Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: OECD-Studie 2002 „Bildungauf ein Blick“.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat die Bundesministerin für Bildung und Forschung,Edelgard Bulmahn.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Sehr geehrte Herren und Damen! Der OECD-Bil-dungsbericht wird in regelmäßigen Abständen herausge-geben. Dieser Bericht weist darauf hin – das ist, denke ich,gerade für Bildungs- und Forschungspolitiker, aber auchfür Politiker generell ein ganz entscheidender Gesichts-punkt –, dass es einen sehr engen Zusammenhang zwi-schen Bildungsstand, Bildungsanstrengungen der Länderund den wirtschaftlichen Wachstumschancen von Volks-wirtschaften gibt. Ferner weist er darauf hin, dass es einenebenfalls sehr engen Zusammenhang zwischen individu-ellen Lebenschancen und Bildungschancen gibt.Der OECD-Bericht unterstreicht, dass Deutschlandinsgesamt einen sehr hohen Bildungsstand hat. Die Stärkedes deutschen Bildungssystems zeigt sich darin, dass einhoher Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alterüber einen Schulabschluss des Sekundarbereichs II ver-fügt. Mit einer Abschlussquote von 91 Prozent, bezogenauf die Bevölkerung im typischen Abschlussalter, nimmtDeutschland hier hinter Ungarn und Japan einen heraus-gehobenen Platz ein.Der OECD-Bericht unterstreicht außerdem, dass es zueiner sehr positiven Entwicklung im Bereich der Hoch-schulausbildung gekommen ist. Hier zeigt sich, dass dieAnstrengungen der Bundesregierung Erfolge zeitigen.Wir haben in den vergangenen vier Jahren eine deutlicheSteigerung der Zahl derjenigen Jugendlichen erreichenkönnen, die sich für ein Studium entscheiden. Die Studie-rendenquote ist in den letzten vier Jahren um mehr als4 Prozent gestiegen. Dazu haben ganz wesentlich sowohldie Reform des BAföG als auch die Einführung der ge-stuften Studiengänge von Bachelor und Master beigetra-gen. Die Studie weist darauf hin, dass der Weg, den wirhier beschritten haben, und die diesbezüglichen Anstren-gungen fortgesetzt werden sollten.Die Studie zeigt ebenfalls auf, dass wir nach wie vor ei-nen sehr hohen Stand bei der beruflichen Bildung haben,dass die Modernisierungsanstrengungen, die wir in die-sem Bereich unternommen haben, richtig und notwendigwaren und dass auch dieser erfolgreiche Weg der berufli-chen Ausbildung fortgesetzt werden sollte.Es gibt einen Punkt, bei dem wir noch Verbesserungenerreichen müssen: Das ist die Durchlässigkeit zwischenden verschiedenen Bildungswegen, also zwischen der be-ruflichen Bildung und der Hochschulausbildung. Deshalbist es richtig, dass wir hier vermehrt Anstrengungen un-ternehmen. Dies liegt allerdings in der Hand der Länder.Sie könnten durch erleichterte Aufnahmeregelungen undBestimmungen für Personen aus der beruflichen Bildungden Zugang zur Hochschule einfacher machen.Die Studie weist auf die bekannten Probleme in derSchulpolitik hin. Es zeigt sich, dass es richtig war, dass dieBundesregierung in dieser Frage die notwendigen Konse-quenzen gezogen hat, um die schulische Bildung eben-falls deutlich zu verbessern. Die PISA-Studie hat ja klaraufgezeigt, dass wir erhebliche Schwächen im Schul-system haben. Das Leistungsniveau der deutschen Schü-lerinnen und Schüler, auch in der Spitzengruppe, ist nichtso hoch; es ist vielmehr deutlich geringer und niedriger alsin vergleichbaren Industriestaaten. Es ist vor allen Dingenein sehr enger Zusammenhang zwischen sozialer Her-kunft und Bildungschancen zu konstatieren. Man kann esauch anders formulieren – so formuliere ich es immer –,nämlich dass wir ein sehr ungerechtes Bildungssystemhaben.Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung hierKonsequenzen gezogen hat. Wir werden unseren Beitragleisten, um den Bildungsstandard insgesamt, bei allenKindern und Jugendlichen in Deutschland zu verbessern.
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Bundesministerin Edelgard BulmahnGanztagsschulen können dazu erheblich beitragen, weilsie es ermöglichen, dass Kinder besser individuell geför-dert werden. Eine der ganz wichtigen Zielsetzungen un-seres Ganztagsschulprogramms ist, den Raum, die Zeitund die Möglichkeit für eine bessere individuelle Förde-rung zu geben. Genau das – darauf weist die OECD-Stu-die ausdrücklich hin – ist entscheidend für die Verbesse-rung der Qualität unseres Bildungssystems.Ein weiterer Punkt. Die Bundesregierung hat gefor-dert, dass wir bundesweite nationale Bildungsstandardserarbeiten. Die Formulierung eines solchen Ziels ist rich-tig; auch das zeigt die OECD-Studie auf. Es wird mehr-fach darauf hingewiesen, dass es in den Ländern, die inder Bildung erfolgreich sind, üblich ist, dass solche natio-nalen Bildungsstandards vorhanden sind. Ich bitte darum,dies nicht mit Zentralismus, mit zentralen Lehrplänenoder Rahmenrichtlinien zu verwechseln. Einige machendas immer wieder. Ein solcher Ansatz ist aber das Gegen-teil einer aufgeklärten Bildungspolitik. Das Setzen vonStandards bedeutet vielmehr, dass Kompetenzen prägnantbeschrieben werden und dass die Schulen die Selbststän-digkeit erhalten, die sie benötigen, um den Weg festzule-gen, wie sie sicherstellen wollen, dass jede Schülerin undjeder Schüler vergleichbare Kompetenzen erlangen kann.Die Studie unterstreicht auch, wie wichtig es ist, dassBildungsleistungen regelmäßig evaluiert werden. Des-halb ist es richtig, dass die Bundesregierung gesagt hat,sie werde ihren Beitrag dazu leisten, dass eine nationaleEvaluierungsagentur eingerichtet wird, die regelmäßigden Stand von Bildung überprüft und ihn offen legt, damitwir frühzeitig auf Schwächen und Stärken unseres Bil-dungssystems hingewiesen werden.Die OECD-Berichte unterstreichen darüber hinaus dieBedeutung einer kontinuierlichen Bildungsberichterstat-tung. Die Bundesregierung weiß um diese Bedeutung undsetzt den Beschluss des Deutschen Bundestages vomSommer dieses Jahres für eine kontinuierliche Bildungs-berichterstattung, die in Zukunft in zweijährigem Rhyth-mus stattfinden wird, auch um.Last not least: Wir werden im Rahmen der Zusammen-arbeit zwischen Bund und Ländern die Verbesserung derUnterrichtsqualität vorantreiben, und zwar besondersdort, wo es in Deutschland zentrale Schwächen gibt. Diesist etwa bei der Sprachkompetenz oder im naturwissen-schaftlich-mathematischen Unterricht der Fall wie auchvor allen Dingen bei der Förderung von Kindern undJugendlichen aus so genannten benachteiligten Familien,die also, aus welchen Gründen auch immer, familiäreSchwierigkeiten haben. Das sind die Hauptfelder, auf diewir uns in der Bund-Länder-Kommission verständigt ha-ben und auf denen wir ein gemeinsames Programm für dieVerbesserung des Unterrichts umsetzen werden.Der Bericht unterstreicht, um das kurz zu sagen, aus-drücklich, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Er weistauch darauf hin – diesen Punkt will ich hier thematisieren –,dass zwar die Anstrengungen im Bereich Bildung geradein den letzten Jahren verstärkt worden sind, dass aber dieöffentlichen Bildungsausgaben in Deutschland im Ver-gleich mit anderen Ländern wie zum Beispiel den skandi-navischen Ländern, aber auch den Ländern Korea,Kanada oder den Vereinigten Staaten noch immer nicht indem gleichen Maße gestiegen sind. Ich will darauf hin-weisen, dass die Bundesregierung hier in den vergange-nen vier Jahren ihre Anstrengungen erheblich verstärkthat. Nachdem wir vor 1998 einen Stillstand, ja sogar Kür-zungen im Bildungs- und Forschungshaushalt auf Bun-desebene erleben mussten, haben wir die Bildungsausga-ben in den vergangenen Jahren erhöht. Mit dem Haushaltfür das Jahr 2003 sind das fast 30 Prozent, konkret 28 Pro-zent. Die Bundesregierung wird an diesem Kurs festhal-ten. Der Bericht der OECD unterstreicht mit sehr großemNachdruck, dass dieser Kurs und die Entscheidungenrichtig sind. Aber auch andere Politikebenen müssen dieseAnstrengungen unterstützen; denn Bildungspolitik isteine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Bundesregie-rung wird jetzt wie auch in Zukunft ihrer Verantwortunggerecht.
Ich bitte, zunächst Fragen zu dem Themenbereich zu
stellen, über den soeben berichtet wurde. – Das Wort hat
die Kollegin Katherina Reiche.
Frau Ministerin, Krippen und Kindergärten sollen aus-gebaut werden. Dies soll mit den Ersparnissen beim Ar-beitslosengeld bezahlt werden. So lauten die Pläne. DieFinanzierung ist auf Sand gebaut, weil vorerst niemandweiß, ob und in welcher Höhe diese Einspareffektetatsächlich zu erzielen sind.Deshalb frage ich: Kann die Bundesregierung konkretbeziffern, welche Beiträge wann durch die Einsparungenbeim Arbeitslosengeld zur Verfügung stehen werden undin welcher Höhe die Länder diese für den Ausbau vonKinderkrippen- und Kindergartenplätzen gegebenenfallszur Verfügung stellen werden? Gibt es bereits konkreteGespräche oder Verhandlungen mit den Ländern?Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Auf Punkt und Komma genau kann die Bundesregie-rung die Summe noch nicht beziffern. Wir gehen nach un-seren Schätzungen davon aus, dass ein Finanzvolumenvon ungefähr 1,5 Milliarden Euro mobilisiert werdenkann. Dieses soll von den Ländern, den Gemeinden undden Städten genau hierfür eingesetzt werden. Aber wie ge-sagt: Auf Punkt und Komma genau können wir es nochnicht sagen.Ich will noch auf einen anderen Gesichtspunkt, der indiesem Zusammenhang eine ganz wichtige Rolle spielt,hinweisen: Die Bundesregierung wird einen Bildungsgip-fel durchführen, auf dem die Zusammenarbeit zwischenKindergärten und Grundschulen thematisiert und Bil-dungsziele für Kindergärten entwickelt werden sollen.Die erfolgreichen Bildungssysteme zeichnen sich näm-lich durch eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen Kin-dergärten und Grundschulen aus. Deshalb habe ich immerdarauf hingewiesen, dass Kindergärten einen Bildungs-auftrag haben, den sie wahrnehmen müssen, und dass siemit den Grundschulen sehr eng kooperieren müssen.
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Das Beispiel Finnland zeigt uns, wie auf diesem Gebieterfolgreich gearbeitet werden kann. Dort erarbeiten dieKindergärten gemeinsam mit den Grundschulen zum Bei-spiel Schul- bzw. Kindergartenprogramme für das letzteKindergarten- und das erste Grundschuljahr. Das ist einganz wichtiger Schritt, um die Qualität der Bildung ge-rade in den ersten Lebensjahren voranzutreiben.Ich komme zu einem zweiten wichtigen Schritt: Ichhabe immer darauf hingewiesen, dass unser Ganztags-schulprogramm vor allen Dingen im Bereich der Grund-schule und im Bereich der Sekundarstufe I eingesetzt wer-den soll, weil es insbesondere hier Mängel und Defizitegibt. Damit soll insbesondere für die Kinder in dem ent-sprechenden Alter eine bessere individuelle Förderunggewährleistet werden.Last not least will ich darauf hinweisen, dass ich die1,5 Milliarden Euro, die ich eben beziffert habe, nicht imZusammenhang mit dem Arbeitslosengeld, sondern imZusammenhang mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes,das weitaus umfänglicher ist, genannt habe. Deshalb bitteich, dies auch so zu zitieren. Es bezieht sich auf die Um-setzung des gesamten Hartz-Konzeptes.
Eine kurze Nachfrage der Kollegin Reiche.
Ich hätte ganz gern noch etwas über den Verhand-
lungsstand gewusst. In welchem Verhandlungsstand mit
den Ländern befinden Sie sich? Das war auch ein Teil
meiner Frage.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Die Bundesregierung hat die Umsetzung des Hartz-
Konzeptes vorbereitet. In Kürze werden wir die Vor-
schläge der Bundesregierung hier im Deutschen Bundes-
tag beraten. Dann werden auch die Verhandlungen mit
den Ländern aufgenommen werden.
Als Nächster hat sich der Kollege Uwe Schummer ge-
meldet.
Frau Ministerin, schon in der PISA-Studie wurde die
duale Ausbildung in Deutschland als vorbildlich gelobt.
Nach den Berechnungen der Bundesanstalt für Arbeit sind
im letzten Jahr etwa 100 000 Schulabgänger ohne eine be-
rufliche Ausbildungsstelle geblieben; in diesem Jahr wer-
den es wahrscheinlich 125 000 sein.
Worauf führen Sie diesen massiven Anstieg der nicht
mit einer beruflichen Ausbildungsstelle versorgten Schul-
abgänger zurück? Was gedenkt die Bundesregierung zu
tun, um die Ausbildungsmotivation und -fähigkeit in den
Betrieben zu stärken?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Offiziell endet das Ausbildungsjahr mit dem 31. Au-
gust. Wir haben aber die Ausbildungsanstrengungen im
letzten und auch schon im vorletzten Jahr auch nach dem
31. August fortgesetzt. Dadurch ist es gelungen, zu einer
ausgeglichenen Ausbildungsbilanz zu kommen. Allen Ju-
gendlichen, die können und wollen, konnte ein Ausbil-
dungsplatz vermittelt werden. Das werden wir auch in
diesem Jahr fortsetzen. Wenn die Situation eintritt, dass
wir bis zum 31. August nicht ausreichend Ausbildungs-
plätze mobilisiert haben, dann setzen wir die Ausbil-
dungsanstrengungen fort.
Die duale Ausbildung beruht auf zwei Säulen. Auf der
einen Seite steht die Ausbildung in den Betrieben und den
Unternehmen. Auf der anderen Seite steht die Ausbildung
in den Berufsschulen. Diesen Weg werden wir fortsetzen.
Mir kommt es darauf an, dass wir den Zusammenhang
zwischen theoretischer und praktischer Ausbildung auf-
rechterhalten.
Erstens. Wir werden das duale System dadurch stärken,
dass wir die Modernisierung der Ausbildungsberufe fort-
setzen. Ich will nur darauf hinweisen, dass es uns durch
die gute Zusammenarbeit im Bündnis für Arbeit gelungen
ist, eine erhebliche Zahl von Berufen zu modernisieren
und neue Ausbildungsberufe zu schaffen, was im Übrigen
dazu geführt hat, dass viele zusätzliche Ausbildungsplätze
entstanden sind.
Zweitens. Wir werden die Berufsausbildung auch da-
durch stärken – das haben wir angekündigt –, dass wir die
Modellversuche, die wir in den letzten vier Jahren stark
vorangetrieben haben, weiterentwickeln und ausweiten.
Die berufliche Ausbildung soll in den Berufen, in denen
das von der Sache her notwendig ist, mit einer Fachhoch-
schulausbildung verknüpft werden. Beides soll parallel
laufen. Das ist gerade für sehr technikintensive Berufe ein
sehr erfolgreicher Weg, den wir beschritten haben und
weiter beschreiten werden.
Drittens. Wir werden auch unsere Modernisierungsan-
strengungen fortsetzen. Hier haben wir deutliche Erfolge
erzielt. Inzwischen dauert es weniger als ein Jahr, um Be-
rufe zu modernisieren bzw. neue Berufe zu schaffen.
Viertens – das ist mein letzter Punkt –: Jugendlichen,
die besondere Lernschwierigkeiten haben und eine Aus-
bildung, aus welchen Gründen auch immer, nicht ab-
schließen, wird die Möglichkeit gegeben, Ausbildungsab-
schnitte – wir nennen es Ausbildungsbausteine, weil es in
sich geschlossene Bausteine sein sollen – zertifizieren zu
lassen, sodass sie damit eine bessere Chance haben, in den
Arbeitsmarkt zu kommen und einen Job zu finden.
Herr Kollege Schummer, Sie haben sicherlich Ver-ständnis dafür, dass ich eine weitere Frage von Ihnen imBundesministerin Edelgard Bulmahn
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Vizepräsidentin Susanne KastnerAugenblick nicht zulassen kann. Viele Kolleginnen undKollegen wollen noch Fragen stellen und kämen ansons-ten nicht zum Zuge.Als Nächster hat der Kollege Jörg Tauss das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe das Gefühl, Kollegin Reiche, dass bei der Frage
der Betreuung von Kindern von null bis drei Jahren und
den Ganztagsschulen vielleicht ein Missverständnis vor-
lag. Aber das können wir möglicherweise bilateral klären,
weil ich nicht danach fragen möchte.
Frau Ministerin, die Initiativen der Bundesregierung
würdigend, möchte ich eine Nachfrage stellen. Nachdem
jetzt erfreulicherweise auch von der Kultusministerkonfe-
renz Hinweise zu der Entwicklung von Bildungsstandards
vorliegen und Sie verdienstvollerweise diese Debatte mit
den Ländern durch die Ankündigung befördert haben,
dass der Bund ebenfalls nationale Standards entwickelt,
interessiert mich, wie die Verzahnung der Entwicklung
der Standards zum gegenwärtigen Zeitpunkt aussieht und
wie die Bundesregierung möglicherweise die Arbeit der
Kultusministerkonferenz weiter ergänzen und fördern
will und kann.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Ich habe darauf hingewiesen, dass in den erfolgreichen
Bildungsnationen nationale Standards üblich sind. Dies
gilt auch für ein föderales Land wie Kanada. Das heißt, es
ist auch in einem föderalen politischen System möglich,
nationale Standards mit Erfolg zu verankern.
Zu der Frage, wie in Deutschland diese Standards ent-
wickelt, implementiert und evaluiert werden können, ha-
ben wir eine Expertise an den Leiter des Deutschen Insti-
tuts für Internationale Pädagogische Forschung, Herrn
Professor Klieme, vergeben. Die Ergebnisse dieser Studie
werden im Januar vorliegen und gemeinsam mit den Län-
dern ausgewertet. Bund und Länder sind über dieses
wichtige Thema miteinander intensiv im Gespräch und
werden dies auch bleiben.
Die nächste Frage kommt von der Kollegin Pieper.
