge-wogenes, faires und gerechtes Sparpaket. Nun wollenwir einmal schauen, was daraus geworden ist.Wahr ist, dass Sie im Bereich der Rentenversicherungkürzen. Darauf will ich zunächst eingehen. Zum 1. Ja-nuar nächsten Jahres senken Sie ja den Rentenversiche-rungsbeitrag um 0,3 Prozentpunkte auf 19,6 Prozent.Wahrscheinlich werden Sie gleich verkünden, dass daseine gute Nachricht ist. Aus Sicht der Beitragszahler istdas natürlich eine gute Nachricht, gar keine Frage.
Sie werden wahrscheinlich so tun, als sei das der Erfolgvon Schwarz-Gelb. Das ist aber nicht wahr. Wahr ist,dass diese Absenkung des Rentenbeitrags laut Gesetzes-lage automatisch erfolgt und auf das Rentenversiche-rungs-Nachhaltigkeitsgesetz vom Juli 2004 unter Rot-Grün zurückgeht.
Richtig ist auch, dass die Rentenkasse in Wahrheitsehr viel praller gefüllt sein könnte,
wenn Sie nämlich nicht mit diesem Sparpaket zulastender Langzeitarbeitslosen einen schamlosen Griff in dieRentenkasse getan hätten. Bis Ende 2012 werden derRentenkasse alleine aus diesem Grund 4,2 MilliardenEuro fehlen.
Das ist kein Sparen, sondern das ist ein Verschieben zu-lasten der Beitragszahler.
Aktive Arbeitsmarktpolitik, bei der Sie so starke Kür-zungen vornehmen, ist aus Sicht der SPD Bildungspoli-tik. Angeblich nehmen Sie die Bildungspolitik ja soernst. In Wahrheit versagt Ihre Bildungspolitik aber des-halb, weil sie auf dem volkswirtschaftlich zentralen Feldder Arbeitsmarktpolitik mit null ankommt.Sie machen diesen Bereich wieder zum zentralenSteinbruch. Die brachialen Kürzungen lassen den Mitar-beitern in der Bundesagentur für Arbeit und in den Job-centern keine Chance zur erfolgreichen Vermittlung undQualifizierung, weil Sie das Budget – den Eingliede-rungstitel – ausquetschen wie eine Zitrone.
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Bettina Hagedorn
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Die Wahrheit ist doch: Im Jahr 2011 gab es bereits einMinus von 2 Milliarden Euro. Das war aber nur dieSpitze des Eisbergs. Im Jahr 2012 kürzen Sie in diesemBereich das Doppelte, nämlich 4 Milliarden Euro, unddas wollen Sie laut Sparpaket sogar noch steigern, undzwar auf 5 Milliarden Euro pro Jahr ab 2013.Was heißt das? Das bedeutet für die Langzeitarbeits-losen und ihre Familien ein Minus von 2,3 MilliardenEuro in 2012; denn Sie kürzen nicht nur bei der Qualifi-zierung, sondern Sie haben 2011 bereits das Elterngeld,den Heizkostenzuschuss und das Übergangsgeld gestri-chen, und zwar komplett. Diese Kürzungen werden sichim Jahr 2013 auf 4,3 Milliarden Euro erhöhen und 2014sogar auf 5,8 Milliarden Euro.Was geschieht parallel bei der Bundesagentur für Ar-beit? In die Finanzkasse der Bundesagentur für Arbeitgreifen Sie 2012 mit einem Minus von 3,7 MilliardenEuro ein. 2014 wird dieses Minus sogar 7 MilliardenEuro pro Jahr ausmachen. Wie soll denn dann bei denJobcentern und bei der Bundesagentur für Arbeit über-haupt noch vernünftige Arbeit geleistet werden?Wie soll die Bundesagentur wieder eine Rücklageaufbauen, wenn das nicht jetzt, in konjunkturell besserenZeiten, geschieht? Die Bundesagentur für Arbeit hatteeine Rücklage von 18 Milliarden Euro, als wir im Jahr2008 in die Krise gerieten. Dieser Rücklage haben wir eszu verdanken, dass Deutschland unter der Großen Koali-tion so erfolgreiche Arbeitsmarktinstrumente umsetzenund finanzieren konnte wie das Kurzarbeitergeld,
von dem Ihre Regierung jetzt profitiert, an das Sie abergleichzeitig die Axt anlegen.
Die Bundesagentur setzt zum einen die sogenannteInstrumentenreform um, mit der in Wahrheit der Kahl-schlag nur gesetzlich unterlegt wird. Zusätzlich können– Herr Weise hat das schon vor einem halben Jahr ange-kündigt – 8 000 bis 10 000 Mitarbeiter der Bundesagen-tur nicht weiterbeschäftigt werden; Herr Brüderle hatsich sogar darauf verstiegen, zu sagen, es müssten10 000 bis 15 000 Mitarbeiter sein. Es ist ein Rätsel, wiedie Menschen in Deutschland, die arbeitslos sind – esgibt einen Fachkräftemangel, aber auch über 2 MillionenLangzeitarbeitslose –, eigentlich erfolgreich vermitteltwerden sollen, wenn kein Geld mehr in der Kasse ist unddie Mitarbeiter, die das umsetzen sollen, nicht mehr dasind.
Vor diesem Hintergrund spreche ich das Thema Bil-dung an. 900 000 Langzeitarbeitslose haben verschie-dene Vermittlungshemmnisse: kein Schulabschluss,keine abgeschlossene Berufsausbildung, teilweise wei-tere Vermittlungshemmnisse. Wenn man diese Men-schen nicht auf Dauer abschreiben will, ist dort nicht we-niger, sondern mehr Geld erforderlich. Es istvolkswirtschaftlich nicht sinnvoll, zu sagen: Diese Men-schen schreiben wir ab. – Wir wollen sie auf Dauer nichtmit Transferleistungen abfertigen. Das ist doch wohl lo-gisch und erschließt sich eigentlich jedem sofort.
Ich will darauf eingehen, dass sich das sogenannteSparpaket inzwischen komplett verändert hat. Es siehtnämlich folgendermaßen aus.
Das ist ein Jahr nach Ihrem Sparpaket:
Alles, was hier gelb ist, ist der Konsolidierungsbeitrag,der eigentlich von Wirtschaft und Verwaltung kommensollte und nicht kommt. – Ich will erläutern, was sichverändert hat:
Schon heute, nach einem Jahr, sehen wir, dass es defini-tiv nicht zu diesem Konsolidierungsbeitrag kommenwird. – Sie haben bisher keine Vorschläge gemacht, wel-chen Beitrag Wirtschaft und Verwaltung stattdessen leis-ten sollen. In Wahrheit ist es so: Die Gewichtung derAnteile des Sparpakets hat sich verschoben. Von IhrenEinsparungen sind nur noch 51 Milliarden Euro übriggeblieben. Dadurch hat sich natürlich der Anteil desKonsolidierungsbeitrags des Bereichs Arbeit und Sozia-les enorm vergrößert, nämlich auf aktuell 56,5 Prozent.Frau von der Leyen, ich will Ihnen sagen: Sie konntensich als Arbeits- und Sozialministerin – Sie sind für einzentrales Politikfeld zuständig – in diesem Kabinettnicht durchsetzen; da hatten Sie keinen Erfolg. Das istfür die Menschen, die auf Ihre Unterstützung und Ihr En-gagement angewiesen gewesen sind, dramatisch. An die-ser Stelle hätten wir alle uns Ihren Erfolg innerhalb desKabinetts gewünscht. Sie sehen, wie viel schlimmer esnach einem Jahr geworden ist. Sie haben noch ein wenigZeit, das Lenkrad herumzureißen. Allerdings sehen wirim Moment nicht, dass Sie einen anderen Weg einschla-gen wollen.Vor diesem Hintergrund sage ich: Dieser Haushalt istein schlechter Haushalt für die Arbeitslosen in Deutsch-land und für die Bundesagentur für Arbeit. Wir werdenihn ablehnen.
Vielen Dank, Frau Kollegin Hagedorn. – Jetzt sprichtfür die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege AxelFischer. Bitte schön, Kollege Axel Fischer.
Axel E. Fischer (CDU/CSU):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DerBundeshaushalt 2012, über den wir heute debattieren, ist
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Axel E. Fischer
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nach überwundener Wirtschafts- und Finanzkrise einweiterer Schritt zurück auf den Konsolidierungspfad.
Mit dem frischen Wind der wirtschaftlichen Gesundungim Rücken, befreit von bremsendem Ballast und mitneuen Segeln im arbeitsmarktpolitischen Bereich, sindwir auf dem besten Weg, die krisenhaften Untiefen desJahres 2009 hinter uns zu lassen. Bevor wir jedoch freiesFahrwasser erreichen, müssen wir noch gefährlicheKlippen umschiffen, an denen andere Schiffe in Europaderzeit zu zerschellen drohen.
Um Schiffbruch zu vermeiden und um unser Staatsschiffzu stabilisieren, nehmen wir daher gemäß der Schulden-bremse Fahrt weg.
Damit bringen wir perspektivisch auch unseren Arbeits-und Sozialhaushalt ins Lot, in ein nachhaltiges Gleichge-wicht.Wir wollen 2012 im Einzelplan 11 – Bundesministe-rium für Arbeit und Soziales – knapp 126,5 MilliardenEuro ausgeben. Das sind gut 41 Prozent des Bundes-haushaltes. Es sind aber auch rund 5 Milliarden Euroweniger als dieses Jahr. Diese Einsparungen von knapp4 Prozent sind möglich trotz des geplanten Anstiegs derHartz-IV-Regelsätze und trotz der 3,3 Milliarden Euromehr für Zuschüsse für die Grundsicherung im Alter,Leistungen an die Künstlersozialkassen und die Renten-versicherungen. Die Ausgaben für die Rente und dieGrundsicherung im Alter wachsen damit von 80,7 aufknapp 84 Milliarden Euro und machen zwei Drittel desArbeits- und Sozialhaushaltes aus. Das zeigt, wie wich-tig uns das Wohlergehen auch unserer älteren Generationist.
Weniger Ausgaben und mehr Leistungen für die Men-schen – das hört sich für manche nach der Quadratur desKreises an. Das ist es aber mitnichten. Es ist vielmehrdas Resultat der intelligenten, wachstumsorientiertenPolitik der christlich-liberalen Regierungskoalition undder von ihr angestoßenen positiven Entwicklung, insbe-sondere auch auf dem Arbeitsmarkt.Das Erfolgsrezept ist einfach. Unsere christlich-libe-rale Koalition orientiert sich weniger an der Maximie-rung staatlicher Umverteilung. Es geht uns schlicht undeinfach um konkrete Hilfe für die Betroffenen.
Der Bund übernimmt zum Beispiel mit der Bereitstel-lung von Kosten für Unterkunft und Heizung im Bun-deshaushalt Leistungen in Höhe von 5 Milliarden Euro.Er entlastet so Länder und Kommunen nachhaltig. Dasist gegenüber 2011 ein Zuwachs von 1,4 MilliardenEuro, der den Städten und Gemeinden wieder Luft zumAtmen gibt. Damit haben sie Spielräume für eigene Ini-tiativen.
Wir decken nicht mit viel Geld und in der Folge mitnoch mehr Schulden strukturelle Probleme zu, sondernwir haben einerseits die der Wirtschafts- und Finanzkrisegeschuldeten akuten Missstände und Ungleichgewichteam Arbeitsmarkt beseitigt und andererseits – daraufkommt es an – die drängenden Probleme in unserer Ge-sellschaft – dazu zählen insbesondere der demografischeWandel und die langjährig erfolgte überzogene staatlicheAusgabenpolitik – beherzt und tatkräftig angepackt. ImErgebnis ist die Zahl der Arbeitslosen auf deutlich unter3 Millionen gesunken. Wir feiern mit weit mehr als40 Millionen Beschäftigten neue Beschäftigungsre-korde, und das Wirtschaftswachstum hat in diesem Jahr3 Prozent erreicht. Das sind Erfolge, die wir zu Recht aufunsere Fahnen schreiben.
Angesichts dieser Entwicklungen wäre es wenig sinn-voll gewesen, Frau Kollegin Hagedorn, das Niveau desnoch teilweise von der Krise geprägten Haushaltes 2011festzuschreiben. Es wäre insbesondere auch deshalbnicht sinnvoll gewesen, weil ein beachtlicher Teil der für2011 vorgesehenen Mittel aufgrund der guten Entwick-lung nicht abgerufen werden musste. Das Jahr 2011 istviel erfreulicher gelaufen, als viele es erhofft hatten undandere es heute darstellen.Im Lichte einer erheblich verbesserten Arbeitsmarkt-lage mit immer weniger Langzeitarbeitslosen könnenzum Beispiel die für das kommende Jahr geplanten Aus-gaben für Hartz IV gegenüber dem Ansatz für das lau-fende Jahr um 800 Millionen Euro auf nunmehr19,6 Milliarden Euro gesenkt werden. Wenn die Bundes-agentur für Arbeit mit ein bisschen Glück dieses Jahrohne Bundeszuschuss auskommt und mit einer schwar-zen Null schließen kann, ist das nicht der Beleg für diepositive Wirkung des wirtschaftlichen Aufschwungs aufdie Entwicklung des Arbeitsmarktes, nein, es ist ein Ver-dienst der Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit un-ter Führung von Herrn Weise und der kommunalen Mit-arbeiter in Bereichen der Arbeitsvermittlung.
Herr Kollege Fischer, gestatten Sie eine Zwischen-
frage unserer Kollegin Mast?
Axel E. Fischer (CDU/CSU):
Nein, das gestatte ich nicht.
Frau Kollegin, Sie haben es gehört. – Herr Kollege,Sie haben wieder das Wort.Axel E. Fischer (CDU/CSU):Die Bundesagentur und ihre Mitarbeiter haben in ei-nem jahrelang andauernden wechselhaften und vielfachunbequemen Erprobungsprozess an der Optimierung derStrukturen zur Vermittlung von Arbeitslosen mitgewirkt.
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Axel E. Fischer
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Sie nutzen die entscheidenden Freiräume im Interesseder Arbeitssuchenden. Sie haben erheblichen Anteil da-ran, dass die Zahl der Arbeitslosen heute so niedrig istwie zuletzt in den 90er-Jahren und dass die Vermittlungvon Langzeitarbeitslosen immer besser wird. Wenn dieKrise am Arbeitsmarkt überwunden ist, wenn die BA imkommenden Jahr keine Schulden machen muss, dannentlastet das auch den Bundeshaushalt. Wir können dannweiter weg von den Schuldenklippen navigieren und er-folgreich dem von Finanzminister Schäuble beschriebe-nen Sparkurs hin zu einem ausgeglichenen Bundeshaus-halt folgen. Sie sehen: Eines greift bei uns ins andere,und alles zusammen wirkt zum Wohle der Menschen.
Wir haben viele Langzeitarbeitslose in den letztenJahren in Arbeit gebracht. Was uns dabei geholfen hatund was wir deshalb weiter ausbauen wollen, ist einenach vorne gerichtete Arbeitsmarktpolitik, weg vomVersorgungsgedanken hin zum Aktivierungsgedanken,weg von Standardisierung hin zur Differenzierung, wegvon anonymer Zentralverwaltung hin zu konkreter Hilfevor Ort. Darauf kommt es an.
Wir reagieren in vielen Bereichen nicht mehr aufDrängen spürbarer Notstände, sondern wir agieren.Durch das Rating bei den Jobcentern, durch Jobmonito-ring, durch die Arbeitskräfteallianz, durch „Das Demo-graphie Netzwerk“ und digitale Wegweiser bis hin zurLösung des berühmten Themas „Dachdecker mit 67“schaffen wir Strukturen für morgen, um die Problemeanzugehen und zu lösen.
Es geht uns um gute Arbeit. Wir wissen um die Be-lange unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, diees verdient haben, dass wir die Rahmenbedingungen füreine Begleitung durch ihr Berufsleben gestalten. Die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden künftignicht mehr vom Einstieg in den Beruf bis zum Ausstiegin der gleichen Tätigkeit bleiben. Dazu sind die Ent-wicklungen viel zu rasant. Aber wir wollen ihnen durchmehr Sorge für den Einzelnen und bessere InstrumenteSicherheit bieten. Das hilft konkret, während völlig ausder Luft gegriffene Formulierungen wie „Kahlschlag inder Arbeitsmarktpolitik“ an der Lebenswirklichkeit voll-ständig vorbeigehen.
Der vorgelegte Haushalt ist ausgewogen und ent-spricht den Erfordernissen der von der christlich-libera-len Koalition eingeleiteten Modernisierung am Arbeits-markt und im Bereich der sozialen Sicherung. Es ist einin die Zukunft gerichteter Haushalt, der deutliche An-satzpunkte für die Bewältigung der großen Herausforde-rungen durch die Schuldenbremse, den demografischenWandel und den Übergang in eine digitale Gesellschaftaufweist.Ich danke an dieser Stelle unseren Kolleginnen undKollegen, besonders der Hauptberichterstatterin BettinaHagedorn, wie auch der Bundesregierung, namentlichFrau Ministerin Dr. von der Leyen und StaatssekretärFuchtel, herzlich für die gute Zusammenarbeit. So ist esin den parlamentarischen Beratungen in den vergange-nen Monaten möglich geworden, den ohnehin schon gu-ten Haushaltsentwurf zu einem durch und durch zu-kunftsfähigen Werk zu formen. Er bildet den Erfolgunserer wachstumsorientierten Politik ab und ist eine so-lide Grundlage für neue Reformschritte.Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass diechristlich-liberale Koalition mit Frau BundesministerinDr. von der Leyen weiterhin als Modernisierer an derSpitze der zukunftsfähigen Entwicklung unseres Ar-beits- und Sozialwesens steht, und wir mit Fug undRecht behaupten können: Wo wir sind, ist vorne.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Fischer. – Zu einer Kurzinter-
vention hat sich unsere Kollegin Katja Mast gemeldet.
Bitte schön, Frau Kollegin Katja Mast.
Herr Kollege Fischer, die Kollegin Hagedorn hat vor-
hin klargemacht, dass die vorgesehenen Kürzungen von
26,5 Milliarden Euro bei der Bundesagentur für Arbeit
keine konjunkturellen – zum Beispiel, weil wir jetzt
weniger Arbeitslose haben –, sondern strukturelle Kür-
zungen sind. Das heißt, die Kürzungen werden vorge-
nommen, ganz egal, wie sich die Arbeitslosenzahl entwi-
ckelt. Das ist der Skandal dieser Politik: Sie orientieren
sich nicht an der Konjunktur, sondern Sie kürzen struk-
turell. Diese strukturellen Kürzungen bedeuten für die
Menschen: weniger Ausbildungshilfen für Jugendliche,
weniger dauerhafte Weiterbildung, weniger Bildungs-
politik in der Arbeitsmarktpolitik.
Ich will Sie sehr konkret fragen, weil unsere Wahl-
kreise nebeneinanderliegen, Herr Kollege Fischer:
Was sagen Sie den Menschen, wenn Ihnen in Baden-
Württemberg die Frage gestellt wird, warum dem Land
3,5 Milliarden Euro für eine aktivierende Arbeitsmarkt-
politik, für eine fördernde Arbeitsmarktpolitik fehlen?
Ihre Antwort darauf möchte ich gern einmal hören. Ich
möchte auch wissen, was Sie den Jugendlichen sagen,
die in Ihre Bürgersprechstunde kommen und sagen: Ich
bekomme keine ausbildungsbegleitende Hilfe, keine
Ausbildungsförderung mehr von der Bundesagentur für
Arbeit.
Kollege Fischer, Sie haben die Möglichkeit zur Erwi-derung. Bitte schön.
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Axel E. Fischer (CDU/CSU):Frau Kollegin Mast, zum Eingliederungstitel: DieTatsache, dass wir weniger ausgeben, hat natürlich damitzu tun, dass es weniger Arbeitslose gibt. Zum anderensind strukturelle Veränderungen natürlich notwendig;das ist völlig richtig. Ich habe vorhin von einem Opti-mierungsprozess gesprochen, den die BA in den letztenJahren durchlaufen hat. Der Erfolg, der aus einer besse-ren Arbeit vor Ort resultiert, zeigt sich auch darin, dasswir in struktureller Hinsicht Einsparungen vornehmenkönnen, ohne dass die Leistungen an speziellen Stellenvor Ort dadurch schlechter werden. Wir haben für Opti-mierungseffekte gesorgt. Das ist der große Vorteil.
Vielen Dank. – Nächste Rednerin auf unserer Redner-
liste ist für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin Dr.
Gesine Lötzsch. Bitte schön, Frau Dr. Lötzsch.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Ich möchte mich mit der Frage aus-einandersetzen, ob dieser Haushalt gerecht, ob er sozialoder ob er christlich ist.
Die Bundesregierung und die Koalition wollen uns ein-reden, der Haushalt würde alle in der Gesellschaft gleichbelasten und wäre sozial ausgewogen. Doch jeder, derdie Zahlen kennt, weiß, dass das gelogen ist,
denn die größten Kürzungen im Bundeshaushalt wurdendort vorgenommen, wo die Menschen, die am wenigstenhaben, am härtesten getroffen werden, und Menschen,die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld, werden von denKürzungen vollständig verschont. Sie werden eben nichtzur Kasse gebeten, was richtig wäre.
Im Etat „Arbeit und Soziales“ sind 4,7 MilliardenEuro gestrichen worden. Gleichzeitig bekommt der Ver-teidigungsminister – bei Beachtung von Haushaltswahr-heit und -klarheit – 1,6 Milliarden Euro mehr. An dieserStelle muss man wirklich ganz deutlich sagen: Hier stim-men die Verhältnisse wirklich nicht mehr.
Ein gerechter Haushalt sieht anders aus: Steuererhö-hungen für diejenigen, die die Krise verursacht habenund immer noch an ihr verdienen. Ein gerechter Haus-halt, Frau von der Leyen, würde nicht die Menschen be-strafen, die ihre Arbeit verloren haben und unverschul-det in Armut geraten sind. Vor allem würde ein gerechterHaushalt, der auch nur einen Hauch von christlichemAnspruch widerspiegelt, nicht zulassen, dass immermehr Kinder in unserem Land in Armut leben müssen.
Sie versuchen – das haben Sie in den Beratungen ge-tan; Sie werden das in Ihrer Rede gleich wiederholen –,die Kürzungen im Haushalt schönzureden. Ihr Argu-ment, dass Sie uns häufig vorgetragen haben, lautet: Inkonjunkturell guten Zeiten geht die Arbeitslosigkeit zu-rück; deshalb brauchen wir weniger Geld für Arbeits-lose. Aber wie sieht diese Arbeit aus? Sie haben das inIhrer Antwort auf die schriftlichen Fragen meiner Kolle-ginnen Jutta Krellmann und Sabine Zimmermann selbstgesagt: Diese neue Arbeit stellt eine dramatische Zu-nahme von Leiharbeit und Niedriglöhnen dar. Das hatmit Gerechtigkeit wirklich nichts zu tun, Frau Ministe-rin.
Schauen wir einmal genau hin: Im Oktober ist die Ar-beitslosigkeit gegenüber dem Vorjahr um 3,7 Prozent ge-sunken. Das ist gut. Im gleichen Zeitraum sank aber dieZahl der Teilnehmer an Maßnahmen zur beruflichenWeiterbildung um 21 Prozent. Wie erklären Sie eigent-lich Menschen, die endlich aus der Arbeitslosigkeit he-rauskommen wollen, die bereit sind, sich immer wiederzu qualifizieren, dass Sie kein Geld mehr für Qualifika-tion ausgeben wollen? Ich glaube, das können Sie nie-mandem mit gutem Gewissen erklären.
Wir lesen ja jeden Tag in den Zeitungen – es hat auchschon in der Debatte eine Rolle gespielt –, dass inDeutschland Fachkräfte fehlen. Wir lesen aber viel zuselten, dass es diese Bundesregierung und diese Ministe-rin ist, die Menschen die Chance verbaut, wieder in Ar-beit zu kommen. Das ist nicht gerecht! Das ist nichtchristlich, Frau Ministerin!
Frau von der Leyen, Sie haben Ihre Partei, die CDU,aufgefordert, endlich einen gesetzlichen Mindestlohn inDeutschland einzuführen. Das war eine richtige undlängst überfällige Forderung.
Alle Vorurteile, die von der CDU – von der FDP will ichjetzt gar nicht reden – gegen einen gesetzlichen Mindest-lohn vorgebracht wurden, sind wissenschaftlich wider-legt worden. Der Mindestlohn vernichtet keine Arbeits-plätze. Das wissen wir aus den Erfahrungen fast alleranderen Länder der Europäischen Union. Ich finde, es istmoralisch wirklich verwerflich, wenn ein Arbeitgebermeint, einen Menschen für sich arbeiten lassen zu kön-nen, ohne ihn so zu bezahlen, dass er davon leben kann.Wie kann eine christliche Partei solche Arbeitgeber nurunterstützen, meine Damen und Herren?
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17066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Dr. Gesine Lötzsch
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Arbeitgeber, die ihren Mitarbeitern einen unwürdigenLohn bezahlen, werden von der Bundesregierung dafürsogar noch belohnt, weil sie mit Steuergeldern subven-tioniert werden. Das muss endlich ein Ende haben!
Arbeitgeber, die ihre Mitarbeiter gerecht entlohnen wol-len, werden von der Bundesregierung bestraft, denn siemüssen sich gegen unlautere Konkurrenz wehren.Ihr Parteitag hat nun keine Mindestlöhne beschlossen.Sie konnten sich mit dieser Idee nicht durchsetzen. Dieradikalen Marktideologen haben sich in der CDU wie-derum durchgesetzt. Wir haben bereits bei der Debatteum den Einzelplan Wirtschaft gesehen, dass das die do-minierende Haltung in Ihrer Partei ist. Das hat mit christ-lich-sozial nichts zu tun. Wenn Sie an Ihre Wurzeln, anIhre Werte knüpfen wollen, dann müssen Sie endlichumsteuern. Ansonsten wird man Ihnen den Titel „christ-lich“ nicht mehr verleihen können.
Das ewige Mantra der christlich-liberalen Koalitionlautet ja: Leistung muss sich wieder lohnen. – Wenn wiruns aber die Politik dieser Bundesregierung anschauen,dann sehen wir, dass sich Leistung eben nicht lohnt. ImGegenteil: 10 Prozent der Gesellschaft, die 60 Prozentdes Vermögens haben, können ihr Geld im Schlaf ver-dienen. Sie lassen das Geld an den Börsen der Welt fürsich arbeiten. Menschen, die für ihre Arbeitsleistungnicht einmal einen würdigen Lohn bekommen, werdenjedoch Ihren Spruch „Leistung muss sich wieder lohnen“nur als zynisch empfinden können.
Wer will, dass sich Leistung wieder lohnt, der musswirklich um gesetzliche Mindestlöhne kämpfen und leis-tungslose Spekulationsgewinne kräftig besteuern. An-ders ist Gerechtigkeit nicht zu haben.
Dieser Haushalt ist ungerecht, weil er Armut schafft.Sie bekämpfen nicht die Armut, sondern Sie schaffenneue Armut. Es ist doch ein unglaublicher Vorgang, dassdie Bundesregierung bis heute nicht das Urteil des Bun-desverfassungsgerichts zu den Regelsätzen, was Hartz IVbetrifft, umgesetzt hat.
Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung, des DeutschenGewerkschaftsbundes und der Friedrich-Ebert-Stiftungkommt zu dem Ergebnis, dass die Ermittlung der Hartz-IV-Regelsätze verfassungswidrig ist. Unsere Fraktionhat der SPD und den Grünen angeboten, gemeinsam ge-gen diesen Verfassungsverstoß zu klagen. Leider habendiese Fraktionen das abgelehnt. Das ist schade, aber mankann ja einen zweiten Anlauf nehmen.
Das sogenannte Bildungspaket kommt nicht einmalbei der Hälfte der Menschen an, die darauf einen An-spruch haben. Der Mehrheit wird also ein Teil des Exis-tenzminimums vorenthalten. Besonders bedrückendfinde ich aber, dass dieses sogenannte Teilhabe- und Bil-dungspaket in vielen Fällen sogar eine gegenteilige Wir-kung hat. Bedürftige Kinder bekommen in vielen Kom-munen kein kostenloses Mittagessen mehr. Die Elternmüssen jetzt, egal ob sie die bürokratischen Hürden die-ses Pakets überwunden haben oder nicht, einen Zuschussbezahlen, weil es ja das Bildungspaket gibt. Damit ver-schlechtert sich in der Realität die Situation armer Kin-der. Das ist nicht gerecht! Das ist nicht christlich! Das isteinfach nur beschämend, Frau von der Leyen!
– Der Zwischenruf zur Verantwortung ist sehr schön.Den nehme ich gerne auf. Sie und Frau von der Leyen ander Spitze entwickeln geradezu einen missionarischenEifer, arme Menschen erziehen zu wollen, anstatt ihnenzu helfen.Ich frage Sie: Warum sind Sie eigentlich so gleichgül-tig und nachsichtig gegenüber dem gierigen Verhaltenvon einigen wenigen Spekulanten? Warum kommt da Ihrmissionarischer Eifer nicht durch, Frau von der Leyen?
– Auch diesen Zwischenruf nehme ich gerne auf, HerrKollege. Als Volksvertreter, auch Sie, Herr Abgeordne-ter, sind wir für die gesamte Politik zuständig. Ichglaube, vielen in der CDU ist schon aufgefallen, dasssich Frau von der Leyen für vieles in der Politik, für diegesamte Politik zuständig fühlt, was nicht jedem in ihrerPartei gut gefällt. Auch das ist uns aufgefallen.
Kommen wir zurück zum Teilhabe- und Bildungs-paket. Eine Mutter muss alle möglichen bürokratischenNachweise erbringen, um einen 10-Euro-Gutschein fürihr Kind zu bekommen. Dagegen ist es nach Auffassungdes Finanzministers gar kein Problem, wenn sich Bankereinmal um 55,5 Milliarden Euro verrechnen.
Frau von der Leyen, unter Ihrer Herrschaft sind dieSanktionen gegen Arbeitslose sprunghaft angestiegen.Warum kämpfen Sie in Ihrer Regierung nicht lieber ein-mal dafür, dass Herr Schäuble endlich gegen diejenigenSanktionen verhängt, die Schulden in Höhe von 335 Mil-liarden Euro zu verantworten haben? So viel hat dieFinanzkrise laut Berechnung der Bundesbank die deut-schen Steuerzahler seit 2008 gekostet. Ich glaube, dieVerhältnisse müssen endlich in Ordnung gebracht wer-den. Wir brauchen keine verschärften Sanktionen gegenHartz-IV-Empfänger, sondern endlich verschärfte Sank-tionen gegen diejenigen, die unseren volkswirtschaft-lichen Reichtum verspekulieren.
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Dr. Gesine Lötzsch
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Abschließend möchte ich einige Anmerkungen zurwachsenden Altersarmut in unserem Land machen. FrauKollegin Hagedorn ist schon darauf eingegangen.14 Prozent aller Menschen ab 65 gelten als arm. Wirwollen endlich wieder Renten, die vor Armut schützen.Wir brauchen heute gute Löhne, damit die zukünftigenRentner einmal eine gute Rente bekommen. Aber waswir jetzt schon brauchen, sind klare Entscheidungen füreine solidarische Mindestrente, die diesen Namen wirk-lich verdient, damit Menschen, die ihr Leben lang gear-beitet haben, im Alter nicht arm sind.
Ich habe anfangs die Frage aufgeworfen, ob dieserHaushalt gerecht ist, ob er sozial ist und ob er christlichist. Ich komme zu dem Schluss: Dieser Haushalt ist un-gerecht, er ist unsolidarisch, und christlich ist er schongar nicht.Wir lehnen ihn ab.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Lötzsch. – Jetzt für
die Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau Dr. Claudia
Winterstein. Bitte schön, Frau Kollegin Winterstein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Bettina Hagedorn, keine Sorge, der Ein-zelplan 11 ist mit seinem Ausgabeniveau von 126,5 Mil-liarden Euro sehr wohl solide aufgestellt.
Dass die Ausgaben rund 4,8 Milliarden Euro unter demPlan für 2011 liegen, ist nicht die Folge von tiefen Ein-schnitten. Vielmehr liegt es vor allem daran, dass derBund der Bundesagentur für Arbeit im kommenden Jahrkein Darlehen mehr gewähren muss. Dieses Darlehen istim Haushalt 2011 noch mit 5,4 Milliarden Euro ange-setzt. 2012 entfällt dieser Haushaltsposten vollständig.
Die BA wird sogar bereits im Jahr 2012 wieder im Plussein und damit beginnen, Rücklagen aufzubauen. Dassollte uns alle freuen, vor allen Dingen dich, liebeBettina; denn auch das hast du gefordert.
Aufgrund der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt stehtnicht nur die Bundesagentur besser da als erwartet, son-dern auch der Bund muss weniger Geld ausgeben, zumBeispiel für das Arbeitslosengeld II. Neben diesen kon-junkturellen Effekten setzen wir bei den Arbeitsmarkt-mitteln die Einsparungen um,
die wir im Jahr 2010 beschlossen haben. Dem stehen al-lerdings Mehrausgaben von 2,8 Milliarden Euro für dasBildungspaket und für die Grundsicherung im Alter ge-genüber. Das ist eine ganz erhebliche Entlastung für dieKommunen.
Das sind die wesentlichen Faktoren für die Haushaltsent-wicklung im Vergleich zu 2011, und das ist kein Kahl-schlag.Sehen wir uns den Bereich Arbeitsmarkt etwas ge-nauer an. In diesem Haushalt sind dafür 40,3 MilliardenEuro angesetzt. Im Eingliederungsbudget – auch das istvorhin angesprochen worden – stehen 8,45 MilliardenEuro zur Verfügung, also rund 1 Milliarde Euro wenigerals 2011. Das hat die Opposition heute und auch sonst inden vergangenen Tagen immer wieder als unzumutbareKürzung kritisiert. Aber diese Kritik ist völlig unberech-tigt. Denn wir geben zwar weniger aus als im Vorjahr;aber gemessen an der deutlich niedrigeren Arbeitslosen-zahl ist es so, dass wir pro Person mehr ausgeben als inden früheren Jahren.
Das will ich mit Zahlen unterlegen. 2006 wurden für2,8 Millionen Arbeitslose im SGB II 8,2 Milliarden Euroausgegeben. 2012 stehen im Eingliederungsbudget fürnur 1,8 Millionen Arbeitslose im SGB II, also für 1 Mil-lion weniger, rund 8,5 Milliarden Euro zur Verfügung;das sind über 250 Millionen Euro mehr. Also: Jeder kannsehen, dass es sich hier nicht um eine Kürzung handelt,wie das von der Opposition behauptet wird, sondern dasses pro Kopf eine Erhöhung darstellt. Auch das solltenSie eher freudig zur Kenntnis nehmen.
– Ja. Haushälter sollten eigentlich rechnen können. Abermanchmal hapert es.Die Lage am Arbeitsmarkt ist gut, und sie wird sichnach allen Prognosen auch 2012 so halten. Man kann eseigentlich gar nicht häufig genug sagen: Mehr als41 Millionen Beschäftigte, das ist ein Rekord. Wenigerals 3 Millionen Arbeitslose im Durchschnitt der Jahre2011 und 2012, das ist ein großer Erfolg. Die Zahl derArbeitslosen im SGB II ist mit unter 2 Millionen soniedrig wie überhaupt noch nie. Die Zahl der Langzeitar-beitslosen hat sich seit dem Höchststand im Jahr 2006von damals 1,7 Millionen fast halbiert. Das ist doch her-vorragend.
– Da könnten eigentlich auch Sie von der Opposition ap-plaudieren.
Das sind nämlich hervorragende Zahlen.
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17068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Dr. Claudia Winterstein
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Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,ignorieren das alles. Sie fordern mehr Geld für Arbeits-marktmaßnahmen, und das, egal ob die Arbeitslosigkeitsteigt oder sinkt.
So kann man keine vernünftige Politik machen. Vernünf-tige Politik ist es hingegen, wenn eine Konzentration aufdie wirksamen arbeitsmarktpolitischen Instrumente er-folgt. Das bildet sich in unserem Haushalt ab. UnserSchwerpunkt ist nämlich klar: Wir wollen vorrangig dieEingliederung in den ersten Arbeitsmarkt fördern.
Für Qualifizierung und Integration steht auch weiterhingenügend Geld zur Verfügung.Ich will noch auf einen Antrag eingehen, der von derSPD im Haushaltsausschuss eingebracht wurde – da hatsich die SPD nämlich mit einer Milchmädchenrechnungziemlich blamiert –: Sie meinen, mit einem Mindestlohnvon 8,50 Euro könnte man 1,1 Milliarden Euro im Haus-halt einsparen.
Dabei verschließen Sie allerdings die Augen davor, dassdadurch natürlich auch Arbeitsplätze im Niedriglohnsek-tor verloren gehen würden,
mehr Menschen arbeitslos würden und weniger Men-schen etwas dazuverdienen könnten und damit letztend-lich mehr und nicht weniger Kosten für den Bundeshaus-halt entstehen würden.
Bei dieser Gelegenheit noch ein Wort zu den Aufsto-ckern; auch das ist immer ein beliebtes Thema. Nachdem Bericht der BA vom Oktober 2011 gibt es aktuell1,37 Millionen Menschen, die zusätzlich zu einem Er-werbseinkommen Hartz IV beziehen. Davon arbeitetenaber nur 320 000 in Vollzeit. Das sind 1,4 Prozent allerVollzeitbeschäftigten.
Diese sind überwiegend deshalb auf eine Ergänzungdurch Hartz IV angewiesen, weil es sich hier um Fami-lien mit Kindern handelt.
Nehmen wir die Singles, so sind es nur 0,3 Prozent allerVollzeitbeschäftigten, die zusätzlich auf Hartz IV ange-wiesen sind. Denen ist mit einem Mindestlohn garantiertnicht geholfen, wenn sie als Konsequenz womöglich ih-ren Arbeitsplatz verlieren.
Die Vorschläge der SPD sind untauglich. Das zeigtsich auch an Ihren Anträgen. Sie haben Mehrausgaben inHöhe von 5 Milliarden Euro vorgeschlagen, verbundenmit Steuererhöhungen in Höhe von 10,5 MilliardenEuro. Wo sind eigentlich die Einsparungen, die CarstenSchneider und Herr Gabriel gefordert haben?
Ich höre immer nur: Wir erhöhen die Steuern.
Nein danke, das gibt es mit uns ganz sicher nicht. WennSie sagen, Sie könnten die Dinge intelligent gegenfinan-zieren, dann, finde ich, ist es aber nicht sonderlich intel-ligent, einfach die Steuern zu erhöhen.
Zum Schluss noch ein Wort zu den Vorschlägen zurErhöhung des Eingliederungstitels, die heute als Antragvorliegen. Ich halte diese Vorschläge für völlig unverant-wortlich. Hier gibt es bei der Opposition den reinsten,ich sage einmal: Überbietungswettbewerb. Die Begrün-dung, die ich dafür im Berichterstattergespräch von derSPD gehört habe, ist geradezu abenteuerlich. Man müssedas Sparpaket, soweit es den Sozialbereich betrifft, des-halb zurücknehmen, weil andere Elemente des Sparpa-ketes nicht voll wirksam würden. Nein, auch wenn beimSparpaket nicht alle Elemente so schnell zum Tragenkommen wie eigentlich geplant,
so ist das kein Grund, auch alle anderen Elemente überBord zu werfen, die wir als sinnvolle Beiträge im Spar-paket vereinbart haben.Dieser Einzelplan ist damit ein gutes Beispiel für dasHaushaltsprinzip der Koalition, nämlich Konsolidierendurch Disziplin auf der Ausgabenseite.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Winterstein. – Jetztfür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unsere KolleginBrigitte Pothmer. Bitte schön, Frau Kollegin Pothmer.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17069
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Haus-haltsentwurf, der uns heute hier vorliegt, ist ein Doku-ment der sozialen Schieflage der Politik dieser Bundes-regierung.
Jeder andere Einzelhaushalt weist ein Plus auf. Dieeinzige Ausnahme von dieser Regel ist der Haushalt desBundesministeriums für Arbeit und Soziales. Gekürztwird von dieser Bundesregierung also nur bei den Ar-beitslosen und bei den sozial Schwachen. Ich finde, daswirft ein bezeichnendes Licht auf das soziale Profil die-ser Bundesregierung.
Es wirft ein bezeichnendes Licht auch auf das Engage-ment und die Durchsetzungsfähigkeit der Bundesarbeits-ministerin. Frau von der Leyen, seitdem Sie im Amtsind, sind die Mittel des Eingliederungstitels um 30 Pro-zent gekürzt worden. Jetzt begründen Sie den Rückgangder Mittel immer mit dem Rückgang der Arbeitslosig-keit. Aber die Langzeitarbeitslosigkeit ist um maximal5,4 Prozent zurückgegangen. Sie kürzen aber um dasSechsfache.
Damit ruinieren Sie nicht nur die Chancen der Betrof-fenen, wieder in Arbeit zu kommen. Vor dem Hinter-grund des Fachkräftemangels richten Sie einen erheb-lichen volkswirtschaftlichen Schaden an. Allein derMittelstand rechnet durch den Fachkräftemangel mitUmsatzeinbußen von 30 Milliarden Euro jährlich. UndSie vertiefen damit die soziale Spaltung auf dem Ar-beitsmarkt: Gut ausgebildete, gesunde, fitte Menschengegen gering qualifizierte, kranke und gehandicapte –das gefährdet auf Dauer den sozialen Zusammenhalt inder Gesellschaft insgesamt.
Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt sich. Leiharbeitnimmt zu. Befristete Beschäftigung und Minijobs sindauf dem Vormarsch. Der Niedriglohnsektor hat wiedereinen neuen Rekord erreicht. Daher ist es kein Wunder,dass eine Umfrage im Auftrag der Bertelsmann Stiftungzu dem Ergebnis kommt, dass kaum jemand in Deutsch-land mehr an Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarktglaubt.Ich will Ihnen aber sagen: Wenn wir einen Zustand er-reicht haben, dass die Menschen nicht mehr daran glau-ben, dass sie durch ihre eigene Anstrengung ihre sozialeLage verbessern können, dann gefährdet das auf Dauerdie Demokratie und unterstützt den Extremismus in die-sem Land. Wohin das führt, haben wir vor zwei Tagendebattiert.
Jetzt will ich noch einmal etwas zu dem Revolutions-theater auf dem CDU-Parteitag sagen. Herausgekommenist dabei
leider noch nicht einmal eine Dreigroschenoper. Frauvon der Leyen, ich habe Ihre Rolle genau beobachtet. Ichwar enttäuscht: Ich finde, Sie haben bei dieser Debatteeher am Rande gestanden. Die Vorkämpferrolle für denMindestlohn haben Sie Herrn Laumann überlassen. Dasmuss man sich einmal vorstellen. Da geht es wirklicheinmal um die Wurst – es geht um die Frage, ob der Min-destlohn in diesem Land eine Chance hat –, und die Bun-desarbeitsministerin nimmt als zuständige Ministerinbestenfalls eine kommentierende Nebenrolle ein. Dasreicht nicht.
Der Parteitagsbeschluss ist dann auch entsprechend aus-gefallen.Sie stehen nach diesem Parteitag in der Frage Min-destlohn wieder mit leeren Händen da. Auch wenn ich esnicht gerne sage: In dieser Frage hat Herr Rösler aus-nahmsweise recht. Denn das, was Sie beschlossen ha-ben, ist Status quo; es ist Gesetzeslage.
Im Mindestarbeitsbedingungengesetz steht genau dasdrin. Wir wissen: Nach diesem Gesetz ist kein einzigerMindestlohn erlassen worden, meine Damen und Her-ren.Wenn Sie wirklich einen Mindestlohn wollen, Frauvon der Leyen, dann legen Sie dem Parlament einen Ge-setzentwurf vor.
Es gibt in diesem Parlament eine deutliche Mehrheit füreinen gesetzlichen Mindestlohn.Frau von der Leyen, Sie vermitteln, jedenfalls mir,zunehmend den Eindruck, dass Ihnen die Arbeitsmarkt-und die Sozialpolitik nicht wirklich am Herzen liegen.Sie tummeln sich in der Europapolitik und immer nochgern in der Frauen- und Familienpolitik. So sieht IhreZwischenbilanz auch aus: Die Bürgerarbeit ist ein Flop.Das Bildungspaket für Kinder ist ein bürokratischesMonstrum. Mit der Reform der arbeitsmarktpolitischenInstrumente haben Sie die gering qualifizierten Lang-zeitarbeitslosen endgültig abgehängt. Die Arbeitslosen-
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Brigitte Pothmer
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versicherung ist geplündert. Prekär Beschäftigte bleibenschutzlos. Lohndumping bleibt auf der Tagesordnung.Ihre Zuschussrente wird niemanden vor der Altersarmutschützen.Frau von der Leyen, vielleicht waren Sie eine gute Fa-milienministerin.
Eine gute Arbeitsministerin sind Sie jedenfalls nicht.Ich danke Ihnen.
Als Nächste hat das Wort für die Bundesregierung
Frau Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen. Bitte
schön, Frau Bundesministerin von der Leyen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Zunächst einmal gilt mein Dank den Berichter-
statterinnen und Berichterstattern für eine ausgesprochen
konstruktive Zusammenarbeit. Dass die Zahlen über die
strukturellen und konjunkturellen Einsparungen zu un-
terschiedlicher Interpretation führen, ist völlig in Ord-
nung. Wenn man allerdings die letzten Beiträge – insbe-
sondere Ihren, Frau Pothmer – verfolgt hat, dann könnte
man meinen, dass Deutschland kurz vor dem Untergang
und die Arbeitsmarktpolitik kurz vor dem Kollaps steht.
Frau Hagedorn hat von einer Politik zulasten der
Menschen gesprochen.
Wenn wir schlicht die Wirklichkeit sprechen lassen, Frau
Pothmer, statt Ihrer Suada, dann zeigt sich: Die Beschäf-
tigung hat bei uns den höchsten Stand seit der Wieder-
vereinigung erreicht. Wir haben die Langzeitarbeitslo-
sigkeit fast halbiert.
Was die Jugendarbeitslosigkeit angeht: Es sind noch gut
240 000 junge Menschen arbeitslos. Die Expertinnen
und Experten der Bundesagentur für Arbeit sagen,
200 000 sei Ausdruck einer normalen Fluktuation. Das
heißt, nur 40 000 junge Menschen bei uns sind von
struktureller Arbeitslosigkeit betroffen.
Ich könnte noch verstehen, wenn Sie blass vor Neid
würden, weil die Ergebnisse am Arbeitsmarkt so gut
sind. Aber dass Sie quasi rot vor Zorn sind, weil die Er-
folge am Arbeitsmarkt so groß sind, kann kein Mensch
mehr verstehen.
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Birkwald?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Gerne.
Bitte schön.
Herzlichen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulas-
sen, Frau Ministerin. – Sie haben eben auf die Wirklich-
keit abgehoben. Ich frage Sie, was Sie zu der Studie des
Statistischen Bundesamtes sagen, die vor 14 Tagen ver-
öffentlicht wurde. Diese Studie ist repräsentativ; es sind
immerhin 830 000 Menschen – das ist gut 1 Prozent der
Bevölkerung – befragt worden. Nach dieser Studie sind
8,4 Millionen Menschen ab 15 Jahren unzufrieden mit
ihrer Arbeit und würden gerne mehr arbeiten, wenn sie
die Gelegenheit dazu erhielten. Es sind also mehr als
10 Prozent der Bevölkerung, die mit ihrer Erwerbssitua-
tion unzufrieden sind. Was sagen Sie zu dem Ergebnis
dieser Studie des Statistischen Bundesamtes?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Dass sie mit ihrer Erwerbssituation unzufrieden sind,
mag der Fall sein. Diese Feststellung ist das Ergebnis ei-
ner Befragung. Tatsache ist, dass die jungen Menschen
heute mehr Chancen als je zuvor haben.
Die Arbeitslosigkeit der unter 25-Jährigen liegt bei
5,3 Prozent. Die Arbeitslosigkeit der unter 20-Jährigen
liegt bei 3,3 Prozent. Wenn wir das damit vergleichen,
dass die Jugendarbeitslosigkeit in Europa im Durch-
schnitt bei über 20 Prozent liegt, dann sehen wir, dass
der Arbeitsmarkt hier in Deutschland wirklich robust ist
und jungen Menschen Chancen bietet. Das sollten Sie
vielleicht auch einmal zur Kenntnis nehmen.
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine weitereZwischenfrage?Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Nein, jetzt mache ich weiter. – Unsere Wirtschaft iststark, und wir haben einen robusten Arbeitsmarkt.
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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Ja, es gibt Risiken im Euro-Raum. Das hat sich in derDebatte eben und auch in der Debatte heute Morgen ge-zeigt. Deshalb sollten wir unser Handeln aber nichtdurch Mutlosigkeit und durch Angst leiten lassen, son-dern wir sollten dafür sorgen, dass das Vertrauen in dieStabilität Europas und in die unbezweifelbare StabilitätDeutschlands erhalten bleibt. Das heißt für uns wie füralle anderen: Konsolidieren, aber mit Augenmaß, mitden richtigen Akzenten.
Genau das tun wir. Das werde ich Ihnen jetzt auch darle-gen.
Schauen Sie sich die Zahlen dieses Haushaltes an. Fürdas Jahr 2010 hatten wir Ausgaben in Höhe von143 Milliarden Euro eingeplant. Wir haben 10 MilliardenEuro weniger ausgegeben. Die Arbeitslosigkeit ist gesun-ken. Im Jahr 2011 haben wir mit Ausgaben in Höhe von131 Milliarden Euro geplant. Wir werden voraussichtlich5 Milliarden Euro weniger ausgeben. Die Arbeitslosig-keit sinkt. Das heißt, wir sind am Arbeitsmarkt erfolg-reich; aber wir nutzen diese Phase eben auch, um unsereSozialsysteme zu stabilisieren und zu modernisieren, undvor allen Dingen, um denjenigen Menschen eine Chancezu geben, die vorher keine Chance am Arbeitsmarkt hat-ten. Das ist doch das Ziel unserer Politik, und da sind wirerfolgreich.
Ich werde Ihnen das auch am Thema „Alleinerzie-hende“ aufzeigen. Ich habe von Ihnen einen – in Anfüh-rungsstrichen – „Block von Alleinerziehenden“ geerbt;40 Prozent der Alleinerziehenden sind im SGB-II-Be-zug.
Wir haben im letzten Jahr eine Freistellung von Mittelnerreicht – ich danke den Haushältern noch einmal –, umin diesem Bereich gezielt neue Akzente zu setzen.
Wir haben die Jobcenter neu orientiert. Wir haben denSchwerpunkt der Bundesagentur für Arbeit auf die Qua-lifizierung und Vermittlung von Alleinerziehenden ge-legt. Wir haben die Netzwerke zur Unterstützung ausge-baut. Wir haben jetzt, nach einem Jahr, erreicht, dass derBestand an arbeitslosen Alleinerziehenden stärker ge-sunken ist als die Zahl der Arbeitslosen im SGB-II-Be-zug allgemein. Wir haben erreicht, dass mehr Alleiner-ziehende als sonst in den ersten Arbeitsmarkt gewechseltsind. Das heißt, der Ansatz, sich darauf zu konzentrieren,dass mehr Arbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt kom-men, und darauf, dass mehr arbeitslose AlleinerziehendeArbeit finden, gerade weil sie ein Kind haben, erweistsich jetzt als erfolgreich. Das ist etwas, was man aucheinmal positiv bewerten sollte.
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Schwanitz?
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Bitte.
Bitte schön, Herr Kollege Schwanitz.
Frau Ministerin, ich möchte Ihnen eine Frage zum
Thema „Prävention gegen Rechtsextremismus“ stellen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Jetzt sind wir aber gerade bei der Arbeitsmarktpolitik.
Ja, aber zu Ihrem Etat gehört die Finanzierung einessehr wichtigen Programms: Xenos. Über dieses Pro-gramm wird seit vielen Jahren das Netzwerk für Demo-kratie und Courage in Sachsen sehr erfolgreich geför-dert, was ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklichanerkennen will. Dieses Netzwerk – das müssen Sienicht wissen; aber ich will es trotzdem sagen – leisteteine vielfach ausgezeichnete Arbeit an den Schulen,nicht nur an denen des Freistaates.Seit neuestem gibt es in Ihrem Haus folgende Situa-tion: Ein Antrag wurde mit dem Hinweis abgelehnt, ersei nicht arbeitsmarktnah genug. Ich möchte jetzt garkeine Detailerklärung zu der Einzelentscheidung bekom-men, weil ich vermute, dass Sie sie jetzt gar nicht abge-ben können. Aber ich möchte Sie fragen, ob Sie mit mirder Auffassung sind, dass gerade in dieser Zeit eine sol-che Ablehnung kritisch geprüft werden muss, und ob Siebereit sind, sich diesen Vorgang noch einmal auf denTisch legen zu lassen und diese Entscheidung gegebe-nenfalls zu revidieren.Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Es gibt im Arbeitsministerium die Xenos-Programme,die ich für richtig und gut halte. Es gibt in anderenMinisterien andere Programme gegen Rechtsextremis-mus. Unsere Programme sind darauf ausgerichtet, dassjunge Menschen eine Chance erhalten, dass sie qualifi-ziert werden und dass sie Arbeit bekommen, damit siedie Integration in die Gesellschaft schaffen und damitdie Festigkeit bekommen, die sie brauchen. Wenn esviele Anträge gibt, dann ist es doch eine Selbstverständ-lichkeit, dass das Arbeitsministerium danach auswählt,welcher Antrag die größten Chancen hat, dazu beizutra-gen, dass junge Menschen wieder in den Arbeitsmarkt
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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integriert werden. Es kommt also darauf an, wie arbeits-marktnah ein Antrag ist. Es wird kein Antrag ausge-wählt, der andere Ziele verfolgt.Sie stellen mir eine Frage nach der Qualität der An-träge. Ich sage Ihnen: Wir werden das Geld einsetzenund den Rechtsextremismus bekämpfen. Wir bekämpfenihn mit einem der wichtigsten Mittel, nämlich dadurch,dass wir den jungen Menschen Arbeit geben. Das ist un-ser Ziel.
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine weitereZwischenfrage, diesmal des Kollegen Dr. Ilja Seifert?Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Jetzt würde ich gerne weitermachen. Sonst kommenwir nie mehr zum Schluss.
Das war das Thema Arbeitsmarktpolitik, an dem wirsehen, dass wir erfolgreich sind. Hier sind die Zahlen sogut, dass ich merke, dass Sie nur noch an den Einsparun-gen, seien sie konjunktureller oder struktureller Art, mä-keln können.
Es fällt Ihnen schwer, die Erfolge am Arbeitsmarkt nichtzu sehen.Zurzeit sind über 900 000 Stellen unbesetzt. Deshalbsollten wir jetzt, anstatt zu unken – das gilt gerade für dieDamen und Herren der Opposition –, gemeinsam dieKräfte bündeln und dafür sorgen, dass wir Fachkräftebekommen, die dem Arbeitsmarkt allmählich ausgehen.Die Bundesagentur für Arbeit hat ausgerechnet, dass inder Pflege, im Handwerk, in der Gastronomie und imDienstleistungssektor 385 000 Stellen unbesetzt sind.Wir haben auf der anderen Seite 690 000 Arbeitsu-chende in der Grundsicherung mit passender Ausbil-dung. Das heißt, es gibt die Menschen, es gibt die Jobs,und es kommt jetzt darauf an, beide zusammenzubrin-gen.
Sie toben die ganze Zeit, weil sie sehen, dass wir dieAnzahl künstlicher Arbeitsplätze und den öffentlichenBeschäftigungssektor nicht ausbauen wollen. Wir wollenneue Akzente setzen. Die Menschen sollen in den erstenArbeitsmarkt und nicht mehr in teure Warteschleifen.Das ist unsere Politik, und das ist die richtige Politik.
Daher haben wir den Instrumentenkasten aufgeräumt.Im nächsten Jahr stehen – hier wird immer der Eindruckerweckt, als stünde überhaupt nichts mehr für die Ein-gliederung zur Verfügung – 8,4 Milliarden Euro in derGrundsicherung für Eingliederung und Verwaltung zurVerfügung. Dazu kommen 2,8 Milliarden Euro aus demEingliederungstitel der Bundesagentur für Arbeit für dieaktive Arbeitsmarktförderung. Das sind rund 500 Millio-nen Euro mehr, als in diesem Jahr im Eingliederungstitelüberhaupt eingesetzt worden sind. Meine Damen undHerren von der Opposition, wer hier von Kahlschlag re-det – das Wort habe ich vorhin schon wieder gehört –,der sieht offensichtlich den Wald vor lauter Bäumennicht mehr.
Wir setzen die Akzente richtig. Sie möchten öffent-lich geförderte Beschäftigung. Sie möchten künstlicheArbeit.
Sie möchten Warteschleifen. Wir setzen die Akzenteneu. Wir setzen sie auf Bildung, auf Ausbildung und aufWeiterbildung. Deshalb haben wir insbesondere beimÜbergang von der Schule in Ausbildung und Beruf einenSchwerpunkt gesetzt. Wir haben einen Riesenerfolg; ichhabe Ihnen eben die Zahlen genannt. Wir haben auch inder Weiterbildungsförderung – das betrifft die Men-schen, die nicht aus der Schule kommen, sondern dieschon mitten im Leben stehen und Weiterbildung in derArbeitslosigkeit brauchen – die Mittel aufgestockt. Alswir von Ihnen die Regierung im Jahr 2005 übernommenhaben, lag die Zahl der Arbeitslosen bei 5 Millionen.
– Damals hat die Kanzlerin Merkel den KanzlerSchröder abgelöst. Sie werden doch nicht bestreiten,dass wir, als Schröder die Regierung verlassen hat,5 Millionen Arbeitslose hatten.
– Ich merke an Ihrem Geschrei: Sie wollen es nicht hö-ren. Sie haben Angst vor dieser Zahl. – Sie wissen ganzgenau: Damals waren gerade einmal 2 Milliarden Eurofür Weiterbildung vorgesehen. Jetzt haben wir 2,7 Mil-lionen Arbeitslose, und es stehen 3 Milliarden Euro fürWeiterbildung zur Verfügung. Das ist Politik, die erfolg-reich ist. So muss die Entwicklung sein.
Wir geben für Bildung, Ausbildung und Weiterbil-dung inzwischen 8,6 Milliarden Euro aus. Mit anderenWorten: Die Zeit der künstlichen Arbeitsplätze, die Zeitder Warteschleifen ist vorbei. Jetzt geht es darum, dieFachkräfte der Zukunft zu sichern. Das ist unsere Politik.
Die Erfolge am Arbeitsmarkt schlagen sich natürlichnicht nur in Jobs für Menschen nieder, sondern auch inder Rente, und das freut mich. Wir können zum 1. Januar
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Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
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2012 den Beitragssatz – es ist richtig: das ist eine gesetz-liche Regelung – auf 19,6 Prozent senken. Das bedeutetfür die Beschäftigten eine Entlastung von 1,3 MilliardenEuro und für die Arbeitgeber eine Entlastung von1,3 Milliarden Euro. Im Übrigen wird auch der Bundes-haushalt um 700 Millionen Euro entlastet. Das nützt derjüngeren Generation. Ich freue mich auch darüber, dasssich abzeichnet, dass es im nächsten Jahr für 20 Millio-nen Rentnerinnen und Rentner eine spürbare Rentenstei-gerung geben wird.Wir werden international für ein langfristig stabilesund demografiefestes Rentensystem bewundert. Wir be-finden uns im Augenblick aber auch in der Diskussiondarüber, wo es Schwachstellen gibt. Der Normalfall ist,dass Menschen, die ihr Leben lang arbeiten, ordentlichverdienen, vorsorgen und Beiträge zahlen, im Alter eineauskömmliche Rente haben. Wir sehen aber auch, dassMenschen wenig verdienen und ein Leben lang fleißigarbeiten, dass Menschen Kinder erziehen, Ältere pflegenund Teilzeit arbeiten – und dass diese Menschen amEnde ihres Lebens keine eigene auskömmliche Rente ha-ben und in der Grundsicherung landen. Diesen Men-schen müssen wir eine Antwort geben, die das Kriteriumder Gerechtigkeit erfüllt.Wer ein Leben lang gearbeitet hat, wer Kinder erzo-gen hat – ohne Kinder gibt es in der nächsten Generationkeine Rente –, wer Ältere gepflegt und vorgesorgt hat,der darf am Ende des Lebens nicht ohne eigene Rentedastehen. Wir führen jetzt den Rentendialog, um dieseSchwachstelle, die Gerechtigkeitsfrage, gemeinsam zubeheben, sodass die Menschen in Zukunft darauf ver-trauen können: Wenn ich arbeite, wenn ich Kinder er-ziehe, wenn ich vorsorge, dann reicht es im Alter für dieeigene Rente.
Noch einen letzten Gedanken – ich bin schon übermeiner Zeit, deshalb muss ich mich beeilen – zumThema Mindestlohn.
Wir haben in den letzten zehn Jahren Flexibilierungsre-formen erlebt. Wir alle haben sie mitgetragen.
– Das stimmt; die Linke hat das nicht mitgetragen. –Früher waren wir der kranke Mann Europas. Wenn esnach Ihnen ginge, wäre das wahrscheinlich immer nochso. Aber jetzt erlebt Deutschland ein Jobwunder. Uns istdas lieber.
Wir haben die Flexibilisierung auf den Weg gebracht;das ist richtig. Aber Flexibilisierung ist etwas anderes alsLohndumping. Wenn man die letzten zehn Jahre betrach-tet, dann sieht man, dass die Lohnspreizung in Deutsch-land größer geworden ist. Das heißt, die unteren Ein-kommen haben stagniert; sie sind zum Teil gesunken.Wir sehen vor allem, dass die Tarifbindung sehr vielschwächer geworden ist. In den neuen Bundesländernsind nur noch 40 Prozent der Betriebe tarifgebunden.Wir alle sind der Meinung, dass derjenige, der anständigarbeitet, anständig bezahlt werden muss.
Das hat lange gut funktioniert, weil die Tarifparteienin Deutschland stark waren, weil die Arbeitgeber für ihreInteressen aufgestanden sind und weil die Gewerkschaf-ten für ihre Beschäftigten aufgestanden sind. Das wargut. Das ist etwas, womit die deutsche soziale Markt-wirtschaft erfolgreich war. Wenn das jetzt nicht mehrohne Weiteres funktioniert, dann müssen wir einen Rah-men schaffen, damit das wieder funktioniert.
Es gibt keine Freiheit ohne Regeln. Es gibt keinen Marktohne Regeln. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam an die-sen Regeln arbeiten.
Wir meinen, anders als Sie, dass wir den Mindestlohn – –
Frau Bundesministerin, Sie hätten jetzt noch eine
Chance, die Redezeit zu verlängern. Die Frau Kollegin
Zimmermann möchte Ihnen nämlich eine Zwischenfrage
stellen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Hoffentlich zum Mindestlohn. – Gut, denn sonst wird
es zu viel.
Bitte schön, Frau Kollegin Zimmermann.
Danke schön. – Frau Ministerin, sind Sie mit mir derMeinung, dass wir in den letzten zehn Jahren einen enor-men Wandel am Arbeitsmarkt vollzogen haben, dass dieTendenz weg von gut bezahlter, tariflich entlohnter Ar-beit hin zu prekärer Beschäftigung geht?Ich will Ihnen dazu noch einige Zahlen nennen, dieIhr Ministerium mir geliefert hat: Wir haben 7,5 Millio-nen Minijobber; 2,4 Millionen Menschen in Deutschlandhaben einen Zweitjob; es gibt 830 000 Leiharbeiter. Siewissen genau, dass diese Kolleginnen und Kollegen biszu 50 Prozent weniger verdienen als die Stammbeleg-schaft. Ich möchte Ihnen noch eine Zahl nennen: Es gibt2,25 Millionen Menschen, die unter 6 Euro pro Stundeverdienen. Sind Sie mit mir der Meinung, dass wir hier
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Sabine Zimmermann
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einen Wandel am Arbeitsmarkt vollzogen haben, derdramatisch ist, und dass die Sozialausgaben in eine im-mense Höhe getrieben werden, weil die Leute von ihremGeld nicht mehr leben können, wodurch Ihr Ministeriumzusätzlich belastet wird?Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Ich bin nicht Ihrer Meinung, dass es sich am Arbeits-markt zum Schlechteren entwickelt hat. Im Gegenteil:Mehr Menschen haben Arbeit. Die Lohnsumme insge-samt und auch die Renten sind gestiegen. Unsere Politikwar erfolgreich.
Ich bin der Meinung, dass wir die Ausreißer nach un-ten betrachten müssen; das habe ich eben dargelegt.Auch das ist ein Signum der sozialen Marktwirtschaft:Wenn alle erfolgreich mitarbeiten, müssen auch alle amErfolg teilhaben. Wenn dies in den unteren Einkom-mensgruppen und dort, wo es weiße Flecken gibt, nichtmehr ohne Weiteres gilt, dann müssen wir einen neuenRahmen stecken. Ich bin – anders als Sie – der Meinung,dass es nicht Aufgabe des Parlaments ist, die Frage nachder Höhe der Lohnuntergrenze für die weißen Fleckenzu beantworten.
Frau Bundesministerin, Sie müssen zum Schluss
kommen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Ich komme zum Schluss. Ich beantworte aber noch
die Zwischenfrage.
Seien Sie so nett und kommen Sie zum Schluss. Sonst
müssen wir die Debatte insgesamt verlängern, Frau Bun-
desministerin. Das wollen Sie sicherlich nicht.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Jawohl, ich mache es kurz. – Ich möchte nicht, dass
hier im Parlament über die Höhe der Lohnuntergrenze
diskutiert wird. Frau Hagedorn hat von 8,50 Euro und
die Linken haben von 10 Euro gesprochen. Wir sagen:
Es ist Aufgabe der Arbeitgeber und der Gewerkschaften,
dies festzulegen. Lassen Sie uns eine Kommission schaf-
fen, in der das ausgehandelt wird. Dann haben wir einen
fairen, richtigen Mindestlohn. Den wollen wir gemein-
sam erarbeiten.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Dr. Ilja Seifert.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Ministerin, Sie
sind diejenige in der Regierung, die die Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention für alle Ressorts ko-
ordinieren soll. Ich hatte Sie schon in der ersten Lesung
gefragt, wie sich das im Haushalt, der nichts anderes als
in Zahlen gegossene Politik sein soll, widerspiegelt. Sie
haben mir damals gesagt, Sie wüssten gerade die Zahlen
nicht, aber in allen Ministerien und in allen Haushalten
seien Gelder dafür zu finden. Vielleicht weil ich des Le-
sens nicht kundig bin – ich habe ja nur ein DDR-Abitur –,
habe ich die passenden Zahlen nicht gefunden. Können
Sie mich aufklären, wo diese Zahlen im Haushalt Ihres
Ministeriums und in den Haushalten der anderen Minis-
terien zu finden sind?
Bitte schön, Frau Bundesministerin.Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin fürArbeit und Soziales:Wir machen Folgendes: Wir stellen für Sie alle Zah-len aus dem Ministerium zusammen. Insgesamt handeltes sich im Bereich Behindertenpolitik um mindestenszweistellige Milliardenbeträge. Allein in meinem Haus-halt ist ein beträchtlicher Betrag dafür verankert. Wie Siesicherlich wissen, ist auch für den Pflegebereich ein gro-ßer Betrag eingestellt.Das Arbeitsministerium ist im Rahmen des Nationa-len Aktionsplans vor allem für das Thema Arbeit zustän-dig. In den letzten Jahren hat sich die Quote der Men-schen mit Behinderungen, die in Arbeit sind, erhöht. WieSie wissen, wollen wir das 5-Prozent-Ziel erreichen.2002 waren nur 3,8 Prozent Menschen mit Behinderun-gen in Betrieben beschäftigt. Diese Quote ist inzwischenauf 4,5 Prozent gestiegen. Das heißt, wir sind auf demrichtigen Weg. Wir kommen an das 5-Prozent-Ziel, daswir uns als Gesellschaft gesetzt haben, heran.Ich weise aber auch deutlich darauf hin, dass dieseQuote im letzten und in diesem Jahr nicht mehr gestie-gen ist, sondern stagnierte. Die Zahl der arbeitslosenMenschen mit Behinderungen stagniert in diesem Jahrbei 174 000 und sinkt nicht wie die allgemeine Arbeits-losigkeit. Das ist einer der Gründe, warum wir jetzt diemit 100 Millionen Euro ausgestattete und auf vier Jahreangelegte „Initiative Inklusion“ vor allem zur Förderungarbeitsloser Jugendlicher mit Behinderungen starten, umso die Integration in Ausbildung und Arbeit zu stärken.Wir wollen mit diesem Programm gezielt 4 000 Arbeits-plätze für ältere Menschen mit Behinderungen und 1 300Ausbildungsplätze für junge Menschen mit Behinderun-gen schaffen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Auf-gabe.Ich habe nur ein Schlaglicht auf die Arbeit geworfen,die das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kon-sequent leistet. Wir sind auf dem richtigen Weg. Aber imAugenblick steht zu viel still. Wir müssen besser wer-den.
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Wir setzen die Debatte regulär fort. – Für die Sozial-
demokraten hat das Wort unser Kollege Hubertus Heil.
Bitte schön, Kollege Hubertus Heil.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Sehr geehrte Frau von der Leyen,vielleicht täte es diesem Haus einmal ganz gut, wenn wirin der Debatte über den Arbeitsmarkt in Deutschlandweder den Fehler machten, alles durch die rosaroteBrille zu betrachten – den begehen Sie quasi aus regie-rungsamtlicher Notwendigkeit –, noch den Fehler, allesundifferenziert zu sehen und so zu tun, als hätte sich ander einen oder anderen Stelle nicht etwas zum Positivenverändert. Ich glaube, wir brauchen einen realistischenBlick auf die Entwicklung des Arbeitsmarktes inDeutschland.
Ein realistischer Blick legt Folgendes nahe: Ja, es istrichtig, Deutschland ist, was die Entwicklung auf demArbeitsmarkt angeht, besser durch die Wirtschafts- undFinanzkrise gekommen als andere Volkswirtschaften inEuropa, aber nicht unbedingt wegen Frau von der Leyen.Wir sind zum Beispiel deshalb besser durch die Krisegekommen, weil wir in der Großen Koalition mit denKurzarbeitsregelungen die richtigen Maßnahmen ergrif-fen haben, weil Deutschland im Gegensatz zu anderenVolkswirtschaften ein industrielles Rückgrat hat.
Das ist eine gute Nachricht. Es ist auch richtig: Wir ha-ben die Chance, in den nächsten Jahren einen Durch-bruch am Arbeitsmarkt zu erzielen und langfristigArbeitslosigkeit zu überwinden, auch durch die demo-grafische Entwicklung.Aber das kommt nicht von allein, Frau von der Leyen.Realität in Deutschland ist auch, dass die Entwicklungim Moment auf einen tief gespaltenen Arbeitsmarkt hi-nausläuft. Auf der einen Seite werden aufgrund verän-derter Qualifikationsanforderungen in den Betriebendurch technischen und wissenschaftlichen Fortschrittund aufgrund des veränderten Altersaufbaus tatsächlichimmer mehr Unternehmen händeringend nach Fachkräf-ten rufen, und auf der anderen Seite haben wir einenSockel verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit. DiesenSockel gilt es eigentlich aufzubrechen. Die vom Arbeits-markt dauerhaft abgehängten Menschen hängen Sie mitdem, was Sie hier mit diesem Haushalt durchziehen,noch weiter ab; das muss man feststellen.
Die Kollegin Pothmer und auch die Kollegin Hagedornhaben Ihnen das an diesem Punkt vorgerechnet.Frau von der Leyen, Sie sind ja eine Meisterin desschönen Wortes;
das bestreitet in diesem Hause niemand. Wenn ich miranschaue, inwieweit Worte und Taten, Reden und Han-deln bei Ihnen zusammenpassen, stelle ich fest, dass dasalles meilenweit auseinanderklafft. Ich kann Ihnen andrei Beispielen deutlich machen, dass wir so nicht vo-rankommen:Das erste Beispiel. Sie reden ständig von einer Ver-mittlungsoffensive – das haben Sie auch eben wieder ge-tan –, zum Beispiel für die Gruppe der alleinerziehendenFrauen, die unter den Langzeitarbeitslosen nachweislicheine ganz große Gruppe ist; das sind Frauen, die es be-sonders schwer haben.
Und was machen Sie? Sie streichen die Maßnahmen zu-sammen, die notwendig sind, um diesen Frauen zu hel-fen. Wenn man einfach sagen könnte: „Wir haben jetztdie Situation, um alle Betroffenen ganz schnell auf denersten Arbeitsmarkt zu bringen“,
wäre das wünschenswert. Ich sage Ihnen: Menschen, dielangzeitarbeitslos sind, die drei, vier, fünf, sechs, sieben,acht, neun Jahre arbeitslos sind, brauchen begleitendeHilfen und eine aktive Arbeitsmarktpolitik, damit sie aufden ersten Arbeitsmarkt kommen können. So wird einSchuh daraus!
Das andere hat mit der Realität dieser Menschen nichtszu tun. Diese Frauen brauchen begleitende Hilfen, Frauvon der Leyen, und Sie lassen diese Frauen im Stich. Re-den und Handeln passen bei Ihnen nicht zusammen.
– Sehr gern.Ein zweites Beispiel gefällig? Frau von der Leyen,Sie reden mit Vorliebe vom Thema Vereinbarkeit vonBeruf und Familie. Ich höre vieles, was Sie sagen, rich-tig gern, weil ich feststelle: Da passt sich eine kluge Fraunach vielen Jahren konservativer Blockade Schritt fürSchritt den gesellschaftlichen Realitäten hinsichtlich derVereinbarkeit von Beruf und Familie an. Aber dann las-sen Sie zu, dass diese Regierung, der Sie angehören, einsogenanntes Betreuungsgeld auf den Weg bringt,
eine Fernhalteprämie: Frauen werden vom Arbeitsmarktund Kinder von Bildungschancen ferngehalten.Auch wenn das nicht in Ihre unmittelbare Ressortzu-ständigkeit fällt, sondern Ihre geliebte Kollegin Schröderbetrifft, muss ich Ihnen sagen: Als Sozialministerin ha-ben Sie die Verantwortung, die Chancen der Kinder indiesem Land und die Chancen der Frauen am Arbeits-markt zu verbessern und den Unsinn mit der Fernhalte-
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17076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Hubertus Heil
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prämie aufzuhalten. Auch da sind Sie verantwortlich;aber Sie sagen nichts dazu.
Drittens. Frau Ministerin von der Leyen, es geht auchum die Ordnung am Arbeitsmarkt. Es ist richtig, dasswir am Arbeitsmarkt beides brauchen: Flexibilität undSicherheit. Flexibilität ist in vielen Bereichen vorhan-den, und sie ist auf einem veränderten Arbeitsmarkt auchnotwendig. Aber Sicherheit ist in vielen Bereichen nichtmehr vorhanden. Die janusköpfige Entwicklung der letz-ten Jahre ist – wir müssen das offen einräumen –: Es gibteine positive Entwicklung; die Arbeitslosenzahlen sindzurückgegangen. Aber wir können und dürfen die Augennicht davor verschließen – das sage ich bewusst auchselbstkritisch –, dass sich in vielen Jahren die Zunahmevon prekären Arbeitsverhältnissen so verfestigt hat, dassMenschen diese Arbeitsverhältnisse nicht als Brücke ausder Arbeitslosigkeit über eine unstetige Beschäftigung ineine ordentliche Beschäftigung erleben, sondern alsDauerzustand.
Wir erleben auch, dass die Ausweitung bei den prekärenArbeitsverhältnissen dazu führt, dass das Ganze zumDrücken von Löhnen missbraucht wird.Frau von der Leyen, wenn Sie von den guten Chancender Jugendlichen reden, haben Sie recht: Im Vergleich zuSpanien und Griechenland haben wir eine niedrige Ju-gendarbeitslosigkeit; das ist ein Erfolg. Aber viele Ju-gendliche erleben in diesem Land auch, dass sie trotz gu-ter Ausbildung viele Jahre lang gezwungen sind, sichmit Praktika, befristeten Arbeitsverträgen, Zeit- undLeiharbeit durchzuhangeln.
In einer Phase, wo viele junge Leute beispielsweise dasBedürfnis haben, eine Familie zu gründen, ihr Leben inOrdnung zu bringen, erleben sie, dass sich ihre Leistung,ihr Einsatz nicht lohnen. Ich sage Ihnen: Da reichenschöne Worte nicht aus.Das sage ich auch mit Blick auf das Thema Mindest-lohn. Frau von der Leyen, es war ein erstaunlicher Par-teitag, den Sie hatten. Ich weiß, wie man Parteitage orga-nisiert; Sie wissen das. Aus alter Verbundenheit sage ichIhnen: Super organisiert! Am Ende des Tages ist abermateriell gar nichts passiert, gar nichts herausgekom-men.
Wenn man sich Ihren Beschluss anschaut und sich dannvor Augen führt, was Sie eben erzählt haben, dann mussman sagen: Entweder war das nicht von Sachkenntnisgeprägt, oder Sie versuchen, den Leuten etwas vorzuma-chen. Sie sagen: Wir wollen tarifvertragliche Mindest-löhne über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Ich sage:Das ist bereits möglich.Wir könnten diese Möglichkeit ausbauen, indem wirim Arbeitnehmer-Entsendegesetz mit einem Satz klar-machen, dass dort jede Branche aufgenommen werdenkann. Dann müssten wir Ihnen – gegen den Widerstandder FDP – nicht jede Branche mühsam abringen. Ange-sichts der Vetoakteure könnten wir auch dafür sorgen,dass die Ausweitung leichter in Kraft gesetzt werdenkann. Wir könnten das Instrument der tarifvertraglichenMindestlöhne über das Arbeitnehmer-Entsendegesetzalso ausbauen; aber im Prinzip gibt es das schon.Dann sagen Sie: Wo es keine Tarifverträge gibt, set-zen wir eine Kommission ein; dann kann die sich etwasSchönes ausdenken. – Im Grunde ist das die Beschrei-bung des Mindestarbeitsbedingungengesetzes, und auchdas gibt es schon.
Aber es funktioniert halt nicht.
Deshalb sage ich Ihnen eines: Sie müssen Schritt fürSchritt deutlich nachweisen, dass Ihren schönen Inter-views auch Taten folgen.
Dieses Hohe Haus, Frau von der Leyen, wartet nichtauf Ihre Interviews, sondern darauf, dass Sie als zustän-dige Ministerin für Arbeit und Soziales dem DeutschenBundestag und der deutschen Öffentlichkeit einen Ge-setzentwurf vorlegen. Dann werden wir wissen, ob Siees wirklich ernst meinen. Ich prophezeie Ihnen: Da-durch, dass Ihre Freunde wie Herr Fuchs, Herr Lauk undwie sie alle heißen Ihren Beschluss so interpretieren,dass sich gar nichts tut, dadurch, dass Herr Laumannsagt: „Wir machen den Sack zu, egal, was drin ist“, unddadurch, dass eine FDP, die aufgrund ideologischer Fi-xierung in Sachen Mindestlohn keinen Deut nachgebenwird, die sich in einem Existenzkampf befindet und ausGesichtswahrungsgründen keinen Schritt mitgeht, wirddiese Regierung dazu nicht in der Lage sein.
Ich finde das bedauerlich. Denn ich sage Ihnen auch:Ich würde es gerne sehen, dass wir uns im nächstenWahlkampf über andere Themen streiten.
Ich fände es schön, wenn wir im Interesse der arbeitendenMenschen in diesem Land einen Mindestlohn einführen.Vorrang sollen die tarifvertraglichen Mindestlöhne ha-ben, aber es soll auch eine gesetzliche Lohnuntergrenze inDeutschland geben, damit Menschen von ihrer Arbeit le-ben können.
Mit Blick auf den Haushalt will ich Ihnen sagen, Frauvon der Leyen: Wenn Sie Kraft und Mut hätten, dannhätten Sie hier einen Haushalt vorgelegt, der es sichnicht so leicht macht, bei den Schwächsten der Schwa-chen zu kürzen. Sie hätten sich für einen Mindestlohnstarkmachen müssen, der im Übrigen auf den Gesamt-
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Hubertus Heil
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haushalt, auf die Sozialversicherungskassen und auf dieAusgaben, die wir im Moment für aufstockende, ergän-zende Arbeitslosengeld-II-Leistungen haben, sowie durchdie Steuereinnahmen auch auf der Einnahmeseite posi-tive Effekte gehabt hätte.Eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, das ist dasGebot der Stunde. Gemessen daran kann ich nur einesfeststellen: Sie sind ohne Zweifel stark in schönen Wor-ten, aber Sie sind schwach in konkreten Taten. Die Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland, diearbeitslosen Menschen und auch die Wirtschaft haben indiesem Ressort etwas Besseres verdient als eine reineAnkündigungsministerin.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Hubertus Heil. – Nächster Red-
ner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Nachdem die Opposition hier so vielschlechte Stimmung verbreitet hat,
will ich mit einer guten Nachricht beginnen: Das Ifo-In-stitut hat heute Morgen bekannt gegeben, dass der Ifo-Index überraschend von 106,4 auf 106,6 Punkte gestie-gen ist. Insbesondere die Geschäftserwartungen für dienächsten sechs Monate haben sich deutlich verbessert.Ich finde, das ist eine gute Nachricht für die Menschenin diesem Lande und auch für den Arbeitsmarkt in die-sem Lande.
Der zweite Punkt, den ich gern erwähnen möchte:Wir haben ja in diesen Tagen eine Art Halbzeitbilanz zuziehen. Mit dem heutigen Tag liefert die schwarz-gelbeKoalition ihr drittes Großprojekt im Bereich der Lang-zeitarbeitslosigkeit ab. Nach der Jobcenterreform undder Regelsatzreform werden wir heute in diesem Hausedie Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente ab-schließend auf den Weg bringen. Ich bin sicher, der Bun-desrat wird das nach den Verhandlungen im Vermitt-lungsausschuss am Ende der Woche ebenfalls tun.Damit ist klar: Wir haben in diesem Bereich, in demes darum geht, Zukunftschancen für die Menschen zuschaffen, die Instrumente verbessert, zielgerichteter ge-macht, die Entscheidungsfreiheiten vor Ort verbessert.
Durch die Überarbeitung der Strukturen haben wir auchEffizienzgewinne, die Sie in Ihre Bilder aufnehmen soll-ten, Frau Hagedorn, um sozusagen up to date zu sein.
Der dritte Punkt, den ich ansprechen will, ist die Si-tuation bei der Rente. Als Vertreter der FDP, als Libera-ler, wird man hier mitunter belächelt, wenn man Sätzeder Art sagt: Das Beste, was wir für die Menschen undinsbesondere für die Rentner in diesem Lande tun kön-nen, ist, dafür zu sorgen, dass es eine gute, starke wirt-schaftliche Entwicklung gibt. – Bei einem solchen Satzfeixt Links und sagt: Na ja, die Liberalen.
Wir haben eine gute, eine starke wirtschaftliche Ent-wicklung. Die Zahlen sind genannt worden: Rekord-stand bei der Erwerbstätigkeit, Rekordstand bei der so-zialversicherungspflichtigen Beschäftigung, Niedrigstandbei der Arbeitslosigkeit. Diese wirtschaftliche Entwick-lung führt dazu, dass sich auch die Einnahmen aus denRentenversicherungsbeiträgen sehr, sehr positiv entwi-ckeln. Deswegen können wir zwei Dinge tun, wir kön-nen sie sogar gleichzeitig tun:Wir können erstens – absehbar zum 1. Juli nächstenJahres – die Renten der Menschen um 2,3 Prozent inWestdeutschland
und sogar um 3,2 Prozent in den neuen Bundesländernerhöhen, Herr Birkwald. Das ist eine gute Nachricht fürdie Menschen, weil sie damit auch von der starken wirt-schaftlichen Entwicklung profitieren. Ich habe immergesagt: Rentner und aktiv Beschäftigte sitzen in einemBoot. Das wird im nächsten Jahr bei den Rentenerhö-hungen, die wir dann liefern können, besonders deutlich.
Und wir können ein Zweites tun: Wir können zusätz-lich die Rentenbeiträge senken, in 2012 um 0,3 Prozentund wahrscheinlich in 2013 noch einmal um weitere0,6 Prozent.
Manche von Ihnen neigen wieder dazu, das zu margina-lisieren, indem Sie sagen, das ist nur soundso viel proKopf. – Das mag sein, aber in der Summe ist das einKonjunkturimpuls in Höhe von rund 9 Milliarden Euro,der zusätzlich in unsere Volkswirtschaft gegeben wird.Das heißt, wir haben die Chance, hierdurch einen selbst-verstärkenden Prozess auszulösen. In einer Situation, inder sich viele Menschen Sorgen um die Konjunktur ma-chen, sehen wir nicht tatenlos zu, sondern wir nutzenauch die Möglichkeiten, die in unseren Sozialversiche-rungen stecken, um unmittelbar wirksame Nachfrage zugenerieren. Auch das ist eine gute Nachricht, meine Da-men und Herren.
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Ich möchte zum Schluss noch etwas zum Thema Min-destlohn sagen. Herr Heil, damit hier überhaupt keinZweifel bestehen bleibt: Die FDP ist für faire Löhne. Sieist für faire Löhne, die erstens die Interessen der Men-schen berücksichtigen, die hart arbeiten, die zweitensauch auf die Unternehmer in Deutschland Rücksichtnehmen, die in der weit überwiegenden Zahl aus demMittelstand kommen und den Bestand ihres Unterneh-mens sowie ihre Arbeitsplätze im Blick haben müssen,und die vor allen Dingen drittens – das wird oft verges-sen, aber das darf nicht vergessen werden – Langzeitar-beitslosen eine Chance für die Rückkehr in den erstenArbeitsmarkt bieten.Bei der Umsetzung dieses Ziels „faire Löhne“ setzenwir in erster Linie auf die Tarifautonomie. Ich bin nichtder Meinung, dass die Zahlen hier so schlecht sind. Nachunserer Kenntnis, die auf Auskünften des IAB-Betriebs-panels beruht – veröffentlicht von der vollkommen unver-dächtigen Böckler-Stiftung, dem Böckler-Tarifarchiv –,sind 80 Prozent der Arbeitsverhältnisse in Deutschlandunverändert tarifgebunden: 60 Prozent direkt und 20 Pro-zent durch Bezugnahme auf Tarifverträge. In Bereichen,wo es keine Tarifbindung gibt, haben wir, also vor allenDingen Schwarz-Gelb – das muss man hier einmal sagen –,durch das Tarifvertragsgesetz und das Arbeitnehmer-Entsendegesetz die Möglichkeit geschaffen, branchen-und regionalspezifische Mindestlöhne festzusetzen. Dasgeschieht auch in einer Vielzahl von Fällen.Dann bleiben nur noch ganz wenige weiße Flecken,Herr Kollege Heil.
Und auch da ist das nicht bodenlos, sondern da gibt esAuffanglinien wie etwa die Sittenwidrigkeit von Be-schäftigung und das Mindestarbeitsbedingungengesetz.Mich wundert etwas, dass Sie, der Sie sozusagen – wennich das damals richtig beobachtet habe – der Schöpferdes Mindestarbeitsbedingungengesetzes sind, sich ein-fach hier so hinstellen – –
Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil? Das würde Ihnen natürlich die Chance
geben, Ihre Redezeit zu verlängern.
Ich sehe das. Vielleicht höre ich erst zu, dann kann ich
meine weiteren Ausführungen vielleicht in die Antwort
mit reinpacken. – Bitte sehr, Herr Kollege Heil.
Ich möchte Ihnen als Erstes sagen, dass ich das Min-
destarbeitsbedingungengesetz nicht erfunden habe, son-
dern das wurde zu Zeiten Konrad Adenauers erfunden.
Damals war ich noch nicht mit dabei.
Ja, natürlich die moderne Fassung, die aktuelle Fas-
sung!
Aber ich gebe Ihnen recht, dass die Große Koalition
versucht hat, das Gesetz gängiger zu machen. Wir müssen
heute aber feststellen, dass kein Mindestlohn darüber
festgesetzt worden ist. Deshalb sage ich Ihnen: Es geht
um die weißen Flecken – ohne Frage –, wo es keine Ta-
rifbindung gibt. Ich bitte Sie aber, auch zur Kenntnis zu
nehmen, dass wir auch in Bereichen Probleme haben, wo
es sogenannte Tarifverträge gibt, indem nämlich Stunden-
löhne von 3,18 Euro pro Stunde und Ähnliches festgelegt
wurden. Das ist deshalb so, weil in diesen Bereichen leider
Gottes Gewerkschaften, aber auch Arbeitgeber nicht
mehr so mobilisieren, dass man zu vernünftigen Lohn-
aushandlungsprozessen kommt.
Wir sind für den Vorrang der Tarifautonomie, aber Sie
dürfen die Augen nicht davor verschließen, das die
Tarifautonomie in den Bereichen mit den weißen Fle-
cken, aber auch in einigen formal tarifgebundenen Be-
reichen nicht mehr funktioniert, mit dem Ergebnis, das
3,18 Euro gezahlt werden und sich die Menschen ergän-
zendes Arbeitslosengeld II holen müssen, obwohl sie
Vollzeit arbeiten. Das ist der Punkt, vor dem Sie die Au-
gen verschließen. Deswegen können Sie sich nicht hin-
stellen und sagen: Irgendwie sind wir auch für faire
Löhne. Das reicht nicht aus.
Herr Kollege Heil, ich weiß, dass das Mindestarbeits-bedingungengesetz schon 1952
geschaffen wurde, aber es ist unter der Ägide der GroßenKoalition in der letzten Legislaturperiode sozusagenrunderneuert worden. Bis dahin war es ja in einem Dorn-röschentiefschlaf. Sie haben es runderneuert. Ihr Ansatzwar doch, damit alle Probleme lösen zu können. Zu demZeitpunkt waren Sie schon dabei; da müsste ich michsehr täuschen, wenn ich das falsch beobachtet hätte.Ein zweiter Aspekt zu diesem Thema: Das Mindestar-beitsbedingungengesetz hat deswegen keine Mindest-löhne geliefert, weil praktisch keine Anträge gestelltworden sind. Seit der Novellierung des Mindestarbeits-bedingungengesetzes gab es nur einen einzigen Antrag.Sie werden doch zugestehen müssen: Wo es noch nichteinmal einen Antrag gibt, kann es am Ende auch keineErgebnisse geben.
– Nein, das unterstreicht doch meine Einschätzung, dasswir in Deutschland im Großen und Ganzen eine Situa-tion haben, in der von den Tarifpartnern auskömmlicheLöhne vereinbart werden.
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Dr. Heinrich L. Kolb
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Dritter Punkt. Auch ich kenne Zahlen über Tarif-löhne, bei denen ich mich wundere. Da gehe ich die Sa-che aber anders an als Sie. Ich hätte nie gedacht, dass ichhier im Plenum des Deutschen Bundestages einmal dieTarifautonomie vor der SPD verteidigen muss.
Ich bin nicht bereit, die Tarifpartner aus ihrer Verantwor-tung zu lassen.
Aus guten Gründen steht die Tarifautonomie im Grund-gesetz.
– Wenn es nicht funktioniert, dann liegt es daran, dassentweder die Arbeitgeber oder die Arbeitnehmer oderbeide die Aufgabe nicht ernst genug nehmen.
Dann muss man sie aber auch ermahnen, dies zu tun. Esist vorrangig und in allererster Linie Aufgabe der Tarif-parteien, diese Aufgabe zu lösen. Die Politik kommt erstnachrangig zum Zug. Ich glaube insofern, dass es keinenBedarf für einen Mindestlohn gibt. Lassen Sie mich Ih-nen zwei Argumente nennen.Zum einen – das hat die Kollegin Winterstein hiersehr deutlich gesagt –: Aufstocken findet bei vollzeitar-beitenden Alleinstehenden nur in ganz seltenen Fällenstatt.
Wo die Familienverhältnisse dazu führen, dass der Lohnden Bedarf nicht deckt, haben Sie – Rot-Grün – selbstentschieden, dass dann aufgestockt werden soll. Min-desteinkommen statt Mindestlohn – das halte ich für dasrichtigere Rezept.Zum anderen möchte ich an Folgendes erinnern:Viele in diesem Hause haben vor wenigen Monaten, vordem 1. Mai 2011, gesagt: Wir brauchen in Deutschlanddeshalb Mindestlöhne, weil ansonsten der deutsche Ar-beitsmarkt von Billiglohnkräften überrollt wird. SechsMonate später kann man sagen: Stell dir vor, es ist Frei-zügigkeit, und keiner kommt her. Es gibt keinen statis-tisch nachweisbaren Effekt, dass Arbeitskräfte aus Ost-europa nach Deutschland gekommen wären und hiersozusagen Lohndumping betrieben worden wäre. Sie ha-ben da eine Sau durchs Dorf getrieben, die jeglicher rea-len Grundlage entbehrte.
Wir sollten deshalb jetzt nicht in Aktionismus verfal-len, sondern sehr nüchtern das Thema angehen. Ich kannnur sagen: Wir beobachten das Ganze sehr genau. Wirhaben immer gesagt, wir sind zum Handeln bereit. Wennes erforderlich ist, werden wir darüber sprechen. Bisdato sehen wir diese Notwendigkeit jedenfalls nicht.Danke.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-legin Hinz das Wort.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frauvon der Leyen, Sie haben kritisiert, dass meine KolleginPothmer die soziale Situation so schlechtreden würde.Sie müssen aber schlicht und einfach zur Kenntnis neh-men, dass das Sparpaket der Bundesregierung lediglichin Ihrem Etat umgesetzt wurde.
Alleine in Ihrem Etat finden die Kürzungen statt, egal obbei den Rentenbeiträgen für ALG-II-Empfänger, obbeim Elterngeld für ALG-II-Empfänger, ob bei denHeizkostenzuschüssen oder bei der Eingliederungsleis-tung.
All das findet in Ihrem Etat statt; die anderen Etats sindvom Sparpaket nicht betroffen.
Das können Sie nicht negieren und auch nicht einfachweglächeln.
Es hat überhaupt niemand etwas dagegen, dass Ver-besserungen der konjunkturellen Lage positive Effekteauf den Haushalt haben. Im Gegenteil: Das finden wirgut. Aber strukturelle Entscheidungen für Sozialabbaufinden wir schlecht. Das muss verhindert werden.
Es handelt sich eben um keine konjunkturelle, sondernsozusagen nur um eine strukturelle Entlastung, wennman die Eingliederungsleistungen um mehr als 20 Pro-zent kürzt, obwohl die Zahl der Hartz-IV-Empfänger nurum 4 Prozent zurückgeht. Das führt dazu, dass Langzeit-arbeitslose nicht so qualifiziert werden können, dass sieim ersten Arbeitsmarkt unterkommen können. Das istdas Problem. Sie können hier gerne über Fachkräfteman-gel reden; aber reden allein hilft nicht. Sie müssen auchGeld in die Hand nehmen und etwas gegen den Fach-kräftemangel tun.
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Priska Hinz
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Auch die Bundesagentur für Arbeit wird durch struk-turelle Entscheidungen weiter belastet: Sie bekommt dieKosten für die Grundsicherung im Alter aufgebürdet.Das bedeutet, dass die Beitragszahlerinnen und -zahlerbis zum Jahr 2015 mit über 12 Milliarden Euro an diesenKosten beteiligt werden; so viel wird auf die Beitrags-zahler umgewälzt.
Frau Merkel stellt sich als Bundeskanzlerin auf demDeutschen Arbeitgebertag hin und sagt: Wenn sich diewirtschaftliche Lage verschlechtert, werden wir dasKurzarbeitergeldprogramm sofort wieder auflegen.
Da Sie die BA jetzt so plündern, möchte ich doch einmalwissen: Mit welchem Geld eigentlich?
Wenn Sie schon nicht auf die Grünen hören: Auch dieBundesbank hat kritisch angemerkt,
dass die Ausgaben der BA nicht über den Konjunktur-zyklus zu finanzieren sind, wenn Sie der BA einen hal-ben Prozentpunkt aus der Mehrwertsteuer wegnehmen.Diese Entscheidung hat die schwarz-gelbe Koalition imHaushaltsausschuss leider nicht revidiert.Meine Damen und Herren, die Ministerin spricht hierüber Altersarmut; aber ihr Konzept ist schon im Ansatzgescheitert. Frau Ministerin, was nützt es, wenn Sie hiersagen: „Der Altersarmut muss man entgegenwirken;man muss den Menschen helfen, die nicht 40 Jahre amArbeitsmarkt erwerbstätig sein konnten, die unterbro-chene Erwerbsbiografien haben, die niedrige Einkom-men haben“? Gerade diese Zielgruppe wird doch von Ih-rem Konzept überhaupt nicht erfasst.
Das ist doch das Problem: Sie machen immer Vorschlägeüber Vorschläge, aber diese sind nicht zielgerichtet anden Gruppen orientiert, die tatsächlich Unterstützungbrauchen. Wir sind gespannt, welche Änderungen sichhier noch ergeben werden.Leider ist von der Koalition in dieser Hinsicht über-haupt nichts zu hören. Sie tragen alles mit – wie dieLämmer –, was Ihnen Frau von der Leyen vorsetzt. Dasfinde ich besonders bedauerlich. Eigentlich könnte manvon Abgeordneten erwarten, dass sie eigene Vorstellun-gen haben,
dass sie die Regierung nicht nur kontrollieren, sondernvielleicht auch umorientieren. Aber hier ist von Ihnenwirklich überhaupt nichts mehr zu erwarten.
Meine Damen und Herren, die Koalition versagt mitdem vorliegenden Haushalt vielen Menschen eine ange-messene soziale und kulturelle Teilhabe. Die Erhöhungdes Hartz-IV-Regelsatzes um 10 Euro kann nicht da-rüber hinwegtäuschen, dass der Regelsatz schlicht undeinfach falsch berechnet ist; das können Sie mit diesemInflationsausgleich in Höhe von 10 Euro nicht aus derWelt schaffen.Wir haben Ihnen gezeigt, wie es, auch wenn man denRegelsatz erhöht, die Eingliederungsleistungen verbes-sert und die BA stärkt, trotzdem möglich ist, die Netto-kreditaufnahme zu senken. Wir würden nämlich einSparpaket so im Haushalt verankern, dass alle Menschenausgewogen belastet werden, und zwar auch die Unter-nehmen, nicht einseitig nur die sozial Schwachen. Wennwir dann noch einen gesetzlichen Mindestlohn auf denWeg bringen könnten, dann gäbe es auch für den Ar-beits- und Sozialetat tatsächlich eine strukturelle Entlas-tung.Zu solchen Entscheidungen sind Sie leider nicht fä-hig. Deswegen müssen wir den Etat ablehnen.
Das Wort hat der Kollege Karl Schiewerling für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wenn man sich die Debatteheute anhört, meint man in der Tat, man sei in einem völ-lig fremden Land. Ich darf Ihnen sehr deutlich sagen:Zwei Jahre christlich-liberale Koalition haben unserLand und seine Menschen nach vorne gebracht. Wir sindaus der letzten, übrigens durch eine Finanzkrise entstan-denen Wirtschaftskrise besser herausgekommen.
Wir müssen aber aufpassen und alles tun, damit das, wassich am Horizont abzeichnet, nicht auf Deutschlanddurchschlägt und Beschäftigung in der jetzigen Form er-halten bleibt bzw. sich weiter positiv entwickelt.Wir sorgen weiterhin für soziale Sicherheit, gebenPerspektive und übernehmen Verantwortung für dieMenschen. Ich glaube, dass Kritik angesichts der Tatsa-che, dass wir mit die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit inEuropa haben, ganz schnell weggebügelt werden kann.Frau von der Leyen hat die Zahlen gerade dargelegt.Man kann sagen: Das alles ist Unfug und nicht richtig,wir brauchen all das nicht. Ich entgegne Ihnen: Ich habedie heftigen Auseinandersetzungen in den 80er-Jahrendarüber erlebt, wie man junge Menschen in Beschäfti-gung bzw. Ausbildung bringen kann. Mir ist lieber, wir
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Karl Schiewerling
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haben ein Überangebot an Ausbildungsstellen, sodassjunge Menschen nachgefragt werden und untergebrachtwerden können, als dass wir mehr junge Menschen ha-ben, als uns Ausbildungsstellen zur Verfügung stehen. Ineiner solchen Situation sind wir lange nicht mehr gewe-sen.
Sicherheit ist unsere Zielsetzung auch in der Arbeits-markt- und Sozialpolitik. Wir haben sie in der Vergan-genheit verwirklicht, wir werden sie auch im kommen-den Jahr weiter verwirklichen. Gerade haben wir diearbeitsmarktpolitischen Instrumente neu organisiert. DerVermittlungsausschuss hat, wie ich finde, einen vertret-baren Kompromiss gefunden – wir stimmen gleich da-rüber ab –, mit dem wir gut leben und gut zurechtkom-men können.Diese arbeitsmarktpolitischen Instrumente – KollegeKolb hat gerade darauf hingewiesen – sind der dritte Ab-schnitt der großen Arbeitsmarktreform, die wir durchge-führt haben. Das wesentliche Merkmal dieser arbeits-marktpolitischen Instrumente ist, dass mehr Freiheit undmehr Verantwortung vor Ort wahrgenommen werdenkann, um den Menschen passgenau und zielgenau zuhelfen, wieder in Arbeit und Beschäftigung zu kommen.
Aber, meine Damen und Herren, machen wir unsnichts vor: Wir können so viele arbeitsmarktpolitischeInstrumente schaffen, wie wir wollen, wir können Hun-derte von Milliarden Euro in arbeitsmarktpolitische Pro-gramme stecken: Wenn die Arbeitsplätze in der Wirt-schaft nicht geschaffen werden, können wir die Leutenicht unterbringen. Dass wir im Augenblick mit unserenInstrumenten Erfolg haben, hängt damit zusammen, dasssie so passgenau wirken, dass die Menschen auch aufdem ersten Arbeitsmarkt unterkommen. Deswegen bitteich Sie, endlich einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass es900 000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Be-schäftigungsverhältnisse gibt. Das ist ein Aufwuchs, undzwar in einer exzellenten Art und Weise, wie wir ihn seitder Wende nicht mehr gehabt haben. Dadurch sind viele,viele Menschen – und zwar weit mehr als die Hälfte – inVollzeitbeschäftigung gekommen und haben eine Per-spektive bekommen: Hier handelt es sich nämlich um or-dentliche und nicht um prekäre Beschäftigung und nichtum Teilzeitbeschäftigung. Ich bin stolz darauf, dassdiese Menschen es geschafft haben, einen solchen Wegzu gehen. Ihnen gilt all unsere Anerkennung.
Meine Damen und Herren, es ist gelungen, durch un-sere Wirtschaftspolitik und durch unsere Arbeitsmarkt-politik gute Rahmenbedingungen zu schaffen. Ich willdas an dieser Stelle sehr deutlich sagen, weil Sie sichmal wieder – das machen Sie ja mit Vorliebe – auf Frauvon der Leyen eingeschossen haben. Man kann Frau vonder Leyen meinetwegen vorwerfen, sie würde zu viel ar-beiten. Das können Sie gerne tun; es stimmt auch. Siekönnen ihr aber nicht vorwerfen, dass sie in den letztenzwei Jahren nicht mit großem Erfolg die Weichen ge-stellt hat. All das, was Sie kritisieren, stimmt nicht.Wir haben eine gute Entwicklung im Bereich der Bür-gerarbeit. Wir haben eine gute Entwicklung beim Pro-gramm „50 plus“.
Wir haben eine gute Entwicklung bei der Beschäftigungvon Langzeitarbeitslosen. Wir haben eine gute Entwick-lung auf dem Arbeitsmarkt. Das ist doch nicht vom Him-mel gefallen. Da sind die Weichen in den letzten zweiJahren richtig gestellt worden. Das haben wir in der Ko-alition gemeinsam mit der Bundesarbeitsministerin ge-tan. Deshalb haben wir auch diesen Erfolg.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einigeHinweise zu der von Ihnen erwähnten Mindestlohnde-batte geben. Es gibt da einen fundamentalen Unterschiedzu Ihnen.
Mit der Union wird es auf keinen Fall im DeutschenBundestag einen Wettbewerb über die Höhe eines Min-destlohns geben.
Meinen Sie denn im Ernst, dass wir Sie losmarschierenlassen, um bei der nächsten Bundestagswahl den nächs-ten Überbietungswettbewerb zu veranstalten?
Professor Dr. Müller-Armack, ein großer Nestor der so-zialen Marktwirtschaft, hat sehr deutlich gesagt: Gegeneinen Mindestlohn ist nichts einzuwenden, solange derGleichgewichtslohn insgesamt nicht gestört wird.
Er hat darauf hingewiesen, dass die Einführung einesMindestlohns auch eine sehr sinnvolle Initiative seinkann. Der Gleichgewichtslohn ist dabei allerdings derentscheidende Punkt. Mit jedem Debattenbeitrag ma-chen Sie jedoch deutlich, dass Sie sich genau dafür nichtinteressieren, sondern in einen völlig unbegründetenÜberbietungswettbewerb zur Höhe von Mindestlöhneneinsteigen wollen. Das wollen wir nicht. Deswegen ha-ben wir unseren Vorschlag unterbreitet.
60 Prozent der Arbeitnehmer haben ordentliche Tarif-verträge, weitere 20 Prozent haben ordentliche Beschäf-tigungsverhältnisse in Betrieben. Ja, es ist richtig, wir
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Karl Schiewerling
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haben in manchen Bereichen erhebliche Verwerfungen.Die wollen wir auch abstellen.
Aber die können wir doch nicht abstellen, indem wir imDeutschen Bundestag über die Höhe eines Mindestloh-nes debattieren. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dassdiejenigen nicht aus der Verantwortung gelassen werden,die für Lohnfindung in Deutschland zuständig sind: Ar-beitgeber und Gewerkschaften.
In diese Richtung zielt auch der Antrag, den wir auf demCDU-Parteitag diskutiert haben. Grundlegende Intentiondabei ist: Die Arbeitgeber und die Gewerkschaften sindfür die Tariffindung zuständig.Ich sage Ihnen voraus, dass wir an diesem Punkt wei-ter arbeiten werden, das ist ganz klar. Wir werden daranarbeiten,
dass eine Kommission, die sich mit dem Bereich Ar-beitsmarkt- und Sozialpolitik beschäftigt, gebildet wird– das ist zumindest meine bzw. unsere Vorstellung –,
in der Arbeitgeber und Gewerkschaften, die von der Si-tuation betroffen sind und sich in diesem Bereich aus-kennen, unter entsprechenden Regularien, die noch fest-zulegen sind, die Dinge selbst regeln.
Herr Schiewerling, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Krellmann?
Nein, ich lasse keine Frage zu.
Schauen Sie auf die Uhr. Wir müssen auf die Kollegin-nen und Kollegen aus den anderen Bereichen ein biss-chen Rücksicht nehmen. Sie wollen auch noch diskutie-ren.
Dass es zu fairen Bedingungen kommt, sind wir nichtnur den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schul-dig. Es geht auch um faire Bedingungen im Bereich derWirtschaft. Es geht darum, dass die Betriebe, die sich or-dentlich verhalten, nicht dadurch bestraft werden undunter Druck geraten, dass sich andere Betriebe nicht anentsprechende Spielregeln halten.Ich möchte in aller Deutlichkeit fragen: Warum habenwir diese Malaise? Wir haben sie doch in den 50er-,60er- und 70er-Jahren nicht gehabt. Wir haben sie auchin den 80er-Jahren nicht gehabt. Deswegen musste auchdas Mindestarbeitsbedingungengesetz aus dem Jahre1952 überhaupt nicht aus der Schublade geholt werden.Kein Mensch hat damals über Mindestlöhne und Lohn-untergrenzen nachgedacht.Wir befinden uns in dieser Situation, weil die Tarif-autonomie in vielen Bereichen nicht mehr funktioniert.
Ich sage deswegen in aller Klarheit: Wir lassen – dazudient auch der Vorschlag, den wir auf dem CDU-Partei-tag diskutiert haben – Arbeitgeber und Gewerkschaftennicht aus dem Schwitzkasten. Sie sind für Löhne zustän-dig. Sie sollen es richten. Wir setzen dafür den Rahmen;denn – das wurde schon richtig gesagt – dafür sind siezuständig.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ei-nige Sätze zum „Regierungsdialog Rente“ sagen, weil ergelegentlich angesprochen worden ist. Wir halten ihn fürrichtig. Wir haben 2009 im Koalitionsvertrag vereinbart,dass wir etwas gegen Altersarmut tun wollen. Die Bun-desarbeitsministerin hat – was ihre Aufgabe ist und wassie sehr gut gemacht hat – einen Vorschlag in die Debattehineingebracht. Dieser Vorschlag wird im Augenblickauf breiter Ebene diskutiert. Ich bin mir sicher, dass wirzu guten Ergebnissen kommen. Ich will nicht verheimli-chen, dass ich selbst ein Interesse daran habe, dass demmöglichst viele aus diesem Hohen Hause zustimmenkönnen.Frau Kollegin Hinz, wir befinden uns mitten in derDebatte und nicht am Ende. Es geht hier um einen Dia-log und nicht um einen Bescheid durch das Bundes-arbeitsministerium. So verstehen wir auch unsere Arbeitals Parlamentarier. Ich denke, dass wir gemeinsam zu ei-nem guten Ergebnis kommen werden.
Lassen Sie mich abschließend auf einen Punkt hin-weisen, der uns am Herzen liegt. Die Frage der Inklusionim Bereich der Behindertenarbeit, also die Frage der In-tegration der Menschen mit Behinderung in unsere Ge-sellschaft und in das Arbeitsleben, ist in der Tat einwichtiger und zentraler Punkt. Ich freue mich sehr, dasses uns mit diesem Haushalt gelungen ist, die dauerhafteFörderung der unabhängigen Stelle gemäß Art. 33 derUN-Behindertenrechtskonvention nun tatsächlich zu si-chern. Damit beenden wir die Projektsituation, und eskann ordentlich weitergehen.Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, ausdrücklich alldenjenigen, die sich um die Integration von Behindertenbemühen – hier wird viel Arbeit geleistet, ob ehrenamt-lich oder professionell im Bereich der sozialen Einrich-tungen –, unseren Behindertenbeauftragten und den ent-sprechenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im
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Karl Schiewerling
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Bundesarbeitsministerium für die geleistete Arbeit dan-ken. Ich glaube, dass wir mit diesem Haushalt so, wiewir ihn insgesamt aufgestellt haben, auch in diesem Be-reich Akzente setzen.Ich freue mich sehr darüber, dass wir, wenn sich diewirtschaftlichen Rahmenbedingungen weiterhin positiventwickeln, den Menschen und allen, die der Hilfe be-dürfen, eine Perspektive geben können.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Krellmann
das Wort. Bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Schiewerling,
ich habe das Gefühl, dass Sie unseren Vorschlag noch
nicht richtig verstanden haben. Wir möchten nicht jedes
Jahr immer wieder neu mit Ihnen darüber streiten, wie
ein Mindestlohn eingeführt werden sollte. Wir möchten,
dass diese Regierung endlich einen Startpunkt setzt, da-
mit Gewerkschaften, Arbeitgeber und Wissenschaftler,
die in diesem Bereich arbeiten, das Weitere regeln kön-
nen. Den Startpunkt müssen wir aber setzen. Wofür sind
wir denn gewählt? Über 80 Prozent der Menschen möch-
ten einen Mindestlohn.
Wir müssen jetzt endlich etwas tun, damit die Gewerk-
schaften und die Arbeitgeberverbände die Chance be-
kommen, für einen Mindestlohn zu sorgen.
Sie haben das Wort, Kollege Schiewerling.
Frau Kollegin Krellmann, ich danke Ihnen herzlich
für den Hinweis, dass ich Sie nicht verstanden habe. Das
mag sein.
Was ich aber verstanden habe, ist, dass Sie schon jetzt
wissen, dass 10 Euro dabei herauskommen müssen – das
geht bei Ihnen wie in einer Steilkurve schon in Richtung
12 Euro –, und dass Ihre Berechnungsgrundlage so aus-
sieht: In einer Bedarfsgemeinschaft mit vier Personen,
die in der Region, aus der ich komme, etwa 1 700 Euro
bekommt, müsste der Alleinernährer einen Stundenlohn
von 15 Euro erhalten, damit diese Menschen nicht auf
Hartz IV angewiesen sind.
Frau Krellmann, was ich verstanden habe, ist, dass
Sie als Partei bzw. über den Deutschen Bundestag einen
gesetzlichen Mindestlohn festsetzen lassen wollen. Für
Sie kann er nicht hoch genug sein, und Sie betrachten
das Ganze unabhängig von der Frage, welche Konse-
quenzen das für die Einzelnen bedeutet. Das habe ich
verstanden, und deswegen bin ich dagegen.
Nun hat die Kollegin Anette Kramme für die SPD-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Schiewerling, ich sage nur: Besser bei8,50 Euro starten, als überhaupt keinen Gesetzentwurfzum Mindestlohn hinbekommen.
Die Regierung hat hier und heute einen objektiv un-vernünftigen Haushaltsentwurf für das Bundesarbeitsmi-nisterium vorgelegt. Was wir dort sehen, sind unvorstell-bare Einsparungen im Bereich der Betreuung vonArbeitslosen. Allein im Jahr 2012 geht es um eine Ein-sparsumme von 5,2 Milliarden Euro. Ihre Politik greiftzu kurz, ist einfallslos und perspektivisch sogar gefähr-lich.Wir verzeichnen am Arbeitsmarkt zwei dicke Pro-bleme. Einerseits haben wir eine verfestigte Langzeitar-beitslosigkeit zu verzeichnen. Mehr als 50 Prozent allerLangzeitarbeitslosen haben keinerlei Berufsausbildung;20 Prozent haben nicht einmal einen Schulabschluss. Esgibt eine einfache Grundwahrheit: Wer keine Ausbil-dung hat, wird sein Leben lang arm bleiben, wird immerwieder auf den Bezug von Arbeitslosengeld und auchArbeitslosengeld II angewiesen sein und wird wahr-scheinlich später die Grundsicherung im Alter benöti-gen.Ein zweites Problem: Wir wissen, dass wir demogra-fiebedingt auf einen Fachkräftemangel zusteuern. EinFachkräftemangel ist für eine Nation eine schwere Hy-pothek; denn Investoren gehen in Länder – das wissenwir –, in denen sie eine hinreichende Zahl an gut ausge-bildeten Menschen antreffen, mit denen sie auf einenExpansionskurs kommen können. Fachkräftemangel be-deutet aber auch, dass die ökonomischen Möglichkeiteneines Landes unnötig eingeschränkt werden, mit negati-ven Folgen für die Steuereinnahmen einerseits und fürdie Sozialversicherungskassen andererseits.Frau von der Leyen, wir können bei Ihnen keinerleiKonzept zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeiterkennen. Ich verweise an dieser Stelle nur auf die ak-tuelle Instrumentenreform. Wir sehen auch keinerleiKonzeption, um den drohenden Fachkräftemangel in derBundesrepublik Deutschland zu beseitigen. Aber es gäbeeine einfache Möglichkeit, die Aufgaben finanziell zubewältigen.Die Untersuchung von Prognos bestätigt, dass wirdurch einen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro Steuer-einnahmen in Höhe von 3,4 Milliarden Euro generierenkönnten.
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17084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Anette Kramme
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Wir wissen auch, dass wir damit sozialstaatliche Trans-ferleistungen in Höhe von 1,7 Milliarden Euro vermei-den könnten.
Insgesamt ergibt sich also eine Summe von 5,1 Milliar-den Euro, die der Staat zusätzlich zur Verfügung hätte.
Kollegin Kramme, gestatten Sie eine Frage des Kolle-
gen Kolb?
Von Herrn Kolb immer gerne.
Das ist nett, Frau Kramme. – Ich wollte Sie nur fra-
gen, ob es richtig ist, was ich gehört habe, nämlich dass
Vorgabe für die Prognos-Studie war, unter der Annahme
zu rechnen, dass durch den Mindestlohn keine Arbeits-
plätze entfallen. Daher ist die Rechnung, die abgeliefert
wurde, etwas gestellt bzw. – so müsste ich richtigerweise
sagen – bestellt. Können Sie mir außerdem einmal sa-
gen, wer der Auftraggeber der Studie gewesen ist? Da
habe ich nämlich etwas läuten hören.
Herr Kolb, das sage ich Ihnen sehr gerne. Das war die
Friedrich-Ebert-Stiftung.
– Ich finde, es ist ein legitimes Anliegen einer sozialen
Stiftung, über die Konsequenzen eines Mindestlohns für
die Volkswirtschaft im Klaren zu sein. Diesen Aspekt
hat die Friedrich-Ebert-Stiftung berücksichtigen lassen.
Sie wissen aber auch um die positiven Ergebnisse, die
die Prognos-Studie gezeigt hat.
Die Prognos-Studie geht davon aus, dass es bei einem
Mindestlohn von 8,50 Euro nicht zu einem Abbau,
sondern vielmehr zu einem Aufbau von Arbeitsplätzen
kommt. Ich bin mir sicher, jedes Forschungsinstitut, ins-
besondere ein seriöses wie Prognos, wäre in hohem
Maße beleidigt, wenn man sagen würde, es lasse sich
durch einen Auftraggeber in seinen wissenschaftlichen
Einschätzungen beeinflussen.
Herr Kolb, Sie dürfen sich jetzt setzen. Mir fällt zu Ih-
rer Frage nichts mehr ein. Ich denke, meine Antwort war
erschöpfend.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich auf
das Thema Mindestlöhne zurückkommen. Ich habe ge-
rade die finanziellen Möglichkeiten im Staatshaushalt
dargestellt, die es durch einen gesetzlichen Mindestlohn
gäbe. Davon abgesehen, es entspricht natürlich auch der
Würde der Arbeit, einen Mindestlohn zu haben. Ich kann
nur sagen, dass das, was wir an dieser Stelle beobachten
– ich sehe die CDU noch ganz weit entfernt von einem
Mindestlohn –, schlichtweg verbohrt und ideologisch
geprägt ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ein
weiteres Beispiel für unvernünftiges Regierungshandeln
nennen. Wir haben jetzt den Sachverhalt, dass qua Ge-
setz und nicht aufgrund der Leistung der Bundesregie-
rung der Rentenversicherungsbeitrag um 0,3 Prozent-
punkte sinken wird. Ich kann mir gut vorstellen, dass die
FDP an dieser Stelle ein strahlendes Gesicht aufsetzt,
weil sie es endlich einmal geschafft hat, tatsächlich Ent-
lastung für die Bürger zu erreichen.
– Herr Kolb, Sie wissen auch, dass die Entlastung für
den Einzelnen an dieser Stelle minimal ist und dass es
viel vernünftiger wäre, zu überlegen, was man mit die-
sem Geld stattdessen machen könnte.
Frau Kollegin Kramme, achten Sie bitte auf die Zeit.
Da gibt es zwei Dinge: Wir könnten einerseits die
Schwankungsreserve erhöhen. Das würde gerade bei
konjunkturellen Schwankungen dazu führen, dass wir
nicht ständig Beitragssätze ändern müssten.
Oder wir könnten etwas für diejenigen Menschen tun,
die eine Erwerbsminderungsrente beziehen, indem wir
zum Beispiel die Zurechnungszeit erhöhen. Das würde
für diese Menschen statt 2 Euro, wie nach Ihrem Kon-
zept, 48 Euro im Monat mehr bedeuten.
Das ist – im Gegensatz zu der Ihrigen – eine Politik mit
menschlichem Angesicht.
Vielen herzlichen Dank.
Der Kollege Max Straubinger hat für die Unionsfrak-tion das Wort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17085
Vizepräsidentin Petra Pau
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Am Ende der Debatte zum Bundeshaushalt Arbeit undSoziales kann man folgendes Fazit ziehen:
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionensind die Garanten für die soziale Sicherheit der Men-schen in unserem Lande, und die Opposition hat keineAlternativen zu dieser Politik. Das ist in vielen Wortbei-trägen, die hier von der Opposition abgeliefert wurden,sichtbar geworden.
Das kann man kurz anhand verschiedener Zahlendeutlich machen. Der Bundeshaushalt hat einen Umfangvon circa 306 Milliarden Euro. Der Haushalt für Arbeitund Soziales hat einen Umfang von 126 MilliardenEuro, der Haushalt für Gesundheit 14,5 Milliarden Euro,der Haushalt des Familienressorts 6,8 Milliarden Euro;summa summarum sind dies knapp 150 Milliarden Euro.Jeder weiß, was das bedeutet: Fast 50 Prozent der Aus-gaben des Bundeshaushaltes kommen sozialen Zweckenzugute, und damit wird die soziale Sicherheit der Men-schen besonders untermauert.
Dies ist natürlich ein Ausdruck der erfolgreichen Ar-beitsmarktpolitik dieser christlich-liberalen Bundesregie-rung in den vergangenen zwei Jahren. 84 Milliarden Eurofür Rente und rentengleiche Leistungen, insgesamt40 Milliarden Euro für den Arbeitsmarkt – diese Zahlenzeigen sehr deutlich, dass wir die erfolgreiche Politikfortsetzen und dass sich diese in zunehmender Erwerbs-tätigkeit der Menschen in Deutschland niederschlagenwird. Wir haben derzeit die höchste Zahl an Erwerbstäti-gen zu verzeichnen. Wir werden weiterhin die Arbeitslo-sigkeit bekämpfen und damit an die Spitze in Europagelangen. Derzeit liegt die Arbeitslosenquote in Deutsch-land bei 6,5 Prozent; damit stehen wir im europäischenVergleich sehr gut da. Das ist ein Ausdruck der erfolgrei-chen Politik, die wir, die christlich-liberale Koalition, indie Tat umsetzen.
Man kann es nicht oft genug sagen: Wir haben die ge-ringste Jugendarbeitslosigkeit zu verzeichnen. Darumwerden wir beneidet – richtigerweise. Kollege Heil, icherinnere mich noch an die Forderungen der SPD in derVergangenheit, zum Beispiel an die Forderung nach ei-ner Ausbildungsplatzabgabe. Diese Forderung hört manjetzt nicht mehr. Das zeigt sehr deutlich: Die wirtschaft-lichen Kräfte haben die Grundlage in unserem Land ge-schaffen, dass wir vermehrt Arbeitsplätze haben undmittlerweile jedem Bewerber einen Ausbildungsplatzanbieten können. Dadurch haben wir die Chancen derJugend stark erhöht. In meiner Heimat werben wir mitt-lerweile Auszubildende aus osteuropäischen Ländern an,um alle Lehrstellen besetzen zu können.
Das zeigt sehr deutlich, wie erfolgreich unsere Wirt-schaftspolitik ist.
Das hat natürlich auch mit einer entsprechenden Phi-losophie in der Wirtschaftspolitik zu tun. Heute wurdesichtbar – bei den Linken natürlich besonders, aber ge-nauso bei SPD und Grünen –: Sie wollen die Bürgerin-nen und Bürger immer mehr belasten,
und Sie wollen darüber hinaus die Unternehmen belas-ten.
Wir haben die Philosophie: Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer und die Wirtschaft müssen entlastet werden,
um Arbeitsplätze in unserem Land zu schaffen und dieZukunftschancen der Menschen zu erhöhen.Diese Philosophie hat sich bisher sehr erfolgreich be-währt, auch in der gemeinsamen Regierungszeit mit derSPD, die sich nicht mehr daran erinnern will. In der Gro-ßen Koalition haben wir zum Beispiel den Arbeitslosen-versicherungsbeitrag von 6,5 Prozent auf mittlerweile3 Prozent abgesenkt. Damit wurden die wirtschaftlichenKräfte befördert und Arbeitsplätze in unserem Land ge-schaffen. Damit haben wir eine bessere Wettbewerbsfä-higkeit erreicht. Das ist letztendlich mit entscheidend fürdie Zukunft, für die soziale Absicherung der Menschen.
Verehrte Damen und Herren, mir graut vor den Vor-schlägen der Linken-Fraktion. Ich habe mit Aufmerk-samkeit die Debatte zum Wirtschaftshaushalt verfolgt.Der Kollege Claus hat ausgeführt, dass wir unsere Wett-bewerbsfähigkeit zugunsten der Internationalität aufge-ben sollten, weil der Handelsbilanzüberschuss, den wirerzielen, bei anderen Ländern negative Salden erzeugt.
Das mag richtig sein. Aber es kann doch nicht sein, dassdann Arbeitsplätze bei uns in Deutschland vor die Hundegehen und abgebaut werden. Sie wollen letztendlich eineStrangulierung der Wirtschaft,
sowohl in der Automobilindustrie als auch in vielen an-deren Technologiebereichen. Dadurch werden Arbeits-
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Max Straubinger
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plätze aus unserem Land vertrieben. Dadurch werden dieChancen für die Menschen in Deutschland verringert.
Zu einer solchen Politik werden wir Ihnen garantiertnicht die Hand reichen.
Ich habe mir auch die Änderungsanträge der Opposi-tion angesehen. Entweder werden wir von Ihnen ständigdafür gescholten, dass wir zu wenige Sparanstrengungenunternehmen, oder Sie fordern, dass wir noch wesentlichmehr sparen müssten.
Die SPD hat heute einen Änderungsantrag einge-bracht, der Mehrausgaben in Höhe von 1,5 MilliardenEuro zur Folge hätte. Dann hat sie erklärt, das könneman durch die Einführung eines Mindestlohns gegen-finanzieren.
Meine Vorredner haben schon dargelegt, was das bedeu-ten würde.
Die Vorschläge der Grünen belaufen sich auf Mehr-ausgaben in Höhe von 3 Milliarden Euro. Sie wollen vorallen Dingen den ALG-II-Regelsatz auf 420 Euro anhe-ben. Wie Sie auf diesen Betrag gekommen sind, entziehtsich unserer Kenntnis.
Wir orientieren uns am Bundesverfassungsgerichtsurteil,werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
und nicht am Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsver-band.
– Doch. Das entspricht der Forderung des Deutschen Pa-ritätischen Wohlfahrtsverbandes.
Bei den Linken war eine regelrechte Antragswut zubeobachten. Ihre Vorschläge hätten Ausgaben in einemUmfang von 41 Milliarden Euro zur Folge.
Das wäre ein Programm fürs Nichtstun. Es würde letzt-endlich dazu führen, dass zukünftig niemand mehr arbei-tet oder dass in unserem Land nur noch wenige Men-schen arbeiten, die dies dann zu bezahlen hätten.
41 Milliarden Euro entsprechen einer Erhöhung des Bei-tragssatzes um 4 Prozentpunkte; das muss man sich ein-mal auf der Zunge zergehen lassen. In dieser Größenord-nung müssten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerbelastet werden, um die entsprechenden Vorschläge ge-genzufinanzieren. Dazu sage ich sehr deutlich: Sie habennicht den richtigen Kompass für eine gute Politik für dieZukunft. Es liegt letztendlich an unserer christlich-libe-ralen Regierung, den Sozialstaat in Deutschland auchweiterhin erfolgreich auszubauen.
Dem fühlen wir uns verpflichtet. Stimmen Sie unseremHaushalt zu!
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 11– Bundesministerium für Arbeit und Soziales – in derAusschussfassung. Hierzu liegen fünf Änderungsanträgevor, über die wir zuerst abstimmen.Wir beginnen mit der Abstimmung über den Ände-rungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache17/7830. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ände-rungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion undder FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktionund der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FraktionBündnis 90/Die Grünen abgelehnt.Wir kommen nun zu zwei Änderungsanträgen derFraktion Die Linke.Abstimmung über den Änderungsantrag auf Druck-sache 17/7831. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Frak-tion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen dieStimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.Abstimmung über den Änderungsantrag auf Druck-sache 17/7832. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist ge-gen die Stimmen der Linksfraktion abgelehnt.Wir kommen schließlich zu zwei Änderungsanträgender Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Abstimmung über den Änderungsantrag auf Druck-sache 17/7833. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ände-rungsantrag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion undder FDP-Fraktion gegen die Stimmen der FraktionBündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke beiEnthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17087
Vizepräsidentin Petra Pau
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Dann kommen wir zur Abstimmung über den Ände-rungsantrag auf Drucksache 17/7834. Wer stimmt dafür? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch dieserÄnderungsantrag ist abgelehnt.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzel-plan 11 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Einzel-plan 11 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-gen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom-men.Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt– Drucksachen 17/6277, 17/6853, 17/7065,17/7330, 17/7775 –Berichterstattung:Abgeordneter Stefan Müller
Wir kommen gleich zur Abstimmung. Der Vermitt-lungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Ge-schäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundes-tag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist.Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermitt-lungsausschusses auf Drucksache 17/7775? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen ange-nommen.Wir setzen nun die Haushaltsberatungen fort.Ich rufe Tagesordnungspunkt II.16 auf:Einzelplan 17Bundesministerium für Familie, Senioren,Frauen und Jugend– Drucksachen 17/7116, 17/7123 –Berichterstattung:Abgeordnete Andreas MattfeldtRolf SchwanitzFlorian ToncarSteffen BockhahnSven-Christian KindlerHierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktionen derSPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, zwei Ände-rungsanträge der Fraktion der SPD, zwei Änderungsan-träge der Fraktion Die Linke sowie ein Änderungsantragder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über drei Än-derungsanträge werden wir später namentlich abstim-men.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Caren Marks für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! FrauMinisterin, gestern titelte eine große deutsche Tageszei-tung: „Regierung führt Kristina Schröder vor“. Der Arti-kel bezog sich auf die in letzter Sekunde von der Koalitionzurückgenommene Kürzung in Höhe von 2 MillionenEuro bei den Programmen gegen Rechtsextremismus. DieKoalitionsspitze hat Sie, Frau Ministerin, ausgebremstund Ihnen die gelbe Karte gezeigt, und ich sage: zu Recht.
Die von Ihnen geplanten Kürzungen waren ein verhee-rendes politisches Signal. Rechtsextremismus muss mitallen Mitteln, und zwar entschieden, bekämpft werden.
Auch bei einem anderen Thema, für das FrauSchröder zuständig ist, nehmen nun andere das Heft desHandelns in die Hand. „Jeder gegen jeden beim Betreu-ungsgeld“, schrieb gestern eine andere Tageszeitung undberichtete von einem geplanten Krisengespräch nächsteWoche, bei dem Sie, Frau Ministerin, gar nicht eingela-den sind.
– Ich denke, das ist deutlich.Frau Ministerin, heute geht es nicht nur um die Wei-chenstellungen in Ihrem Etat für das kommende Jahr2012. Es geht vielmehr um die Frage: Was ist wichtigund richtig für eine moderne Familien- und Gesell-schaftspolitik? Doch ich bezweifle sehr, dass Sie als zu-ständige Bundesministerin die Probleme in der Gesell-schaft überhaupt erkennen. Ich nenne nur ein paardavon: eine mangelnde Vereinbarkeit von Familie undBeruf, eine zu geringe Zahl von Krippenplätzen undGanztagsangeboten, eine nach wie vor mangelhafteGleichstellungspolitik für Frauen und Männer und einevorhandene Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierungvon Minderheiten in unserer Gesellschaft. Hier erwartendie Menschen zu Recht Antworten von Ihnen, FrauMinisterin.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Kommentar auftagesschau.de vom 16. November hat sich eingehendmit dem Erscheinungsbild der Ministerin beim ThemaRechtsextremismus beschäftigt und mahnt an, dass wirverantwortungsvolle Politiker brauchen, die nicht aus– Zitat – „ideologischer Geschwätzigkeit heraus Gräbenaufreißen, wo gar keine sind“.
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17088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Caren Marks
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Bei Frau Schröder komme – Zitat – „kein Satz ohne ein‚aber‘“ aus. Das wird in dem Artikel zu Recht bemän-gelt. Er trifft damit den Kern des Problems.Die Ministerin reißt nicht nur hier mit ihrer „Ja,aber“-Politik Gräben auf: Programme gegen Rechts-extremismus ja, aber Sie zweigen hiervon Mittel für dieBekämpfung des Islamismus und des Linksextremismusab. Fördermaßnahmen zur Gleichstellung von Frauenund Männern ja, aber Sie kürzen bei Maßnahmen fürMädchen und Frauen zugunsten von Jungen- und Män-nerprojekten. Was die Förderung der Antidiskriminie-rungsstelle angeht, kann noch nicht einmal von einer „Ja,aber“-Politik die Rede sein. Denn die Ministerin spartdie Antidiskriminierungsstelle im wahrsten Sinne desWortes kaputt und ignoriert damit den Auftrag des All-gemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Das alles ist ver-antwortungslos, Frau Ministerin.
Frau Schröder, Sie spielen mit dieser ideologisch ge-leiteten Politik Gruppen in unserem Land gegeneinanderaus und nehmen die gesellschaftliche Spaltung in Kauf.Sie relativieren wirklich drängende Probleme und habensich offensichtlich davon verabschiedet, für die Men-schen einzutreten, für die Sie als Ministerin für Familie,Senioren, Frauen und Jugend zuständig sind.So brauchen Eltern Verlässlichkeit in der Familien-politik. Diese benötigen sie gerade beim Betreuungsaus-bau. Familien fordern wirklich zu Recht, dass der Staatein bedarfsdeckendes Angebot an frühkindlicher Bil-dung und Betreuung zur Verfügung stellt. Die aktuellenZahlen des Statistischen Bundesamtes haben uns docherneut deutlich vor Augen geführt, dass beim Krippen-ausbau noch viel zu tun ist. Bis zum Inkrafttreten desRechtsanspruchs bleiben uns nicht einmal mehr zweiJahre. Es ist höchste Zeit.Die SPD-Bundestagsfraktion fordert deshalb, für2012 300 Millionen Euro zusätzlich in den Ausbau zuinvestieren, und wir haben diese Forderung selbstver-ständlich mit einem Finanzierungskonzept verbunden.Wir sehen als SPD ganz klar eine gesamtgesellschaftli-che Aufgabe, bei der Bund, Länder und Kommunen ineinem Boot sitzen und diese Aufgabe gemeinsam zu be-wältigen haben. Wegducken hilft hier nicht weiter, FrauMinisterin.
Uns allen ist seit langem bekannt: Erstens. Der Bedarfan Krippenplätzen ist höher als 2007 angenommen.Zweitens. Das Ausbautempo ist zu gering und mussdringend gesteigert werden. Drittens. Es gibt einen Fach-kräftemangel, der dringend behoben werden muss, umdas Ausbauziel erreichen zu können.
Deshalb sagen wir zu Recht – wir haben viele Bündnis-partner an unserer Seite –: Es muss dringend ein neuerKrippengipfel einberufen werden, um all diese Problemegemeinsam anzupacken.
Doch das alles scheint die Bundesregierung nicht zuinteressieren. Sie gucken gelangweilt, Frau Ministerin,und legen die Hände in den Schoß. Regierung und Ko-alitionsfraktionen streiten sich stattdessen seit Monaten– in den letzten Tagen hat der Streit noch an Intensitätzugenommen – immer heftiger über das Betreuungsgeld.Dieses Betreuungsgeld wäre nicht nur eine bildungs-und gleichstellungspolitische Katastrophe, sondern auchverfassungsrechtlich höchst problematisch. Über Jahrehinweg würden Milliarden aus dem Bundeshaushalt ge-bunden werden. Auch haushalterisch gesehen ist verant-wortliche Politik eine andere.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich finde, eswäre endlich an der Zeit, diesen immer bizarrer werden-den Streit ad acta zu legen und auf diese unsinnige Fern-halteprämie – denn das ist und bleibt sie – zu verzichten.
Investieren Sie stattdessen mehr in den Ausbau von Bil-dung und Betreuung; denn das wünschen und brauchenEltern und Kinder in unserem Land.Es ist notwendig, das Ruder bei der Familienpolitikherumzureißen. Ich bezweifle allerdings, dass Sie, FrauMinisterin, dafür die richtige Person sind.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Andreas Mattfeldt für die
Unionsfraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte FrauMinisterin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! DieBeratungen zum Haushalt 2012 standen unter dem Ein-fluss der Verschuldungskrise innerhalb der Euro-Zone.Aufgrund dieser Doppelbelastung waren es für unsHaushälter nicht ganz einfache Beratungen, und ich sageehrlich: Ich hätte mir gewünscht, wir hätten ein wenigmehr Zeit für die Beratungen gehabt. Dennoch hat mirdie Verschuldungskrise in Griechenland, Portugal, Ita-lien und Spanien – um nur einige Länder zu nennen –gezeigt, dass auch wir bei der Aufstellung des Bundes-haushaltes äußerste Ausgabendisziplin aufzeigen müs-sen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17089
Andreas Mattfeldt
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Zahlreiche Anträge auf Mehrausgaben im Haushaltdes Familienministeriums sind schriftlich, aber auch inungezählten mündlichen Gesprächen mit Abgeordnetensowie seitens der Sozialverbände und Institute oderdurch Vertreter sozialer Projektförderung an mich heran-getragen worden. Dabei habe ich mir vieles Wünschens-werte und Nachvollziehbare angeschaut und abgewogen,ob wir Mittel zur Finanzierung einsetzen oder ob es viel-leicht eben nicht darstellbar ist; denn mit Blick auf dieSchuldenbelastung in unserem Land, die von den jungenMenschen bezahlt werden muss, und die eben nicht posi-tive demografische Entwicklung ist auch im Bereich derfreiwilligen sozialen Ausgaben größte Ausgabendiszi-plin gefordert.Ich habe mich davon überzeugen können, dass wirviele Ausgaben für Verbände, Institute oder Projekte fi-nanzieren, die sinnvoll sind und von denen die Men-schen im Land profitieren. Ich habe aber genauso gese-hen – ich sage das ganz provokant –, dass zahlreicheProjekte, Institutionen oder Verbände, die durch hart er-arbeitete Steuermittel finanziert werden, nicht dafür sor-gen, dass es den Menschen in unserem Land besser geht.Nein, oft geht es auch um die Arbeitsplatzsicherung vonMitarbeitern in einem für mich schier undurchschauba-ren Dschungel der sozialen Dienstleistungen.
Manche in unserem Land sprechen hier bereits von derSozialindustrie.
Ich habe mir die Mühe gemacht, mir zahlreiche Ein-richtungen, die Mittel aus dem Familienministerium er-halten, anzuschauen. Der Blick hinter die Kulissen warvielfach sehr aufschlussreich; denn gerade wenn manhinterfragt hat, was der Verein oder der Verband genaumacht und welche positive Wirkung hierdurch bundes-weit für die Menschen erzielt wird, blieb ab und an dochwenig übrig.
Erschreckend ist in diesem Zusammenhang, wie diese– jetzt nutze ich auch einfach mal diese Bezeichnung –„Sozialindustrie“ in unserem Land reagiert, wenn dievon einer breiten Mehrheit des Bundestages geforderteSchuldenbremse umgesetzt wird. Die Reaktionen, wennfinanzielle Wünsche nicht komplett umgesetzt werden,sind bemerkenswert.
Mit medialem Druck wird versucht, Forderungen umzu-setzen, und in der Öffentlichkeit wird ein schwarz-wei-ßes Bild vom jeweiligen Parlamentarier, der diese Forde-rung nicht erfüllt, gezeichnet.Meine Damen und Herren, die Menschen, die jedenTag hart arbeiten und das finanzieren, was wir hier viel-fach großzügig verteilen, wollen sehen, dass mit ihremhart erarbeiteten Geld etwas erreicht wird und dass hier-von bei ihnen wieder etwas ankommt. Ob hierzu der50 000. Flyer oder die 6 000. Broschüre von EinrichtungA, B oder C zielführend ist? Ich denke, nein.
Das gilt auch für die Antidiskriminierungsstelle. IhrVorwurf, Frau Marks, wir hätten die Mittel für die ADSso gekürzt, dass eine Aufgabenwahrnehmung nicht mehrmöglich sei,
entbehrt jeder Grundlage. Richtig ist, dass die ADS inzahlreichen Haushaltsstellen erheblich mehr Mittel alsim vergangenen Haushaltsjahr beantragt und gewünschthat.
Im Zuge einer Prüfung haben wir dann aber festgestellt,dass dieser zusätzlich gewünschte Mehrbedarf in keinerWeise dem realisierten Abfluss von Mitteln entspricht.Nur zur Klarstellung: Bis zum 16. November sind beiden den realistischen Gegebenheiten angepassten Haus-haltsstellen gerade einmal 35 Prozent abgeflossen.
Eine Anpassung hat hier also auch mit Haushaltsklarheitzu tun, die uns durch das Haushaltsrecht zwingend vor-geschrieben ist. Ich sage deutlich: Es gibt auch zukünftignoch genug Luft für die Realisierung von zahlreichenProjekten.
Ich appelliere deshalb daran, dass Sie mit uns dafürkämpfen, dass die Einhaltung der Schuldenbremse bis indie kleinste Verwaltungseinheit, sowohl im Ministeriumals auch bei allen Empfängern von Steuergeldern, verin-nerlicht wird; denn auch wenn in diesen Tagen die Wirt-schaft brummt und die Steuereinnahmen aufgrund klu-ger politischer Entscheidungen anständig ausfallen,werden wir uns dauerhaft nicht mehr alles leisten kön-nen, was wünschenswert ist. Wo es hinführt, wenn wirnicht jede Ausgabe hinterfragen, sehen wir nicht nur anGriechenland oder Italien, sondern eben auch an unse-rem eigenen Haushalt. Auch wir Deutsche haben jahr-zehntelang über unsere Verhältnisse gelebt, und wir fan-gen erst jetzt wieder zaghaft damit an, dass uns dersparsame Umgang mit Steuergeldern in Fleisch und Blutübergeht.Kritisch müssen wir feststellen, dass auch der Etat desFamilienministeriums während der Beratungen von
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17090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Andreas Mattfeldt
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6,48 Milliarden Euro auf 6,78 Milliarden Euro aufge-stockt wurde. Dies liegt nicht daran, dass wir Wasserpredigen und Wein trinken und im eigenen Etat nochaufgesattelt haben, um das eine oder andere Projekt zuverwirklichen. Nein, der Aufwuchs liegt zuallererst da-ran, dass wir den Ansatz für das Elterngeld um 300 Mil-lionen Euro auf 4,9 Milliarden Euro erhöhen mussten.
In der Betrachtung ist das natürlich eine erfreuliche Ent-wicklung; denn das zeigt uns, dass a) die Löhne auf-grund guter wirtschaftlicher Entwicklung steigen und b)vor allen Dingen immer mehr Väter Gebrauch von denVätermonaten machen. Die Eltern haben einen gesetzli-chen Anspruch auf das Elterngeld, und deshalb ist estrotz der Notwendigkeit der Schuldenbremse richtig, denAnsatz realistisch anzupassen.Wir haben in diesem Haushalt darüber hinaus die Ent-schädigung der misshandelten Heimkinder dargestellt.Dies war haushaltstechnisch und haushaltsrechtlich allesandere als eine einfache Angelegenheit;
denn obwohl den Bund kein unmittelbares Verschuldentrifft – die Träger der Heime, das wissen Sie, waren häu-fig die Kirchen –, verstehen wir es als Signal, diesen Op-fern Wiedergutmachung zukommen zu lassen. Insge-samt wurde am Runden Tisch vereinbart, dass der Bundüber vier Jahre verteilt insgesamt 40 Millionen Euro be-reitstellt. Dies ist im Haushalt abgebildet.