Frau Ministerin, in der OECD-Studie wird die Effi-zienz der Bildungssysteme von 30 Mitgliedstaaten vergli-chen. Es ist nicht nur festgestellt worden, dass in Deutsch-land in der Tat große Defizite im Grundschulbereichbestehen, sondern in der OECD-Studie wird unter ande-rem auch deutlich, dass zu wenig Schüler in Deutschlanddie Hochschulreife erwerben. Im Vergleich mit demOECD-Durchschnitt, der bei 64 Prozent liegt, erwerben inDeutschland nur 37 Prozent eines Jahrgangs die Hoch-schulreife.Sie haben auch die Sekundarstufe II angesprochen. InDeutschland nehmen nur 30,2 Prozent der Jugendlichennach Abschluss der Sek II ein Studium auf. Im OECD-Durchschnitt sind es immerhin 44 Prozent. Ich weiseaußerdem darauf hin, dass in Deutschland nur 19 Prozenteines Altersjahrgangs einen entsprechenden Hochschul-abschluss erwerben. Im OECD-Durchschnitt hingegensind es 26 Prozent.Ich frage Sie daher, welche Schritte die Bundesregie-rung zu unternehmen beabsichtigt, um die Studierwillig-keit junger Menschen in Deutschland zu erhöhen. Ichdenke dabei insbesondere an die Einführung von Bachelor-und Masterstudiengängen, die eine deutliche Verringe-rung der Studienzeit und eine passgenauere Vorbereitungder Studierenden auf den späteren Beruf zulässt.Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Ich stimme Ihnen darin zu, dass die Einführung vonBachelor- und Masterstudiengängen ein wichtiger Schrittist, um die Studienbereitschaft zu erhöhen. Denn damitmüssen sich Jugendliche nicht von vornherein entschei-den, ob sie ein Studium mit einer längeren Studienzeitdurchführen bzw. ob sie eher einen wissenschaftlich ori-entierten oder einen berufsorientierten Studiengangwählen sollen, sondern sie verfügen über Entscheidungs-alternativen. Deshalb unterstützt die Bundesregierung dieEinführung dieser Studiengänge, und zwar nicht nur infinanzieller Hinsicht, sondern auch durch die im vergan-genen Jahr vorgenommene Novellierung des Hochschul-rahmengesetzes, mit der wir diese Studiengänge zu Re-gelstudiengängen gemacht haben.Wenn wir das Ziel verfolgen – dass es mein Ziel ist,habe ich auch im Namen der Bundesregierung immer wie-der formuliert –, 40 Prozent der Jugendlichen zu höchstenBildungsabschlüssen – ich unterscheide dabei nicht zwi-schen akademischer und beruflicher Bildung – zu führen,ist es sicherlich richtig, dass wir das gesamte Potenzial derBegabungen in unserem Land mobilisieren, fördern undunterstützen müssen. Damit müssen wir bei den Grund-schulen beginnen. Wenn wir die Grundschulen nicht aus-reichend fördern, wird die Zahl junger Menschen, die dieHochschulen erreichen, nicht ausreichen. Deshalb ist fürmich die Verbesserung der Bildungssituation in denGrundschulen ein wichtiges Anliegen.Aus diesem Grund hat die Bundesregierung die vonmir bereits genannten Maßnahmen vorgestellt, nämlichdie Schaffung eines flächendeckenden Angebots an Ganz-tagsschulen, die Verbesserung der Unterrichtsqualität, dieSchaffung und Entwicklung bundesweiter Bildungsstan-dards und die nationale Bildungsberichterstattung. Alldiese Schritte verfolgen das Ziel, die individuelle Förde-rung von Kindern zu verbessern. Das ist das A und O,wenn wir das Ziel erreichen wollen, 40 Prozent der Ju-gendlichen zu höchsten Bildungsabschlüssen zu führen.Ich möchte noch auf einen Punkt hinweisen. In derOECD-Studie wird nicht darauf eingegangen, dass wir im
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Bereich der beruflichen Bildung viele Berufsausbildun-gen haben, die durchaus zu einem sehr hohen Bildungs-niveau führen. Was aber notwendig und in Deutschlandnoch nicht in ausreichendem Maße erreicht worden ist, istdie Schaffung von Möglichkeiten für Jugendliche, bei-spielsweise im Anschluss an eine berufliche Ausbildungein Hochschulstudium aufzunehmen. Ich habe in der ver-gangenen Legislaturperiode erstmals mit den Sozialpart-nern einen Durchbruch für die informationstechnischenBerufe erreicht. Wir haben gemeinsam ein Weiter- undFortbildungssystem entwickelt, das mit einer anerkanntenZertifizierung und der Verleihung von Kreditpunkten, wiesie ebenfalls unserer Zielsetzung entspricht, ermöglicht,dass zum Beispiel eine berufliche Ausbildung als IT-Sys-teminformatiker in Zukunft bei der Aufnahme einesHochschulstudiums entsprechend gewichtet wird. Daswill ich auch für andere Bereiche und Branchen durchset-zen. Denn wir dürfen den Zugang zur Hochschule sozu-sagen nicht als Einbahnstraße, sondern müssen ihn alsmehrspurige Straße organisieren, sodass der Zugang überunterschiedliche Bildungswege gewährleistet wird.Sie werden mir sicherlich zugestehen, auf einen kleinenErfolg hinzuweisen. Wir haben durchaus schon einen spür-baren Erfolg erzielt. Wir haben es in den letzten vier Jah-ren geschafft, die Zahl der Studienanfänger erheblich zusteigern – von rund 28 Prozent auf jetzt 32,4 Prozent. DieEntscheidungen und die Reformen der Bundesregierunghaben wesentlich dazu beigetragen, dieses Ziel zu errei-chen. Wir werden auf diesem Weg auch noch weitergehen.Last but not least wollen wir auch durch den Pakt fürHochschulen, den ich den Ländern angeboten habe, si-cherstellen, dass die Zahl der Studienabbrecher deutlichverringert wird.
Denn die Tatsache, dass die Zahl der Studienabbrecher ineinigen Studienfächern doch extrem hoch ist, kann ausmeiner Sicht nicht einfach hingenommen werden. Ich willmit diesem Pakt für Hochschulen sicherstellen, dass wirdie Zahl der Studienabbrecher deutlich reduzieren. Wennuns das gelingt, werden wir nämlich auch die Zahl derStudienabschlüsse deutlich erhöhen können.
Frau Kollegin Pieper, ich weiß, dass Sie eine zweite
Frage stellen wollen. Ich glaube aber, es ist ein Gebot der
Fairness gegenüber den anderen Kolleginnen und Kolle-
gen, die sich noch gemeldet haben, dass Sie sich vielleicht
noch einmal melden, wenn noch Zeit vorhanden ist.
Als Nächste folgt die Kollegin Vera Dominke.
Frau Ministerin, Sie haben gerade und auch eingangs
schon auf die besonders positive Entwicklung im Hoch-
schulbereich hingewiesen. Tatsächlich war ja in den letz-
ten Jahren insbesondere ein Boom privat finanzierter Elite-
hochschulen zu verzeichnen. Nun haben Sie in Ihrer
Koalitionsvereinbarung angekündigt, dass Firmenspenden
für gemeinnützige und insbesondere auch wissenschaft-
liche Zwecke künftig nicht mehr absetzbar sein sollen.
Der Generalsekretär des Stifterverbandes für die deutsche
Wissenschaft, Herr Professor Erhardt, hat diese Entschei-
dung als Katastrophe für die Wissenschaft bezeichnet;
denn wir wissen alle, dass gerade Hochschulen und auch
Forschungsinstitute in besonderem Maße von der Förde-
rung durch die Wirtschaft abhängig sind.
Nun hat zwar der Herr Bundeskanzler verbal schon seinen
Rückzieher angekündigt, aber wir wissen ja alle nicht,
was nach den Wahlen in Niedersachsen und Hessen
tatsächlich in diesem Bereich auf uns zukommen wird.
Ich frage Sie deshalb: Wie will die Bundesregierung in
Zukunft das Engagement der zu Recht verschreckten
Wirtschaft in Bildung und Wissenschaft fördern? Wie
wollen Sie die Entwicklung von mehr Public Private Part-
nership fördern und anstoßen?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Liebe Kollegin, das Wort des Bundeskanzlers gilt.
Das kann ich ganz kurz beantworten. Deshalb wird die
Bundesregierung die Abzugsfähigkeit von Unterneh-
mensspenden an wissenschaftliche Einrichtungen und
Bildungseinrichtungen nicht streichen,
sondern die wird es weiterhin geben.
Ich weise darauf hin, dass wir im Augenblick Fragen
zu dem Themenbereich, der heute angemeldet ist, stellen.
Als Nächste bitte die Kollegin Grietje Bettin.
Frau Ministerin, können Sie mir schon etwas sagenzum Verteilungsschlüssel für die 4 Milliarden Euro, diejetzt zum Ausbau von Ganztagsschulen zur Verfügung ge-stellt werden sollen? Ist diese Verteilung auch an pädago-gische Konzepte geknüpft oder erfolgt die Vergabe dieserGelder nach einem bestimmten Schlüssel? Wie ist die Pla-nung bisher?Bundesministerin Edelgard Bulmahn
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Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Ich habe immer darauf hingewiesen, dass die Vertei-lung dieser Mittel daran geknüpft ist, dass erstens einpädagogisches Konzept vorliegt und zweitens dadurchauch ein zusätzliches Ganztagsangebot geschaffen wird.Das sind die beiden wichtigen Kriterien.Erstens. Die Umsetzung liegt in der Hand der Länder.Die Länder müssen und werden das pädagogische Kon-zept verantworten. Es ist völlig klar, dass eine Ganztags-schule natürlich ein pädagogisches Konzept erfordert unddass wir dieses auch fördern.Zweitens. Der Verteilungsschlüssel wird nach unseremVorschlag so aussehen, dass die Zahl der Schülerinnenund Schüler in der Grundschule und in der Sekundar-stufe I zugrunde gelegt werden sollte. Weil das der objek-tiv gerechteste Schlüssel ist, haben wir ihn zugrunde ge-legt. In unserem Angebot an die Länder wird auch dieserSchlüssel angeboten.
Nächste Fragestellerin ist die Kollegin Marion Seib.
Im Zusammenhang mit dieser OECD-Studie und als
einzige Reaktion auf PISA haben Sie – das haben Sie
heute wieder betont; gerade eben haben Sie der Kollegin,
die danach fragte, eine Antwort gegeben – das 4-Milliar-
den-Euro-Programm für die Ganztagsschulen angeboten.
Seit dem Haushaltsentwurf 2003 ist aber klar, dass mit
diesem Programm nur die Investitionen gefördert werden
sollen. Das heißt, die Länder und die Kommunen bleiben
auf den Sach- und den Personalkosten sitzen. Ich habe
deshalb die folgenden Fragen:
Erstens. Wann beabsichtigt die Bundesregierung, den
Ländern ein ganz konkretes – und zwar schriftliches – An-
gebot für die Ausstattung der Ganztagsschulen zu unter-
breiten?
Zweitens. Welche genauen Bedingungen sollen daran
geknüpft sein? Wir haben eben gehört, dass Sie von den
Ländern ein pädagogisches Konzept verlangen. Wer be-
urteilt dieses pädagogische Konzept?
Drittens. Wird der Schlüssel, den Sie eben auf die
Schülerzahl bezogen haben, tatsächlich eingehalten bzw.
welchen Einfluss hat das pädagogische Konzept noch auf
die Verteilung der Mittel, wenn Sie den Schlüssel nur auf
die Schülerzahl beziehen?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Liebe Kollegin, Sie selbst haben gerade unterstri-
chen, wie notwendig und wie wichtig es ist, dass das,
was man lernt, in unterschiedlichen Zusammenhängen
wiederholt wird.
Wir bieten nicht nur eine einzige Maßnahme an; viel-
mehr schlagen wir – ich betone das seit Frühjahr dieses
Jahres immer wieder; ich habe das auch hier, im Bundes-
tag, schon mehrfach geäußert – fünf Schritte vor.
Erstens. Wir stärken mit einem pädagogischen Kon-
zept die Ganztagsschule, um eine bessere individuelle
Förderung zu erreichen. Die Ganztagsschule muss zu ei-
ner wichtigen Säule im Schulsystem werden.
Zweitens. Dazu gehört die Entwicklung von bundes-
weiten, präzisen und prägnanten Bildungsstandards, da-
mit jeder weiß, wohin er muss und wohin er kommen soll.
Das ist nämlich immer und an jeder Stelle wichtig und
richtig. Das gilt sowohl für Schüler als auch für Lehrer als
auch für Eltern – für Politiker natürlich auch.
Drittens. Ich habe eine regelmäßige nationale Eva-
luierung unserer Bildungseinrichtungen vorgeschlagen.
Dabei denke ich auch an Bildungsvergleiche. Ich will
nämlich nicht, dass wir auf Dauer auf internationale
Untersuchungen angewiesen sind.
Viertens. Daher wollen wir eine nationale Bildungsbe-
richterstattung.
Fünftens. Ich habe den Ländern vorgeschlagen – das
haben wir bereits beschlossen –, ein gemeinsames Pro-
gramm zur Verbesserung des Unterrichts umzusetzen. Die
PISA-Studie weist nämlich darauf hin, dass wir genau an
diesem Punkt erhebliche Mängel und Schwächen haben.
Die Schwerpunkte dessen, was wir diesbezüglich vorha-
ben, habe ich bereits vorhin genannt.
Zu Ihrer Frage: Wir, die Bundesregierung, haben den
Ländern vorgeschlagen, dass wir 4 Milliarden Euro einset-
zen, um ein flächendeckendes Ganztagsschulangebot mit
der Zielsetzung der individuellen Förderung sicher-
zustellen. Wir fordern dafür ein pädagogisches Konzept
ein. Wie ich bereits vorhin ausgeführt habe, liegt es in der
Verantwortung der Länder, dieses pädagogische Konzept
zu überprüfen und sicherzustellen, dass es qualitativ gut ist.
Völlig klar ist aber: Wir wollen diese Mittel nicht dafür
einsetzen, dass allein ein warmes Mittagessen sicherge-
stellt ist; deshalb fordern wir ein pädagogisches Konzept
an. Die Länder müssen dieses Konzept verantworten, so
wie es auch in anderen Bereichen geregelt ist.
Die nächste Frage stellt der Kollege Ernst Dieter
Rossmann.
Frau Ministerin, Sie haben Ihre Ideen zur Verbesserungdes Unterrichts angesprochen. Ich möchte Sie nach dem
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Zusammenhang zwischen dem Handlungsfeld „Bund-Länder-Programme“ und dem Handlungsfeld „StiftungBildung und Erziehung“ fragen. Wo wollen Sie dort je-weils verschiedene Akzente setzen? Wie sollen die beidenHandlungsfelder zusammenfließen?Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Wir haben vor, eine „Stiftung Bildung und Erziehung“ins Leben zu rufen. An dieser Stiftung sollen sich unsererZielsetzung nach auch Private beteiligen können, weilBildung – ich habe es bereits am Anfang gesagt – einegesamtgesellschaftliche Aufgabe ist.Diese Stiftung sollte unseren Überlegungen nach zumBeispiel die Möglichkeit haben, gegenüber Schulen, diegern ein neues Unterrichtskonzept umsetzen möchten, fürdas sie eine finanzielle Unterstützung brauchen, als An-sprechpartner, aber auch als Förderer aufzutreten.Das ist sozusagen der Bottom-up-Weg, wie es so schönheißt. So haben die einzelnen Einrichtungen selber dieMöglichkeit, Finanzierungshilfen zu erhalten, wenn sieein überzeugendes Konzept haben, das zügig und schnellaufgegriffen, umgesetzt und erprobt werden kann. Esmuss ja auch die Möglichkeit vorhanden sein, hiermit Er-fahrungen zu sammeln.
Die nächste Frage bitte vom Kollegen Christoph
Bergner.
Frau Ministerin, Sie haben bei Ihren Ausführungen
einmal mehr darauf hingewiesen, dass Sie in der Ein-
führung von Ganztagsschulen einen Weg zur Überwin-
dung der Bildungsdefizite sehen, die die OECD-Studie
ausweist. Nun ist jedem, der sich einmal in der Schulpra-
xis mit der Umsetzung von Ganztagsschulkonzepten be-
schäftigt hat, bekannt, dass sich hinter dem Begriff Ganz-
tagsschule zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze
verbergen können.
Bei dem einen versteht man darunter eine Betreuungs-
einrichtung ergänzend zu einer üblichen Halbtagsschule;
die Schule nähme also unter ihrem Dach Betreuungsan-
gebote im Sinne des Kinder- und Jugendhilfegesetzes
wahr. Diese wären fakultativ, die Teilnahme wäre also in
keiner Weise obligatorisch.
Der andere Ansatz – auf den müssten Sie verweisen,
wenn Ihnen beispielsweise das finnische Modell vor-
schwebt – sieht eine ganztägige Betreuung im Sinne einer
Unterrichtsbetreuung vor. Das hätte zwangsläufig eine
Ausweitung der Schulpflicht zur Folge.
Ich bedauere etwas, dass Sie bei Ihren Verweisen auf
die Ganztagsschulen bisher in diesem, für mich entschei-
denden Punkte eine Präzisierung vermissen lassen. Des-
halb möchte ich Sie fragen, welcher der von mir genann-
ten Typen aus Ihrer Sicht eine Überwindung der
Bildungsdefizite in Deutschland verspricht.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Sie wissen, dass die Zuständigkeit für die Schulen bei
den Ländern liegt.
Wir machen aber in Form der fünf Punkte, die ich genannt
habe, den Ländern ein Angebot, um in einem gemeinsa-
men Kraftakt unser Bildungssystem zu verbessern. Das
halte ich auch für notwendig, weil wir erreichen müssen,
dass wir in zehn Jahren wieder zu den Nationen mit der
besten Bildung gehören. Das werden wir nicht in ein oder
zwei Jahren schaffen, aber innerhalb von zehn Jahren
müssen wir es schaffen. Das Ganztagsschulangebot ist bei
diesem Vorhaben eine wichtige Säule – neben den ande-
ren, die ich genannt habe. Dazu gehört sozusagen als
sechste Säule auch noch die Veränderung der Lehreraus-
bildung und die Lehrerfortbildung.
Die Ganztagsschule ist in Finnland so organisiert, dass
dort Personal mit unterschiedlichen Kompetenzen einbe-
zogen wird. Das auch in Deutschland so zu machen halte
ich für sinnvoll und richtig. Ich sage ausdrücklich: Eine
Ganztagsschule ist keine Schule im traditionellen Sinne,
wo die bisherigen 45-minütigen Unterrichtsstunden zum
Teil einfach bis in den Nachmittag verlängert werden.
Hier soll auch viel stärker projektorientiert gearbeitet
werden und den musischen Fächern wieder ein höherer
Stellenwert zukommen. Ich halte es beispielsweise für
richtig, dass ein Kind die Möglichkeit hat, in der Schule
ein Musikinstrument zu erlernen. Das ist im üblichen Un-
terrichtsstundenrahmen im Augenblick schwer unterzu-
bringen.
Mir ist es deshalb wichtig, deutlich zu machen, dass
eine Ganztagsschule eine Schule ist, in der Begabungen
und Fähigkeiten von Kindern besser gefördert werden.
Dafür brauchen wir Lehrerinnen und Lehrer, aber auch
Menschen mit anderen Kompetenzen und Fähigkeiten.
Diese Aufgabe, die ich für sehr wichtig halte, haben wir
gemeinsam mit den Ländern, Städten und Gemeinden zu
meistern, damit wir hier Fortschritte und Erfolge erzielen.
Da wir zu diesem Themenbereich nur noch einen Fra-
gesteller haben, kann ich jetzt eine weitere Frage von Ih-
nen zulassen.
Bitte schön, Herr Kollege Bergner.
Frau Ministerin, die für mich entscheidende Frage – estut mir Leid, das sagen zu müssen – ist nach wie vor nichtbeantwortet. Wenn die Ganztagsschule ein wirkungsvol-les Instrument zur Überwindung von Bildungsdefizitensein soll, dann kann man nicht der Frage ausweichen, wel-cher Typus von Ganztagsschule gemeint ist. Deshalbmöchte ich meine Frage gern noch einmal präzisieren:Meinen Sie, dass die flächendeckende Einführung derGanztagsschule mit einer Ausweitung der Schulpflichtverbunden sein muss, damit sie zur Überwindung der Bil-dungsdefizite beiträgt?Dr. Ernst Dieter Rossmann
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildungund Forschung:Ich habe vorhin gesagt, dass die Ganztagsschule alseine Angebotsschule organisiert werden soll. Das werdendie Länder sicherlich entsprechend umsetzen. Es soll alsokeinen Zwang geben, sondern ein Angebot, das von denFamilien genutzt werden kann. Ich bin davon überzeugt,dass viele das Angebot nutzen werden; denn diese Ganz-tagsschulen werden eine bessere individuelle Förderungder Kinder ermöglichen. Ich bin nicht der Auffassung,dass man das mit einer so starren Definition machen kann,wie das Ihre Frage nahe legt. Sie werden wissen, dass wirin Deutschland nicht einmal eine einheitliche Definitionfür Ganztagsschulen haben. Die KMK ist erst jetzt dabei,eine verbindliche einheitliche Definition zu erarbeiten.Wenn Sie erfolgreich organisierte Ganztagsschulen se-hen wollen, bitte ich Sie, einen Blick in die Ausarbeitungdes Forums Bildung zu werfen. Wir haben in den vergan-genen vier Jahren gemeinsam mit den Ländern, mit denSozialpartnern, mit Wissenschaftlern und mit in derSchule Tätigen herausragende Schulen identifiziert undvorgestellt. Jeder kann sich dort anschauen, wie ein guter,erfolgreicher Ganztagsschulbetrieb praktiziert wird undwas dort geleistet wird.Ich hoffe, dass alle die sich bietenden Möglichkeitennutzen. Wie gut eine Ganztagsschule arbeitet, hängtnatürlich auch sehr stark von den Lehrern ab, die dort tätigsind, und von den Eltern. Deshalb kommt es darauf an, siedafür zu gewinnen und davon zu überzeugen. Ich bin derAuffassung, dass ein solches Best-practice-Beispiel vielüberzeugender ist als abstrakte, blutleere theoretische De-finitionen. Darum sollte man darauf schauen.