Ein Punkt, der vor allen Dingen der Ministerin sehram Herzen liegt, ist die Unterstützung von ungewolltkinderlosen Paaren bei der oft notwendigen medizini-schen Kinderwunschbehandlung. Ich gebe offen zu, dassich über die Notwendigkeit einer Bereitstellung von Mit-teln lange nachgedacht habe. Aber nach eingehender Be-trachtung, auch in emotional ergreifenden Gesprächenmit Betroffenen, bin ich zu der tiefen Überzeugung ge-kommen, dass es richtig ist, hierfür Mittel einzustellen.Wir werden in 2012 mit 7 Millionen Euro die Kinder-wunschbehandlung unterstützen. Ich bin sicher: Das istgut angelegtes Geld, und das kommt direkt den Men-schen zugute.Lassen Sie mich noch kurz ein Wort zum Extremis-mustitel verlieren. Wir haben am Dienstag die Mittel fürdiesen Titel um 2 Millionen Euro angehoben.
Das ist ein erheblicher Aufwuchs, zumal erheblicheKosten an einen Dienstleister wegfallen, der noch imvergangenen Jahr die Verwaltung der Extremismuspro-gramme extern vorgenommen hat; die werden jetztdurch eigenes Personal verwaltet. Schnell vergessenwurde, dass es Kristina Schröder war, die bereits 2010die Mittel für diesen Titel um 5 Millionen Euro erhöhthat.
Ihre parteipolitischen Vorwürfe, Frau Marks, sind ab-strus und unter Demokraten, die in dieser Sache ein ge-meinsames Ziel verfolgen, in meinen Augen unwürdig.Ich sage deutlich: Eine solche Debatte dient nur dem ex-tremen Bereich in Deutschland. Das lasse ich nicht zu.
Es bleibt zu hoffen, dass diese Mittel im Gegensatz zu2011 – bis zum 15. November sind in diesem Bereich le-diglich 60 Prozent von 29 Millionen Euro abgeflossen –zukünftig auch in der Summe zielgerichtet eingesetztwerden können.
– Herr Bockhahn, arbeiten Sie daran. Lassen Sie uns ab-warten, wie die Mittel in Zukunft abfließen. Ich bin danoch sehr skeptisch.Wir blicken insgesamt auf sehr erfolgreiche Haus-haltsberatungen zurück. In diesem Zusammenhang giltmein Dank nicht nur Ministerin Schröder und ihrenStaatssekretären, sondern ganz besonders allen beteilig-ten Mitarbeitern des Ministeriums, mit denen wir in denletzten Monaten hervorragend zusammengearbeitet ha-ben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Steffen Bockhahn für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen! Herr Kollege Mattfeldt, ich binwirklich schwer überrascht davon, wie Sie die Arbeitvon Sozialverbänden in der Bundesrepublik Deutschlandhier diskreditieren und ihnen per se Steuerverschwen-dung vorwerfen. Das ist unfassbar!
Ich möchte an dem Punkt weitermachen, mit dem Sieaufgehört haben, nämlich mit dem Etat für die Extremis-musprävention. Es ist sehr gut, dass der Etat zur Be-kämpfung des Rechtsextremismus wieder erhöht wordenist, besser gesagt, dass doch nicht gekürzt worden ist.
Denn jetzt stehen wieder 29 Millionen statt bisher27 Millionen Euro im Einzelplan. Es ist allerdingsschlimm – ich kann mir nicht ersparen, das zu sagen –,dass es eines solchen Anlasses bedurfte, um das möglichzu machen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17091
Steffen Bockhahn
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Ich muss es so sagen: Ich bezweifle ernsthaft, dass in-zwischen alle verstanden haben, was zu tun ist. Dennwenn ich mir die Interviews der Ministerin und dieHandlungsweisen in diesem Bereich anschaue, dannmuss ich ernsthaft daran zweifeln, dass es alle verstan-den haben, zumal die Zuständigen.
Ein abschreckendes Beispiel dafür sind die unter-schiedlichen Förderquoten. Projekte, die sich mit der Be-kämpfung von Rechtsextremismus befassen, werden mitmaximal 50 Prozent durch den Bund gefördert. Projekte,die sich mit vermeintlichem Linksextremismus befassensollen, brauchen hingegen nur 10 Prozent Eigenanteilaufzubringen, weil sie mit bis zu 90 Prozent durch dasBundesministerium gefördert werden. Objektiv handeltes sich hier um eine Ungleichbehandlung durch dasMinisterium. Das ist ein fatales und falsches Signal, FrauMinisterin. Machen Sie das rückgängig!
Wir müssen auch darüber nachdenken, wer die Ver-antwortung für diese Aufgabe trägt. Bisher sind es for-mal allein die Kommunen und die Länder. Der Bund istnur impulsgebend aktiv, betreibt also nur Projektförde-rung. Langfristige, fundierte Arbeit durch institutionelleFörderung ist derzeit nicht gewollt. Ich halte das fürfalsch. Der Einsatz für Demokratie, Toleranz und Frei-heit ist Aufgabe der gesamten Gesellschaft. Auch derBund sollte hier mehr tun.
Auch die Länder können und müssen wieder mehrtun. Kommunen, die Projekte trotz schwerer Haushalts-lagen ermöglichen wollen, müssen durch die Rechtsauf-sichtsbehörden in den Ländern die Möglichkeit dazu be-kommen. Projekte für Demokratie und Toleranz, liebeKolleginnen und Kollegen, sind keine freiwilligen Auf-gaben. Sie sind erste Bürgerpflicht. Sie müssen möglichsein und möglich bleiben.
In den letzten Tagen wurde in vielen Medienberichtendarauf hingewiesen, dass die Ministerin gesagt hat, dassnoch 8,5 Millionen Euro übrig sind bzw. noch nicht ab-gerufen worden sind. Wie kommt denn so etwas zu-stande? In Mecklenburg-Vorpommern gibt es zehn lo-kale Aktionspläne, einen davon in Demmin. Anfänglichwurde er mit 100 000 Euro unterstützt. Ein breites zivil-gesellschaftliches Bündnis beteiligte sich daran. Eswurde extra ein Begleitausschuss mit Parteien, Vereinen,Verbänden und zivilgesellschaftlichen Akteuren gebil-det. 65 Projekte wurden erfolgreich durchgeführt undbegleitet. In diesem Jahr gab es aber laut Plan nichtmehr 100 000, sondern nur noch 40 000 Euro. Der Land-kreis hat trotz erheblicher Haushaltsnotlage einen or-dentlichen Eigenanteil geleistet. Fakt bleibt, dass diesesJahr 60 000 Euro weniger nach Demmin geflossen sindals zu Beginn des Förderplans. Daher ist es auch keinWunder, wenn im Ministerium noch Geld übrig ist. Sienennen es degressive Förderungen, ich nenne es Kür-zung.
Verteilen Sie das Geld so, dass die Projekte, die esbrauchen, es auch bekommen. Davon gibt es genügend,auch wenn Sie das vielleicht nicht wahrhaben oder ak-zeptieren wollen, Frau Ministerin. Aber mit der Akzep-tanz von Realitäten scheint es bei Ihnen ohnehin schwie-rig zu sein. Ich habe Ihr Zeitungsinterview vom letztenFreitag gelesen und muss feststellen: Sie haben erhebli-che Wahrnehmungsstörungen. Sie behaupten dort, dassdie Opposition im Haushaltsausschuss des DeutschenBundestages einer Kürzung der Mittel im Extremismus-bereich zugestimmt hat. Das ist schlicht unwahr; das isteine Lüge. Nehmen Sie das hier zurück, Frau Ministerin!
Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen, der hierschon thematisiert wurde. Das sind die Kürzungen beider Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Herr KollegeMattfeldt, Sie machen es sich ein bisschen zu einfach,wenn Sie behaupten, dass der Mittelabfluss nicht so ist,wie Sie sich das vorstellen. Wenn Sie sich die Ar-beitsprogramme genau anschauen, dann wissen Sie, dasshier langfristige Kampagnen geplant sind und dass Mit-tel angespart werden. Wenn Sie sich die Arbeitspläne fürdas nächste Jahr anschauen, dann wissen Sie, dass einegroße, breit angelegte Kampagne gegen Altersdiskrimi-nierung, für die Unterstützung zugesichert ist, geplantwar. Ob die jetzt noch möglich sein wird, ist mehr alsfraglich.
Sie stellen sich hier als großer Haushaltssanierer dar undkürzen 367 000 Euro, ein Achtel des Gesamtbudgets derADS, weg. Sie nehmen 26 Milliarden Euro neue Schul-den auf. Da kann es doch an 367 000 Euro für zivilge-sellschaftliches Engagement nicht fehlen.
Was Sie da treiben, ist unfassbar. Genauso unfassbar ist,in welches Licht Sie die Antidiskriminierungsstelle stel-len. Wenn man sich die Blogs auf Ihrer Website an-schaut,
dann weiß man, was eigentlich dahintersteckt; das ist dasProblem.
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17092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Steffen Bockhahn
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Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, ichkann es Ihnen an dieser Stelle nicht ersparen, auch Sie zukritisieren. Wir haben gemeinsam gegen die Kürzungenprotestiert. Dass Sie aufgrund kleingeistiger parteipoliti-scher Denke einen gemeinsamen Änderungsantrag derOppositionsfraktionen verhindert haben, ist ein schlech-tes Signal. Es hätte die Chance auf einen gemeinsamenAntrag gegeben. Aber Sie wollten das nicht. Das istnicht in Ordnung. Das ist ein falsches Signal. Das kriti-sieren wir. Aber vor allen Dingen kritisieren wir die Kür-zungen.
Das Wort hat die Kollegin Gruß für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Ministerin! Es ist unbestrit-ten: Wir alle sind bestürzt und traurig. Gerade uns Fami-lienpolitikerinnen und Familienpolitiker macht es sehrbetroffen, wenn Eltern ihre Tochter verlieren oder Kin-der ihren Vater. Wir alle stehen geschlossen hinter denAngehörigen der Opfer rechtsextremer Gewalt. Derenungeheuerliches Ausmaß hat uns alle schockiert. Ichmöchte an dieser Stelle an die gute Stunde erinnern, diewir am Dienstag im Deutschen Bundestag gemeinsambegangen haben.Die Initiative der Justizministerin, FrauLeutheusser-Schnarrenberger, begrüße ich sehr. Die An-gehörigen müssen entschädigt werden; denn sie lebenmit dem Schmerz ihr ganzes Leben. Die Vorfälleverdeutlichen uns einmal mehr, wie wichtig die Präven-tion von Rechtsextremismus ist. Mein KollegeBernschneider wird darauf genauer eingehen. Aber eineswill ich doch festhalten: Die Mittel zur Bekämpfung al-ler Formen von Extremismus wurden seit dem Ende vonRot-Grün fast verdreifacht. Das zeigt, wie ernst wir die-ses Thema nehmen.
Nun kommt Kritik aus der Opposition zu den Mittel-kürzungen bei der Antidiskriminierungsstelle. Ich bittedarum, dass sich die Aufregung hier legt, bei allem Ver-ständnis dafür. Wir alle sind uns doch einig: Diese wich-tige Stelle muss ihre gesetzlichen Aufgaben unbedingterfüllen können. Sie hat jedoch 2011 ihr Budget nichtausgeschöpft. Die Antidiskriminierungsstelle nimmt ei-nen deutlichen sechsstelligen Betrag an unverbrauchtenMitteln mit in das nächste Jahr. Allein für den BereichÖffentlichkeitsarbeit wurden für das Jahr 2011200 000 Euro veranschlagt. Aber es zeichnet sich ab,dass nur gut 50 000 Euro davon ausgegeben werden, dasheißt ein Viertel, meine Damen und Herren. Die Antidis-kriminierungsstelle sollte arbeiten, bevor etwas passiert.Vor diesem Hintergrund ist ein so großer Übertrag insnächste Jahr nicht zu verstehen.Nun komme ich zum allgemeinen Etat. – Die Gesell-schaft insgesamt befindet sich in einem tiefgreifendenWandel. Die Aufgabe von uns Politikerinnen und Politi-kern ist es, diesen Wandel zu begleiten und zu gestalten.Im Mittelpunkt stehen dabei für uns stets die Kinder. Wirwerden deshalb gezielt investieren, um Kindern Schutzund Chancen zu bieten.Ich erinnere an dieser Stelle an das Bundeskinder-schutzgesetz und insbesondere die Initiative der FDP fürdie Familienhebammen. Ich appelliere noch einmal analle hier im Hause, diesem guten Gesetz nicht den Wegzu versperren, sei es über die Länder oder über andereWege.
Ich erinnere daran, dass wir als schwarz-gelbe Koali-tion mehr in die frühkindliche Bildung investieren, auchvon Bundesseite, als das jemals in einem Haushalt zuvorgeschehen ist, und zwar mit der Bundesinitiative „Offen-sive Frühe Chancen“.Was die Familien anbelangt, wollen auch wir die Rah-menbedingungen verbessern. Insbesondere sollten wirFamilien in den Blick nehmen, die ungewollt kinderlossind. Ich freue mich deshalb sehr, dass in diesem Etat7 Millionen Euro, wenn auch noch gesperrt, bis ein trag-fähiges Konzept vorliegt, für Familien zur Verfügunggestellt werden, die ungewollt kinderlos sind. Wir wol-len die Bedingungen verbessern, diesen Familien Chan-cen eröffnen und den Etat in den früheren Stand verset-zen; die Mittel sind ja gekürzt worden, als wir noch nichtregiert haben. Nirgendwo ist es so offensichtlich, dassein Mitteleinsatz tatsächlich direkt zu mehr Kindernführt. Wir freuen uns deswegen über die Initiative für dieannähernd 2 Millionen ungewollt kinderlosen Paare inDeutschland.
Zum Elterngeld ist schon einiges gesagt worden.Zum Betreuungsgeld. Es ist ganz klar, dass es nichtvon uns auf den Weg gebracht worden ist, sondern da-mals von Schwarz-Rot und dass es einen Zusammen-hang zwischen dem Ausbau der Betreuung und dem Be-treuungsgeld gab. Von daher appelliere ich auch an dierot-grün regierten Länder, beim Ausbau der Betreuungihre Hausaufgaben zu machen; denn wir schaffen wahreWahlfreiheit nur dann, wenn auch die Länder ihre Zusa-gen einhalten und ihre Gelder in den Ausbau der Betreu-ung investieren.
Mit Interesse verfolge ich diverse Debattenbeiträgezum Betreuungsgeld. An der Stelle nur ein Appell auchan Bayern, auch wenn ich selbst von dort komme. DieVerhandlungsführer sitzen im Deutschen Bundestag. Ichfreue mich auf die gemeinsame Arbeit. Die FDP stehtfür die Gespräche zur Verfügung. Unsere Positionensind, denke ich, klar. Der grobe Rahmen ist abgesteckt.Die Ausgestaltung jedoch ist noch offen. Für die diver-sen Änderungswünsche und für diverse Ausgestaltungs-optionen ist die FDP offen.Vielen Dank.
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Die Kollegin Monika Lazar hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die rechtsextreme Mordserie der letzten Jahre hat wahr-scheinlich dem Letzten hier im Hause die Augen dafürgeöffnet, dass die Auseinandersetzung zum ThemaRechtsextremismus, Rassismus und gruppenbezogeneMenschenfeindlichkeit eine Daueraufgabe für die ge-samte Gesellschaft ist. Deshalb ist es gut gewesen, dasswir den gemeinsamen Entschließungsantrag am Diens-tag wirklich als ganzes Haus verabschiedet haben.
Jetzt ist es allerdings wichtig, dass daraus Taten folgen.
Der erste Schritt, die Rücknahme der Kürzung um2 Millionen Euro, die vorhin schon angesprochen wurde,ist ein richtiger Schritt. Allerdings bedeutet das natür-lich, dass es weitergehen muss. Ich habe die Befürch-tung, dass das bei der Ministerin immer noch nicht ange-kommen ist. Sie, Frau Ministerin, zeigen sich immernoch uneinsichtig und haben ausgerechnet am Dienstageine peinliche – so kann ich nur sagen – Pressemitteilungherausgegeben. Sie wollen es wahrscheinlich wirklichnicht merken. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeitmuss man beim Namen nennen.
Das Versagen der Behörden zeigt uns, dass der Staatauf das Know-how der zivilgesellschaftlichen Initiativenangewiesen ist. Deshalb fordern wir eine Erhöhung derMittel. Wir fordern 50 Millionen Euro für ein neuesBundesprogramm. Das Geld ist eine gute Investition inunsere Demokratie und stärkt vor allem die Initiativenund Menschen, die in unserem Land dort tätig sind, woes manchmal nicht mehr so viele aufrechte Demokratengibt. Allerdings reicht Geld allein auch da nicht; denndie Arbeit wird noch durch andere Brocken erschwert.Ich erwähne nur die Extremismusklausel. Sie alle müs-sen doch endlich begriffen haben, dass diese Klauselwegmuss.
Aber die Ministerin merkt das nicht. Sie verteidigt sieweiterhin und drangsaliert die Initiativen damit. Ich kannnur sagen: Hören Sie endlich auf damit! Unterhalten Siesich mit den Initiativen und Antragstellern; denn siemerken, dass es da nicht vorangeht.Es gibt außerdem keinen Beleg dafür, dass Antrag-steller in den letzten Jahren, seit es die Bundespro-gramme gibt, die Gelder zweckentfremdet haben. Des-halb gibt es keinen Grund für diese Klausel. Die StadtJena – jeder kennt sie mittlerweile – hat keine Mittel be-antragt, weil sie diese Verdachtsklausel nicht unterzeich-nen will.
– Da nickt sogar der Jenaer Kollege von der FDP, der dasaus der Praxis kennt.
Ich bin auch froh, dass jetzt die erste Initiative gegendie Extremismusklausel klagt, und zwar die AKuBiZ-Initiative aus Pirna, die letztes Jahr schon den sächsi-schen Demokratiepreis wegen dieser Klausel abgelehnthat.Demokratie lässt sich nicht per Verwaltungsakt absi-chern. Wichtig und richtig ist: Eine aktive Zivilgesell-schaft ist das beste Nazi-Abwehrzentrum. Deshalb müs-sen wir an dieser Stelle investieren.
Wir brauchen eine unbürokratische und vertrauensba-sierte Förderung, insbesondere für die Strukturprojekte,wo seit über zehn Jahren eine qualitativ hochwertige Ar-beit geleistet wird. Mobile Beratungsteams müssen gesi-chert werden. Opferberatungsstellen müssen in Ost undWest ausgebaut werden.Wichtig ist weiterhin, dass kleine Träger ein direktesAntragsrecht beim Bund haben; das wurde vorhin schonangesprochen. Bis jetzt läuft das meistens über denLandkreis oder die Kommune. In den dortigen Verga-beausschüssen sitzen manchmal Leute, die das eher be-hindern und die aktiven Initiativen als Nestbeschmutzerbezeichnen.
Ein weiterer Punkt, der ebenfalls schon angesprochenwurde, ist die Kofinanzierung. Frau Schröder, Sie kön-nen es uns in Ihrer Rede erklären: Warum ist bei Projek-ten gegen Rechtsextremismus ein Eigenanteil von 50 Pro-zent und bei Projekten gegen vermeintlichen Linksextre-mismus nur ein Eigenanteil von 10 Prozent erforderlich?Das verstehe ich nicht.
Das ist völlig unlogisch. Wir müssen der Diskriminie-rung entgegentreten, und zwar in der gesamten Gesell-schaft.Deshalb möchte ich zum Schluss noch kurz auf dieAntidiskriminierungsstelle zu sprechen kommen. DieAusstattung mit 2,9 Millionen Euro war schon nicht üp-pig und nicht ausreichend. Es ist nicht nachvollziehbar,warum die Koalition noch einmal um circa 12 Prozentkürzen muss, insbesondere vor dem Hintergrund, dassdie Kampagne für das nächste Jahr schon geplant wurde.Wir haben deshalb in einem Änderungsantrag gefordert,
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17094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Monika Lazar
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dass die Antidiskriminierungsstelle ausreichend ausge-stattet wird.
Ein anderes Thema, bei dem ich mich sehr geärgerthabe, ist, dass die Mittel für die Bundeszentrale für poli-tische Bildung gekürzt wurden. Das wurde schon amDienstag bei der Debatte über den Einzelplan für das In-nenressort besprochen. Wenn wir alle der Meinung sind,dass politische Bildung wichtig ist, dann kann nichtgleichzeitig einer überparteilichen Initiative wie dieserBundeszentrale das Geld gekürzt werden.
Von daher sollte uns diese Haushaltsberatung Anlassgeben, dass wir noch einmal nachdenken. Wir haben janachher die namentlichen Abstimmungen. Es ist gut,dass wir uns in diesem Hause alle einig sind. Aber esmüssen auch Taten folgen. Die Menschen im Landeschauen jetzt ganz genau, wie das Geld verteilt wird. Siehaben in dieser Woche noch die Gelegenheit, dieSchwerpunkte richtig zu setzen. Wir geben Ihnen Anre-gungen. Sie können sie aufnehmen und unseren Anträ-gen zustimmen.Vielen Dank.
Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend, Dr. Kristina Schröder, hat das Wort.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es scheint bei einigen in Vergessenheit geraten zu sein,
dass die Ausgaben für die Extremismusprävention nur
einen Teil des Familienetats ausmachen. Sie arbeiten
sich hier an wichtigen 29 Millionen Euro ab; keine
Frage.
Ich werde darauf auch noch zu sprechen kommen. Aber
vorher möchte ich gern über die anderen 6,7 Milliarden
Euro reden. Es wäre nämlich schön, wenn sich auch die
Opposition wirklich für Familienpolitik interessieren
würde; denn der gesellschaftliche Zusammenhalt be-
ginnt in den Familien.
Hierfür setzt der Einzelplan 17 die richtigen Prioritäten.
Deswegen herzlichen Dank an alle Kolleginnen und
Kollegen, die das in den parlamentarischen Beratungen
begleitet haben, vor allen Dingen an die Mitglieder des
Familienausschusses und an die Mitglieder des Haus-
haltsausschusses, insbesondere an die Berichterstatter,
Herrn Bockhahn als Hauptberichterstatter, Herrn
Mattfeldt, Herrn Toncar, Herrn Schwanitz und Herrn
Kindler.
Von den Veränderungen am ursprünglichen Entwurf
des Einzelplans 17 profitieren ganz besonders Familien.
Die Mittel für das Elterngeld wurden gegenüber dem Re-
gierungsentwurf um 300 Millionen Euro
auf 4,9 Milliarden Euro angehoben. „Schuld“ daran – im
besten Sinne – sind die Väter. 25,4 Prozent von ihnen
nehmen mittlerweile eine Auszeit im Beruf.
Väter wickeln, Väter füttern, Väter trösten, kurz: Väter
definieren ihre Rolle neu. Diesen Erfolg sehen wir auf
Spielplätzen, den sehen wir in Kinderarztpraxen, den se-
hen wir morgens auch in den Kitas, in denen man immer
mehr Väter trifft.
Das ist eine Politik der Wahlfreiheit, die den Bedürfnis-
sen der Menschen entspricht. Väter wollen sich mehr
kümmern, und wir geben ihnen die Möglichkeit dazu.
Veränderungen brauchen wir auch beim Kitaausbau.
Hier müssen vor allen Dingen die Länder ihre Anstren-
gungen deutlich erhöhen.
Man muss sich das einmal vor Augen führen: Da stehen
immer noch 900 Millionen Euro bereit, und die Länder
rufen sie nicht ab. Ich glaube, wir müssen uns hier schon
auch selbstkritisch fragen, ob wir vielleicht beim Krip-
pengipfel 2007 ein wenig zu euphorisch waren und dabei
vergessen haben, dass die Umsetzung der Beschlüsse
präzise geplant und gesteuert werden muss. Offenbar
reicht es nicht, dass wir wie bisher nur einmal im Jahr in
die Ausbaustatistik schauen. Deshalb werde ich die Be-
wirtschaftungsregelungen für den Kitaausbau ab 2012
verschärfen.
Ich will künftig von den Ländern jeden Monat ganz ge-
nau wissen, wie viele neue Plätze sie bauen wollen und
wie viel eigenes Geld sie dort hineinstecken.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Frage des Kolle-gen Bockhahn?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17095
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Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Bitte sehr. – Ich hätte Ihre Zwischenfrage eigentlicherst später erwartet.
Vielleicht werden es dann noch weitere; mal schauen.Das liegt ja an Ihnen.Frau Ministerin, Sie haben völlig zu Recht beschrie-ben, dass einige Länder – so muss man das ja sagen –beim Ausbau der Kitaplätze etwas zögerlich sind. Ist Ih-nen aber auch bewusst, dass für die Länder und vor allenDingen für die Kommunen in erster Linie nicht dieSchaffung neuer Plätze das Problem ist, sondern die Un-terhaltung der neuen Plätze auf einem entsprechendenNiveau, das heißt, dass der Betrieb der Kitas das eigent-liche Problem und deswegen oft ein Hindernis ist?Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Lieber Herr Kollege Bockhahn, Sie haben recht, dassder Betrieb der Kitas eine teure Angelegenheit und damitauch eine besondere Herausforderung ist. Dies ist aberausschließlich Aufgabe der Länder und Kommunen.
Weil der Bundesregierung dieses Problem aber bewusstist, fließen von den 4 Milliarden Euro, die wir für denKitaausbau ausgeben, 1,85 Milliarden Euro allein in denBetrieb der Kitas, und ab 2014 werden wir hierfür jähr-lich 770 Millionen Euro den Ländern zur Verfügung stel-len
– wir wissen eben genau, dass das die große Herausfor-derung ist –, obwohl es nicht die Aufgabe des Bundesist.
Es ist nämlich klar: Ab 2013 kommt der Rechts-anspruch auf einen Kitaplatz.
Auch wenn es immer wieder gerade vonseiten der SPDBestrebungen gibt, diesen Rechtsanspruch zu verschie-ben:
Er kommt. Die Eltern können sich auf uns verlassen. DieBundesregierung steht felsenfest zu den finanziellen Zu-sagen, die wir beim Krippengipfel 2007 gemacht haben.
Bei einem weiteren gesellschaftlichen Großprojektkann ich, früher als erwartet, Vollzug melden. Innerhalbvon nur einem Jahr haben wir den Zivildienst weiterent-wickelt zu einem freiwilligen Angebot, das Männernund Frauen, Menschen aller Generationen offensteht.Was mussten wir uns nicht alles von der Oppositionanhören: Die Einführung des Bundesfreiwilligendienstesschade den bestehenden Jugendfreiwilligendiensten,hieß es.
Niemals würden sich genügend Freiwillige finden.70 000 Freiwillige – das sei doch eine illusorische Zahl.Heute können wir feststellen: Sie haben sich in allenPunkten geirrt, und zwar gewaltig.
Es gibt schon jetzt mehr als 70 000 Menschen inDeutschland, die einen Freiwilligendienst leisten. FSJund FÖJ stehen besser da als je zuvor. Der Bundesfrei-willigendienst übertrifft mit über 25 000 Verträgen in nurfünf Monaten schon jetzt alle unsere Erwartungen.
Deshalb ist es an dieser Stelle Zeit für ein herzlichesDankeschön des Deutschen Bundestages an all diejeni-gen, die sich für und in den Freiwilligendiensten enga-gieren.
Meine Damen und Herren, viele Menschen engagie-ren sich auch in der Extremismusprävention. Ihr Enga-gement ist wichtig. Es ist erschütternd und beschämend,dass eine Bande von Neonazis in unserem Land 15 Jahrelang völlig unbehelligt Morde begehen konnte. Wir müs-sen ganz genau prüfen, ob hier schreckliche Fehler pas-siert sind
oder ob wir es sogar mit einem Systemfehler zu tun ha-ben.Nachdenklich macht mich aber auch, mit welchenMethoden einige hier agitieren, um parteipolitischen Ge-winn aus dieser schrecklichen Mordserie zu ziehen.
Deshalb möchte ich hier einmal einige Fakten klarstel-len:
Erstens. In der politischen Bildung geht es darum,Kinder und Jugendliche vor totalitärem Gedankengut zuschützen – egal aus welcher Ecke es kommt.
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17096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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Frau Ministerin, darf ich Sie unterbrechen? Der Kol-
lege Seifert meldet sich und möchte eine Bemerkung
machen oder eine Frage stellen. Gestatten Sie das?
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend:
Bitte sehr, Herr Seifert.
Frau Ministerin, Sie waren gerade bei Ihrer Darstel-lung des Kampfes gegen den Rechtsextremismus. Darinwollte ich Sie eigentlich nicht unterbrechen.Ich habe eine Frage, die Ihren Haushalt insgesamt be-trifft. Sie haben gesagt, dass man nicht nur über die29 Millionen Euro reden soll, sondern über die 6,7 Mil-liarden Euro, die Ihren Haushalt ausmachen. Wo bittefinde ich in Ihrem Haushalt das Kapitel, in dem steht,wie Sie mit Ihren Mitteln die UN-Behindertenrechtskon-vention umzusetzen gedenken, die seit zweieinhalb Jah-ren geltendes Recht in Deutschland ist? Ich finde es be-dauerlicherweise nicht; vielleicht können Sie mich daaufklären.Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Herr Kollege Seifert, die Umsetzung der UN-Kon-vention, die Sie ansprechen, ist in der Tat eine wichtigeAufgabe der Bundesregierung. Aber Sie sind sicherlichdarüber informiert, dass sie im Bundesministerium fürArbeit und Soziales ressortiert. Im Haushalt diesesMinisteriums finden Sie die entsprechenden Mittel.
Kommen wir zurück zur Extremismusprävention:Zweitens. Die Behauptung, man würde den Rechts-extremismus relativieren, wenn man auch Präventions-programme gegen Linksextremismus und Islamismusfördert, ist nicht nur falsch, sondern auch dumm.
Denn sie verkennt die Realitäten: Kein einziger Cent,den wir zur Prävention von Linksextremismus und isla-mistischem Extremismus ausgeben, wurde bei derRechtsextremismusprävention abgezogen.Seit ich im Amt bin, wurde für die Projekte gegenRechtsextremismus kein einziger Cent gekürzt. Auch fürdie Projektarbeit war keine Kürzung geplant, sonderndas Ganze hatte etwas mit Verwaltung zu tun. Deshalbbedeutet die Entscheidung der Koalitionsfraktionen vomDienstag, dass ich 2 Millionen Euro zusätzlich für Pro-jekte gegen Rechtsextremismus zur Verfügung habe.
Was aber macht die Opposition? Die SPD fordert inihrem Antrag, die Mittel für Programme gegen Links-extremismus und Islamismus fast um die Hälfte zu kür-zen. Die Linke will die Programme natürlich ganz ab-schaffen. Meine Damen und Herren, wenn wir dasmachen würden, dann würde das Träger wie das Anne-Frank-Zentrum, die Kreuzberger Initiative gegen Antise-mitismus, die Türkische Gemeinde in Deutschland, dasArchiv der Jugendkulturen oder auch die von Ihnen soviel zitierte Amadeu-Antonio-Stiftung treffen.
Alle diese Träger haben innovative Projekte gegenLinksextremismus und Islamismus entwickelt; sie leis-ten hier Pionierarbeit. Sie, liebe Genossinnen und Ge-nossen, wollen diese Pionierarbeit aus ideologischenGründen plattmachen.
Drittens. Fakt ist, dass diese Bundesregierung mehrGeld für die Stärkung von Demokratie und Toleranz aus-gibt als jede Bundesregierung zuvor.
Davon profitiert auch die Rechtsextremismusprävention,die wir kontinuierlich verbessern. In der letzten Förder-periode wurden 90 lokale Aktionspläne gegen Rechts-extremismus gefördert; jetzt sind es 174. Das sind rund5 000 Einzelprojekte.Nach den schrecklichen Ereignissen im Juli in Nor-wegen – auch sie hatten einen rechtsextremen Hinter-grund – habe ich den 16 Beratungsnetzwerken in denLändern aufgrund des höheren Beratungsbedarfs insge-samt 800 000 Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt.Meine Damen und Herren, ich bin umgehend bereit, denBeratungsnetzwerken noch einmal die gleiche Summezur Verfügung zu stellen.
Nun kommen wir zur Demokratieerklärung. Die Grü-nen fordern in ihrem Antrag die Streichung der Demo-kratieerklärung.
Interessant ist aber, dass sie dies nur für Träger vonProjekten gegen Rechtsextremismus fordern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17097
Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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Sie sprechen in Ihrem Antrag lediglich das Programmzur Prävention von Rechtsextremismus an. Sie sprechennicht die Initiative „Demokratie stärken“ an, bei der esum Linksextremismus und Islamismus geht. Die Grünensagen: Denen, die gegen Rechtsextremismus kämpfen,ist ein Bekenntnis zum Grundgesetz nicht zuzumuten.
Bei denen, die gegen Linksextremismus und Islamismuskämpfen, halten die Grünen dies offensichtlich für erfor-derlich. Da sieht man: Das ist Doppelmoral. – Bitte, HerrKindler.
Frau Ministerin, das Wort vergebe noch immer ich. –
Ich halte jetzt die Uhr, die, was die Redezeit Ihrer Frak-
tion angeht, ins Minus läuft,
bei dieser Frage an. Ich möchte nur darauf aufmerksam
machen; wir müssen nachher eine Einigung herbeifüh-
ren. – Bitte, Kollege Kindler.
Sehr geehrte Frau Ministerin, vielen Dank, dass Sie
die Zwischenfrage zulassen. – Wenn Sie unseren Antrag
richtig gelesen hätten, dann wäre Ihnen aufgefallen, dass
wir ein 50-Millionen-Euro-Programm „Maßnahmen für
eine demokratische Kultur, gegen Gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus“ fordern
und keine Erweiterung auf sogenannte andere Extremis-
musformen vornehmen. Das heißt, wir wollen die ent-
sprechenden Programme wie die Linkspartei streichen.
Deswegen ist da keine Extremismusklausel notwendig.
Weiterhin könnten Sie darauf eingehen, was der Wis-
senschaftliche Dienst dieses Hohen Hauses auf die An-
frage des Kollegen Thierse hin gesagt hat: Er hat klar
dargelegt, dass die sogenannte Demokratieerklärung ge-
gen die Verfassung verstößt, weil nämlich erstens das
Grundgesetz keinen Bekenntniszwang vorsieht und es in
Deutschland die Meinungsfreiheit gibt und zweitens
diese Partnerüberprüfung, die zu Schnüffelei führt, völ-
lig unverhältnismäßig ist. Deswegen hat der Wissen-
schaftliche Dienst gesagt: Die Demokratieerklärung geht
nicht mit der Verfassung zusammen.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend:
Herr Kindler, in diesem Fall verkennen Sie und auch
– das muss ich sagen – der Mitarbeiter des Wissenschaft-
lichen Dienstes – das hat uns auch Herr Ossenbühl bestä-
tigt, der dazu ein Gutachten angefertigt hat –, dass es
hier nicht um Meinungsfreiheit geht. Vielmehr geht es
darum, dass staatliche Gelder beantragt werden, die dem
Zweck dienen sollen, Extremismus zu bekämpfen sowie
Demokratie und Toleranz zu stärken. Da ist es nicht zu
viel verlangt, dass diejenigen, die staatliche Gelder in
Anspruch nehmen wollen, um Demokratie und Toleranz
zu stärken, sich gleichzeitig zu Demokratie und Toleranz
bekennen; das ist eine Selbstverständlichkeit, meine Da-
men und Herren.
Herr Kindler, Sie hatten eine Frage gestellt. Dabei haben
Sie wieder die einzelnen Extremismusarten genannt. Das
ist doch gerade der Punkt: Sie reden immer nur über
Rechtsextremismus und haben jetzt gesagt, dass Sie die
Programme nur noch auf den Rechtsextremismus aus-
richten wollen.
Die Wahrheit ist deutlich komplexer. Ich will nicht, dass
Linksextremismus von Rechtsextremisten bekämpft
wird; ich will nicht, dass Rechtsextremismus von Links-
extremisten bekämpft wird. Und ich will nicht, dass Isla-
mismus von Islamhassern bekämpft wird. Ich will, dass
Demokraten für die Demokratie kämpfen. Darum geht
es.
Ich komme zu meinem letzten Punkt, Frau Präsiden-
tin, und will mich dabei der SPD zuwenden. Auch die
SPD sollte genau schauen, was unter ihrer Verantwor-
tung passiert. In Mecklenburg-Vorpommern müssen Ki-
tabetreiber eine Demokratieerklärung unterschreiben,
seit es einen Versuch der NPD gab, eine Kita zu unter-
wandern. Kein Mensch spricht hier von einem General-
verdacht gegen Kitas. Sie halten das für völlig richtig –
ich auch. Ich unterstütze die zuständige Ministerin, Frau
Schwesig, hierbei, weil es mir um die Sache geht, unsere
Demokratie vor Feinden zu schützen.
Zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Marks das
Wort.
Frau Ministerin, ich möchte Sie auffordern, dieebenso dreiste wie unwahre Behauptung, die Sie in IhrerRede aufgestellt haben, zurückzunehmen, die SPD wolle
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17098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Caren Marks
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den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, der ab 2013gilt, verschieben. Kommen Sie mir, Frau Ministerin, beiIhrer Antwort bitte nicht mit Christian Ude; denn der hatzu Recht auf die Gefahr hingewiesen, dass der Rechtsan-spruch ins Leere läuft, wenn Sie sich weiter Ihrer Verant-wortung nicht bewusst sind und nicht endlich beginnen,zu handeln.Vielen Dank.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Frau Kollegin Marks, ich habe vor vier WochenChristian Ude getroffen; er hatte mich als Präsident desDeutschen Städtetages eingeladen. Ich habe eineinhalbStunden mit ihm und weiteren kommunalen Vertreternüber den Rechtsanspruch auf Kitaplätze diskutiert.Christian Ude – auch mit anderen Vertretern der SPD,aber vor allem war es Christian Ude – hat mich glasklaraufgefordert, dass ich ein Moratorium für den Kita-anspruch durchsetzen soll. Es solle, was den Rechts-anspruch angeht, eine Verschiebung geben.
Insofern kann ich dazu leider nur sagen: Es gibt aus derSPD heraus diese Forderung. Mag sein, dass Ihnen dasnicht passt. Sie sollten aber dennoch dazu stehen, dassaus Ihren Reihen die Eltern im Stich gelassen werdensollen.
Der Kollege Rolf Schwanitz für die SPD-Fraktion ist
der nächste Redner in dieser Debatte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauMinisterin, es wäre eine Frage der intellektuellen Red-lichkeit, wenigstens darauf hinzuweisen, dass es hier ei-nen Konflikt bzw. ein Problem mit allen Bürgermeiste-rinnen und Bürgermeistern in diesem Land gibt. Ichweiß nicht, wie viele CDU-Bürgermeister bei Ihnen vor-stellig werden und auf die Notlagen hinweisen, die durchIhr Nichthandeln entstehen. Das haben Sie nicht ge-macht. Das ist unredlich.
Frau Ministerin, Ihr Haushalt ebenso wie Ihre Politiksind Ausweis der Passivität und der vertanen Chancen.Das sieht man an den Publikationen, die Sie herausbrin-gen.
Ich habe einige davon mitgebracht und möchte etwasdazu sagen.Das erste ist eine wunderbare Halbzeitbilanz dieserLegislaturperiode. Diese Publikation, auf Hochglanzpa-pier gedruckt, hat jeder zugeschickt bekommen, der siehaben wollte. In dieser Halbzeitbilanz kommen aller-dings wichtige Themen überhaupt nicht vor, beispiels-weise der Ausbau der Betreuungseinrichtungen für unterDreijährige. Dazu gibt es kein Kapitel, keinen Abschnitt,das wurde einfach vergessen.Was allerdings vorkommt – erstaunlicherweise – istdas Betreuungsgeld. Dazu gibt es ein Kapitel. Nun wis-sen wir seit gestern, dass es in dieser Frage noch harteAuseinandersetzungen innerhalb der Koalition gibt, ins-besondere zwischen CDU und CSU, aber auch mit derFDP. Also habe ich einmal nachgeguckt, was FrauHaderthauer in einem Informationspapier dazu sagt. Ichdarf zitieren, was Frau Haderthauer auf der Homepageihres Ministeriums eingestellt hat. Dort ist Folgendes zulesen:Langzeitstudien weisen nach, dass frühe Krippen-betreuung keine messbaren Bildungsvorteile, dafüraber möglicherweise Risiken für die emotionaleEntwicklung mit sich bringen kann, daher gibt eskeinen Grund für staatliche Einseitigkeit zugunstenvon Krippen bei der Förderung von Betreuungsfor-men.Dann kommt ein Hinweis auf sogenannte psychoso-zial belastete Kinder. Es heißt:Diese Kinder haben oft ein Defizit in der seelischenund emotionalen Reifung, und in dieser Kategoriewerden sie in Krippen sogar zusätzlich belastet undgeschädigt …Sie sind bei der Klärung innerhalb der Koalition nochnicht einen Schritt vorangekommen, da wird in Mün-chen schon eine Diffamierungskampagne gegen die Ki-tas gestartet.
Von Ihnen kommt dazu kein Wort.
Das ist Ihre Politik.
Ein weiteres Thema, das in der wunderbaren Halb-zeitbilanz nicht vorkommt, ist die Antidiskriminierungs-stelle. Die gibt es nicht; das Wort taucht überhaupt nichtauf, weder im Schlagwortregister noch im Text. Antidis-kriminierungsstelle? Fehlanzeige! Die Übeltäter beimThema Antidiskriminierungsstelle – das ist völlig klar –sitzen hier: Das waren die Koalitionäre im Haushaltsaus-schuss.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17099
Rolf Schwanitz
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Das Signal, das Sie damit setzen, dass Sie die Arbeit derAntidiskriminierungsstelle einfach ausblenden, ist eineEinladung für Mattfeldt und Co., sich bei diesem Themaauszutoben. Insofern tragen Sie Mitschuld daran.
Ich möchte zusammenfassen, was hier geschehen ist.Trotz aller Widerstände, trotz des Aufschreis aller Be-troffenen haben die Haushälter der Koalition den Sollan-satz für die Antidiskriminierungsstelle im dritten Jahr inFolge gekürzt: im Haushalt 2012 um 367 000 Euro, dassind schlappe 13 Prozent weniger, als Sie in Ihrem Vor-schlag vorgesehen hatten. Anschließend haben sich dieKoalitionäre aus dem Staub gemacht. Sie haben ihr Ver-halten kleingeredet. Die Antidiskriminierungsstelle wurdediffamiert. Es wurde behauptet, man könne dort nichtmit Geld umgehen. Die wahren Motive wurden eher zu-gedeckt.
Die Folgen dieses Handelns kennen wir seit der Pres-seerklärung von dieser Woche durch die Antidiskrimi-nierungsstelle selber.
Das Projekt „Offensive diskriminierungsfreie Gesell-schaft“ ist akut gefährdet. Der Aufbau von Betreuungs-netzwerken unterbleibt. Auch die Aufklärungskampagnefür Diskriminierungsopfer, die für nächstes Jahr geplantwar, ist akut gefährdet oder sogar eventuell nicht durch-führbar. Dass Sie mit der Schuldenbremse argumentie-ren, meine Damen und Herren von der Koalition, ist voneiner intellektuellen Schlichtheit, da fällt mir nichtsmehr ein. Darauf will ich gar nicht eingehen.
Ich will die eigentlichen politischen Motive, die da-hinterstehen, deutlich machen. Ich will Herrn Mattfeldtmit einem Satz zitieren, den er zwar heute nicht gesagthat – die wunderbare Formulierung von der Sozialindus-trie hat er ja mehrfach selbst gebracht –, der aber auf sei-ner Homepage zu lesen ist. Er schreibt: Die Mittel fürdiese Antidiskriminierungsstellewerden in vielen Fällen dazu benutzt, die Arbeitge-ber an den Pranger und unter Generalverdacht zustellen. Daraus erwächst ein Klima des Misstrauensin diesem Land, das uns nicht gut tut und uns kei-nen Schritt vorwärts bringt!Das ist eine solche ideologische Verbohrtheit. Dazu fälltmir wirklich nichts mehr ein.
Die Antidiskriminierungsstelle handelt auf einer ge-setzlichen Grundlage,
die der Deutsche Bundestag beschlossen hat. Was Siemachen, ist Rechtsbruch durch die Hintertür. Ich fordereSie auf, wieder zu Recht und Ordnung zurückzukehren.
Frau Schröder, ich will noch etwas zu dem ThemaExtremismusprävention sagen, das Sie in Ihrer Rede an-gesprochen haben. Wie einige meiner Vorredner willauch ich ausdrücklich kritisieren – das kritisieren viele indiesem Haus –, dass Sie mit Ihrem Steckenpferd, derLinksextremismusbekämpfung, eine falsche Schwer-punktsetzung vornehmen.
Ich habe etwas mitgebracht, eine Broschüre für die Leh-rer in Deutschland: Demokratie stärken – Linksextremis-mus verhindern. Sie wird jetzt tausendfach verschickt,quasi, damit die Lehrerinnen und Lehrer in den Schulenauch Unterricht gegen Linksextremismus machen kön-nen. Darin stehen Dinge, die wirklich lächerlich sind,beispielsweise werden Musiktitel von „Ton SteineScherben“ als Ausweis für Linksextremismus angeführt.
Schwamm drüber! Lassen wir das!
– Wunderbar.Das geht noch viel weiter. In dieser Broschüre findeich eine Differenzierung in gute Antifaschisten und inschlechte Antifaschisten. Meine Damen und Herren, waswir brauchen, ist ein Bündnis, eine Aktivierung der Anti-faschisten in diesem Land. Darum muss es gehen undnicht um eine Spaltung der Menschen.
Im Haushaltsausschuss habe ich Sie danach gefragt.Da kam der Hinweis auf die seit 2009 in Berlin brennen-den Autos. Sie haben gesagt: Das waren die Linksextre-misten. Ich habe Sie gefragt: Woher wissen Sie das ei-gentlich? – Jetzt weiß ich, woher Sie das wissen: Dassteht hier drin.
Es gibt eine ganze Seite zur linksextremistischen Ge-walt. Zu den Brandanschlägen in der Zeit nach 2009steht da – ich will zwei Sätze zitieren –:
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Rolf Schwanitz
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Wer hinter diesen Anschlägen steht, kann die Poli-zei nur schwer ermitteln. Ein beträchtlicher Teilgeht auf linksextremistische Gewalt zurück …
Ich weiß es zwar nicht so richtig, aber sagen kann ich esschon mal! Das macht sich besonders gut, wenn es umdie rechtsstaatliche Erziehung in unseren Schulen geht.
Das, was Sie hier praktizieren – nehmen Sie das anvon jemandem, der aus der Region kommt, die in dieserWoche in unseren Diskussionen so oft im Fokus stand –,dieses Differenzieren in gute und in schlechte Antifa-schisten, ist nicht nur eine Diffamierung der Aktivistenvor Ort; das ist das eine. Das andere ist das Auseinander-dividieren und Legitimieren der Zurückhaltung. In wei-ten Teilen der neuen Länder lehnen sich konservativeKommunalpolitiker doch noch immer eher zurück, wennes um die Aktivitäten geht, die notwendig sind.
Mit dieser Diffamierung schaffen Sie Legitimations- undBezugspunkte.
Kollege Schwanitz, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss. – Im Deutschen Bundestag
ist am Dienstag etwas Außergewöhnliches passiert: Die
Koalition hat das Herz über die Hürde geworfen und ge-
sagt: Okay, die 2 Millionen Euro setzen wir wieder
drauf. – Das ist in Ordnung gewesen. Frau Schröder, zei-
gen Sie an dieser Stelle einmal Größe. Schaffen Sie diese
Klausel ab! Führen Sie die Initiativen zusammen, anstatt
zu spalten!
Herzlichen Dank.
Ich erlaube mir, einen Hinweis zu wiederholen, den
ich gestern schon geben musste, ohne einzelne Akteure
für das Protokoll zu benennen: Wir sollten uns in der Sa-
che auseinandersetzen und uns nicht gegenseitig mit wie
auch immer missverständlichen Vokabeln oder Titeln be-
legen.
Das Wort hat der Kollege Florian Toncar für die FDP-
Fraktion.
Vielen Dank. – Sehr verehrte Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Ich werde versuchen, diesemHinweis nachzukommen. Ich möchte versuchen, in mei-ner Rede auf die Arbeit des Ministeriums in ihrer ganzenBreite und den gesamten Haushalt einzugehen; denn dieDiskussion ist zuletzt sehr stark auf einige Aspekte ver-engt worden.Ich finde, dass in den vergangenen zwei Regierungs-jahren und unter Familienministerin Kristina Schröder– das kam heute noch nicht so zum Ausdruck, gehörtaber zu einer Zwischenbilanz – viele Projekte angesto-ßen worden sind, und das in einer Situation, in der wir fi-nanziellen Zwängen unterliegen, die manches nicht ein-fach machen. Wenn man sich das Ganze anschaut, mussman feststellen: Es ist eine ganze Menge erreicht wor-den.
Die Haushaltsmittel sind angestiegen; das ist als solchesaber noch kein Kriterium. Man kann jedoch feststellen,dass insbesondere aufgrund des Elterngeldes im Jahr2012 für Familien weit mehr ausgegeben werden wirdals im vorherigen Jahr.
– Ja, aber es kommt bei den Familien an. Es ist nicht nurein Rechtsanspruch, sondern Geld, von dem man sich et-was kaufen oder mit dem man als Familie etwas unter-nehmen kann, und zwar mehr als je zuvor.
Darauf sollte und darf man in einer Haushaltsdebatteeinmal hinweisen,
ohne dass daraus gleich wieder ein Vorwurf der Opposi-tion konstruiert wird. Es ist ja auch Ihr Gesetz. FreuenSie sich doch darüber, dass das angenommen wird.Ich möchte nur kursorisch auf das hinweisen, was imvergangenen Jahr angestoßen worden ist: Das Hilfetele-fon für Frauen, die in ihrer Familie Gewalt erfahren, istvon den Fraktionen angestoßen worden; KolleginSibylle Laurischk ist hier. Wir haben dies noch im letz-ten Haushalt untergebracht; es kommt jetzt. Das ist einganz bedeutender Fortschritt. – Wir sind die Familien-pflegezeit angegangen, ein Angebot an pflegende Ange-hörige, das, wie ich finde, ein gutes Modell gewordenist.Der Übergang vom Zivildienst in ein neues Freiwilli-gendienstformat – das war eine gewaltige Aufgabe – istgelungen. Ich habe mich viele Jahre mit diesem Themabeschäftigt und ehrlich gesagt nicht damit gerechnet,dass es so schnell möglich ist, da zu sein, wo wir heutestehen. Natürlich kann noch einiges verbessert werden;aber es ist in kurzer Zeit gelungen, ein gutes Freiwilli-gendienstformat auf die Beine zu stellen.
Wir haben uns als Haushälter entschlossen, im kom-menden Jahr einen Teil der Mittel für die Jugendfreiwil-
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Florian Toncar
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ligendienste zu sperren. Ich lege Wert darauf, im Plenumund in der Öffentlichkeit deutlich zu sagen, dass dasnicht darauf zurückzuführen ist, dass wir Zweifel haben,dass das Geld gebraucht wird. Das Geld wird gebraucht,und zwar in voller Höhe. Es ist lediglich so, dass die Artund Weise, wie das Geld verteilt wird, wie die Förder-sätze ausgestaltet sind, neu konzipiert und mit dem Bun-desrechnungshof abgestimmt werden muss. Dass wirden Einfluss darauf behalten, ist der Grund für dieSperre. Wir wissen, dass die Mittel gebraucht werden,und wir haben auch vor, sie freizugeben, wenn das För-dersystem allen Anforderungen genügt. Das will ich fürdie Öffentlichkeit ganz deutlich klarstellen.Im Haushalt ist wiederum – nunmehr im zweiten Jahr –die Qualifizierungsoffensive enthalten. Dies zeigt, dassdiese Bundesregierung über das bisherige Ausbaupro-gramm für Kinderbetreuung hinaus auch in die Qualitätder Betreuung investiert. Es braucht eben nicht nur Kita-plätze, sondern in einigen Teilen Deutschlands auch qua-lifiziertes Personal für Sprachförderung und andereDinge. Dafür stellen wir extra Geld bereit.
Damit zeigen wir, dass es gut ist, an die Ursache der Pro-bleme heranzugehen, und dies ist in der Regel ein Man-gel an Integration, an Bildung. Genau dafür geben wirGeld aus, und zwar mehr Geld. Wir kürzen also nichtohne Sinn und Verstand, sondern setzen die richtigenSchwerpunkte.Es ist nach vielen Jahren gelungen, eine Lösung fürdie Heimkinder zu entwickeln. Auch das findet sich indiesem Haushalt wieder. Darüber hinaus ist es derMinisterin gelungen, ein Nachfolgeprogramm für dieMehrgenerationenhäuser zu entwickeln, die sich bewährthaben. Auch das ist gesichert.Wir haben also – das können wir als Koalition heuteselbstbewusst sagen – trotz Sparzwängen, trotz begrenz-ter finanzieller Mittel zusätzliche Projekte angestoßenund Schwerpunkte gesetzt, die für unsere Gesellschaftinsgesamt sehr sinnvoll sind.
Auf einen Punkt möchte ich noch hinweisen: den Un-terhaltsvorschuss. Wir geben jedes Jahr sehr viel Geldfür Unterhaltsvorschüsse aus. Einen Unterhaltsvorschussbekommen Elternteile, die einen Unterhaltsanspruch ins-besondere für ihr Kind haben, wo aber der Unterhalts-pflichtige nicht leistungsfähig bzw. nicht auffindbar ist.Der Staat holt sich das Geld später von denen zurück, dieeigentlich zahlen müssten. Das Problem ist, dass wirsehr viel mehr ausgeben, als wir von den Unterhalts-pflichtigen zurückbekommen. Die Quote ist nicht gut;sie liegt bei ungefähr einem Viertel. Sie ist auch trotz ge-sunkener Arbeitslosigkeit kein bisschen besser gewor-den. Man dachte ja, dass damit der Hinderungsgrund beimanchen Unterhaltspflichtigen wegfallen würde. Nochdazu ist die Quote von Bundesland zu Bundesland sehrunterschiedlich. Das zeigt, dass diese Thematik nicht inallen Bundesländern ernsthaft verfolgt wird. Wir werdenin den nächsten Jahren mit Ihnen, Frau Ministerin, daranarbeiten müssen, dass dieses Ungleichgewicht zwischenden Bundesländern beseitigt wird und dass sich die et-was schlechte Zahlungsmoral bezüglich des Unterhalts-vorschusses zugunsten unseres Haushalts verbessert.Dafür haben Sie die Unterstützung der Haushälter.Wir sind mit der Arbeit des Familienministeriumssehr zufrieden und glauben, dass wir einen sehr gutenHaushalt und eine sehr gute Halbzeitbilanz für diesesMinisterium vorweisen.
Für die Fraktion Die Linke spricht jetzt der Kollege
Jörn Wunderlich.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Je-des Kind hat den Anspruch auf einen Kindertagesstätten-platz. Diesen Rechtsanspruch haben wir endlich im Ge-setz verankert. – So hieß es seinerzeit, und die Koalitionwar geradezu besoffen von diesem Erfolg hinsichtlichder Kinderbetreuung.
Wie sieht die Realität aus? Die Mittel werden in zu ge-ringem Umfang abgerufen, der Ausbau geht zu langsamvoran.Schon vor Jahren hat die Linke die Familienministe-rin – damals war es Frau von der Leyen – darauf hinge-wiesen, dass die Rechnung der Regierung nicht aufgeht.Die Betreuungsquote ist zu gering bemessen, der Rechts-anspruch wird mangels Plätzen und mangels entspre-chend qualifizierten Personals nicht umgesetzt werdenkönnen. Frau von der Leyen hat das damals begriffen,konnte oder wollte es aber nicht umsetzen. Ich weißnicht, wie das Verständnis gegenwärtig ist. Fakt ist: Eswerden nicht ausreichend Kindergarten- und Krippen-plätze zur Verfügung stehen, und die Regierung ist nichtbereit, auf Bundesebene in dieser Hinsicht etwas zu un-ternehmen. Hier muss sich etwas ändern.
Stattdessen wird das Betreuungsgeld in Aussicht ge-stellt, das Eltern davon abhalten soll, ihre Kinder in eineKindertagesstätte zu bringen. Hier soll ein finanziellerAnreiz für Eltern geschaffen werden, um den nicht um-setzbaren Rechtsanspruch abzufangen. Eltern sollenwieder in zwei Klassen eingeteilt werden: gute, welchezu Hause ausschließlich ihre Kinder erziehen, und weni-ger gute, welche neben der Kindererziehung auch nocheine Kindertagesstätte in Anspruch nehmen. Deren Er-ziehungsleistung ist nach Ansicht der Koalition nicht zuhonorieren. Welch perfide Einstellung zu Eltern!
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17102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Jörn Wunderlich
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Bei Eltern im Hartz-IV-Bezug wird das Betreuungs-geld natürlich verrechnet, sodass unter dem Strich nichtsbleibt. Das muss sich ändern.
Als Argument höre ich immer das Lohnabstandsgebot.Lohnabstandsgebot hier, Lohnabstandsgebot da. Ichfrage Sie von der Koalition: Haben Sie schon einmal et-was vom Lohnanstandsgebot gehört?
Wir brauchen anständige Löhne; da liegt der Hund be-graben. Die Regierung argumentiert immer so: Euch imNiedriglohnbereich geht es schon mies, also muss eseuch im Hartz-IV-Bezug noch mieser gehen. – Das istdie christlich-liberale Politik dieser Regierungskoalition.Jeder kann sich überlegen, was daran christlich oder li-beral sein soll. Hier geht es nur um die Förderung vonFamilien, die es sich leisten können. Wenn es um dieAnerkennung der Erziehungsleistung ginge, dann müss-ten alle Familien Betreuungsgeld bekommen. Aber daswürde den Haushaltsrahmen des Familienministeriumssprengen. Wir müssen also den Ausbau der Kindertages-stätten forcieren und den Bundesanteil aufstocken, damitder Rechtsanspruch der Kinder auch umgesetzt werdenkann.Zur ADS ist schon einiges gesagt worden. Die Aufga-ben sind vielfältig und nehmen ständig zu, auch im Hin-blick auf Altersdiskriminierung. Jetzt haben wir mit FrauLüders endlich eine taffe Frau an der Spitze dieser Stelle– die Vorgängerin möchte ich namentlich nicht erwäh-nen; ihre Arbeit war eine Katastrophe –,
und jetzt werden die Mittel zusammengestrichen. DieRücknahme der Kürzungen in Höhe von 367 000 Euroist das Mindeste, was wir tun müssen, um eine arbeitsfä-hige Antidiskriminierungsstelle zu haben.
Nächster Punkt – ich kann nur auf einige Punkte ein-gehen –: Das Elterngeld ist auszubauen, wenn tatsäch-lich mehr Väter in die Verantwortung genommen werdensollen. Es ist schon gesagt worden, dass es ein bisschenaufgestockt wurde. Das war deutlich zu wenig. Die4,9 Milliarden Euro, die dafür in den Haushalt einge-stellt sind, reichen nicht aus. Das Elterngeld ist ein wirk-sames Instrument. Es ist auszubauen und zu erweitern.Der Sockelbetrag muss, bei Hartz IV anrechnungsfrei,erhöht werden. Das Elterngeld muss auch derart ausge-staltet werden, dass jeder Elternteil Anspruch auf zwölfMonate Elternzeit hat.
Das kostet natürlich etwas; das ist klar. Deswegen müs-sen wir zusätzliche Mittel in Höhe von 2,3 MilliardenEuro in den Haushalt einstellen. Jetzt wird jederschreien, dass 2,3 Milliarden Euro sehr viel Geld sind.Das ist richtig. Aber wenn ich die Mittel für den Vertei-digungshaushalt um ein Sechstel kürze, kann ich denAnsatz im Familienhaushalt verdoppeln. Das muss mansich einmal vor Augen führen.Ich muss noch etwas zum Thema Rechtsextremismussagen. So wie Kollege Schwanitz komme auch ich ausder Gegend, über die nun viel gesprochen wird. Ichkomme aus dem Kreis Zwickau und habe vor Ort meineErfahrungen mit Rechtsextremisten gemacht.
– Die Ministerin sollte vielleicht einmal zu uns kommen;aber ich glaube, ich kann ihr nicht genügend Personen-schutz gewährleisten, damit sie wieder sicher aus meinerStadt herauskommt.
Den schönen Reden, die wir am Dienstag gehört ha-ben, müssen Taten folgen. Im interfraktionellen Ent-schließungsantrag haben wir uns gemeinsam darauf ver-ständigt, dem Rechtsextremismus entschieden entgegen-zutreten. Dafür sollten wir auch die entsprechenden Mit-tel zur Verfügung stellen.Die Grünen haben eine Erhöhung dieses Haushaltsti-tels beantragt, die SPD hat es gemacht, und die Linke hates auch gemacht. Was wollen Sie von der Koalition? VonIhnen höre und sehe ich dazu nichts. Vielleicht könnenwir uns auf den Mittelweg, die von uns beantragten35 Millionen Euro, einigen. Das wäre jedenfalls ein Si-gnal an die Menschen im Lande und ein deutliches Zei-chen an den – ich formuliere es einmal so – braunenSumpf, dass ihm wirklich der Kampf angesagt wird.
Ich finde es ganz schrecklich, dass es erst zu solchenEreignissen, die jetzt ans Licht gekommen sind, kom-men musste und dass die Koalition erst wachgerütteltwerden musste. Müssen erst wieder Tote die Straßenpflastern, damit sich in dieser Richtung etwas bewegt?
– Auch ich finde: Die Situation im Hinblick auf denRechtsextremismus ist unerträglich.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege
Wunderlich.
Wer wirklich etwas will, der findet einen Weg. Weretwas nicht will, der findet Gründe.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17103
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Katja Dörner von
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Kollege Mattfeldt hat das Hoheliedvom Sparen und von der Schuldenbremse gesungen.Gleichzeitig planen Sie ein Betreuungsgeld,
das einen Betrag von 1,5, 2 oder 2,5 Milliarden Eurojährlich verschlingen wird.
Das ist doch einfach absurd. Man kann Sie in der heuti-gen Haushaltsdebatte überhaupt nicht mehr ernst neh-men.
Beim Betreuungsgeld sprechen wir von einer Maß-nahme, über die Maria Böhmer, die Chefin der Frauen-Union, gesagt hat, die Frauen-Union hätte sich eine an-dere Lösung gewünscht.
Wir sprechen über eine Maßnahme, über die unsere Kol-legin Miriam Gruß – ich habe extra noch einmal nachge-sehen – vor einem Monat gesagt hat:
Wir, die FDP, sind absolut gegen diese Leistung. – Wirsprechen über eine Maßnahme, über die unsere KolleginRita Pawelski – auch sie ist heute da – in den Medien ge-sagt hat, die Frauen in der Union seien über das, was dain Planung ist, entsetzt gewesen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich habe wirklichviel Verständnis für politische Kompromisse. Aber ichhabe keinerlei Verständnis für Maßnahmen wider alleVernunft.
Ich bin der Gruppe der Frauen in der Union tatsächlichdankbar, dass sie den Mumm hat, sich dem billigen Kuh-handel, der am 6. November dieses Jahres im Bundes-kanzleramt ausbaldowert wurde, zu widersetzen. Ich binfroh, dass es mittlerweile positive Signale von der Mi-nisterpräsidentin des Saarlandes, Annegret Kramp-Karrenbauer, gibt, sich im Bundesrat an unserer Initia-tive gegen das Betreuungsgeld zu beteiligen.
Ministerin Schröder hat in der ganzen Angelegenheitoffensichtlich gar nichts zu sagen. Sie kam aus der Ba-bypause zurück, hat eine Pressekonferenz gegeben undeinen Kompromissvorschlag zum Betreuungsgeld unter-breitet, hinter dem sich dann angeblich alle Seiten ver-sammeln können. Von diesem Kompromissvorschlag istüberhaupt keine Rede mehr. Er wurde einfach einkas-siert.
Nächste Woche soll ein Friedensgespräch stattfinden, andem unter anderem Herr Kauder und Maria Böhmer teil-nehmen.
Die zuständige Fachministerin ist aber nicht eingeladen.
Ich frage mich: Wofür haben wir eine Familienministe-rin, wenn sie bei ihren ureigenen Kernthemen nicht ein-mal gefragt wird?
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Ausgestaltungdes Betreuungsgeldes, die nun von der CSU durchge-drückt werden soll, ist absolut absurd.
Der Bezug des Betreuungsgeldes wird nicht einmal mehram Kriterium der Berufstätigkeit der Eltern festgemacht.
Alle Eltern sollen das Betreuungsgeld bekommen, nurnicht die, die ihre Kinder in eine Kita geben.
Das bedeutet: Doppelverdienereltern bekommen ihreNanny zukünftig mit 150 Euro im Monat subventioniert.
Im letzten Jahr haben Sie den ALG II beziehenden El-tern im Rahmen Ihres Sparpakets schon den Sockelbe-trag des Elterngeldes gestrichen.
Das ist absolut unsozial und völlig absurd.
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17104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Katja Dörner
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Fakt ist:
So wie das Betreuungsgeld jetzt angelegt ist, wird es zueiner reinen Kitafernhalteprämie.
Ich muss wirklich sagen: Ein Schelm, wer Böses dabeidenkt. Gerade haben wir nämlich die neuen Zahlen zumKitaausbau bekommen. Wir wissen, dass dieser viel zuschleppend vorangeht. Deshalb müssen wir jetzt eineRichtungsentscheidung treffen. Wir brauchen mehrGeld, auch vom Bund, für die Investitionen in die Kitas,damit der Rechtsanspruch 2013 umgesetzt werden kann.
Solider Kitaausbau oder Betreuungsgeld, das ist letztlichdie Frage. Da können wir uns doch nicht von der CSUauf der Nase herumtanzen lassen.
Ich möchte mich ganz besonders an die Haushälterder Regierungsfraktionen wenden. Beispielsweise HerrToncar wurde in den Medien damit zitiert, er wisse garnicht, woher die zusätzlichen Milliarden für das Betreu-ungsgeld kommen sollen. Haben Sie einmal mit denLandesregierungen in Bayern und in Thüringen gespro-chen? Dort gibt es nämlich schon eine Art Betreuungs-geld; das nennt sich Landeserziehungsgeld. Es wirddoch darauf hinauslaufen, dass diese Länder ihren Haus-halt auf Kosten des Bundes sanieren. So herum wird einSchuh daraus. So wird es mit dem Betreuungsgeld ab-laufen.
Das sollte doch Ihnen als Haushälter zu denken geben.
Ich weiß, dass sich einige meiner Kollegen im Haus-haltsausschuss sehr für den ländlichen Raum engagieren,
Schorschi Schirmbeck etwa, der auch anwesend ist. Des-halb habe ich die Pressemitteilung der Landfrauen mit-gebracht, die auf einer knappen Seite wunderbar sach-lich darlegen, warum sie das Betreuungsgeld ablehnenund warum das Betreuungsgeld nichts mit Wahlfreiheitzu tun hat, auch und gerade nicht für Frauen im ländli-chen Raum. Diese Pressemitteilung werde ich den Kol-legen gleich zur Verfügung stellen. Ich hoffe, dass dieFrauen-Union dann viele Mitstreiter im Haushaltsaus-schuss findet.
Ich komme zum Schluss. In der FAZ stand vor einigenTagen ein Artikel, aus dem ich kurz zitieren möchte:Damit drängt sich die Frage auf, ob Familien künf-tig auch eine Entschädigung bekommen, wenn sieihre Kinder nicht auf die staatlich finanzierte Uni-versität, sondern zur Ausbildung in einen Hand-werksbetrieb schicken … Oder an diejenigen, diekeine geförderte Solaranlage auf ihrer Garage ha-ben? Seit dem Beschluss zum Betreuungsgeldscheinen auch solche Absurditäten nicht mehr un-denkbar.Die schwarz-gelbe Familienpolitik ist zu einer Absurdi-tät verkommen. Sie ist ein reines Trauerspiel. Sie sollteschnellstmöglich beendet werden.
Das Wort hat jetzt der Kollege Erwin Rüddel von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Wir diskutieren eine äußerst erfolgreiche Familien-politik.
Deshalb, Frau Dörner, läuft Ihre Kritik absolut ins Leere.Mit dem Familienhaushalt stellt die christlich-liberaleKoalition unter Beweis, dass Konsolidierung der Finan-zen und nachhaltige Investitionen in die Zukunft unsererGesellschaft kein Widerspruch sind. Wir beweisen, dasssich Sparen und Gestalten keineswegs ausschließen.
Wir reden nicht nur vom gesellschaftlichen Wandel undvon der Zivilgesellschaft, sondern wir fördern sie mit zu-kunftsweisenden Projekten.Wir fördern das bürgerschaftliche Engagement undschaffen nach der Aussetzung des Zivildienstes eineneue Kultur der Freiwilligkeit in Deutschland. Jung undAlt, Frau oder Mann, jeder kann einen Freiwilligenplatzbekommen und so zum Zusammenhalt unserer Gesell-schaft aktiv beitragen.Das Elterngeld ist ein Erfolgsmodell. Man kann esnicht oft genug wiederholen: Schon jetzt wählt jeder
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17105
Erwin Rüddel
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vierte Vater eine Auszeit vom Beruf, um zu Hause Ver-antwortung zu übernehmen. Diesen gesellschaftlichenWandel begrüßen wir ausdrücklich. Für 2012 planen wirdeshalb Mehraufwendungen von rund 300 MillionenEuro ein.Für die Initiative „Frühe Chancen“ zur sprachlichenFörderung in unseren Kitas stellen wir in diesem Jahr82 Millionen Euro bereit. Im nächsten Jahr werden es102 Millionen Euro sein. In diesem Jahr sind 3 000Schwerpunktkitas eingerichtet worden. Im nächsten Jahrwerden 1 000 weitere hinzukommen. Bis 2014 investie-ren wir insgesamt 400 Millionen Euro, die ganz konkretdem späteren Bildungserfolg und einer gelungenen Inte-gration zugutekommen. Es sei an dieser Stelle erwähnt,dass der Bund die Kommunen bei der Grundsicherungum 12 Milliarden Euro entlastet. Das gibt den Kommu-nen sicherlich Spielraum, den Kitaausbau zu betreiben.
Die Mittel für die Stärkung von Vielfalt, Toleranz undDemokratie erhöhen wir, wie schon erwähnt, auf 29 Mil-lionen Euro.
Sie dienen primär der Prävention. Denn wir sind derAuffassung, dass jeglicher Extremismus ein Angriff aufunser demokratisches Gemeinwesen ist.Ich bin der Ministerin dankbar,
dass sie bereits lange vor Bekanntwerden dieser schreck-lichen Geschehnisse von den Maßnahmenträgern eineDemokratieerklärung verlangt hat. Die Projektträger vonstaatlich geförderten Maßnahmen sollen nicht nur weitersensibilisiert, sondern auch beraten und geschützt wer-den.
Familienpolitik ist aber mehr als Extremismusbekämp-fung. Wir müssen Strukturen schaffen, damit Extremis-mus keinen Nährboden hat.Im Rahmen des neuen Kinderschutzgesetzes fördernwir die Arbeit der Familienhebammen. Wir wollen jun-gen Frauen frühzeitig helfen. Wir wollen helfen, bevores zu spät ist. Für diesen präventiven Ansatz stellen wirim nächsten Jahr 30 Millionen Euro bereit. In den nächs-ten vier Jahren sind es insgesamt 120 Millionen Euro.Umso ärgerlicher finde ich die Einlassungen einiger ro-ter und grüner Landesministerinnen, die gegen dieseswichtige Vorhaben öffentlich Stimmung machen. Fürparteitaktische Manöver auf dem Rücken von Kindernund Familien hat niemand Verständnis.Wir haben 7 Millionen Euro für die Förderung derkünstlichen Befruchtung bereitgestellt. Das Ziel bleibtaber, daraus 10 Millionen Euro für die Unterstützung beiungewollter Kinderlosigkeit zu machen.Für die erfolgreichen Mehrgenerationenhäuser, dieexemplarisch für bürgerschaftliches Engagement aufkommunaler Ebene stehen, haben wir ein Folgepro-gramm mit den Schwerpunkten Pflege und Integrationaufgelegt.Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zur Familien-pflegezeit. Mit dem Gesetz zur besseren Vereinbarkeitvon Pflege und Beruf werden sicherlich nicht alle Pro-bleme im Bereich der Pflege gelöst; aber es ist ein Mei-lenstein auf dem Weg, das große Thema der bedarfsge-rechten Pflege in einer rasch alternden Gesellschaft zubewältigen.Meine Damen und Herren, wir geben moderne Ant-worten auf den gesellschaftlichen Wandel. Wir schaffenfaire Chancen. Wir fördern das bürgerschaftliche Enga-gement, die soziale Teilhabe und den Zusammenhalt derGenerationen.Die Koalition trägt den Veränderungen in unserer Ge-sellschaft Rechnung. Deshalb bin ich der festen Über-zeugung, dass wir mit unserem Familienhaushalt aufdem richtigen Weg sind.
Das Wort hat der Kollege Sönke Rix von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Zunächst komme ich zu einem Thema, dasschon eine Rolle gespielt hat, zum Übergang vom Zivil-dienst zum Freiwilligendienst.
– Ich weiß nicht, Herr Grübel, ob das wirklich positiv ist. –Die meisten Redner haben festgestellt, trotz der An-fangsschwierigkeiten seien jede Menge junger Men-schen gewonnen worden, die in Freiwilligendiensten tä-tig sind.
Das ist gut so, und es will niemand in Abrede stellen,dass das zu loben ist und den jungen Menschen, die die-sen Dienst antreten, egal ob im Bundesfreiwilligendienstoder im Jugendfreiwilligendienst, unser gemeinsamerDank gebührt.
Aber es gibt natürlich Probleme beim Start. Es wirddarauf hingewiesen, dass diese Startprobleme daran lie-gen, dass wir sehr schnell ein System für die Zeit nachdem Zivildienst entwickeln mussten. Wer sagt denn,dass das so schnell gehen musste? Warum haben Sie so
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17106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Sönke Rix
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auf das Tempo gedrückt? Ich glaube, sowohl die Bun-deswehr als auch die zivilgesellschaftlichen Organisatio-nen wären dankbar gewesen, wenn Sie eine längereÜbergangsfrist vorgesehen und vorgeschlagen hätten,sich gemeinsam an den Tisch zu setzen, um zusammenein Konzept zu erarbeiten, statt es im Eiltempo durchzu-ziehen. Dieser Zeitdruck war nicht notwendig.
Jetzt wird deutlich – wir haben uns mit den Trägerndarüber auseinandergesetzt –: Beim Bundesfreiwilligen-dienst ist natürlich nicht alles Gold, was glänzt. DasBundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufga-ben ist für die Umsetzung des Bundesfreiwilligendiens-tes zuständig. Beim Bundesfreiwilligendienst muss derVertrag im Gegensatz zum Jugendfreiwilligendienst vomBundesamt, vom Träger, von der Einsatzstelle und vomFreiwilligen unterzeichnet werden. Bis dieser Vertragzurückkommt, vergehen mehrere Wochen. Die Einsatz-stelle weiß nicht damit umzugehen. Das gleiche Problemhaben wir leider mit dem Geldfluss. Die Einsatzstellen,die die Bundesfreiwilligendienstler einstellen, müssenüber Monate hinweg warten, bis die Mittel dafür fließen.Das ist kein gelungener Start des Bundesfreiwilligen-dienstes. Das ist ein Bürokratiemonster. Insbesonderevon den Kollegen der FDP hätten wir eigentlich andereserwartet.
Wie kommen wir da heraus? Ich habe schon öfter ge-sagt: Wir brauchen keine Doppelstruktur bei den Frei-willigendiensten. Wir brauchen nicht auf der einen Seiteden staatlich organisierten Bundesfreiwilligendienst undauf der anderen Seite den zivilgesellschaftlich organi-sierten Jugendfreiwilligendienst. Das ist unnötig. Wirmüssen zusehen, dass wir in der nächsten Zeit – hoffent-lich gemeinsam – die Richtung verfolgen, einen gemein-samen Freiwilligendienst zu organisieren, der unter derVerantwortung der Zivilgesellschaft steht.
Natürlich möchte auch ich noch etwas zu dem aktuellenThema Strategien zur Bekämpfung des Rechtsextremis-mus sagen. Frau Ministerin, es geht uns gar nicht darum,dass es aus Ihrer Sicht Mittel gegen den Linksextremismusund Mittel gegen den Rechtsextremismus gibt. Bei der ak-tuellen Debatte geht es nicht um Linksextremismus, son-dern um rechtsextremistischen Terror.
Stellen Sie sich bitte die Angehörigen der Opfer vor,wenn die Ministerin hier bedauert, dass es diesen Terrorgibt, aber sofort hinterherschiebt: „Aber Linksextremis-mus und Islamismus sind auch schlimm.“ Diese Haltungist nicht zu ertragen.
Natürlich spielt dabei auch die Extremismusklauseleine Rolle. Es ist überhaupt nicht schlimm, wenn sichLeute zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung be-kennen. Schlimm ist aber, dass Sie mit dieser Extremis-musklausel – Sie nennen das „Demokratieerklärung“ –abfragen, ob die Verantwortlichen selbst, die Organisa-tion, und diejenigen, die mit ihnen zusammenarbeiten,auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Was bedeutetdas denn, Frau Ministerin?
Sie haben im Ausschuss geantwortet: Ich kann die Na-men googeln; dann weiß ich, ob sie extremistisch sindoder nicht. – Sie müssen sich gegenseitig ausspionieren.So kann keine vertrauensvolle Arbeit entstehen.
Zu kritisieren ist auch, dass diejenigen, die Mittel ausdem Topf gegen Rechtsextremismus beantragen, die Er-klärung unterschreiben müssen, während beispielsweiseder Bund der Vertriebenen, der auch staatliche Gelderbekommt, so etwas nicht unterschreiben muss.
Warum gibt es eigentlich diese Ungleichbehandlungvonseiten der Bundesregierung?
Sie loben sich hier, indem Sie sagen, sie hätten dieHaushaltsmittel um 2 Millionen Euro erhöht. Das ist na-türlich ein toller Taschenspielertrick.
Zunächst kürzen Sie die Mittel im Entwurf, dann neh-men Sie die Kürzung drei Tage vor der Haushaltsbera-tung wieder zurück, und jetzt stellen Sie sich hierhin undtun so, als hätten Sie die Mittel erhöht. Das ist ein Skan-dal, Frau Ministerin. Sie wollten kürzen, und dazu hättenSie einmal stehen sollen.
Jetzt wird öffentlich betont, es seien sogar noch meh-rere Millionen Euro übrig. Wir haben Informationen,dass Organisationen, die das gelesen haben, sofort ange-rufen und gesagt haben: Davon hätten wir gerne etwasGeld. Aus dem Ministerium hieß es dann: Nein, nein, dieGelder sind schon längst bewilligt; sie werden wahr-scheinlich bis Ende des Jahres abgeflossen sein. Was istdas für eine Art, Frau Ministerin? Wie wollen Sie eigent-lich dafür sorgen, dass sich die Zivilgesellschaft tatsäch-lich engagiert?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17107
Sönke Rix
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Erst erfolgt die Rücknahme von 2 Millionen Euro,und dann brüsten Sie sich, die Mittel zur Stärkung vonDemokratie und Toleranz erhöht zu haben. Es fehlt eineGesamtstrategie der Bundesregierung. Wenn Sie ehrlichwären, würden Sie auch einräumen, dass die Mittel fürdie Bundeszentrale für politische Bildung um mehrereMillionen Euro gekürzt werden. Auch die Arbeit derBundeszentrale ist Extremismusbekämpfung und trägtzur Förderung von Demokratie und Toleranz bei. DerenMittel aber haben Sie gekürzt. Auch das gehört zurWahrheit.
Einen Satz möchte ich mir nicht ersparen. Wir habenam Dienstag erklärt, welche gemeinsame Position wirzum Rechtsterrorismus in diesem Haus haben. Aberwenn Sie dann den Vorwurf erheben, es sei parteipoli-tisch, auf Fehler aufmerksam zu machen, dann muss ichSie fragen: Was ist eigentlich so schlimm an Parteipoli-tik? Es ist auch ein Teil von Demokratie, dass man überUnterschiede streiten kann. Wir sollten das nicht als ne-gativ darstellen.
Wir haben am Dienstag ein gemeinsames Zeichen ge-setzt und deutlich gemacht, wie wir uns verhalten wer-den. Wir haben beschlossen, dass wir dafür Sorge tragen,der Zivilgesellschaft keine weiteren Hindernisse in denWeg zu legen, um die Demokratie zu stärken. Heute ha-ben wir die Möglichkeit, wenn Sie den drei Anträgen derGrünen, der Linkspartei und vor allen Dingen der SPDzustimmen, diese Hindernisse abzuräumen. Lassen Sieuns ein gemeinsames Zeichen setzen!Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Florian
Bernschneider das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Kollege Rix, erlauben Sie mir wenigstens ei-nen Satz zu den Freiwilligendiensten, zum Zivildienstund zur Wehrpflicht. Sie haben gesagt, wir hätten das al-les über das Knie gebrochen. Ich sage Ihnen: Es ist mirlieber, dass wir die Wehrpflicht kurzfristig ausgesetzt ha-ben, als es so langfristig wie Rot-Grün anzugehen. UnterRot-Grün wurde es nämlich nie etwas mit der Ausset-zung der Wehrpflicht.
Es wurde von einigen Vorrednern zu Recht betont,dass uns die schrecklichen und menschenverachtendenVerbrechen der Neonazi-Bande betroffen machen, dasssie uns erschüttern und dass uns die Ermittlungspannenempören. Deswegen ist es auch richtig, dass wir als zu-ständige Fachpolitiker für die Präventionspolitik hier inden Haushaltsberatungen zu diesem Thema Stellungnehmen. Aber es liegt auch in unserer Verantwortung,die Debatte nicht in parteipolitisches Gezänk ausarten zulassen. Nichts anderes tun Sie doch. Sie stellen die glei-chen Forderungen auf, die wir schon seit Wochen undMonaten von Ihnen kennen, diesmal aber tun Sie es un-ter dem Deckmantel dieser schrecklichen Ereignisse. Siehaben sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, zuschauen, was wir als Präventionspolitiker tatsächlich ausdiesen schrecklichen Ereignissen lernen können; dennwenn man das tut, müsste man auf ein Datum eingehen,nämlich das Jahr 1998.Das Jahr 1998 ist das Gründungsjahr des Nationalso-zialistischen Untergrunds. Spätestens in diesem Jahr ha-ben sich drei junge Menschen von Demokratie, Vielfaltund Toleranz abgewendet und ein gewaltbereites undmenschenverachtendes Netzwerk gebildet. Das heißt füruns als Präventionspolitiker: Spätestens im Jahr 1998 hatunsere Präventionspolitik versagt. Das ist auch gar keinWunder; denn im Jahr 1998 gab es noch gar nicht so et-was wie eine vom Bund geförderte Präventionspolitik.Erst nach dem Anschlag auf die Düsseldorfer Synagogeim Jahr 2000 hat Rot-Grün mit dem Bündnis für Demo-kratie und Toleranz reagiert und erstmals Mittel für denKampf gegen den Rechtsextremismus eingestellt.
Ihr eigener Bundeskanzler Gerhard Schröder hat da-mals gesagt – ich zitiere –:Ich glaube, wir alle haben zu häufig die Probleme,die es in diesem Bereich gibt, einfach nicht zurKenntnis genommen.Gerhard Schröder hat damit das auf den Punkt gebracht,was Präventionspolitik eigentlich ausmachen sollte,nämlich zu reagieren, bevor es zu spät ist und zu Todes-opfern kommt. Genau das ist das Absurde an Ihrer Argu-mentation. Sie sagen: Weil es noch nicht so viele Todes-opfer durch Linksextremisten und weil es noch keineTodesopfer durch religiöse Extremisten gab, können wirdie Mittel sparen und sie in den Kampf gegen Rechts-extremismus investieren.
Das hat nichts mit Präventionspolitik zu tun.
Sie verpassen einmal mehr mit diesen ideologischenGrabenkämpfen die Chance, Präventionspolitik tatsäch-lich voranzubringen. Das ist auch gar nichts Neues. Manmuss nur einmal in die Protokolle des Deutschen Bun-destages der vergangenen Wochen und Monate sehen.
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17108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Florian Bernschneider
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Schwarz-Gelb hat einen Antrag eingebracht, wie wir diePräventionsprogramme verbessern können. Sie habenIhre Redezeit, wie auch heute, vor allem darauf verwen-det, uns zu erklären, dass es gar keinen Linksextremis-mus in diesem Land gibt. Ich will einmal eine Forderungaus dem Antrag zitieren, den Schwarz-Gelb gegen IhreStimmen auf den Weg gebracht hat:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung … auf, … bei der Weiterentwicklung dieserProgramme auch … geschlechterdifferenzierte An-sätze verstärkt einzubeziehen.
Wie richtig das war, was wir damals beschlossen ha-ben, zeigt dieses Trio tatsächlich; denn Beate Zschäpe istdoch für diese schreckliche Bande das freundliche Ge-sicht nach außen gewesen.
Deswegen war der Ansatz, den Schwarz-Gelb gewählthat, nämlich in der Präventionspolitik auf die geschlech-terspezifischen Rollen einzugehen, richtig. Genau soeine sachliche Politik und vor allem eine genau so sach-liche Diskussion muss man von uns erwarten.Anstatt über solche wichtigen Punkte zu diskutieren,wie man die Präventionspolitik tatsächlich verbessernkann, halten Sie heute wieder die Extremismusklauselhoch. Nehmen Sie doch bitte einfach einmal zur Kennt-nis, dass die Extremismusklausel keine Erfindung vonuns ist, sondern von Ihrem eigenen Staatssekretär ge-wählt wurde. Er wollte übrigens nicht nur Google ein-binden; er hat sogar noch angeboten, die Verfassungs-schutzbehörden anzurufen, wenn man Fragen zu seinenProjektpartnern hat.Es hat eben nicht dazu geführt, dass die Zivilgesell-schaft die Mittel nicht mehr in Anspruch nimmt, seitdemwir die Extremismusklausel haben, sondern die Mittel-abrufe sind nach wie vor konstant. Von den über500 Projektpartnern hat sich weniger als eine Handvollgeweigert, die Extremismusklausel zu unterschreiben.
Ich hoffe, dass wir, wenn Sie dieses schrecklicheTheater hier im Plenum des Deutschen Bundestages be-endet haben, wenigstens im Ausschuss wieder sachlichüber Präventionspolitik diskutieren können.
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,liebe Kollegen! Ich darf mich zunächst sehr herzlich beiallen Fraktionen in diesem Hohen Haus dafür bedanken,dass es vorgestern gelungen ist, die gemeinsame Initia-tive gegen Rechtextremismus auf den Weg zu bringen.Leider beißt sich momentan ein Großteil der Opposi-tion an der sogenannten Extremismusklausel – genauer:an der Demokratieerklärung – die Zähne aus. Ich will Ih-nen eines sagen: Als ich das gehört habe, habe ich micherst einmal kundig gemacht, was eigentlich darin steht.Mit der Erlaubnis des geschätzten Präsidenten zitiereich:Hiermit bestätigen wir, dass wir uns zu der freiheit-lichen demokratischen Grundordnung der Bundes-republik Deutschland bekennen und eine den Zielendes Grundgesetzes förderliche Arbeit gewährleis-ten.Als Träger der geförderten Maßnahmen haben wirzudem im Rahmen unserer Möglichkeiten …– niemand verlangt, dass man Google oder den Bundes-nachrichtendienst einschaltet –und auf eigene Verantwortung dafür Sorge zu tra-gen, dass die als Partner ausgewählten Organisatio-nen, Referenten etc. sich ebenfalls den Zielen desGrundgesetzes verpflichten. Uns ist bewusst, dasskeinesfalls der Anschein erweckt werden darf, dasseiner Unterstützung extremistischer Strukturendurch die Gewährung materieller oder immateriel-ler Leistungen Vorschub geleistet wird.Was ist daran falsch?
Meine Damen und Herren und insbesondere liebe Zu-schauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen sowie anden Fernsehgeräten, wir sprechen bei den Fördergeldernvon Steuergeldern. Wir sind Sachwalter Ihrer Steuergel-der. Wir können sie für diese oder jene Initiative bzw.Organisation einsetzen. Es ist völlig richtig, wenn dieFrau Ministerin sagt: Wir wollen Extremismus nicht mitExtremismus bekämpfen. – Deshalb ist dies zumutbarund keinesfalls anstößig.
Vorhin ist sehr viel über den Haushalt 2012 ausge-führt worden. Leider hat es sich nicht vermeiden lassen,dass einige Kolleginnen und Kollegen schon über denHaushalt 2013 diskutiert und immer wieder das ThemaBetreuungsgeld thematisiert haben.Um 12.15 Uhr hat Frau Gesine Lötzsch unserer Ar-beitsministerin an diesem Mikrofon sinngemäß vorge-worfen, arme Menschen erziehen zu wollen, anstatt ih-nen zu helfen. Frau Lötzsch hat in diesem Punkt nichtrecht: Wir wollen Menschen gerade nicht erziehen, son-dern ihnen helfen. Deshalb möchten wir eine Alternativezur staatlichen Betreuung in Kitas anbieten. Deswegengibt es das Betreuungsgeld. Ich weise darauf hin, dassdas mit dem Haushalt 2012 nichts zu tun hat. Wir redenjetzt in dieser erhitzten Debatte schon über den Haushalt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17109
Paul Lehrieder
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2013. In Thüringen hat man gute Erfahrungen gemacht.Die sogenannte Fernhalteprämie, wie es Hubertus Heilum 12.57 Uhr oder Frau Kollegin Marks um 14 Uhr hierausgeführt haben, ist keine Fernhalteprämie, weder inThüringen noch in der übrigen Bundesrepublik. Wirwollen damit unterschiedliche Lebensentwürfe und Er-ziehungsmodelle anerkennen und nicht nur eine einsei-tige staatlich geförderte Betreuung fördern.
Erlauben Sie mir, noch ein paar Sätze zum Haushalt zusagen. Nach den Hauptausgaben des Ministeriums für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend befragt, fallen einemspontan zumeist die Begriffe „Elterngeld“, „Kindergeld“und auch „Kinderzuschlag“ ein. Im Haushaltsgesetz 2012sind allein für diese drei zentralen Ausgabenblöcke ins-gesamt 5,143 Milliarden Euro vorgesehen. 4,6 MilliardenEuro fließen 2012 in das Elterngeld. Das sind rund215 Millionen Euro mehr als in diesem Jahr und in derGesamtbetrachtung mehr als zwei Drittel des gesamtenHaushalts des Familienministeriums.An der Erhöhung der Mittel für das Elterngeld habeninsbesondere die aktiven Väter in unserem Land erhebli-chen Anteil. Bislang nahm knapp jeder vierte Vater mitden Partnermonaten eine Auszeit vom Beruf, um sichdem gemeinsamen Nachwuchs zu widmen. Bei der Ver-abschiedung des Gesetzes, also vor Einführung des El-terngeldes vor fünf Jahren, hätte wohl niemand mit einersolchen Zahl gerechnet. Die Vorgängerleistung, das Er-ziehungsgeld, war 2006 lediglich von 3,5 Prozent derMänner in Anspruch genommen worden, das Elterngeld2007 immerhin schon von 7 Prozent. Laut den aktuellenVeröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes, dieSie heute der Tagespresse entnehmen können, ist die Vä-terbeteiligung, also der Anteil der Väter, die Elterngeldbezogen haben, für im zweiten Quartal 2010 geboreneKinder noch einmal angestiegen, und zwar auf derzeit25,4 Prozent. Im ersten Quartal 2010 waren es 24,4 Pro-zent.Ich muss insbesondere den Sachsen – leider ist FrauKollegin Lazar gerade entschwunden – ein Komplimentmachen. Die sächsischen Mannsbilder sind noch etwasbesser als die bayerischen. 32,8 Prozent der sächsischenVäter nehmen das Elterngeld in Anspruch. Schlusslichtist Bremen mit 16,9 Prozent. Dort muss man noch einbisschen besser werden. Aber die große Nachfrage undAkzeptanz zeugen vom Erfolg des Elterngeldes. Es zeigtsich, dass gerade junge Eltern eine partnerschaftlicheAufgabenteilung begrüßen.
Anhand dieses Ausgabenblocks, den ich aus Zeit-gründen als einzigen beschrieben habe, wird ersichtlichund mehr als deutlich, dass die Familienpolitik derchristlich-liberalen Koalition sehr am Herzen liegt. Fa-milienpolitik ist Zukunftspolitik. Diese Überzeugungspiegelt sich im Haushaltsentwurf 2012 wider.Ich darf mich sehr herzlich bei unserer Frau Ministe-rin Kristina Schröder und beim Herrn StaatssekretärKues für die gute Arbeit bedanken und ihnen weiterhinviel Erfolg auf ihrem Weg wünschen.Danke schön.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte, die letzten
fünf Minuten noch so viel Ruhe zu bewahren, dass sich
auch unsere letzte Rednerin Gehör verschaffen kann.
Als letzter Rednerin zu diesem Einzelplan erteile ich
das Wort der Kollegin Stefanie Vogelsang.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Als letzte Rednerin in dieserDebatte möchte ich auf drei Punkte aufmerksam ma-chen, die mir wichtig sind. Zuerst möchte ich etwas zumKinderschutzgesetz und zu der morgigen Abstimmungim Bundesrat sagen. Mein zweites Thema sind die Kin-derwunschbehandlung und die Aktionen unserer Minis-terin. Mein drittes Thema ist der von Frau Künast ange-sprochene Kompass für das Regierungshandeln.Am Dienstag dieser Woche lautete eine Schlagzeile inder Berliner Morgenpost: „Getötetes Baby – Bezirküberprüft Jugendamt“. Am Mittwoch dieser Woche lau-tete eine Schlagzeile: „Jugendamt holt halb verhungertesKind von der Mutter weg“. Frau Kollegin Lazar hat vor-hin gesagt, wir alle seien uns einig, dass nun Taten fol-gen müssen. Es ist dringend notwendig, dass nun Tatenfolgen. Ich bitte jeden, der Kontakt zu den Ländervertre-terinnen und -vertretern hat, dazu beizutragen, dass derBundesrat morgen dem dringend benötigten Kinder-schutzgesetz zustimmt. Das ist wichtig für die Kinder inDeutschland.
Es gibt viele Paare, die sich Kinder wünschen, aber– aus welchen Gründen auch immer – keine bekommenkönnen. Bis zum Jahr 2005 haben wir Kinderwunschbe-handlungen über die gesetzlichen Krankenkassen finan-ziert. Was die Zahl der infolge solcher Behandlungengeborenen Kinder anbelangt, standen wir als Bundes-republik Deutschland an der Spitze.Dann hat Rot-Grün damals das Gesetz geändert undfestgelegt, dass maximal drei Behandlungen finanziertwerden. Das hat man an den Zahlen gemerkt. Die Zahlder Kinder, die infolge solcher Behandlungen geborenworden sind, ist in erheblichem Maße gesunken. Ich binder Ministerin Kristina Schröder ausgesprochen dank-bar, dass sie dieses Thema aufgegriffen hat, sich dafüreingesetzt hat, dafür gekämpft hat und diesen Akzent inder Familienpolitik gesetzt hat,
sodass es in Zukunft wieder eine stärkere Unterstützungin diesem Bereich gibt.
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17110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Stefanie Vogelsang
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Frau Künast hat vom Kompass beim Regierungshan-deln gesprochen. Frau Marks, Sie haben in Ihrer Redevorhin ebenfalls das Thema „Kompass und Regierungs-handeln“ angesprochen.
– Sie haben sich damit auseinandergesetzt; lesen Sie eseinfach nach. – Ich persönlich bin ausgesprochen frohüber den Kompass, den diese Familienministerin in un-serer Bundesregierung hat. Als 2003 der Generalsekretärder SPD in einer Erklärung sagte: „Wir müssen die Luft-hoheit über den Kinderbetten in diesem Land zurück-erobern“, war das eine Aussage, die mich geschockt hat.Ich bin sehr froh darüber – sehr froh! –, dass wir jetzteine Familienpolitik haben, bei der kein Lebensmodellgegen das andere ausgespielt wird,
bei der jeder nach seiner Fasson seine Kinder erziehenkann und bei der jeder nach seiner Fasson seine Schwer-punkte setzen kann und kein übermächtiger Staat hinein-redet.
In der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung vonheute, liebe Rita Pawelski, steht: „Der neue Babyboomin Hannover“. Die sozialdemokratische Stadtregierungin Hannover erklärt den Babyboom in der Stadt ursäch-lich mit der veränderten Familienpolitik im Bund seit2005. Jetzt ist Familienpolitik nicht mehr nur Gedönswie unter Schröder, sondern die Familienpolitik gibtMüttern wieder das Signal, dass sie gern gesehen sind.Das ist der Grund für den Babyboom.
Das finde ich toll. Jetzt sollten wir zu den Abstimmun-gen kommen.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 17– Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen undJugend – in der Ausschussfassung einschließlich der be-reits am Dienstag beschlossenen Änderungen. Hierzuliegen sechs Änderungsanträge vor, über die wir zuerstabstimmen. Wir beginnen mit drei Änderungsanträgen,zu denen namentliche Abstimmung verlangt wurde.Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, diePlätze an den Urnen zu besetzen. – Sind die Plätze be-setzt? – Das ist der Fall.Zuerst stimmen wir über den Änderungsantrag derFraktion der SPD auf Drucksache 17/7817 ab. Ich er-öffne die namentliche Abstimmung.Haben die Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkarteabgegeben? – Das ist offenkundig der Fall. Dannschließe ich die Abstimmung und bitte, mit der Auszäh-lung zu beginnen.1)Wir kommen dann zur Abstimmung über den Än-derungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache17/7819. Die Urnen sind besetzt. Dann eröffne ich diezweite namentliche Abstimmung.Haben alle Kolleginnen und Kollegen bei der zweitennamentlichen Abstimmung ihre Stimmkarte eingewor-fen? – Ich schließe die zweite namentliche Abstimmungund bitte, auch hier mit der Auszählung zu beginnen.2)Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ände-rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/7821. Die Urnen sind besetzt. Ich eröffnedie dritte namentliche Abstimmung.Haben jetzt alle Kolleginnen und Kollegen ihreStimmkarte für die dritte namentliche Abstimmung ein-geworfen? – Das ist der Fall. Dann schließe ich die drittenamentliche Abstimmung und bitte, mit der Auszählungzu beginnen.3)Wir setzen die Abstimmungen über die weiteren Än-derungsanträge fort. Ich hatte vorhin gesagt, dass es sichum sechs Anträge handelt. Über drei Anträge haben wirnamentlich abgestimmt. Damit kommen jetzt noch dreiweitere Abstimmungen.Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7818. Wer stimmtfür diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derOppositionsfraktionen abgelehnt.Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksa-che 17/7816. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? –Gegenstimmen! – Enthaltungen? – Dieser Änderungsan-trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen beiGegenstimmen von SPD und der Fraktion Die Linke undEnthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abge-lehnt.Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-che 17/7820. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan-trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der namentlichenAbstimmungen unterbreche ich die Sitzung, weil wir an-schließend über diesen Haushalt insgesamt abstimmen.Halten Sie sich aber bitte zur Verfügung. Wenn wir die Er-gebnisse haben, werden wir die Sitzung sofort fortsetzen.
1) Ergebnis Seite 17111 C2) Ergebnis Seite 17113 A3) Ergebnis Seite 17116 A
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17111
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Kerstin GrieseMichael GroschekMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Anton SchaafPeter BleserWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteAngelika Graf Gerold Reichenbach Clemens Binninger Frank HeinrichVizepräsident Dr. HermDie unterbrochene SitzungIch gebe Ihnen die von dSchriftführern ermittelten Erlichen Abstimmungen bekanEndgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 571;davonja: 138nein: 312enthalten: 121JaSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtPetra CroneDr. Peter DanckertElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike Gottschalckann Otto Solms: ist wieder eröffnet.en Schriftführerinnen undgebnisse der drei nament-nt:Michael Hartmann
Hubertus Heil
Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannÄnderungsantrag der SPDsache 17/7817: abgegebene Sgestimmt 137, mit Nein habegen 122. Der ÄnderungsantraAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützUta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesNeinCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen Bilger zum Einzelplan 17, Druck-timmen 571. Mit Ja habenn gestimmt 312, Enthaltun-g ist abgelehnt.Dr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-Esser
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17112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Robert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeHartmut KoschykThomas KossendeyGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina SchröderDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffDr. Edmund Peter GeisenHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinBirgit HomburgerDr. Werner HoyerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
EnthaltenDIE LINKEAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstNicole GohlkeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinDr. Barbara Höll
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17113
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Abgegebene Stimmen: 570; Dr. Peter Danckert Dr. Barbara Hendricks Ullrich Meßmerja: 256nein: 313enthalten: 1JaSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseEdelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseMichael GroschekMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Gabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
davon Elvira Drobinski-Weiß Gustav Herzog Dr. Matthias MierschAuch dieser Änderungsantrag ist abgelehnt.Endgültiges Ergebnis Petra Crone Rolf Hempelmann Petra Merkel
stimmt 257, mit Nein haben gestimmt 313, Enthaltung 1.17/7819: abgegebene Stimmen 571. Mit Ja haben ge-Andrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenHarald KochJan KorteJutta KrellmannCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Änderungsantrag der FrakKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberDr. Kirsten TackmannDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerSahra WagenknechtHalina WawzyniakJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef Felltion Die Linke, DrucksacheDr. Thomas GambkeKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthMonika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeIngrid NestleOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkler
Metadaten/Kopzeile:
17114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützUta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesDIE LINKEAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstNicole GohlkeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenHarald KochJan KorteJutta KrellmannCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Kathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberDr. Kirsten TackmannDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerSahra WagenknechtHalina WawzyniakJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSyliva Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthMonika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeIngrid NestleOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann OttLisa PausBrigitte PothmerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip WinklerNeinCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeHartmut KoschykThomas KossendeyGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger Kruse
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17115
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Bettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDBernhard BrinkmannHeinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina SchröderDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelKlaus-Peter WillschFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffDr. Edmund Peter GeisenHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinBirgit HomburgerDr. Werner HoyerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Horst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
EnthaltenSPDHans-Ulrich KlosePaul Lehrieder Tankred Schipanski Oliver Luksic
Metadaten/Kopzeile:
17116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
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Michael Groschek Sönke Rix Dr. Gregor Gysi Bettina HerlitziusWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Dr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenDr. Rosemarie HeinDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenHarald KochDr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMichael Groß René Röspel Heike Hänsel Priska Hinz
Änderungsantrag vomDrucksache 17/7821: Abgegehaben gestimmt 258, mit Neihaltungen keine. Auch dieserlehnt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 571;davonja: 258nein: 313JaSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtPetra CroneDr. Peter DanckertElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagSigmar GabrielMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseBündnis 90/Die Grünen,bene Stimmen 572. Mit Jan haben gestimmt 314, Ent- Änderungsantrag ist abge-Hubertus Heil
Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützUta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesDIE LINKEAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstNicole GohlkeDiana GolzeJan KorteJutta KrellmannCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Kathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberDr. Kirsten TackmannDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerSahra WagenknechtHalina WawzyniakJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKatrin Göring-EckardtBritta Haßelmann
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17117
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Memet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthMonika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeIngrid NestleOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip WinklerNeinCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeHartmut KoschykThomas KossendeyGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergLothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina SchröderDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelKlaus-Peter Willsch
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17118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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circa 10 Prozent. Das ist zunächst einmal, Frau Ministe-Einzelplan 30Bundesministeriumschung– Drucksachen 17/712Berichterstattung:Abgeordnete EckhardKlaus HagemannHeinz-Peter HausteinMichael LeutertPriska Hinz
Hierzu liegen zwei Ändeder SPD vor. Außerdem liegder Fraktion Die Linke vornach der SchlussabstimmungNach einer interfraktionedie Aussprache eineinhalb SWiderspruch? – Das ist nichbeschlossen.Ich eröffne die Aussprachener dem Kollegen Klaus Hagtion das Wort.für Bildung und For-3, 17/7124 –t Rehbergrungsanträge der Fraktiont ein Entschließungsantrag, über den wir am Freitag abstimmen werden.llen Vereinbarung sind fürtunden vorgesehen. Gibt est der Fall. Dann ist das so und erteile als erstem Red-emann von der SPD-Frak-gut so.
Aber lassen Sie uns dahinteich schauen da schon kritisch
er selbst loben und das alsU sowie bei Abgeord- Döring [FDP]: Wennrblicken. Andere und aucher hin: Aber Sie loben uns!)gesagt worden ist, auch tat-achten die in den Medienau, und zwar in Medien al-weise im Bereich Studium.r 2008 groß angekündigtenist. Auch ich möchte dieserte Bildungsforscher KlausIch rufe nun Tagesordnungspunkt II.17 auf:rin und liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union,Elisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDHans-Ulrich KloseFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffDr. Edmund Peter GeisenHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinBirgit HomburgerDr. Werner HoyerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberWir kommen nun zur Abstimmung über den Einzel-plan 17 in der Ausschussfassung einschließlich der amDienstag beschlossenen Änderungen. Wer stimmt dafür? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Einzel-plan 17 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-gen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom-men.Holger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ausgaben fürBildung und Forschung steigen auf den ersten Blick um
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17119
Klaus Hagemann
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Klemm hat gemeinsam mit dem Gewerkschaftsbundeine Untersuchung vorgelegt.
Die Fragestellung war, ob es durch die zusätzlichen Mil-liarden für das Bildungswesen, für den Ausbau der Krip-penplätze oder das Senken der Zahl der jungen Men-schen ohne abgeschlossene Ausbildung Fortschrittegegeben hat. Das Ergebnis: Die Fortschritte sind kaummessbar.Die DGB-Vizevorsitzende
– Frau Sehrbrock ist Mitglied Ihrer Partei, der CDU –sagt: Die Bildungsrepublik ist in weiter Ferne. Die Bil-dungsrepublik ist eine Fata Morgana.
Dem ist nichts hinzuzufügen. Herr Klemm hat recht,Frau Sehrbrock hat recht, und auch der Deutsche Ge-werkschaftsbund hat recht.
Wenn wir genau hinsehen, dann stellen wir fest, dassdas 12-Milliarden-Paket eine Mogelpackung ist, zumin-dest von der Zahl her; denn auf meine Anfrage hin hatdie Bundesregierung eingeräumt, dass nur die Auf-wüchse in die Rechnung einbezogen wurden. Die Kür-zungen im Bereich Bildung, und zwar in allen betroffe-nen Haushalten, zum Beispiel beim Haushalt für Arbeitund Soziales, werden einfach nicht mitgezählt bzw. weg-gelassen.
Es handelt sich um große Summen an Mitteln für Bil-dung. Meine Kollegin Bettina Hagedorn hat in ihremRedebeitrag darauf hingewiesen. Sie machen es so wiedie Sonnenuhr: Man zählt einfach nur die schönen Stun-den, die anderen, das Unangenehme, lässt man weg.
Bei der beruflichen Qualifizierung haben Sie kräftigeKürzungen vorgenommen: bei der Qualifizierung Ju-gendlicher ohne Hauptschulabschluss, bei den Ausbil-dungsabbrechern, bei den ausbildungsbegleitenden Hil-fen sowie bei der beruflichen Weiterbildung. Für das Jahr2010 und 2011 fielen fast 1,8 Milliarden Euro an Bil-dungsmitteln weg. Sehr geehrte Frau Ministerin Schavan,wo waren Sie? Wo haben Sie Widerstand gegen die star-ken Kürzungen im Berufsbildungsbereich geleistet?
Auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung undim Bereich des Auswärtigen Amtes – die Zahlen sindnachgewiesen – gibt es Kürzungen im Bildungsbereich.Ich möchte auf ein weiteres Minus eingehen – schonbei der ersten Lesung habe ich darauf hingewiesen –: Je-des Jahr werden Mittel, die vom Parlament bewilligtworden sind, nicht verausgabt. Zwischenzeitlich sind dasfast 900 Millionen Euro. Im Gesamthaushalt des Bundeswurden im Bildungsbereich fast 3 Milliarden Euro nichtverausgabt bzw. gestrichen. Deswegen ist das Ganzeeine Mogelpackung.
Wir haben dieser Tage eine Statistik erhalten, die be-sagt, dass 515 000 junge Männer und Frauen begonnenhaben, zu studieren. Das entspricht einem Plus von16 Prozent. Das ist auch gut so.
Nur, für die Studienanfänger, lieber Kollege Rehberg,herrscht bei der Studienplatzvergabe das gleiche Chaos,das schon in den letzten drei Jahren herrschte; denn dasdialogorientierte Serviceverfahren ist wieder nicht zu-stande gekommen.
Die Zeit schreibt dazu – ich zitiere –:Endloses Drama um die Software zur Studienplatz-vergabe: Wie konnte so viel schiefgehen? Und werist schuld?Zehntausende … werden keinen Studienplatz ergat-tern, obwohl irgendwo noch welche frei sind.
Das ist Realität. Da können Sie noch so viel herum-schreien. Damit müssen Sie sich auseinandersetzen.
Ich möchte auch die Probleme bei der Umsetzung desQualitätspakts Lehre ansprechen. Die Jugendlichenbrauchen Studienplätze, aber auch Dozenten und Profes-soren, damit sie ordentlich studieren können. Das Minis-terium hat mir mitgeteilt, dass Bescheide ergangen sindund bisher nur 90 Professoren mehr eingestellt wurden,um all die Studierenden zu betreuen. 90 Professorenmehr für 400 Hochschulen, das ist viel zu wenig.
Ich wette, dass es auch hier wieder Haushaltsausgabe-reste geben muss. Schon im Juli 2010 haben wir imHaushaltsausschuss beantragt, dass hierfür mehr Mittelzur Verfügung gestellt und für den Qualitätspakt Lehreentsperrt werden.
Ich möchte den Forschungsbereich ansprechen. Die-ser Tage wurde der Rechnungshofbericht vorgelegt. Ichmöchte nicht jede Aussage unterstreichen, aber doch da-rauf hinweisen, dass der Rechnungshof – ich zitiere –begründete Zweifel hat, ob das 12-Milliarden-Euro-Pro-
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17120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Klaus Hagemann
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gramm die gewünschte Wirkung entfalten kann. FrauMinisterin, ich frage Sie: Was wollen Sie tun, um dieKritik zurückzuweisen? Welche Abläufe werden Sie än-dern? Werden Sie das untersuchen, um den guten Rufder deutschen Forschung zu erhalten? Ist nach zehn Jah-ren programmorientierter Förderung nicht eine externeEvaluierung der Abläufe erforderlich? Darüber habenwir uns in dieser Woche in einem Berichterstatterge-spräch unterhalten. Am Schluss hatte ich aber mehr Fra-gen als gegebene Antworten.Lassen Sie mich auch die steuerliche Forschungsför-derung ansprechen. Ich kann mich daran erinnern, dassdie von mir hochgeschätzte Kollegin Flach hier jedesJahr gesagt hat: Wir brauchen für die Forschung einesteuerliche Entlastung. Wo bleiben denn die Gesetzent-würfe? Die Hälfte der Legislaturperiode ist vorbei. Hiermuss gehandelt werden. Legen Sie die entsprechendenGesetzentwürfe vor! Bisher ist nichts geschehen. Auf ei-nem sogenannten Forschungsfrühstück des BDI, an demich teilgenommen habe, hieß es: Für die Hoteliers habensie Geld, aber für die Forschungsförderung haben siekein Geld.
Lassen Sie mich noch ein anderes Thema ansprechen,das Wissenschaftsfreiheitsgesetz. Auch hier gab es großeAnkündigungen, aber auch hier ist nichts geschehen. Siehaben die Laufzeit der Leitlinien, die wir für diesen Be-reich in der Großen Koalition entwickelt haben, schonzweimal verlängert – der Kollege Rehberg kann das be-stätigen –, das sogenannte Wissenschaftsfreiheitsgesetzliegt aber immer noch nicht vor. Fehlanzeige!Zu den Personalkosten möchte ich nur Folgendes sa-gen: Das Ministerium hat etwa 1 000 Beschäftigte. Es gibtaber ein Schattenministerium: Es gibt weitere 300 Be-schäftigte bei den Projektträgern, die in keinem Stellen-plan auftauchen. Ich bin dankbar, dass die Koalition denRechnungshof endlich gebeten hat, auch dies zu untersu-chen. Wir stehen voll hinter diesem Beschluss.Eine ganze Reihe weiterer Punkte wäre zu nennen.Sie können das auf meiner Homepage unter „Schwarz-buch Schavan“ nachlesen.
Das Büro des Kollegen Rupprecht hat sich dafür schonim Vorfeld interessiert.Lassen Sie mich zum Schluss, meine sehr verehrtenDamen und Herren, auf Folgendes hinweisen: Investitio-nen in Bildung und Forschung sind Zukunftsinvestitio-nen.
Deswegen haben wir ein Programm formuliert, das sichauf die Bildungsausgaben aller zuständigen Ministerienbezieht: „Nationaler Pakt für Bildung und Entschuldung.Wir denken an morgen!“
Wir fordern 10 Milliarden Euro für verschiedene Maß-nahmen in den nächsten zehn Jahren: von der Förderungder Kinderkrippen über das Ganztagsschulprogramm bishin zum Qualitätspakt Lehre und zur Ausbildungsförde-rung. Wir haben dazu ein detailliertes Programm vorge-legt. Allein die Handlungsanleitungen für den Bildungs-bereich umfassen drei Seiten. Sie brauchen dem nurzuzustimmen. Dann haben Sie einen Ausgleich zu IhrerMogelpackung.In diesem Sinne bitte ich Sie, dass Sie unseren Ände-rungsanträgen zustimmen; denn es sind gute Anträge.
Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhardt Rehberg von
der CDU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! „Bildungsrepublik ist eine Fata Morgana“, „kaummessbar“, Herr Kollege Hagemann, aus Ihren Wortenspricht aus meiner Sicht der pure Neid
auf eine erfolgreiche Politik. Bei uns gestaltet sich Poli-tik nicht nach dem Motto „Versprochen, gebrochen“,sondern nach dem Motto „Versprochen, gehalten“.
Wenn die hochgeschätzte Frau Sehrbrock vom DGBmeint, Fakten nicht anerkennen zu müssen, dann nenneich sie:
Wir haben einen Aufwuchs der Haushaltsmittel in die-sem Bereich von 2011 auf 2012 von 11,1 Prozent.
Das heißt, wir haben allein im Hochschulpakt 550 Mil-lionen Euro draufgepackt. Damit haben wir die doppel-ten Abiturjahrgänge und die Aussetzung der Wehrpflichtausfinanziert.Darüber hinaus entlasten wir die Kommunen. Nach ei-nem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts gibt es Leis-tungen für Behinderte nicht nur nach dem Sozialgesetz-buch über die Kommunen, sondern auch über BAföG.Allein diese beiden Positionen on top sind runde 700 Mil-lionen Euro. Dass Ihnen das nicht passt, Herr Hagemann,kann ich mir sehr gut vorstellen. Das ist erfolgreiche undim Übrigen auch verlässliche Politik.
Wenn irgendwelche Bildungsforscher meinen, dassEffekte nicht eintreten, lassen Sie mich zwei Beispielenennen.
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Erstens. Die Zahl der Altbewerber ist in den letztendrei Jahren um 80 000, nämlich von 260 000 auf rund180 000, zurückgegangen. Damit Sie nicht in eine völ-lige Amnesie verfallen, meine Damen und Herren vonder SPD: Sie haben uns 2005 eine Jugendarbeitslosigkeitvon fast 16 Prozent hinterlassen. Wir haben sie fast hal-biert. Auch das ist erfolgreiche Politik.
Zweitens. Wir haben in den letzten sechs Jahren denAnteil der Gymnasiasten von 23 auf 30 Prozent gestei-gert. Das Ergebnis ist: Im Jahre 2011 haben wir diehöchste Zahl von Erstsemesterstudenten, die die Bun-desrepublik Deutschland je gesehen hat, nämlich515 800. Auch hier beweist sich, dass unsere Politik er-folgreich ist. Dass Ihnen das nicht passt, ist mir vollkom-men klar.Herr Kollege Hagemann, wenn Sie behaupten, dassdie Mittel nicht abfließen: Von 46 Milliarden Euro sindin der Amtszeit von Frau Schavan weniger als 1 Mil-liarde Euro, also 1,7 Prozent, nicht abgeflossen. Ich kannIhnen einmal die Zahlen von Frau Bulmahn nennen. Nureine einzige – 2003, Ganztagsschulprogramm –: Biszum Ende der Amtszeit 2005 waren weniger als 1 Mil-liarde Euro abgeflossen. Erst Frau Schavan hat die Mit-tel im Ganztagsschulprogramm vernünftig umgesetzt.Kommen Sie uns nicht mit dem Märchen, die Mittel flie-ßen nicht ab! Ich finde es eine mehr als herausragendeLeistung, wenn seit 2006 von 46 Milliarden Euro ledig-lich 1 Milliarde Euro nicht abfließt.
Auch hier noch einmal ein Blick zurück: Schauen Siesich einmal an, wie angeblich sozial Sie beim ThemaBAföG waren! In sieben Jahren Rot-Grün haben Sie dasSchüler-BAföG um 28 Euro
und das Studierenden-BAföG um 34 Euro erhöht. Ichnenne Ihnen einmal, Herr Rossmann, die Steigerungs-sätze von 2005 bis 2011: Schüler-BAföG um 190 Euro,also das Sechsfache, Studierenden-BAföG um mehr als200 Euro, auch das Sechsfache. Kommen Sie uns nichtmit irgendwelchen Schaufensteranträgen zum ThemaBAföG! Wir brauchen keinen Nachhilfeunterricht, son-dern wir haben in den letzten sechs Jahren gehandelt.
Wenn Sie, Herr Kollege Hagemann, uns kritisierenund behaupten, wir veranstalteten beim Mittelabfluss ir-gendwelche Mätzchen, muss ich sagen: Wenn wir IhrenAntrag hinsichtlich der 400 Millionen Euro beim Ganz-tagsschulprogramm angenommen hätten, dann – das un-terstelle einmal – wäre nicht 1 Cent abgeflossen.
Voraussetzung für die Aufhebung des Kooperationsver-bots, das heißt eine Änderung des Grundgesetzes, isteine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag undeine Zweidrittelmehrheit im Bundesrat.
Ich sehe nicht einmal ansatzweise, Herr KollegeRossmann, dass zwei Drittel der Länder dafür sind, dasKooperationsverbot aufzuheben.Jetzt denken Sie einmal schön zurück. Die beidenVorreiter, die auf dem Kooperationsverbot bestanden ha-ben, waren Kurt Beck aus Rheinland-Pfalz – er ist nochim Amt – und Roland Koch.
Das gestehe ich selbstkritisch ein. Es gibt aktuell aberkeine Zweidrittelmehrheit. Hören Sie auf, uns zu erzäh-len, dass Ihre Anträge seriös und solide sind. Das sindSchaufensteranträge.
– Herr Kollege Rossmann, wir beide haben uns schoneinmal über Steuern unterhalten. – Wir werden, was dieLänder betrifft, in den nächsten Jahren Steuermehrein-nahmen verzeichnen: 9 Milliarden Euro von 2011 auf2012, 8,5 Milliarden Euro von 2012 auf 2013, 9 Milliar-den Euro von 2013 auf 2014. Jetzt denken Sie einmal da-ran zurück, welches Steuerminus Sie mit der Steuerre-form 2000 provoziert haben.
Allein im Bereich der Körperschaftsteuer und Gewerbe-steuer waren es im letzten Jahrzehnt kumulativ über120 Milliarden Euro. Dafür sind Sie verantwortlich.
Wenn Sie auf die Kommunen schauen, sehen Sie,dass wir die Kommunen bis 2015 mit 12 Milliarden Eurobei der Grundsicherung ausstatten, und zwar ohne Ge-genleistung.
Das sind in 2014 allein für Mecklenburg-Vorpommern72 Millionen Euro. Kommen Sie uns nicht damit, dasswir nichts dafür tun, dass Kommunen in der Lage sind,zum Beispiel bei Kindergärten, bei Kinderkrippen dieGegenfinanzierung sicherzustellen. Ich möchte nichtwissen, was in Nordrhein-Westfalen bei diesem Themalos ist. Nein, wir stellen uns der Verantwortung, währenddie Kommunen in den SPD-geführten Ländern knappbei Kasse gehalten werden.
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Wir, die Koalitionsfraktionen, haben in der Bereini-gungssitzung,
so meine ich, einige wesentliche Änderungen vorgenom-men.
Zum Beispiel beim Programm zur Berufsorientierung– die 50 Millionen Euro wurden vollständig in Anspruchgenommen; die Mittel sind gebunden – stocken wir um15 Millionen Euro auf, damit noch mehr Schulen an die-sem Programm teilnehmen können. Kollege Hagemann,so sieht es in der Wirklichkeit aus.
Wir haben im Bereich „Weiterbildung und lebenslangesLernen“ 5 Millionen Euro für ein Programm zur Alpha-betisierung aufgelegt.
– Herr Kollege Rossmann, wir haben speziell für diesenZweck den Titel um 5 Millionen Euro aufgestockt. Dasist konkrete und nachhaltige Politik.Zum Schluss. Sie sagen, bei der Forschung kommenichts heraus. Herr Kollege Hagemann, was Sie im Au-genblick in der Forschungslandschaft machen, ist schä-digend für den Forschungsstandort Deutschland.
– Ich sage gleich noch ein paar Sätze dazu. – Sie solltensich ganz genau überlegen, ob all das, was Sie in denletzten Tagen und Wochen treiben, dazu beiträgt, dassdas Wissenschaftsfreiheitsgesetz so ausgestaltet seinwird, wie wir es uns wünschen. An dieser Stelle möchteich mehr dazu nicht sagen.Ich möchte noch etwas zu den Forschungsausgabeninsgesamt anmerken. Beim ZIM haben wir Hebelfakto-ren von eins zu acht. Bei den Innovationsallianzen habenwir Hebelfaktoren von eins zu fünf. Es ist mittlerweilegelungen, dass die Wirtschaft selber im Bereich For-schung und Entwicklung insgesamt über 56 MilliardenEuro auf den Tisch packt. Wir steuern unsere 13 Milliar-den Euro bei. Wir sind kurz davor, das 3-Prozent-Ziel zuerreichen, Stück für Stück, aber beharrlich. Wenn mansich ansieht, wie viel Prozent des Bruttoinlandsproduktsandere Länder in Europa für Forschung und Entwick-lung ausgeben, kann man, glaube ich, feststellen: Die Si-tuation in Deutschland kann sich mehr als sehen lassen.
Ich sage Ihnen: Im Bildungsbereich – ob wir über denAnstieg der Zahl von Gymnasiasten und Erstsemester-studenten
oder über den Rückgang der Zahl von Schülern ohneSchulabschluss sprechen – sind überall positive Zahlenzu vermelden.
Was den Forschungsbereich betrifft, ist es mittler-weile so, dass hochkarätige Wissenschaftler und For-scher aus der ganzen Welt an die Türen der Forschungs-einrichtungen und Universitäten in Deutschland klopfen,weil sie dort arbeiten wollen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie könnenso viele Haare in der Suppe finden, wie Sie wollen: DieFakten und die Realitäten sind andere.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Michael Leutert von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Rehberg, ich möchte versuchen, einiges geradezu-rücken. Es ist ja bekannt, dass dieses Ministerium fürIhre Koalition das Ministerium der großen Worte ist. Siesagen, dass Sie 12 Milliarden Euro mehr für Forschungund Bildung zur Verfügung stellen. 10 Prozent des Brut-toinlandsproduktes sollen für Forschung und Bildungausgegeben werden. Als einziges Ministerium erfährt IhrMinisterium, Frau Schavan, in diesem Jahr einen respek-tablen Aufwuchs von über 1 Milliarde Euro. Man kannsagen: Sie leiten ein Ministerium, das eigentlich im Geldschwimmt.
Aber Sie täuschen die Öffentlichkeit und führen dieMenschen an der Nase herum. Ich frage Sie: Was habenSie eigentlich mit Bildung zu tun? Die Antwort lautet:Nichts. Ich möchte das kurz skizzieren. Die meistenMenschen bringen mit dem Begriff „Bildung“ dieSchule in Verbindung. Schulen werden in den Kommu-nen gebaut. Lehrer werden von den Ländern bezahlt. So-wohl die Länder als auch die Kommunen haben nichtmehr Geld zur Verfügung – im Gegenteil. Das wissenhier alle, und das hat auch etwas mit der Politik vonSchwarz-Gelb zu tun.Was ist Ihr Anteil daran? Sie müssen auf Bundes-ebene versuchen, das viele Geld, das Sie bekommen, ir-gendwie loszuwerden. Sie haben beschlossen, dass dieForschungseinrichtungen jedes Jahr pauschal 5 Prozentmehr Geld bekommen.
Ein ganz konkretes Beispiel: Die Helmholtz-Gemein-schaft hatte im Jahr 2005 knapp 1,5 Milliarden Euro zur
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Verfügung. Im Jahr 2015 wird die Helmholtz-Gemein-schaft knapp 3 Milliarden Euro zur Verfügung haben.Das ist eine Verdopplung. Vielen ist aber nicht bekannt,dass der Bund die Helmholtz-Gemeinschaft nicht alleinfinanziert. Vielmehr sind die Länder mehr oder wenigergezwungen, 10 Prozent beizusteuern.
Dafür müssen von den Ländern also 150 Millionen Euromehr aufgebracht werden. 150 Millionen Euro werden inden Ländern gebunden und können nicht für die Schulenzur Verfügung gestellt werden.
Ich kann nur sagen, Frau Schavan: Durch dieses Vorge-hen nehmen Sie den Ländern Geld weg, das sie für dieSchulen benötigen.
– Hören Sie weiter zu!Auch wir Linke wissen, dass Forschung ein wichtigerBereich ist, und sind ebenfalls dafür, dass dafür Geld zurVerfügung gestellt wird. Man muss aber auch dafür sor-gen, dass dieses Geld ausgegeben wird.An dieser Stelle komme ich wieder auf die Helm-holtz-Gemeinschaft zu sprechen – Herr Rehberg, Siewissen genau, worum es geht; wir hatten erst in der letz-ten Woche ein Berichterstattergespräch über diesesThema –: Bei der Helmholtz-Gemeinschaft ist so vielGeld angekommen, dass sie nicht in der Lage ist, es aus-zugeben. Ein Betrag von 315 Millionen Euro wird in dienächsten Jahre übertragen.
Der Bundesrechnungshof hat dazu seitenweise Papierbeschrieben und diese Praxis aufs Schärfste kritisiert. Erfordert eine externe Evaluierung. Der Bundesrechnungs-hof hält es nicht für vertretbar, die nächste Programm-periode zu beginnen, ohne das Verfahren zuvor ernsthaftauf den Prüfstand zu stellen.
Ihr Ministerium, Frau Schavan, hält eisern dagegen, dassei überhaupt kein Problem. Ich sage Ihnen klipp undklar: Das, was hier passiert, ist natürlich ein Problem.Das Geld wird nämlich im Bildungsbereich dringend ge-braucht. Es darf nicht so sein, wie ich es beschriebenhabe: dass auf Länderebene kein Geld für die Schulenzur Verfügung steht, dass aber im ForschungsbereichGeld herumliegt und nicht ausgegeben wird, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.
– Besuchen Sie einmal Schulen in Berlin. Dann werdenSie sehen, wie die Situation dort ist, Herr Kollege.
Das Gleiche passiert im Übrigen auch an andererStelle. Wir haben im Haushaltsausschuss miteinandergerungen und uns dafür eingesetzt, dass für beruflicheBildung, für Weiterbildung und für lebenslanges Lernenausreichend Geld zur Verfügung gestellt wird. Aber ge-rade in dem Bildungsbereich, in dem Sie etwas tunkönnten, wird das meiste Geld eben nicht ausgegeben.Allein im Jahr 2010 sind 144 Millionen Euro in diesemBereich übrig geblieben. Auch in diesem Jahr sind vieleGelder nicht abgeflossen.Frau Ministerin, wenn Sie in irgendeinem Bereichversuchen, etwas Neues zu tun, zum Beispiel in derHochschulpolitik, dann versenken Sie das Geld in unsin-nige Projekte. Ich nenne hier nur das Deutschlandstipen-dium.
Statt das BAföG so aufzustocken, wie es nötig wäre, da-mit die Studierenden in unserem Land die tatsächlichenKosten eines Studiums decken können, versuchen Sie,ein Stipendium einzuführen, das von der überwiegendenAnzahl der Experten als unsinnig bezeichnet wird, dasnicht funktioniert – von 10 Millionen Euro sind lediglich3,5 Millionen Euro abgeflossen; das sollten Sie sich ein-mal überlegen – und das auch noch sozial ungerecht ist.
– Sie scheinen ja sehr getroffen zu sein, so wie Sie re-agieren. Ich sage Ihnen klipp und klar: Dieses Ministe-rium ist kein Bildungsministerium; es ist ein reines For-schungsministerium.
Der Ehrlichkeit halber sollten wir seinen Namen in „For-schungsministerium“ ändern, zumindest solange Sie re-gieren.Wissen Sie, Frau Schavan, die Politik, die Sie hier seitJahren betreiben – es ist eine Politik, die zeigt, dass Sienicht in der Lage sind, das Geld auszugeben, das vomParlament zur Verfügung gestellt wird, eine Politik, bei
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der das Geld dann, wenn es ausgegeben wird, an der fal-schen Stelle ausgegeben oder in schlechten Projektenversenkt wird –, wird bei uns mittlerweile als Schavanis-mus bezeichnet.
Für so eine Politik stehen wir nicht zur Verfügung. Wirkönnen den Haushalt nur ablehnen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz-Peter Haustein
von der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! In genau einem Monat ist Heilig-abend. Dann kommt der Weihnachtsmann.
Beim Einzelplan 30 hat man den Eindruck: Der Weih-nachtsmann war schon da und hat üppige Geschenkemitgebracht.
Doch ehe ich zu den Zahlen komme – das muss manals Haushälter tun –, bedanke ich mich bei den Bericht-erstattern, besonders bei Dir, Ecki Rehberg, auch bei Dir,Klaus Hagemann, und natürlich bei dem Ministeriumvon Frau Schavan, einem kompetenten Haus.
Der Einzelplan 30 umfasst einen Aufwuchs von rund11 Prozent; das sind 1,3 Milliarden Euro mehr. Es istklar, dass es da der Opposition schwerfällt, eine Kritikanzubringen; dieser Haushalt des Ministeriums für Bil-dung und Forschung ist nämlich einfach ein Erfolgs-haushalt. Ich möchte ein paar Zahlen nennen; denn Zah-len lügen nicht. Gerade im Bereich des Bildungswesensgibt es zum Beispiel bei der Position „Studenten- undWissenschaftleraustausch“ ein Plus von 22 Prozent auf135 Millionen Euro. Bei den Zuschüssen zur Begabten-förderung gibt es ein Plus von 34 Prozent; das bedeuteteine Aufstockung auf 264 Millionen Euro. Auch habenwir die Position „Verbesserung der Berufsorientierung“auf 65 Millionen Euro aufgestockt.Ein anderes Stichwort ist der Fachkräftemangel. Hierhaben wir die richtigen Weichen gestellt. Wir müssen indie Köpfe investieren. Das machen wir; die Zahlen lügennicht. Die Position „Wettbewerbsfähigkeit des Wissen-schafts- und Innovationssystems“ wurde um 17 Prozentauf 4,8 Milliarden Euro erhöht. Das ist richtig viel Geld.Dafür vielen Dank an die Steuerzahlerinnen und Steuer-zahler!
Die Mittel für den Qualitätspakt Lehre wurden um25 Prozent auf immerhin 175 Millionen Euro aufge-stockt. Wir investieren in die Forschung – zum Beispielin die Gesundheitsforschung, die Klimaforschung, dienaturwissenschaftliche Forschung –, Stichwort „High-tech-Strategie“, insgesamt 4,8 Milliarden Euro; das istein Plus von 7 Prozent. Das kann sich doch sehen lassen.Wir haben auch die Mittel für zahlreiche Institute er-höht: Als Zuschuss vom Bund erhalten das Bundesinsti-tut für Berufsbildung 35 Millionen Euro, die DeutscheForschungsgemeinschaft 982 Millionen Euro, die Max-Planck-Gesellschaft 678 Millionen Euro, die Leibniz-Gesellschaft über 380 Millionen Euro, die Fraunhofer-Gesellschaft 462 Millionen Euro und die Helmholtz-Ge-meinschaft sage und schreibe 1,83 Milliarden Euro. Daslässt sich sehen. Ein Dank an die Institute für ihre Leis-tung für unser Land!
Das sind erst einmal Zahlen. Diese Zahlen lassen sichbesser verstehen, wenn man Vergleiche zieht.
Wie war es denn unter Rot-Grün?
Von 1998 bis 2005, also in sieben Haushalten, gab es ei-nen Aufwuchs von 908 Millionen Euro. Das war in sie-ben Jahren Rot-Grün.
Richten wir den Blick auf unsere christlich-liberaleKoalition: In drei Haushalten gab es einen Aufwuchsvon 2,7 Milliarden Euro – das ist der Unterschied –,
und das, obwohl wir die Schuldenbremse einhalten, ob-wohl wir sparen und obwohl wir die Nettokreditaufnahmegesenkt haben.
– Wir machen weniger Schulden. Ich erinnere daran, werSchulden gemacht hat: Sie haben in sieben Jahren Rot-Grün fast 300 Milliarden Euro Schulden gemacht. Sie ha-ben unter Rot-Grün alles schuldenfinanziert.
Heute werfen Sie uns vor, Schulden zu machen. So funk-tioniert das nicht.
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Kollege Leutert hat davon gesprochen, wir gäben dasGeld nicht aus. Ist das denn schlimm? Der Haushalt legtdie maximalen Ausgaben fest: 306 Milliarden Euro.Wenn wir weniger ausgeben, ist das nicht schlimm,Michael Leutert.
– Nein, es ist nicht schlimm, wenn auch in den Ministe-rien gespart wird. Wir müssen das Geld nicht ausgeben.Es gibt keinen Zwang, Geld auszugeben. Auch das ge-hört zur soliden Haushaltsführung.
Ich fasse zusammen: Rot-Grün hat in sieben Jahrenfür Forschung und Bildung fast nichts gemacht.
Hier geht jetzt der D-Zug ab, oder, um beim Bild vonWeihnachten zu bleiben: Bei euch gab es Bockwurst, beiuns gibt es Weihnachtsgänse.In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem Erz-gebirge.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz von
Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer auch immer indieser Woche über Bildung spricht, darf nicht nur überZahlen reden.
Er darf auch nicht nur über Gänse, Bockwurst und weißGott was reden, was Rot-Grün im Gegensatz zu IhrerKoalition gemacht hat. Wer auch immer in dieser Wocheüber Bildung redet, muss auch über Demokratie, überToleranz, über interkulturelles Miteinander reden.
Wir haben es in den letzten Tagen erlebt: Wir sind in derVerantwortung, die Grundlagen für diese Begriffe klar-zumachen. Bildung ist ein essenzieller Bereich, um dieseGrundlagen zu vermitteln. All das kann uns nur dadurchgelingen, dass wir durch Bildung in die Menschen und indas Miteinander der Menschen investieren.
Ich bedaure es sehr und ich rege mich auch ein biss-chen darüber auf, dass Sie die ganze Bildungsdebatte aufdas verkürzen, was Sie bisher vorgeführt haben. Denn essteckt doch viel mehr dahinter.Was erwarten wir von Bildung? Ich erwarte gerade indieser Woche eine Debatte darüber, wie wir zum Bei-spiel durch Investitionen in Bildung eine Einwande-rungsgesellschaft prägen, wie wir sie gestalten können,was das alles für die Kinder und Jugendlichen in unse-rem Bildungssystem bedeutet und wie es uns gelingt, inder Infrastruktur für Anerkennung und Offenheit zu sor-gen.
– Ich komme gleich darauf. – Dann kommen Sie mit Ih-rem „Wir gegen die“. Das Gleiche findet leider auch inder Gesellschaft statt. Ich finde, ein solches „Wir gegendie“ kann es beim Brennball- oder Volleyballspiel ge-ben; es sollte aber nicht in unseren bildungspolitischenDebatten und auch nicht in unseren Bildungseinrichtun-gen stattfinden.
Für uns sollte gelten: Bildung hat Priorität in dieserGesellschaft. Deshalb ist es recht und billig, dass wir inBildung investieren. Es darf nicht nur um die Frage ge-hen, was die einen und was die anderen gemacht haben,sondern auch darum, wie wir das Ganze gemeinsamvoranbringen.Ehrlich gesagt, habe ich in der Anmutung Ihrer De-batten diese Botschaft bisher schwer vermisst. Geht esIhnen tatsächlich darum, die Bildungspolitik voranzu-bringen, oder geht es Ihnen um Rechthaberei? Ich habedas Gefühl, es geht Ihnen nur um das Zweite.
Kommen wir zu der Frage, welche Rolle die Bil-dungsministerin dabei spielt, gerade auf Bundesebene.Wenn wir unsere Ziele erreichen wollen, brauchen wirmehr interkulturell ausgebildetes Personal. Dabei sindSie in der Pflicht. Gerade in dieser Woche wünsche ichmir von Ihnen die Botschaft: Es ist wichtig, dass es auchin den Bildungseinrichtungen Menschen mit Migrations-hintergrund gibt. Ich wünsche mir eine Ministerin, diedafür gerade in einer Zeit, in der wir über den Mangel anErzieherinnen und Erziehungseinrichtungen reden, Be-geisterung schafft. Es reicht nicht, zu wissen, dass man-che Sachen schiefgehen werden. Das Wichtigste wirdsein, entsprechend zu handeln und etwas dagegen zu tun.Was tun Sie gegen den Fachkräftemangel? Was tunSie für die Weiterbildung von Erzieherinnen in diesemLand? Was tun Sie, um mehr Migrantinnen und Migran-ten für diese Berufe zu begeistern?
Hierauf wünsche ich mir Antworten. Diese Antwortenfinde ich gerade in Ihrer Politik nicht.
Zu Ihrem Anerkennungsgesetz.
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Ekin Deligöz
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Sie tun so, als ob Sie damit etwas Großartiges geschaf-fen hätten.
Dieses Gesetz wurde mit der Zusage verabschiedet, dassjeder eine Beratung erhält, für den dies notwendig ist.Alle Menschen, die hier arbeiten wollen, sollen eine ent-sprechende Beratung und die nötige Anerkennung be-kommen.
Was tun Sie dafür, dass diese Beratung überhauptstattfindet? Sie müssten doch jetzt dafür sorgen, dass imHaushalt Mittel dafür eingestellt werden. Sie sagen: Naja, das ist nicht unser Haushalt, sondern der von Frauvon der Leyen. Okay, dann tun Sie etwas dafür, dass dieMittel im Haushalt von Frau von der Leyen eingestelltwerden. Diese Mittel sehe ich dort aber leider auch nicht.Sie haben diese Zusagen gemacht. Also setzen Sie sieauch um! Es reicht nicht, nur mit Begriffen um sich zuwerfen, sondern Sie müssen Ihr Vorhaben schon umset-zen, wenn Sie in diesem Bereich tatsächlich etwas ver-ändern wollen. Ich warte noch immer auf die Angabe,wo wir diese Mittel wiederfinden werden. Ich sehe sienicht.Zur Qualitätsentwicklung in diesem Bereich. Wer istin Deutschland zuständig dafür? Welche Institution wirdsagen, nach welchen Kriterien das Ganze erfolgen soll?Hierauf sind Sie die Antwort schuldig. Sie haben ein Ge-setz vor sich liegen und wissen eigentlich gar nicht, wieSie es umsetzen sollen.Zur beruflichen Bildung junger Menschen. Sie sagen:Wir haben hier Geld investiert. Gleichzeitig gibt es nochimmer 300 000 jugendliche Altbewerberinnen und Alt-bewerber, die nicht wissen, wohin, die also gewisserma-ßen auf der Straße sind.
An diesem Punkt sieht man doch: Allein mit mehrGeld löst man die Probleme an dieser Stelle nicht. DieFrage ist: Welche Strukturen schaffen Sie, damit auchdiese jungen Menschen tatsächlich einen Platz in dieserGesellschaft finden?Es reicht hier nicht, dass Sie die Jugendlichen eineSchleife nach der anderen durchlaufen lassen, ohne dasssie in dieser Zeit weiterqualifiziert werden. Nicht nurmehr Geld, sondern auch eine Strukturreform ist not-wendig. Dafür ist Mut erforderlich, und genau diesenMut wünsche ich mir auch von Ihnen und von der Minis-terin.
Frau Schavan, Sie haben auf Ihrem Parteitag etwassehr Wichtiges gesagt: „Kindeswohl schlägt Koopera-tionsverbot“. Leider ist Ihre Partei Ihren Weg in einemoderne Bildungsrepublik nicht mitgegangen. Leiderwaren die Ideologiedebatten beherrschend, und leidergab es zu viele Ängste. Ihre Partei hat den Schritt in dieBildungsrepublik nicht gewagt, sondern sie hat diesenWeg durch irgendwelche Prüfaufträge zulasten der Kin-der in diesem Land aufgeweicht.
Wenn Sie die Eltern, die Lehrer, die Schulleitungenund die Bürgermeister landauf, landab fragen, dann wer-den Sie feststellen: Von den Menschen und von der Ge-sellschaft bekommen Sie sehr wohl Unterstützung. Nurweil Ihre Partei nicht so weit ist wie die Gesellschaft,heißt das noch lange nicht, dass das, was die Gesell-schaft will, falsch ist.
Liebe Frau Schavan, an diesem Punkt kann ich Sienur auffordern: Seien Sie mutig! Nehmen Sie all IhrenMut zusammen! Versuchen Sie, den Bundesrat für eineVerfassungsänderung zu gewinnen! Wir werden Sie da-rin unterstützen – auch gegen Ihre Partei. Mutig müssenSie aber schon sein. Ein Bekenntnis dazu haben Sieschon abgelegt. Jetzt müssen Sie es auch umsetzen, liebeFrau Schavan.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Albert Rupprecht das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Frau Kollegin Deligöz, Sie haben beim Thema In-tegration vollkommen ausgeblendet, dass wir vor weni-gen Wochen hier im Deutschen Bundestag das Anerken-nungsgesetz beschlossen haben.
Ich glaube, es ist unstrittig – das wurde von allen Fach-leuten anerkannt –, dass das ein Meilenstein für die Inte-gration ist.