Die letzte Frage in dieser Regierungsbefragung hat der
Kollege Hartwig Fischer.
Frau Ministerin, Sie haben eben erklärt, dass die Vo-
raussetzung für die Förderung Konzepte seien, die die
Länder Ihnen vorlegen. Vor diesem Hintergrund frage ich
Sie, ob bei den Konzepten auch die Unterrichtsversor-
gung eine Rolle spielt. In Niedersachsen zum Beispiel hat
sich die Schüler-Lehrer-Relation seit 1990 um 19 Prozent
verschlechtert
und gegenüber 1990 wird 12 Prozent weniger Unterricht
erteilt.
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Lieber Herr Kollege, erstens hat sich die Unterrichts-
versorgung in Niedersachsen in den letzten Jahren deut-
lich verbessert.
Ich weise nur darauf hin, dass Niedersachsen eines der
ersten Bundesländer ist, die die verlässliche Grundschule
eingerichtet haben,
wodurch die Eltern sicher wissen, dass ihr Kind nicht vor
13 Uhr womöglich vor der verschlossenen Haustür steht.
Die Sicherheit, die dadurch geschaffen worden ist, ist von
der Sache her notwendig.
Aber ich will zweitens noch einmal auf den anderen
Punkt eingehen. Wir fordern in unserem Vorschlag ein
pädagogisches Konzept. Die Länder sind diejenigen, die
das pädagogische Konzept überprüfen und es auch ver-
antworten müssen. Die Länder haben die Verantwortung
für die Schulpolitik. Deshalb sind sie es, die das pädago-
gische Konzept prüfen und qualitativ verantworten müs-
sen. Wir fordern den Ländern lediglich ab, dafür Sorge zu
tragen, dass ein solches pädagogisches Konzept vorliegt.
Eine kurze Zusatzfrage.
Wird die Unterrichtsversorgung in den einzelnen Bun-
desländern für Sie bei der Beurteilung des pädagogischen
Konzepts eine Rolle spielen?
Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung
und Forschung:
Die Länder beurteilen das pädagogische Konzept.
– Ich habe ja vorhin gesagt, dass die Länder das pädago-
gische Konzept der Schule prüfen und dass sie es auch
verantworten müssen. Ich gehe davon aus, dass die Frage
der Unterrichtsversorgung für die Länder ein wichtiger
Gesichtspunkt ist.
Vielen Dank, Frau Ministerin.Damit beende ich die Regierungsbefragung.Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:Fragestunde– Drucksache 15/20 –Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Aus-wärtigen Amtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatsmi-nister Hans Martin Bury zur Verfügung.Ich rufe Frage 1 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, frak-tionslos, auf:Welche konkreten diplomatischen Schritte – bilateral oder imRahmen der EU – plant die Bundesregierung angesichts der guten
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002 349
persönlichen Beziehungen des Bundeskanzlers Gerhard Schröderzum russischen Präsidenten Wladimir Putin, um die russische Re-gierung zu einer politischen Lösung des Tschetschenien-Konflik-tes zu bewegen?H
Frau Kollegin Lötzsch, die Bundesregierung drängt
– bilateral und gemeinsam mit ihren EU-Partnern – im
Dialog mit Russland seit Jahren darauf, eine politische
Lösung des Tschetschenien-Konflikts zu suchen. Die
Bundesregierung wird diese Politik auch bei künftigen
Begegnungen mit der russischen Seite auf allen Ebenen
fortsetzen.
Frau Kollegin, Ihre Zusatzfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Teilt die Bundes-
regierung meine Auffassung, dass eine politische Lösung
des Tschetschenien-Konflikts nur unter Berücksichtigung
der Ausgangslage des Jahres 1991, als Tschetschenien
verfassungsgemäß aus der Russischen Föderation ausge-
treten ist, erreichbar ist?
H
Frau Kollegin, es ist Sache der beteiligten Konfliktpar-
teien, in politischen Gesprächen miteinander eine Lösung
für die Zukunft Tschetscheniens zu finden.
Für den Weg dorthin orientiert sich die Haltung der
Bundesregierung an folgenden Prinzipien: Sie orientiert
sich zum Ersten an der Anerkennung der territorialen In-
tegrität Russlands und zum Zweiten an dem gemeinsamen
Kampf gegen den Terrorismus. Zum Dritten sind russi-
sche Menschenrechtsverletzungen, aber auch Verbrechen
und Vergehen durch Terroristen und tschetschenische Re-
bellen für uns nicht hinnehmbar. Zum Vierten muss der
ungehinderte Zugang für Organisationen, die humanitäre
Hilfe leisten, gewährleistet sein.
Frau Kollegin, Sie haben eine zweite Zusatzfrage.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Ausgehend von
dieser Beantwortung möchte ich gerne wissen, ob Sie den
Tschetschenien-Konflikt als innere Angelegenheit Russ-
lands betrachten und – wenn ja – nach welchen Kriterien
Konflikte als innere Angelegenheit von Ländern betrach-
tet werden und nach welchen nicht.
H
Frau Kollegin, ich hatte Ihnen vorhin die Kriterien ge-
nannt, an denen sich die Bundesregierung orientiert. Dazu
gehört unter anderem die Anerkennung der territorialen
Integrität.
Ich rufe die Frage 2 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch
auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, dass das bereits jah-
relang mit überaus unverhältnismäßiger Härte auch gegenüber der
Zivilbevölkerung praktizierte Vorgehen der russischen Streit-
kräfte in Tschetschenien – das in anderen Fällen zum Anlass ge-
nommen wurde, seitens der NATO militärisch zu intervenieren –
mit den Pflichten des Europaratmitgliedes Russland hinsichtlich
der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Konven-
tion zum Schutz von nationalen Minderheiten im Einklang steht?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
H
Frau Lötzsch, Bundesminister Fischer hat unter ande-
rem vor der Genfer Menschenrechtskommission am
20. März dieses Jahres erklärt, dass die Bundesregierung
das gewaltsame Vorgehen der Streitkräfte gegen die Zivil-
bevölkerung in Tschetschenien für inakzeptabel und mit
europäischen und VN-Normen nicht vereinbar hält.
Die Russische Föderation hat die Europäische Men-
schenrechtskonvention am 5. Mai 1998 und das Rah-
menübereinkommen Nr. 157 zum Schutz nationaler Min-
derheiten am 21.August 1998 ratifiziert. Sie hat damit alle
Pflichten, die sich aus dem System des Menschenrechts-
schutzes des Europarats ergeben, übernommen.
Die sehr hohe Zahl der gegen die Russische Föderation
in den letzten drei Jahren eingelegten Individualbeschwer-
den ist Grund für besondere Aufmerksamkeit. Es ist davon
auszugehen, dass viele dieser Beschwerden mit dem
Tschetschenien-Konflikt zusammenhängen. Erste Urteile
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in
Verfahren gegen die Russische Föderation könnten bis
Ende 2003 vorliegen. Die Bundesregierung will dem Aus-
gang dieser Verfahren nicht vorgreifen.
Die Bundesregierung setzt sich aktiv für die Einhal-
tung der Bestimmungen der Europäischen Menschen-
rechtskonvention und für die Unabhängigkeit des Euro-
päischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein und wird
die weitere Arbeit der Gremien des Europarats aufmerk-
sam verfolgen.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Wie beurteilt dieBundesregierung in diesem Zusammenhang das Vorgehender russischen Seite bei der Befreiung der Geiseln imTheater Nord-Ost und die Exekution bewusstloser Geisel-nehmer anstelle ihrer Festnahme und Ladung vor ein Ge-richt?Vizepräsidentin Susanne Kastner
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002
H
Frau Kollegin, ich glaube, Entscheidungen wie diejeni-
gen, die bei einer solchen Geiselnahme zu treffen sind,
gehören zu den schwierigsten, die Politikerinnen und Poli-
tiker zu treffen haben. Denn es handelt sich bei einer sol-
chen Aktion immer um eine Abwägung zwischen der Ret-
tung von Menschenleben – immerhin waren rund
800 Geiseln in der Gewalt der Geiselnehmer – und der
möglichen Gefährdung von Menschenleben. Ich glaube
nicht, dass es uns zusteht, die Entscheidung für die Befrei-
ungsaktion hier zu kritisieren.
Auch wenn Sie sagen, es stehe der Bundesregierung
nicht an, solches Vorgehen zu kritisieren, möchte ich fra-
gen: Gibt es Gespräche zwischen der Bundesregierung
und der russischen Seite über das Vorgehen in diesem Fall
und gibt es Fragen nach dem Einsatz des Kampfgases?
H
Frau Kollegin, selbstverständlich gibt es laufend inten-
sive Kontakte mit der russischen Seite.
Es liegen für diesen Geschäftsbereich keine weiteren
Fragen vor. Deswegen schließe ich den Geschäftsbereich
des Auswärtigen Amtes und bedanke mich bei Staatsminis-
ter Hans Martin Bury für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesminis-
teriums der Finanzen. Zur Beantwortung steht die Parla-
mentarische Staatssekretärin Frau Dr. Barbara Hendricks
zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 3 des Abgeordneten Ernst Hinsken,
CDU/CSU-Fraktion, auf:
Mit welcher Begründung bewertet die Bundesregierung die
deutsche Erbschaftsteuergesetzgebung als nicht „ursächlich für
eine etwaige Unschlüssigkeit der Erben mittelständischer Be-
telständler unschlüssig sind, ob sie ihr Erbe überhaupt antreten
und die Betriebe weiterführen sollen, und was gedenkt sie dage-
gen zu unternehmen?
Bitte schön, Frau Staatssektretärin.
D
Herr Kollege Hinsken, das Erbschaftsteuergesetz ent-
hält für denjenigen, der einen geerbten Betrieb fortführt,
erhebliche Erleichterungen. Zu nennen sind hier unter an-
derem: ein Freibetrag von 256 000 Euro; ein Bewer-
tungsabschlag vom Gesamterbe von 40 Prozent – bevor
dieser Freibetrag überhaupt ansetzt! –; die Besteuerung in
der günstigen Steuerklasse I, und zwar unabhängig vom
Verwandtschaftsgrad des Erbers, und die Möglichkeit der
zinslosen Stundung der Erbschaftsteuer, sofern sie über-
haupt anfällt, für die Dauer von zehn Jahren.
Deshalb kann das geltende Erbschaftsteuerrecht kei-
nesfalls Ursache dafür sein, das Erbe eines Betriebsver-
mögens nicht antreten und einen mittelständischen Be-
trieb nicht fortführen zu wollen. Dies müsste andere
Gründe haben.
Herr Kollege Hinsken, Ihre Zusatzfrage bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Staatssekretärin
Hendricks, warum war Ihr Kollege Diller nicht in der
Lage, mir eine solche Antwort zu geben? Ist es diesem
vielleicht egal, dass bis zum Jahr 2004 380 000 Betriebs-
übergaben anstehen? Mindestens die Hälfte dieser Be-
triebsinhaber weiß noch nicht, wer den Betrieb weiter-
führen wird. Die Bereitschaft dazu ist überhaupt nicht
mehr vorhanden, weil die steuerliche Belastung sehr
hoch, ja, erdrückend ist und man sich sagt: Anderweitig
komme ich besser über die Runden.
D
Zunächst, Herr Kollege Hinsken: Ich kenne das Schrei-ben, das Ihnen Kollege Diller in meiner Abwesenheit – unddamit gewissermaßen als mein Vertreter – geschickt hat.Ich bitte darum, Herrn Kollegen Diller von irgendeinerSchuld freizusprechen. Er war natürlich in der Lage, Ihneneine vernünftige Antwort zu geben.
Gleichwohl waren Sie mit der Antwort nicht zufrieden;das ist Ihr gutes Recht. Deshalb haben Sie hierzu eineFrage gestellt.Wir alle wissen um die große Zahl der Betriebe, derenÜbergabe ansteht. Sie haben gerade von einer Zahl von380 000 gesprochen. Wir alle kennen das Problem aus un-seren Wahlkreisen.Da sind aber nicht nur Fragen des Erbschaftsteuer-rechts zu klären. Es gibt sehr viele Betriebsinhaber, diezwar Kinder haben, die aber den elterlichen Betrieb – auswelchen Gründen auch immer – nicht fortführen wollen.Auch gibt es Betriebsinhaber, die keine Erben haben undsich deswegen jemanden suchen, der ihren Betrieb käuf-lich erwirbt. Das ist natürlich nicht immer einfach, weilderjenige, der einen Betrieb veräußert, aus dem Erlös fürsein Alter vorsorgen möchte, was sein gutes Recht ist.Er wird also einen Käufer suchen. Das hat aber mit demErbschaftsteuerrecht überhaupt nichts zu tun; denn verer-ben kann man natürlich auch an Nichtverwandte, aberdann gibt man den Betrieb ja kostenfrei ab. Ein Betriebs-inhaber möchte natürlich, sofern er keine nahen Ver-wandten hat, seinen Betrieb lieber verkaufen, als ihn kos-tenfrei an irgendeinen Betriebsfremden abzugeben. Er
350
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002 351
wird ihn also veräußern. Da erfüllen sich nicht immer alleWünsche der Betriebsveräußerer; denn es ist in der Tatnicht so einfach, einen Betrieb zu erwerben und den dafürnotwendigen Schulden- und Zinsendienst zu leisten, derwesentlich höher ist als jede denkbare Zahlung der Erb-schaftsteuer.Die Erbschaftsteuer, so wie sie in der BundesrepublikDeutschland besteht und ich sie Ihnen gerade dargestellthabe, ist gerade im Hinblick auf Betriebsvermögen außer-ordentlich niedrig. Sie kann kein Hindernis für die Fort-führung eines Betriebes sein.Wir haben – denn diese Frage wird häufig gestellt – beiden Landesfinanzverwaltungen nachgefragt: Es gibt bis-her keinen einzigen aktenkundigen Fall dahin gehend,dass ein Betrieb etwa wegen Zahlens der Erbschaftsteuerin Konkurs gegangen ist.
Herr Kollege Hinsken, Ihre zweite Zusatzfrage bitte.
Frau Staatssekretärin, ist Ihnen bekannt, dass in einem
Großteil der EU-Staaten die Erbschaft- und Schenkung-
steuer gestrichen worden ist? In etlichen Ländern hat man
entsprechende Veränderungen vorgenommen, um Voraus-
setzungen dafür zu schaffen, dass Betriebe vermehrt über-
nommen werden.
Deshalb die Frage an Sie: Meinen Sie nicht auch, dass
es dringend erforderlich wäre, Nachbesserungen bzw.
Korrekturen in der Richtung vorzunehmen, die ich gerade
angesprochen habe, damit der Einzelne stärker bereit ist,
in die Selbstständigkeit zu gehen bzw. selbstständig zu
bleiben, wenn er den Betrieb der Eltern übernehmen kann
oder er die Möglichkeit hat, bei einem Verwandten oder
Bekannten einzusteigen?
D
Wir sprechen von Erbe und Erbschaftsteuer; das möchte
ich noch einmal deutlich machen. Ich kenne nicht viele Be-
triebsinhaber, die ihren Betrieb Bekannten vererben wol-
len; an Bekannte wollen sie ihn veräußern. Die meisten
wollen an Verwandte, am liebsten an relativ nahe Ver-
wandte – manchmal auch an Neffen oder Nichten –, verer-
ben. Ich kenne nur sehr wenige, die ihren Betrieb Bekann-
ten vererben wollen, also ohne einen Veräußerungserlös zu
erzielen.
Dieser Fall entspricht nicht der nahen Lebenswirklichkeit.
Wir reden also von Verwandten, von Kindern oder von
Verwandten zweiten Grades, zum Beispiel Nichten oder
Neffen. Sie könnten infrage kommen, einen Betrieb fort-
zuführen. Im Rahmen der Erbschaftsteuer werden sie alle
wie Nachkömmlinge ersten Grades behandelt; es wird
also nicht auf den Verwandtschaftsgrad geachtet. Selbst
ein Fremder würde hier wie ein Kind behandelt.
Ich sage es noch einmal: Zur Ermittlung der Bemes-
sungsgrundlage für die Erbschaftsteuer wird das Be-
triebsvermögen grundsätzlich um 40 Prozent reduziert.
Dies bezieht sich auf alle Anteile des Betriebsvermögens,
auch auf Kapitalvermögen. Es ist eigentlich eine seltsame
Vorstellung, dass 10 Millionen Euro, sobald sie in das Be-
triebsvermögen übergehen, für die Erbschaftsteuer nur
noch 6 Millionen Euro wert sind. Das stellt eine erhebli-
che Vergünstigung dar. Dazu gibt es übrigens schon einen
Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofes an das Bundes-
verfassungsgericht; der Bundesfinanzhof hält die Begüns-
tigung des Betriebsvermögens für zu umfangreich.
Vor diesem Hintergrund sieht die Bundesregierung
keinerlei Veranlassung, die Vergünstigungen des beste-
henden Erbschaftsteuerrechts bei der Vererbung von Be-
triebsvermögen noch stärker auszuweiten.
Eine weitere Zusatzfrage des Kollegen Michelbach.
Frau Staatssekretärin, Sie haben in Ihrer Antwort auf
die Frage des Kollegen Hinsken gesagt, dass es bei der
Erbschaftsteuer erhebliche Vergünstigungen gebe, wenn
ein Betrieb übernommen wird, und Sie sähen nicht die
von Herrn Hinsken angesprochene Problematik. Führen
Sie nicht die rapide Abnahme der Zahl von Unternehmen
auf die Steuerbelastungen zurück, also auch auf die Dop-
pelbesteuerung in Verbindung mit der Erbschaftsteuer?
Und wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang Ihre
neuesten Steuererhöhungspläne, die eine unbegrenzte Be-
steuerung von Gewinnen aus Wertpapier- und Immobi-
lienverkäufen vorsehen? Dies würde neben der Erb-
schaftsteuer eine zusätzliche große Belastung bedeuten.
D
Herr Kollege Michelbach, ich sehe diesen von Ihnenhergestellten Zusammenhang nicht. Ich weise auch denBegriff der Doppelbesteuerung zurück. Selbstverständlichwerden betriebliche Gewinne, sofern sie anfallen, ver-steuert. Ein Erbfall ist ein eigener steuerlicher Tatbestand,der für sich gesehen wird und neu zu bewerten ist. Zudemfällt die Erbschaftsteuer nicht beim bisherigen Betriebs-inhaber an, der die betrieblichen Gewinne bis dahin ver-steuert hat, sondern beim Nachfolger, der den Betrieb kos-tenfrei erworben hat, ihn also nicht kaufen muss wieandere junge Menschen, die sich selbstständig machenwollen. Es gibt also überhaupt keinen Grund, hier von ei-ner Doppelbesteuerung zu reden. Es sind zwei verschie-dene Sachverhalte.Zum anderen weise ich darauf hin, dass die Besteue-rung von Veräußerungsgewinnen natürlich schon Gegen-stand unseres Steuerrechts war, wenn auch mit Fristen.Auch in Zukunft wird es so sein, dass bei demjenigen, derParl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks
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Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendrickseinen Betrieb geerbt hat – nur hier kann ich einen Zusam-menhang mit der Frage des Kollegen Hinsken sehen –, beieiner späteren Veräußerung der Wert des Betriebes zu demZeitpunkt des Erbantritts berücksichtigt wird.
Wir kommen damit zur Frage 4 des Abgeordneten
Ernst Hinsken:
Wird die Bundesregierung, da sie bisher über keine Übersicht
zu den steuerlichen Regelungen des Unternehmenserbes im Mit-
telstand in den EU-Mitgliedstaaten verfügt – vergleiche Antwort
des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister der
Finanzen, Karl Diller, vom 25. Oktober 2002 auf meine schrift-
lichen Fragen mit den Arbeitsnummern 17 und 18 für den Monat
Oktober 2002 –, diese Informationen einholen, um zu prüfen, wel-
ches System für Deutschland als Vorbild dienen könnte, und wenn
ja, bis wann?
D
Die Bundesregierung sieht angesichts der für Betriebs-
vermögen in Deutschland bereits bestehenden Erleichte-
rungen – ich habe sie eben geschildert, Herr Kollege
Hinsken – derzeit keine Veranlassung, einen Rechtsver-
gleich über die Erbschaftsteuer für die Betriebsnachfolge
in den EU-Mitgliedstaaten durchzuführen. Zu bedenken
ist auch, dass in den EU-Mitgliedstaaten zum Teil sehr un-
terschiedliche Systeme für Erbrecht und Erbschaftsteuer
bestehen. So gibt es in anderen Ländern zum Beispiel eine
Nachlasssteuer oder eine Erbanfallsteuer. Somit wäre ein
Rechts- und Belastungsvergleich sehr schwierig.
Herr Kollege Hinsken, Ihre Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin Hendricks, halten Sie es denn für
richtig und ist es nicht mehr als mager, wenn Ihr Kollege
Diller – ich nehme ihn hier in die Verantwortung, weil er
das unterschrieben hat – mir auf die Frage: „Wie ist in den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union das Unterneh-
menserbe im Mittelstand steuerlich geregelt und welches
System könnte für Deutschland als vorbildlich dienen?“
antwortet: „Die Bundesregierung hat keine Übersicht da-
rüber, wie in den übrigen Mitgliedstaaten der Europä-
ischen Union das Unternehmenserbe im Mittelstand steu-
erlich geregelt ist.“ Haben Sie in Ihrem Haus überhaupt
eine Abteilung, die sich solchen Sachen widmet? Wenn
der Wissenschaftliche Dienst, an den ich mich in der
Folge gewandt habe, in der Lage ist, mir innerhalb von
sechs Tagen die Antworten zu liefern, die das Bundesfi-
nanzministerium zu liefern nicht in der Lage war, dann ist
das doch ein Armutszeugnis für Sie. Sind Sie deshalb
bemüht, insofern möglichst schnell für Abhilfe zu sorgen,
sodass in Zukunft Abgeordnete auf vernünftig gestellte
Fragen auch ausreichende Antworten bekommen?
D
Herr Kollege Hinsken, Sie haben selbstverständlich
immer das Recht, Fragen an die Bundesregierung zu stel-
len. Die Bundesregierung wird, wie schon in der Vergan-
genheit, auch in Zukunft immer bemüht sein, Ihnen rasch
Antworten zu geben. Allerdings ist die Bundesregierung
auch berechtigt, den Aufwand für die Beantwortung von
Fragen in einem angemessenen Rahmen zu halten. Dies
entspricht der Geschäftsordnung.
Herr Kollege Hinsken, Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Frau Staatssekretärin Hendricks, Sie sind mir persönlich
sehr sympathisch. Ich weiß, dass ich heute mit Ihnen die
Falsche treffe. Mir wäre es lieber, Ihr Kollege stünde hier.
Aber dennoch die Fragen: Sind auch bei Ihnen schon Be-
sorgnis erregende Briefe eingegangen, wie ich sie vorhin ge-
nannt habe, in denen also gesagt wird: „Wir wollen nicht
übernehmen, weil die steuerliche Belastung so hoch ist.“
Was halten Sie von Forderungen verschiedener Wirtschafts-
verbände, aber auch politischer Organisationen, nach denen
das Betriebsvermögen von der Erbschaftsteuer freigestellt
werden soll, wenn der Nachfolger den Betrieb mindestens
zehn Jahre weiterführt, die Erbschaftsteuer zunächst ge-
stundet, dann Jahr für Jahr reduziert und nach Ablauf dieser
Zeit völlig erlassen werden soll?
D
Herr Kollege Hinsken, ich verstehe natürlich solche
Wünsche von Interessenverbänden. Jeder würde immer
lieber weniger Steuern zahlen, als er zahlen soll. Ich habe
Ihnen aber schon gesagt, dass es bereits eine großzügige
Regelung für die Erbschaftsteuer, nämlich die zinsfreie
Stundung für die Dauer von zehn Jahren, gibt.
Ich möchte noch auf die erste Frage eingehen. Bei mir
sind bis jetzt keine Briefe eingegangen, in denen stand:
Ich bin unschlüssig, ob ich das Erbe meiner Eltern antre-
ten soll, weil mir die Erbschaftsteuer zu hoch ist. – Briefe
solchen Inhalts oder auch mit vergleichbaren Formulie-
rungen hat es nach meiner Kenntnis im Bundesfinanzmi-
nisterium noch nicht gegeben. Wenn ich einen solchen
Brief erhielte, würde ich am konkreten Fall demjenigen,
der Bedenken hat, nachweisen können, dass eine solche
Unschlüssigkeit unbegründet wäre.
Herr Kollege Michelbach, ich erteile Ihnen das Wort zueiner Zusatzfrage.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002 353
Frau Staatssekretärin, Sie haben gesagt, dass Ihnen
diese Stundungsregelung nicht bekannt ist. Ist Ihnen nicht
bekannt, dass es ein so genanntes englisches Modell gibt,
das in Großbritannien die Fortführung von mittelständi-
schen Betrieben sehr begünstigt, indem für die Erb-
schaftsteuer Stundung und bei einer Fortführung des Be-
triebs über zehn Jahre sogar Erlass gewährt wird, und das
sich für die Arbeitsplatzsicherung und die Erhaltung von
Betrieben sehr bewährt hat? Warum können Sie sich eine
steuerliche Regelung wie in Großbritannien nicht auch in
Deutschland vorstellen?
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal die
Frage stellen: Sehen Sie nicht ein – wenn Sie schon nicht
einräumen, dass es sich bei der Erbschaftsteuer um eine
Doppelbesteuerung handelt –, dass es sich bei der Erb-
schaftsteuer zumindest um eine Substanzbesteuerung
handelt? Denn die Vermögenszuwächse, die für die Be-
triebe wichtig sind, werden ja noch einmal besteuert, ob-
wohl sie schon vorher vom Erblasser versteuert worden
sind.
D
Herr Kollege Michelbach, das von Ihnen angespro-
chene englische Modell – das möchte ich gerne einräu-
men – war mir so nicht bekannt. Ich kann aber verstehen,
dass es ein solches Modell in Großbritannien gibt. Dort
scheint es auch notwendig zu sein, weil die Erb-
schaftsteuersätze etwa viermal so hoch sind wie in der
Bundesrepublik Deutschland. Bezogen auf das Betriebs-
vermögen ist die Erbschaftsteuer in Großbritannien bei
allgemeinem Erbanfall im Vergleich zur Bundesrepublik
Deutschland sogar noch höher als der vierfache Satz,
wenn ich mich richtig erinnere. Wenn also die Erb-
schaftsteuer so hoch wie in Großbritannien ist, dann wird
man das Betriebsvermögen besonders schützen müssen.
Dies tun wir in der Bundesrepublik Deutschland, wie
ich anfangs ausgeführt habe, durch die besondere Begüns-
tigung des Betriebsvermögens beim Erbanfall, und zwar
durch einen 40-prozentigen Bewertungsabschlag, durch
die Regelung, dass jeder Erwerber die günstigste Steuer-
klasse erhält, und durch einen Freibetrag von mehr als
250 000 Euro für den Ersterwerber. Bei einem normalen
Betriebsvermögen zum Beispiel in der Größenordnung
von 3,5 Millionen Euro, das an eine Ehefrau und zwei
Kinder vererbt wird, fällt – ich betone das – keine Erb-
schaftsteuer an. Auch bei größeren Vermögen sind die
Erbschaftsteuersätze äußerst moderat. Deshalb brauchen
wir in Deutschland keine besondere Regelung wie in
Großbritannien.
Eine weitere Frage vom Kollegen Koschyk.
Frau Staatssekretärin, nach der Ausarbeitung des Wis-
senschaftlichen Dienstes des Bundestages, auf die der
Kollege Hinsken vorhin abgehoben hat, ist in Großbritan-
nien die Regelung so, dass mittelständische Betriebe völ-
lig von der Erbschaftsteuer ausgenommen sind. Würden
Sie vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis des Wissen-
schaftlichen Dienstes bei möglichen Neuregelungen
durch die Bundesregierung nicht doch dem englischen
Modell näher treten wollen?
D
Herr Kollege Koschyk, Sie haben nicht gesagt, wie die
allgemeinen Bedingungen in Großbritannien aussehen.
Sie haben lediglich behauptet, die Betriebe in Großbri-
tannien seien völlig von der Erbschaftsteuer ausgenom-
men, wenn sie für eine bestimmte Zeit fortgeführt wür-
den. Dies mag so sein, wobei allerdings auch noch die
Abgrenzungsfrage interessant ist, was also in Großbritan-
nien als Betriebsvermögen und was als Privatvermögen
bewertet wird. Gerade vor diesem Hintergrund warne ich
davor, die Ergebnisse kurzsichtiger Rechtsvergleiche für
bare Münze zu nehmen; denn meistens sind die Bedin-
gungen an anderer Stelle wieder unterschiedlich. Deswe-
gen trägt ein einfacher Vergleich nicht.
Es liegen keine weiteren Fragen zu dem Geschäftsbe-
reich des Bundesministeriums der Finanzen mehr vor.
Deswegen schließe ich diesen Geschäftsbereich. Ich be-
danke mich sehr herzlich bei der Frau Staatssekretärin
Dr. Barbara Hendricks.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums des Innern. Zur Beantwortung steht die Frau
Parlamentarische Staatssekretärin Ute Vogt zur Verfü-
gung.
Wir kommen zu Frage 5 des Kollegen Hartmut
Koschyk:
Haben sich nach Einschätzung der Bundesregierung Tarif-
autonomie und Flächentarifvertrag auch im öffentlichen Dienst
bewährt und hält die Bundesregierung daran fest, zunächst Tarif-
verhandlungen für Arbeiter und Angestellte im öffentlichen
Dienst abzuschließen und anschließend das Ergebnis zeit- und
inhaltsgleich auf Beamte zu übertragen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
U
Danke schön, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter HerrKollege Koschyk, die vom Grundgesetz garantierte Tarif-autonomie hat sich auch im öffentlichen Dienst bewährt.Dies gilt im Grundsatz auch für Flächentarifverträge, so-fern sie neben den bestehenden bundeseinheitlichen Re-gelungen ausreichend Flexibilität bieten, um spezifischenGegebenheiten in unterschiedlichsten Bereichen des öf-fentlichen Dienstes Rechnung zu tragen. Das Ergebnis derTarifverhandlungen für die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer im öffentlichen Dienst wird auch künftig Ba-sis der allgemeinen Anpassungen für die Beamtinnen undBeamten sein. Ob und inwieweit das Ergebnis der Tarif-verhandlungen im Einzelnen auf Beamtinnen und Beamte
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002
Parl. Staatssekretärin Ute Vogtübertragen wird, ist zu gegebener Zeit durch ein Bundes-gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, zuentscheiden.
Ihre erste Zusatzfrage. Bitte, Herr Kollege Koschyk.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Staats-
sekretärin, darf ich Ihren Aussagen entnehmen, dass die
Bundesregierung der vom Land Berlin ausgehenden Bun-
desratsinitiative ablehnend gegenübersteht, die eine Öff-
nungsklausel im Hinblick auf die bundeseinheitliche Be-
soldung von Beamten zum Ziel hat?
U
Zu diesem konkreten Entwurf wird sich die Bundesre-
gierung dann äußern, wenn ein entsprechender Beschluss
des Bundesrates vorliegt.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege
Koschyk.
Frau Staatssekretärin, hält die Bundesregierung auch
weiter an ihrer Begründung zum Versorgungsänderungs-
gesetz 2001 fest, zu dem sie ausgeführt hat, eine bundes-
einheitliche Regelung – ich darf ergänzen: der Beamten-,
Arbeiter- und Angestelltenbesoldung im öffentlichen
Dienst – ist erforderlich, da Regelungen über die Alterssi-
cherung für die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftsein-
heit, insbesondere die Wahrung der Einheitlichkeit der
Lebensverhältnisse im Bundesgebiet, ein ganz besonde-
res Gewicht haben? Gilt diese Aussage der Bundesregie-
rung auch für die kommenden Tarifverhandlungen im öf-
fentlichen Dienst?
U
Diese Aussage gilt im Grundsatz weiter.
Damit kommen wir zur Frage 6 des Abgeordneten
Hartmut Koschyk:
Seit wann hat die Bundesregierung bereits Kenntnis von der
im „Spiegel“ vom 28. Oktober 2002, Seite 134, wiedergegebenen
Einschätzung des Bundeskriminalamtes hinsichtlich der
Bedrohung durch Anschläge des terroristischen Islamismus in
Deutschland, nach der Deutschland von den Experten des BKA
mittlerweile für annähernd so gefährdet gehalten wird wie die Ver-
einigten Staaten von Amerika selbst?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
U
Die Veröffentlichung im „Spiegel“ bezieht sich auf
vertrauliche Dokumente. Die Bundesregierung nimmt zu
diesen vertraulichen Dokumenten öffentlich keine Stel-
lung. Ich kann Ihnen aber zur allgemeinen Gefährdungs-
lage sagen, dass die Gefährdungsbewertungen für die
Bundesrepublik Deutschland sowie die deutschen Inte-
ressen im Ausland fortlaufend und der Lage angepasst
durch das Bundeskriminalamt in Zusammenarbeit mit
dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem Bundes-
nachrichtendienst erstellt werden.
Die sich aus den Gefährdungsbewertungen ergebenden
Konsequenzen werden zwischen Bund und Ländern re-
gelmäßig und zeitnah erörtert. Deutschland ist ebenso wie
die USA und alle sonstigen westlich orientierten Staaten
Teil eines Gefahrenraumes, in dem die Gefahr von An-
schlägen aus dem Bereich des islamistischen Terrors be-
steht. Informationen über konkrete Ziele, Orte, Zeiten
oder Modi Operandi möglicher Anschläge liegen den
deutschen Sicherheitsbehörden nicht vor.
Ihre erste Zusatzfrage, bitte, Herr Kollege Koschyk.
Danke, Frau Präsidentin. – Frau Staatssekretärin, Sie
haben darauf verwiesen, dass es sich um vertrauliche,
nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Informationen des
Bundeskriminalamtes handelt. Jetzt hat in dieser Woche
der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Herr
Hanning, in einem Fernsehinterview, das von den Medien
sehr breit aufgenommen worden ist und die heutigen
Schlagzeilen beherrscht, die Gefährdungslage durch ter-
roristische Bedrohungen für Deutschland sehr dramatisch
dargestellt. Wäre es vor dem Hintergrund einer solchen
Aussage des Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes
nicht angebracht, dass nicht nur der Chef eines Dienstes,
sondern auch der Bundesminister des Innern und die Bun-
desregierung die Öffentlichkeit über die Gefährdungslage
durch terroristische Bedrohungen informieren?
U
Die Bundesregierung hat keinen Anlass, dem Präsi-
denten des Bundesnachrichtendienstes zu widersprechen.
Die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik – das Bun-
deskriminalamt, das Bundesamt für Verfassungsschutz
und der Bundesnachrichtendienst – beurteilen die Sicher-
heitslage gemeinsam so, dass wir mit einer steigenden Ge-
fährdung rechnen müssen. Diese Beurteilung wird ebenso
wie die daraus notwendigen Maßnahmen regelmäßig mit
den Ländern abgestimmt.
Ihre zweite Frage, bitte.
354
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002 355
Danke schön, Frau Präsidentin. – Frau Staatssekretä-
rin, hält die Bundesregierung vor dem Hintergrund der
Erhöhung des Gefährdungspotenzials für die Bundesre-
publik Deutschland – auch von Ihnen wurde die Aussage
des Bundesnachrichtendienstes indirekt bestätigt – die
bislang getroffenen gesetzgeberischen Maßnahmen der
beiden Antiterrorpakete für ausreichend und sieht die
Bundesregierung nicht die Notwendigkeit gesetzgeberi-
scher Maßnahmen, wenn es zum Beispiel um die Einrei-
semodalitäten möglicher gewaltbereiter Extremisten nach
Deutschland geht?
U
Die gesetzgeberischen Maßnahmen, die in den Anti-
terrorpaketen I und II getroffen worden sind, sind aus
Sicht der Bundesregierung ausreichend. Wir arbeiten ge-
meinsam mit den Ländern und international intensiv an
der Umsetzung. Das betrifft auch Einreisebestimmungen,
Visaerteilungen und Ähnliches. Dies wird international
abgestimmt.
Wir kommen jetzt zur Frage 7 der Abgeordneten Petra
Pau, fraktionslos:
Wie viele antisemitische Straftaten wurden im dritten Quartal
2002 in der Bundesrepublik Deutschland begangen und wie viele
Opfer dieser Straftaten gab es?
U
Sehr geehrte Frau Kollegin Pau, im dritten Quartal des
Jahres 2002 wurden insgesamt 243 antisemitische Strafta-
ten, die dem Bereich „Politisch motivierte Kriminalität –
rechts“ zugeordnet wurden, gemeldet. Darunter sind
37 Propagandadelikte und fünf Gewaltdelikte, bei denen
es sich um vier Körperverletzungen sowie um eine Brand-
stiftung handelt. Im dritten Quartal 2002 wurden zwei Per-
sonen verletzt; es waren keine Todesfälle zu verzeichnen.
Da die Kollegin Pau keine Zusatzfragen hat, kommen
wir gleich zur Frage 8 der Kollegin Petra Pau:
Mit welchen konkreten Maßnahmen will das Bundesminis-
terium des Innern die Umstrukturierung des Bundesgrenzschutzes
zur „Bundespolizei“ durchführen?
U
Die Bundesregierung beabsichtigt, dem Bundesgrenz-
schutz einen Namen zu geben, der dem geänderten Auf-
gabenspektrum Rechnung trägt. Die neue Bezeichnung
wird mit einer entsprechenden Umbenennung des BGS-
Gesetzes sowie der Namensanpassung in anderen Vor-
schriften einhergehen.
Eine Erweiterung des Zuständigkeitsbereiches oder
eine Umstrukturierung des Bundesgrenzschutzes ist da-
mit nicht verbunden.
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Danke, Frau Präsidentin. – Frau Staatssekretärin, darf
ich aus Ihrer Antwort entnehmen, dass die Bundesregie-
rung nicht mit den Vorstellungen der Gewerkschaft der
Polizei zur Schaffung einer tatsächlichen Bundespolizei
und auch zur Zusammenfassung von Kompetenzen, wie
sie im vergangenen Jahr in einem Strategiepapier nieder-
gelegt wurden, übereinstimmt?
U
Mit der vorzunehmenden Namensänderung ist keine
Veränderung der Aufgabenstellung und der Strukturen des
Bundesgrenzschutzes verbunden.
Ich sehe keine weitere Zusatzfragen. Damit sind wir
am Ende der Fragestunde angelangt.
Ich unterbreche die Sitzung bis 14.30 Uhr. Die
Aktuelle Stunde ist nach interfraktioneller Verständigung
auf 14.30 Uhr terminiert worden.