Sie hatten sieben Jahre lang Zeit und haben in diesemBereich nichts gemacht. Das ist ohne Zweifel ein außer-ordentlich komplexes Werk. Deswegen war das keineSache, die von heute auf morgen erledigt werden konnte;aber wir haben das Ganze vollzogen.Es gehört zur demokratischen Kultur, dass man sichmit den Anträgen der Opposition sehr ernsthaft aus-einandersetzt. Wir haben sowohl die Anträge, die Sie imAusschuss, als auch die, die Sie in der ersten Lesung hiereingebracht haben, und Ihre Argumente sehr sauber
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Albert Rupprecht
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strukturiert, untersucht, geprüft und diskutiert. Ich möchtesie im Wesentlichen in vier Bereichen zusammenfassen.Erstens. Sie kritisieren im Bereich der Projektförde-rung Kürzungen oder angebliche Kürzungen, beispiels-weise bei den neuen Werkstoffen oder der Produktions-forschung. Wir haben das geprüft. Ich maße mir nicht an,zu behaupten, dass man als Parlamentarier bei einemHaushalt von beinahe 13 Milliarden Euro jede Positionbis ins Letzte durchdrungen hat; deswegen braucht esauch die Diskussion zu diesen Themen.Ihre Kritik stimmt nicht: Es gab hier keine Kürzung.Die Erklärung dafür ist schlichtweg, dass die Pro-gramme im Haushalt 2012 unter anderen Titelüber-schriften eingeordnet sind. Ich nenne ein Beispiel. Siehaben kritisiert, dass bei der Elektromobilität angeblichgekürzt wird. In Wirklichkeit ist es so, dass dieser Be-reich herausgenommen wurde und im Bereich Energie-und Klimafonds neu erfasst wird. Wir haben unter demStrich sogar einen massiven Aufwuchs der entsprechen-den Mittel.
Zweitens. Sie haben, auch heute, mehrere Anträge zurGanztagsschule, zum Hochschulpakt und zur Nach-wuchsoffensive eingebracht, deren Umsetzung ein Ver-stoß gegen die Verfassung wäre. Nach dem Stand derVerfassung, den wir heute haben, führten diese Anträgezu einem Verstoß gegen die Verfassung, weil sie die Zu-ständigkeit der Bundesländer betreffen. Wir können andieser Stelle gerne darüber diskutieren, ob und auf wel-che Art und Weise wir die Verfassung ändern wollen.Fakt ist aber, dass wir den Haushalt diese Woche be-schließen. Wir haben einen Haushalt zu verabschieden,der verfassungskonform ist. Ich erwarte schon, dass Par-lamentarier im Deutschen Bundestag die Verfassung re-spektieren und einhalten.
Weder Sie noch wir haben derzeit einen präzisen Vor-schlag für eine Verfassungsänderung, der sowohl imBundestag als auch im Bundesrat eine Zweidrittelmehr-heit bekommen würde. Deswegen sind diese Anträge inder Tat Schaufensteranträge – Ecki Rehberg hat das zuRecht gesagt –, die vollkommen fehl am Platze sind unddie hier im Grunde genommen nichts zu suchen haben.
Wir wollen ein Mehr an Kooperation, Herr Rossmann;aber das muss sauber überlegt sein.
Es ist der richtige Weg, dass der Wissenschaftsrat beauf-tragt wird, bis 2013 eine vertiefte, saubere Analyse undeinen Vorschlag vorzulegen. Das, Herr Rossmann, wol-len auch Ihre SPD-Ministerpräsidenten; auch die SPD-Ministerpräsidenten wollen den Wissenschaftsrat beauf-tragen.
Angesichts dessen stelle ich der SPD-Fraktion die Frage,ob sie der Ansicht ist, dass wir heute entscheidungsreifsind, und ob sie den Auftrag an den Wissenschaftsraternst nimmt. Nehmen Sie den Auftrag ernst, dann müs-sen wir bis 2013 warten. Unserer Meinung nach ist esnotwendig, die Analyse zu vertiefen und die Diskussionzu führen. Wir werden die Zeit nutzen, um zu diskutie-ren. Aber wir werden letztendlich erst 2013 auf Basisdieser Vorlagen entscheiden können.
– Ich gehe davon aus, dass der Wissenschaftsrat seinenVorschlag im Frühjahr 2013 vorlegen wird. Dann sindwir – davon gehe ich aus – entscheidungsreif.Drittens. Ein weiterer Kritikpunkt von Ihnen ist derMittelabfluss. Ecki Rehberg hat ihn angesprochen. HerrHagemann, Sie sind seit September in Deutschlands Me-dienlandschaft mit der Aussage unterwegs, MinisterinSchavan habe es nicht im Griff, zusätzliches Geld ver-nünftig unter die Leute zu bringen. Herr Hagemann, die-ser Vorwurf ist vollkommen falsch.
Zu den Fakten – ich wiederhole die Zahl, die EckiRehberg schon genannt hat –: Das Ministerium hat, seitMinisterin Schavan Verantwortung trägt, 46 MilliardenEuro verausgabt. 98,3 Prozent dieser Summe sind er-folgreich investiert worden. Das ist im Vergleich zu an-deren Ressorts ein hervorragender Wert.
Wenn es zu Verzögerungen gekommen ist, dann liegtdas primär an zwei Elementen:Erstens. Länder, die die Gelder verwenden können,haben sie nicht ausreichend schnell abgerufen. Wir ha-ben uns die Liste vergegenwärtigt: Das sind insbeson-dere SPD-geführte Länder.
Darüber müssen Sie mit Ihren Ministerpräsidenten re-den.Zweitens. Es handelt sich um internationale Großpro-jekte, bei denen es sein kann, dass sich Verhandlungen,wie beispielsweise bei FAIR, um einige Monate verzö-gern.Deswegen, Herr Hagemann, sage ich an dieser Stellenoch einmal klar und deutlich: Sie erwecken wider bes-seres Wissen in der Öffentlichkeit und auch bei den Kol-legen den Eindruck, als hätten wir im Bereich der For-schung und Bildung zu viel Geld.
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Albert Rupprecht
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Damit schaden Sie der Bildung und der Forschung in un-serem Land, sehr geehrter Herr Hagemann.
Das ist inakzeptabel.Nachdem Sie gemerkt haben, dass das Thema Mittel-abfluss im Grunde genommen fachlich und sachlichnicht belastbar und Ihre Argumentation letztendlich wi-derlegbar ist, haben Sie seit einigen Wochen ein neuesThema, nämlich Projektträger – „Schattenministerium“.Das ist sozusagen eine Medienkampagne „Hagemann,die Zweite“. Eigentlich schauen Sie wie ein seriöser, so-lider Buchhalter aus. Aber in Wirklichkeit sind Sie einMedienmann,
allerdings brutal oberflächlich. Sie werfen dem Ministe-rium vor, dass es über Projektträger eine Art Schatten-ministerium aufbaue, und zum anderen, dass das Geldineffizient in der Verwaltung versickere und nicht beiden Menschen ankomme. Auch diese Medienstory istschlichtweg falsch.Die Projektmittel sind seit 2005 um sage und schreibe89 Prozent gestiegen.
Das ist ein Riesenerfolg für den ForschungsstandortDeutschland, wie wir meinen.
Aber die Zahl der tatsächlich beschäftigten Mitarbeiterbei diesen Projektträgern ist in diesem Zeitraum von 710auf 746 gestiegen, das heißt um 5 Prozent. Die Mittelsind um 89 Prozent und die Zahl der Mitarbeiter ist um5 Prozent gestiegen. Herr Hagemann, auch dieser Vor-wurf ist eine vollkommene Luftnummer. In Wirklichkeitist die Effizienz dramatisch positiv gestiegen: fast eineVerdoppelung der Mittel, aber fast dieselbe Personen-zahl.
Sie sollten das anerkennen und wertschätzen, statt in denMedien den Eindruck zu erwecken, dieses Haus könnemit Geld nicht vernünftig umgehen und habe zu vielGeld. Sie schaden dem Forschungs- und Bildungsstand-ort Deutschland, Herr Hagemann. Das leisten und bewir-ken Sie damit.
Im Übrigen ist der Weg über Projektträger jahrzehnte-lang praktiziert worden.
Das ist jedes Jahr mit dem Haushaltsausschuss, demBundesrechnungshof und dem Finanzministerium abge-stimmt worden.
Sie sind seit Jahren Mitglied des Haushaltsausschussesund haben im Grundsatz jedes Jahr die Hand zu diesemVerfahren gehoben; denn es macht Sinn, dass man Pro-jekte über Projektträger abwickelt, weil das günstigerkommt, als wenn man eine entsprechende Zahl von Mit-arbeitern im eigenen Haus beschäftigen würde. Deswe-gen ist das ein vernünftiges Verfahren. Darüber hinauszeigen die Zahlen ganz klar, wie bereits formuliert, dassdas auch ein effizientes Verfahren ist.
Herr Hagemann, die Realität ist ganz anders, als Siesie darstellen. Noch nie war Forschung und Bildung inDeutschland so erfolgreich wie unter Kanzlerin Merkelund Ministerin Schavan. In diesem Etatbereich gibt esgegenüber 2005 eine Steigerung um sage und schreibe74 Prozent. Das ist in Deutschland historisch einzigartig.Darüber hinaus ist das auch international herausragend.Wir erleben derzeit, dass in Zeiten der Staatsverschul-dungskrise überall – mit Ausnahme des asiatischenRaums – in diesen Bereichen gespart wird. In den USAsitzen die Forscher auf gepackten Koffern und überle-gen, nach Deutschland zu kommen. Deutschland wirdaus dieser großen weltweiten Krise nicht nur im wirt-schaftlichen Bereich, sondern auch im Forschungs- undBildungsbereich gestärkt hervorgehen. Das ist unserWeg, und den werden wir gehen.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich Ernst Dieter
Rossmann das Wort.
Herr Kollege, weil Sie das gemeinsame Anliegen,wieder zu einem vernünftigen Verhältnis zwischen Bundund Ländern zu kommen, was die Förderung von Bil-dung, Forschung und Wissenschaft angeht, mit einer ge-wissen Schärfe angesprochen haben, möchte ich dazuviererlei feststellen:Das Erste. Wenn Sie hier schon den Wissenschaftsratins Spiel bringen – es wird noch zu fragen sein, auf wel-cher Grundlage und von wem eigentlich autorisiert –:Sie erinnern sich hoffentlich noch daran, dass es Sie da-mals, als wir für die Zusammenarbeit zwischen Bundund Ländern bei der Förderung von Wissenschaft undBildung leider gravierende Fehlentscheidungen getrof-fen haben, einen Dreck interessiert hat, was der Wissen-schaftsrat dazu gesagt hat. Er war nämlich vehement da-gegen und hat vor Fehlentwicklungen gewarnt.
Das Zweite. Wenn Sie es nicht können, wird FrauSchavan liefern müssen. Sie muss dann sagen, ob es ei-nen Beschluss der Ministerpräsidenten gibt, nicht aktivzu werden, sondern den Wissenschaftsrat zu beauftra-gen. Sie werden heute hier liefern müssen, nachdem Sie
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17129
Dr. Ernst Dieter Rossmann
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behauptet haben, dass es diesen Beschluss geben soll.Sie haben die Ministerpräsidenten sozusagen mit in Haftgenommen, als Sie sagten, dass so etwas beschlossenworden sei. Sie werden das gleich hoffentlich belegenkönnen. Sonst wäre das sehr merkwürdig, hier einen sol-chen Prozess anzustoßen.Zum Dritten. Sie unterbinden, dass wir einen gutenWeg einschlagen. Sie können diesen guten Weg offen-sichtlich nicht zusammen mit SPD, Grünen, Linken undanderen gehen, weil Sie in Ihrer eigenen Regierungs-koalition durch unglückselige Entscheidungen des FDP-Parteitages derart blockiert sind, dass Sie das Ganze ver-schieben müssen.
Zu einer wahrhaftigen und differenzierten Betrachtunggehört, dass wir gerne anerkennen, dass der Beschlussdes CDU-Parteitags eine gewisse Offenheit aufweist.Offenheit darf aber nicht bedeuten, dass man das jetztendlos auf der Zeitachse nach hinten schiebt, sondernmuss beinhalten, dass man in der Sache jetzt zu einemKonsens und zu einer Lösung kommt. Man darf nichtabwarten, sondern muss das politisch aufgreifen und an-gehen. Das ist unser Angebot.Zum Vierten sagen wir frank und frei: Es stört uns garnicht, wenn sich Frau Merkel und Frau Schavan noch indieser Legislaturperiode die Feder an den Hut steckenund eine Grundgesetzänderung durchsetzen, die dazuführt, dass Bund und Länder im Bildungsbereich besserzusammenwirken. Es würde uns aber stören, erneut Zeitzu verlieren. Frau Schavan, heften Sie sich diese Federgerne an den Hut! Gleich dazu sage ich: Dann könnenSie auch gehen.Danke schön.
Kollege Rupprecht, bitte.
Herr Kollege Hagemann, es gibt nicht nur Offenheit – –
– Entschuldigung, Herr Rossmann! Ich war so sehr auf
Herrn Hagemann eingeschossen. Er war heute sozusa-
gen mein Lieblings-Sozi.
Herr Rossmann, es gibt sicherlich Offenheit in der
Unionsfraktion und in der Unionspolitik. Beispielsweise
hat der bayerische Kultusminister Spaenle an dieser
Stelle deutlich formuliert – wenn Sie damals genau zu-
gehört haben, erinnern Sie sich bestimmt –, dass er für
Vorschläge zu Einrichtungen und Vorhaben im Hoch-
schulbereich offen ist. Es gibt also Offenheit. Aber es
bedarf in der Tat einer substanziellen Diskussion. Wir
haben zig Kamingespräche geführt und mit Fachleuten
diskutiert und haben nach jeder Diskussion festgestellt,
dass das Thema ausgesprochen komplex ist und diffe-
renziert zu behandeln ist. Wenn wir Zuständigkeiten
übernehmen, müssen wir sie auch finanziell schultern
können. Zudem sind klare Verantwortlichkeiten notwen-
dig.
Die entscheidende Frage lautet in der Tat: Sind wir in-
haltlich ausreichend fit, um 2011 oder 2012 zu entschei-
den? Wir haben beschlossen, die Empfehlungen des
Wissenschaftsrates abzuwarten;
denn der Wissenschaftsrat kennt die Wissenschaftsland-
schaft. Sie haben darauf hingewiesen, dass das bei der
letzten Föderalismuskommission so nicht gehandhabt
wurde. Das heiße auch ich nicht gut. Wie Sie wissen,
sind damals viele Themen verhandelt und teilweise re-
gelrecht verhackstückt worden. Was dabei herausgekom-
men ist, entsprach nicht unbedingt der Position unserer
Forschungs- und Bildungspolitiker. Da kann man
nachtarocken, aber es ist nun einmal, wie es ist.
Ich glaube, jetzt, im Jahr 2011, ist der richtige Zeitpunkt,
um das noch einmal zu vertiefen.
Zum letzten Punkt: Sie haben gefragt, ob es tatsäch-
lich einen Beschluss der Ministerpräsidenten gibt. Ich
habe gesagt, dass die Ministerpräsidenten einen Be-
schluss fassen wollen. Mein Kenntnisstand ist: Man wird
im Januar oder Februar nächsten Jahres tagen. Dann
wird sich entscheiden, ob der Wissenschaftsrat beauf-
tragt wird.
Ich meine, dass das notwendig und richtig wäre. Ich
frage Sie, Herr Rossmann, ob Sie ebenfalls der Meinung
sind, dass der Wissenschaftsrat beauftragt werden soll.
Wir plädieren dafür. Wenn Sie die Frage mit Ja beant-
worten und der Wissenschaftsrat beauftragt wird, sollten
wir die Diskussion führen und nicht bis 2013 abwarten.
Aber entscheiden können wir erst 2013.
Das Wort hat nun Oliver Kaczmarek für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichwill es – auch in der Gesamtschau der ersten Lesung desHaushaltsplans und der heutigen Lesung – gleich vor-wegnehmen: Wir kritisieren als Opposition nicht, dass inden Einzelplan 30 mehr Mittel eingestellt sind. Das istgar nicht der Kritikpunkt. Allerdings muss man – HerrKollege Hagemann hat es bereits ausgeführt – den ge-
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17130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Oliver Kaczmarek
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samten Haushalt in den Blick nehmen. Vor diesem Hin-tergrund kritisieren wir, dass Sie das Geld falsch ausge-ben und mehr Wert auf spektakuläre Überschriften legenals auf bildungspolitische Kärrnerarbeit. Das ist unsereKritik an dem, was Sie hier vorgelegt haben.
Ich will da anknüpfen. Entscheidend ist doch: Wennwir ambitionierte bildungspolitische Projekte wie Aus-bau der Betreuung der unter Dreijährigen, Ausbau derGanztagsschulen, Reduzierung der Zahl der Schulabgän-ger ohne Abschluss oder bessere Studienbedingungen inAngriff nehmen wollen, dann müssen wir eine gesamt-staatliche bildungspolitische Anstrengung initiieren.Dazu sehe ich keine Impulse vonseiten der Bundesregie-rung.Wir müssen den Erwartungen der Menschen entspre-chen. Es ist keinem mehr zu vermitteln, dass es Bundund Ländern nicht erlaubt sein soll, bei der Finanzierungvon wichtigen bildungspolitischen Vorhaben zusammen-zuarbeiten. Wir wollen, dass Bund und Länder gemein-sam Verantwortung für Bildung übernehmen können.Deswegen ist die Aufhebung des Kooperationsverbotesein entscheidender Schritt.
Die FDP hat sich mit ihrem Parteitagsbeschluss ausder Diskussion abgemeldet; das ist zu verschmerzen. DieCDU ist in ihrem Beschluss hinreichend beliebig. Wirwerden in der übernächsten Woche auf unserem Partei-tag in Berlin einen ganz konkreten Vorschlag für eineGrundgesetzänderung vorlegen. Da sind wir gesprächs-bereit. Sie können sicher sein – das sage ich, weil dashier gerade eine Rolle gespielt hat –: Die sozialdemokra-tischen Ministerpräsidenten werden diesen Weg mitge-hen. Herr Schummer, die sozialdemokratische Minister-präsidentin von Nordrhein-Westfalen wird an der Spitzedieser Bewegung sein. Wir sind gesprächsbereit undwollen sehen, was dabei herauskommt.
Wenn man über Bund-Länder-Beziehungen spricht,gilt auch: Wer von den Ländern immer größere Anstren-gungen erwartet – zumindest bei der ersten Lesung desEtats sind die Redner der Koalitionsfraktionen nichtmüde geworden, darauf hinzuweisen –, der darf ihnen fi-nanziell nicht das Wasser abgraben. Allein durch dieSteuersenkungen, die Sie für die Zeit ab 2013 vereinbarthaben bzw. planen – man weiß es noch nicht so genau;es gibt keine ganz konkreten Unterlagen dazu –, werdenden Ländern Steuerausfälle in Höhe von etwa 2 Milliar-den Euro jährlich entstehen.Nicht vergessen dürfen wir dabei – wir haben ver-sprochen, dass wir das bei jeder Beratung hier zum Aus-druck bringen –, dass durch Ihr großzügiges Geschenkan Hoteliers und reiche Erben zu Beginn der Legislatur-periode
– ja, wir werden das auch bei weiteren Debatten immerwieder betonen, so lange, bis Sie es zurücknehmen –
Steuerausfälle in Höhe von über 2 Milliarden Euro beiden Ländern und über 1,5 Milliarden Euro bei den Kom-munen entstehen.
Herr Rehberg, dass diese Koalition die Kommunen tat-sächlich entlastet hat, ist, glaube ich, eine exklusiveSichtweise, die nur diese Koalition selbst hat.
Das ist genau das Geld, das fehlt, um in den Ländernund in den Kommunen Zukunftsinvestitionen in Bil-dung, in den Ausbau der Ganztagsbetreuung, in Ganz-tagsschulen oder auch in bessere Studienbedingungentätigen zu können. Allein mit dem Geld, das Sie für daspädagogisch umstrittene Betreuungsgeld – so sage iches einmal – ausgeben wollen, könnten bundesweit55 000 Ganztagsbetreuungsplätze finanziert werden.Deshalb sage ich: Wer sich politisch so unverantwortlichverhält wie diese Koalition, der hat keinen bildungspoli-tischen Kompass; der ist einfach mental und politischsehr weit von dem entfernt, was Sie „BildungsrepublikDeutschland“ nennen.
Kolleginnen und Kollegen, wir als SPD haben zurFinanzierung von langfristigen Aufgaben im Bildungs-wesen einen Pakt für Bildung und Entschuldung vorge-legt,
mit dem wir ab 2016 zusätzlich 10 Milliarden Euro beimBund und auch 10 Milliarden Euro bei den Ländern fürBildung mobilisieren wollen. Dazu wollen wir schon abdem nächsten Jahr – ich komme damit auf unseren Än-derungsantrag zu sprechen – einen moderaten Beitragderjenigen einfordern, die besonders hohe Einkommenoder Vermögen haben.
Wir halten das für gerecht, weil es hier um die Finanzie-rung von Zukunftschancen junger Menschen geht.Die Debatte um die Studienanfängerzahlen, die sichin den letzten Tagen neu entzündet hat, und das, was dasStatistische Bundesamt vorgelegt hat, müssen ein Weck-ruf für Ihre Koalition sein, wie mein Kollege SwenSchulz gegenüber den Medien ganz richtig erklärt hat.Wir brauchen jetzt wirksame Maßnahmen, damit jungeMenschen, die das wollen, ein Studium aufnehmen undauch zu Ende – nach unserer Meinung bis zum Master –studieren können. Von der Bildungsministerin haben dieStudierenden in dieser Hinsicht offensichtlich nicht vielzu erwarten. So interpretieren wir zumindest die Äuße-rungen, die wir in den letzten Tagen dazu gelesen haben.
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Oliver Kaczmarek
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Wir als SPD-Fraktion haben deshalb unter anderembeantragt, den Hochschulpakt 2020 bundesseitig um200 Millionen Euro aufzustocken, um damit 50 000 zu-sätzliche Studienplätze noch in 2012 zu finanzieren;
denn der Freude über erhöhte Studienanfängerzahlenmüssen auch konkrete Taten für bessere Studienbedin-gungen folgen.Lassen Sie mich noch ein Thema ganz kurz erwäh-nen, weil man den Eindruck hat, dass die Ministerin sichgern im Glanz großer Zahlen sonnt, aber manchmal dieMühen der Ebene etwas scheut. Ich möchte hier über7,5 Millionen Menschen in Deutschland sprechen, die alsfunktionale Analphabeten gelten. Das ist eine Riesenhe-rausforderung für unser Bildungssystem. Hinsichtlich derUnterzeichnung eines Paktes für Alphabetisierung undGrundbildung hören wir von der Bundesregierung seitMonaten eher wenig Konkretes. Wenn es nicht bald zurUnterzeichnung dieses Paktes kommt, der einer sehrgroßen Gruppe von Menschen, die am Rand des Bil-dungssystems stehen, nützt, dann wird die Luft für dieTräger der Grundbildung dünn. Sie wissen doch – dassteht zum Teil auch in dem Etat der Bildungsministerin –,dass es Projekte gibt, die Ende des Jahres auslaufen. So-mit würden Trägerstrukturen infrage gestellt; die Trägermüssten sich überlegen, ob sie Personal entlassen oderihre Fixkosten reduzieren. Insofern darf Ihnen das nichtgleichgültig sein; denn so werden Strukturen beschädigt,die wir für die Grundbildung und zur Alphabetisierungbrauchen. Deshalb muss der Alpha-Pakt kommen. DieBundesregierung und die Ministerin müssen hier ihrerVerantwortung gerecht werden.
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wennman viel Geld in einen Haushalt einstellt, muss man esauch richtig einsetzen können. Man muss die richtigenPrioritäten setzen und die Lage von jungen Menschen imBildungswesen erkennen und politisch aufgreifen. Inso-fern reicht es nicht, sich auf Überschriften und Prestige-projekte zu konzentrieren. Vielmehr ist da bildungspoli-tische Kärrnerarbeit gefragt.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Patrick Meinhardt für die FDP-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Wir erleben hier eine äußerst sphärischeDebatte; jedenfalls lässt das, was ich hier gerade wiedergehört habe, darauf schließen.Kommen wir einmal zu den Grunddaten zurück. Mit-telfristiges Ziel dieser Regierungskoalition ist es, 10 Pro-zent des Bruttoinlandsprodukts der BundesrepublikDeutschland in den Bereich Bildung und Forschung zuinvestieren. Zum Zeitpunkt der Abfrage beim Stifterver-band waren es 2,77 Prozent im Bereich Forschung und6,5 bis 6,8 Prozent im Bereich Bildung. Wir liegen alsobereits jetzt bei 9,5 bis 9,6 Prozent des Bruttoinlandspro-dukts.
Es war eine gigantische Kraftanstrengung, das bis zumjetzigen Zeitpunkt zu erreichen. Das Ziel ist, 201510 Prozent des BIP in Bildung und Forschung zu inves-tieren.
Um das zu erreichen, bedarf es eines Motors. DieserMotor ist dieser Bundeshaushalt. Dass wir innerhalb vonvier Jahren 12 Milliarden Euro mehr in Bildung und For-schung investieren, dass wir in diesem Jahr ganz konkreteinen Aufwuchs von 11,1 Prozent zu verzeichnen haben,dass der Haushalt in den vergangenen zweieinhalb Jah-ren um 27 Prozent auf fast 13 Milliarden Euro gesteigertwurde – wir haben es hier mit einem Rekord-Bildungs-und -Forschungsetat zu tun! –, ist in einer Krise genaudie richtige Antwort. Genau das macht diese Regie-rungskoalition: Investitionen in Bildung, Investitionen inForschung, Investitionen in Innovation.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, genauso wichtigist es, dass wir schauen, an welchen Stellen wir welcheMaßnahmen treffsicher einsetzen. Wir wissen, wie wich-tig der Wettbewerb der Länder und der Bildungseinrich-tungen um die bestmöglichen Bildungsangebote ist. Vorallem seit wir den Lernatlas haben, wissen wir, wiewichtig der Wettbewerb der Regionen um die bestmögli-che Bildungspolitik werden wird. Umso wichtiger undrichtiger war es, dass diese Regierungskoalition sich da-rauf verständigt hat, lokale und regionale Bildungsbünd-nisse, Allianzen für Bildung, zu stärken. Denn nur woregionale Bildungsnetzwerke Wirkung entfalten, kannBildungspolitik zur Förderung des Einzelnen beitragen.Deswegen ist dieser Ansatz goldrichtig.
Genauso wichtig ist es, so früh wie nur möglich mitder Förderung zu beginnen. Sprachförderung ist wichtig.Deswegen haben wir die Offensive „Frühe Chancen“ biszum Jahre 2014 mit 400 Millionen Euro ausgestattet.Das Projekt „Lesestart“ haben wir mit 26 Millionen Euroausgestattet. Angesichts dessen – das ist angesprochenworden –, dass wir 7,5 Millionen funktionale Analpha-beten in der Bundesrepublik Deutschland haben, brau-chen wir einen Grundbildungspakt; auch das ist im Be-reich der Sprachförderung ein sehr wichtiges Thema.Diese Regierung macht sich auf den Weg, einen solchenGrundbildungspakt zu schließen. Um den Alphabetisie-
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17132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Patrick Meinhardt
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rungspakt in die Wege leiten zu können, haben wir indiesen Haushalt 5 Millionen Euro zusätzlich eingestellt.Damit haben wir den entsprechenden Haushaltsansatzum 60 Prozent gesteigert. Das ist die korrekte Darstel-lung und nicht das, was eben hier gesagt worden ist.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, lebenslangesLernen entlang einer Bildungskette ist ein enorm wichti-ger Punkt. So stellen wir uns Bildung vor. 31 MillionenEuro fließen in diese Bildungsketten. Viel wichtiger istfür mich aber, in diesem Zusammenhang hervorzuheben:Es ist ein gutes Zeichen, dass wir innerhalb kürzesterZeit den Erfolg der Weiterbildungsprämie feiern können.150 000 Weiterbildungsprämien, 75 000 allein in diesemJahr, sind ein Zeichen dafür, dass wir bei der Weiterbil-dung eine Erfolgsgeschichte schreiben. Das muss aucheinmal an dieser Stelle hervorgehoben werden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Talente fördern,schlummernde Begabungen wecken – das ist eine Auf-gabe der Bildungspolitik. Deswegen haben wir das Pro-gramm zu den Aufstiegsstipendien erfolgreich fortge-setzt und 3 000 Aufstiegsstipendien gewährt, deswegendehnen wir die Begabtenförderung auf die beruflicheBildung aus, deswegen kriegen die Begabtenförderungs-werke 40 Millionen Euro im kommenden Jahr mehr, unddeswegen legen wir beim Deutschlandstipendium auchnoch einmal 26,7 Millionen Euro oben drauf.Einer der wichtigsten Grundsätze lautet: Es zähltnicht, woher du kommst, sondern wer du bist. Das setzenwir mit dieser Talentförderung um.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, dieser Haus-halt verstärkt das Fundament einer bildungsgerechtenGesellschaft und ist ein Schaufenster für Innovation undfür Zukunft dieser Gesellschaft.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Nicole Gohlke für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Meine Damen und Herren von der Regierung, es hilftauch nichts, wenn Sie sich hier einfach nur sehr vielselbst loben.
Zunächst wissen Sie ja, was man über Eigenlob sagt,aber vor allem ist es doch so, dass die Probleme in derBildung dadurch überhaupt nicht geringer werden. Mankann sie nicht so einfach wegloben, wie Sie das hier ver-suchen.An den Hochschulen jedenfalls ist von Ihrer viel be-schworenen Bildungsrepublik wenig zu spüren. Sie soll-ten vielleicht einfach einmal dort hingehen. Die Semi-nare sind überfüllt, Laborplätze fehlen, sieben von achtLehrenden arbeiten auf befristeten Stellen. Wenn man inHochschulstädten eine Wohnung sucht, dann sollte manam besten reiche Eltern haben. Die Wohnheime, aberauch die Mensen und die Bibliotheken sind völlig über-lastet.
500 Meter weiter weg von hier, in der Mensa derHumboldt-Universität, wird das Essen neuerdings nurnoch auf Plastiktellern serviert. Keramik und Spülma-schinen kann man sich da nicht mehr leisten. Das sinddie Ergebnisse auch Ihrer Politik. Das hat schon auchwas mit der Bundespolitik zu tun. Nehmen Sie das ein-fach einmal zur Kenntnis!
Wenn Sie mir schon nicht glauben – dafür habe ichVerständnis, weil ich Ihnen natürlich auch nichts glaube –,dann würde ich Ihnen raten: Sprechen Sie doch einfacheinmal mit den Angestellten der Mensa! Lassen Sie sichüber die aktuellen Arbeitsbedingungen, über die aktuelleArbeitsbelastung aufklären! Oder reden Sie einfach ein-mal mit einem der vielen Bewerber oder einer der vielenBewerberinnen, die jetzt wegen der verschärften Zulas-sungsbeschränkungen keinen Studienplatz bekommenhaben, die jetzt vor den verschlossenen Toren der Hoch-schule stehen, obwohl sie sich ein Abitur erarbeitet ha-ben.
Genau deswegen, wegen dieser ganzen Probleme, diedie Regierung so geflissentlich ignoriert, sind letzte Wo-che wieder Tausende Schülerinnen und Schüler und Stu-dierende auf die Straße gegangen, und sie haben recht,wenn sie lautstark für ihre Zukunftschancen eintreten.
Alle wissen, es gibt die doppelten Abiturjahrgänge,die Wehrpflicht wurde ausgesetzt, und immer mehrjunge Menschen wollen studieren. Nicht nur wir alsLinke haben Sie seit Jahren darauf hingewiesen, alle ha-ben Sie darauf hingewiesen, und trotzdem haben Sienicht gehandelt. Das Schlimmste daran ist, Sie haben garnicht vor, das zu korrigieren, zum Beispiel mit diesemHaushalt. Bereits in diesem Jahr fehlen mindestens66 000 Studienplätze. Die Zahlen sind von gestern, vomStatistischen Bundesamt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17133
Nicole Gohlke
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Bis 2015 sollen nun 336 000 Studienplätze geschaffenwerden.
– Ja. – Aber alle Experten sagen Ihnen – von der Hoch-schulrektorenkonferenz über die Gewerkschaft Erzie-hung und Wissenschaft bis hin zum Centrum für Hoch-schulentwicklung; dann glauben Sie halt denen –, dassmindestens 500 000 Studienplätze benötigt werden. IhrHaushalt hat mit einer bedarfs- oder mit einer nachfrage-gerechten Ausfinanzierung nichts zu tun. Das ist dieWahrheit über Ihren Haushalt.
In dieser Situation behauptet dann Frau Schavan inihrer gestrigen Pressemitteilung – ich zitiere –:Die Bundesregierung hat vorgesorgt, um den neuenStudierenden einen guten Start ins Studium zu er-möglichen.Und dann noch:Der Hochschulpakt wirkt.
– Sind Sie schon einmal in einen Hörsaal gegangen,
in dem die Leute auf dem Boden sitzen oder sich anstel-len müssen, um überhaupt hineinzukommen?
Fakt ist doch, dass der Hochschulpakt das Dauerdefi-zit im Hochschulsystem nicht im Ansatz kompensierenkann. Sie kalkulieren zum Beispiel die Kosten pro Stu-dienplatz mit 6 500 Euro. Das Statistische Bundesamtweist allerdings die Kosten mit 7 130 Euro aus. JederStudienplatz ist in Ihrem Haushalt also bereits jetzt ummindestens 630 Euro unterfinanziert. Und Ihr groß ange-kündigter Qualitätspakt Lehre schafft die Misere amEnde auch nicht aus der Welt. 200 Millionen Euro fürüber 350 Hochschulen –
man muss wirklich kein Finanzexperte sein, um zu er-kennen, dass das nicht reicht.Aber statt umzudenken, wollen Sie auch im Jahre2012 die Exzellenzinitiative fortsetzen. Das heißt: zu-sätzliche Gelder für gerade einmal ein Dutzend Hoch-schulen. Was passiert mit dem Rest? Wissenschaftlerwandern an vermeintlich exzellente Unis ab. Weil dasExzellenzsiegel fehlt, wird zusätzlich zur Unterfinanzie-rung auch noch die Position gegenüber Drittmittelgebernund Kooperationspartnern geschwächt. Mit Ihrer Exzel-lenzinitiative schaffen Sie ein Zweiklassensystem in derHochschullandschaft. Mit dem Grundsatz „Gute Bildungfür alle“ hat das wirklich gar nichts zu tun.
Kommen Sie jetzt als Nächstes nicht mit dem Argu-ment der leeren Kassen: Sie könnten ja im Rahmen desHaushaltsplans einfach einmal auf die Idee kommen, dieEinnahmeseite zu verbessern. Führen Sie doch die Millio-närsteuer ein, heben Sie den Spitzensteuersatz an, setzenSie endlich die Finanztransaktionsteuer durch!
– Dann machen Sie das doch! Kündigen Sie es dochnicht nur an! Setzen Sie die Finanztransaktionsteuerdoch einfach durch!
Die Linke fordert eine ausreichende öffentliche Finan-zierung für alle Hochschulen – darum geht es –, nichtnur für zwölf ausgesuchte.
Wir brauchen die Ausfinanzierung der bestehendenStudienplätze und bis zum Jahre 2015 mindestens500 000 zusätzliche Studienplätze.
– Das sind nicht meine Zahlen, das sind die offiziellenZahlen. Die sollten Sie zur Kenntnis nehmen.Solange Sie Ihre Ausgaben für Bildung nicht an dierealen Bedarfe anpassen, sondern damit letztlich Ihre ab-gehobenen Elitevorstellungen verwirklichen, kann voneiner Bildungsrepublik nicht die Rede sein. Die Bil-dungsstreikenden hatten auf ihren Plakaten den Slogan– das sollten Sie sich einmal anhören – „Reiche Elternfür alle!“ stehen. Es ist kein Wunder, dass die Leute aufsolche Sprüche kommen. „Reiche Eltern für alle“ klingtwahrscheinlich in den Ohren vieler realistischer als dieVorstellung, mit Schwarz-Gelb die soziale Selektivitätim Bildungssystem zu beseitigen.
Wenn Sie wirklich Interesse an einer Bildungsrepu-blik haben, dann machen Sie endlich Schluss mit einsei-tiger Förderung und sozialer Diskriminierung!Vielen Dank.
Das Wort hat nun Bundesministerin Annette Schavan.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Irgendwiescheint Sie das mit der Bildungsrepublik ziemlich aufzu-regen.
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17134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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Ich finde, es ist eine der vornehmsten Aufgaben unse-rer Gesellschaft, dieses Hauses und all derer, die politi-sche Verantwortung tragen, jeden Tag ein bisschen mehrim Hinblick darauf zu lernen, dass es nicht mehr um unsgeht, sondern um künftige Generationen, dass wir in – daswünschte ich mir – allen Haushalten Sorge dafür tragen,dass die Zukunftschancen der jungen Generation Prioritäthaben.
Es stimmt ja, was Frau Deligöz gesagt hat. Wir redennicht nur über Zahlen – bei den Zahlen sorgen wir ein-fach dafür, dass die Kasse stimmt –,
wir reden auch nicht nur von Institutionen, sondern wirsprechen über Grundeinstellungen von jungen Leuten,über gesellschaftliches Klima, über das, was das kultu-relle Klima in unserer Gesellschaft hergibt. Hierzu gibtes in dieser Woche zwei interessante Meldungen.Die eine, heute schon mehrfach zitiert, lautet:515 000 junge Leute beginnen mit einem Studium. Dagibt es manchen überfüllten Hörsaal. Es mag auch sein,dass es Mensen mit Plastiktellern gibt, die gab es übri-gens früher auch schon. Das ist keine richtige Katastro-phe.
Das alles ist wahr, aber dennoch: Ich finde es super, dassso viele junge Menschen sagen: Ja, ich will gerade jetztstudieren.
Ich möchte an dieser Stelle den Hochschulen dafür dan-ken, dass sie in den letzten Wochen und Monaten enormviel getan haben, um vielen jungen Leuten die Türen ih-rer Hochschulen zu öffnen. Herzlichen Dank an unsereHochschulen und Universitäten.
Der Hochschulpakt – der übrigens über alle Par-teigrenzen hinweggeht, weil alle Parteien in den Ländernmit dabei waren, sogar Ihre Partei, deshalb würde ichmich darüber gar nicht aufregen –
ist genau das richtige Instrument.
Wir gehen nämlich nicht von einer Zahl x aus und sagen,dass diese unverrückbar ist. Das können Sie schon daransehen, dass für die erste Phase des Hochschulpaktes zwi-schen Bund und Ländern, übrigens auf Grundlage derPrognose der Länder, geplant war, 90 000 Studienplätzezu finanzieren, wir in Wirklichkeit am Ende sogar180 000 Studienplätze finanziert haben. Es ist das rich-tige Instrument, es ist ein atmendes System. Deshalbgilt: Wenn es sich so fortsetzt, wie wir es jetzt erleben– wir alle finden das aus vielen Gründen richtig und gut –,dann wird sich der Hochschulpakt auch in den nächstenJahren bewähren. Es gibt im Moment in Europa nicht eineinziges Land, in dem die Möglichkeit besteht, zusätzlichin Bildung und Forschung zu investieren. Das ist einAlleinstellungsmerkmal Deutschlands; das gehört zu denAlleinstellungsmerkmalen dieser Regierung.
Als zweite Nachricht möchte ich den DeutschenLernatlas, den die Bertelsmann-Stiftung vorgelegt hat,erwähnen. Ich finde, das ist eine der interessantestenAnalysen über die Bildungsrepublik Deutschland seitlangem, weil darin nicht einfach ein Vergleich der Län-der angestellt wird und weil dort nicht einfach festge-stellt wird, dass es im Süden besser ist als im Norden,sondern weil jeder Kreis in Deutschland eine Rollespielt. Ich bin fest davon überzeugt: Vieles von dem, wasdarin enthalten ist, ist eine wunderbare Fundgrube beider Konzeptionierung der Bildungspolitik. Denn natür-lich gilt der Satz: Nicht Institutionen machen uns zudem, was und wer wir sind. Bildungsprozesse sind an-spruchsvoller; sie haben etwas mit Kultur zu tun.Ein herausragendes Beispiel im Lernatlas der Bertels-mann-Stiftung ist die Stadt Jena, die sich in den letztenJahren zu einer regelrechten Bildungsstadt entwickelthat, in der Chancen genutzt wurden.
– Jawohl, das ist derjenige Kollege, der 16 Jahre langOberbürgermeister dieser Stadt war. Insofern ist es mireine besondere Freude, hier aus dem Lernatlas zu zitie-ren.
Wer sich die Beschreibung dieser Stadt ansieht undliest, welche Weichenstellungen in den letzten 20 Jahrengetroffen wurden, der stellt fest: Natürlich sind wir inden letzten Jahren in der Bildungsrepublik Deutschlandenorm vorangekommen. Natürlich hat sich viel getan.Natürlich ist Kommunalpolitik mehr denn je davon ge-prägt, etwas für die Bildungschancen zu tun. Deshalblassen wir uns überhaupt nicht davon abbringen; die Bil-dungsrepublik Deutschland muss peu à peu entwickeltwerden. Dies gilt umso mehr, als die demografische Ent-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17135
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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wicklung in Deutschland – wir werden weniger, wir wer-den älter, wir werden bunter – das Bildungssystem inseiner ganzen Bandbreite in besonderer Weise herausfor-dern wird.
Ich möchte aber auch ein Wort zu den Forschungs-organisationen sagen. Herr Hagemann, zu dem, was Siegesagt haben und was schon vielfach besprochen wordenist, treffe ich diese einfache Aussage: Sie müssen sichentscheiden, ob Sie Wissenschaftsfreiheitsinitiative und-gesetz wollen oder nicht.
Sie müssen sagen, ob Sie bereit sind, den Beschlüssen,die Sie selbst gefasst haben, zu folgen. Sie wissen, dasswir Beschlüsse zur Wissenschaftsfreiheitsinitiative ge-fasst haben, dass alles, was die Helmholtz-Gemeinschafttut, mit Ihnen abgesprochen ist und dass es zum Herz-stück der Initiative für eine größere Selbstständigkeit derForschungsorganisationen gehört, dass sie bis zu 20 Pro-zent ihrer Finanzmittel überjährig einsetzen können. Wirwollten das, weil wir davon überzeugt waren, dass dasGeld so zielsicherer in die Finanzierung von For-schungsaufgaben fließen wird.
Insofern sage ich Ihnen: Ich stehe zur Selbstständig-keit unserer Forschungsorganisationen und zur Wissen-schaftsfreiheitsinitiative, die längst beschlossen ist;
ich stehe auch dazu, das in Gesetzesform zu gießen.Aber Sie stehen nicht dazu; Sie reden, wenn die Vertreterder Wissenschaft anwesend sind, anders, als Sie in derÖffentlichkeit reden.
– Nein, das ist kein Quatsch. Sie haben in den letztenWochen deutlich gemacht, dass Sozialdemokraten ebennicht Autonomie wollen; Sozialdemokraten wollen in al-les irgendwie hineinreden und hineinregieren.
Insofern sind Sie, was den Umgang mit modernen For-schungsorganisationen angeht, völlig ungeeignet.
Angesichts dessen, was hier gesagt worden ist, sageich ausdrücklich: Für alle Forschungsorganisationen gilt,dass sie international ein großes Ansehen haben und dasswir um ihre Arbeit beneidet werden. Das gilt für dieMax-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft,die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Leibniz-Gemeinschaft. Das gilt auch für die Helmholtz-Gemein-schaft, mit der wir gerade ganz entscheidende Schritteauf dem Wege der strukturellen Weiterentwicklung unse-res Wissenschaftssystems gehen. Denken Sie an dasKIT; keiner von Ihnen ist doch im Ernst dagegen. Den-ken Sie an JARA in Aachen, und denken Sie an das, waswir jetzt in Berlin angekündigt haben. Deshalb sage ich:Entscheiden Sie sich, ob Sie mit uns diese Politik fürAutonomie wollen.
Das, was im Gesetz stehen würde, muss jetzt schon prak-tiziert werden. Sie aber reden unentwegt dagegen. Dasist das Problem.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage desKollegen Hagemann?Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Nein.
Herr Hagemann, diese Diskussion haben wir zigfach ge-führt. Sie müssen sich entscheiden. Genau das ist dasThema und sonst gar nichts.
Herr Leutert, was Sie mit Ihrer Rede betrieben haben,habe ich in diesem Haus noch nicht erlebt.
Ich sage ausdrücklich: Es ist absurd, im Deutschen Bun-destag Bildung gegen Forschung ausspielen zu wollen
und hier zu erklären, dass zu viel Geld in die Forschunggehe
und dass wir dieses Geld besser nicht mehr in die For-schung investieren sollten. Bildung und Forschung sindzwei Seiten einer Medaille. Deshalb müssen wir uns umdas eine genauso kümmern wie um das andere. Wir müs-sen daher unseren Beitrag im Bereich der beruflichenBildung und der Weiterbildung leisten und gleichzeitigdafür sorgen, dass Deutschland einer der attraktivstenForschungsstandorte der Welt ist. Das muss unser ehr-geiziges Ziel sein.
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17136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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Meine Damen und Herren, bei den Meilensteinen, dieauch in diesem Haushalt deutlich werden, geht es nichtnur um eine halbe Million Studienanfänger mehr in die-sem Wintersemester. In diesem Zusammenhang nenneich auch noch folgende Punkte: In den Jahren 2008 bis2010 sind die Ausgaben für BAföG um 25 Prozentgestiegen, und in diesem Jahr gibt es 40 000 Ausbil-dungsplätze mehr als im Jahr 2010. Weiterhin war eindeutlicher Rückgang der Zahl der Schulabbrecher zuverzeichnen. Es gab ein Anerkennungsgesetz, für dessenUmsetzung wir übrigens 100 Millionen Euro einsetzen.Damit stellen wir Beratung und die Einrichtung entspre-chender Kompetenzzentren sicher.Deutschland liegt, was den Innovationsindikator an-geht, auf Platz 4. Die Zukunftschancen der jungen Gene-ration sind so positiv wie selten zuvor. Deshalb sage ichIhnen: Wenn Sie in den sieben Jahren der rot-grünenBundesregierung
solche Entwicklungen zu verzeichnen gehabt hätten, hät-ten Sie alle Glocken in diesem Land läuten lassen.
Über 99 Prozent der Mittel werden ausgegeben. Auchdas hat es früher nie gegeben. Das Haus und alle Projekt-träger haben in den letzten Jahren große Anstrengungenunternommen, um immer besser zu werden und diesesgroßartige Ziel zu erreichen.Herr Kaczmarek, Sie haben recht: Der Grundbil-dungspakt muss kommen. Aber fragen Sie doch einmalin den von Ihnen regierten Ländern nach, wann diese be-reit sind, endlich die Unterschrift unter den fertigen Paktzu setzen.
Auch hier gilt: Der Grundbildungspakt ist vorbereitet. Erliegt den Ländern vor, sie müssen nur unterschreiben.Dann werden wir ihn gemeinsam in Kraft setzen können.Dann werden wir an dieser wichtigen Stelle das tun, waswir bei der Präsentation der Studie vereinbart haben.Lassen Sie mich abschließend den Berichterstattern,auch denen, mit denen wir streiten, herzlich danken. Ichdanke den Mitgliedern des Haushaltsausschusses undauch den vielen, die dazu beitragen, dass die Bundesre-gierung und die sie tragenden Fraktionen Bildung undForschung in solcher Weise vorrangig behandeln kön-nen. Ich bin davon überzeugt, dass wir daran gemessenwerden, ob wir die Zukunftschancen der jungen Genera-tion ganz oben ansiedeln.Vielen Dank.
Es gibt zwei Kurzinterventionen. Zunächst hat der
Kollege Hagemann das Wort. Danach folgt der Kollege
Leutert.
Frau Ministerin, Sie haben eben die Wissenschafts-
freiheitsinitiative bzw. das nicht von Ihnen vorgelegte
Wissenschaftsfreiheitsgesetz angesprochen, und Sie for-
derten uns auf, uns zu entscheiden. Wir brauchen uns
nicht zu entscheiden, weil wir uns schon vor Jahren in
der Großen Koalition entschieden haben. Unter Bundes-
finanzminister Peer Steinbrück haben wir beschlossen,
die Wissenschaftsfreiheitsinitiative, mit der zurzeit er-
folgreich gearbeitet wird, auszuprobieren. 20 Prozent der
Mittel können die Wissenschaftsorganisationen auf un-
sere Initiative hin selbst verwalten.
Aber diese Wissenschaftsfreiheitsinitiative war zeit-
lich begrenzt. Ich rufe den Kollegen Rehberg als Zeugen
auf: Wir haben diese Initiative, die unter Herrn
Steinbrück bzw. in der Großen Koalition gestartet wor-
den ist, schon zweimal verlängert – Herr Rehberg, Sie
müssen mir da zustimmen; denn das war ein gemein-
samer Antrag –,
weil Sie noch keinen Gesetzesentwurf vorgelegt haben.
Das ist das Problem; denn diese Initiative muss jetzt
endlich in eine endgültige Form gebracht werden und
darf nicht nur im Versuchsstadium stecken bleiben. Frau
Ministerin, ich lasse mir von Ihnen nichts anhängen. Sie
tun so, als ob falsche Entscheidungen getroffen wurden.
Ganz im Gegenteil: Ich bin immer derjenige gewesen,
der dafür gekämpft hat, dass eine entsprechende Selbst-
bewirtschaftung erfolgen kann.
Aber man muss doch auch das Recht haben – darum
müssten Sie sich einmal kümmern –, die Kritik des
Rechnungshofes genauer zu beleuchten. Ich wiederhole
das, was ich vorhin gesagt habe: Ich schließe mich nicht
jeder Forderung bzw. jeder Kritik des Rechnungshofes
an, aber sie muss überprüft werden; denn es wird kriti-
siert, dass die Mittel nicht zweckgemäß ausgegeben wer-
den. Das muss man kontrollieren. Wenn es nicht der Fall
sein sollte, dass die Mittel richtig verwendet werden,
dann muss man das eben rückgängig machen. Aber der
Opposition bzw. mir hier Vorwürfe zu machen, das ist
nicht in Ordnung; denn sie entsprechen nicht der Wahr-
heit, Frau Ministerin.
Kollege Leutert, bitte.
Frau Ministerin, Sie haben mir leider nicht richtig zu-gehört.
Ich habe vorhin ausdrücklich gesagt: Auch für die Linkeist Forschungspolitik ein wichtiges Feld, das gut durch-finanziert sein muss. Ich habe aber auch gesagt: Es kannnicht sein, dass auf der einen Seite Geld im Schulsystemfehlt und auf der anderen Seite das Geld, das Sie in den
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Michael Leutert
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Forschungsbereich hineinpumpen, nicht abfließt. Das istmein erster Punkt.
Mein zweiter Punkt. Man muss darauf achten, für wasin diesem Land Forschungsgelder ausgegeben werden.Ich frage Sie: Ist es beispielsweise sinnvoll, dass Daim-ler von uns Fördermittel für Energiesparmodelle be-kommt? Braucht dieser Konzern diese Fördermittel?Oder könnten wir diese Gelder nicht besser in anderenBereichen verwenden? Diese Frage könnten Sie eben-falls beantworten.Mein dritter Punkt. Wir haben immer gesagt: For-schung darf nicht auf Kosten des Schulsystems betriebenwerden. Wir haben früher immer von der Einheit vonLehre und Forschung gesprochen. Diesen Grundsatz ha-ben Sie aufgegeben. Das ist ihr Verdienst in der Bil-dungsrepublik Deutschland. Dazu kann ich nur herzlichgratulieren.Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Wenn denKitas und den Schulen das Geld gestrichen wird, dannwird uns im Bildungssystem die Basis wegbrechen.Wenn das Bildungssystem keine klugen Köpfe mehrproduziert, dann brauchen wir in Zukunft auch keineForschungspolitik mehr.
Frau Ministerin, bitte.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:
Vielen Dank. – Herr Hagemann, dass wir uns gemein-
sam auf Initiative des BMBF in der Großen Koalition zu
einer Wissenschaftsfreiheitsinitiative entschieden haben,
ist unbestritten. Wenn festgelegt ist, dass die Organisa-
tionen bis zu 20 Prozent der Zuwendung als Selbstbe-
wirtschaftungsmittel zugewiesen bekommen – wir haben
damals diskutiert, wie wichtig die überjährige Verwen-
dung ist, weil programmorientierte Forschung über viele
Jahre geht –, dann kann man, wenn beispielsweise
312 Millionen Euro für mehrjährige Forschungspro-
gramme reserviert sind, nicht behaupten: Die For-
schungseinrichtungen schaffen es nicht, das Geld auszu-
gegeben. – Genau diese Diskussion haben Sie geführt.
Ich bleibe dabei: Sie müssen sich entscheiden. Wenn
wir das auch in Zukunft wollen und wenn Sie dazu ste-
hen, dann muss damit aufgehört werden, so zu tun, als
seien die Mittel, die bis zu einer Höhe von 20 Prozent
überjährig eingesetzt werden können, ein Hinweis da-
rauf, dass dieses Geld nicht ausgegeben wird bzw. dass
die Helmholtz-Gemeinschaft zu viel Geld hat. Genau
diese Debatte haben Sie geführt.
Deshalb sage ich das so klar: Ich stehe zu dieser Ini-
tiative. Für mich sind die 300 Millionen Euro kein Zei-
chen dafür, dass zu viel Geld vorhanden ist, sondern
Ausdruck eines sehr verantwortungsbewussten Planens
der nächsten Phase programmorientierter Forschung. Es
ist nämlich genau festgelegt, wofür dieses Geld einge-
setzt wird.
Meine herzliche Bitte ist: Wer zu dieser Autonomie
steht, muss auch dann dazu stehen, wenn kritische Fra-
gen gestellt werden. Es ist wahr, dass wir mit dem Bun-
desrechnungshof über die Wissenschaftsfreiheitsinitia-
tive streiten müssen. Ich sage Ihnen – das sage ich als
Mitglied dieser Bundesregierung auch dem Bundesrech-
nungshof –: Ich halte diese Initiative für eine Notwen-
digkeit in einem modernen Wissenschafts- und For-
schungssystem und stehe daher dazu. Es gibt überhaupt
keinen Anhaltspunkt dafür, zu sagen: Die Forschungs-
einrichtungen können mit Geld nicht umgehen. Übrigens
wird jede programmorientierte Forschung von Beginn an
ständig überprüft. Außerdem werden die Programme in
ihrer Gesamtheit über viele Jahre hinweg evaluiert.
Das ist meine Position. Ich habe nicht gesagt, dass Sie
sich pro oder kontra Wissenschaftsfreiheitsinitiative ent-
scheiden müssen. Ich habe aber gefragt, ob Sie tatsäch-
lich bereit sind, die Freiheit, die mit der Wissenschafts-
freiheitsinitiative verbunden ist, mit uns gemeinsam zu
verteidigen.
Herr Leutert, das, was Sie gesagt haben, war eigent-
lich eine Wiederholung. Deshalb sage ich noch einmal:
Niemand pumpt Geld in ein Forschungssystem, das die-
ses Geld eigentlich nicht braucht. Wir sind seit 2005
– das haben wir durch unsere Arbeit zunächst in der
Großen Koalition und dann in der schwarz-gelben Koali-
tion erreicht – verlässliche Partner im Wissenschafts-
und Forschungssystem. Genau diese Verlässlichkeit über
einen langen Zeitraum hat dafür gesorgt, dass es diese
Fortschritte in Deutschland gegeben hat. Deshalb sage
ich auch Ihnen: Nein, wir werden nicht bei der For-
schung sparen, um Aufgaben zu übernehmen, für die
eindeutig andere zuständig sind. Jede politische Ebene
hat ihre Aufgaben und soll sie wahrnehmen.
Das Wort hat nun Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasHaushaltsrecht ist auch deshalb das Königsrecht des Par-laments, weil der Haushalt über die Prioritäten der Poli-tik und über die Glaubwürdigkeit von EntscheidungenAuskunft gibt. Deshalb habe ich in diesem Forschungs-
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17138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Sylvia Kotting-Uhl
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haushalt den Atomausstieg gesucht. Ich habe ihn nichtgefunden.
Ich will Ihnen die relevanten Zahlen zum Bereich derEnergieforschung in diesem Haushalt zur Kenntnis ge-ben: Es gibt 77,2 Millionen Euro für den Bereich der er-neuerbaren Energien insgesamt. Dagegen stehen 138,7 Mil-lionen Euro für den Bereich der Kernfusion und14 Millionen Euro für den ITER. Hinzu kommen80 Millionen Euro pro Jahr, die über Euratom haupt-sächlich in die atomare Forschung fließen. 1,4 Milliar-den Euro für den ITER sind, wie wir wissen, immernoch nicht finanziert. Im Moment gibt es die Überle-gung, die Mittel für Euratom um 2,2 Milliarden Euro auf-zustocken, wovon Deutschland 20 Prozent zu tragenhätte.Dazu muss ich sagen: Wer nicht verstanden hat, dassein Atomausstieg mehr erfordert, als einen Abschaltplanfür Atomkraftwerke vorzulegen, der hat nicht verstan-den, was ein Atomausstieg grundsätzlich bedeutet.
Einen Wiedereinstieg in atomare Großtechnologie vor-zubereiten, indem man einen Großteil der Forschungs-gelder in die Bereiche Kernfusion oder Transmutationsteckt, das hat mit Atomausstieg nichts zu tun.Ich rede jetzt nur über den Forschungshaushalt. Ichrede nicht über andere Einzelpläne. Natürlich wurdenGelder für die nukleare Sicherheitsforschung eingestellt.Das unterstützen wir; das halten wir natürlich für richtig.Es wurden im Wirtschaftshaushalt auch Gelder für Effi-zienz und Speichertechnologie eingestellt. Es gibt auchGelder für den Bereich der erneuerbaren Energien imUmwelthaushalt. Ich möchte hier aber über den For-schungshaushalt reden; denn das ist der Zukunftshaus-halt. Der Forschungshaushalt entscheidet darüber, wohindie Reise geht.Wir haben den Atomausstieg in diesem Parlament mitbreiter Mehrheit beschlossen, was bedeutet, dass einewichtige Veränderung in den politischen Zielen von Re-gierung und Parlament gemeinsam beschlossen wurde.Das müsste sich durch eine andere Prioritätensetzung imHaushalt niederschlagen.
– Nein, das zeigt sich nicht. Das vermissen wir.Wenn wir zum Beispiel fordern, die Mittel für denBereich der Kernfusion zu reduzieren bzw. zu streichen– wir fordern nicht mehr Geld, sondern machen ein An-gebot und sagen, wo man sinnvollerweise einsparenkönnte –, dann wird oft gesagt, man müsse über den Tel-lerrand schauen, man müsse schauen, was andere Ländermachen.Ich bin letzte Nacht aus Japan zurückgekommen.
– Nein, mit dem Flugzeug. – Dort sind inzwischen 68 Pro-zent der Bevölkerung für den Ausstieg aus der Atom-kraft. Sie brauchen dafür aber Alternativen.
In Japan ist noch weniger als in Deutschland dieKohle eine mögliche Alternative, weil diesem Land vornichts mehr graut, als von Importen womöglich ausChina abhängig zu sein. Wenn wir also einem Land wieJapan und vielen anderen Ländern, die sich eine Ener-giestruktur erst noch aufbauen müssen, helfen wollen,eine für ihre eigene Zukunft nachhaltig wirkende Ener-gieversorgung aufzubauen, dann tun wir das nicht, in-dem wir Kernfusion erforschen, die frühestens 2050,wenn all diese Energiesysteme installiert sein werden,zum Tragen kommt, sondern indem wir zeigen und aucherforschen, wie eine Energiewende vonstatten gehenkann.
Hier brauchen wir mehr Geld, als wir heute im Haus-halt veranschlagt haben, für Speichertechnologie, fürNetzausbau und auch für die erneuerbaren Energien. Ichnenne zum Beispiel die Meereswellentechnologie, diefür Japan mit seinen langen Küsten ein Segen wäre. Dassind Zukunftsaufgaben. Dies vermisse ich im Forschungs-haushalt.Ich erkenne stattdessen eine Konzentration auf Kern-fusion, auf Transmutation. Die Gelder für Transmutationfindet man übrigens nicht im Forschungshaushalt,sondern sie sind versteckt in den Geldern, die an dieHelmholtz-Gemeinschaft gehen. Hier fordern wir mehrTransparenz. Bei aller Autonomie kann es nicht sein,dass öffentlich Gefördertes nicht öffentlich sichtbar wirdund dass wir nicht wissen, was mit diesen Geldern letzt-endlich gemacht wird. Eine Ausrichtung auf atomareForschung, wie sie die Helmholtz-Gemeinschaft vor-nimmt, passt nicht zu der hier mit breiter Mehrheit be-schlossenen Politik.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Martin Neumann für die FDP-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Aufwüchse des Haushaltsplans 2012 ge-genüber den Vorjahren wurden in der heutigen Debattebereits umfassend dargestellt. Es wurde eine eindrucks-volle Zwischenbilanz vorgelegt, die belegt, welche wei-teren Projekte die Koalition in dieser Legislaturperiodeangeht, und die zeigt, dass wir den Erfolgskurs der Re-gierung auf dem Gebiet Bildung und Forschung weiter-führen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17139
Dr. Martin Neumann
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Haushaltsplanstellt immer ein Gesamtkonzept dar. An dieser Stellemöchte ich einen Gedanken herausstellen, der mir in derbisherigen Debatte aufgefallen ist. Aufgefallen ist mir– ob im Ausschuss oder heute im Plenum –, dass der Op-position wirklich nicht mehr viel Neues einfällt. Sie ge-hen immer nach dem gleichen platten Schema vor.
Dieses Schema will ich einmal deutlich darstellen:Erstens. Es werden Ihrer Ansicht nach überall dortmehr Gelder benötigt, wo es Ihre Länder einsparen kön-nen. Zweitens. Dort, wo mehr Gelder investiert werden,reden Sie dann von verfehlten Projekten. Drittens. Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, greifensich einzelne Technologiefelder heraus – Frau Kotting-Uhl hat es eben gemacht –, zum Beispiel Kernfusionoder Bioökonomie, wo es Ihrer Meinung nach nicht an-gebracht ist, zu investieren. Anschließend vermitteln Sieden Eindruck, als gönne sich diese Koalition den Luxus,in Projekte und Bereiche zu investieren, die im Grundekeine Relevanz besitzen.Diese Botschaft, die in die Öffentlichkeit gelangt– Herr Hagemann, Sie haben es ja heute auch gesagt –,richtet sich meiner Ansicht nach gegen unser gemeinsa-mes Anliegen, mehr Geld in Wissenschaft und For-schung zu investieren. Was wundern wir uns dann, wennin der Öffentlichkeit die Frage behandelt wird, ob zu vielGeld in die Wissenschaft investiert wird, ob die Wissen-schaft mit Geld tatsächlich nicht umgehen kann? Dassind Fragen, die man sich in einer von Innovation getra-genen und von Innovation profitierenden Gesellschaftnicht stellen darf. Das ist eine ganz wichtige Feststel-lung.
Doch mittlerweile werden wir bedrängt, zu erklären, wasdie Forschungseinrichtungen eigentlich mit dem Geldanfangen.
Zu Beginn der Haushaltsberatungen – ich erinneremich ganz genau daran; Herr Hagemann, Sie haben esdamals auch kritisiert – und – wir hätten darauf wartenkönnen – wieder am Ende der Haushaltsdebatte wurdedas Thema Helmholtz behandelt. Frau MinisterinSchavan hat es angesprochen: Die Helmholtz-Gemein-schaft und alle anderen außeruniversitären Forschungs-einrichtungen haben die Ermächtigung – wir haben diesegegeben –, 20 Prozent der Zuwendungsmittel im Rah-men der Selbstbewirtschaftung ins folgende Jahr zuübertragen.Obwohl die Helmholtz-Gemeinschaft die Mittel vomHaushaltsgeber zugewiesen bekommt, hat sich am My-thos der Rücklagen und Kriegskassen nichts geändert.Wenn wir uns auf diese Vorwürfe einlassen – das ist eineganz gefährliche Diskussion; nicht das, über das wir hierreden, Herr Hagemann, sondern das, was in der Öffent-lichkeit ankommt –,
müssten wir von unserem Projekt Wissenschaftsfrei-heitsgesetz Abschied nehmen. Deshalb – das möchte ichan dieser Stelle deutlich betonen – müssen wir diesemDenken entgegentreten. Forschung und Entwicklung fin-den unter ganz besonderen Bedingungen statt – darüberhaben wir schon an verschiedenen Stellen, auch im Aus-schuss, diskutiert –, Bedingungen, die einen neuen Rah-men benötigen.Die Koalition wird deshalb im Jahr 2012 dem positi-ven quantitativen Aufwuchs der Haushaltsmittel besserequalitative Bedingungen hinzufügen. Das von uns ge-staltete Wissenschaftsfreiheitsgesetz wird den For-schungseinrichtungen – das ist ganz wichtig – weitereFlexibilisierung einräumen.
Es wird den Wissenschaftseinrichtungen auch – das istganz wichtig; die Wissenschaft braucht dies – mehr Ver-antwortung übertragen, sodass sie dann mit eigenemControlling und natürlich mit Augenmaß die Mittel be-darfsgerecht einsetzen werden.Die Koalition hat einen klaren Haushalt 2012 aufge-stellt. Weitere Akzente für die Forschungseinrichtungenund das Wissenschaftssystem werden wir noch setzen.Vielleicht erleben wir dann eine konstruktive Opposi-tion.Vielen Dank.
Das Wort hat nun René Röspel für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Heute finde ich es ausnahmsweise nicht schade,erkältet zu sein, weil ich dadurch diese Mischung ausPulverdampf und Weihrauch, die in dieser Debatte ent-standen ist, nicht riechen kann.
Ich muss zugeben, wir gönnen Ihnen ein bisschenSelbstbeweihräucherung, weil wir es gut finden – es istja ein gemeinsames Ziel –, dass Sie mehr Mittel in Bil-dung und Forschung gesteckt haben.
Aber wenn wir als Opposition die Souveränität besitzen,Sie dafür zu loben, dann sollten Sie die Größe haben, dieganze Geschichte der Bildungs- und Forschungspolitikder letzten Jahre zu erzählen,
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17140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
René Röspel
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sonst entsteht bei den Menschen, die uns zuhören, viel-leicht ein falscher Eindruck.Als Rot-Grün 1998 die Regierung übernommen hat,war der Etat von Bildung und Forschung zu vergleichenmit einem abgehalfterten alten Gaul, der in der dunkels-ten Ecke des Kabinetts stand und dessen Rippen manzählen konnte. Es war eine sozialdemokratische Bil-dungsministerin, die dieses Pferd gefüttert und gepflegthat, die mehr in Bildung und Forschung investiert hat.Mittlerweile dürfen Sie auf einem Rennpferd reiten undsich auf den Weg zu neuen Erfolgen machen. Das istnicht nur Ihr Verdienst, sondern auch ein Verdienst derGroßen Koalition und vor allen Dingen ein Verdienst derrot-grünen Koalition von 1998 bis 2005.
Wir haben diese Grundlagen geschaffen. Ein Raketen-start ist in der ersten Phase immer am schwierigsten, dabraucht man die meiste Kraft und den meisten Aufwand,und am Ende kann man den Erfolg feiern.
– Ja, das ist Ballistik; darüber reden wir vielleicht ein an-deres Mal.
– Danke für das Kompliment.Wir haben in diesen Tagen „Empfehlungen zur Be-wertung und Steuerung von Forschungsleistungen“ desWissenschaftsrates auf den Tisch bekommen. Am An-fang dachte ich, es sei Zufall, dass wir diese Empfehlun-gen zu dieser Zeit bekommen haben. Aber dieses Papierenthält eine ganze Menge guter Ratschläge, wie manForschungsleistungen steuern kann.Einen Aspekt fand ich besonders interessant: eineWarnung vor „Tonnenideologie“ – das ist ein wörtlichesZitat –, also eine Warnung vor dem Glauben, dass manüber einen Zuwachs an Quantität quasi einen Zuwachsan Leistung oder sogar Qualität erzielt. Das ist ein gro-ßer Irrtum; da muss man vorsichtig sein.Bei einigen Reden der Koalitionäre vorhin ist mir klargeworden, warum wir diese Empfehlung des Wissen-schaftsrates zu dieser Zeit bekommen haben. Ich weißnicht, welchen Eindruck die Zuschauerinnen und Zu-schauer mit nach Hause nehmen, wenn sie hören, dasswir hier 300 Millionen Euro und da 5 Millionen Euro in-vestieren. Das alles sind große Zahlen, sie bedeuten guteZuwächse. Aber die Frage ist: Was wird bleiben, und inwelche Richtung geht es? Ich muss Ihrem ehemaligenEhrenvorsitzenden Helmut Kohl wirklich recht geben:Diese Regierung hat keinen Kompass und keinen Plan.Wenn Sie ihn hätten, hätten Sie gesagt, wohin die Reisegehen soll und wie es weitergehen soll. Aber diese Re-gierung hat, wie gesagt, keinen Kompass. Ich hoffe, dassSie vielleicht unter dem Weihnachtsbaum einen findenwerden.
Aber auch das ist nichts Neues. In vielen Bereichendrehen Sie Pirouetten, wie es Ihnen gerade gefällt. Jahre-lang waren Sie gegen einen Mindestlohn; jetzt versuchenSie, etwas in dieser Richtung auf den Weg zu bringen.Ähnliches gilt für den Bildungs- und Forschungsbe-reich. Jahrelang leisteten Sie erbitterte Widerstände ge-gen Ganztagsschulen, Herr Rehberg. Als die rot-grüneRegierung 2003 den Betrag von 4 Milliarden Euro zurVerfügung gestellt hat, um in den Kommunen Ganztags-schulen auszubauen, weil sie dringend gebraucht wur-den, haben wir das gegen die erbitterten WiderständeIhrer beiden Fraktionen machen müssen; in den Proto-kollen des Bundestages können Sie nachlesen, dass da-mals von „Verwahranstalt“ und „Einheitsschule“ dieRede war. Wenn die Mittel schlecht abgeflossen sind– wir haben das ja genau beobachtet –, dann lag dasnicht an Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz,sondern an Hessen und Ministerpräsident Koch, der er-bitterten Widerstand gegen die Ganztagsschule geleistethat. Das war ein Fehler.
Heute freuen wir uns, dass Sie die nächste Pirouettedrehen. Sie haben nämlich in Ihrem bildungspolitischenAntrag das Ziel formuliert, Ganztagsschulen zu fördern.
Wir warten auf eine entsprechende Initiative zur Ände-rung des Grundgesetzes. Dann kann auch der Bund wie-der einen Beitrag leisten, wie es unter Rot-Grün der Fallwar.Der nächste Punkt: das BAföG. Ja, wir sind Freundedes BAföG. Ich habe allerdings noch Presseausschnitteaus dem Jahr 2005 zu Hause, Frau Schavan,
die belegen, dass Sie damals sagten: Der Union ist nichtam BAföG gelegen. Aber wir werden es aufrechterhal-ten, weil sich die SPD dafür einsetzt, dass es erhaltenbleibt. – Sie können uns also nicht vorwerfen, dass dieZuwächse zur Zeit der Großen Koalition nur klein wa-ren. Ich habe diese Zeitungsausschnitte, wie gesagt, zuHause, Frau Schavan. Das fand ich nämlich sehr span-nend.
Diese Pirouetten – die Hauptschule wollt ihr ja auchabschaffen; aber das ist okay – drehen Sie leider nichtaus innerer Überzeugung, sondern weil Sie, wie ichglaube, einen bitteren Überlebenskampf führen
und auf das, was Tag für Tag passiert, reagieren müssen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17141
René Röspel
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Nun zum Forschungsbereich. Jahrelang haben Siesich für die Atomenergie eingesetzt und es den erneuer-baren Energien an allen Ecken und Enden schwer ge-macht. Es mussten erst Fukushima und die Proteste inder Bevölkerung kommen, bis Sie sich gezwungen fühl-ten, eine Energiewende einzuleiten.