Wir setzen die unterbrochene Sitzung fort.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Auswirkungen der finanz- und gesellschafts-
politischen Vorhaben der Bundesregierung auf
die Familien
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Maria Eichhorn, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Rot-Grün hat vor der Wahl die Familienförderungzu den drängendsten Aufgaben erklärt. Nach der Wahl istdavon nichts mehr übrig.
Versprochen hatte die SPD eine Kindergelderhöhung aufmindestens 200 Euro, die Grünen sogar eine Kinder-grundsicherung.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002
Maria EichhornDavon ist im Koalitionsvertrag keine Rede mehr.
Entlarvend ist Ihr Satz, dass Eltern ihr Armutsrisikodurch die Erwerbstätigkeit selbst bekämpfen sollen. Da-mit verabschiedet sich Ihre Familienpolitik aus dem so-zialen Ausgleich.
Nun hat SPD-Generalsekretär Scholz die Katze völlig ausdem Sack gelassen. Rot-Grün wolle mit der Ganztags-betreuung eine „kulturelle Revolution“ erreichen. Offen-sichtlich geht es Ihnen, meine Damen und Herren vonRot-Grün, nicht darum, mit der Kinderbetreuung Fami-lien zu unterstützen. Nein, Ihnen geht es um eine ideolo-gisch ausgerichtete Familienpolitik.
Mit der weitgehenden Gleichsetzung von ehelichenund nicht ehelichen Lebensgemeinschaften in der letztenLegislaturperiode begann der Anfang vom Ende desSchutzes von Ehe und Familie. In diesem Zusammenhangist auch der Versuch zu sehen, das Ehegattensplittingabzuschaffen. Wer das Splitting abschafft oder begrenzt,besteuert Eheleute höher als Singles. Bestraft werden die-jenigen, die wegen der Kindererziehung auf Erwerbs-tätigkeit verzichten oder verzichtet haben.
Der Gipfel der Abgeschmacktheit, wie die „FAZ“ zuRecht kommentiert hat, ist der unsägliche Satz des Gene-ralsekretärs, die SPD wolle „die Lufthoheit über den Kin-derbetten“.
Sie nehmen durch Ihre Politik den Familien die Luft weg.Sie schnüren Familien finanziell und gesellschaftspoli-tisch ein. Das sind die Tatsachen.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie wichtig es ist, Fa-milie und Erwerbstätigkeit miteinander zu vereinbaren.Wir von der Union fordern und setzen uns für eine be-darfsgerechte Kinderbetreuung für alle Altersstufen ein.Aber die Betonung liegt auf „bedarfsgerecht“. Darübermuss vor Ort entschieden werden. Die Eltern müssenselbst entscheiden können, ob sie Beruf und Erwerbs-tätigkeit miteinander vereinbaren oder ob sie sich zumin-dest eine Zeit lang ganz der Erziehung der Kinder widmenmöchten. Beides muss möglich sein.
Dafür hat die Politik die Rahmenbedingungen zu schaf-fen. Sie von Rot-Grün jedoch fördern durch Ihre Politikeinseitig die Erwerbstätigkeit.Der Ausbau der Betreuungseinrichtungen darf nichtzulasten der finanziellen Förderung von Familien gehen.Für die Verwirklichung der Wahlfreiheit ist beides not-wendig: die Betreuungseinrichtungen, aber auch eine an-gemessene finanzielle Förderung von Familien.Kinder sind in Deutschland ein Armutsrisiko. Dieswird sich durch Ihre Politik verstärken. „Der Spiegel“ hatIhnen vorgerechnet, dass Familien mit einem Kind in Zu-kunft 300 Euro weniger in der Tasche haben werden. Al-lein die Beschränkung der Eigenheimzulage schlägt mit177 Euro zu Buche. Die Verschiebung der Steuerreformgeht ebenfalls zulasten der Familien.
Durch höhere Sozialabgaben werden den Familien imnächsten Jahr nahezu 450 Euro fehlen. Hinzu kommtnoch die nächste Stufe der Ökosteuer, die vor allem Fa-milien mit mehreren Kindern belasten wird.Meine Damen und Herren, die Finanzierung der vonIhnen geplanten Betreuungseinrichtungen ist unseriös.
Länder, Städte und Gemeinden müssen fürchten, dass siemit den Kosten allein gelassen werden; denn die Finan-zierung soll durch Einsparungen aus der Umsetzung desHartz-Konzepts erfolgen. Ob diese Vorschläge tatsächlichumgesetzt werden, muss sich erst zeigen. Wer Beschlüssefasst, muss aber auch für eine verlässliche Finanzierungsorgen.
Meine Damen und Herren, Kinder in Deutschland müssensich auf eisige Zeiten einstellen. Von Ihren vollmundigenAnkündigungen vor der Wahl ist nichts mehr übrig ge-blieben. Eine Zeitung wählte vor kurzem die Überschrift„Schröder-Schröpf“. – Recht hat sie!
Die nächste Rednerin ist die Parlamentarische Staats-sekretärin Christel Riemann-Hanewinckel.Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staatssekre-tärin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren,Frauen und Jugend:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Am 22. September 2002 ha-ben Frauen in Ost und West und aller Altersgruppen dieSPD und das Bündnis 90/Die Grünen gewählt. Warumwohl?
Weil sie nämlich mit dem einverstanden sind, was seit1998 in familienpolitischer Hinsicht auf den Weg ge-
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002 357
bracht wurde. Sie wollen, dass dieser Weg weiterver-folgt wird.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Frauenund Familien waren es leid, dass ihnen per Gesetz bzw.durch Diskriminierung vorgeschrieben wurde, wie sie zuleben haben.
Deshalb hat die rot-grüne Koalition in den vergangenenvier Jahren durch die Schaffung neuer Rahmenbedingun-gen dafür gesorgt, dass Frauen, Familien und alte Men-schen ihre Lebensentwürfe auch tatsächlich leben können.
Für uns hat die Familie ihren Platz in der Mitte der Ge-sellschaft. Das soll auch so bleiben.
Jetzt gilt es, Strukturen für Familien zu schaffen, die ih-nen Sicherheit und Möglichkeiten bieten, ihre vielfältigenLebensentwürfe umzusetzen.
Denn die Familien halten unsere Gesellschaft zusammenund sorgen für die Weitervermittlung unserer Werte. ImMiteinander der Geschlechter und Generationen lernenKinder Teilnahme, Teilhabe und Teilen. Sie üben dasStreiten und Versöhnen und erleben Wärme, Geborgen-heit und Liebe. Familien leben vor, was Solidarität, Ver-antwortung und Gerechtigkeit heutzutage für uns bedeu-ten. Sie zeigen uns aber auch auf, wo es an Erneuerungfehlt.Familien sind Leistungsträger und brauchen vor allenDingen die richtigen Rahmenbedingungen, um ihre Leis-tungsfähigkeit entfalten zu können. Deshalb war es in dervergangenen Legislaturperiode nötig, den Schwerpunktauf die materielle Sicherheit der Familien zu setzen.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns aufgrund IhrerVersäumnisse in der Familienpolitik diese Priorität aufge-geben.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Siescheinen vergessen zu haben, was in den vergangenenvier Jahren von der rot-grünen Regierung auf den Weg ge-bracht wurde.
Den Familien ist das gegenwärtig, aber ich werde es Ih-nen noch einmal aufzählen, damit Sie sich wieder daranerinnern können.
Ich erinnere noch einmal an die Maßnahmen, die vonuns durchgeführt worden sind: die dreimalige Erhöhungdes Kindergelds auf 154 Euro, die Erhöhung des Kinder-freibetrags
und die Einführung eines Freibetrags für Betreuungs-, Er-ziehungs- und Ausbildungsbedarf.
– Was heißt hier „niedriger“? Ich habe gar keine Zahl ge-nannt. Der ist eingeführt worden.
Ich nenne weiter die Einführung der steuerlichen Absetz-barkeit von erwerbsbedingten Kinderbetreuungskosten,die es bisher so auch nicht gab. Die Einkommensgrenzenbeim Erziehungsgeld sind nach Urzeiten endlich erhöhtworden. Wir haben ferner ein Budget eingeführt, sodassFamilien selbst entscheiden können, wie sie es für sichgern hätten, und sie sich nicht so verhalten müssen, wie esihnen die Opposition in früheren Zeiten vorgeschriebenhat.
– Beim Erziehungsgeld war es ja so, dass Eltern sehr ge-nau überlegen mussten, wie sie am besten klar kommen.Jetzt haben sie Entscheidungsfreiheit.
Das ist notwendig. Wie die Vereinbarkeit von Familie undBeruf umgesetzt wird, wollen wir den Familien nicht vor-schreiben, sondern es ihnen überlassen.
Die Wohngeldleistungen für Familien wurden verbessertund – wenn Sie sich erinnern; auch das gehört zur Fami-lienpolitik – der BAföG-Höchstfördersatz und die Eltern-freibeträge wurden erhöht.
Parl. Staatssekretärin Christel Riemann-Hanewinckel
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002
Pa
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Familienpolitik heißt,
gerechte Strukturen zu schaffen, wenn es um die wirt-
schaftliche Situation der Familien geht. Das haben wir be-
gonnen und das werden wir auch weiterhin tun, denn Fa-
milien wollen nicht in erster Linie von Transferleistungen,
sondern vom Einkommen aus ihrer Erwerbsarbeit leben.
Deshalb brauchen Familien eine gut funktionierende In-
frastruktur.
Die ist sehr breit und ich nenne hier nur einen wichtigen
Punkt: die Infrastruktur der Kinderbetreuung.
Familien wollen eine ausreichende Zahl von qualitätsvol-
len Kindertageseinrichtungen in Ost und in West.
Sie wollen Krippen, Kindergärten, Horte, in denen sich
Kinder wohl fühlen, die Bildung, Erziehung, Wärme, Ge-
borgenheit und Betreuung bieten. Besondere Schwer-
punkte werden wir deshalb bei der Errichtung von Ganz-
tagsschulen und bei der Kleinkindbetreuung setzen. Dort
muss es um das Zusammenwirken von Bildung, Erzie-
hung und Betreuung gehen. Wir werden Mütter und Vä-
ter, Frauen und Männer, die Familie und Beruf miteinan-
der vereinbaren wollen, unterstützen und auch denjenigen
den Wiedereinstieg erleichtern, die sich über längere Zeit
der Kinderbetreuung gewidmet haben.
Meine Damen und Herren, Familie bedeutet auch das
miteinander Leben und das füreinander Einstehen von
mehreren Generationen. Die meisten Menschen, die
Pflege brauchen, werden von Familienangehörigen ge-
pflegt, vorrangig von den weiblichen Familienangehöri-
gen. Sie tun das sehr selbstverständlich;
es ist manchmal aber auch eine große Belastung und sie
sind deshalb auf Unterstützung und Entlastung
durch ambulante Dienste, Tagespflegeeinrichtungen und
stationäre Einrichtungen angewiesen. Wir werden in die-
ser Legislaturperiode diese Bereiche eng miteinander ver-
zahnen, damit die, die Pflege brauchen, und die, die
Pflege leisten, im besten Sinne nicht allein gelassen wer-
den, sondern Unterstützung erfahren.
Es ist sehr gut und ich bin sehr froh darüber, dass nach
zwölf Jahren nun endlich das Altenpflegegesetz in dieser
Republik gültiges Recht werden wird und die CSU und
Bayern an dieser Stelle vom Bundesverfassungsgericht
deutlich in ihre Schranken gewiesen wurden.
Es gibt aber noch einen anderen Bereich, in dem die
rot-grüne Regierung Impulse für eine gesellschaftspoli-
tisch andere Entwicklung gesetzt hat. Ich rede vom Gesetz
zur gewaltfreien Erziehung und vom Gewaltschutzgesetz,
das in der letzten Legislaturperiode Recht geworden ist.
Jetzt muss es noch darum gehen, dass Gewalt in dieser
Gesellschaft mehr denn je geächtet wird. Auch dazu wer-
den wir in der kommenden Legislaturperiode das Unsere
beitragen.
Meine Damen und Herren, solidarisch ist es, wenn die
Hilfe für diejenigen, die in diesem Jahr durch die Flutka-
tastrophe an den Rand ihrer Existenz gekommen sind, und
das, was in dem Bereich geleistet werden muss, auf alle
Schultern verteilt wird. Familien erhalten die Hilfen, die
sie brauchen, aber Familien in diesem Lande sind auch ge-
willt, Hilfe zu leisten. Sie sind nämlich bereit, auf die Ent-
lastung durch die zweite Stufe der Steuerreform zu ver-
zichten.
Wir werden mit unserer Familienpolitik den gesellschaft-
lichen Zusammenhalt stärken – egal was Sie von der Op-
position dazu sagen. Wir werden die vorhandene Solida-
rität der Menschen untereinander sichern und stützen.
Wir werden Familien stärken und fördern; denn darum
geht es. Wir werden Begehrlichkeiten sowie unverträgli-
che Belastungen abwenden und die Kräfte der Familie un-
terstützen.
Meine Damen und Herren von der Opposition, unter-
stützen Sie nicht weiterhin die Spaltung der Gesellschaft
da,
wo Menschen bereit sind, füreinander einzustehen! Ar-
beiten Sie lieber konstruktiv mit und verweigern Sie sich
nicht den Familien!
Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ina Lenke, FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Re-gierungsparteien haben die Bundestagswahl nur knappgewonnen.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002 359
Viele Wählerinnen haben großes Vertrauen in eine sozial-demokratische Politik gesetzt. Sie sind allesamt betrogenworden, Herr Küster:
Vor der Wahl versprechen, nach der Wahl es brechen. FrauHanewinckel hat heute auf Wolke sieben gesessen und dieRealität nicht gesehen.
Der Koalitionsvertrag und besonders die Regierungs-erklärung des Bundeskanzlers zur Familienpolitik imFrühjahr
– nun beruhigen Sie sich einmal – trieften geradezu vorVersprechungen. O-Ton Schröder vom 18. April – hörenSie sich das einmal an –:Deshalb setzen wir mit unserer Politik da an, woMenschen zusammenleben ..., in der Familie also. ...Wir wollen diesen Weg der Verbesserung – das istimmer noch nötig – weitergehen.
Wir werden nicht zulassen, dass etwas verlorengeht ...Was sind denn die nackten Tatsachen nach der Wahl?Rot-Grün überbietet sich mit Belastungen und Einspar-vorschlägen, die Familien, Kinder sowie Leistungsträgerund Leistungsträgerinnen in unserer Gesellschaft beson-ders hart treffen.
Die neue Familienministerin, Frau Schmidt, ist auf Tauch-station gegangen. Sie schweigt, schweigt und schweigt.
Kurz nach der Wahl erleben wir ein rot-grünes Streich-konzert ohne Ende.Erstens: Eigenheimzulage – familienfeindlich.Zweitens: Gaspreiserhöhung und Ökosteuererhöhung.Eine Familie – das wissen diejenigen, die Kinder haben –verbraucht viel Energie für die Heizung, für die Wasch-maschine, für Warmwasser, für alles Mögliche. Also, Sievergrößern die Belastungen der Familien.
Drittens: Ausweitung der Beitragsbemessungsgrenzebei der Krankenversicherung und Erhöhung der Renten-versicherungsbeiträge. Für Mütter und Väter, die durcheigener Hände Arbeit das Familieneinkommen sichern,bedeutet das nicht mehr, sondern weniger netto.
Viertens: die Ankündigung, das Ehegattensplitting zukappen. Die Kappung haben Sie vor, obwohl Sie genauwissen, dass 70 Prozent der Familien vom Ehegatten-splitting profitieren. Die Grünen haben von diesem Vor-haben Abstand genommen. Frau Schewe-Gerigk, ich sageIhnen: Diese Pläne kommen wieder. Warten wir einmalein Jahr ab, dann kommt es.Fünftens. Frau Hanewinckel hat darauf verwiesen, wasdie Regierungskoalition durch das Zweite Familienförde-rungsgesetz alles erreicht hat. Dieses Gesetz enthielt dieStreichung des Haushaltsfreibetrages für Alleinerzie-hende und die Kürzung der steuerlichen Entlastung fürauswärts studierende Kinder. Frau Hanewinckel, Sie alsStaatssekretärin möchte ich bitten, sich vielleicht bei FrauHendricks schlau zu machen. Das BAföG haben Sie zwarerhöht, den Steuerfreibetrag für Eheleute, deren Kinderauswärtig studieren, haben Sie aber gesenkt.
Erzählen Sie mir nichts! Sie sind auf dem Irrweg. FragenSie einmal Ihren Steuerberater, der das besser als Sieweiß!
– Ich weiß das schon, Herr Küster. Ich weiß das besser alsSie. Herr Küster, ich komme aus diesem Beruf. Sie kön-nen mir nichts erzählen.
– Regen Sie sich ruhig auf! Ich glaube, Sie haben einRecht dazu, weil Sie alles falsch machen.Sechstens. Die hohe Arbeitslosigkeit trifft zuerstFrauen. SPD- und Grünen-Politiker sind für die schlechteArbeitsmarktlage verantwortlich.
Kein europäisches Nachbarland hat derart schlechte Wirt-schaftsdaten.Frau Hanewinckel schwebt wirklich auf Wolke sieben.Sie hat gesagt, Sie würden für die Vereinbarkeit von Fa-milie und Beruf sorgen.
In den letzten vier Jahren haben Sie überhaupt nichts ge-tan. Sie haben vier Jahre lang Verbesserungen im Kinder-betreuungsbereich versprochen, jetzt erst fangen Sie da-mit an. Sie haben noch nicht einmal eine Konferenzzustande gebracht. Frau Bergmann, die vorherige Frauen-ministerin, wollte einen Kinderbetreuungsgipfel; jetztwill ihn auch die neue Ministerin. Freuen wir uns darauf;bisher hat es nicht geklappt. Das ist Versagen auf derganzen Linie.
Ina Lenke
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002
Ina LenkeDa nützen Ihnen, meine Damen und Herren, die Hinweiseauf die Erhöhung des Kindergeldes nun überhaupt nicht.
Nein, Sie kürzen zwar das Kindergeld nicht, aber Sie zie-hen den Familien peu à peu das Geld durch andere ver-steckte Maßnahmen aus der Tasche. So sieht es aus.
Liberale Familienpolitik bedeutet, das kleinste und be-deutendste soziale Netz in unserer Gesellschaft durchniedrigere Steuern, durch Verringerung der Abgabenlast,durch ein nachhaltiges System zum Erhalt unserer sozia-len Sicherungssysteme und durch Steuerentlastung beiden Kinderbetreuungskosten zu fördern.Ich komme jetzt zum Schluss, Frau Präsidentin. DerBremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel – denkennen Sie ja alle – rechnete die mögliche finanzielle Be-lastung durch die Steuerbeschlüsse aus, die manchen Fa-milien die Tränen in die Augen treiben. Tränen der Wut,wie der „Weser-Kurier“ in Bremen kommentierte. Demkann ich nur zustimmen. So ist die Lage.
In Niedersachsen und Hessen werden, am 2. Februar2003, Landtagswahlen stattfinden. Mein Hinweis an frus-trierte Wählerinnen und Wähler lautet: Kommen Sie zuuns!
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich muss zunächst meine Stimme entschuldigen:Ich bin stark erkältet; ich hoffe, Sie sehen mir das nach.
– Schon länger.Ich möchte zuerst einen Blick zurückwerfen, weil ichzeigen möchte, was wir in der letzten Legislaturperiodeerreicht haben. Ganz allgemein: Wir haben ein modernesKinder- und Familienbild und ein modernes Gesell-schaftsbild auf den Weg gebracht. Jetzt führen wir das inForm der Förderung eines modernen Frauen- und Fami-lienbildes und moderner Beziehungsmodelle fort.
Das ist ein Erfolg. Darauf bin ich stolz. Ich bin mir sicher,dass die Punkte, die wir anführen und die ich noch aus-führen werde, dazu beitragen können.
Das war übrigens einer der Hauptgründe für unserenWahlerfolg. Das haben ja auch Sie, sehr geehrte Damenund Herren von der CDU, erkannt. Sie haben erkannt,dass Sie gerade für junge Familien und für junge Frauenkein attraktives Bild abgegeben haben, weil Sie ein an-tiquiertes Familienbild präsentiert haben.
Sie haben hier eine Neuorientierung Ihrer Politik an-gekündigt. Ich bin sehr gespannt, wie sich das äußert undob Sie sich der Lebenswirklichkeit junger Menschenwirklich annähern können.
Die Kollegin Riemann-Hanewinckel hat ja schon aus-geführt, was Rot-Grün in den letzten vier Jahren gemachthat, deswegen erwähne ich es nur ganz kurz: Kindergeld,steuerfreier Grundfreibetrag für Kinder, zusätzliche kind-bezogene Freibeträge, Absetzbarkeit erwerbsbedingterBetreuungskosten. Diese Reformen haben sich finanziellpositiv auf die Familien ausgewirkt.
53 Milliarden Euro sind in der letzten Legislaturperiodemehr für Familien ausgegeben worden. Das müssen unsandere Regierungen erst einmal nachmachen.
– In vier Jahren.Von den künftigen finanz- und gesellschaftspolitischenVorhaben will ich drei Punkte herausgreifen. Das eine istder Ausbau der Kinderbetreuung. Mit Ihrer Forderung,meine Damen und Herren von der Opposition, den Fami-lien und den Frauen bei der Entscheidung, ob sie ihre Kin-der selber betreuen oder Betreuungseinrichtungen nutzenwollen, die Wahlmöglichkeit zu lassen, haben Sie wirk-lich Recht; aber viele haben keine Wahl.
Ich komme aus Baden-Württemberg und habe einen zwei-einhalbjährigen Sohn. Vor diesem Hintergrund kann ichsagen: Baden-Württemberg ist das Land mit der misera-belsten Betreuungsquote überhaupt.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002 361
Eine Wahl ist erst möglich, wenn es flächendeckend Be-treuungsmöglichkeiten gibt. Erst dann kann ich entschei-den, ob ich die Betreuungseinrichtungen nutze oder dieKinder bei mir zu Hause bleiben.Wir haben im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dassder Bund dies durch eine gesetzliche Regelung sicherstel-len wird. Das Entscheidende hierbei ist, dass durch einegesetzliche Regelung festgeschrieben wird, dass in dieserLegislaturperiode in jedem Bundesland eine bedarfsge-rechte Betreuungsquote für Kinder unter drei Jahren vonmindestens 20 Prozent erreicht werden muss. Das sindrichtige Schritte, die jungen Familien nützen, die Verein-barkeit von Familie und Beruf ermöglichen und für Ge-rechtigkeit gegenüber Alleinerziehenden sorgen, weildiese ganz besonders auf Betreuungseinrichtungen ange-wiesen sind.
Zu den finanzpolitischen Vorhaben. Wir halten an un-serem Ziel der Haushaltskonsolidierung fest. Wir habensie zeitlich verzögert, aber wir halten daran fest. Haus-haltskonsolidierung ist ein elementarer Beitrag zu Gene-rationengerechtigkeit und für unsere Kinder.
Wir haben im Rahmen der Sparmaßnahmen aber im-mer auch darauf geachtet, die zusätzlichen Belastungenfür Familien mit Kindern gering zu halten. Das gilt bei-spielsweise für die Eigenheimzulage, über die wir morgennoch sprechen werden.
Die Fördermöglichkeiten für Familien mit Kindern sindbeibehalten worden. Ebenso bestehen weiterhin Förder-möglichkeiten für Familien, die erst bauen und dann Kin-der bekommen.
Aber richtig ist, dass es zu mehr Belastungen kommt,für Paare mit Kindern weniger als für Paare ohne Kinder.Zur Haushaltskonsolidierung müssen alle ihren Beitragleisten.
Wenn Sie nach den Auswirkungen der finanzpoliti-schen Vorhaben fragen, dann will ich noch eines an-führen: Die nächste Stufe der Steuerreform wird kommen,
und zwar am 1. Januar 2004.
Die erste Stufe der Steuerreform hat insbesondere für Fa-milien spürbare Entlastungen gebracht. Eine Familie mitzwei Kindern und durchschnittlichem Einkommen wirddurch unsere Steuerreform um 2 400 Euro pro Jahr ent-lastet. Wir haben diese Steuerreform auf den Weg ge-bracht, nicht Sie.
Meine Damen und Herren, Ausbau der Kinderbetreu-ungseinrichtungen, weitere Stufen der Steuerreform,Haushaltskonsolidierung und besondere Berücksichtigungvon Alleinerziehenden,
das sind einige unserer familienpolitischen Vorhaben undSchwerpunkte. Sie nutzen Familien, Kindern und der Ge-sellschaft.Vielen Dank.
Liebe Kollegin Andreae, ich gratuliere Ihnen im Na-
men des ganzen Hauses sehr herzlich zu Ihrer ersten Rede
im Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen alles Gute
und gute Besserung für Ihre Stimme.
Nächster Redner in der Debatte ist Thomas Dörflinger,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, esist gut, dass wir zu Beginn der 15. Wahlperiode diese De-batte führen; denn der Beginn dieser Wahlperiode unter-scheidet sich von dem Beginn anderer Wahlperioden da-durch, dass wir uns nicht mehr in einem parteipolitischenWettstreit darüber befinden, wer mit welchen Konzeptendie bessere Familienförderung erreicht, sondern an einemScheideweg stehen, an dem wir uns entscheiden müssenzwischen einer Familienpolitik, die sich an Art. 6 desGrundgesetzes orientiert, und einer Familienpolitik, diedie Änderung oder die Abschaffung dieses Artikels desGrundgesetzes notwendig macht.
Wir sind uns vermutlich darüber einig, dass die „FAZ“nicht unbedingt zu den Organen gehört, die sozialdemo-kratische Grundsatzpositionen vertreten.
Aber wir sind uns wahrscheinlich auch darüber einig, dassdiese Zeitung ein internationales Renommee besitzt undauf ihre Wortwahl durchaus achtet. Der Kommentator der„FAZ“ hat am vergangenen Montag seinen Kommentarmit den Worten beschlossen:Zerstörung der Ehe, Entwertung der Familie alsLebens- und Fürsorgegemeinschaft,
Kerstin Andreae
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002
Thomas Dörflinger– es ist interessant, dass Sie das lächerlich finden –das ist in der Tat eine kulturelle Revolution. Nur ori-ginell ist sie nicht. Sie entspringt der Tradition einesfreiheitsverachtenden sozialistisch-totalitären Den-kens ...Den Rest des Zitates erspare ich Ihnen.
Wenn sich der Kommentator der „FAZ“ einer solchenWortwahl befleißigt, dann müssten Ihnen eigentlich dieOhren klingen, dass in Ihrer Politik etwas nicht in Ord-nung sein kann.
In diesem Zusammenhang ist mindestens genauso in-teressant, dass sich der SPD-Vize Wolfgang Thierse heutebemüßigt fühlt, in einem Beitrag für die „Zeit“ aufzufor-dern, traditionelle Institutionen wie Kirchen und Familienwieder stärker aufzuwerten. Ich sage: Ausnahmsweise hatder Mann Recht, nur, er müsste in den eigenen Reihen da-mit anfangen, anstatt andere dazu aufzufordern.
Ihr Problem, meine Damen und Herren von Rot-Grün,ist: Sie haben ein tiefes Misstrauen gegenüber den Men-schen.
Sie trauen ihnen beispielsweise nicht zu, ihre Kinder ver-antwortungsbewusst so zu erziehen, dass das anschlie-ßend in Einklang mit dem zu bringen ist, was Sie an ideo-logischen Vorgaben gemacht haben.
Sie sind der Auffassung, der Staat müsse grundsätzlichalles regeln.
Dieser Auffassung sind wir nicht. Wir sind vielmehr derMeinung, dass jeder, familienpolitisch gesehen, nach sei-ner eigenen Fasson selig werden kann und dass der Staatnur dort eine Hilfeleistung anbieten sollte, wo sie not-wendig ist. Im Unterschied zu Ihnen überlassen wir esdem Einzelnen, wo und wann er Hilfe anfordert. Wirmaßen uns nicht an, zu entscheiden, wann unseren Bür-gerinnen und Bürgern geholfen werden sollte.
Wir haben ein grundsätzlich anderes Menschenbild.Das unterscheidet uns und das wird an dieser Frage deut-lich. Der Staat hat nicht die Aufgabe, Bedarfe zu wecken– im Übrigen entsteht ohne sein Angebot kein Bedarf –,nur weil er beispielsweise meint, dass Erwerbstätigkeitgrundsätzlich höher zu bewerten sei als Berufstätigkeit inder Familie.
Lassen Sie mich zwei abschließende Bemerkungen zuder nach meiner Meinung wenig geschmackvollenAnkündigung des SPD-Generalsekretärs und KollegenOlaf Scholz machen, man wolle die „Lufthoheit über denKinderbetten“ erreichen.
Dazu sage ich Ihnen eines: Die Lufthoheit über den Bet-ten unserer beiden Kinder haben meine Frau und ich.Dazu brauchen wir nicht Herrn Scholz, dazu brauchen wirnicht Frau Schmidt und dazu brauchen wir auch nichtHerrn Schröder.
Eine weitere Bemerkung zu dieser Ankündigung.
Wenn ich in das Zimmer meines Sohnes Klaus-Martin miteinem Foto dieses Kabinetts gehen würde, dann würde ermich fragen: Papa, was soll diese alte Truppe in meinemZimmer?Lassen Sie uns, die jungen Familien in Deutschland,einfach das tun, was wir für richtig halten. Wir können eswesentlich besser als Sie.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ingrid Arndt-
Brauer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich hoffe, dass Ihre zwei Kinder und meine vier Kin-der Ihre Rede nicht anhören mussten.
Dieses Niveau dürfen wir niemandem zumuten. Wir solltendieses Thema ernst nehmen und sachlich darüber reden.
Ich möchte daher am Anfang meiner Rede über dasMenschenbild sprechen, das wir zugrunde gelegt haben,als wir in der letzten Legislaturperiode reformorientierteGesetze auf den Weg gebracht haben.
Es ging beispielsweise um das Problem, wie man bei derRente mit Menschen umgeht, die jahrelang Kinder erzo-gen haben. Dieses Problem haben Sie uns ziemlich un-gelöst vor die Tür gelegt.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002 363
Es waren gerade die Frauen, die durch ihre Familien-leistungen erhebliche Ausfälle in der Rentenversicherunghinnehmen mussten.
Sie wissen, dass wir das verändert haben. Wir haben dieAnerkennungszeiten erhöht.
Wir haben für Menschen, die mehrere Kinder erziehen,Entgeltpunkte eingeführt. Sie wissen genauso gut wie ich,dass wir bei der Riester-Rente eine sehr hohe Kinderför-derung eingebaut haben. Das kommt den Familien sehrzugute.
Zur Beruhigung eines Vorredners will ich sagen, dassdas Ehegattensplitting bleibt.
Auch bei uns hat das Ehegattensplitting einen hohen Stel-lenwert. Diesen Punkt wollte ich noch einmal deutlichmachen.Auch Sie haben 16 Jahre lang gefordert, Subventionenmüssten abgebaut werden.
Jeder Bürger fordert dies. Wir haben aber folgendes Pro-blem: Es gibt circa 20Millionen Familien in Deutschland.Wenn man Subventionen abbaut, ist es schwierig, nur diezu treffen, die keine Familie haben.
Mit unseren Maßnahmen treffen wir ein wenig auch dieFamilien. Aber wir haben uns bemüht, beim Subventions-abbau die Familien nicht, wie Sie es vorhin unterstellt ha-ben, über Gebühr zu treffen.
Wenn man bedenkt, dass mit dem Subventionsabbauder Haushalt konsolidiert wird und damit eine verantwor-tungsvolle und nachhaltige Politik möglich wird, dannmuss man sagen, dass dieser Abbau den Familien zugutekommt.
Wenn Sie sich dann noch anschauen, was wir streichen,dann werden Sie mir zustimmen, dass alles nicht soschlimm ist.
Sie können niemandem erklären, dass die Senkung derlinearen Gebäudeabschreibung per se familienfeindlichist. Sie können ferner niemandem erklären, dass die Er-höhung der Pauschale bei privater Nutzung von Firmen-wagen familienfeindlich ist.
Auch die Einführung von Kontrollmitteilungen seitensder Banken an die Finanzbehörden ist vom Ansatz hernicht familienfeindlich.
Vielleicht wirkt sie sich auf die eine oder andere Familienegativ aus; das mag so sein. Aber ich denke, wir alle wol-len, dass eine vernünftige Finanzpolitik gemacht wird.Deswegen ist diese Einführung völlig in Ordnung.Dass wir bei der Eigenheimzulage besonders die Kin-der als Förderpotenzial herausstellen, ist nicht familien-feindlich.
– Nein, nicht ab dem sechsten Kind. – Im Gegenteil, wirerhöhen zum Beispiel die Ökozulage bei der Eigenheim-förderung. Wir handeln also nachhaltig, indem wir denFamilien, vor allem den Kindern, eine vernünftige Welthinterlassen. Das ist sehr familienfreundlich.
Wir nehmen einige Dinge bei der Umsatzsteuer zurück,
die jahrelang Subventionen waren. Das mag natürlich beidem einen oder anderen Betrieb, der Familienangehörigebeschäftigt, zu Einbußen führen.
Aber Sie können keinem verkaufen, warum es solche Sub-ventionen weiterhin geben muss. Bei einigen Dingen kannman nur mit dem Kopf schütteln, zum Beispiel dass wirSporen zur Aussaat privilegiert behandelt und Stroh undStreu bevorzugt besteuert haben. Auch Abfälle aus der Le-bensmittelindustrie wurden mit dem halben Steuersatzbesteuert. Worin bei den hier vorgesehenen MaßnahmenFamilienfeindlichkeit besteht, kann ich nicht erkennen.
Alles in allem muss man klarstellen: Wir versuchen,den Haushalt zu konsolidieren, ohne die Leistungen fürdie Familie zurückzufahren. Im Gegenteil: Wir versu-chen, die Lebenssituation der Familien zu verbessern.
Ingrid Arndt-Brauer
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002
Ingrid Arndt-BrauerDie Unterstellung, die in dem Thema der von Ihnen bean-tragten Aktuellen Stunde deutlich wird, wird nicht da-durch wahrer, dass Sie Ihre Aussagen hier im Bundestagmachen und sie nicht nur in entsprechenden Presseorga-nen verbreiten.
Wir sollten uns zusammensetzen, vernünftig über allessprechen, die Schärfe herausnehmen und ein bisschen aufdas Niveau unserer Diskussion achten.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Ingrid Fischbach,
CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das war jetztder absolute Kracher.
Ich hoffe, und zwar nicht nur für uns, sondern für alle an-deren, dass gerade viele Menschen bzw. Familien vor demFernseher gesessen und dem zugehört haben, was Sie,verehrte Frau Kollegin Arndt-Brauer, hier zum Besten ge-geben haben: Die Familien werden zum Subventions-fall der neuen Bundesregierung gemacht. Dazu kann ichnur sagen: Machen Sie weiter so! Denn dann, FrauHanewinckel, werden Sie genau das erleben, was Sie vor-hin angesprochen haben. Am 22. September seien Sie, sosagten Sie, von den Familien und Frauen gewählt worden,und Sie fragten, warum wohl. Angesichts der jetzigenUmfrageergebnisse frage ich Sie: Warum wohl? Das, wasdie Kollegin gerade gesagt hat, war besser als all das, wasich darauf hätte antworten können. Machen Sie weiter so!Sie werden die Quittung bekommen.
Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärungein Jahrzehnt für die Familien angekündigt. Er willDeutschland zu einem familienfreundlichen Land machen.
Im Koalitionsvertrag steht: „Wir stärken die Familien unddas Leben mit Kindern.“
Nach der Rede von eben, nach Ihren Aussagen ist festzu-stellen: Sie sind dabei, die Familien zum Subventionsfallzu machen.
Die konkreten Maßnahmen im Koalitionsvertrag: keine.Trotz der angespannten Lage, in der sich die Familien zur-zeit in Deutschland befinden, werden in der kommendenLegislaturperiode keine Entlastungen erfolgen. Vielmehrwerden die Familien stärker belastet als bisher. Das ist derfalsche Weg.Das werde ich Ihnen an zwei Stellen deutlich ma-chen – ich spreche jetzt nicht über Milliardenbeträge; dasversteht draußen keiner; denn die Portemonnaies der Fa-milien sind klein und die Budgets eng; da geht es um ein-zelne Euro, um einzelne Cent –: an der Krankenversiche-rung und an der Rentenversicherung. Das sind Dinge, diedie Menschen draußen verstehen. Denn hier muss Vor-sorge bzw. Planungssicherheit für das Alter geschaffenwerden. Daran denken die Menschen. Schauen wir ein-mal, was Sie den Familien hier anbieten: Führen Sie hierEntlastungen durch? Geben Sie Planungssicherheit? Hel-fen Sie den Familien? Gibt es hier eine Familienförde-rung? Fördern Sie Familien? – Pustekuchen!Herr Kuhn, Sie sitzen hier so locker und lustig.
Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Sie gesagt haben:Ein Rentenbeitrag von 19,3 Prozent, das ist das letzteWort!Wir erleben jetzt, dass die Koalitionsvereinbarungnicht das Papier wert ist, auf dem sie steht; denn sie hatnicht einmal drei Wochen gehalten.
Was hat die Ministerin Ulla Schmidt nicht alles ver-sprochen! – Sie ist heute nicht da. Das ist auch nicht tra-gisch. Sie hat weit wichtigere Probleme zu lösen. – Nochim August hat sie gesagt, ob man es hören wollte odernicht: Die Opposition redet Unsinn. Die Krankenkassen-und Rentenversicherungsbeiträge sind stabil. Wir lassenuns doch nicht schlecht reden. – Was haben wir jetzt aufdem Tisch? Herr Kuhn hat gesagt, 19,3 Prozent seien dasletzte Wort. Nun sind es 19,5 Prozent für die Rentenversi-cherung. Wissen Sie, was die Anhebung von 19,1 Prozentauf 19,5 Prozent für die Familien bedeutet?
– Sie haben gesagt, die Beiträge blieben stabil. Zu diesemZweck haben Sie die Ökosteuer eingeführt. Sie haben ge-sagt: „Liebe Leute, ihr müsst jetzt Ökosteuer zahlen, weilwir die Rentenbeiträge stabil halten wollen“, und die Men-schen haben es getan. Jetzt aber zahlen sie Ökosteuer, er-höhte Rentenbeiträge und – jetzt kommt das Schlimmste –auch die Heizölkosten werden steigen.
Das bedeutet für die Familien eine zusätzliche Belastungvon im Schnitt 75 Euro pro Monat. Wer soll das denn be-zahlen? Das ist doch schier unmöglich.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002 365
Mein Kollege Laumann hat einmal gesagt: Um dieRentenbeiträge stabil zu halten, müssen wir jetzt vielmehr Auto fahren: Rasen für die Rente. Meine Damen undHerren, Sie setzen noch eins drauf. Jetzt heißt es nicht nur:„Rasen für die Rente“, sondern auch: „Heizen für dieRente“. Je kälter der Winter, desto sicherer ist unsere Al-tersvorsorge. Liebe Leute, so geht es doch wirklich nicht!
Sie erhöhen die Krankenkassenbeiträge und die Ren-tenversicherungsbeiträge. Wo entlasten Sie eigentlich dieFamilien? Wenn Sie in dieser Form ein Jahrzehnt weiter-machen, dann werden wir keine Familien mehr haben.
Ihre Kollegin hat vorhin gesagt: Man muss offensichtlicherst ein Haus bauen und kann erst dann Kinder kriegen.Aber dann will keiner mehr Kinder, weil es nicht zu be-zahlen ist. Dann wird auch niemand mehr das Haus bauenkönnen, das er bauen will, zumindest wird er es nicht ab-bezahlen können.