Das war richtig. Wir freuen uns – Frau Kollegin Kotting-Uhl hat das ausgeführt –, dass es im Haushaltsansatz fürdiesen Bereich mehr Mittel zu geben scheint. Wenn mangenau hinsieht, stellt man aber fest: Es gibt da einekleine Fußnote. Es heißt nämlich immer: unter Berück-sichtigung der Umsetzung dieser Mittel in den Energie-und Klimafonds. Das ist eine interessante Verschiebung.Was ist der Energie- und Klimafonds? Er ist der besteInbegriff für heiße Luft.
In den Energie- und Klimafonds wandern nämlich dieErträge aus dem Emissionshandel, aus dem Handel mitKohlendioxidzertifikaten. Wir wissen überhaupt nochnicht, wie hoch die Erträge, die hier anfallen, sein wer-den. Sie aber wollen mit diesem Etat, der unsicher undkonjunkturabhängig ist – außerdem wissen wir nicht,wie sich der Wert der Zertifikate entwickelt –, erneuer-bare Energien, Elektromobilität und vieles andere mehrfinanzieren. Dieser Etat ist also überzeichnet. Das istkeine seriöse Haushaltspolitik.
Wir wissen, dass wir als Opposition nicht die großen,langen Linien Ihres Haushaltsentwurfes verändern kön-nen. Aber an der einen oder anderen Stelle kann For-schungspolitik, wie ich finde, auch Impulse setzen. Ichwill fünf Beispiele anführen, die wir als SPD-Fraktionbenannt haben, weil sie unserer Meinung nach richtigeImpulse für die Forschungspolitik setzen.Das erste Beispiel – als wäre es bestellt gewesen –:Einige von uns haben gestern mit Wissenschaftlern undAbgeordneten aus Peru zusammengesessen, weil dieseInteresse daran haben, zu lernen, wie Wissenschaft inDeutschland funktioniert. Einer der Professoren hatdeutlich gemacht, über welch reichhaltige NaturschätzePeru verfügt, und darauf hingewiesen, wie wichtig Bio-diversität ist. Es wird nur möglich sein, diese Natur-schätze kennenzulernen und einzuordnen, wenn es Men-schen gibt, die Arten bestimmen können. Dieses Fach,die Taxonomie, mag für Sie eine Nische sein. Aber: Vorzehn Jahren haben wir auch noch geglaubt, dass Elektro-chemie eine Nische ist, und dieses Fachgebiet vernach-lässigt. Heute zeitigt diese Entscheidung dramatischeFolgen. Wir haben uns dafür eingesetzt, dass nur 5 Mil-lionen Euro mehr für die Artenkundeforschung einge-stellt werden. Das haben Sie leider abgelehnt.
Das zweite Beispiel. Wir meinen, dass es an der Zeitist, Verbraucherforschung zu betreiben und die entspre-chenden Informationen aufzuarbeiten. Dafür haben wirnur 5 Millionen Euro verlangt. Die Koalition hat dies ab-gelehnt.Das dritte Beispiel. Wir wissen seit dem letzten Tier-schutzbericht, dass die Zahl der Tierversuche inDeutschland zunimmt. Wir wollten, dass nur 4 MillionenEuro für die Entwicklung von Alternativen zu Tierversu-chen bereitgestellt werden. Sie haben das abgelehnt.Viertes Beispiel. Den Bereich Arbeits-, Dienstleis-tungs- und Produktivitätsforschung – ein für Deutsch-land sehr wichtiger Bereich – streichen Sie gerade zu-sammen. In einem Brandbrief hat die DGB-Vizevorsitzende, Ihre Unionskollegin Frau Sehrbrock,gefordert, das nicht zu tun und in diesen Bereich, in eineder großen Chancen Deutschlands, mehr zu investieren.
Mein letztes Beispiel ist die Friedens- und Konflikt-forschung. Wer begreift, wie wichtig es in dieser Weltist, Konflikte von vornherein zu erkennen, zu beseitigenund eine entsprechende Forschung zu betreiben, dermuss in diese Forschung investieren. Wir haben bean-tragt, nur 5 Millionen Euro bereitzustellen, um das Stif-tungskapital zu erhöhen. Sie haben das wieder abge-lehnt.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. – 13 000 Millionen Euro be-
trägt dieser Haushalt, aber 5 Millionen Euro für Frie-
dens- und Konfliktforschung sind Ihnen zu viel. Das
kann keine finanziellen, sondern nur politische Gründe
haben. Deutschland braucht keine Tonnenideologie, son-
dern eine Forschung, die für die Menschen in diesem
Land da ist.
Vielen Dank.
Als letzter Rednerin in dieser Debatte erteile ich Kol-
legin Anette Hübinger für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Tri-bünen und am Fernsehen!
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17142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Anette Hübinger
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– Abgeschaltet? Schade. Eine Übertragung wäre not-wendig gewesen. – Frau Kotting-Uhl, Sie haben wieHerr Röspel die fehlende Energieforschung angespro-chen. Ich nenne nur die Haushaltszahl von 657 Millio-nen Euro für die Energieforschung im Haushalt 2012.Als Rot-Grün den Atomausstieg beschlossen hat, lagdiese Zahl bei 407 Millionen Euro.
Es sind jetzt 250 Millionen Euro mehr. Das bedeutet eineSteigerung.
Wir werden auch diese Mittel sorgfältig für erneuerbareEnergien und andere Energiequellen verwenden.Lassen Sie mich als letzte Rednerin all die Dinge zu-sammenfassen, um die es hier geht. Wir haben einen Re-kordhaushalt – das ist heute schon öfter festgestellt wor-den – von 13 Milliarden Euro für Bildung undForschung in 2012. Das ist der Beweis dafür, dass wirtrotz oder vielleicht sogar wegen der SchuldenbremseBildung und Forschung eine große Priorität einräumen,weil wir der Auffassung sind, dass darin die Zukunft un-seres Landes liegt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Kotting-Uhl?
Im Moment nicht, danke. – Schaut man über den na-tionalen Tellerrand hinaus, bekommt diese Steigerungeine zusätzliche Wertigkeit. Kein europäischer Partner,kein Industrieland, nicht einmal die USA – das wurdeschon angesprochen – haben solche Aufwüchse zu ver-zeichnen. Ganz im Gegenteil: Hier ist der Abschwung zuspüren.Nun zu Kompass und Plan. Unser Ziel ist es, dieWachstumskräfte in Deutschland bei gleichzeitiger Kon-solidierung unseres Haushaltes zu stärken. Wir nehmenGeld für Dinge in die Hand, aus denen unsere Kinderund Enkelkinder zukünftig Nutzen ziehen können, fürBereiche, wo wir die Zukunft Deutschlands maßgeblichgestalten können; denn um international weiter in derersten Liga spielen zu können, sind wir auf ein leistungs-fähiges Bildungs- und Wissenschaftssystem angewiesen.Der 11prozentige Aufwuchs im Einzelplan 30 ist so-mit nicht um seiner selbst willen realisiert worden. Jederzusätzliche Euro wurde mit zukunftsträchtigen Maßnah-men und Instrumenten hinterlegt.
Da wir uns als Parlamentarier der christlich-liberalenKoalition schon frühzeitig bei der Formulierung derSchwerpunkte eingebracht haben, trägt dieser Haushaltauch unsere Handschrift.Jeder Bürger kommt im Laufe seines Lebens mit demdeutschen Bildungs- und Ausbildungssystem oder auchWissenschafts- und Forschungssystem in Berührungoder ist Teil davon. Wir haben bei unseren Prioritätendarauf geachtet, dass der Haushalt diesem Aspekt Rech-nung trägt. Deshalb reichen unsere Schwerpunkte vonder Berufsorientierung während der Schulzeit über dieBerufsausbildung im dualen System oder während einesHochschulstudiums bis hin zur beruflichen Weiterbil-dung in späteren Lebensphasen.
– Ich rede jetzt über den Einzelplan 30, mein lieber HerrKollege. Das sollten wir jetzt in den Mittelpunkt stellen.
Daran anknüpfend werden die Maßnahmen zur Stär-kung der beruflichen Bildung um 22,5 Prozent auf170 Millionen Euro aufgestockt. Die Instandhaltung undModernisierung der überbetrieblichen Berufsbildungs-stätten wurde mit 40 Millionen Euro im Haushalt festverankert.Aufgrund doppelter Abiturjahrgänge und der Ausset-zung der Wehrpflicht streben viele Studienanfänger andie deutschen Hochschulen; auch das wurde schon ange-sprochen. Damit es keinen Mangel an Studienplätzengibt, haben wir den Hochschulpakt erweitert.
Es erfolgt eine Aufstockung um 60 Prozent. Das sind1,4 Milliarden Euro. So groß war der Ansturm nicht, derbewältigt werden musste, um ausreichend Studienplätzezu schaffen.Neben der Anzahl der Studienplätze spielt natürlichauch die Qualität eine besondere, wenn nicht sogar dieentscheidende Rolle. Auch hier kommt der Bund seinerVerantwortung nach und investiert kräftig in die Ent-wicklung des Hochschul- und Wissenschaftssystems.Ob Qualitätspakt Lehre, die Weiterentwicklung desBologna-Prozesses oder das Themenfeld sozial- undgeisteswissenschaftliche Forschung: Alle diese Vorha-ben erfahren im vorliegenden Haushalt einen beachtens-werten Aufwuchs.
Wir lassen in unserem Ausbildungssystem auch kei-nen jungen Menschen im Regen stehen. Bedürftigkeitund/oder besondere Leistungen bilden nach unsererAuffassung die richtigen Kriterien für staatliche Unter-stützung. Deshalb stocken wir die Mittel für die Begab-tenförderung um über 20 Prozent auf. In die Studien-finanzierung der Studierenden investieren wir 2012insgesamt mehr als 1 Milliarde Euro. Diese Zahlen kön-nen sich sehen lassen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17143
Anette Hübinger
(C)
(B)
Die Internationalisierung des Forschungssystemsstärken wir durch Mittelaufwüchse für den Studenten-und Wissenschaftleraustausch; Herr Hagemann hat dasschon angesprochen. Die beiden maßgeblichen Akteure,die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und der DeutscheAkademische Austauschdienst, erhalten im kommendenJahr 131 Millionen Euro. Dieser Betrag wurde in der Be-reinigungssitzung um weitere 4,1 Millionen Euro aufge-stockt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Gohlke?
Ja, bitte.
Danke schön, dass Sie die Zwischenfrage gestatten. –
Sie haben gerade von der Qualität im Studium gespro-
chen. Weil noch kein Redner darauf eingegangen ist,
möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Sie setzen die Kos-
ten pro Studienplatz mit 6 500 Euro an. Beim Statisti-
schen Bundesamt sind sie anders berechnet worden,
nämlich mit 7 130 Euro. Aus meiner Sicht ist klar, dass
eine konstante Unterfinanzierung bei jedem Studienplatz
zulasten der Qualität gehen muss. Darauf hätte ich gerne
eine Antwort.
Deswegen haben wir den Qualitätspakt Lehre verein-
bart. Darüber hinaus müssen Sie zur Kenntnis nehmen:
Nicht jeder Studienanfänger verlässt später die Hoch-
schule so, wie wir es uns wünschen. Insofern ist unseres
Erachtens zunächst einmal eine Überfinanzierung gege-
ben,
weil bei den Ausgaben die Zahl der Studienanfänger zu-
grunde gelegt wird. Die Mittel werden fortgeschrieben,
ohne dass eine Überprüfung erfolgt, ob eine entspre-
chende Zahl von Studierenden tatsächlich ihren Ab-
schluss macht. Damit wird auch Geld vom Bund in die
Hochschule gepumpt, ohne dass dies zu seinen originä-
ren Aufgaben gehört. Ich denke, damit ist eine gute
Finanzierung gewährleistet. Auch die Länder sind nicht
unzufrieden damit.
Zurück zur Internationalisierung: Die nochmals gestie-
gene Nachfrage nach Auslandsstipendien und die überaus
zahlreichen Anmeldungen zum Sofja-Kovalevskaja-Preis
wurden während des Kongresses der CDU/CSU-Frak-
tion zum Thema Internationalisierung vor wenigen Wo-
chen deutlich. Das zeigt, dass wir eine Aufstockung
brauchten, die auch vorgenommen wurde, wie eben
schon ausgeführt.
Das zeigt aber auch, wie sehr Deutschland als For-
schungs- und Wissenschaftsraum gewonnen hat. Nicht
nur Bildung, sondern auch Forschung wird im Einzel-
plan 30 sichtbar gestärkt. Ich möchte in diesem Zusam-
menhang die außeruniversitären Forschungseinrichtun-
gen in Deutschland hervorheben. Wir wissen, dass wir
mit diesen Instituten wahre Leuchttürme haben und was
sie für die Internationalisierung der deutschen Wissen-
schafts- und Forschungslandschaft leisten.
Gestern – Herr Röspel hat es angesprochen – war eine
Delegation aus Peru zu Besuch. Ich habe die Delega-
tionsgespräche so wahrgenommen, dass unser Know-
how sehr gefragt ist und dass wir mit unserem Know-how
in der Welt auch äußerst sichtbar geworden sind. Das ist
mit eine Folge dieser Institute, der Exzellenzinitiative
und unserer Anstrengungen, diese beiden Dinge sehr
stark zu fördern.
Der jährliche Aufwuchs der Mittel um 5 Prozent für
diese Wissenschaftsinstitute ist deshalb gut angelegtes
Geld. Mit diesem Aufwuchs senden wir nämlich auch
ein Zeichen dafür, dass wir für Stabilität stehen. Dieses
Zeichen an die Wissenschaftscommunity ist von un-
schätzbarem Wert; denn andere Länder reduzieren die
Forschungsbudgets, sowohl für den privaten als auch
den staatlichen Bereich.
Eine Änderung in der Bereinigungssitzung möchte
ich hier noch hervorheben: Die Nachfrage nach den In-
strumenten zur Verbesserung der Berufsorientierung ab
der 7. Klasse ist höher als erwartet. Das freut uns; denn
diese Nachfrage zeigt, dass mit der Berufseinstiegsbe-
gleitung und der Potenzialanalyse Instrumente geschaf-
fen wurden, die den Bedürfnissen beim Übergang von
der Schule in die berufliche Ausbildung gerecht werden.
Die Aufstockung der dafür vorgesehenen Mittel um
15 Millionen Euro eröffnet vielen Jugendlichen eine
neue Lebensperspektive.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja, danke. – Diese Anpassung an den Bedarf ist gut
und richtig.
Der vorliegende Haushalt ist ein hervorragender
Haushalt. Man kann ihn nur unterstützen, und ich bitte
auch um die Unterstützung der Opposition.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
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17144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(C)
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Wir kommen zur Abstimmung über den Einzelplan 30– Bundesministerium für Bildung und Forschung – inder Ausschussfassung. Hierzu liegen zwei Änderungsan-träge der Fraktion der SPD vor, über die wir zuerst ab-stimmen.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache17/7835? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerÄnderungsantrag ist mit den Stimmen der beiden Koali-tionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthal-tung von Linken und Grünen abgelehnt.Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache17/7836? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der beidenKoalitionsfraktionen und der Grünen gegen die Stimmender SPD bei Enthaltung der Linken abgelehnt.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Einzel-plan 30 in der Ausschussfassung. Wer stimmt dafür? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Einzelplan 30 istmit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenom-men.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt V sowie Zu-satzpunkt 2 auf:V Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPDer Mehrjährige Finanzrahmen der EU2014–2020 – Ein strategischer Rahmen fürnachhaltige und verantwortungsvolle Haus-haltspolitik mit europäischem Mehrwert– Drucksache 17/7767 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussInnenausschussSportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion der SPDFür einen progressiven europäischen Haushalt –Der Mehrjährige Finanzrahmen der EU2014–2020– Drucksache 17/7808 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussInnenausschussSportausschussRechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile KollegenJoachim Spatz für die FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her-ren! Wir erleben hier ein Stück weit eine Neuerung; mankönnte auch sagen: eine historische Neuerung. Erstmalswird ein Mehrjähriger Finanzrahmen nicht so verhandelt,dass wir ein Ergebnis, das die Regierungen ausgehandelthaben, nur mehr oder weniger kritisch begleiten dürfen,sondern wir als Deutscher Bundestag können, unsere Be-teiligungsrechte nutzend, in der Verhandlungsphase un-sere Wünsche und Forderungen äußern und der Regie-rung unseren Rahmen vorgeben.Auch die SPD hat einen Antrag eingebracht. Michwundert aber Folgendes: Der Kollege Sarrazin fordertimmer ein, dass der Bundestag die Rechte, die er hat,auch wahrnimmt. Jetzt fehlt ausgerechnet von den Grü-nen – wer bei euch auf der Bremse steht, weiß ich nicht –ein entsprechender Antrag. Das ist bedauerlich.
Europa hat Zukunftsaufgaben zu bewältigen. Wir sindder Meinung, dass dabei der gültige Rahmen von 1 Pro-zent des BNE auch in Zukunft eingehalten werden muss.Das wird zur Folge haben, dass einige Politikfelder neubewertet werden müssen. Das betrifft die Landwirt-schaft, die Kohäsionspolitik und Binnenfragen, Fragen,die die europäische Verwaltung betreffen, zum Beispieldas Beamtenstatut. Das machen wir, um notwendige Zu-kunftsinvestitionen in Forschung und Technologie sowiein die Entwicklung transnationaler Netze in den Berei-chen Verkehr, Energie und Kommunikations- und Infor-mationstechnologien zu ermöglichen. Alle diese neuenSchwerpunkte müssen einen klaren europäischen Mehr-wert kreieren. Wenn das der Fall ist, können zusätzlicheMittel dafür bereitgestellt werden, wobei der vorgege-bene Rahmen insgesamt eingehalten werden muss.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17145
Joachim Spatz
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Wir lehnen die Forderungen nach Euro-Bonds ab.Auch in unserem Antrag gibt es ein klares Nein zu dieserfalschen Zielrichtung.
Ich kann nur bekräftigen, was die Kanzlerin in Richtungvon Herrn Barroso deutlich gemacht hat: dass endlichSchluss sein muss mit der Forderung nach einem Finan-zierungsinstrument, das für uns, aber auch für andereLänder Europas schlicht und ergreifend nicht infragekommt.Genauso wenden wir uns gegen die Einführung einereuropäischen Steuer, egal ob sie direkt oder indirekt er-hoben wird. Wir sind positiv überrascht, dass auch dieSPD in ihrem Antrag schreibt, dass dafür rechtliche undpolitische Hürden gesetzt seien und das zum gegenwärti-gen Zeitpunkt nicht funktioniere. Man hört zwar bei die-ser Formulierung das Bedauern heraus – deshalb ist esschon besser, man setzt in diesem Punkt auf die Koali-tion –, aber für diesen Mehrjährigen Finanzrahmen, überden schon im Laufe des nächsten Jahres ganz wesentlichund im übernächsten Jahr endgültig verhandelt wird, istes ein positives Zeichen, dass sich die SPD auch hier einStück weit bewegt hat.Zum Schluss noch ein Wort zur Finanztransaktion-steuer. Da gibt es die abwegige Überlegung, die Einnah-men aus dieser Steuer in den europäischen Haushalt ein-zuspeisen. Ich sehe schon unsere Kollegen nach Londonfahren und sagen: Leute, die Steuer, die ihr sowieso nichtwollt, dürft ihr gleich in Brüssel abliefern, und ihr dürftsie nicht in euren nationalen Haushalt überführen. – Werglaubt, dass das realistisch ist,
den kann ich nur bewundern.
Ich denke, dass eine europaweite und nicht nur eineEuro-Zonen-weite Einführung angestrebt werden soll.Die Einnahmen sollen aber in die nationalen Haushaltefließen, aus denen dann der jeweilige Anteil am Haus-halt der Europäischen Union finanziert wird.Danke schön.
Das Wort hat nun Michael Roth für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Werter Herr Spatz, irgendetwas haben wir falsch ge-macht. Sie warten sehnsüchtig auf die Anträge der Grü-nen, Sie loben unseren Antrag, aber Sie schweigen überIhren Koalitionspartner. Da schwant mir Schlimmes.Aber ich nehme es mit Gelassenheit; denn das, was wirderzeit beim Mehrjährigen Finanzrahmen erleben, über-rascht uns nicht. Auch hier ist die Koalition zerstritten.
Eine klare, einheitliche Position auf diesem wichtigeneuropapolitischen Feld – Fehlanzeige.
Das, was Sie derzeit betreiben, Herr Kollege Spatz,ähnelt schon sehr der Quadratur des Kreises. In denSonntagsreden fordern Sie Sparen, strikte Ausgabendis-ziplin und die Begrenzung des Haushalts der Europäi-schen Union auf maximal 1 Prozent des Bruttonational-einkommens. Wenn es aber ans Eingemachte geht, wennes konkret um Sparen und Haushaltsumschichtungengeht, bremsen und blockieren Sie. Das passt nicht ganzzusammen.Sie sind kategorisch gegen alles. Sie sagen Nein zuhöheren Beitragszahlungen der Mitgliedstaaten. Sie sa-gen Nein zur Reform der Eigenmittel. Sie sagen Nein zuKürzungen und Umschichtungen in wesentlichen Fel-dern des Haushalts, und Sie sagen Nein zu weitreichen-den Reformschritten in der Agrar- und der Kohäsions-politik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das passt nicht zusam-men. Damit tragen Sie zur Unglaubwürdigkeit Ihres ei-genen europapolitischen Handelns bei.
Wenn wir über den Mehrjährigen Finanzrahmen re-den, der auf sieben Jahre angelegt ist, nämlich von 2014bis 2020, dann kommen wir um die Agrar- und Kohä-sionspolitik nicht herum. Das sind insgesamt 70 Prozentder Ausgaben. Mich überrascht schon, mit welcher Kalt-blütigkeit sich Frau Agrarministerin Aigner an die Spitzeder deutschen Agrarindustrie stellt. Denn alles, was bis-lang an weitreichenden Reformvorschlägen auf denTisch gekommen ist, wird von Schwarz-Gelb und der ei-genen Agrarministerin kategorisch vom Tisch gefegt.
Das ist mit uns nicht zu machen.Aus unserer Sicht ist niemandem in der EuropäischenUnion mehr zu erklären, warum die Direktzahlungen inder Agrarpolitik so unterschiedlich und so ungerecht er-folgen, wie das derzeit der Fall ist. Wir haben auf der ei-nen Seite die Niederländer, die 458 Euro pro Hektar er-halten. Wir haben auf der anderen Seite die Letten, diegerade einmal 69 Euro pro Hektar an Direktzahlungen
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17146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Michael Roth
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erhalten. Das hat mit europäischer Solidarität und Ge-rechtigkeit nichts zu tun.
Sie machen Politik nach dem Motto: Wasch‘ mich, abermach‘ mich nicht nass. Und das geht nicht. Gerade ein-mal 3 Milliarden Euro sollen im Bereich der Agrarsub-ventionen umgeschichtet werden.
Sie kämpfen für die deutschen Landwirte – das istvöllig in Ordnung –, aber gleichzeitig sagen Sie, ohneEinsparungen funktioniere das nicht. Aber wie wollenSie denn den mittel- und osteuropäischen Landwirten er-klären, dass die Bauern in den überwiegend westeuro-päischen Ländern weiterhin viel mehr Geld erhalten alszum Beispiel der Bauer in Polen oder Lettland?Die Kohäsionspolitik steht gerade in diesen Krisenzei-ten unter einem ganz besonderen Fokus. Die Kohäsions-politik bleibt für uns wichtig; denn sie ist ein zentrales In-strument, um insbesondere die Zukunftsinvestitionen inBeschäftigung und Nachhaltigkeit finanziell entspre-chend auszustatten. Sie ist gerade auch in einer Zeit wich-tig, in der die notleidenden Staaten zu weitreichendenSparanstrengungen gezwungen sind. Aber Einsparungenohne Wachstum und Investitionen in Beschäftigung sindnicht zukunftsfähig. Insofern erwarten wir von der Euro-päischen Union und der Bundesregierung auch hier eineentsprechende engagierte Unterstützung, damit die Kohä-sionspolitik ein wichtiger Schlüssel europäischer Struk-turpolitik bleibt.
Wir könnten uns hier durchaus eine Zusammenführungvon zwei Instrumenten vorstellen, nämlich auf der einenSeite des Strukturfonds und auf der anderen Seite desKohäsionsfonds.Die neue Prioritätensetzung muss die eigentlich zen-trale Botschaft für die Haushaltsentwicklung der Euro-päischen Union ab 2014 sein.Wir haben neue Zuständigkeiten gewonnen, auchdurch den Lissabon-Vertrag. Aber diese neuen Zustän-digkeiten müssen sich auch im Haushalt widerspiegeln:bei Energie, Klimawandel, Innovation, aber vor allemauch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik. Ichbin mir nicht sicher, ob das, was seitens der Kommissionderzeit an finanziellen Zuwächsen im Bereich der Au-ßen- und Sicherheitspolitik vorgesehen ist, ausreicht, umder gewachsenen Erwartungserhaltung gegenüber derEuropäischen Union in der Außen- und Sicherheitspoli-tik angemessen Rechnung zu tragen.Wir unterstützen ebenso, dass man die inhaltlicheAusrichtung der Finanz- und Haushaltspolitik der Euro-päischen Union stärker mit den Strategien in Überein-stimmung zu bringen versucht. Da ist die Strategie„Europa 2020“ von ganz zentraler Bedeutung. Hier mussein klarer Beitrag für mehr Wachstum und mehr Be-schäftigung geleistet werden.Ein großer Skandal in der Europäischen Union ist,dass es uns nicht gelingt, die Jugendarbeitslosigkeit ineinigen Mitgliedstaaten erfolgreich zu bekämpfen.
Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von annähernd 50 Pro-zent in Spanien und über 40 Prozent in Griechenlanddürfen wir uns nicht wundern, wenn die betroffenen jun-gen Menschen ihre Hoffnungen auf ein solidarisches,zukunftsgewandtes Europa aufgeben. Im Haushalt derEuropäischen Union muss sich widerspiegeln, dass nichtallein die Mitgliedstaaten, sondern auch die EuropäischeUnion etwas gegen die Massenarbeitslosigkeit der jun-gen Generation tut. Hierzu erwarten wir klare Beiträge.
In einem Punkt sind wir mit den Vorschlägen der EU-Kommission nicht einverstanden. Es kann nicht ange-hen, dass man versucht, über Schattenhaushalte das, wo-für man keine Mittel in den regulären Haushalt einstellenkann, zu finanzieren. Es gibt inzwischen einen Europäi-schen Entwicklungsfonds, einen Nothilfefonds, einenGlobalisierungsfonds, einen Solidaritätsfonds und Reser-ven für die Bewältigung von Krisen im Agrarsektor. Ins-gesamt handelt es sich um ein Budget von knapp 60 Mil-liarden Euro. Das alles muss aus unserer Sicht – wennman sich denn ehrlich machen will – in den regulärenHaushalt überführt werden. Das ist für uns aus zweierleiGründen wichtig: Zum einen leistet das einen Beitrag fürmehr Transparenz. Zum anderen sorgt das für die not-wendige demokratische Legitimation; denn nur über denregulären Haushalt ist gesichert, dass das EuropäischeParlament seine gewachsenen Rechte im Bereich desHaushaltsverfahrens wahrnehmen kann. Für uns ist mehrGeld für die Europäische Union nur akzeptabel, wenndas Europäische Parlament angemessen beteiligt wird,wie es der Vertrag von Lissabon vorsieht.
Herr Kollege Spatz, Sie haben den Britenrabatt ange-sprochen. Hier sollten wir der Wahrheit ins Auge bli-cken: Diesen Rabatt haben diejenigen zu verantworten,die das vor vielen Jahren ausgehandelt haben. Wie Siewissen, handelt es sich um einen Eigenmittelbeschluss,der der Einstimmigkeit unterliegt. Das heißt, eine Ab-schaffung oder eine Abmilderung des Britenrabatts istohne die Zustimmung der Briten gar nicht realisierbar.Das können wir zwar fordern. Aber ich gehe nicht davonaus, dass sich die Briten hier bewegen werden.Der Mehrjährige Finanzrahmen ist – das ist ein großerSchritt nach vorne und eine wesentliche Errungenschaftdes Vertrags von Lissabon – nicht mehr allein Angele-genheit der nationalen Regierungen. Vielmehr spieltauch hier das Europäische Parlament eine zentrale Rolle.Ohne Zustimmung des Europäischen Parlaments kannder Mehrjährige Finanzrahmen nicht in Kraft treten. Wirhoffen seitens der SPD-Fraktion, dass diese größere de-mokratische Legitimation zu besseren Ergebnissen führt.Dabei sind wir uns allerdings noch nicht ganz sicher.Ich will über einen anderen Punkt offen sprechen, beidem die Fraktionen weit auseinanderliegen; das ist auch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17147
Michael Roth
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in Ihrem Redebeitrag, Herr Spatz, deutlich geworden.Wenn wir uns vor Augen halten, dass der MehrjährigeFinanzrahmen bis 2020 Gültigkeit besitzt, fände ich esverantwortungslos, wenn wir uns einer grundlegendenReform des Eigenmittelregimes verweigern würden. Ichglaube, dass wir das derzeitige Eigenmittelregime nichtwerden durchhalten können. Es ist nicht zukunftsfähigund führt zu Ungerechtigkeiten. Ich hoffe, dass es hiernoch Bewegung gibt.Sie werden uns weiterhin an Ihrer Seite haben, wennes um die Einführung einer Finanztransaktionsteuergeht. Wir kämpfen selbstverständlich für eine Finanz-transaktionsteuer. Uns als SPD-Fraktion ist aber genausoklar: Wenn wir eine solche Steuer nicht EU-weit einfüh-ren können, dann müssen wir sie in der Euro-Zonedurchsetzen. Wenn das auch in der Euro-Zone nichtdurchgesetzt werden kann, dann müssen eben Deutsch-land, Frankreich, die Beneluxstaaten, Österreich und an-dere Staaten voranschreiten; denn es müssen endlichauch die Verursacher der Krise an der Finanzierung derBewältigung der Krise beteiligt werden. Das geht nurmit einer Finanztransaktionsteuer.
Die Probleme der derzeitigen Verhandlungen überden Mehrjährigen Finanzrahmen liegen – Sie haben völ-lig recht, dass im Jahr 2012 nicht über alles entschiedenwird; ich befürchte, dass es erst Ende 2013 ans Einge-machte geht – nicht alleine in Brüssel, sondern auch hierin Berlin. Wer sonntags mehr Europa einfordert, aberdann von montags bis freitags einfordert, dass wenigerGeld nach Brüssel gezahlt werden soll, macht sich un-glaubwürdig.
Wer Kürzungen fordert, aber gleichzeitig die Koalitionder Sparunwilligen in Brüssel anführt, der trägt nichtdazu bei, dass das Vertrauen in die Europäische Unionwächst. Das sollte aber eigentlich im gemeinsamen Inte-resse aller Bundestagsfraktionen liegen. Hier wünschenwir uns von Ihnen mehr Engagement und mehr Drive.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Bettina Kudla für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Um was geht es heute in der Debatte? Esgeht um einen Betrag von über 1 000 Milliarden Euro.Diesen Betrag will die EU in den Jahren 2014 bis 2020ausgeben. Die Regierungsfraktionen haben dazu fürheute einen Antrag vorgelegt, übrigens, Herr Roth, einenAntrag mit ganz konkreten Punkten. Wir haben in unse-rem Antrag nicht bloß, wie die SPD, Überschriften ge-setzt wie „Einnahmeseite“ und „Ausgabenseite“; wir ha-ben unseren Antrag ganz exakt inhaltlich gefüllt unddargestellt, wie wir uns die Zukunft des MehrjährigenFinanzrahmens vorstellen; denn der Finanzrahmen setztdie Schwerpunkte der Ausgaben für immerhin siebenJahre fest. Das ist ganz entscheidend für die nachhaltigeEntwicklung innerhalb der Europäischen Union.Sie haben erwähnt: Die Kommission hat die Vor-schläge vorgelegt. – Aber die Vorschläge finden teilweisenicht unsere Zustimmung. Man muss hier die Realität se-hen und berücksichtigen, vor welchem Hintergrund dieVorschläge gemacht werden.Das Budget wird vor dem Hintergrund der größtenStaatsschuldenkrise weltweit und in Europa aufgestellt.Deswegen ist es selbstverständlich, dass wir Ausgabendeckeln müssen und dass wir nicht einfach mehr ausge-ben können.
Gleichwohl müssen auch neue Aufgaben finanziell un-tersetzt werden; das ist selbstverständlich. Deswegenmüssen vernünftige Umschichtungen innerhalb des Etatsvorgenommen werden.
Diese Umschichtungen haben auch ihre Logik im Hin-blick auf die Fortentwicklung der Europäischen Unionund im Hinblick auf die Integration der Mitgliedstaaten.Herr Roth, es hat mich gefreut, dass Sie das ThemaTransparenz angesprochen haben. Auch das findet sichin unserem Antrag. Wir fordern mehr Nachweise überden Einsatz der Mittel. Hier ist die Informationspolitikder EU noch etwas unbefriedigend. Das muss sich ver-bessern.Zu den Instrumenten der EU ist zu sagen: Viele In-strumente haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehn-ten bewährt. Es besteht keine Veranlassung, bewährte In-strumente um der Reform willen abzuschaffen.Ich möchte auf einige Schwerpunkte der Ausgaben-bereiche eingehen:Die Agrarpolitik ist im Hinblick auf den Anstieg derWeltbevölkerung und den erhöhten Nahrungsmittelbe-darf selbstverständlich der größte Ausgabenposten. Hiersetzen wir uns für eine starke erste Säule und eine finan-ziell ausreichend untersetzte zweite Säule ein.
Wir lehnen Vorschläge ab, die eine Deckelung für Groß-betriebe vorsehen.
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17148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Bettina Kudla
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Wir wollen nicht mehr Bürokratie durch irgendwelchekomplizierten Konstruktionen,
bei denen man entsprechende Lohnsummen abziehenmuss, damit man eine Förderung bekommt. Das lehnenwir ab.
– Wir wollen sehr viel ändern. – Das haben Sie zum Bei-spiel gar nicht erwähnt: Wir wollen Übergänge maßvollgestalten. Die Gestaltung der Übergänge ist deswegen sowichtig, damit durch die EU-Mittel eine wirklich nach-haltige Entwicklung eintritt. Es kann nicht sein, dass sichFörderregionen, die in den letzten Jahren gerade über dieSchwelle von 75 Prozent des durchschnittlichen BIP ge-rutscht sind, durch einen abrupten Abbruch der Förde-rung rückwärts entwickeln und dann unter dieser Grenzeliegen. In dem Fall würden Fördermittel nicht sinnvolleingesetzt, und den Kommunen würden plötzlich erheb-liche Mittel fehlen. Deshalb treten wir für ein Sicher-heitsnetz von zwei Dritteln der Förderung ein. Das istbesonders für die neuen Bundesländer wichtig, mussaber unter der Maßgabe erfolgen, dass die Ausreichungder Mittel degressiv gestaltet wird.Neue Förderregionen lehnen wir ab. Das würde För-derung nach dem Gießkannenprinzip bedeuten und hatzu wenig Mehrwert.
Angesichts des hohen Betrags der nicht ausgeschöpf-ten Mittel innerhalb des EU-Budgets wollen wir mehrAnreize dafür schaffen, dass die Mittel planmäßig undzügig abgerufen werden. Hier erwarten wir von derKommission Vorschläge, wie in Zukunft verfahren wer-den soll. Gleichzeitig erwarten wir Vorschläge, wie mitder sogenannten Bugwelle dieser Mittel umgegangenwerden soll.Wir möchten, dass die Zukunftsbereiche innerhalbdes MFR gestärkt werden. Das muss bedeuten: Vorfahrtfür Investitionen vor konsumtiven Ausgaben. Wir wol-len die Forschungsprogramme stärken. Wir wollen ins-besondere die Infrastruktur verbessern. Hier werden imBereich der Verkehrsnetze, der Telekommunikation undder Energienetze in den nächsten Jahren erhebliche In-vestitionen erforderlich sein. Deshalb sprechen wir unsdafür aus, Modelle zu finden, bei denen privates Kapitalfür öffentliche Investitionen mobilisiert werden kann.Das führt teilweise zu einem doppelten Mehrwert: Inves-titionen werden schneller durchgeführt, und der privateInvestor hat dann unter Umständen ein besonderes Inte-resse an der entsprechenden Region. Das bedeutet, zu-sätzliche private Investitionen werden in die Region ge-zogen.Aber wir sind auch für Transparenz. Wir wollen, dassdiese Projekte im Haushalt entsprechend abgebildet wer-den.Um all diesen Ausgabenerfordernissen gerecht zuwerden, brauchen wir ein vernünftiges, stabiles undplanbares Einnahmesystem. Wir stehen auf dem Stand-punkt, dass sich das bisherige Einnahmesystem, das ander wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der einzelnenStaaten ausgerichtet ist, bewährt hat.
Wir sprechen uns nicht für ein eigenes Steuererhe-bungsrecht der EU aus, und zwar aus mehreren Gründen.Die Akzeptanz der Europäischen Union wird nicht bes-ser, wenn wir die Bürger mit neuen Steuern belasten.
Um mehr Akzeptanz zu erreichen, müssen wir Europabesser vermitteln, und wir müssen die Bürger mitneh-men. Zusätzliche Belastungen sind da keine Lösung.
Ein eigenes Einnahmerecht der Europäischen Unionwürde auch das Risiko beinhalten, dass die EU eigeneSchulden aufnimmt. Es wird ja viel über Fehler bei derKonstruktion der EU diskutiert. Aber es wurde auch sehrviel richtig gemacht. Richtig war zum Beispiel, dass dieEU keine eigenen Schulden aufnehmen darf. DiesesRisiko würde aber bei einem eigenen Steuererhebungs-recht entstehen.
Wir treten ferner dafür ein – Herr Spatz hat es bereitserwähnt –, dass die Finanztransaktionsteuer in den natio-nalen Haushalten vereinnahmt wird. Schließlich habendie nationalen Haushalte auch enorme Summen für Kon-junkturpakete ausgegeben.
Wir setzen uns ferner dafür ein, dass man einen ver-nünftigen Korrekturmechanismus, ein vernünftiges Ra-battsystem installiert. Unsere Nettozahlerposition darfsich nicht verschlechtern. Ich wundere mich schon, wieleichtfertig die SPD in ihrem Antrag Positionen, die imInteresse unserer Bürgerinnen und Bürger sind, einfachaufgibt.Zusammenfassend darf ich sagen: Mit dem Antragfordern die CDU/CSU und die FDP die Bundesregierungauf, klare Eckpunkte in die Verhandlungen um den MFReinzubringen.Ich möchte schließen mit einem Dank an den Außen-minister, an den zuständigen Staatssekretär Dr. Hoyerund an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Auswär-tigen Amt sowie im BMF, da ich weiß, dass hier intensivam MFR gearbeitet wird.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17149
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Das Wort hat nun Diether Dehm für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ei-gentliche Problem ist doch: Deutscher Markt-Extremis-mus – –
– Das fänden Sie schön: „Marx-Extremismus“. Nein!Deutscher Markt-Extremismus
prägt auch den Mehrjährigen Finanzrahmen. HerrKauder triumphierte unlängst: In Europa spricht manjetzt wieder Deutsch. – Hat der Mann Fingerspitzenge-fühl?
Am deutschen Lohndumpingwesen soll wohl Europa ge-nesen. Aber auf den Straßen skandieren die MenschenGriechisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und – wieheute beim Generalstreik in Portugal – Portugiesisch.Und das ist auch gut so.
Die Unterordnung demokratischer Souveränität undSozialstaatlichkeit unter die Rettungsprogramme fürGroßspekulanten und Finanzhaie durchzieht den Koali-tionsantrag. Die Deckelung der Ausgaben auf 1 Prozentdes Bruttonationaleinkommens wird als Ausdruck derStabilität gepriesen. Was die Deckelung aber tatsächlichbedeutet, kann man bereits bei der Einigung auf den EU-Haushalt 2012 sehen. Dieser wird um 1,86 Prozentwachsen. Bei einer allgemein prognostizierten Infla-tionsrate von 2 Prozent haben wir es also de facto mit ei-ner Schrumpfung zu tun – und das, obwohl Griechen-land, Spanien, Italien nichts so dringend brauchen wiefrisches Geld in der Realwirtschaft.
Auch die geforderte Integration der bestehendenSchattenhaushalte bedeutet, dass an anderen Stellen ge-kürzt werden muss. Konkret reden wir hier von einemVolumen von 58 Milliarden Euro. Die wichtige Frage istdann: Wo soll gekürzt werden?Berechnungen aus Bundesministerien besagen, dassbei der Integration der außerhalb des Agrarbudgets ste-henden Finanzierungselemente die tatsächlichen Ausga-ben für die Gemeinsame Agrarpolitik bis 2020 nicht aufein Drittel des gesamten EU-Budgets sinken, im Gegen-teil: Sie werden noch um 10 Prozent über den bisherigenAusgaben liegen. Aber das kommt eben nicht regionalenKreisläufen zugute, sondern Großagrariern.
Die finanzielle Ausstattung der Gemeinsamen Au-ßen- und Sicherheitspolitik, GASP, verbinden Sie aus-drücklich mit dem Anspruch auf eine bessere militäri-sche Handlungsfähigkeit. Also, hier soll nicht gespartwerden. Sie wollen die Militarisierung der EU,
wir Linken wollen mehr Geld für friedliche Konfliktlö-sung.
Dann soll zugunsten des ForschungsatomreaktorsITER bei anderen Forschungsprojekten gespart werden,obwohl ITER frühestens 2050 Strom produziert – wennüberhaupt. Obwohl auch ITER radioaktiven Müll bringt.Toller Atomausstieg!Sollten wir nicht statt ITER noch konsequenter erneu-erbare Energien fördern?Generell steht bei europäischen Forschungsprojektenals Vergabekriterium im Bereich Forschung ausdrück-lich die Marktrelevanz im Vordergrund. Wann begreifenSie endlich, dass Marktrelevanz und gesellschaftlicherNutzen zwei völlig getrennte Dinge sind?
Unter Punkt 17 Ihres Antrags propagieren Sie öffent-lich-private Partnerschaftsmodelle für die Finanzierungvon Infrastrukturprojekten. Haben Sie noch nie etwasvon einer Stadt namens Berlin gehört? Deren Wasser-preise sind jetzt vom Bundeskartellamt ins Visier ge-nommen worden.
Auch Teilprivatisierung ist ein Brandbeschleuniger fürPreise.
Zum Sparen bleibt dann also nur noch die Kohäsions-politik,
der EU-Haushaltsbereich, der auf die Lebenswirklich-keit und die Realinvestitionen in wirtschaftlich darnie-derliegenden Regionen die unmittelbarsten Auswirkun-gen hat. Indem Kohäsionspolitik nun aber konditioniertwird und in relevanten Teilen auf revolvierende Fonds– also Fonds, deren Ressourcen aus damit finanziertenProjekten aufgefüllt werden – umgestellt werden soll,wird erneut offenkundig, dass das Soziale bei Ihnen aufentwürdigendste Weise dem Wettbewerb untergepflügtwird.Konkret sagt die EU-Kommission über den Europäi-schen Sozialfonds – ich zitiere –: Er istdas Hauptfinanzinstrument der Europäischen Unionfür die Investition in Menschen. Er verbessert dieBeschäftigungsmöglichkeiten europäischer Bürger,
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17150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Dr. Diether Dehm
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fördert eine bessere Bildung und verbessert dieLage der am stärksten armutsgefährdeten Men-schen.Wer aber Armutsbekämpfung rentabel und selbstfinan-zierend machen will, der handelt menschenverachtend.
Wer dabei die superreichen Reeder in Griechenlandund die Ackermänner in Deutschland steuerlich schont,zerstört den Euro und die europäische Integration. IhrDogma vom hemmungslosen Wettbewerb ist und bleibtantieuropäisch.
Das Wort hat nun Viola von Cramon-Taubadel vonBündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Link hat be-reits gestern in den Haushaltsberatungen nach dem„Wunschkonzert der Grünen“ gefragt. Kollege Spatz hatheute noch einmal darauf hingewiesen, dass Sie sichsehr darauf freuen. Da die Vorfreude die schönste Freudeist, müssen Sie sich leider noch etwas gedulden. Es gibteinen grünen Antrag, aber noch nicht heute.
Nun zur Sache: Europa und Finanzen – das ist im Mo-ment kein leichtes Thema. Damit lässt sich weder inBerlin noch in anderen Hauptstädten derzeit ein Blumen-topf gewinnen. Und dabei ist – angesichts der immensenHerausforderungen, die vor uns liegen – ein klug aufge-stellter EU-Haushalt mit ausreichend Manövriermassebesonders wichtig, um diese Krise zu bewältigen und umlangfristig eine stabile EU-Politik zu gewährleisten.
Damit komme ich zum ersten Punkt: der Einnahme-seite. Wer die EU zukunftssicher aufstellen will, wergrüne Arbeitsplätze schaffen will, wer die EU weiterhinals Global Player sehen möchte und vor allem wer mitdem europäischen Mehrwert arbeiten möchte, solltenicht unter der Höhe des aktuellen Finanzrahmens– nämlich 1,12 Prozent der Wirtschaftsleistung der EU –bleiben.
Denn während früher noch – das ist noch gar nicht solange her – die Töpfe der EU vor allem durch Zölle undAgrarabschöpfungen gefüllt wurden, existieren dieseQuellen nicht mehr. Was früher einmal – wie die besag-ten 1,12 Prozent des BNE – als residual, also als ergän-zende Finanzierung, gedacht war, macht mittlerweilefast das vollständige Fundament des EU-Haushalts aus.
Wenn wir dieses Fundament noch beschneiden, ist dieEU nicht mehr handlungsfähig. Das wollen wir nicht.
Außerdem darf man nicht vergessen – was auch Sieund die Bundesregierung ebenso wie viele andere Mit-gliedstaaten nicht sagen –, dass Kosten auf den EU-Haushalt abgewälzt wurden. Das Europäische Parla-ment, dessen Kosten früher aus dem Haushalt der natio-nalen Parlamente bestritten wurden, wird jetzt vollstän-dig über den EU-Haushalt finanziert,
und dadurch haben wir dort netto höhere Kosten. Das isteinfach so. Der EU-Haushalt wurde in dem Zeitraumaber nicht erhöht.Es gibt sicherlich Möglichkeiten, die Synergien, alsoden europäischen Mehrwert, zu nutzen. Darüber habenwir häufig gesprochen. Obwohl es eine EU-Delegationgibt, obwohl es einen Europäischen Auswärtigen Dienstgibt, gibt es nach wie vor in jedem Land 27 Botschaften,27 nationale Vertretungen. Das ist auf Dauer nicht zuhalten. Hier müssen wir mit unserem Auswärtigen Amtumdenken. Wir müssen uns bewegen und sagen: An die-ser Stelle können wir Kräfte bündeln, an jener Stellekönnen wir sparen; hier wollen wir zusammenfassen.Das Gleiche gilt für die EU-Finanzaufsicht. Wir ha-ben zurzeit drei Behörden. Die können zusammenarbei-ten, die können kooperieren. Wir können diese Kräftebündeln, indem wir von der nationalen Ebene Kräfte zu-rückziehen und das auf die EU-Ebene übertragen. Da-durch können wir an dieser Stelle sicherlich Kosten spa-ren; das liegt in unser aller Interesse.
Der zweite Punkt – wir haben das häufig angespro-chen –: das ungerechte und vollkommen undurchsichtigeRabattsystem. Es ist kein Geheimnis, dass auch Deutsch-land in großem Maße davon profitiert. Niemand verstehtes. Daher ist unsere Forderung: Setzen Sie sich endlichfür einen transparenten und fairen Haushalt ein, dennicht nur wir Politikerinnen und Politiker, sondern auchjede Bürgerin und jeder Bürger in der EuropäischenUnion irgendwann einmal nachvollziehen kann.
Der dritte Punkt, der immer wieder unter den Tischfällt: die Frage der Nettozahlerposition in der EU. Wirhaben gelernt, dass man damit an Stammtischen sehr gutPolitik machen kann. Fakt ist allerdings, dass sich dieNettozahlerposition in den letzten 10 bis 15 Jahren deut-lich zugunsten Deutschlands verändert hat: Während wir1994 noch knapp 11,3 Milliarden Euro netto eingezahlthaben, zahlen wir jetzt nur noch gut 8 Milliarden Euroein. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Das wird abernicht erwähnt, weil es schicker und angenehmer ist, mit
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Viola von Cramon-Taubadel
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der Nettozahlerposition zu kokettieren und zu sagen,dass wir in Europa die größte Leistung erbringen. Das istallerdings nicht mehr so.
Der vierte Punkt. Ich glaube, Frau Kudla hat da nochnicht so ganz verstanden, worum es eigentlich geht. Na-türlich benötigen wir eine finanzielle Autonomie derEU; natürlich benötigen wir eigene EU-Steuern. Die Lo-gik, dass eigene EU-Steuern gleich zu mehr Schuldenoder überhaupt zu Schulden im Haushalt führen sollen,hat sich mir aber nicht erschlossen.
Wir wollen selbstverständlich eine Finanzmarkttrans-aktionsteuer, und wir wollen eine Mindestenergiesteuer.Das schafft mehr Klarheit, das schafft Identität fürEuropa.
Damit können wir wichtige Klima- und Entwicklungs-projekte finanzieren.Was die Ausgabenseite des EU-Haushalts betrifft: Füruns Grüne ist natürlich klar: Wenn wir umsteuern wol-len, dann müssen wir nicht nur mit der deutschen Wirt-schaft umsteuern, sondern im großen Stil. Dazu brau-chen wir auf EU-Ebene einen Green New Deal.
Dieser Umbau zu einem nachhaltigen und integrativenEuropa – EU 2020 – muss sich wie ein grüner Fadendurch den gesamten Haushalt ziehen: Angefangen vonder Agrarpolitik über die Struktur- und Kohäsionspolitikwollen wir reformieren. Geld darf es nur noch für jenegeben, die beim umweltpolitischen Umbau mitmachenwollen, nicht für jene, die unsere Lebensgrundlagen, un-sere Ressourcen verschwenden oder sogar vernichten.
Für uns bedeutet das: nicht in alte Wachstumsideale,nicht in Beton investieren. Wir wollen Köpfe und Know-how sowie bildungs- und sozialpolitische Teilhabe för-dern. Das ist die Zukunft der EU.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Der innenpolitische Haushalt macht uns große Sor-
gen. Wir befürchten, dass es hier wieder vorwiegend um
Flüchtlingsabwehr und Grenzsicherung geht. Sorgen Sie
dafür, dass es um den Schutz und die Integration von
Flüchtlingen und besonders Schutzbedürftigen geht. Das
ist uns ein besonderes Anliegen, damit die Menschen-
rechte nicht nur auf dem Papier stehen, sondern am Ende
auch umgesetzt werden.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Thomas Silberhorn für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn unsere geneigten Zuhörerinnen und Zuhörer ver-nehmen, was die Vertreter der Opposition heute verkün-den, dann wird ihnen, glaube ich, deutlich: Wir könnenfroh sein, dass die Union und die FDP regieren.
Sie predigen hier Ausgabenorgien – 1,12 Prozent desBruttonationaleinkommens –; Sie fordern neue Einnah-mequellen der Europäischen Union. Für Euro-Bondsund die Vergemeinschaftung der Schulden sind Sie so-wieso. Sagen Sie: Auf welchem Planeten leben Sie ei-gentlich? Haben Sie noch nicht gemerkt, dass alle Mit-gliedstaaten der Europäischen Union ernsthaft bemühtsind, ihre Haushalte zu konsolidieren und gravierendeStrukturreformen zu unternehmen?
Die Europäische Union muss selbstverständlich eben-falls auf diesen Sparkurs getrimmt werden.
Die Kommission schlägt vor, eine Ausgabenober-grenze von 1,05 Prozent des Bruttonationaleinkommensfestzulegen. Sie verschweigt dabei, dass sie weitere58 Milliarden Euro in Schattenhaushalten vergraben hat.Deshalb ist unsere erste Forderung: Schluss mit solchenTricksereien! Wir fordern Wahrheit und Klarheit imHaushalt.
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Thomas Silberhorn
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Alle Ausgaben müssen transparent im EU-Haushalt offen-gelegt werden. Sagen wir es deshalb deutlich: Der Vor-schlag der Kommission sieht Ausgaben von 1,11 Prozentdes Bruttonationaleinkommens vor; das übersteigt diejetzige Obergrenze von 1 Prozent. Das macht einen Un-terschied: 1 083 Milliarden Euro gegenüber 971 Milliar-den Euro. Das ist eine Differenz von 112 MilliardenEuro in 7 Jahren. Wenn Sie das durch sieben teilen undeinen deutschen Anteil von einem Viertel nehmen, kom-men Sie auf eine Differenz, die für Deutschland jedesJahr etwa 4 Milliarden Euro ausmacht. Wir reden hiernicht über Kleinigkeiten. Deswegen ist es richtig, dasswir als Koalition daran festhalten: Die Ausgabenober-grenze liegt bei 1,0 Prozent des Bruttonationaleinkom-mens der EU.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Sarrazin?
Ich würde das gerne im Zusammenhang ausführen.Wenn Sie sich nachher noch einmal melden, dann viel-leicht.
Meine Damen und Herren, der Haushalt der Europäi-schen Union wird nicht kleiner, wenn wir die Ausgaben-obergrenze auf 1,0 Prozent begrenzen. Der Ausgabenzu-wachs der Europäischen Union liegt darin begründet,dass das Bruttonationaleinkommen der Bezugsrahmenist. Wenn es also eine wirtschaftliche Entwicklung gibt,steigt der Haushalt der Europäischen Union nominal. Wirhaben einen automatischen Inflationsausgleich im euro-päischen Haushalt – etwas, was wir im Bundeshaushaltnicht haben und was andere Mitgliedstaaten überhauptnicht kennen.
Das muss natürlich Berücksichtigung finden, wenn wirüber die Ausgabenobergrenze reden.
Die Kommission – das muss nicht überraschen – wirdnicht müde, wieder und wieder eigene Einnahmequellenbzw. neue Steuern der Europäischen Union vorzuschla-gen.
Auch wir sind für eine Finanztransaktionsteuer – odersagen wir besser: Finanzaktivitätsteuer.
Das Steueraufkommen muss aber bei den Mitgliedstaa-ten liegen. Wir haben eine Mehrwertsteuerquelle. Es istaber richtig, dass die Beiträge aus der Mehrwertsteuervon den Mitgliedstaaten an die Europäische Union über-wiesen werden und diese nicht ein eigenes Steuererhe-bungsrecht erhält. Es ist doch klar, was passieren wird,wenn man der Europäischen Union ein Steuererhebungs-recht gibt. Auf europäischer Ebene werden sich alle ei-nig sein, dass man mehr Geld einnehmen muss.
Niemand wird darüber nachdenken, wie man Ausgabensparen kann, sondern man wird schlichtweg beschließen,wie man Einnahmen hereinholt. Der Weg von Brüssel indie Hauptstädte ist manchmal schon lang, aber der Wegvon Brüssel zum Bürger ist noch viel länger. Deswegenhalten wir daran fest: Die Steuererhebungskompetenzmuss bei den Mitgliedstaaten liegen. Wir wollen keineSelbstbedienung der Europäischen Union mit eigenenSteuern.
Dass der Weg von eigenen Steuern in die Verschuldungnicht weit wäre,
Frau Vorrednerin, ist doch völlig klar. Man hat schonüber den Euro-Rettungsschirm die Möglichkeit eröffnet,Schuldscheine zu begeben.Der große Vorteil der Finanzierung der EuropäischenUnion besteht darin, dass aufgrund der Beitragsfinanzie-rung auf europäischer Ebene keine Schulden gemachtwerden können. Wenn Sie jetzt auf der Einnahmeseiteein Fass aufmachen, ist man natürlich nicht weit davonentfernt, Kredite aufzunehmen bzw. sich zu verschulden.
Das wäre das völlig falsche Signal. Wir sind doch geradein allen Mitgliedstaaten auf dem Weg, die Haushalte zukonsolidieren und die Schulden abzubauen. Sie aberwollen mit neuen Steuern und Schulden in der Europäi-schen Union ein neues Fass aufmachen. Das ist ganz si-cher nicht der richtige Weg.
Der Koalitionsvertrag sieht zwei Punkte vor, die wirerstmals in einen Zusammenhang mit dem MehrjährigenFinanzrahmen stellen. Dabei geht es um die Agenturenund vielfältigen sonstigen Verwaltungsstellen der Euro-päischen Union,
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und es handelt sich um die Bediensteten der Europäi-schen Union.In diesem Hohen Hause haben wir immer wieder invielen Ausschüssen gegenüber Vertretern der Kommis-sion und vielen anderen deutlich gemacht: Wir möchten,dass die europäische Verwaltung nicht ausufert, mäand-riert und viele neue Satelliteneinrichtungen schafft, son-dern wir legen Wert auf eine integrierte Verwaltung.Deswegen muss jede Stelle, die in der EuropäischenUnion Verwaltungsaufgaben wahrnimmt, einer Erfolgs-bzw. Zielkontrolle unterliegen.
Wir wollen Zielvereinbarungen für jede dieser Agentu-ren und sonstigen Einrichtungen, und wir wollen, dassvereinbart wird, mit welchen Haushaltsmitteln und wel-chem Personal welche Ergebnisse erzielt werden. Weiterwollen wir auch, dass alle diese Einrichtungen unter derAufsicht eines politischen Organs bzw. eines Kommis-sars stehen und sich nicht verselbständigen.
Deswegen ist es, glaube ich, richtig und ein wichtiges Si-gnal, dass wir diese Verwaltungspraxis der EuropäischenUnion in einen direkten Zusammenhang mit der Finan-zierung derselben stellen. Deswegen finden sich unsereAussagen zu Agenturen und Verwaltungsstellen in die-sem Antrag zum Mehrjährigen Finanzrahmen.Gleiches gilt für die Bediensteten der EuropäischenUnion. Ich bin weit davon entfernt, Beamten-Bashing zubetreiben. Sie werden von mir keine Äußerung finden,dass ich jemals von Eurokraten gesprochen hätte. Ichglaube, dass wir in der Europäischen Union sehr qualifi-zierte Beamte und sonstige Bedienstete haben. Wir brau-chen sie auch. Sie müssen wettbewerbsfähig sein und at-traktiv besoldet werden; das ist gar keine Frage. Aberwas sich in den letzten Jahren an Vorzugsbehandlungenangesammelt hat,
was weit von der Praxis in den Mitgliedstaaten entferntist, können wir auf Dauer nicht hinnehmen.
Eine wöchentliche Arbeitszeit von 37,5 Stunden, Über-stundenausgleich selbst in Leitungsfunktionen – wo inEuropa gibt es denn so etwas? Sonderurlaub wird nochnach Eisenbahnfahrzeiten berechnet
und bis zu sechs Tagen pauschal erstattet, auch in dasHeimatland des Partners. Selbst wenn der Sonderurlaubüberhaupt nicht angetreten wird, werden die Kosten er-stattet. Ohne Beamten-Bashing zu betreiben: Diese Aus-wüchse muss man klar benennen.
Ich erwarte das klare Signal, dass es so nicht weiterge-hen kann. Die Bediensteten der Europäischen Unionmüssen sich an den Standards, die in den nationalen Ver-waltungen gelten, orientieren. Deswegen ist es richtig,dass wir auch diese Forderung in einen Zusammenhangmit dem Mehrjährigen Finanzrahmen stellen.Das Gleiche gilt für die jährlichen Gehaltsanpassun-gen. Die Europäische Union gewährt einen nahezu auto-matischen Inflationsausgleich. Wir müssen dafür sorgen,dass die Gehaltsanpassungen die wirtschaftliche Ent-wicklung in den Mitgliedstaaten realistisch wiedergeben.Auch ein politischer Ermessensspielraum muss zugelas-sen werden.Gestatten Sie mir ein letztes Wort zu den Euro-Bonds.Wir werden uns hier mit der Opposition nicht einig wer-den.
Wenn Sie mir noch eine Bemerkung gestatten, Frau Prä-sidentin: Wir hatten als Folge der Währungsunion eineZinskonvergenz, die Ursache dafür war, dass die Haus-haltsdisziplin nachgelassen hat. Jetzt haben wir wiederangemessene Zinssätze in den einzelnen Mitgliedstaatender Europäischen Union, die dazu führen werden, dassdie notwendige Haushaltsdisziplin aufgebracht wird.Wenn Sie Euro-Bonds einführen und die Zinsen verge-meinschaften, dann nehmen Sie jeglichen Anreiz zurEinhaltung der Haushaltsdisziplin. Das ist das völlig fal-sche Signal.
Deswegen sprechen wir uns in unserem Antrag aus-drücklich gegen Euro-Bonds aus.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Michael Link für die FPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Am Schluss dieser Debatte möchte ich noch einmal da-
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Michael Link
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rauf eingehen, worum es heute eigentlich geht; denn dasist extrem wichtig.Dass wir in der Haushaltswoche überhaupt über die-ses Thema beraten, ist ein Novum. Wir tun dies auchdeshalb, weil uns das Bundesverfassungsgericht in letz-ter Zeit immer wieder daran erinnert hat, dass alle Haus-haltsfragen frühzeitig im Parlament behandelt werdenmüssen.Dass wir es als Koalitionsfraktionen geschafft haben,wirklich über alle Arbeitsgruppen hinweg – Agrarpoli-tik, Struktur- und Kohäsionspolitik, Forschung, Verkehr,aber natürlich auch Sicherheit und Verteidigung – einenAntrag vorzulegen, der in seinen Auswirkungen fürdiese sieben Jahre hochkomplex ist, ist sehr wichtig. Wirsind auf die Ausschussberatungen gespannt.Wir möchten das natürlich im Laufe der Verhandlun-gen über den MFR im nächsten Jahr wiederholen; dennje mehr die Verhandlungen über den MFR Fahrt aufneh-men, desto eher muss der Bundestag erneut Stellung be-ziehen, um der Bundesregierung für die Verhandlungs-positionen den Rücken zu stärken. Denn sie muss nichtnur in Brüssel, sondern auch in anderen Hauptstädten in-nerhalb der Europäischen Union sagen, wofür der Bun-destag steht.Die Stellungnahme des Bundestages spielt weit überdas übliche Verfahren hinaus eine wichtige Rolle. Wirbekräftigen darin die klare Absage an EU-Steuern undEuro-Bonds.
Das zu bekräftigen, ist gerade in dieser Woche wichtig.Wieso sind wir so kritisch beim Thema EU-Steuern?Viele gute und wichtige Argumente sind genannt wor-den. Kollege Silberhorn, Kollegin Kudla und KollegeSpatz, ich möchte eines ergänzen: Das insbesondere aufdas Bruttonationaleinkommen gestützte System hat denVorteil, dass es sichere, völkerrechtlich klare und plan-bare Mittel für die EU gewährleistet. Keine Steuer kanneine solche Sicherheit in der Planung schaffen.Das BNE-System ermöglicht eine gerechte Verteilungnach volkswirtschaftlichen Kriterien. Es bewirkt, dassdie Stärkeren mehr zahlen und die Schwächeren weniger– das ist, wie ich finde, ein sehr sozialer Aspekt –, und esverhindert das Problem der Nichtberechenbarkeit vonSteuereinnahmen.
Kollege Link, gestatten Sie eine Frage des Kollegen
Sarrazin?
Das können wir gerne machen. Darauf habe ich schon
gewartet.
Das war jetzt sehr überraschend. – Bitte.
Kollege Link, manchmal ist mehr auch besser. Zu-
mindest hoffen wir das hinsichtlich Ihrer Redezeit bzw.
Ihrer Rede.
Sie wissen, dass wir eine EU-Steuer nicht fordern, um
auf die Steuerbelastungen der Bürger noch eine Extra-
steuer draufzusatteln. Sie wissen, dass wir einen Wech-
sel vornehmen wollen. Wir wollen, dass die Staaten auf-
grund dieser Steuer weniger Eigenmittel liefern müssen,
sodass die Belastung für den Bürger gleich bleibt. Das
haben wir uns nicht einfach so ausgedacht, sondern wir
unterstützen diese Position, weil wir sehen, dass die Ei-
genmittelbasis der Europäischen Union in den letzten
Jahrzehnten rapide kleiner wurde, beispielsweise weil
die Zolleinnahmen durch den Freihandel wegbrechen.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung und vor dem
Hintergrund der Tatsache, dass Sie eine europäische
Steuer ablehnen, frage ich Sie: Was schlagen Sie zur
Stärkung der Eigenmittelbasis vor?
Die Frage beantworte ich sehr gerne.Wie Sie wissen, steht in unserem Antrag, dass die Ei-genmittel im Wesentlichen aus BNE-Abführungen be-stehen sollen. Wir wollen keine Senkung der Beiträge.Damit möchte ich richtigstellen, was gerade gesagtwurde. Wir möchten nicht weniger an die EU zahlen,mitnichten. Im Gegenteil: Wir möchten, dass die Eigen-mittel der EU – unter Beibehaltung der Deckelung – imWesentlichen durch BNE-Abführungen, also aus demnationalen Steueraufkommen, erbracht werden.Es ehrt Sie, wenn Sie sagen, dass Sie die Gesamtbelas-tung nicht erhöhen wollen. Ich möchte aber einmal wis-sen, wie das funktionieren soll. Wie wollen Sie rechtlich,politisch garantieren, dass, wenn die EU-Kommissionzum Beispiel eine EU-Mehrwertsteuer oder eine Finanz-transaktionsteuer auf dem Wege der Gemeinschaftsme-thode einführt, alle Mitgliedstaaten in ihren Gesetzen au-tomatisch eine entsprechende Senkung verankern? Dasist fernab der Realität.Sie müssen auch sehen – das ist vielleicht das wich-tigste Argument –, dass die jetzige Form der Finanzie-rung der EU eines garantiert: die Verklammerung der na-tionalen Ausgaben mit den EU-Ausgaben. Dadurch, dassbeides im Prinzip aus dem gleichen Aufkommen finan-ziert wird, haben die Nationalstaaten den Anreiz, bei derVerabschiedung des EU-Haushalts exakt darauf zu ach-ten, dass es bei EU-Haushalt und nationalem Haushaltnicht zu Doppelungen kommt. Das ist hochgradig effi-zient. Das würden wir mit Ihrem Vorschlag aus demFenster werfen. Das wäre hochgefährlich. Wohin dasführt, sehen Sie bei der Entwicklungspolitik. Dort be-steht ein Nebeneinander von verschiedenen Töpfen, unddas führt zu einem extremen Durcheinander.
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Michael Link
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Nicht das Prinzip „Ich besteuere, also bin ich“ gilt fürdie EU,
sondern auch hier gilt: Weniger ist mehr. Deshalb wollenwir, dass mehr Aufgaben sparsamer bewirtschaftet wer-den. Deshalb sagen wir in unserem Antrag klipp undklar, dass der Agraranteil in Zukunft zurückgehen wirdund wir die Mittel für die Struktur- und Kohäsionsfonds– Kollegin Kudla hat das gesagt – abschmelzen werden,unter Berücksichtigung des Vertrauensschutzes degres-siv gestaltet, weil diese Fonds, so wie sie angelegt sind,eine Hilfe zur Selbsthilfe darstellen.Wir sagen deshalb Nein zu Euro-Bonds und Nein zueuropäischen Steuern, aber klar Ja zu sicheren Eigenmit-teln – wir wollen nicht weniger an die EU zahlen – undvor allem Ja zu einem modernen Budget für die Europäi-sche Union.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/7767 und 17/7808 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt VI a bis f auf:
VI a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
Rupprecht , Petra Crone, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Sexuelle Gewalt gegen Kinder umfassend be-
kämpfen – Kampagne des Europarats unter-
stützen
– Drucksache 17/7807 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem An-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kinderrechte in Deutschland umfassend stär-
ken
– Drucksachen 17/6920, 17/7800 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Marlene Rupprecht
Miriam Gruß
Diana Golze
Katja Dörner
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Jan Korte, Herbert Behrens, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die UN-Kinderrechtskonvention bei Flücht-
lingskindern anwenden – Die Bundesländer in
die Pflicht nehmen
– Drucksache 17/7643 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Herbert Behrens, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Kinderrechte umfassend stärken und ins
Grundgesetz aufnehmen
– Drucksache 17/7644 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Volker Beck , Ekin Deligöz, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kinderrechte stärken
– Drucksache 17/7187 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Agnes Malczak, Tom Koenigs, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Keine Rekrutierung Minderjähriger in die
Bundeswehr
– Drucksache 17/7772 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Marlene Rupprecht für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Vor vier Tagen jährte sich zum 22. Mal die Verab-
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schiedung der UN-Kinderrechtskonvention. Deswegenfreue ich mich, dass wir in dieser Woche trotz Haushalts-woche zeitnah eine Debatte über die Kinderrechte füh-ren, und zwar über Kinderrechte, die nicht nur interna-tional, sondern auch national gelten.Wir sollten einmal schauen, was wir schon gemachthaben und was noch ansteht. In den letzten Jahren habenwir einiges unternommen. Nichtsdestotrotz gibt es nocheinige Baustellen. Unter anderem haben wir nach derRücknahme der Vorbehaltserklärung noch keine Über-prüfung aller bestehenden Gesetze auf die neuen Sach-verhalte der UN-Konvention vorgenommen. Wir habendas Flüchtlingsrecht, das Asylrecht und das Ausländer-recht nicht daraufhin überprüft, ob es mit dem, was jetztfür uns gültig ist, übereinstimmt. Hier besteht ein großerAnpassungsbedarf. Ich begrüße ausdrücklich die Rück-nahme der Vorbehaltserklärung – das habe ich bereitsdamals in meiner Rede betont –, aber dabei dürfen wir esnicht belassen. Dringend notwendig ist die Überprüfungder bestehenden Gesetze.Seit Jahren besteht Nachholbedarf, wenn es darumgeht, Kinderrechte in unserer Verfassung zu verankern.
Ich finde es ganz toll, dass die Mütter und Väter desGrundgesetzes unsere Verfassung so geschrieben haben,dass sie auch Kinder lesen können. Aber es fällt auf, dassdie Kinder darin nicht als Rechtssubjekte enthalten sind.Es ist daher dringend notwendig, ihre Grundrechte an ei-ner Stelle zu verankern,
und zwar mit den Elementen der UN-Konvention undder EU-Grundrechtecharta. Die Grundrechtecharta ist jaim Prinzip die Verfassung auf europäischer Ebene. Dortsind die Kinderrechte enthalten, nämlich in Art. 24, undzwar genau so, wie wir es gerne hätten, mit den drei Säu-len Schutz, Förderung und Beteiligung von Kindern unddem Verweis, dass alles Handeln staatlicher Ebenen undaller Menschen vorrangig das Kindeswohl zu berück-sichtigen hat. Dies auch in unser Grundgesetz aufzuneh-men, halte ich für dringend angebracht.Ich habe bereits beim letzten Mal gesagt und wieder-hole es hier: Wir haben für etwa 200 000 Soldaten einenWehrbeauftragten in der Verfassung verankert. Für dieKinder gibt es kein entsprechendes Pendant. Ich hättegerne einen Kinderbeauftragten bzw. eine Kinderbeauf-tragte – das Geschlecht ist mir egal – in der Verfassungverankert. Wenn wir die gleiche personelle Ausstattungdafür vorsehen würden, wären wir bei 2 800 Mitarbei-tern. So viele wollen wir gar nicht. Wir wären mit we-sentlich weniger zufrieden. Aber ich möchte nicht, dasses nur ein Sekretariat mit einer Juristin und einer Sekre-tärin gibt. Wir haben Millionen Kinder unter 18 Jahrenin Deutschland; es ist dringend notwendig, dass sich dasentsprechend niederschlägt.Warum erwarte ich das? Wir haben im Rahmen derMissbrauchsdebatten festgestellt, dass sich Kinder nieHilfe geholt haben, weil sie nicht wussten, an wen siesich wenden können. In anderen Staaten – selbst inRussland – gibt es inzwischen Ombudspersonen für Kin-der. Auch wir brauchen Ombudsstellen, und wir solltensie so verankern, dass es auf Bundesebene einen Kinder-beauftragten bzw. eine Kinderbeauftragte und auch inden Kommunen Ansprechpartner und -partnerinnen gibt,an die sich die Kinder wenden können, wenn sie glau-ben, dass ihre Rechte verletzt sind.