– Herr Dreßen, Sie können schimpfen, so viel Sie wollen.Sie wissen, dass ich Recht habe. Deshalb ärgern Sie sichauch so.
Sie haben in beiden Bereichen, sowohl bei der Kran-kenversicherung als auch bei der Rentenversicherung, ei-nen faulen Kompromiss ausgehandelt. Sie wissen ganz ge-nau, dass die Zahlen, die Sie jetzt auf den Tisch gelegthaben, keinen Bestand haben werden. Das heißt, dass dasEnde der Fahnenstange noch nicht erreicht ist. Die Beiträgesind weder stabil noch ist ein Ende der Beitragserhöhungenin Sicht. Es wird weitergehen. Das werden die Familiennicht mitmachen; das haben sie auch nicht verdient. DieMenschen in Deutschland haben Stabilität verdient, einfaires Miteinander und auch, zu wissen, wohin es geht.Meine Damen und Herren, in der „Financial Times“vom 5. November steht ein Artikel mit der Überschrift„Das Letzte“. Die neue Familienministerin – eine starkeFrau, sie kämpft für die Familien – sagt in diesem Artikel:Ich hasse meinen Job! ... Für meine Aufgabe habe ichkein Geld und keine Gesetzgebungskompetenz, des-halb wurde ich offenbar ausgesucht.
Ich kann Ihnen nur sagen: Die CDU/CSU hat Kompe-tenz. Wir hassen unseren Job nicht, sondern machen ihngerne und wir machen ihn für die Familien.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ekin Deligöz,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Fischbach, wenn ich Sie von Quittungen spre-chen höre, fällt mir nur eine Quittung ein: Wir haben dieWahl gewonnen, Sie nicht.
Im Übrigen: Sie reden über Zeitungsartikel vom 5. No-vember, ich über Zeitungsartikel vom 6. November. Darinsteht, dass die Preise für Heizöl nicht erhöht werden. Dasist auch Tatsache.
Es gibt noch einen Punkt, den ich hier mit einer gewis-sen Ironie und auch mit einer gewissen Bitterkeit anspre-che.
Wenn Frau Eichhorn in dieser Runde aufsteht und dieWorte „Bedarfsgerechtigkeit und Verlässlichkeit“ in denMund nimmt, während die Bayerische Staatsregierungplant, innerhalb der kommenden Jahre 9 000 Kindergärt-nerinnen- bzw. Erzieherinnenstellen und
3 800 Kindergartengruppen zu streichen und sich immernoch weigert, das Recht auf einen Kindergartenplatz inBayern umzusetzen, dann ist das nicht nur ironisch, son-dern, wie ich finde, kinder- und elternfeindlich und nichtsanderes.
Herr Dörflinger, Sie haben eine schöne Rede gehalten;aber Sie waren, glaube ich, im falschen Film. Sie haben esirgendwie nicht verstanden. Wir reden überhaupt nichtüber Art. 6.
Kein Mensch redet über Art. 6. Kein Mensch will ihn an-tasten. Ganz im Gegenteil: Wir reden hier über die Fami-lien, über die Realität in den Familien, über das, was dieEltern wollen, über das, was die Eltern brauchen, überdas, was wir für sie tun können. Wir wollen – darin unter-scheiden wir uns von Ihnen – Eltern in diesem Land nichtallein lassen. Wir wollen sie nicht im Stich lassen.
Ingrid Fischbach
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002
Ekin DeligözWir wollen uns dieser Verantwortung stellen. Wir wollendiese Aufgabe ernst nehmen und wahrnehmen.
Eine Sache muss ich noch ansprechen. Es ist an derZeit, finde ich, dass wir gerade dann, wenn es um dieZukunft der Familien, um die Zukunft der Kinder indiesem Land geht, endlich anfangen, über geeignete Maß-nahmen im Bereich der Infrastruktur und zum Teil auchim Bereich der Förderung zu debattieren.
Vor allem müssen wir diese ideologisierten Debatten be-enden. Der Satz von Herrn Scholz von der Hoheit in denKinderzimmern – das muss man hier offen erwähnen –gehört dazu. Das gefällt auch mir nicht.
Uns geht es darum, die öffentliche Verantwortung fürunsere Kinder zu übernehmen, und zwar gemeinsam. Esgeht darum, Lebensbedingungen zu verbessern, und esgeht darum, sie zu optimieren. Es geht um Beratung, esgeht um Hilfsangebote, es geht um Elternkompetenz, esgeht um Kinderrechte.Mir gefällt es auch nicht, wenn ich, wo es um Ganz-tagsschulen und Ganztagskindergärten geht, wo es umQualität in der Pädagogik geht, wo es nicht nur darumgeht, was für die Eltern gut ist, sondern auch darum, wasfür unsere Kinder gut ist, von Herrn Goppel einen Satzwie „Das kennen wir aus kommunistischen Staaten wieder DDR und der Sowjetunion, mit verheerenden Aus-wirkungen“ in der Zeitung lesen muss. Liebe Kolleginnenund Kollegen, ich bitte Sie: Kehren Sie doch bitte in dieRealität der Politik zurück!Worum geht es uns? Es geht uns darum, Standards zuschaffen, damit sich Eltern, insbesondere Mütter, ent-scheiden können, berufs- bzw. erwerbstätig zu bleiben,damit gut qualifizierte Frauen, aber nicht nur die, ihre Er-werbstätigkeit fortsetzen können. Es geht um Qualität inden Betreuungseinrichtungen. Es geht nicht um Sozialis-mus. Es geht um ein Kinder- und Jugendhilfegesetz – demSie übrigens zugestimmt haben – das weder von Marxnoch von Lenin verfasst wurde, sondern vom Bundestagverabschiedet wurde.
Kehren wir zu einer weiteren Realität zurück. DieseRegierung hat deutlich etwas für die Familien getan.
Wir haben Familien aus der Armut herausgeholt. Ichnenne nur: Erhöhung der Freibeträge, Kindergelder-höhung, BAföG, gesetzliche Rentenversicherung, Aner-kennung von Erziehungszeiten, Erziehungsgeldreform,Kinderrechte. Das alles war Bestandteil unserer Gesetz-gebung.
Das sind die Gesetze, gegen die Sie gestimmt haben.
Bei keiner einzigen dieser Maßnahmen zur Familienför-derung habe ich Sie zustimmen sehen.
Sie haben nirgendwo zugestimmt und das, denke ich,spricht für Ihre Politik.Zum Schluss kann ich nur eines sagen: Gerade wir alsGrüne führen die Gerechtigkeitsdebatte. Wir führen dieGenerationendebatte. Wir sind die Anwälte der Eltern undKinder. Sie haben das längst verspielt.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Antje Blumenthal,
CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! FrauDeligöz, manchmal ist der Blick zurück doch ganz hilf-reich. Erinnern Sie sich bitte daran, was unter CDU/CSU-FDP-geführten Regierungen seit 1986 alles umgesetztworden ist!
Sie haben es nicht geschafft, Erziehungszeiten anzurech-nen. Sie haben die Rentnerinnen betrogen. Daran solltenSie sich erinnern! Sie sollten sich auch daran erinnern,was wir in dieser Zeit geleistet haben und um wie viel wirdas Kindergeld erhöht haben. Das sollten Sie sich einmalhinter die Ohren schreiben.
Frau Deligöz, Sie haben sich darauf bezogen, dass Siedie Wahl gewonnen haben.
Dumm sind wir ja auch nicht. Aber fragen Sie heute bitteIhre Wählerinnen und Wähler, die Ihren VersprechungenGlauben geschenkt haben! Diese sind bitter betrogenworden. In Ihren heutigen familienpolitischen Papierenheißt es: Ziel der Familienpolitik von Rot-Grün soll unteranderem sein, die materielle Sicherheit von Familien zuverbessern. – Tatsächlich sind die familienpolitischenAuswirkungen der Koalitionsbeschlüsse aber katastro-phal.
Wer unter Rot-Grün Kinder und Familie in unseremLand hat, setzt sich einem nicht unerheblichen Armuts-
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risiko aus. Anstatt diesen Missstand zu beseitigen, werdendie Familien aufgrund der bisher von Ihnen angekündig-ten Maßnahmen in ihrem ohnehin schon engen finanziel-len Spielraum weiter beschnitten. Alle vollmundigenWahlversprechungen von Rot-Grün erweisen sich alsdreiste Täuschung. Ich frage Sie, meine Damen und Her-ren von der Regierungskoalition: Können Sie eigentlichmorgens noch in den Spiegel schauen? Ich glaube, Sie tunes lieber abends, weil Sie sonst rot würden.
Frau Staatssekretärin Riemann-Hanewinckel, auch Siehaben betont, dass Ihre Partei insbesondere von Frauengewählt worden sei. – Vielleicht können Sie mir zuhören,Frau Staatssekretärin. Ich wollte Sie eigentlich direkt an-sprechen.
– Vielleicht sollte ich auch danach fragen. – Wir habenzurzeit in unserer Republik ein Problem: Sie behauptenimmer, dass Sie die Wahl zu Recht gewonnen hätten. Ob-wohl wir verzweifelt die Wähler und Wählerinnen vonRot-Grün suchen, können wir sie nicht finden. Alle, die zuuns kommen, beklagen sich über Ihre Beschlüsse und be-reuen es, nicht uns gewählt zu haben.
Ich möchte – da das von der Regierungskoalition nichtzur Sprache gebracht worden ist – noch einmal auf die vonIhnen gemachten Versprechungen bzw. auf die Stellenzurückkommen, wo es Veränderungen geben soll. Vor derBundestagswahl hat die SPD vollmundig von einer Kin-dergelderhöhung auf 200 Euro geredet. Davon hat sichRot-Grün mittlerweile verabschiedet. Noch nicht einmaleine minimale Kindergelderhöhung ist im Koalitionsver-trag vorgesehen. Insbesondere Familien mit kleinen Ein-kommen werden so von Ihnen weiterhin massiv benach-teiligt werden. Der Familienleistungsausgleich wird vonIhnen weder weiterentwickelt noch den von Ihnen zu ver-antwortenden steigenden Lebenshaltungskosten ange-passt. Wie gesagt, die Kindergelderhöhung ist vom Tisch.Eine Anpassung des Erziehungsgeldes an die steigendenLebenshaltungskosten ist nicht in Sicht.Die Kindererziehungszeiten sollten in der Pflegeversi-cherung angemessen berücksichtigt werden; Sie hattenversprochen, das unverzüglich zu tun. Jetzt ist zu lesen,dass Sie frühestens im Jahr 2004 das umsetzen werden,was Ihnen vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenworden ist.Die Koalition hat außerdem sinkende Sozialversiche-rungsbeiträge versprochen. Das Ergebnis sind steigendeSozialversicherungsbeiträge und damit auch steigendeLohnnebenkosten. Ich habe ja noch immer die Hoffnung,dass Rot-Grün irgendwann versteht: Das, was wir in dergegenwärtigen Situation dringend benötigen, sind sin-kende und nicht steigende Lohnnebenkosten.
In der nächsten Stufe der Ökosteuer werden die Kostenfür Sprit, Strom und Erdgas erhöht. Diese Erhöhungenwerden Haushalte mit Kindern überproportional stark be-lasten; denn Kinder im Haus erhöhen die Verbrauchskos-ten deutlich. Kinder können aber nichts zur Entlastungbzw. Kostendeckung beitragen.All diese von Ihnen geplanten Maßnahmen tragen zueiner massiven Verschlechterung und nicht zu einer Ver-besserung der Situation der Familien bei. Schon heute le-ben 1 Million Kinder in der Sozialhilfe und fallen somitin den Bereich der Kinderarmut. Bereits in der letzten Le-gislaturperiode geschah vonseiten der Regierung nichts,um die Situation der Familien zu verbessern. Und jetzt?Durch die von Ihnen geplanten und vor allen Dingen zuvertretenden Mehrbelastungen werden noch mehr Fami-lien und deren Kinder in Armut fallen.
Anstatt die Kinder und ihre Familien aus der Kinder- undFamilienarmut zu befreien, verschlechtern Sie die Situa-tion und nehmen den Menschen damit die Chancen für dieZukunft. Wenn das die von Ihnen neuerdings bean-spruchte Lufthoheit über den Kinderbetten ist, von der IhrGeneralsekretär Scholz verächtlich spricht,
dann gute Nacht!
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Caren Marks, SPD.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Familien sind in; 88 Prozent der jungen Men-schen wünschen sich Kinder und Familie. Das ist das Er-gebnis der Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 1998. Dassaber circa 40 Prozent der Akademikerinnen bis zum 39.Lebensjahr keine Kinder haben, steht dazu zunächst ein-mal im Widerspruch. Die Gründe liegen jedoch auf derHand: Familie – sprich: Kinder zu wollen – ist eine Sache;eine andere ist es, die Unwägbarkeiten, die mit der Fami-liengründung verbunden sind, zu meistern.Das traurige Resultat von 16 Jahren konservativer,rückständiger Familienpolitik
der CDU/CSU und der FDP
waren die verfassungswidrige finanzielle Benachteili-gung von Familien,
mangelhafte Betreuungsmöglichkeiten und ein familien-feindliches Klima.
Antje Blumenthal
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002
Caren Marks1998 wurde es höchste Zeit, Kinder und Familien ausdem Abseits zu holen und wieder in das Zentrum der Ge-sellschaftspolitik zu stellen.
Dem längst überholten, ideologisch gefärbten Familien-bild der Union haben wir, die SPD, eine moderne und ge-rechte Familienpolitik entgegengesetzt,
eine Familienpolitik, die sich an der Lebensvorstellungund der Lebenswirklichkeit von jungen Paaren und jun-gen Familien orientiert. Die Familienpolitik der SPD ba-siert auf zwei Säulen: Die erste Säule,
die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Fami-lien, war ein Schwerpunkt der letzten Legislaturperiode.Wir haben deutlich zugunsten der Familien umverteilt.Mit der Erhöhung von Kindergeld und Steuerfreibeträgen,der Anhebung von Einkommensgrenzen beim Erzie-hungsgeld und den Verbesserungen beim Wohngeld undBAföG haben wir Familien spürbar entlastet.
Im Vergleich zur alten, unionsgeführten Regierung ge-ben wir jedes Jahr 13 Milliarden Euro mehr für Familienaus. Obwohl Union und FDP eine Anpassung materiellerRahmenbedingungen für Familien 16 Jahre lang vernach-lässigt haben, versuchen Sie, sehr geehrte Damen undHerren von der Opposition,
die Familienpolitik nun auf diese materiellen Rahmenbe-dingungen zu reduzieren. Doch da haben Sie die Rech-nung ohne die Familien und insbesondere ohne die jungenFrauen gemacht.
Denn diese setzen insbesondere auf die zweite Säule un-serer Familienpolitik: eine Verbesserung der strukturellenRahmenbedingungen. Die Vereinbarkeit von Familie undBeruf ist hier an erster Stelle zu nennen.Erste entscheidende Verbesserungen haben wir bereitserreicht. So erleichtern der Rechtsanspruch auf Teilzeitar-beit, die Flexibilisierung der Elternzeit, aber auch diesteuerliche Absetzbarkeit erwerbsbedingter Betreuungs-kosten bereits die Vereinbarkeit von Familie und Er-werbsarbeit.
Diese Verbesserungen sind aber noch nicht ausrei-chend. In Sachen Kinderbetreuung – angefangen bei denKrippenplätzen über Ganztagskindergärten und Hort-plätze bis hin zu Ganztagsschulen – ist Deutschland in-nerhalb Europas ein Entwicklungsland. In dieserLegislaturperiode räumen wir dem Ausbau der Ganztags-betreuung Priorität ein und stellen hierfür 4 MilliardenEuro zur Verfügung.
Die Union hat nichts dazugelernt. Mit dem Familien-geld wollten Sie, meine geehrten Damen und Herren vonder Opposition, da weitermachen, wo Sie aufgehört ha-ben. Junge Mütter sollten mit dem Familiengeld, einerZuhause-bleib-Prämie, abgespeist werden.
Dieses Familienkonzept missachtet die Lebensvorstellun-gen der jungen Generation. Über die Finanzierung des Fa-miliengeldes hat sich die Union wenig Gedanken ge-macht.
Ein über Schulden finanziertes Familiengeld hätten dieKinder, die Sie entlasten wollten,
bezahlt; denn die Kinder werden morgen für die Bedie-nung der Schulden geradestehen müssen, die Sie verursa-chen.Doch die Menschen wissen, wer etwas für Familientut und wer nur über Familienförderung redet. So wer-den wir mit den Stimmen der Mütter und Väter weiterfür ein kinder- und familienfreundliches Deutschlandsorgen.
Anders als bei der Union war und ist für uns Sozialde-mokratinnen und Sozialdemokraten dabei klar: Wirschreiben keiner Familie und keiner Frau vor, wie sie le-ben sollen.
Wir ermöglichen es den Menschen aber, so zu leben, wiesie leben wollen. Kinder dürfen für Frauen nicht längerVerzicht auf Karriere bedeuten und Karriere darf fürFrauen nicht länger Verzicht auf Kinder bedeuten.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002 369
Der Wirtschaftsstandort Deutschland kann weder aufhoch qualifizierte, motivierte Frauen verzichten, nochkann unsere Gesellschaft auf Kinder verzichten.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das war Ihre erste Rede, Frau Kollegin. Ich gratuliere
Ihnen zu dieser ersten Rede.
Auch die Kollegin, die jetzt das Wort erhält, Rita
Pawelski, wird ihre erste Rede im Plenum halten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kol-legin Marks, wenn man aus einem Land kommt, das inBezug auf die Kinderbetreuung im untersten Drittel imLändervergleich liegt, wenn man aus einem Land kommt,das Weltmeister im Schuldenmachen ist – das neue, un-gedeckte Haushaltsloch beträgt 1,3 Milliarden Euro –,wenn man aus einem Land kommt, das in der PISA-Stu-die noch hinter Polen rangiert, dann sollte man hier andersauftreten.
In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung steht wört-lich:Unser Familienbegriff ist so vielfältig wie die Le-bensumstände der Menschen ...So ganz ernst scheint Rot-Grün diesen Satz nicht zu neh-men; denn Sie haben in Ihren Vereinbarungen eine wich-tige Gruppe kaum berücksichtigt: die Alleinerziehenden.
Die werden von Ihnen hart getroffen. In Deutschland lebenrund 2 Millionen allein erziehende Mütter und Väter, diesich um 2,8 Millionen Kinder kümmern. Dass es diesenFamilien finanziell nicht gut geht, dass es ihnen schlechtgeht, dürfte selbst Ihnen von Rot-Grün bekannt sein. Dennüber 50 Prozent dieser Familien leben von Sozialhilfe. DasDurchschnittseinkommen beträgt 1 700 Euro. Das ist wahr-lich nicht viel.Umso schlimmer ist: Sie schröpfen die Mütter und Vä-ter, die es schaffen, den Lebensunterhalt für sich und ihreKinder nicht durch Transferleistungen, sondern durch Er-werbsarbeit zu bestreiten. Sie schämen sich nicht, diesenMenschen, die es oft schwer genug haben, tief in die Ta-sche zu greifen. Den Alleinerziehenden wird der Haus-haltsfreibetrag, der zuletzt 3 000 Euro betrug, stufenweisebis 2005 weggenommen. Das ist ein Riesenskandal.
Aber das reicht Ihnen immer noch nicht. Durch Ihreunsoziale Renten-, Gesundheits- und Steuerpolitik belas-ten Sie diese Familien zusätzlich. Sie nehmen ihnen dieLuft zum Atmen.
Wissen Sie eigentlich, was es heißt, jeden Cent nicht drei-mal, sondern fünfmal umzudrehen? Wissen Sie eigent-lich, wie diese Familien unter Ihrer Politik leiden? UndSie reden von sozialer Gerechtigkeit!