Die Diskussionen über Qualität, egal wer sie führt,werden absurd, wenn wir ausgerechnet bei der entspre-chenden Unterstützung für die Kinder sparen. Deshalbmuss auch eine Debatte über die Qualität der Kinder-und Jugendhilfe geführt werden, aber nicht aus fiska-lischen Gründen, sondern wegen der Kinderrechte.
Ich glaube, dass wir für unsere weitere Arbeit eine klareKonzeption der Kinder- und Jugendpolitik im Rahmeneines nationalen Aktionsplans brauchen. Von 2005 bis2010 hatten wir einen solchen Aktionsplan. Ich bitte da-rum, dass wir gemeinsam beschließen, dass er für dieBereiche, in denen wir noch handeln müssen, fortge-schrieben wird, damit wir klare Vorstellungen haben undgemeinsam daran arbeiten können. Dies gilt für die Be-reiche Gesundheit, Bildung, Absicherung der Existenz,Schutz vor Gewalt, Beteiligung und Beziehungen zu an-deren Staaten.Um zu wissen, was tatsächlich erreicht wurde, brau-chen wir eine Überprüfung, ein sogenanntes Monitoring-Verfahren. Es geht darum, zu wissen, ob das, was wiruns wünschen, auch so umgesetzt ist. Dazu brauchen wirein von der Regierung unabhängiges Verfahren. Dasheißt, es muss extern erfolgen. Ich hoffe, dass wir dashinbekommen, damit wir auf europäischer Ebene regel-mäßig Bericht erstatten können und uns nicht davorscheuen müssen.Im Bereich des Kinderschutzes haben wir sehr vielgemacht. Das ist lobenswert. Unsere Arbeit zieht sichjetzt schon über viele Jahre hin. Der Europarat hat 2007eine Konvention zum Schutz von Kindern vor sexuellerAusbeutung und sexuellem Missbrauch verabschiedet.Wir haben sie gezeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Esist dringend notwendig, dass diese Konvention ratifiziertwird. Eben weil wir schon ganz viel auf den Weg ge-bracht haben, müssen wir uns nicht davor scheuen. Ei-gentlich könnten wir uns auf die Schulter klopfen unduns für das loben, was wir im Haus alle miteinander ge-schafft haben. Wenn wir solche Veränderungen erreichthaben, warum ratifizieren wir dann nicht diese Konven-tion? Das ist nicht verständlich.Genauso ist es beim Übereinkommen des Europarateszur Bekämpfung des Menschenhandels. Zwar liegt jetztein entsprechender Gesetzentwurf vor, aber so kann ernicht verabschiedet werden. Der Gesetzentwurf mussdringend überarbeitet werden, weil er Lücken in der An-passung der Konvention lässt.
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Marlene Rupprecht
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Ich finde es schön, dass die Grünen in ihrem Antragschreiben, dass wir auf einen weiteren Weltkindergipfelhinarbeiten müssen. 2002 hat ein Gipfel stattgefunden;ein weiterer soll bald anstehen. Ich sehe aber nicht, dasssich in dieser Richtung etwas tut. Ich glaube, dassDeutschland da ein Motor sein muss.Wir haben in vielen Bereichen klare Handlungsfelder,die wir beackern müssen. Ich sehe leider nicht, dass diesgeschieht. Wir ruhen uns gerne aus, wenn wir etwas gutgemacht haben; das darf man auch ab und zu. Aber wirmüssen bei den Punkten, die offen sind, weiterarbeiten.Dazu gehört auch das Kinderrecht im Zusammenhangmit Adoptionen. Über das Thema Auslandsadoptionendiskutieren wir immer nur aus der Perspektive der Men-schen, die keine Kinder haben, aber nicht mit Blick aufdie Kinderrechte.
Ich würde mir wünschen, dass wir diese Diskussion aufden Weg bringen.Ich wünsche mir auch, dass man sich nicht immer nurdann für Kinder einsetzt, wenn ein tragischer Fall pas-siert und es deshalb gerade Thema ist. Man muss sich, sowie wir es heute tun, öfter fragen: Welche Vorstellungenhaben wir von der Gesellschaft, von der Welt, in der wirKinder aufwachsen lassen wollen? Dafür gibt es klareVorgaben, und zwar in internationalen Übereinkommen,insbesondere im Übereinkommen über die Rechte vonMenschen mit Behinderungen. Da ist von einer Gesell-schaft und einer Welt, die inklusiv ist, die Rede. Dasheißt, dass man es zulässt, dass Menschen verschiedensind, und dass wir sie in ihren Stärken unterstützen, da-mit sie sich entfalten können, dass es aber keinen Selek-tionsmechanismus geben darf, weder in der Schule nochsonst wo. Wir müssen uns endlich auf den Weg machenund sagen: Das ist nicht nebenbei zu machen. – DieseSehnsucht mit unseren Kindern zu verwirklichen, bedeu-tet, dafür zu sorgen, dass wir auch in Europa eine Zu-kunft haben, eine Zukunft für Kinder und mit Kindern.Das betrifft übrigens auch die neue Jugendstrategie,die der Europarat auf den Weg gebracht hat. Ich würdemir wünschen, dass wir uns der Kampagne zum Schutzder Kinder, die der Europarat gestartet hat, anschließen.Es gibt sogar eine Extrakampagne für Abgeordnete bzw.für das Parlament. Es wäre schön, wenn wir sagen wür-den: Ja, wir unterstützen diese Kampagne zum Schutzder Kinder. – Sehr viele Punkte, um die es dort geht, sindbei uns übrigens schon in Gesetzgebungsverfahren ein-geflossen. Es wäre gut, wenn ein so großes Land wieDeutschland Vorbild für andere Länder wäre. Wir solltensagen: Wir haben schon viel getan. Deshalb stehen wirauf der Seite derer, die ebenfalls für den Schutz der Kin-der kämpfen. – Mein heutiger Wunsch ist, dass Sie sa-gen: Ja, wir machen bei der Europaratskampagne derParlamente mit.Ich hoffe, dass wir es in diesem Haus immer wiederschaffen, den Kindern und Jugendlichen zu zeigen, dassman miteinander debattieren kann, ohne sich niederzu-machen, dass man Gegensätze klar benennen kann unddie Welt trotzdem konstruktiv mitgestalten kann. Das istder Grund, warum ich mich mein ganzes Leben lang mitPädagogik befasst habe und mich nach wie vor für Kin-der und Jugendliche einsetze. Ich hoffe, dass wir für alldie Projekte, die wir in Angriff nehmen müssen, wiederIhre Unterstützung bekommen.In diesem Sinne: Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Tauber für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir re-den heute wieder über Kinderrechte, und das ist gut. Gutist auch – vielleicht sogar noch besser –, dass wir nichtnur darüber reden, sondern auch schon das eine oder an-dere getan haben. Das beginnt bei der Rücknahme derVorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonventiondurch die christlich-liberale Koalition; ich glaube, wirsind uns alle einig, dass dies ein guter und wichtigerSchritt war. Es geht weiter mit der Feststellung – die wirdurch eine entsprechende gesetzliche Änderung getrof-fen haben –, dass der Krach, den Kinder machen, keinLärm, sondern Zukunftsmusik ist.
Es geht weiter über das Kinderschutzgesetz, über das wirdiskutiert haben, das in der letzten Legislaturperiodeaber leider nicht verabschiedet werden konnte. Wir hof-fen, dass die Sozialdemokraten ihm im Bundesrat zu-stimmen werden.Das jüngste Beispiel ist: Vor vier Tagen, am 20. No-vember – die Kollegin Rupprecht hat darauf hingewie-sen –, haben wir den Tag der Kinderrechte gefeiert.Deutschland hat maßgeblich dazu beigetragen, dass dieUN-Generalversammlung ein neues Beschwerdeverfah-ren für Kinder auf den Weg gebracht hat; auch das isteine gute Sache. Darüber haben wir in den letztenPlenardebatten und Ausschusssitzungen immer wiedergeredet.Warum ist das so wichtig? „Die besten Kinderrechtehelfen nichts, wenn sie nur auf dem Papier bestehen“,hat die Ministerin vor kurzem gesagt. Da hat sie recht;denn Kinder müssen in der Tat in die Lage versetzt wer-den, ihre Rechte aktiv einzufordern. Dazu braucht es einentsprechendes Verfahren. Wir haben es auf den Weg ge-bracht bzw. dabei geholfen, es auf den Weg zu bringen.Das ist eine weitere wirklich gute Maßnahme.Frau Kollegin Rupprecht, Sie haben die schöne undplakative Forderung erhoben: Wenn wir schon einenWehrbeauftragten für die Soldaten haben, dann müsstees auch einen Kinderbeauftragten geben! Die Sache hataus meiner Sicht einen Haken: Soldaten sind in ihrenGrundrechten eingeschränkt; deswegen gibt es einen
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17158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Dr. Peter Tauber
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Wehrbeauftragten. Es ist gut, dass Kinder in ihrenGrundrechten nicht eingeschränkt sind.
Das mag der eine oder andere Jugendliche, der in derPubertät ist, individuell anders empfinden; aber Gott seiDank ist es so. Natürlich kann man darüber streiten, obdie Kinderrechte im Grundgesetz separat verankert wer-den sollten; dazu wird sich der Kollege Geis vielleichtnoch äußern.Ich möchte auf einen anderen Punkt eingehen, der im-mer wieder zu Diskussionen und Streitigkeiten zwischenuns führt. Es geht um die ganz zentrale Frage, ob unserAsylgesetz, ob unsere Ausländergesetze das abbilden,was wir in der UN-Kinderrechtskonvention mittragen,ob Kinder ausländischer Eltern, die nach Deutschlandkommen oder die in Deutschland groß werden, hier ihreRechte gewahrt sehen.Ich habe in dem Wahlkreis, den ich betreue, in derWetterau, einen Fall: eine junge Frau, im Alter von5 Jahren aus dem Kosovo nach Deutschland gekommen,nur mit einer Geburtsurkunde ausgestattet, ohne weiterePapiere – sie hat sie bis heute nicht bekommen –, die vonsich aus sagt: Deutschland ist meine Heimat. Ich kennenichts anderes. – Sie ist hier zur Grundschule gegangen,hat einen Schulabschluss erworben, hat die Berufsschulebesucht, spricht perfekt Deutsch und spielt Fußball in ei-nem Fußballverein. Ihr droht die Abschiebung. Da wer-den Sie sagen: Das ist so ein Fall. Über einen solchenFall reden wir. Es kann nicht sein, dass eine solche jungeFrau, die perfekt integriert ist, abgeschoben werdenmuss.Die junge Frau wurde gefragt, was ihr größterWunsch sei. Sie hat drei Wünsche. Der erste Wunschwäre die Erlaubnis, ein eigenes Bankkonto zu eröffnen.Der zweite Wunsch wäre die Erlaubnis, eine Fahrschulezu besuchen und den Führerschein zu machen. Der dritteWunsch wäre eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.Auch da werden Sie wieder sagen: Genau, so muss dassein. Das muss es doch geben.
Das Schöne ist – das ist eine gute Nachricht –: Eigent-lich geht das alles. Nach dem Gesetz – es hat einen sehrlyrischen Titel, wie unsere Gesetze das immer haben –über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Inte-gration von Ausländern im Bundesgebiet, umgangs-sprachlich Aufenthaltsgesetz genannt, könnte diese jungeFrau einen Aufenthaltsstatus bekommen, könnte denJob, der ihr angeboten wurde, bekommen und wahrneh-men. Das wäre alles kein Problem. Also könnte man sa-gen: Es gibt für diese junge Frau ein Happy End. Wir,die christlich-liberale Koalition, haben mit diesem Ge-setz die Grundlage dafür geschaffen, dass diese jungeFrau in Deutschland bleiben kann, weil sie perfekt inte-griert ist.Die Sache hat nur leider einen Haken. Der Landkreis,geführt von einem sozialdemokratischen Landrat und ei-ner sozialdemokratisch geprägten Kreisverwaltung,möchte nicht, dass diese junge Frau bleibt, und das Ge-setz – das ist gut so – räumt der Verwaltung einen Er-messensspielraum ein. Sie kann nach genauer Betrach-tung des Falls zu dem Urteil kommen, dass dieser jungeMensch integriert ist und in Deutschland bleiben kannoder eben nicht. Diese Landratsverwaltung und dieserLandrat scheinen sich die Fälle, die auf dem Tisch lie-gen, nicht genau anzuschauen. Ganz ehrlich: Da hilft dasbeste Gesetz nicht.Wir reden über Menschen. Wir reden darüber, dassandere Menschen für Menschen Entscheidungen treffenund Verantwortung übernehmen. Wir reden nicht nurüber Systeme. An dieser Stelle versagt nicht das Gesetz,sondern an dieser Stelle versagt ein sozialdemokrati-scher Landrat. Das muss man einmal deutlich sagen.
Diese junge Frau, die einen Arbeitsplatz hat, könnte inDeutschland bleiben, wenn in der Verwaltung Menschenwären, die verantwortlich handelten und dieses Gesetzim Sinne der jungen Frau auslegten. Das müsste manmachen.
– Klarere Gesetze? Frau Marks, Ihr Problem ist IhreGläubigkeit ins System. Das ist bei Sozialisten nichtsUngewöhnliches.
Klarere Gesetze helfen nicht, weil es klarere Gesetze imUmkehrschluss nicht erlauben, auf individuelle Schick-sale einzelner Personen Rücksicht zu nehmen.Ich erwarte, dass nach der Verabschiedung eines Ge-setzes Menschen auf der Grundlage dieses Gesetz imSinne der Menschen, die ihnen begegnen, entscheiden.Das können und müssen Beamte leisten. Dafür gibt esErmessensspielräume.
Ich wünsche mir, dass die Geschichte dieser jungen Frauein Happy End findet. Die gesetzlichen Grundlagen da-für haben wir geschaffen. Das ist eine gute Nachricht fürKinder mit Migrationshintergrund in diesem Land.Deswegen ist diese Frage positiv beantwortet. Siekönnen sicher sein, dass wir uns um das Thema Kinder-rechte weiterhin engagiert kümmern werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Diana Golze für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Am 20. November 1989 hat die Vollversamm-lung der Vereinten Nationen das Übereinkommen über
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17159
Diana Golze
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die Rechte der Kinder, die sogenannte UN-Kinderrechts-konvention, verabschiedet. Ich finde es gut, dass derBundestag heute in zeitlicher Nähe zu diesem Jahrestagdiese Debatte führt, weil es ein guter Anlass ist, zu fra-gen, wie weit wir mit der Umsetzung der UN-Kinder-rechtskonvention in Deutschland sind.Regelmäßig muss auch Deutschland einen Staatenbe-richt an den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindesabgeben, und regelmäßig holt sich Deutschland dort ei-nen Rüffel ab, wie ich finde, zu Recht. Dafür gibt esviele Gründe. Ich will einige Beispiele nennen.Erstens. Die Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechts-konvention sind schon angesprochen worden. Deutsch-land hat sich bei der Ratifizierung vorbehalten, weiterhinUnterschiede zwischen Inländern und Ausländern zumachen. Bezogen auf das Beispiel der UN-Kinderrechts-konvention heißt das, dass man auch 16- und 17-jährigeminderjährige Flüchtlinge in Deutschland wie Erwach-sene behandelt.
Es wird also danach unterschieden, wie alt sie sind undwelchen Pass sie haben.Minderjährige Flüchtlinge, die mit 16 oder 17 in un-ser Land kommen, haben also das Problem, Herr Tauber,dass sie wie Erwachsene behandelt werden. Das heißt,sie haben im Asylverfahren keinen Rechtsbeistand. Oftverstehen sie die Sprache nicht und bekommen Briefe,die sie zwar öffnen, aber nicht lesen und verstehen kön-nen. Pro Asyl beschreibt Fälle, in denen die Betroffenenkeinen Widerspruch eingelegt haben, weil sie nicht ein-mal wussten, dass es die Möglichkeit gibt, gegen einennegativen Bescheid im Asylverfahren Widerspruch ein-zulegen.Sie werden in Sammelunterkünften untergebracht. Siewerden sogar in Abschiebehaft genommen, und sie ha-ben keine ausreichenden Ansprüche auf Bildung, Jugend-hilfe und eine ausreichende gesundheitliche Versorgung.Ich finde, dass es Aufgabe des Bundestages ist, dafür zusorgen, dass allen Menschen ihre Würde erhalten bleibt,
dass sie auch in einem Asylverfahren als vollwertigeMenschen akzeptiert werden und dass sie die Unterstüt-zung bekommen, die ihnen nach der UN-Kinderrechts-konvention zusteht. Das ist in Deutschland auch nachder Rücknahme des Vorbehaltes nicht der Fall. Sie brau-chen nicht den Kopf zu schütteln.
Die Rücknahme des Vorbehaltes zur UN-Kinderrechts-konvention war nichts weiter als eine Showveranstal-tung, solange ihr nicht auch gesetzliche Änderungen imAsyl- und Sozialrecht folgen.
Zweites Beispiel. Auch bei jüngeren Kindern werdenim Übrigen nach wie vor Unterschiede gemacht. MeineFraktion hat einen Bericht vom Bundesministerium fürArbeit und Soziales angefragt und auch erhalten. Am22. November sind wir über die Leistungen aus dem Bil-dungs- und Teilhabepaket informiert worden. Es gingauch um die Frage, ob sie Kindern von Asylbewerberin-nen und Asylbewerbern gewährt werden. Es stellte sichheraus, dass sie nicht flächendeckend und im FreistaatSachsen gar nicht zur Verfügung gestellt werden. DerFreistaat Sachsen hat mitgeteilt, er gehe davon aus, dassdie Kommunen die Leistungen Kindern von Asylbewer-berinnen und Asylbewerbern nicht zur Verfügung stel-len. Ich finde, das ist ein Skandal.
Das Bildungs- und Teilhabepaket ist schon an sich einProblem, weil es eben nicht für alle Kinder den Zugangzu Bildung und Teilhabe an der Gesellschaft sichert.Aber es kann doch nicht wahr sein, dass nicht einmaldieses Wenige an Kinder von Asylbewerberinnen undAsylbewerber ausgegeben wird. Das verstößt eklatantgegen die UN-Kinderrechtskonvention und gegen dieWürde dieser Kinder.
Drittes Beispiel. Bereits mehrfach wurde Deutschlandvom UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes aufgefor-dert – das liegt Ihnen schriftlich vor –, die Aufnahmevon Kinderrechten in das Grundgesetz zu prüfen. Wirhaben das schon oft debattiert. Hierzu liegen drei An-träge der Oppositionsfraktionen vor. Wenn Sie sagen,Herr Tauber, dass die Regierung auch hier weiter han-deln möchte, frage ich Sie: Wo sind Ihre Anträge? Wosind Ihre parlamentarischen Initiativen dazu? Ich mussmir schon im Ausschuss sagen lassen, dass es eine In-strumentalisierung von Schülern ist, wenn man mit ih-nen über das Grundgesetz und die Rolle spricht, die siedarin einnehmen.Ich frage mich: Wo bleiben Ihre Initiativen? Sie ma-chen nicht einmal eine Initiative zum Individualbe-schwerderecht, auf das Sie sich in Ihrem Koalitionsver-trag verständigt haben. Dass ein entsprechender Antragvorliegt, haben wir den Grünen zu verdanken. Von IhrerSeite kam dazu nichts.
Ich möchte auch ansprechen, wie doppelzüngig sichgerade die Unionsfraktion hier verhält. Denn aus denBundesländern liegen Bundesratsinitiativen vor, zumBeispiel aus Mecklenburg-Vorpommern und Branden-burg, die von anderen Bundesländern unterstützt werdenund die Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetzfordern. In Mecklenburg-Vorpommern wurde der Antragvon der SPD, den Linken und der CDU gestellt. Im Bun-desland Brandenburg mit einer rot-roten Regierung hat
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17160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Diana Golze
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die CDU einem solchen Antrag vor genau zwei Wochenzugestimmt.
Warum werden dann solche Initiativen hier im Bund vonIhnen blockiert und abgelehnt? Ich verstehe nicht, wa-rum Sie hier mit gespaltener Zunge sprechen.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchtees zusammenfassend noch einmal betonen, weil man esgar nicht oft genug sagen kann: Kinder sind keine klei-nen Erwachsenen. – Sie haben ein Recht auf mehr alsdas, wozu ihre Eltern laut Grundgesetz verpflichtet sind,nämlich zu Pflege und Erziehung.Wir, die Opposition, fordern hier in allen drei Anträ-gen wiederholt: Kinder müssen das Recht auf Schutz,auf Förderung, auf Beteiligung und auf den Vorrang desKindeswohls bei allen staatlichen Entscheidungen ha-ben. Das vermisse ich nach wie vor, und es wird Zeit,dass sich hier endlich etwas ändert.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Schutz der Kinder und die Wahrung ihrer Rechte sind für
uns natürlich ganz zentrale Aufgaben, und ich freue
mich, dass hier durchaus auch eine Initiative der Opposi-
tion zu sehen ist.
Nur – Frau Rupprecht, Sie haben es eingangs gesagt –:
Wir sollten das tun, was am nächsten liegt. Wir sollten
uns um das kümmern, was ansteht. Hier muss ich sagen:
Aus unserer Sicht steht nun einmal zuerst ganz deutlich
und ganz klar an, dass das Kinderschutzgesetz auch von-
seiten der Bundesländer angenommen wird und dass wir
diesem Gesetz auch zu seiner Wirksamkeit verhelfen.
Den Gesetzentwurf haben wir ja weitgehend gemeinsam
auf den Weg gebracht Die Opposition war hier vielleicht
etwas zurückhaltend, aber durchaus auch der Meinung,
dies solle Realität werden. Das steht morgen an. Inso-
fern, denke ich, ist hier ein Signal von uns allen gefor-
dert, aber ganz wesentlich auch von der Opposition. Das
sollten wir nicht vergessen, wenn wir diese Diskussion
hier führen.
Ich glaube, wir haben mit dem Kinderschutzgesetz
ein Signal für Deutschland gesetzt, das beispielgebend
sein soll und sicherlich auch weiterentwickelt werden
muss. Dieses Signal besagt, dass der Kinderschutz, der
Schutz des kleinen Kindes bis hin zum Schutz des Ju-
gendlichen, eine ganz zentrale Aufgabenstellung für uns
ist.
Wir haben die Prävention dabei vor alles andere ge-
stellt. An erster Stelle steht die Prävention. Wichtig sind
aber auch Maßnahmen der Hilfe und, wenn es nicht an-
ders geht, die Intervention, damit Kinder, die in Not
sind, tatsächlich eine echte Hilfe finden. Wir wollen da-
mit die Akteure stärken, sodass gerade die Eltern Unter-
stützung finden. Aber auch Kinderärzte, Jugendämter
und Familiengerichte müssen als Netz in enger Abstim-
mung miteinander Sorge für das Kindeswohl und den
Kindesschutz tragen. Ich glaube, insofern haben wir et-
was auf den Weg gebracht, dessen Anwendung und Um-
setzung interessant sein wird.
Wir haben frühe Hilfen installiert, und wir wollen,
dass durch die sogenannten Familienhebammen tatsäch-
lich eine frühe Ansprache von Familien erfolgt, die sich
in einer Problemlage befinden, die unsicher sind, in de-
nen das Kind vielleicht nicht wirklich angenommen
wird. Hier muss ein Zugang erreicht werden, sodass eine
frühe Unterstützung durch das Netz möglich ist, wodurch
den Familien auf einen guten Weg geholfen und insbe-
sondere den Kindern der Weg ins Leben eröffnet werden
kann.
Das Jugendamts-Hopping haben wir ausgeschlossen.
Wir wollen, dass die fachliche Begleitung der Familien
fortlaufend gewährleistet ist. Daneben haben wir zum
Beispiel auch die Befugnisnorm für Berufsgeheimnisträ-
ger entsprechend geändert, sodass die Informationswei-
tergabe an das Jugendamt möglich ist. Wir haben also
die ganz klare Aussage gemacht: Wo Kinder Schutz
brauchen, sollen sie ihn bekommen.
Ich kann hier nur an Sie appellieren, dass der Bundes-
rat diesem wegweisenden Gesetz morgen tatsächlich zu-
stimmt, sodass hier in Deutschland ein einheitliches Si-
gnal für die Familien und für die Kinder gegeben wird.
Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Katja Dörner für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! LiebeKolleginnen! Ich freue mich, dass wir heute Abend wie-der über die Kinderrechte debattieren können. Ich findees rund um den 20. November, den Kinderrechtetag derVereinten Nationen, und auch grundsätzlich angesichtsder Bedeutung des Themas sehr wichtig und richtig, dassdas heute wieder gelungen ist. Ich habe in unserer De-batte vor rund zwei Monaten länger darüber gesprochen,warum wir als grüne Fraktion es richtig und sehr wichtigfänden, die Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen.Ich habe auch darüber gesprochen, warum wir es sehrbedauerlich finden, dass die Ministerin den Aktionsplanfür ein kindergerechtes Deutschland so sang- und klang-los beerdigt hat. Aber ich denke, dass die Kinderrechtebei dieser Bundesregierung nicht ganz oben auf derAgenda stehen, ist hinlänglich bekannt. Darauf mussman nicht lange verweisen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17161
Katja Dörner
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Ich möchte heute ein anderes Thema in den Fokusrücken, nämlich die Tatsache, dass es leider in der Bun-desrepublik immer noch möglich ist, Minderjährige fürdie Bundeswehr zu rekrutieren. Rund tausend 17-Jährigewerden jedes Jahr in die Bundeswehr aufgenommen unddort auch an der Waffe ausgebildet. 17-Jährige sind nachder Definition der UN-Kinderrechtskonvention Kinderund stehen damit unter einem ganz besonderen Schutz.Ich bin der Ansicht, dass die Bundesregierung diesemSchutz nicht gerecht wird, solange die RekrutierungMinderjähriger weiter erlaubt ist.
Leider hat sich die Forderung „Straight 18“ bei denVerhandlungen über das „Fakultativprotokoll zum Über-einkommen über die Rechte des Kindes betreffend derBeteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten“,das auch Deutschland ratifiziert hat, nicht durchgesetzt.Die Länder können für sich selber festlegen, ab welchemAlter Kinder bzw. Minderjährige rekrutiert werden kön-nen. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich auf dasAlter von 17 Jahren festgelegt. Hierfür gibt es aus mei-ner Sicht überhaupt keine überzeugenden Gründe.Deutschland hat seit Anfang des Jahres den Vorsitzder Arbeitsgruppe „Kinder in bewaffneten Konflikten“des UN-Sicherheitsrates inne und ist aus meiner Sichtdringend aufgefordert, hier eine Vorreiterrolle einzuneh-men. Andere europäische Länder haben offensichtlichkeine Probleme damit, auf die Rekrutierung Minderjäh-riger zu verzichten. Das machen unter anderem – ichnenne nur einige – Spanien, Portugal, Dänemark, Finn-land, Schweden, Norwegen, die Schweiz, Belgien, dieTschechische Republik, Rumänien, die Slowakei, Slo-wenien, Lettland und Litauen. Und bei uns soll die Bun-deswehr auf Minderjährige angewiesen sein? Das istdoch absurd.
Insgesamt müssen wir bei der Werbung für die Bun-deswehr bei Minderjährigen, insbesondere was Schulenangeht, sehr kritisch hinschauen. Eigentlich darf Wer-bung an Schulen gar nicht stattfinden, aber der aktuelle„Schattenbericht Kindersoldaten“ von UNICEF, Terredes Hommes, missio und der Kindernothilfe dokumen-tiert leider sehr eindrucksvoll, dass Werbung selbst fürAuslandseinsätze an Schulen faktisch stattfindet. Ichfinde das wirklich indiskutabel. Ich höre ab und an dasArgument, die Bundeswehr brauche jetzt, da sie eineFreiwilligenarmee sei, auch andere Rekrutierungswege.Das stimmt auch. Aber gerade angesichts des gestiege-nen Rekrutierungsdrucks darf der Schutz der Jugend-lichen nicht unter die Räder kommen, und da sind wirtatsächlich in der Pflicht.Der „Schattenbericht“ befasst sich noch mit einemweiteren sehr wichtigen Aspekt, und zwar – das istschon angesprochen worden – mit Kindern und Jugend-lichen, die als unbegleitete Flüchtlinge nach Deutsch-land kommen. Nicht selten – das hat meine KolleginDiana Golze schon ausgeführt – sind diese jungen Men-schen in ihren Herkunftsländern sogar selbst als Kinder-soldaten missbraucht und auf unvorstellbare Art undWeise traumatisiert worden. Diese jungen Menschenkommen zu uns, suchen hier Schutz und müssen erleben,dass auch in Deutschland die UN-Kinderrechtskonven-tion für sie nicht vollständig gilt. Sie werden im Asylver-fahren wie Erwachsene behandelt, sie können in Ab-schiebehaft genommen und gar in Sammelunterkünftegesteckt werden. Sie haben keine Ansprüche auf Leis-tungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz. Kin-deswohlbelange – das muss man einfach konstatieren –spielen an der Stelle offenbar keine Rolle, und das, ob-wohl Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention, wonachdas Kindeswohl immer vorrangig zu berücksichtigen ist,selbstverständlich auch für Flüchtlingskinder geltenmuss.
Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung, die wir allebegrüßt haben – wir alle fanden sie richtig –, reicht nichtaus. Lassen Sie die Rücknahme nicht zur Symbolpolitikverkommen. Lassen Sie Änderungen im Asyl-, Auslän-der- und Sozialrecht folgen, damit dieser für die Bundes-republik wirklich unwürdige Zustand endlich beendetwird.Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Norbert
Geis das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Aufnahme der Kinderrechte in das Grund-gesetz ist genannt worden. Frau Rupprecht und auch an-dere haben etwas dazu ausgeführt. Diese Forderung istauch in den Anträgen enthalten, die heute zur Entschei-dung vorliegen.Frau Rupprecht, die Rechte der Kinder sind bereits imGrundgesetz verankert.
Jedes Kind hat Grundrechte, wie auch jeder andereMensch. Ein Kind hat nicht mehr und nicht wenigerGrundrechte, aber es hat Grundrechte. Das gilt beispiels-weise für Art. 1 des Grundgesetzes. Selbstverständlichgilt das Grundrecht hinsichtlich der Würde des Men-schen für jeden, der in Deutschland lebt, egal ob er Aus-länder ist oder nicht, welche Religion er hat, welcherHerkunft er ist, egal ob er alt oder jung ist, selbst ob ergeboren oder nicht geboren ist. Jeder Mensch hat dasRecht auf Achtung seiner Würde.
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17162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Norbert Geis
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Das Gleiche gilt für Art. 2 des Grundgesetzes, näm-lich für das Recht auf die freie Entfaltung der Persön-lichkeit und das Recht auf Leben.
Dieses Recht gilt für alle Kinder, für alle Menschen, diein Deutschland leben. Das kann nicht stärker ausge-drückt werden. Dieses Recht gilt sowohl für geboreneals auch für ungeborene Kinder – das sollten wir nichtvergessen –, wie es das Bundesverfassungsgericht in sei-nen zwei Urteilen, nämlich am 25. Februar 1975 und am28. Mai 1993, festgestellt hat. Das Recht auf Leben giltfür Geborene und Ungeborene, ob in der Petrischaleoder im Mutterleib.
Dieses Recht ist bei uns fest im Grundgesetz verankert.Deshalb meine ich, dass diese Forderung eigentlich insLeere geht; denn diese Rechte sind schon vorhanden.Ich möchte in diesem Zusammenhang noch etwas er-wähnen – das steht in dem Antrag der Grünen –, nämlichdie Forderung, dass eine Ergänzung des Art. 6 desGrundgesetzes erfolgen soll. Der Art. 6 des Grundgeset-zes normiert das Recht der Eltern, ihre Kinder selbsterziehen zu dürfen. Das steht so in Art. 6 des Grund-gesetzes. Die Grünen verlangen nun, dass die Kinder einRecht auf Erziehung und Pflege gegenüber ihren Elternhaben sollen. Richtig, das steht so nicht im Grundgesetz.
Herr Geis, gestatten Sie eine Frage der Kollegin
Rupprecht?
Ich möchte diesen Gedanken noch zu Ende bringen. –
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom
1. April 2008 festgestellt, dass das Recht der Eltern, ihre
Kinder selbst erziehen zu dürfen, mit dem Recht der
Kinder auf Erziehung gegenüber ihren Eltern korrespon-
diert. Die Kinder haben nach diesem Urteil ein einklag-
bares Recht auf Erziehung. Damit ist diese Frage eigent-
lich erledigt. Deswegen kann ich nicht erkennen, dass
eine Änderung des Grundgesetzes notwendig ist.
– Es geht auch um andere Rechte. Sie könnten jetzt das
ganze Grundgesetz durchgehen, aber dann würde die
Zeit nicht reichen. Ich habe drei Punkte herausgearbeitet,
insbesondere Art. 6 des Grundgesetzes, der eigens in
dem Antrag der Grünen steht. Deswegen komme ich auf
diesen Artikel zu sprechen. Eine Änderung ist hier nicht
notwendig. Dies wäre sonst eine Doppelung von Grund-
rechten in unserer Verfassung.
Ich weiß, dass die CDU in den Ländern anderer Mei-
nung ist. Auch in der CSU gibt es andere Meinungen.
Ich weiß, dass die bayerische Justizministerin hier ande-
rer Meinung ist. Aber ich meine, es ist nicht erforderlich.
Jetzt kann die Kollegin Rupprecht ihre Frage stellen.
Herr Kollege, Sie wissen, dass eine Verfassung immer
Ausfluss einer gesellschaftlichen Wertehaltung ist. Ein
Entwurf unserer Verfassung beinhaltete ursprünglich die
Kinderrechte, er ist verworfen worden. Letztlich wurden
diese Rechte nicht in das Grundgesetz aufgenommen.
Man hat bis 1968 geglaubt, dass Kinder Objekte sind,
die den Eltern gehören. Erst das Bundesverfassungs-
gericht hat 1968 eindeutig klargestellt: Auch Kinder sind
Grundrechtsträger.
Herr Geis, Sie haben natürlich recht, wenn Sie darauf
hinweisen, dass mit Grundrechtsträgern auch Kinder ge-
meint sind. Das bestreitet niemand. Die entscheidende
Frage ist aber, ob wir im 21. Jahrhundert, wo Kinder als
Subjekte gesehen werden, unsere Verfassung aus dem
20. Jahrhundert, wo Kinder als Objekte betrachtet wur-
den, endlich entsprechend anpassen, damit jeder, der un-
sere Verfassung liest, erkennt, dass sich ein gesellschaft-
licher Wandel vollzogen hat, weg vom Objekt Kind hin
zum Subjekt Kind mit eigenen Rechten; darum geht es.
Ich bitte Sie, darüber nachzudenken, ob eine Verfassung
in solch grundlegenden Dingen nicht auch den Werte-
wandel und die veränderte Sichtweise wiedergeben
muss. Wir stellen entsprechende Anträge, um das deut-
lich zu machen.
Herr Geis, Sie sind Jurist und wissen in dieser Bezie-
hung sicherlich sehr genau Bescheid.
– Nein, ich muss nicht fragen. Ich kann laut Geschäfts-
ordnung des Bundestages auch einen Kommentar abge-
ben.
Für mich ist entscheidend, ob wir es gemeinsam
schaffen, dies zu verankern. Vielleicht gehen Sie in Ihrer
Fraktion noch einmal in die Meinungsbildung. Ich gebe
zu bedenken: Staaten, deren Verfassungen jüngeren Da-
tums sind, haben solche Rechte bereits aufgenommen,
während Staaten, deren Verfassungen älteren Datums
sind, das noch nicht getan haben.
Ich nehme die Meinung, die Sie hier vortragen,durchaus ernst. Ich wische sie nicht einfach vom Tisch,zumal sie auch in den Reihen meiner Fraktion vertretenwird, wie ich ausgeführt habe. Ich selbst bin aber nichtIhrer Meinung, dass 1948/49, als die Väter und Mütterunserer Verfassung das Grundgesetz verfasst haben, dasKind als Objekt betrachtet wurde. In unserer Verfassungist häufig der Satz zu lesen: „Jeder hat das Recht“, zumBeispiel auf Schutz der Menschenwürde. Das bedeutet,dass auch jedes Kind das Recht hat.Ich stimme Ihnen zu, dass im Lauf der Zeit weitereAspekte aus der Verfassung heraus entwickelt wordensind. Das Bundesverfassungsgericht muss feststellen, obdie vorgetragenen neuen Aspekte dem Sinn und derMotivation unserer ursprünglichen Verfassungsgeber
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17163
Norbert Geis
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entsprechen. Wenn das der Fall ist, kann das Bundesver-fassungsgericht das Ganze weiterentwickeln. Das hat esschon getan. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt,dass Kinder laut unserer Verfassung Grundrechtsträgersind. Vielleicht meinen Sie, Frau Rupprecht, dass wiruns mehr Gedanken darüber machen sollten, wie wiraufgrund unserer Verfassung Kinderrechte mehr normie-ren können; dabei handelt es sich aber um Gesetze unter-halb der Verfassung. Wenn Sie das meinen, stimme ichmit Ihnen überein; darüber kann man ständig diskutie-ren.Aus dem Grundrecht auf Erziehung durch die Elternfolgt natürlich das Recht des Kindes, dass der Staat dieFamilien unterstützt und dass die Eltern Erziehungskom-petenz haben. Aber der Staat darf sich nicht einbilden,dass er das Primat der elterlichen Fürsorge an sich zie-hen kann. Das wäre der falsche Weg. – Ich weiß, FrauRupprecht, dass Sie das nicht befürworten. Ich wolltenur darauf hinweisen.Der Staat hat nur eine Wächterfunktion. Er muss ein-greifen, wenn die Rechte der Kinder nicht gewahrt sind.Wenn die Eltern nicht entsprechend ihrem Auftrag nachArt. 6 des Grundgesetzes handeln, kann der Staat auf-grund seiner Wächterfunktion eingreifen. Aber er darfdas Recht der Eltern nicht an sich ziehen; denn hier gehtes um das Recht der Kinder auf Erziehung durch die El-tern. Manchmal entsteht in der öffentlichen Diskussionder Eindruck, dass Kinder vor ihren Eltern geschütztwerden müssten. Laut Statistik ist das aber nur in maxi-mal 5 Prozent der Fälle so. Der Rest der Eltern will dieKinder liebend umhegen. Es gibt niemanden, der dieKinder besser liebend umhegen und für sie sorgen kannals die eigenen Eltern.
– Da sind wir völlig einer Meinung. – Das kann natürlichauch die Kita nicht leisten.Deswegen muss der Staat – jetzt komme ich zu einemPunkt, in dem Sie mir nicht ganz zustimmen – dafür sor-gen, dass die Eltern in der Lage sind, ihre Kinder ent-sprechend zu erziehen.
Das sind sie oft nicht, weil sie zur Arbeit gehen müssen,weil sie Geld dazuverdienen müssen. Das ist der eigent-liche Grund – daran kommen wir nicht vorbei – für dasBetreuungsgeld. Deswegen verstehe ich nicht, warumwir hier so auseinander sind, warum hier oft mit viel Po-lemik argumentiert wird. Man kann wahrscheinlich ver-schiedener Meinung sein; das ist auch in meiner eigenenFraktion der Fall. Ich bin der Meinung, dass es ein Men-schenrecht des Kindes gegenüber dem Staat ist, dass esin den ersten zwei Jahren von seinen Eltern erzogenwird. Da hat der Staat nicht hineinzureden. Der Staat hataber die Aufgabe, das zu ermöglichen.
Es tut mir leid. Das geht jetzt nicht mehr, weder mit
Zwischenbemerkungen noch mit Zwischenfragen. Der
Kollege Geis hat bestimmt bemerkt, dass ich ihn schon
mahne.
Ich sehe es hier aufleuchten: „Präsident“. „Frau Präsi-
dentin“ müsste es jetzt eigentlich heißen. – Ich habe das
zu respektieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
noch vieles in meinem Konzept: über Kinderschutz, über
sexuelle Gewalt, über die grundsätzliche Frage des Ju-
gendschutzes. Seit 1951 haben wir das Jugendschutzge-
setz; das darf man nicht vergessen. Wir haben 2000 – da-
mals noch mit Frau Däubler-Gmelin – das Recht auf
gewaltlose Erziehung ins BGB eingefügt. Ich hätte also
noch einige Punkte vorzutragen, aber ich bedanke mich
für Ihre Aufmerksamkeit und bedanke mich bei der Prä-
sidentin dafür, dass sie so lange Geduld hatte.
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin
Bracht-Bendt.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als die Verein-ten Nationen vor genau 22 Jahren in der Vollversamm-lung das Übereinkommen über die Rechte von Kinderneinstimmig verabschiedeten, fiel eine überfällige Ent-scheidung. Es ist wichtig, dass wir jedes Jahr diesen Tagzum Anlass nehmen, um uns kritisch mit den Kinder-rechten in Deutschland und in der Welt auseinanderzu-setzen.Hier brauchen wir den Blick gar nicht nur auf Miss-stände in anderen Ländern zu richten; hier liegt auch inDeutschland noch einiges im Argen. Ich denke an alltäg-liche Fälle, zum Beispiel an Scheidungsverfahren, vondenen Kinder häufiger betroffen sind. Um deren Wohl-ergehen geht es allerdings weniger. Vielmehr ist es Zielder beteiligten Anwälte, den Streit zwischen Vätern undMüttern zu schlichten und deren Interessen zu vertreten.Es geht um Geld und, wenn Kinder da sind, um Sorge-recht.Als Vorsitzende der Kinderkommission habe ich ge-rade zu diesem Thema Sachverständige in die Kinder-kommission eingeladen. Übereinstimmend bestätigtendie Experten, dass bei Scheidungen überwiegend aus
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Nicole Bracht-Bendt
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Sicht der Eltern verhandelt wird. Absprachen, ge-schweige denn eine enge Zusammenarbeit zwischen Ju-gendamt und Richter, gibt es in den seltensten Fällen.Hier fangen für mich Kinderrechte an. Wir alle sindgefordert, mehr als bisher die Auswirkungen – sei es vonGesetzen oder im ganz persönlichen Bereich bei einerTrennung – aus dem Blickwinkel von Kindern zu hinter-fragen.
Das Wohl der Kinder muss bei allen politischen und ge-sellschaftlichen Entscheidungen im Vordergrund stehen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, den Beschluss derGeneralversammlung der Vereinten Nationen, ein Indi-vidualbeschwerderecht für Kinder einzuführen, begrüßtdie FDP-Bundestagsfraktion ausdrücklich.
– Genau. – Die FDP setzt sich seit langem dafür ein.Rechte sind nichts wert, wenn sie nicht eingefordertwerden können. Der Kinderrechtsausschuss der Verein-ten Nationen kann durch das neue Verfahren nicht nurindividuelle Beschwerden von Kindern und Mitteilun-gen von Staaten über die Missachtung von Kinderrech-ten entgegennehmen, sondern auch aus eigener Initiativesystematische Verletzungen der Kinderrechtskonventionuntersuchen. Wir legen dabei besonderen Wert auf einkindgerechtes Verfahren. Kinder und Jugendliche müs-sen die Möglichkeit haben, sich zu äußern, und auch an-gehört werden.
Hier wird Deutschland mit gutem Beispiel vorange-hen. Die christlich-liberale Koalition hat schon im Ko-alitionsvertrag angekündigt, die Kinderrechte zu stärken.Die Bilanz kann sich sehen lassen: Aufgrund einer Ini-tiative der FDP-Bundestagsfraktion wurde nach 20 Jah-ren endlich die Vorbehaltserklärung zur UN-Kinder-rechtskonvention zurückgenommen. Kinder haben einRecht auf kindgerechtes Aufwachsen. Kinderlärm istdeshalb seit diesem Jahr kein Grund mehr zur Klage undkann nicht länger mit Industrielärm gleichgesetzt wer-den.
Vor kurzem haben wir im Bundestag das erste Bundes-kinderschutzgesetz Deutschlands verabschiedet. DiesesGesetz vernetzt alle Handelnden im Kinder- und Jugend-schutz. Auf Betreiben der FDP wurde der Schwerpunktauf Prävention gelegt.Was die von den Oppositionsfraktionen geforderteAufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz betrifft,bleiben wir bei unserem Standpunkt. Es ist doch klar,dass das Grundgesetz nicht nur die Belange der Erwach-senen, sondern auch die der Kinder berücksichtigt.Noch ein Wort zum Antrag der Fraktion Die Linkezur UN-Kinderrechtskonvention bei Flüchtlingskindern.Darin heißt es wörtlich:Den staatlichen Umgang mit Flüchtlingskindern inDeutschland bestimmt … nicht die Sorge um …Entwicklungschancen der Kinder, sondern ein vonMisstrauen geprägtes nationalstaatliches Abwehr-denken mit dem Ziel, unerwünschte Einwanderungund Zuflucht möglichst effektiv zu verhindern.Das ist harter Tobak, eine Diffamierung. Diese Wortezeugen von einem Weltbild, das leider ein gemeinsamesVorgehen zur Stärkung der Rechte von Kindern unmög-lich macht.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Eckhard
Pols das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Exkanzler Helmut Kohl hateinmal gesagt: Ein Land mit Kindern ist ein Land mitZukunft. – Das hat nichts an Wertigkeit verloren und istzum Leitbild unserer Familienpolitik geworden. Kindersind unsere Zukunft, und deshalb müssen wir ihreRechte achten, schützen und auch stärken. Darum gehtes in der heutigen Debatte anlässlich des Jahrestages derKinderrechtskonvention der Vereinten Nationen.Wir wollen für Kinder in allen Bereichen kindgerechteLebensverhältnisse schaffen. Wir wollen die Rechte vonKindern stärken und im Bewusstsein der Erwachsenenverankern. Wir wollen Kinder und Jugendliche von Be-ginn an stärker beteiligen und sie dort einbeziehen, woihre Lebenswelt berührt ist. Dies haben wir schon 2009im Koalitionsvertrag festgelegt.Erfolgreiche Impulse haben wir mit dem NationalenAktionsplan „Für ein kindergerechtes Deutschland 2005bis 2010“ gesetzt. Frau Rupprecht ist schon darauf ein-gegangen, dass dies in sechs Handlungsfeldern gebün-delt wurde. Nun geht es aber darum, die aus dem NAPgewonnenen Erkenntnisse in den Alltag von Kindernund Jugendlichen zu transferieren. Zwar endete der NAPim Jahre 2010, jedoch nicht der Prozess, der damit aufallen gesellschaftlichen Ebenen angestoßen wurde.Meine Damen und Herren, die Stärkung von Kinder-rechten und die Schaffung von mehr Kindergerechtigkeitdurch Partizipation von Kindern und Jugendlichen isteine dauerhafte Aufgabe, die man nicht zu einem be-stimmten Zeitpunkt als erledigt einstufen kann. Dasbedeutet: Auch wenn die aktuelle Gesetzeslage derUN-Kinderrechtskonvention entspricht, so gibt es dochstets Verbesserungsbedarf, um die Kinderrechte inDeutschland weiter zu festigen. Mit der Forderung einerWeiterführung des NAP von SPD und Grünen verkenntdie Opposition wieder einmal die Tatsache, dass dieKompetenz des Bundes darauf beschränkt ist, Anstößezu geben, um modellhaft Verfahren zu erproben. Diese
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Eckhard Pols
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Einschränkung ist dem föderalen System in Deutschlandgeschuldet. Entscheidend ist daher die Umsetzung vorOrt; das heißt, Kindergerechtigkeit und Kinderfreund-lichkeit fangen zu Hause an. Deshalb möchte ich dieLänder und Kommunen ermutigen, sich mit Aktivitätenauf ihrer Ebene für eine Stärkung der Kinderrechte undein kinderfreundliches Umfeld einzusetzen.Auch ich möchte das Zitat unserer Bundesfamilien-ministerin bemühen: „Die besten Kinderrechte helfennichts, wenn sie nur auf dem Papier bestehen.“ Demkann man nur zustimmen. Vor diesem Hintergrund ist essehr fragwürdig, ob die von der Opposition schon seitmehreren Jahren geforderte Aufnahme der Kinderrechteins Grundgesetz tatsächlich zu einer Verbesserung derLebensbedingungen führen würde. Die Aufnahme vonKinderrechten ins Grundgesetz würde dem Kind nichtmehr Rechte zubilligen, als es nach dem geltenden Rechtschon hat. Schon in der jetzigen Fassung hat jedes Kindeine eigene Subjektstellung. Eine Ergänzung des Grund-rechtekatalogs hätte primär betrachtet eine reine Sym-bolwirkung. Wichtiger wäre jedoch konkretes Handelndurch einfache Gesetzgebung.Deswegen ist es richtig, dass wir endlich das so drin-gend benötigte Bundeskinderschutzgesetz beschlossenhaben, das von der SPD in der letzten Legislaturperiodenoch blockiert wurde. Aber bei der letzten AbstimmungEnde Oktober hat sich die SPD – wie auch die anderenOppositionsparteien – enthalten. Nun fragt man sichwirklich: Wie ernst wird das Thema Kinderschutz in de-ren Reihen genommen?Mit dem Bundeskinderschutzgesetz haben wir eineneue Qualität im Kinderschutz erreicht, indem wir glei-chermaßen auf Prävention und Intervention setzen. Kinderwerden in allen Lebensbereichen besser vor Vernachläs-sigung, Misshandlung und Verdrängung von Entwick-lungsdefiziten geschützt.
Kollege Pols, gestatten Sie eine Frage oder Bemer-
kung der Kollegin Golze?
Ja.
Es tut mir leid, aber Sie werden sich noch ein paar
Minuten länger mit Kinderrechten befassen müssen.
Das ist schön, Frau Golze.
Sehr geehrter Herr Pols, ich freue mich, dass Sie die
Zwischenfrage zulassen. Es ging um das Kinderschutz-
gesetz und darum, wie sich die Opposition hier im Bun-
destag dazu verhalten hat.
Es ist richtig, ich glaube, alle drei Fraktionen haben
sich bei diesem Gesetz enthalten, und dafür haben wir
alle ähnliche Gründe angeführt. Zu diesen Gründen ge-
hörte erstens die Implementierung der Familienhebam-
men. Hier haben wir gesagt, dass das eigentlich in den
Gesundheitsbereich gehört und auf Dauer angelegt sein
müsste, nicht nur als Modellprojekt. Als zweiten Grund
haben wir genannt, dass die Kommunen das Ganze auch
irgendwie umsetzen können müssen. Sie müssen es
finanzieren können.
Das sind genau die beiden Gründe, weshalb morgen
im Bundesrat der Fachausschuss empfehlen wird, zu die-
sen beiden Punkten eine Runde im Vermittlungsaus-
schuss zu drehen. Diese Forderung wird auch von CDU-
geführten Bundesländern getragen.
Wie erklären Sie sich – wenn es doch ein so tolles Ge-
setz ist –, dass die Bundesländer das so nicht mittragen
wollen? Das hat nicht nur etwas mit einer Verweige-
rungshaltung der Opposition im Bundestag zu tun, son-
dern damit, dass dieses Gesetz zwar ein netter Versuch
ist, aber nicht gut gemacht.
Frau Golze, ich habe ja nicht gesagt, dass Sie sichverweigert haben. Ich habe nur gesagt, dass sich die op-positionsregierten Länder der Sache verweigern. Natür-lich ist es richtig, dass die Kommunen gestärkt werdensollen. Dahin kommen wir auch.Es geht aber grundsätzlich darum, dass wir zunächsteinmal ein Gesetz schaffen und es auf den Weg bringen.Die Kinder, um die es in dem Bundeskinderschutzgesetzeigentlich geht, stehen nicht besser da, wenn wir immernur reden. Sie müssen doch erkennen, dass wir endlicheinen Schritt nach vorne kommen müssen und nicht nurständig diskutieren können. Dieses Gesetz diskutierenwir nun schon seit sechs oder sieben Jahren. In der letz-ten Legislaturperiode ist es – das habe ich schon gesagt –an der SPD gescheitert. Jetzt haben wir es auf den Weggebracht. Sie haben sich enthalten, vermutlich, weil Siedieses Gesetz im Sinne der Kinder wollen. Es kann aberdoch nicht sein, dass Sie einem wunderbaren Gesetznicht zustimmen, nur weil es aus der Regierungskoali-tion kommt.
Frau Dörner, ich möchte noch ein Wort zu Ihnen ver-lieren. Sie haben dargestellt, dass Kinder bei der Bun-deswehr mit 17 rekrutiert würden. Es mag richtig sein,dass sie mit 17 an der Waffe ausgebildet werden können.Sie werden aber nicht rekrutiert, sondern sie gehen– wenn überhaupt – dann freiwillig und nur mit der Zu-stimmung der Eltern zur Bundeswehr, solange sie nochkeine 18 sind.
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Eckhard Pols
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Sie haben hier den Eindruck vermittelt – weil hier dieÖffentlichkeit zuhört –, dass diese Kinder mit 17 even-tuell in Auslandseinsätzen eingesetzt würden.
So hat sich das aber in Ihrer Rede angehört, und demmöchte ich massiv widersprechen, ebenso der Gleichset-zung Jugendlicher, die mit 17 zur Bundeswehr gehen,mit Kindersoldaten, wie wir sie aus Entwicklungshilfe-ländern kennen.
Das ist nicht in Ordnung. In der Bundeswehr werdeneventuell Kinder mit 17 an der Waffe ausgebildet. DieseJugendlichen werden aber in anderen Ausbildungsberu-fen, wie zum Beispiel Kfz-Mechatroniker, ausgebildet.Sie werden auf keinen Fall zu Auslandseinsätzen vermit-telt.
So viel noch einmal zu diesem Thema.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt VI a sowie c bis f: Interfraktio-
nell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-
chen 17/7807, 17/7643, 17/7644, 17/7187 und 17/7772
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 17/7644,
Tagesordnungspunkt VI d, soll federführend beim Aus-
schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beraten
werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu
dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Kin-
derrechte in Deutschland umfassend stärken“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/7800, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/6920 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Wer möchte sich enthalten? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt VII auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Dr. Petra Sitte, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Begren-
zung der Haftung und der Abmahnkosten bei
Urheberrechtsverletzungen
– Drucksache 17/6483 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. –
Liebe Kolleginnen, ich würde gerne die Aussprache er-
öffnen.
Die Aussprache ist eröffnet. Das Wort hat die Kolle-
gin Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wenn wir über den Industriestandort Deutsch-land reden, dann reden wir normalerweise über Autos,Stahl und Kohle. Eine ganz andere Industrie erfreut sichebenfalls guter Konjunktur, spricht aber nicht gern da-rüber. Reden wir doch heute einmal über das lukrativeGeschäft der Abmahnindustrie. Es ist zumindest für dieBetreiber lukrativ, die mit dem Unwissen und der Angstder Bürgerinnen und Bürger sowie mit der Androhungunglaublich hoher Kosten riesige Gewinne machen.Wie funktioniert dieses Geschäft? Ein Schüler bei-spielsweise lädt durch Filesharing einen Musiktitel he-runter. Die schlaue Abmahnkanzlei verklagt den Schü-ler, weil dieser dem Musiklabel damit einen unglaublichhohen Schaden zugefügt hätte. Der angeblich hoheSchaden wiederum bildet den Streitwert, der Grundlagefür die Gebührenrechnung der Anwaltskanzlei ist.Unglaublich ist dabei vor allem die Begründung zurBerechnung der Schadenshöhe. Die Kanzlei rechnetnämlich wie folgt: Jedes in der Tauschbörse angeboteneWerk werde von vier Nutzern pro Stunde heruntergela-den. Nach einer Stunde verfügten also fünf Nutzerinnenund Nutzer über diesen illegalen Download, den sie inder kommenden Stunde jeweils vier weiteren Menschenzugänglich machten. Nach sieben Stunden, so besagt esrein rechnerisch die sogenannte Vervielfältigungskette,seien bereits 78 125 illegale Kopien im Umlauf. Nach15 Stunden verfügte demzufolge jeder Bürger und jedeBürgerin auf dieser Welt über eine sogenannte Raubko-pie. So rechnen Leute mit zwei juristischen Staatsexa-men. Ich frage mich: Wer hat hier eigentlich den schwe-ren Schaden? Das ist absurd.
Die in den vergangenen Jahren entstandene Abmahn-industrie arbeitet dabei wie folgt: Zuerst ermitteln dieFirmen die IP-Adressen, dann beantragen Anwälte mitUnterstützung von Gerichten bei den Providern die He-rausgabe der Daten der Anschlussinhaber. Allein dieDeutsche Telekom gibt nach Aussage einer Sprecherinjährlich 2,4 Millionen Adressen heraus. Mithilfe dieserAdressen beginnt dann das Abmahnen und Absahnen.Nun hat der Gesetzgeber die Erstattungspflicht vonAbmahnkosten vor einigen Jahren auf 100 Euro be-
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Halina Wawzyniak
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grenzt, allerdings nur, wenn ein einfach gelagerter Fallund kein gewerbliches Handeln vorliegt, die Rechtsver-letzung unerheblich ist und der Abgemahnte nicht be-reits wegen ähnlicher Vorfälle auffällig geworden ist. Siemerken: vier Bedingungen für 100 Euro. Die Idee ist gut,die Formulierung schlecht. Sie sichert gerade keinenausgewogenen Interessenausgleich.Im Ergebnis ist die Maßnahme voll ins Leere gelau-fen. Allein im Jahr 2010 sind im Auftrag von Rechtein-habern rund 600 000 Abmahnungen mit einem geschätz-ten Gesamtvolumen von 500 Millionen Euro verschicktworden. Dieses fragwürdige wie unverhältnismäßigeAgieren der Abmahnindustrie gegen Bürgerinnen undBürger wird die Linke nicht hinnehmen, und Sie solltenes auch nicht tun.
Es kommt nämlich noch hinzu, dass Menschen vonAnwaltskanzleien allzu häufig völlig zu Unrecht be-schuldigt werden, Musik oder Filme im Internet feilge-boten zu haben. Das hat manchmal eine unfreiwilligeKomik, allerdings nicht für die Betroffenen. So be-schreibt die Frankfurter Rundschau einen Fall, in demeine 36-jährige Frau zu Unrecht beschuldigt wird, einenPornofilm mit dem Titel Ohne Höschen Vol. 19 illegalverbreitet zu haben. Dafür wurde ein Streitwert von30 000 Euro festgelegt. Das sagt einiges darüber aus,was der Abmahnanwalt als künstlerisch wertvoll erach-tet. Dem Mann ist nicht zu helfen, wohl aber der zu Un-recht beschuldigten Frau, wenn wir endlich die gesetzli-chen Bestimmungen entsprechend ändern.
Die Linke hat am 6. Juli einen Gesetzentwurf vorge-legt, um genau diesem Gebaren einen Riegel vorzuschie-ben. Die Justizministerin erklärt vier Monate später, siewolle nun der Abmahnindustrie den Kampf ansagen.Wir erlauben ihr, bei uns abzuschreiben.
Meine Fraktion schlägt mit ihrem Gesetzentwurf vor,zwischen privater und kommerzieller Rechtsverletzungzu differenzieren, anstatt wie bisher im Urheberrecht nurzwischen privat und öffentlich zu unterscheiden. Wir sa-gen: Was im Internet passiert, ist immer öffentlich.Flankieren wollen wir dies durch die Schaffung einesGegenkostenanspruchs, wenn jemand zu Unrecht abge-mahnt wird. Wir wollen klare Regeln, um Auskunfts-pflichten Dritter sinnvoll zu begrenzen, und wir schaffenRegelungen zur Streitwertminderung. Wir wollen nicht,dass die Rechteinhaber insbesondere solcher Werke vonzweifelhafter Güte oder auch aus anderen Gründen ge-ringer Markttauglichkeit Abmahnungen gezielt als In-strument für ansonsten nicht realisierbare Gewinne nut-zen. Kurz gesagt: Niemand soll mehr die Möglichkeithaben, für Schrott den Bürgerinnen und Bürgern Geldaus der Tasche zu ziehen.
Die Linke will mit ihren Vorschlägen zum Urheberrechtdie Rolle der Nutzerinnen und Nutzer stärken. Sie willdem massiven Lobbying seitens der klassischen Verwer-tungsgesellschaften etwas entgegensetzen; denn die An-zahl illegaler Downloads geht zurück, die Anzahl derAbmahnungen steigt.Zum Schluss: Wir sagen, digitale Technologien undVerbreitungswege eröffnen große Chancen. Die Fort-schreibung des Urheberrechts sollte deshalb nicht vonder Angst vor den damit einhergehenden Veränderungendiktiert sein. Sie sollte stattdessen der Förderung desschöpferischen Potenzials, das in und mithilfe der digita-len Welt erschlossen werden kann, verpflichtet sein.
Kollegin Wawzyniak, wollen Sie die Chance nutzen,
Ihre Redezeit zu verlängern, indem Sie dem Kollegen
Kauder eine Frage beantworten oder sich eine Anmer-
kung von ihm anhören?
Ich bin jetzt aber fertig.
Der Kollege Ansgar Heveling hat für die Unionsfrak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf einesGesetzes zur Begrenzung der Haftung und der Abmahn-kosten bei Urheberrechtsverletzungen, der von der Frak-tion Die Linke vorgelegt worden ist. Zunächst einmal istdas ein sehr sektoral orientierter Gesetzentwurf, dennAbmahnungen sind an sich ein Instrument, das gang undgäbe ist. Wir kennen es aus dem Bereich des Persönlich-keitsrechts, aus dem Markenrecht, dem Wettbewerbs-recht und natürlich auch aus dem Urheberrecht.
Grundsätzlich muss man ganz deutlich festhalten,dass Abmahnungen ein legitimes Mittel zur Rechts-durchsetzung sind. Sie stellen für die Rechteinhaber einschnelles außergerichtliches Instrument zur Rechtewah-rung dar. Man darf nicht aus dem Blick lassen, dass esgegenüber anderen Verfahren für den Rechtsverletzerdurchaus auch Vorteile gibt. Er wird vor Klageverfahrenbewahrt. Oftmals sind die Kosten einer Abmahnung – daeben außergerichtlich – auch geringer als die Kosten ei-nes Klageverfahrens. Gerade im Urheberrecht kommt esnach einem Abmahnverfahren nicht zu strafrechtlicherVerfolgung. Urheberrechtsverletzungen sind von daherauch in rechtstatsächlicher Hinsicht im Großen und Gan-zen auf diesem Wege durchaus entkriminalisiert. Das istein großer Schritt, der in dieser Richtung auf die Rechts-verletzer zugegangen worden ist.
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Ansgar Heveling
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Die Abmahnungen haben ohne Frage – da muss mandie Beobachtung der Fraktion Die Linke bestätigen –stark zugenommen. Bloße Quantität ist aber zunächsteinmal kein Kriterium für Missbrauchsanfälligkeit.Wenn jemandem ein Recht zusteht, muss er auch dieMöglichkeit haben, dieses durchzusetzen. Das ist etwasvollkommen Legitimes und gilt grundsätzlich auchdann, wenn es um Werke von, wie Sie in Ihrem Gesetz-entwurf schreiben, „zweifelhafter Güte“ oder „hohemAlter“ geht. Recht ist zunächst einmal Recht und kanndurchgesetzt werden.
Die Linke möchte für einen einzigen Rechtsbereich,das Urheberrecht, die Abmahnmöglichkeiten begrenzen.Ob der mit dem Gesetzentwurf eingeschlagene Weg al-lerdings der richtige ist, erscheint uns doch sehr fraglich;denn an vielen Stellen ist die Herangehensweise nichtbesonders differenziert. Der Gesetzentwurf erweckt denEindruck, es gebe eine vermeintlich einfache Lösung,aber auf komplizierte Sachverhalte gibt es nun einmalkeine einfachen Antworten. Die Linke macht es sich zueinfach.Im Gesetzentwurf ist an vielen Stellen, jedenfalls inder Begründung, die Spur des Populismus zu erkennen,wenn vom „Goldrausch“ und von der „selbstreferentiel-len Abmahnindustrie“ die Rede ist. Da geht es wohlmehr um die symbolische Wirkung als um die tatsächli-chen rechtlichen Regelungen.Es ist nicht von der Hand zu weisen: Es gibt schwarzeSchafe, die Abmahnverfahren zu einem Geschäftsmo-dell entwickelt und dabei gegen viele Grundsätze desAnwaltsberufs verstoßen haben. Valide Daten dazu sindallerdings kaum verfügbar. Es gibt nur quantitative In-formationen. Deswegen sollten wir genau wissen, wiegroß der Handlungsbedarf ist und wo richtigerweise an-gesetzt werden sollte.Dass es schwarze Schafe gibt, ist das eine. Der Ge-setzentwurf der Linken erweckt allerdings den Eindruck,als seien Abmahnungen im Urheberrecht schon per serechtsmissbräuchlich, was nicht der Fall ist. Das wäreeine sehr eingeschränkte Sicht auf die Dinge. Wenn esschwarze Schafe gibt, dann geht man ja auch nicht hinund schlachtet gleich die ganze Herde. Auch das mussman sehen.Wenn wir uns dem Abmahnwesen genauer zuwendenwollen, dann müssen wir sehr genau zwischen den Inte-ressen der Rechteinhaber und dem Schutz der Bürger vorMissbrauch abwägen. Kleine Änderungen können zugroßen Verschiebungen führen, kleine Änderungen kön-nen auch große Auswirkungen haben. Der Gesetzent-wurf der Fraktion Die Linke geht da sehr begrenzt vorund orientiert sich im Wesentlichen an einer Begrenzungdes Streitwertes. Damit gehen Sie auf viele Nebeneffektegar nicht ein. Auch die Alternativen werden nicht ausdif-ferenziert diskutiert. Insofern ist uns dieser Gesetzent-wurf zu pauschal.
Was aber bieten sich für Lösungen an, um miss-bräuchliche Abmahnungen zu begrenzen? Ich habe eseingangs schon angesprochen: Es gibt den Bereich miss-bräuchlichen Vorgehens in berufsrechtlicher Hinsicht,dass die Anwälte, die missbräuchlich vorgehen, denRechtsanwaltsstatuten zuwiderhandeln. Insofern stelltsich die Frage, ob man berufsrechtlich eingreifen kannund die Rechtsanwaltskammern stärkt, um auf berufs-rechtlichem Wege dagegen vorzugehen.
Sicherlich kann man auch darüber nachdenken, den§ 97 a Abs. 2 des Urheberrechtsgesetzes zu modifizie-ren. Man kann auch an eine Streichung denken. Auch dieStreitwertbegrenzung ist ein Ansatzpunkt, über den mannachdenken sollte. Dann sollte es aber so sein, dass manzwischen verschiedenen Fallkonstellationen differen-ziert und keine pauschale Streitwertbegrenzung vorsieht.Der Bereich Aufklärung und Prävention, der in die-sem Bereich des Urheberrechts eine immer größere Be-deutung gewinnt, fehlt im Gesetzentwurf der FraktionDie Linke völlig. Gerade das ist ein Bereich, in dem sichunsere Bundesjustizministerin engagieren will.Wir sehen, wie häufig Missbräuche bei Abmahnun-gen vorkommen. Wir sehen auch die verschiedenen Fall-konstellationen. Dementsprechend werden im Bundes-justizministerium passgenaue Lösungsansätze geprüft.Dabei wird insbesondere Rücksicht genommen – deswe-gen braucht das noch eine gewisse Zeit – auf die Ergeb-nisse der mit Blick auf das Warnhinweismodell vonsei-ten des Wirtschaftsministeriums in Auftrag gegebenenvergleichenden Studie, die in den nächsten Wochen vor-gelegt wird. Aus meiner Sicht ist sehr gut nachvollzieh-bar, dass man diese Ergebnisse erst einmal abwartet, umdie daraus gewonnenen Erkenntnisse in ein Gesetzge-bungsvorhaben, das sich nicht nur auf das Urheberrecht,sondern auch auf das UWG bezieht, einbauen zu kön-nen. Das wird derzeit abgestimmt, damit die Überprü-fung auf der Grundlage valider Daten erfolgen kann. Ichbegrüße sehr, dass das Ministerium diese Ergebnisse ab-warten will.Es lässt sich festhalten, auch in Anbetracht der Studie,die in Kürze vorgelegt wird: Das, was die Linke vorlegt,ist ein Schnellschuss. Das zeigt, dass es den Linken nichtum eine solide Regelung auf der Grundlage der neuestenDaten geht, sondern darum, Stimmung zu machen und einSymbol zu platzieren.
Im Gegensatz zur Linken, die Gefühlspolitik betreibtund auf Verdacht einen Gesetzentwurf vorgelegt hat,wird das Bundesjustizministerium handwerklich sauberarbeiten und in der nächsten Zeit sicherlich eine entspre-chende Lösung vorlegen. Wir werden den Gesetzentwurfnatürlich beraten. Ich kann mir aber nicht vorstellen,dass er auf Zustimmung stoßen wird.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011 17169
(C)
(B)
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Zypries für die
SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es ist lobenswert, dass die Fraktion Die
Linke mit ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Begrenzung
der Haftung und der Abmahnkosten bei Urheberrechts-
verletzungen in diesem Hohen Haus eine Debatte zum
Urheberrecht initiiert; denn, wie alle Fraktionen wissen,
der Gesetzentwurf aus dem Bundesministerium der Jus-
tiz zum sogenannten dritten Korb des Urheberrechts ist
ebenso überfällig wie andere Gesetzentwürfe. Als Stich-
worte nenne ich nur „verwaiste Werke“ und „Leistungs-
schutzrecht“. Es gibt noch andere Themen, zu denen die
Ministerin Gesetzentwürfe angekündigt hat, die aber bis
heute leider nicht vorgelegt wurden. Der Gesetzentwurf
als solcher ist aber, wie mein Vorredner eben schon aus-
geführt hat, nicht ausgereift; diesbezüglich gebe ich Ih-
nen völlig recht.
Die Idee, eine Deckelung der Abmahnkosten einzu-
führen, die wir in der letzten Legislaturperiode hatten,
ist, wie ich meine, nach wie vor richtig; denn es gibt in
der Tat zahlreiche Auswüchse, die es zu bekämpfen gilt.
Richtig ist aber auch – auch das haben wir damals schon
gesagt –: Es muss dem Urheber möglich sein, mit geisti-
gen Werken im Internet Geld zu verdienen; das ist doch
völlig unstreitig. Dafür bedarf es im Einzelfall auch der
Möglichkeit der Rechtsverfolgung. Abmahnungen sind
ja nicht per se zu kritisieren; da haben Sie völlig recht,
Herr Kollege. Es geht vielmehr darum, dass es schwarze
Schafe unter den Anwälten gibt, die dieses Abmah-
nungsrecht sehr weit auslegen.
Wir haben uns schon in der letzten Legislaturperiode
immer wieder darum bemüht, die zuständigen Berufs-
organisationen dazu zu bewegen, ihrerseits zu schauen,
was verschiedene Anwälte so machen. Ich meine, dass
hier auch die Bundesrechtsanwaltskammer in der Ver-
antwortung steht und etwas tun muss. Das muss über-
prüft werden.
Es wird immer viel geredet über illegale Tauschbör-
sen und über die Frage, wie die Musikindustrie im Inter-
net Geld verdienen kann, bzw. darüber, wie sie es ver-
liert. Ich möchte den Fokus auf einen anderen Punkt
richten: Es ist nach wie vor ein sehr großes Ärgernis für
den deutschen Mittelstand, dass verantwortungslose An-
wälte auch mit ihnen fragwürdige Geschäfte machen
wollen. Unter Ausnutzung der Möglichkeit, dass man je-
manden wegen Wettbewerbsverstößen abmahnen kann,
werden Abmahnungen an Unternehmen geschickt, deren
Impressum zum Beispiel nicht dem Telemediengesetz
entspricht oder die die Vorgaben der Preisangabenver-
ordnung nicht ordnungsgemäß eingehalten haben. Auch
dieses Problem kennen wir schon länger. Es wurde be-
reits ein erster Schritt unternommen, indem die Anforde-
rungen an das Impressum ins Telemediengesetz aufge-
nommen wurden. Dadurch wurde wenigstens ein Teil
der Beschwernisse weggenommen.
Die Abmahnwelle hat sich mittlerweile aber auf die
Wettbewerbsverstöße verlagert. Ich meine, dass der
Bundestag sehr wohl aufgerufen ist, sich Gedanken da-
rüber zu machen, wie man insbesondere den kleinen Un-
ternehmungen, die im Internet Geld verdienen wollen,
und dem Mittelstand zur Seite stehen kann, damit diese
Geschäftsmodelle funktionieren.
Nun verhält es sich mit diesem Thema aber leider wie
mit anderen Ankündigungen aus dem Hause der Justiz-
ministerin. Auch hier wurde eine Gesetzesinitiative an-
gekündigt. Es ist allerdings für mich und für meine Frak-
tion nicht zu erkennen – es ist nicht nur unser Problem –,
wann jemals ein Gesetzentwurf dazu kommen wird.
Vielleicht können Sie Aufklärung schaffen, Herr Staats-
sekretär.
– Das steht zu befürchten. Die Frage ist nur, in welchem
Jahr, Herr Kollege.
Der Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke ist also
schon deswegen verdienstvoll, weil er dem Hohen Haus
Gelegenheit gibt, die Ministerin daran zu erinnern, dass
die Aufgabe eines Ministers nicht nur die Verhinderung
von Gesetzen ist, sondern auch deren Vorlage für eine
sinnvolle Weiterentwicklung des Rechts in Deutschland.
Das Wort hat der Kollege Stephan Thomae für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen, verehrte Kol-legen! Der Kollege Heveling sprach gerade von schwar-zen Schafen im Besonderen und von Schafen im Allge-meinen. Ich habe überlegt: Warum gibt es eigentlich inDeutschland mehr Schafe oder Kühe als
Störche oder Wildschweine? Ganz einfach: Weil Küheoder Schafe jemandem gehören. Warum gibt es inDeutschland mehr geistig schöpferische Menschen alszum Beispiel in Nigeria?
Ganz einfach: Weil bei uns Kreativität stärker geschütztwird.
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17170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 143. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 24. November 2011
Stephan Thomae
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Grundsätzlich sind wir uns einig, dass wir ein Be-kenntnis zum Schutz geistigen Eigentums ablegen soll-ten. Ich lese in der Begründung des Gesetzentwurfs derLinken, Frau Wawzyniak:Das Schutzregime von Sachgütern kann nicht un-differenziert und unmittelbar auf das Immaterial-güterrecht übertragen werden. Es ist schon fraglich,ob immateriellen Rechtsgütern überhaupt der glei-che abwehrrechtliche Schutz geboten werden muss.Das löst bei mir einen Reflex aus, den ich nur schwerunterdrücken kann. Da leuchtet nämlich durch, woraufes Ihnen eigentlich ankommt. Wer so argumentiert, FrauWawzyniak, der legt die Axt an Grundvoraussetzungenunserer Eigentums- und damit auch unserer Gesellschafts-ordnung.
Wer etwas investiert, wer etwas riskiert, der muss dieChance haben, die Früchte seines Fleißes und dieFrüchte seines Risikos zu ernten. Diese Chance muss derStaat schützen, egal ob diese Rechtsgüter materiell oderimmateriell sind. Das ist die erste Feststellung, die ichim Hinblick auf Ihre Gesetzentwurfsbegründung vortra-gen will.Die zweite Feststellung ist, dass wir Liberale, wir bür-gerliche Parteien uns zunächst solidarisch mit dem erklä-ren, der sich rechtmäßig verhält. Jeder Abmahnung – soärgerlich sie auch sein mag und sosehr man über mancheEinzelheiten diskutieren müssen wird – geht zunächsteinmal ein Rechtsverstoß voraus, im Zusammenhang miteiner Urheberrechtsverletzung eine Urheberrechtsverlet-zung.
Zunächst: Was ist die rechtliche Funktion der Abmah-nung? Sie enthält eine Warnung. Sie ist ein außergericht-liches, ein vorgerichtliches Instrument und kann einnoch teureres Gerichtsverfahren überflüssig machen.Die Abmahnung soll auch ein Angebot, ein Unterwer-fungsangebot sein, um einen zivilrechtlichen Streit vorGericht zu vermeiden, hat also auch die Funktion, kos-tengünstig Rechtsfrieden herzustellen. Es ist also auchein prozessökonomisches Instrument. Das ist in meinenAugen eine weitere wichtige Feststellung: dass eine Ab-mahnung immer noch besser ist als eine Klage. Abersolch ein Unterwerfungsangebot muss Akzeptanz findenkönnen – da haben Sie in der Begründung Ihres Gesetz-entwurfs nicht unrecht – und darf deswegen nicht über-zogen sein.Dritte Feststellung. In der Tat hat die Bundesministe-rin der Justiz im Oktober 2011, also unlängst, angekün-digt, dass sie drei Hauptprobleme angehen will. Zwei da-von haben Sie in Ihrem Gesetzentwurf angesprochen.
Erstens geht es um das Problem der hohen Streit-werte. Hohe Streitwerte senken die Akzeptanz der Un-terwerfungsangebote. Natürlich müssen Abmahnungenhoch genug sein, um ernst genommen zu werden, aberauch niedrig genug, um akzeptiert zu werden. Deswegenplanen wir – Diskussionen darüber sind im Gange –,Mechanismen zu finden, mit denen eine nachvollzieh-bare Streitwertermittlung – es geht nicht um eine Pau-schale – möglich ist. Das ist Gegenstand unserer Überle-gungen. Solche Mechanismen werden in Ihrem Gesetz-entwurf nicht angesprochen.Das zweite Problem, dessen wir uns annehmen wol-len – eine Behandlung finde ich in Ihrem Gesetzentwurfnicht –, ist das Problem des sogenannten fliegenden Ge-richtsstandes,
also das Problem, dass der Abmahner, der Rechteinha-ber, sich aussucht, wo er Klage erhebt. Ein Abmahnan-walt kann sich immer zu dem Gerichtsstand begeben,von dem er weiß, dass er verbraucherfeindlich und urhe-berfreundlich urteilt. Wir müssen einmal schauen, ob esMöglichkeiten gibt, die Festlegung des Gerichtsstandsso zu regeln, dass auch der Abmahnende ein gewissesProzesskostenrisiko zu tragen hat.
Dadurch könnte eine Art Waffengleichheit hergestelltwerden.
– Es darf geklatscht werden.
Das dritte Problem ist der Gegenanspruch; auch dieswird in Ihrem Gesetzentwurf angesprochen. Bei unge-rechtfertigten Abmahnungen muss der Abmahnende mitder Gefahr eines ernsten Kostenerstattungsanspruchskonfrontiert sein. Dieses Thema wird in Ihrem Gesetz-entwurf zu Recht angesprochen.
Es gibt ein paar Punkte, die wir sehr konstruktiv undnachdenkenswert finden. Wir werden uns Ihren Gesetz-entwurf noch einmal in verbesserter Form zu Gemüteführen und dann beizeiten – gut Ding will Weile haben –einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen.Lassen Sie mich ein Fazit formulieren:Erstens. Das Bekenntnis zum geistigen Eigentumsollte Grundbestand dieses Parlaments sein.
Zweitens. Abmahnungen sind zunächst einmal sinn-voller als eine klageweise Geltendmachung.Drittens. Auswüchse bei Abmahnungen müssen wiruns im Zusammenhang mit den drei Punkten „Streitwert“,
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Stephan Thomae
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„fliegender Gerichtsstand“ und „Kostenerstattung“ ge-nauer ansehen und, wenn möglich, beseitigen.Lassen Sie mich zum Schluss kommen. FrauWawzyniak, in ihrem Gesetzentwurf schreiben die Lin-ken, dass Verletzungen geistigen Eigentums – ich zitierejetzt wörtlich aus ihrem Gesetzentwurf – „keine weiterenFolgen für den Inhaber haben“. Dazu muss ich sagen:Oben auf der Besuchertribüne sitzt jemand, der ein Ab-rechnungssystem für Tankstellen geschaffen hat. Das isteine geistige Schöpfung. Wenn jemand diese stiehlt,dann sagen Sie, dass dies keine weiteren Folgen für denInhaber hat.
Wir sagen, dass das für ihn sehr wohl weitere Folgen hat.Es ist für ihn unter Umständen sogar existenzbedrohend.Wir nehmen diese Sache also ernster als Sie. Wir wollenAuswüchse beseitigen. Sie müssen Ihr Verhältnis zuFleiß, zu Risiko und zu Eigentum grundlegend überden-ken.Vielen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-
lege Montag das Wort.
Danke. Das hätte ich nicht erwartet. – Frau Präsiden-tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Problemdar-stellung im Gesetzentwurf der Linken ist durchaus rich-tig. Wenn allein von deutschen Internetprovidernmonatlich über 300 000 Adressauskünfte wegen angeb-licher Urheberrechtsverletzungen im Internet eingeholtwerden, dann ist die Größenordnung „Hunderttausendevon Abmahnungen in Deutschland pro Jahr“ sicherlichnicht zu hoch gegriffen. Dazu passt der immense An-stieg der Zahl gerichtlicher Entscheidungen nach § 101Abs. 9 Urheberrechtsgesetz. An manchen Landgerichtengibt es bis zu 3 000 Verfahren pro Jahr, pro Verfahrenmit mehreren Tausend IP-Adressen. Es gibt Gerichtsver-fahren, in denen Beschlüsse zu über 11 000 IP-Adressengefasst wurden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Verbraucherzentra-len berichten, dass ihre Arbeit inzwischen zu mehr als50 Prozent in der Beratung zu Abmahnverfahren besteht.Es ist festzustellen, dass sich diese Abmahnungen aufspezialisierte Rechtsanwaltskanzleien konzentrieren,dass diese wiederum eng mit Firmen zusammenarbeiten,deren Geschäftszweck ausschließlich darin besteht, dieUrheberrechte nur zum Zwecke des Abmahnwesens zubündeln und das Geschäft der Internetrasterung nachnoch so banalen Urheberrechtsverletzungen zu betrei-ben. Dabei ist festzustellen, dass Abmahngebühren inHöhe von mehreren Hundert bis mehreren Tausend Euroverlangt werden, während die Rechtsanwaltskanzleienoder die mit ihnen verbundenen Firmen bei den Rechte-inhabern mit der für sie völligen Kostenlosigkeit des Ab-mahnverfahrens werben. Dieses Geschäftsmodell ist imErgebnis kriminell und verstößt in hohem Maße gegenanwaltliche Berufspflichten.
Im Abmahnverfahren geltend gemachte sogenanntePauschalen für Aufwand und Schadensersatz in Höhevon mehreren Hundert bis mehreren Tausend Euro stel-len selbst für die Rechteinhaber, die nur einen Bruchteildieses Betrags erhalten, das Zigfache dessen dar, wasaus Einnahmen aus legaler Lizenzierung zu erzielenwäre. So wirbt das Unternehmen DigiRights Solutionmit folgenden Worten – Zitat –:Der Ertrag aus erfassten und bezahlten illegalenDownloads beträgt das 150-Fache eines legalenDownloads.Auch das Bundesjustizministerium bestätigt diesengewerblich organisierten und systematischen Miss-brauch des Urheberrechts und der Abmahnungen undkündigt deswegen einen eigenen Gesetzentwurf an. Al-lerdings weist das BMJ zu Recht darauf hin – auch FrauKollegin Zypries hat darauf hingewiesen –, dass es sol-che Missbrauchsstrukturen auch im Wettbewerbsrechtgibt und dass der Gesetzentwurf der Linken dazuschweigt.Ich kann zum Gesetzentwurf der Linken an dieserStelle nur kursorisch Stellung nehmen. Sie wollen dieAbmahnung als Rechtsinstitut im Urheberrecht nicht ab-schaffen; da geht Ihre Polemik fehl. Aber § 97 a Abs. 2des Urheberrechtsgesetzes wollen Sie ersatzlos strei-chen. Damit wollen Sie die im Gesetz vorgegebene Be-schränkung der Anwaltsgebühren auf eine Höhe von100 Euro in einfach gelagerten Fällen gewährleisten.Dazu sage ich Ihnen: Ja, diese Vorschrift hat vieleSchlupflöcher, weil „unerhebliche Verletzung“ und „ein-fach gelagerte Fälle“ Kaugummibegriffe sind.
Das habe ich bereits 2008 an dieser Stelle kritisiert, undich habe um eine Präzisierung gebeten.
Ich bin mir nicht sicher, dass der Weg der Linken derrichtige Weg ist. Es sollte Ihnen zu denken geben, dassauch die FDP 2008 hier in diesem Hause die Streichungdieser Vorschrift vorgeschlagen hat.
Sie wollte damit den Rechtsanwälten zu hohen Gebüh-ren verhelfen.
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Jerzy Montag
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Aber hilft die Abschaffung dieser Vorschrift im Ab-mahnwesen? So wie in Ihrem Gesetzentwurf vorgese-hen, hilft sie nicht.
Sie versuchen, die Streitwerte über § 104 a Urheber-rechtsgesetz und § 51 b Gerichtskostengesetz zu erfas-sen, beziehen diese Streitwertreduzierungen aber nur auf§ 97 Urheberrechtsgesetz,
lassen also den § 97 a Urheberrechtsgesetz außen vor.
Damit wird den Hunderttausenden abgemahnter und ab-gezockter Bürger nicht geholfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden über dieweiteren Punkte, die Sie vorschlagen, in unseren Bera-tungen im Rechtsausschuss und in der Sachverständi-genanhörung, die wahrscheinlich kommen wird, näherdiskutieren. Wir werden Ihren Gesetzentwurf mit demGesetzentwurf vergleichen, von dem ich hoffe, dass eruns vielleicht doch noch vor Weihnachten 2011 als Refe-rentenentwurf zugestellt wird, sodass wir im nächstenJahr, nach Möglichkeit gemeinsam, zu einer Lösungkommen können, die der kriminellen und massenhaftenAbzocke der Bürgerinnen und Bürger im Urheberrecht,aber auch im Wettbewerbsrecht Einhalt gebietet.Danke.
Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Urheberrechtsverletzungen im Internet haben massiv zu-genommen. In der digitalen Welt ist es eben sehr leichtund es kann sehr schnell gehen, dass Rechtsverletzungenbegangen werden. Deswegen haben die Rechteinhaberzunächst einmal Wege und Mittel finden müssen, um ge-gen massenhafte Urheberrechtsverletzungen wirksamvorzugehen.Das Instrument der Abmahnung ist dabei ein probatesMittel, weil es eben ermöglicht, die Unterlassung vonUrheberrechtsverletzungen durchzusetzen. Erst in denletzten Jahren ist diese zu Recht kritisierte Abmahn-industrie entstanden. Es ist ein Phänomen, dass Mas-senabmahnungen zu einem eigenen Geschäftsmodellwerden, das gar nicht so sehr mit dem Schutz des Wett-bewerbs oder der Urheber zu tun hat, sondern ganz un-abhängig davon der Gewinnerzielung dient. Selbst beigeringsten Rechtsverletzungen entstehen hohe Kosten.Sogar mit missbräuchlichen Abmahnungen lässt sichKasse machen.Ich rate allerdings davon ab, Abmahnungen deswegenpauschal zu verurteilen; diesem Impuls sollten wir nichtnachgeben. Abmahnungen bleiben ein wichtiges Instru-ment, um Urheberrechtsverletzungen zu unterbinden, ef-fektiv, zeitnah und im Übrigen auch kostengünstig füralle Beteiligten. Das war der Grund, weshalb wir bei derletzten Urheberrechtsnovelle 2008 in § 97 a Abs. 1 aus-drücklich aufgenommen haben, dass der in seinem RechtVerletzte abmahnen soll; denn es liegt natürlich auch imInteresse des Rechtsverletzers, dass er zunächst einmaldie Chance erhält, im Wege der Abmahnung eine außer-gerichtliche Beilegung herbeizuführen.Es ist auch wichtig, zu betonen, dass Urheberrechts-verletzungen kein Kavaliersdelikt darstellen. Das Inter-net ist kein rechtsfreier Raum. Wer also Film- oder Mu-sikdateien in Tauschbörsen illegal herunterlädt und mitanderen teilt, muss sich darüber im Klaren sein, dass erUnrecht begeht. Der Urheber ist darauf angewiesen, dasssein Werk auch im Internet Schutz erfährt, zumal in derdigitalen Welt sein Werk binnen Sekunden illegal ver-vielfältigt werden kann.Deswegen ist es nicht hinnehmbar, wenn Sie vorschla-gen, die Kosten der Rechtsverfolgung auf vorsätzlicheRechtsverletzungen zu beschränken und auf Tätigkeiten,die gewerblicher Natur oder selbstständiger beruflicherNatur sind. Damit würden die Urheber gegenüber Urhe-berrechtsverletzungen, die nicht vorsätzlich, nicht ge-werblich oder nicht beruflich erfolgen, völlig auf sichselbst gestellt sein. Sie könnten die Kosten ihrer Rechts-verfolgung nicht geltend machen. Das würde massenhaf-ten Rechtsverletzungen geradezu Tür und Tor öffnen.Das ist ein völlig falsches Signal.Die Linke versucht sich mit ihrem Gesetzentwurf amUrheberrecht; aber das bleibt natürlich Flickschusterei,wenn nicht zumindest auch das Wettbewerbsrecht mit inden Blick genommen wird. Auch im Wettbewerbsrechthaben wir es mit Massenabmahnungen zu tun, die oftwegen Lappalien völlig überzogene Kosten verursachen.Die Bundesregierung hat das offenkundig erkannt unddeswegen ihren Staatssekretär Hintze aus dem zuständi-gen Bundeswirtschaftsministerium in diese Debatte ent-sandt. Herzlich willkommen!
Wir dürfen die Missstände bei Abmahnungen also nichtisoliert betrachten, sondern wir brauchen ein schlüssigesGesamtkonzept, das neben dem Urheberrecht zumindestauch das Wettbewerbsrecht umfasst.Ich habe viel dafür übrig, die Abmahnkosten zu be-grenzen. Ich kann mir auch vorstellen, dass wir den so-genannten fliegenden Gerichtsstand einschränken. Undwir sollten in der Tat über angemessene Streitwertenachdenken.
Was die Abmahnkosten angeht: Wir haben mit § 97 aAbs. 2 im Urheberrechtsgesetz bereits den Versuch un-
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Thomas Silberhorn
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ternommen, diese Abmahnkosten zu begrenzen. Aberdie Deckelung auf 100 Euro in einfach gelagerten Fällenbei erstmaligen und unerheblichen Rechtsverletzungenhat praktisch kaum Bedeutung erlangt. Die Rechtsbe-griffe sind schlichtweg zu unbestimmt, sodass diese Re-gelung weitgehend ins Leere läuft. Wir sollten hier alsonachsteuern. Entweder schaffen wir es, die tatbestandli-chen Voraussetzungen zu präzisieren und zum Beispielauf bestimmte, praktisch bedeutsame Fallgestaltungenzu konzentrieren, oder wir sollten darüber nachdenken,diese Regelung wieder zu streichen.Es spielt in diesem Zusammenhang sicherlich eineRolle, dass vor allem bei unberechtigten und miss-bräuchlichen Abmahnungen die Kostenfolgen besondersvirulent sind. Deswegen habe ich Verständnis für denVorschlag, dem vermeintlichen Rechtsverletzer ebenfallsden Anspruch einzuräumen, dass ihm die Kosten seinerRechtsverfolgung ersetzt werden. Das ist ein Gebot derWaffengleichheit und ganz sicher ein wirksamer Schutzvor unberechtigten und auch vor missbräuchlichen Ab-mahnungen.Ein Bruchteil der Fälle landet letztlich vor den Ge-richten. Dabei ist bemerkenswert, dass die Rechteinha-ber ihre Ansprüche oft nicht mehr verfolgen, wenn dieAbgemahnten Rechtsbeistand einholen und die geltendgemachten Unterlassungsansprüche und Abmahnkostenzurückweisen. Das ist wohl ein Indiz dafür, dass mancheAbmahnung doch nicht berechtigt war.Wir haben aber den sogenannten fliegenden Gerichts-stand, der es den Klägern ermöglicht, den für sie güns-tigsten Gerichtsstand auszuwählen. Wenn man bedenkt,dass das ein Gerichtsstand sein kann, der oft weit ent-fernt vom Rechtsverletzer liegt, dann erkennt man: Daskann für den Rechtsverletzer selbst bei unberechtigtenund missbräuchlichen Abmahnungen dazu führen, dasser die Kosten seiner Vertretung scheut und dass am Endedie Vertretung seiner eigenen Interessen verhindert wird.Deswegen sollten wir darüber nachdenken, den Ge-richtsstand im Grundsatz auf den Wohnsitz oder den Ge-schäftssitz des Beklagten zu beschränken.
Die hohen Kosten von Abmahnungen und Unterlas-sungsklagen liegen meist in Gegenstands- und Streitwer-ten begründet, die als überhöht empfunden werden undes wohl oft auch sind. Dabei spielt eine Rolle, dass sichdie Streitwerte selbst in Bagatellfällen auf über5 000 Euro eingependelt haben, weil damit die Zustän-digkeit der Landgerichte begründet werden kann. Dannkommt man natürlich schnell auf viele Hundert EuroAbmahnkosten und viele Tausend Euro, wenn Gerichts-kosten und Rechtsanwaltsgebühren dazukommen.Dabei stehen die hohen Streitwerte oft in keinem Ver-hältnis zur begangenen Rechtsverletzung. Wenn etwaKinder unbedacht, aber illegal Lieder von Teeniebandsaus dem Internet herunterladen, dann sehen sich die Fa-milien oft mit exorbitanten Kosten konfrontiert. Ähnlichergeht es vielen Unternehmen, wenn sie zum Beispieldie Impressumspflicht auf ihren Internetseiten missach-ten. Bagatellverstöße führen also zu gewaltigen Kosten-folgen.Wir sollten von der Möglichkeit, den Streitwert he-rabzusetzen, besser Gebrauch machen. In der Praxis fin-det das offenbar vielfach nicht statt. Vielleicht könntenwir diesen Weg erweitern. Wir sollten darüber hinaus insAuge fassen, das Gerichtskostengesetz zu ändern, umbei der Streitwertfestsetzung den wirtschaftlichen Belan-gen beider Seiten besser gerecht zu werden.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wollenden unlauteren Wettbewerb verhindern und die Urheber-rechte schützen. Aber wir müssen auch die Auswüchseder Abmahnindustrie da zurückschneiden, wo sie aufGewinnerzielung gerichtet sind und wo das eigentlicheInteresse, nämlich den Wettbewerb und den Urheber zuschützen, nicht mehr ersichtlich ist. Abmahnungen dür-fen nicht länger ein eigenständiges Geschäftsmodell zurbloßen Gewinnerzielung sein. Das Bundesjustizministe-rium arbeitet an entsprechenden Gesetzentwürfen. Aufdieser Grundlage werden wir zeitnah weiter beraten kön-nen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Edgar Franke für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Beider Einbringung des Justizhaushaltes im Mai dieses Jah-res habe ich bereits ein paar Anmerkungen zum Abmah-nungsunwesen im Urheberrecht gemacht. Ich habe michdamals gefragt, ob dieses Thema für eine allgemeineHaushaltsdebatte nicht zu banal ist und ob man darüberim Rahmen der Haushaltsberatungen überhaupt spre-chen sollte. Aber – Sie werden es kaum glauben – ichhabe unmittelbar danach, noch am selben Tag, über200 E-Mails und unzählige Briefe bekommen. Darunterwaren Kommentare, Anfragen und Erfahrungsberichteüber den Kontakt mit großen Rechtsanwaltskanzleien.Sie haben von schwarzen Schafen gesprochen, HerrHeveling. Ich glaube, davon gibt es – das muss manauch in dieser Debatte ehrlich sagen – eine ganze Reihe.Es waren teilweise wirklich auch Hilferufe. Die Leutefühlten sich subjektiv eingeschüchtert und ungerecht be-handelt, wenn sie von großen Kanzleien Unterlassungs-erklärungen zugesandt bekamen und damit konfrontiertwurden. Das ist ja immer mit einer Schadensersatzforde-rung verbunden, Frau Wawzyniak.Ich habe dabei auch wieder etwas gelernt: Es sind oft-mals nicht die großen politischen Fragestellungen, son-dern die kleinen Probleme, bei denen die Menschen Un-gerechtigkeit empfinden und die sie bewegen – auchemotional. Ich habe den einen oder anderen angerufenund mir ein paar Beispiele schildern lassen. Sie haben ja
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Dr. Edgar Franke
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auch schon ein skurriles Beispiel genannt. Ich will hierganz kurz von einem weiteren Beispiel berichten: EinEhepaar – er 67, sie 58 Jahre alt – hat mich angerufen.Sie sollen den Film Fast & Furious Five – dabei geht esum schnelle Autos und um Verfolgungsjagden in Park-häusern – in den sogenannten Tauschbörsen zum Tauschangeboten haben. Sie waren zum angegebenen Zeitpunktgar nicht zu Hause, und trotzdem war es für die Leute inder Praxis ganz schwer, zu beweisen, dass sie nichts ge-macht haben.Oftmals geht es hier um ein ganz praktisches Pro-blem: Der Provider benutzt bei der Ermittlung der IP-Adresse eine Software, die feststellt, welcher PC in denPeer-to-Peer-Filesharing-Netzwerken – so heißt das,glaube ich –, in den Tauschbörsen, aktiv wird. Selbst Ex-perten, mit denen ich telefoniert habe, haben mir gesagt,dass die Zuverlässigkeit der Software angezweifelt wer-den muss. Wenn der sogenannte Zeitstempel nicht exaktgeneriert wird, lässt sich eine zuverlässige Zuordnungdes Anschlussinhabers nicht immer herstellen. Da dieZeitbestimmung so problematisch ist, ergeben sich inder Praxis sehr große Fehlerquellen. In mehreren Berich-ten der Frankfurter Rundschau stand, dass man insge-samt von 100 000 zu Unrecht Abgemahnten ausgehenmuss.Da hier der Anscheinsbeweis zugunsten des Verletz-ten Anwendung findet, hat es der unbegründet Abge-mahnte in der Praxis sehr oft schwer. Herr Heveling,sonst wäre auch eine solche Rückmeldung wie die desvon mir angesprochenen Ehepaares nicht unbedingtnachvollziehbar. Diese würde es auch sonst so nicht ge-ben.Ich glaube, es ist heute von allen viel Richtiges gesagtworden. Auch ich möchte jetzt inhaltlich ein paar grund-legende Anmerkungen zum Gesetzentwurf der Linkenmachen. Ich glaube, die Analyse ist richtig – das hatFrau Zypries ja schon betont –, aber an einigen Punktenmüssen wir nacharbeiten, auch rechtlich. Ihr Gesetzent-wurf hat nämlich ein paar handwerkliche Schwächen.Von vielen – von Herrn Silberhorn, von HerrnMontag und eigentlich auch von allen anderen – ist§ 97 a Abs. 2 Urheberrechtsgesetz angesprochen wor-den. Ich glaube, es war zunächst einmal richtig und gut,dass man ihn in das Urheberrechtsgesetz aufgenommenhat. Wir müssen ihn sicherlich modifizieren, weil er oft-mals ins Leere läuft. Es gibt allerdings – ich habe einmalnachgeschaut – einige Urteile gerade aus dem BereichSüdhessen, auch vom Amtsgericht Frankfurt, wo er kon-sequent angewendet wird. Wir können zwar im Detaildiskutieren, ob wir das eine oder andere modifizierenoder präzisieren müssen, aber im Prinzip geht er in dierichtige Richtung. Frau Wawzyniak, ich denke, wir soll-ten Abs. 2 vielleicht eher präzisieren, als eine grundle-gend neue Systematik einzuführen.
Herr Silberhorn, Sie haben zu Recht den sogenanntenfliegenden Gerichtsstand angesprochen. In der Praxis ru-fen spezialisierte Kanzleien ja nur Gerichte in den Ge-richtsbereichen an, die erfahrungsgemäß vom höchstenStreitwert ausgehen. Ich finde, darüber sollte man nach-denken. Das kann nicht vernünftig, richtig und vom Ge-setzgeber gewollt sein.
Wenn man § 32 ZPO nicht ändern will, sollte manwenigstens darüber nachdenken, die Gegenstandswerteim Gerichtskostengesetz – auch das haben Sie angespro-chen – zu begrenzen.Eine kritische Anmerkung muss ich abschließendnoch machen, Frau Wawzyniak. Der von Ihnen vorgese-hene neue § 104 a des Urheberrechtsgesetzes, nach demder Streitwert dann gemindert werden kann, wenn derBetroffene kein Geld hat, ist eher eine Robin-Hood-Norm und nicht unbedingt praktikabel, zumal wir auchProzesskostenhilfe für wirtschaftlich Schwächere haben.Vor diesem Hintergrund ist die Umsetzung Ihres Vor-schlags ein bisschen schwierig.Grundsätzlich ist das Rechtsinstitut der Abmahnung– darüber sind wir, glaube ich, alle einer Meinung – ver-nünftig, weil es letztlich die Gerichte entlastet. Es ist einInstrument, das beibehalten werden soll, aber wir müs-sen im Rahmen der Beratungen schauen, was wir ändernkönnen. Wir sollten, am besten zusammen, ganz kon-struktiv die eine oder andere zivilrechtliche Vorschriftkritisch überprüfen. Das ist wichtig und sinnvoll. Ichfreue mich, dass wir dahin gehend heute Abend einerMeinung sind.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/6483 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esdazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt VIII auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten MonikaLazar, Volker Beck , Kai Gehring, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGrundrechte von intersexuellen Menschenwahren– Drucksache 17/5528 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für GesundheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-gin Monika Lazar für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir beraten heute zum ersten Mal in der Geschichte desBundestages einen Antrag, der sich mit der Situation in-tersexueller Menschen befasst. Damit brechen wir einTabu, das jahrzehntelang dazu geführt hat, dass Men-schen, bei denen Chromosomen und innere oder äußereGeschlechtsorgane nicht übereinstimmend einem weibli-chen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werdenkonnten oder die in sich uneindeutig waren, medizini-schen Menschenversuchen unterzogen und gesellschaft-licher Ausgrenzung ausgesetzt wurden.Deswegen möchte ich in erster Linie meinen Respektallen mutigen intersexuellen Menschen ausdrücken, diemit ihren höchstpersönlichen Lebensgeschichten in dieÖffentlichkeit gegangen sind, allen, die trotz der Gefahr,erneut von unserer Gesellschaft unmenschlich behandeltzu werden, so viel Kraft gefunden haben, und schließlichallen, die angesichts der Untätigkeit der staatlichen Or-gane nicht aufgegeben haben, sondern sich an internatio-nale Organisationen in der Hoffnung gewendet haben,dass sich dann das, was ihnen passiert ist, nicht wieder-holt.
Sie haben uns die Augen geöffnet, die diese Problemelange nicht gesehen haben. Dafür danke ich dem VereinIntersexuelle Menschen, der Internationalen VereinigungIntergeschlechtlicher Menschen und der Selbsthilfe-gruppe „XY-Frauen“. Diese Menschen haben uns gezeigt,wie unvorbereitet und unsensibel wir als Gesellschaftsind, wenn wir mit dem Phänomen der Intersexualitätkonfrontiert werden. Die Schicksale, die uns geschildertworden sind, sind grausam. Basierend auf heute falschenwissenschaftlichen Erkenntnissen hat man sie nach ihrerGeburt an ihren Genitalien operiert, um der in unserer Ge-sellschaft erwarteten geschlechtlichen Eindeutigkeit ge-recht zu werden. Sie wurden dabei kastriert und von einerlebenslangen Hormontherapie abhängig gemacht.Als sie später fragten, was mit ihnen passiert ist undwieso sie die Medikamente nehmen müssen, hat man ih-nen oft die Wahrheit verschwiegen. Darüber hinaus wur-den sie im Dienst der Medizin als Objekte missbraucht,indem sie beispielsweise in Publikationen abgebildetwurden. Wir können uns gar nicht vorstellen, was es be-deutet, wenn diese Menschen später in Lehrbücherschauen und dann ihre eigenen Fotos sehen.Wir alle haben viel zu lange das Problem nicht wahr-genommen. Umso wichtiger ist es, dass wir versuchen,gemeinsam und entschlossen das Problem anzugehen.
Die grüne Bundestagsfraktion hat nach vielen Gesprä-chen mit intersexuellen Menschen und Expertinnen undExperten einen Maßnahmenkatalog vorbereitet, den wirIhnen heute hier präsentieren. Neben der Forderung,dass das prophylaktische, medizinisch nicht erforderli-che Entfernen und Verändern der Genitalien bei inter-sexuellen Kindern unterbleiben soll, schlagen wir vor,die Fiktion, wonach intersexuelle Menschen in unsererGesellschaft nicht existieren, zu beenden.
Dafür müssen wir das Personenstandsgesetz sowiedie gesetzlichen Grundlagen für die offizielle statistischeErhebung so ändern, dass bei der Angabe „Geschlecht“nicht nur zwei Antworten möglich sind. Ansonsten wirddas geltende Recht das medizinische Personal und auchintersexuelle Menschen weiterhin zu den kontrafakti-schen Angaben zwingen.Ferner fordern wir die Bundesregierung auf, gemein-sam mit den Ländern ein unabhängiges Beratungs- undBetreuungsangebot für betroffene Kinder und deren El-tern, für betroffene Heranwachsende und Erwachsene zuschaffen und dabei die Beratungs- und Selbsthilfeein-richtungen der Betroffenenverbände einzubeziehen;denn das sind die wirklichen Experten in der Gesell-schaft.Den intersexuellen Menschen wie deren Familien, dieder Medizin und dem Rechtsstaat vertraut haben, sind wireine nachträgliche Unterstützung schuldig. Aber auchden intersexuellen Menschen, die künftig geboren wer-den, müssen wir helfen. Daher muss eine Beratungsstellefür die Angehörigen der beteiligten Gesundheitsberufezur medizinischen, psychologischen und gesellschaftli-chen Aufklärung eingerichtet werden. Ihre Ausbildungs-und Prüfungsordnungen sollen um das Thema Inter-sexualität ergänzt werden. Ebenso brauchen wir verstärktFort- und Weiterbildungen.Nicht zuletzt brauchen wir weitere wissenschaftlicheinterdisziplinäre Forschungen zum Thema Intersexuali-tät mit einem interdisziplinären Ansatz, auch unter Be-teiligung von Kultur- und Gesellschaftswissenschaftensowie der Betroffenenverbände. Das sind wir den inter-sexuellen Menschen schuldig.Deshalb bitte ich alle Fraktionen um Unterstützungder von mir gerade skizzierten Forderungen, was einer-seits für die Menschen, die etwas Schlimmes erfahrenhaben, etwas Wiedergutmachung bedeuten könnte undandererseits künftig Geborene vor ähnlichen Erfahrun-gen bewahren sollte.Ich biete gern die Zusammenarbeit in den Beratungenan, sodass wir am Ende vielleicht zu einer gemeinsamenLösung kommen. Dazu soll unser Antrag eine Anregungsein.Ich bedanke mich.
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Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Tauber für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat: Esist das erste Mal, dass der Deutsche Bundestag über die-ses Thema berät. In Deutschland gibt es nach offiziellenAngaben etwa 8 000 bis 10 000 intersexuelle Menschen;andere Zahlen liegen sogar noch darüber. Wir zählenjährlich etwa 150 bis 340 Personen, die so geboren wer-den. Schon diese Spannbreite von 150 bis 340 Personenzeigt, welchen Nachholbedarf wir bei diesem Thema ha-ben; denn in einem Land wie Deutschland, in dem jedesDetail statistisch erfasst wird, ist es nahezu unvorstell-bar, dass darüber keine klareren Zahlen vorliegen.Auch deswegen ist es gut, dass wir heute über diesesThema reden – es wird dem einen oder anderen ähnlichgegangen sein –: Bei der Frage: „Worüber sprichst du inder Debatte? Was ist das für ein Thema?“, hat man zu-nächst einmal ein bisschen was zu erklären und zu erzäh-len. Das ist gut. Deswegen ist es richtig und wichtig,dass wir uns heute hier ausführlicher mit diesem Themabefassen, und hoffentlich nicht nur heute und hier.Intersexualität bezeichnet unterschiedliche Formender Uneindeutigkeit der Geschlechtszugehörigkeit einesMenschen. Man mag sich gar nicht vorstellen, was dasnicht nur individuell für jeden Betroffenen, sondern fürdiese Menschen in den letzten Jahrzehnten und Jahrhun-derten in unserem Land und heute vielleicht noch in an-deren Teilen dieser Welt bedeutete.Jetzt leben wir in Deutschland in einem Sozialstaat.Wir haben das Grundgesetz mit seinen unveränderbarenGrundrechten. Das ist eine gute Grundlage, um sich die-ses Themas weiter anzunehmen; denn das Grundgesetzspricht ganz klar davon, dass allen Menschen unabhän-gig von ihren körperlichen, geistigen und sonstigen Ei-genschaften dieselben Grundrechte zustehen. Wir allestehen in der Pflicht – auch wir von staatlicher Seite –,dass die im Grundgesetz verankerten Rechte und Pflich-ten gegenüber allen Menschen gewahrt werden. Nunmag bei intersexuellen Menschen die Eindeutigkeit derGeschlechtszugehörigkeit aus medizinischer Sicht um-stritten sein. Niemals darf jedoch ihre Zugehörigkeit zuunserer Gesellschaft und damit der Anspruch auf dieuniversellen Grundrechte infrage gestellt werden.Intersexuelle Menschen sind Menschen, die nicht indas medizinische und rechtliche Konstrukt zweier ab-grenzbarer Geschlechter passen, die also weder klar alsmännlich noch klar als weiblich definierbar sind. DieseMenschen können gängigen Geschlechternormen nichtzugeordnet werden; darauf hat die Kollegin von denGrünen bereits hingewiesen. Aber sie teilen mit uns diewohl zentrale und wichtigste Eigenschaft: Wir alle sindTeil dieser Gesellschaft. Das sollte sich auch im tägli-chen Leben widerspiegeln.Damit sind wir schnell bei der Frage: Was brauchenintersexuelle Menschen denn eigentlich? Zu beurteilen,was diese Menschen – auch individuell – brauchen, istsicherlich nicht ganz leicht. Diese Frage stellen wir unsbei allen soziologischen Gruppen, mit denen wir uns be-fassen. Immer geht es dabei am Ende aber um Indivi-duen. Jedes Individuum hat durchaus – das wissen wirschon aus unseren Arbeitsgruppen und Fraktionen – un-terschiedliche Bedürfnisse. Wir müssen auch aufpassen,dass wir bei der Antwort auf diese Frage nicht Gefahrlaufen, alle intersexuellen Menschen über einen Kammzu scheren. Auf alle Fälle muss das Ziel unserer Politiksein, den Bedürfnissen dieser Menschen gerecht zu wer-den, wenn wir politische Rahmenbedingungen setzen. Esgeht also wieder um die Frage: Welche spezifischen,konkreten Bedürfnisse haben diese Menschen neben derEnttabuisierung dieses Themas und der Hilfe bei der Lö-sung von Problemen? Ich glaube, dass es wichtig ist, denBetroffenen die Möglichkeit zu geben, ihre Wünsche,Ziele und Vorstellungen selbst zu artikulieren. Derje-nige, der in der Situation ist, kann das am besten nach-empfinden und uns sagen, was ihn umtreibt. Es ist nichtklug, zu glauben, wir könnten die Situation der Betroffe-nen beurteilen und gute Ratschläge geben.Der Deutsche Ethikrat hat sich im Auftrag der Bun-desregierung mit der Situation intersexueller Menschenintensiv befasst und ist dabei, dem Handlungsbedarfnachzuspüren. Ich habe den Eindruck, dass der DeutscheEthikrat das in den zurückliegenden Monaten sehr be-hutsam und kompetent getan hat. Wir rechnen damit,dass das Gutachten zum Jahresende abgeschlossen, dannfinal beraten und im ersten Quartal 2012 der Bundesre-gierung vorgelegt wird. Diese beachtenswert behutsame,vielleicht sogar empathische Art bei der Annäherung andieses Thema verdient Anerkennung und Respekt.Wichtig war bei diesem Diskurs, dass alle Seiten zuWorte kamen: Mediziner, Psychologen, Juristen, Vertre-ter von Elterninitiativen, Vereinen und Organisationensowie nicht zuletzt die Betroffenen selbst. Es gab eineDiskussionsplattform im Internet mit wissenschaftlichenBeiträgen, an der sich alle, die Interesse an dem Themahatten, beteiligen konnten. Über die laufende Diskussionhinaus wurden dort alle relevanten Themen dokumen-tiert, sodass wir darauf in der weiteren Diskussion zu-rückgreifen können.Aktuelle gesellschaftliche Themen aufzugreifen undnotwendige gesellschaftliche Diskurse anzuregen, ge-hört zu den im Ethikratgesetz verankerten Aufgaben desEthikrates. Die von der Bundesregierung in Auftrag ge-gebene Stellungnahme zu diesem Thema wird uns, wiegesagt, zu Beginn des kommenden Jahres vorliegen. Siewird eine Auseinandersetzung mit Fragen der Legitimi-tät medizinischer Eingriffe, der gesundheitlichen Fehl-versorgung, des Personenstandsrechts und der Möglich-keit eines finanziellen Ausgleichs für widerfahrenesLeid bieten müssen. Einige dieser Themen haben Sie jabereits in Ihrem Antrag genannt.Die Wahrheit ist: Intersexualität ist ein Thema, für dases vielleicht noch nicht in ausreichendem Maße Sensibi-lität und Verständnis gibt. Daher freut es mich umsomehr, dass wir auf der erwähnten Plattform eine Fülle
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Dr. Peter Tauber
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von Wortmeldungen registrieren konnten, die Anregun-gen und Impulse für die weitere Diskussion, auch für un-sere Diskussion gegeben haben. In dem allgemeinenProzess, der in dem Diskursverfahren des Ethikrats von-stattenging, stellten sich schnell drei Punkte heraus, überdie Konsens herrscht. Da sie unstrittig sind, sollte mansie an dieser Stelle durchaus erwähnen. Natürlich habenintersexuelle Menschen das Menschenrecht auf Nicht-diskriminierung. Natürlich haben sie das Recht auf kör-perliche Unversehrtheit und Gesundheit. Und sie haben– das ist ganz wichtig – ein Selbstbestimmungsrecht, dasüber dem Elternrecht steht. Sie haben das Recht, zu ent-scheiden, wer und wie sie sein möchten. Diese Entschei-dung darf ihnen von niemandem genommen werden,nicht von ihren Eltern und auch nicht von der Politik.Diese Menschen müssen ihr ganzes Leben mit denEntscheidungen, die sie treffen, leben. Das gilt insbeson-dere für diejenigen, die in einem Körper leben, der ohnegesundheitliche Relevanz und aus einem vermeintlichästhetischen Ideal heraus im frühen Kindesalter operativverändert wurde. Deswegen, glaube ich, müssen wir auf-passen, dass wir keine pauschalen Regelungen aus demBoden stampfen, dass wir diese Menschen nicht wiederin Kategorien zwängen und ihnen nicht wieder eine Son-derrolle abseits einer wie auch immer gearteten Normzuweisen. Im Idealfall akzeptieren wir diese Menschenso, wie sie sind, als Teil unserer Gesellschaft, räumen ih-nen keine Sonderrolle ein, sondern geben ihnen dieMöglichkeit der Wahrnehmung der gleichen unveräußer-lichen Rechte wie jedem anderen Menschen in unseremLand auch.Wir sehen der Stellungnahme des Ethikrats mit gro-ßem Interesse entgegen. Ich gehe davon aus, dass sie ge-eignet sein wird, viele Fragen zu klären und ein sicheresFundament für etwaige politische Entscheidungen zu ge-ben. So werden das Interesse und die Rechte der Betrof-fenen gewahrt und so weit wie möglich unterstützendesstaatliches und gesellschaftliches Handeln initiiert.Es ist ganz gut, dass wir diese Debatte heute begon-nen haben. Ich hoffe, dass wir den sachlichen Ton, deruns bei anderen Themen vielleicht manchmal fehlt, beidiesem Thema fortführen können; denn, um mit denWorten von Frau Veith, der Vorsitzenden des Vereins In-tersexuelle Menschen e. V., zu sprechen:Es gilt, das Tabu um das Leben intersexueller Men-schen zu beseitigen, eine gesellschaftliche Akzep-tanz zu schaffen und die Rechte aller, auch inter-sexueller Menschen zu wahren. IntersexuelleMenschen … sind, was sie sind: Menschen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Christel Humme für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!Was wir nicht verstehen können, das darf nicht sein. – Ichglaube, das ist das Motto, nach dem bisher im Umgangmit intersexuellen Menschen verfahren wurde. DiesenEindruck gewinnt man eindeutig.Wir haben schon gehört, um welche Menschen esgeht: Es geht um Menschen, die nicht in unser vor-herrschendes Klassifizierungssystem „männlich“ oder„weiblich“ passen. Mit dieser Zuordnung beginnt fürdiese Menschen gleichzeitig ein langer Leidensweg. Ichglaube, es ist an der Zeit, zu sagen: Den dürfen wir nichtlänger dulden.Die Medizin spricht von einer Störung der Ge-schlechtsentwicklung und empfiehlt eine kosmetischeGenitaloperation – und das bereits im Säuglings- oderKleinkindalter. Viele intersexuelle Menschen, die in frü-hester Jugend diese Operation über sich ergehen lassenmussten, sehen sich zu Recht als Opfer von Verstümme-lung. Sie sind ihr Leben lang schwer traumatisiert.Ärzte maßen sich an, stellvertretend für die Betroffe-nen eine nicht korrigierbare Entscheidung zu treffen. Sieund die Eltern befinden darüber, ob ein Kind künftig einJunge oder ein Mädchen zu sein hat – und das, obwohlsie wissen, dass sich zu diesem Zeitpunkt die sexuelleIdentität noch gar nicht ausgebildet hat.Herr Tauber hat schon gesagt, dass es sich nicht umEinzelfälle handelt – leider –, sondern dass in der Bun-desrepublik jährlich bis zu 340 intersexuelle Menschengeboren werden und wir bis heute von insgesamt 10 000ausgehen müssen. Da es immer eine Dunkelziffer gibt,lässt sich vermuten, dass es wahrscheinlich noch vielmehr Menschen sind.Was ist zu tun? Sie haben viel Gutes in dem Antragder Grünen aufgeschrieben, Frau Lazar. Ich möchte nocheinmal drei Punkte hervorheben:Erstens. Es ist vollkommen richtig, zu sagen, dass wirÄnderungen im deutschen Personenstandsrecht brau-chen. Man muss sich das einmal vorstellen: Neugebo-rene – das wissen Sie vielleicht – müssen in Deutschlandinnerhalb einer Woche angemeldet werden. Es wird eineGeburtsurkunde erstellt, die den Namen des Kindes undseiner Eltern und das Geschlecht enthält. Damit beginnteigentlich schon der Leidensweg der Betroffenen; dennnach unserem deutschen Recht kann man entweder„männlich“ oder „weiblich“ eintragen. Damit geratenEltern unter unnötigen und sogar gefährlichen Zug-zwang; denn sie werden gedrängt, eine Entscheidung zufällen, die die gesamte Zukunft ihres Kindes nachhaltigbeeinflusst.Sollte es nicht eine weitere Kategorie, nämlich „inter-sexuell“, geben? Was spricht dagegen, das entspre-chende Feld im Ausweis unter Umständen bis zur Puber-tät oder vielleicht sogar, was ich begrüßen würde, bis zurVolljährigkeit einfach freizulassen? Australien zum Bei-spiel hat ganz aktuell eine Lösung gefunden. Vielleichtsollten wir uns das etwas näher ansehen. Ich weiß: Man-che befürchten, dass, wenn so etwas im Ausweis steht,Kinder und Jugendliche Diskriminierung erfahren. Aber
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Christel Humme
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genau an diesem Punkt entlarven wir uns. Denn es fehltan umfangreicher Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit:für die Betroffenen, ihre Angehörigen und letztlich füruns alle.Ich glaube, wir sollten auch noch einmal darübernachdenken, ob die Stelle, die auch für Diskriminierungwegen der sexuellen Identität zuständig ist, nämlich dieAntidiskriminierungsstelle, in ihr noch aufzubauendesBeratungsnetzwerk auch diese Menschen einbezieht.Das fände ich gut,
sowohl mit Blick auf die Öffentlichkeitsarbeit als auchhinsichtlich der Hilfestellung. Kürzungen sind an dieserStelle der falsche Weg.Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, nun zum meinerAnsicht nach wichtigsten Punkt, dem Selbstbestim-mungsrecht der intersexuellen Menschen. Herr Tauberhat das schon sehr eindringlich betont. Wir dürfen dieDeutungshoheit – das ist meine Überzeugung – über dasPhänomen Intersexualität nicht länger der Medizin über-lassen; denn Intersexualität ist weder eine Krankheitnoch eine Störung. Eine Geschlechts-OP sollte künftignur dann durchgeführt werden dürfen, wenn die Opera-tionseinwilligung von den Betroffenen selbst gegebenwird.Die heutige Praxis wird nicht nur von Nichtregie-rungsorganisationen klar als Menschenrechtsverletzungbezeichnet. Auch der Gleichstellungsausschuss der Ver-einten Nationen, CEDAW, hat im Jahr 2009 Deutschlandgemahnt, internationale Menschenrechte auch bei inter-sexuellen Menschen zu garantieren. Auch die UN-Kin-derrechtskonvention, die vorhin bei den Kinderrechtenschon ein wichtiges Thema war, verpflichtet die Bundes-regierung dazu, die Rechte des Kindes als Individuum zuachten.
Wir als Gesetzgeber müssen dafür sorgen, dass endlichdie Betroffenen allein über ihre sexuelle Identität ent-scheiden dürfen – und darüber, ob sie eine ge-schlechtsangleichende OP in Anspruch nehmen möchtenoder nicht.Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit, dasRecht auf freie Persönlichkeitsentfaltung und sexuelleSelbstbestimmung müssen auch für intersexuelle Men-schen selbstverständlich sein.Frau Lazar, Sie haben viele gute Vorschläge gemacht.Herr Tauber, ich war begeistert davon, dass Sie in IhrerRede vieles unterstützt haben. Darum wäre ich dafür,dass wir nicht nur die Ergebnisse des Ethikrates abwar-ten, sondern uns zugleich selber bemühen, eine Anhö-rung mit den Gesundheitspolitikern, den Rechtspoliti-kern und den Innenpolitikern durchzuführen, um diesesdifferenzierte Problem zu erfassen und gemeinsam eineLösung für diese Menschen zu finden.Schönen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf dieSituation von intersexuellen Menschen bin ich erstmalsdurch eine Veranstaltung aufmerksam geworden, auf dersie sich vorgestellt haben und auf der ich mich mit Men-schen, die sich als intersexuell bezeichnen, gesprochenhabe. Das war für mich eine sehr eindrucksvolle Erfah-rung. Sie hat mich durchaus erschüttert, weil mir Men-schen gegenübersaßen, die eine Frau oder ein Mann zusein schienen, aber ein anderes Geschlecht hatten undsich auch damit auseinandersetzen mussten, dass sie alsKinder Operationen erlebt haben, die sie nicht verstan-den haben, über die sie keine Informationen hatten unddie sie ein Leben lang belasten, weil sie von Kindheit annicht mit ihrer Situation umzugehen gelernt haben.Das hat mir deutlich gemacht, dass wir, auch wenn essich nur um eine kleine Gruppe in unserer Bevölkerunghandelt, es hier mit grundlegenden Menschenrechtsfra-gen zu tun haben, insbesondere mit Fragen der Men-schenwürde. Ich denke, es ist sehr sinnvoll, dass wir unsmit diesem Thema nachdrücklich und nachdenklich aus-einandersetzen, es ernst nehmen und es nicht als partei-politische Fragestellung missverstehen. Dass das keinertut, davon bin ich überzeugt.Wir wissen mittlerweile, dass es Menschen gibt, dieeben nicht eindeutig als Mädchen oder Junge, als Mannoder Frau geboren werden. Wir wissen auch, dass das inder Vergangenheit über viele Jahre große Irritationenausgelöst hat. Noch bis in die 80er-Jahre des letztenJahrhunderts wurden uneindeutige genitale, chromo-somale und gonadische Geschlechtsmerkmale meistschon in frühester Kindheit chirurgisch „angepasst“, oderes wurde versucht, die Geschlechtsidentität hormonell zubeeinflussen. Auch heute gibt es noch solche Ansätze.Die Betroffenen können bzw. konnten sich im Kin-desalter nicht dagegen wehren und verstehen erst lang-sam, was ihnen widerfahren ist. Sie fordern, Intersexua-lität rechtlich und gesellschaftlich anzuerkennen. Dabeiberufen sie sich auch auf das Diskriminierungsverbot derUN und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Indiesem Zusammenhang ist fast alles gesellschaftlich,rechtlich und medizinisch umstritten. Nicht nur Zeit-punkt und Reichweite der Maßnahmen, sondern auch dierechtlichen Konsequenzen, die ein „drittes Geschlecht“haben könnte, sind bislang völlig ungeklärt.Der Deutsche Ethikrat ist daher vom Familienminis-terium zu einer Stellungnahme aufgefordert worden undhat unter anderem eine Onlinedebatte gestartet. Davonhaben wir schon gehört. Der Ethikrat näherte sich zuerstder Frage, ob es sich bei den einzelnen Formen von In-tersexualität um eine Störung oder um eine Variante der
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Sibylle Laurischk
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Geschlechtsentwicklung handelt. In diesem Zusammen-hang mussten viele Erfahrungen und Bedürfnisse vonBetroffenen bewertet und berücksichtigt werden. In ei-ner ersten Einschätzung der öffentlichen Anhörung vom8. Juni dieses Jahres hat der Deutsche Ethikrat verlaut-bart:Medizinische Eingriffe zur Geschlechtszuweisungbetreffen den Kern des Persönlichkeitsrechts jedesMenschen, seine Geschlechtsidentität, sexuelleEmpfindungsfähigkeit und seine Fortpflanzungsfä-higkeit. Hier findet das Elternrecht seine Grenzenund auch dies spricht dafür, mit solchen Eingriffenso lange wie möglich zu warten, damit die betroffe-nen Intersexuellen selbst entscheiden können.Die abschließende Darstellung des Ethikrats wird fürAnfang 2012 erwartet. Darauf sind wir alle sehr ge-spannt.Den Begriff der Intersexualität prägte 1915 der Gene-tiker Richard Goldschmidt. Er verwies damit auf ge-schlechtliche Erscheinungsformen, die er als Mischun-gen zwischen einem idealtypischen männlichen undweiblichen Phänotyp betrachtete. Obwohl das Phäno-men nunmehr fast 100 Jahre bekannt ist, stehen wir nochimmer ganz am Anfang der Debatte.Die häufig angenommene Theorie, man könne dasGeschlecht medizinisch festlegen, führt heute noch im-mer vor allem zu genitalangleichenden Operationen.Diese Eingriffe erfordern meist langfristige Nachbe-handlungen. Betroffene wissen oft nichts über den Hin-tergrund. Dies führt zu falschen medizinischen Folgebe-handlungen. So werden zum Beispiel die auf der Kranken-kassenkarte als weiblich gekennzeichneten Menschen,die aber im Kerngeschlecht xy-chromosomal sind, falschbehandelt.Zu den psychischen Schäden gehören starke Trauma-tisierungen durch die Operationen und ihre Folgen. Zu-dem sind die Reaktionen des auf eine angeblich mögli-che Geschlechtsfestlegung drängenden sozialen Umfeldesund die Tabuisierung der Intersexualität oft belastend.Betroffene kritisieren aus diesen Gründen zu Rechtdie Zwangsfestlegung – insbesondere im Kindesalter –und fordern, die Genitaloperationen erst dann durchzu-führen, wenn der intersexuelle Mensch die Operationaus eigenem Willen möchte und ihr zustimmen kann.Chirurgische Anpassungen im Kindesalter werden vonBetroffenen mit der unsäglichen Praxis der Beschnei-dung weiblicher Genitalien gleichgesetzt. Das ist eineAuffassung, für die ich viel Verständnis habe. Persönlichbin ich der Auffassung, dass niemand ohne Erlaubnisund ohne die durch das Lebensalter der Betroffenen an-zunehmende Einsicht das Recht hat, an den Genitalieneines Kindes oder Jugendlichen herumzuschneiden.
Neben diesen Geboten der Ethik wirft die bisherigePraxis erhebliche rechtliche Fragestellungen auf, denenwir uns stellen müssen. So kommen mittlerweile etlicheGutachten und Dissertationen zu dem Ergebnis, dass ge-schlechtszuweisende Operationen grundgesetzwidrig seinkönnten und umgehend verboten werden müssten.Es mag sein, dass Intersexualität den Zahlen nach nureine kleinere Gruppe der Gesellschaft betrifft. Die Größeeiner Gesellschaft beweist sich aber im Umgang mit ih-ren Minderheiten.
Das unglaubliche und unwürdige Vorgehen, welches die-ser Gruppe bisher widerfuhr, müssen wir thematisieren,und wir müssen eine Lösung herbeiführen, die einem de-mokratischen Rechtsstaat würdig ist und die die Würdeintersexueller Menschen schützt.
Den Redebeitrag der Kollegin Dr. Barbara Höll für
die Fraktion Die Linke nehmen wir zu Protokoll1).
Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Klimke für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich freue mich, dass ich hier als Menschenrechtspolitikerder Union zu den Grundrechten intersexueller MenschenStellung nehmen kann und darf. Denn das Recht der se-xuellen Selbstbestimmung betrifft nicht nur die sexuelleOrientierung, sondern auch die Geschlechtsidentität unddamit auch die Intersexualität. Deshalb ist es auch Auf-gabe von uns Menschenrechtspolitikern, an der Umset-zung dieses Grundrechtes in adäquate Gesetzgebungmitzuwirken.Das Thema intersexuelle Menschen und der Gedanke,dass hier noch mehr vorhanden ist als die beiden Ge-schlechter „männlich“ und „weiblich“, ist jenseits vonBetroffenen und einigen Experten weitgehend neu. Wasuns nicht persönlich trifft, sollten wir jedoch nicht igno-rieren. Vielmehr sind wir Politiker in diesem Zusam-menhang zum Handeln aufgerufen.Eines muss gleich am Anfang angemerkt werden: Daslange vorherrschende Denken, dass die Festlegung aufein Geschlecht für die weitere Entwicklung von Interse-xuellen die einzige Lösung sei, ist der falsche Weg, obwir uns das nun vorstellen können oder auch nicht. Inder Fachwelt zeichnet sich inzwischen ein Paradigmen-wechsel ab. Die breite Öffentlichkeit ist jedoch jenseitsvon Klischees noch nicht genügend über das Thema auf-geklärt und auch noch nicht genügend sensibilisiert. Dasgilt teilweise auch für das Fachpersonal im Gesundheits-wesen, für Ärzte, Psychotherapeuten oder eben auchHebammen.Während Homosexualität heute in vielen Bereichenin der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und voneinem überwiegenden Teil der Menschen akzeptiert1) Anlage 2
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Jürgen Klimke
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wird, kann man das von der Intersexualität nicht behaup-ten. Homosexuelle Menschen und ihre Familien könnensich in einer Vielzahl von Beratungsstellen Unterstüt-zung für den Umgang mit ihrer Situation einholen. Zu-dem sind wir gerade in den letzten Jahren mit der politi-schen Gleichberechtigung der Homosexuellen vorange-kommen.Das können wir über intersexuelle Menschen nichtsagen. An wen sollen sich Eltern wenden, wenn sie dasGeschlecht ihres Kindes nicht eindeutig zuordnen kön-nen? Ist in einem solchen Fall die Hebamme, der Gynä-kologe, der Kinderarzt oder der Psychotherapeut derrichtige Ansprechpartner? Wird dessen Rat wirklich inangemessener Weise den aktuellen wissenschaftlichenErkenntnissen gerecht? Ich glaube, man darf hier nochZweifel haben. Auch im Personenstandsrecht wird inter-sexuellen Menschen nicht genügend Rechnung getragen.Um wirklich zielführende Verbesserungen zu errei-chen, benötigen wir aber zuallererst fundierte wissen-schaftliche Informationen und ethische Bewertungen.Hier ist der Deutsche Ethikrat – es ist hier mehrfach an-gesprochen worden – die richtige Stelle.Richtig ist auch, dass der Deutsche Ethikrat aufgrundder großen Bedeutung und der Komplexität des Themasein Gutachten erarbeitet – es wurde eben angesprochen –,das in den nächsten Monaten die Bundesregierung errei-chen wird. Erste Veröffentlichungen bestärken mich inder Annahme, dass dieses Gutachten zu einer ausgewo-genen, einer neuen Betrachtungsweise führen wird undeinen Leitfaden auch für den weiteren politischen Um-gang mit diesem Thema bieten kann.Ich bitte deshalb die Grünen, zu überlegen, ob esnicht sinnvoll ist, den Antrag so lange zurückzustellen,bis der Bericht vorliegt und vielleicht von uns behandeltworden ist, damit wir auf Grundlage eines noch breiterenExpertenwissens debattieren und entscheiden können.
Das Expertengespräch des Deutschen Ethikrates vomJuni 2004 kann man auf der Website des Deutschen Ethik-rates nachlesen. Es offenbart vor allen Dingen die großeKomplexität des Themas.Ich möchte hier weder auf unterschiedliche Ursachennoch auf unterschiedliche Ausformungen der Intersexua-lität eingehen. Ein Hinweis sei mir jedoch gestattet: Esmuss immer der einzelne Mensch mit seiner Persönlich-keit und seinen psychischen Besonderheiten betrachtetwerden. Ein Pauschalschema für den Umgang mit derIntersexualität sollte es meiner Meinung nach künftignicht geben. Es geht um Individuen. Das betrifft ganzbesonders auch diejenigen Operationen, die die Genital-organe verändern.Lassen Sie mich auf einen Beitrag eingehen, den FrauProfessor Richter-Appelt vom Universitätsklinikum Ham-burg-Eppendorf bei dem Expertengespräch vorgetragenhat. Sie begann ihren Vortrag mit der Frage, wen manüberhaupt als Frau oder als Mann bezeichnen kann. Dieunterschiedliche Ausstattung mit Chromosomen, die un-terschiedliche Ausformung der Geschlechtsmerkmalesowie die selbstempfundene Zuordnung sind hier zu be-rücksichtigen. Allein dies zeigt, dass es nicht die Inter-sexualität gibt, sondern eine Vielzahl verschiedener For-men.Während früher bei Intersexualität die Zuweisung zueinem der beiden Geschlechter – verbunden mit Opera-tionen, Medikamenteneinnahme und eindeutig männli-cher oder weiblicher Erziehung – der Lösungsweg oderder vermeintliche Lösungsweg war, wurde im Rahmeneines Hamburger Forschungsprojekts festgestellt, dassdiese Geschlechtskorrektur eigentlich nur selten das Zielindividueller Zufriedenheit erreicht hat. Ich zitiere FrauRichter-Appelt aus ihrem Vortrag: Die hohe psycho-soziale Belastung und das beeinträchtigte Körpererlebenmachen es deutlich, dass trotz medizinischer Behandlun-gen häufig kein psychophysisches Wohlbefinden ge-währleistet werden konnte.Wir benötigen also auch im medizinischen Bereichandere Ansätze, die der Vielfalt der Intersexualität stär-ker Rechnung tragen und die gegebenenfalls auch zu ei-ner stärkeren Beschäftigung der Psychotherapie mit die-sem Thema führen könnten. Um es zusammenzufassen:Wir brauchen mehr Forschung, mehr Sensibilität, mehrAufklärung und Beratung sowie eine andere Herange-hensweise bei geschlechtskorrigierenden Maßnahmen.Weiter benötigen wir eine Regelung, die intersexuellenMenschen in unserem binären Geschlechtskonzept bes-ser gerecht wird.Der Ethikrat arbeitet zurzeit an all diesen Punkten. Erwird sicher zu einem Ergebnis kommen, das die Bundes-regierung in politisches Handeln umsetzen kann. Vordiesem Hintergrund glaube ich, dass wir das Ende dieserArbeit noch abwarten sollten. Sosehr ich nachvollziehenkann, dass aus Sicht der Grünen hier Handlungsbedarfbesteht, so sehr glaube ich doch, dass wir jetzt nicht mitSchnellschüssen Anträge beschließen, sondern dazu bei-tragen sollten, gerade diesen Bereich sehr eingehend, sehrintensiv und sehr individuell zu beraten.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Angelika Graf für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Klimke, ich glaube, das ist kein Schnellschuss, dendie Grünen mit diesem Antrag versuchen, sondern es istder Versuch, dieses Thema in den Deutschen Bundestaghineinzutragen und uns alle damit zu beschäftigen. Ichgratuliere den Grünen ausdrücklich dazu, dass das ge-lungen ist; denn alle Rednerinnen und Redner haben sicham heutigen Abend hinter diesen Antrag und seine Not-wendigkeit gestellt. Ich finde, es ist ausgesprochen wich-tig, dass wir hier über die Grundrechte intersexuellerMenschen sprechen.
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Angelika Graf
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In dem vorliegenden Antrag werden Vorschläge zur Ver-besserung der Situation intersexueller Menschen ge-macht. Auch aus menschenrechtlicher Sicht befürworteich ihn ausdrücklich.Wir wissen sehr wenig über die Situation intersexuel-ler Menschen. Es gibt nur diffuse Schätzungen über dieZahlen. Es werden jährlich zwischen 150 und 340 inter-sexuelle Kinder geboren. Auf der anderen Seite schätztdie Bundesregierung die Zahl der intersexuellen Men-schen zwischen 8 000 und 10 000. Wenn man ein biss-chen nachrechnet, stellt man fest, dass es mehr seinmüssten. Dabei handelt es sich nur um eine Schätzung.Das macht deutlich, wie wenig wir darüber wissen. Nicht-regierungsorganisationen wie Zwischengeschlecht.orgoder die Selbsthilfegruppen gehen von weit höherenZahlen aus. Ich denke, sie haben recht. Dazu kommtnoch, dass die Intersexualität aufgrund ihrer verschiede-nen Ausprägungen manchmal erst in der Pubertät er-kannt wird.Deswegen ist es ein Anachronismus, wenn Kleinkin-der auch heute noch an ihren nicht eindeutigen Genita-lien operiert werden, damit sie sozial und rechtlich ei-nem eindeutigen Geschlecht zugeordnet werden können.Studien haben ergeben, dass die Behandlungsunzufrie-denheit von operierten Intersexuellen sehr hoch ist. Dasbesagt die Hamburger Studie auf der einen Seite undauch das „Netzwerk DSD/Intersexualität“ auf der ande-ren Seite. Mehr als ein Viertel der operierten Menschenerleiden medizinische Komplikationen, die häufig Nach-operationen nötig machen. Die ständig notwendigen Me-dikationen sind ein weiteres Problem. Aber nicht nurdas: Viele Menschen können sich im Laufe des Erwach-senwerdens nicht mit ihrem durch die Entscheidung an-derer – der Eltern und der Ärzte – sozial und biologischzugeordneten Geschlecht identifizieren. Später versu-chen sie, es noch einmal auf aufwendige Weise zu wech-seln. Das ist eine furchtbare Situation.Die Psyche leidet darunter erheblich. 47 Prozent derBefragten haben angegeben, Suizidgedanken zu haben.Die Traumatisierung durch die Operationen im Kindes-alter belastet oft sehr stark die Eltern-Kind-Bindung.Viele berichten davon, dass sie sich wegen dieser Be-handlung, die im Kindesalter erfolgt ist, nicht verliebenkönnen und keine sexuellen Interessen haben. Das hatnichts mit der Intersexualität zu tun, sondern das hat mitder so früh erfolgten Operation zu tun. Deswegen müs-sen wir uns damit beschäftigen.Ich verstehe, dass es in unserer Gesellschaft für Elternund das soziale Umfeld sehr schwierig ist, solchen Kin-dern den Freiraum zur Selbstentdeckung bezüglich ihrergeschlechtlichen Identitätsfindung zu ermöglichen; denndie Familie, die Freunde und die Behörden fragen: Ist esein Mädchen oder ein Bub? Das ist eine eindeutigeFrage, die man in dem Fall aber nicht eindeutig beant-worten kann.Wie können Eltern, ohne dass die Gesellschaft offenerfür solche Themen wird, unter diesem Zuordnungsdruckihr Kind so erziehen, dass es später eine eigene Entschei-dung frei treffen kann? Wie ist es für ein Kind, eine sol-che Belastung mit sich herumzutragen? Das sind Fragen,über die man sich Gedanken machen muss. Wie entwi-ckeln sich Kinder, die ihrem Umfeld sagen müssen: „Ichweiß noch nicht, was ich einmal werde, ich bin noch inder Entwicklung“?Wenn das Kind nach der Pubertät eine eindeutige so-ziale Geschlechtsidentität gefunden hat, dann stellt sichdie Frage nach eventuell vorhandenen medizinischenMöglichkeiten der Geschlechtsangleichung, die aufwen-dig und schmerzhaft ist, aber nur, wenn der erwachseneBetroffene das auch wirklich will. Vielleicht will sichein intersexueller Mensch im Erwachsenenalter gar nichtfestlegen. Wir können das wirklich nicht wissen. Diesevielen Fragen und die nicht vorhandenen Antworten zei-gen, dass unsere Gesellschaft noch nicht darauf einge-stellt ist. Wir als Gesellschaft müssen massiv daran ar-beiten, Antworten zu finden.Was ist zu tun? Erstens. Rechtlich müssten wir dafürsorgen, dass Operationen nur dann vorgenommen wer-den, wenn sie medizinisch notwendig sind. Selbsthilfe-gruppen fordern deshalb, dass Intersexualität nicht mehrals Krankheit oder Defekt eingestuft wird. Zweitens. Wirmüssen den behördlichen Entscheidungsdruck auf eineeindeutige Geschlechtszuordnung aufheben. Drittens.Wir müssen endlich mehr über intersexuelles Leben er-fahren, das heißt: mehr interdisziplinäre Beratung undHilfen für Betroffene, Eltern und das soziale Umfeld.Wir müssen in diesem Bereich mehr forschen. Vielleichtgelingt es ja auch, die sexuelle Identität im Grundgesetzaufzunehmen, damit Diskriminierung verhindert wer-den kann.
Ich denke, das wäre ein erster Schritt in die richtigeRichtung.Vielen herzlichen Dank.
Wir sind uns offensichtlich einig, dass wir erst am
Anfang der Debatte über dieses Thema stehen. Deshalb
sage ich ganz ausdrücklich: Ich schließe die Aussprache
für den heutigen Tag.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/5528 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 25. November 2011,
8.30 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.