Alleinerziehende sind stärker als andere auf Betreu-ungseinrichtungen angewiesen. Im Koalitionsvertrag for-dert Rot-Grün verlässliche Betreuungseinrichtungen undsetzt dabei den Schwerpunkt bei Kindern bis zu drei Jah-ren. Dafür wollen Sie 1,5 Milliarden Euro zur Verfügungstellen. Nur, dieses Geld stellen in Wahrheit nicht Sie vonder Regierung den Kommunen zur Verfügung. Vielmehrsoll es aus den Minderausgaben bei der Umsetzung desHartz-Konzeptes erwirtschaftet werden – eines Konzep-tes, das noch gar nicht umgesetzt ist.
Sie verteilen also das Fell des Bären, den Sie noch nichteinmal gesichtet haben.
Es kommt hinzu: Diese Summe reicht nicht. Das hatIhnen auch der Deutsche Städtetag vorgerechnet. Er gehtvon Kosten in Höhe von mindestens 2,4 Milliarden Euroaus. Zur jetzt schon offensichtlichen Finanzierungslückevon 900 Millionen Euro schweigen Sie. Wie wollen Siedies finanzieren? Und vor allem stellt sich die Frage: Wersoll dies tun? Die Kommunen, die von Ihnen ausgeblutetwurden, können die Mehrbelastungen nicht mehr tragenund wehren sich. Was sollen sie anderes tun? Sie werdendie Kosten an die Familien weiterreichen. Das trifft danngenau diejenigen, die eigentlich Ihre Hilfe brauchen,nämlich die Alleinerziehenden.Nicht nur die Betreuung der ganz Kleinen ist durch IhreFinanzierung nur mangelhaft gesichert. Zur Betreuungder Kinder zwischen drei und sechs steht in Ihrer Koali-tionsvereinbarung kein einziges Wort.
Der von Rot-Grün angekündigte Ausbau der Ganz-tagsschulen entpuppt sich als schillernde Seifenblase, diesehr schnell platzen wird, weil auch hier die Kommunenzur Kasse gebeten werden. Ihre Finanzierungshilfen gibtes nur für einen kleinen Teil der Sachkosten; der Löwen-anteil, nämlich die Personalkosten, muss hauptsächlichvon den Ländern, die ebenfalls pleite sind – das gilt zu-mindest für Niedersachsen –, und von den Kommunenaufgebracht werden.
Caren Marks
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002
Rita PawelskiDie Kommunen wissen das und wehren sich gegen dieEinrichtung der Ganztagsschulen. So wurden zum Bei-spiel in Niedersachsen von 140 Optionen auf Ganztags-schulen nur zwölf angenommen, weil sich die Kommunendie Finanzierung einfach nicht leisten können.
Dabei wissen wir doch alle, dass gerade Alleinerziehendeauf Ganztagsschulen angewiesen sind.Im Klartext heißt das: Durch Ihre Politik ist keine bes-sere Betreuung für Schulkinder in Sicht. Die Familienwerden sich bei Ihnen bedanken! In dem rot-grünen Koa-litionsvertrag steht:Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, umArmut von Familien zu vermindern.Ich sage Ihnen: Sie machen Familien arm.
Auch Ihnen, liebe Frau Kollegin, gratuliere ich zur ers-
ten Rede hier im Plenum.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Lydia Westrich,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Eichhorn und Herr Dörflinger, Sie und Ihre Parteiwaren, wenn es um die Familie geht, schon immer gut imHalten von Sonntagsreden. Aber Ihre Redebeiträge heuteund die Ihrer Kollegen haben die Familien nicht verdient.
Das, was Sie heute von sich gegeben haben, spottet jederBeschreibung.
Sie haben gezeigt, dass Sie noch immer nicht wissen,wie eine moderne familienfreundliche Politik aussieht.Sie haben bis heute keine Ahnung davon. Seit vielen Jah-ren beobachten wir und die staunende Öffentlichkeit, wieSie die Rahmenbedingungen für Familien immer an derLebenswirklichkeit vorbei formulieren, wenn Sie über-haupt zu Formulierungen kommen. Die Quittung dafürhaben Sie bei der Bundestagswahl vor allem von den jun-gen Frauen erhalten. Diese konnten mit dem von Ihnenpropagierten, aber nicht finanzierbaren Familiengeldnichts anfangen.
Sie entwerfen jetzt ein Familienbild, das niemandenmehr anspricht. Junge Menschen verbinden heute ganzselbstverständlich den Wunsch nach Beruf und Familie.Sie sind gut ausgebildet und wollen ihre Fähigkeiten ein-setzen. Sie verlangen von uns, nicht nur die wirtschaftli-che Situation für Familien zu verbessern – was wir getanhaben und was wir auch weiterhin tun werden –, sie wol-len, wie es in unserem Koalitionsvertrag steht, ein be-darfsgerechtes und verlässliches Betreuungsangebot fürihre Kinder.
Diesen Wunsch werden wir ihnen in dieser Legislatur-periode erfüllen.
Jahre um Jahre hat Ihnen, meine Damen und Herrenvon der Opposition, das Bundesverfassungsgericht be-scheinigt, dass Sie die Familien zu hoch besteuert haben.
Sie haben gerade denjenigen, die Ihnen angeblich so amHerzen liegen, das Geld zu Unrecht aus der Tasche gezo-gen. Mit viel Geld und hohem finanziellen Einsatz habenwir Ihre verfassungswidrige Familienpolitik erst wiederin Ordnung bringen müssen.
Sie waren gegen alles: gegen die Erhöhung des Kinder-geldes, gegen die Steuerentlastungen, gegen die Er-höhung des Erziehungsgeldes, gegen den Rechtsanspruchauf Teilzeitarbeit.
Elternzeit für Väter und Mütter, das ist ein Fremdwort fürSie.
Nachhaltigkeit ist in Ihrem Gehirn ebenfalls nicht gespei-chert.
Nachhaltige Politik – ich will es Ihnen noch einmal er-klären – betrifft die Umwelt und die Finanzen; sie sichertdie Zukunft. Wir sind immer noch damit beschäftigt,Ihren Schuldenberg abzubauen, der eine Riesenhypothekfür die nächsten Generationen darstellt. Sie haben eineverantwortungslose und für die Familien verfassungswid-rige Politik betrieben und kommen uns jetzt mit Vorwür-fen, weil wir das Ruder herumgerissen haben.
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002 371
Ja, wir werden sparen, Subventionen abbauen und dieFörderungen auf die Menschen, die es wirklich nötig ha-ben, konzentrieren. Wir werden die Eigenheimzulage kin-derfreundlich ausgestalten.
– Frau Lenke, sie soll nicht Ihnen, sondern denjenigen zu-gute kommen, die sie dringend brauchen; Sie brauchen sienämlich nicht. Darüber diskutieren wir morgen aber aus-führlich.
– Das stimmt ja nicht. Sie kennen den Gesetzentwurf janoch gar nicht. Sie müssen erst einmal nachlesen, wasmorgen auf den Tisch kommt.Wir verstärken die Lenkungswirkung der ökologischenSteuerreform
und bauen auch dort Subventionen ab, so wie Sie das vonder Opposition immer forderten. Wenn es aber konkretwird, kneifen Sie und sind Sprachrohr für jeden Verbandund jeden Lobbyisten, der herumläuft.
Auf die Anhörung zum und die Beratungen über dasGesetz über die Fortentwicklung der ökologischen Steu-erreform sowie darauf, wie Sie sich dabei verhalten, binich schon gespannt.
Es müsste ja selbst zu Ihnen durchgedrungen sein, dassgute und zukunftsfreundliche Familienpolitik immer denErhalt der natürlichen Lebensgrundlagen beinhaltet: Res-sourcenschonung, Energieeinsparung, Nutzung umwelt-freundlicher Technologien und nachwachsender Roh-stoffe, das sind Lebensbedingungen für Familien undKinder.
– Herr Seiffert, die Fortentwicklung der ökologischenSteuerreform und die sie begleitenden Programme sindgute Beiträge, diese Bedingungen für Familien zu ge-währleisten.Die auseinander klaffende Schere zwischen den Ein-kommen kinderloser Haushalte und der Haushalte mitkleinen Kindern
wurzelt vor allem in den unzureichenden Erwerbsmög-lichkeiten für Mütter. Frau Eichhorn, das wissen Sie doch.
Besonders für Alleinerziehende wirkt sich das verhee-rend aus.
Wenn Sie ein wenig lesen würden, würden Sie erkennen,dass im europäischen Vergleich hinsichtlich der Einkom-mensarmut eine hohe Frauenerwerbsquote deutlich wirk-samer ist als ein noch so hoher Familienlastenausgleich.
Deshalb ist der Weg der rot-grünen Koalition, den Ausbauvon Kinderbetreuungseinrichtungen zu verstärken, un-ausweichlich.
Das wäre es selbst für Sie, aber bei Ihnen kommt das janicht vor.Auch in Zusammenarbeit mit vielen Unternehmen, dieFamilienfreundlichkeit als positiven Standortfaktor er-kannt haben, kommen verstärkte Bemühungen um fle-xible Arbeitszeiten hinzu. Wie wir aus reichlicher Erfah-rung wissen, ist der Abbau vieler lieb gewordenerSubventionen zwar sehr schwierig, aber wir werden die-sen Weg trotzdem gehen, weil wir damit die finanziellenMittel erhalten, die wir für den Aufbau von Betreuungs-einrichtungen brauchen, und weil wir damit die Qualitätvon Bildung und Ausbildung stärken.In jeder ernst zu nehmenden Studie der letzten Zeit undvielen Verlautbarungen von zahlreichen Verbänden – vonVerbänden des Handwerks bis zur Caritas – steht, dasseine andere Familienpolitik nötig ist. Sie haben es abernoch nicht gemerkt.
Die Politik muss weg von Prämien, die Frauen an Heimund Herd binden sollen, und hin zur Vereinbarkeit von Er-werbstätigkeit und Familie.
Frau Kollegin, denken Sie daran, dass die Redezeit in
der Aktuellen Stunde nur fünf Minuten beträgt.
Wir werden die Voraussetzungen dafür schaffen. Wir
sparen bei Dienstwagen, bei Auslandsflügen, bei Speku-
lationsgewinnen und durch die Mindestgewinnbesteue-
rung. Sie können uns dabei helfen, damit die Familien-
politik auch ihren Namen verdient.
Frau Kollegin!Lydia Westrich
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Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 6. November 2002
Nicht nur Lobbyismus pur, sondern auch Mut, die un-
bequemen Entscheidungen für mehr Gerechtigkeit zu tra-
gen, sind gefordert.
Ich möchte es für alle sagen: In der Aktuellen Stunde
sehen wir die Regelung bezüglich der fünfminütigen Re-
dezeit eng, weil es wirklich Schlag auf Schlag gehen soll.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Elke Wülfing,
CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Westrich, ich weiß gar nicht, was Sie gegenLobbyisten haben. Zusammen mit meiner Fraktion bin ichgerne Lobbyistin für Alleinerziehende, Familien und Kin-der.
Vielleicht sind auch Sie das, aber Sie setzen sich in IhrerRegierung und bei Herrn Eichel nicht durch.Frau Pawelski hat eben ganz richtig festgestellt: Rot-Grün macht arm.
Rot-Grün macht alle arm, speziell natürlich die Familien.Wenn ich mich an den Wahlkampf erinnere – Frau Arndt-Brauer, wir haben uns in der Gegend ab und zu gesehen –,dann muss ich mich schon sehr über die Familienpolitikwundern, die Sie zurzeit machen. Diese Familienpolitikhaben die Familien wirklich nicht verdient.
Was ist eigentlich aus Ihren Versprechungen gewor-den? Sie haben materielle Sicherheit für die Familien zu-gesagt. Das ist doch richtig, oder? Sie haben überall ge-fordert, das Kindergeld müsse auf 200 Euro erhöhtwerden. Wo ist denn diese Erhöhung geblieben? Ich weiß,das ist peinlich, das hören Sie nicht so gerne. Darauf kön-nen Sie auch nicht antworten. Es ist aber nun so, dass nichtnur das Kindergeld nicht auf 200 Euro erhöht wird, son-dern dass leider auch viele zusätzliche Belastungen aufdie Familien zukommen werden. Das war zum Teil schonThema dieser Aktuellen Stunde. Aber Sie handeln immernach dem Motto: Was stört mich mein Geschwätz vongestern? Sie betreiben damit Wählerbetrug. Sie verratendie Interessen unserer Zukunft, nämlich die Interessen un-serer Kinder.
Ich will noch ein paar Beispiele hinzufügen. Wenn dasHeizen in einem Haushalt teurer wird, dann trifft das aus-gerechnet die Familien; das wissen Sie ganz genau.
Wer so dämlich war, zu glauben, dass man mit einer Erd-gasheizung umweltfreundlich und damit preiswert heizt,ist jetzt wirklich angeschmiert. Der Ökosteuersatz fürErdgas sollte von 3,4 Euro auf 5,7 Euro je Megawatt-stunde steigen. Sie werden es noch als familienpolitischeFörderung verkaufen, dass er jetzt nur auf 5,5 Euro erhöhtwird. Ich warte auf diese Art von Argumentation. DasGleiche haben Sie bei der Eigenheimzulage gebracht.
Die Drohung, dass dies auch für leichtes Heizöl geltensollte, stand schon im Raum. Das haben Sie abgewendet.Dafür müssen Ihnen die Familien aber richtig dankbarsein, nicht wahr?
Wie schön ist es doch, dass Sie dabei geblieben sind,die Ökosteuer nur um 3,5 Cent je Liter zu erhöhen. Dazuwerden wir von Ihnen sicherlich noch das eine oder an-dere hören. Wir haben es vorhin schon gehört: Rasen fürdie Rente, heizen für die Rente. Ich möchte wissen, wasman demnächst für die Rente noch alles tun muss.
Die Familien haben sich darüber gefreut, dass die vonRot-Grün im letzten Jahr gestrichene Absetzbarkeit vonHaushaltshilfen zum Teil wieder eingeführt werden sollte.Die 500-Euro-Mini-Jobs im Haushalt sollten nach demHartz-Konzept vom zu versteuernden Einkommen abge-setzt werden können. Aber das wird wohl nichts. Davorstehen nämlich Herr Eichel oder Frau Hendricks, dergrößte Feind oder die größte Feindin, die Familien an-scheinend haben.Ich bin gespannt, was daraus nun wird. Der eine sprichtdavon, dass 10 Prozent abgesetzt werden können. Der an-dere nennt 25 Prozent. Das sind entweder 600 Euro oder1 500 Euro, aber nicht 6 000 Euro pro Jahr. Damit ist einwichtiger Anreiz, Haushaltshilfen einzustellen, genom-men. Das wird damit zunichte gemacht.Ihre Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die auch dieunsere ist – ich hoffe, Sie kapieren das bald –, haben Sieauch noch in den Orkus geschmissen.
Sie wollten doch das Hartz-Konzept zu 100 Prozentumsetzen.
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Warum machen Sie es dann nicht? Ausgerechnet im Fa-milienbereich, wo es wirklich etwas bewirken würde, ma-chen Sie es nicht, Frau Kressl.Besonders sauer auf Sie dürften die Familien auch we-gen der Eigenheimzulage sein.
Die 13 000 Euro, die Sie den Familien streichen, bedeu-ten bei uns im Münsterland, dass sich Familien keineHäuser mehr leisten können.
Viele Familien mit einem ganz normalen Einkommen ha-ben sich dort noch Häuser leisten können. Wenn die Zu-lage von 13 000 Euro gestrichen wird, dann geht das nichtmehr. Ein Eigenheim ist nicht irgendetwas, ist nicht nurder Besitz eines Hauses. Für eine Familie ist das etwas,was den Kindern nützt und ihnen dient. Ein Haus bringtSicherheit.
– Wir wollen einmal sehen, was daraus folgt. Sie sagen aneinem Tag dies, an einem anderen Tag jenes und am drit-ten Tag wieder etwas anderes. Wer einmal lügt, demglaubt man nicht, Frau Westrich. Ich bin es langsam leid.
Mit der Änderung der Eigenheimzulage werden wiruns dann befassen, wenn sie so im Gesetzblatt steht, wieSie es einmal hier und einmal da ankündigen. Beim Ehe-gattensplitting ist es dasselbe. Sie haben Ihren ursprüng-lichen Plan plötzlich nicht weiterverfolgt. Ich bin aberdavon überzeugt, dass dieses Thema nach den Landtags-wahlen am 2. Februar 2003 wieder auf den Tisch kommenwird.In dieser Aktuellen Stunde geht es um die Frage, wiesich Ihre finanz- und gesellschaftlichen Vorhaben auf dieFamilien auswirken. Ihre Vorhaben wirken sich so aus,dass Kinder in ganz normalen Familien nicht mehr so le-ben können, wie sie es verdient haben, nämlich sicher undmit guter Unterstützung seitens der Eltern. Sie wollen dieEinmischung des Staates in die Familien. Das ist Ihr gutesRecht, aber unserer Meinung entspricht es nicht. Ichmeine, wir sollten Familienpolitik mit Rücksicht auf dieSituation der Eltern und Kinder in Deutschland gestaltenund nicht darauf, wie Sie es gerne hätten, Frau Marks –nomen est omen.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Humme,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!Meine sehr verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, ich danke Ihnen recht herzlich für die Be-antragung der Aktuellen Stunde.
Denn wer aufmerksam zugehört hat, weiß genau, dass derKompetenzvorsprung in der Familienpolitik bei Rot-Grünund nicht bei der CDU/CSU und der FDP liegt.
Ich garantiere, dass unsere heutige Politik auch weiter-hin erfolgreich sein wird, weil sie die Grundlagen schafft,die auch morgen und übermorgen tragfähig sind. Darumund um nichts anderes geht es bei den anstehenden Ent-scheidungen gerade im Interesse von Familien. Deshalbsind Nachhaltigkeit, Generationengerechtigkeit und Zu-kunftssicherung Markenzeichen der rot-grünen Regie-rung. Das war in der vergangenen Legislaturperiode sound das wird – das garantieren wir – auch in den nächstenvier Jahren so bleiben. Mit den anstehenden Reformenbauen wir Brücken von der Gegenwart in die Zukunft, dieauch unsere Kinder und Kindeskinder noch sicher tragenwerden.Mit unseren Reformen machen wir die sozialen Siche-rungssysteme zukunftsfähig. Davon profitieren die Fami-lien. Unsere Umsetzung der Hartz-Vorschläge stellt dieArbeitsmarktpolitik auf ein sicheres Fundament und senktdie Arbeitslosigkeit. Auch das kommt vor allen Dingenden Familien zugute.Die von uns eingeleitete Energiewende ist Ausdruckeiner nachhaltigen Umweltpolitik. Mit der Fortentwick-lung der ökologischen Steuerreform schaffen wir beides:Arbeitsplätze und eine lebenswerte Umwelt für unsereKinder.
Wir sind es, die endlich mit einer nachhaltigen Haus-haltspolitik Ernst gemacht haben. Auch dies liegt im Inte-resse von Familien und Kindern. Denn wenn wir heute aufPump leben,
lassen wir es zu – wie es nämlich Ihre Politik war –, dassunsere Kinder und Enkelkinder für unsere Schulden gera-destehen müssen.
Das entspricht nicht unserer Vorstellung von einer nach-haltigen Familienpolitik.
Zu unserem Kurs der Konsolidierung und Neugestal-tung gibt es keine Alternativen. Ihre Wahlprogramme für2002, liebe Kollegen und Kolleginnen von der Opposition,liefen alle auf das eine hinaus: teure Wahlversprechenohne Gegenfinanzierung.Elke Wülfing
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Christel Humme
Das ist eine Politik, die die Lösung gegenwärtiger Pro-bleme den uns nachfolgenden Generationen überlässt.Das hat nichts mit Generationengerechtigkeit und sozia-ler Gerechtigkeit zu tun und ist auch keine nachhaltige Po-litik zugunsten der Familien.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir haben die Fami-lienpolitik in den vergangenen vier Jahren ohne ideologi-sche Scheuklappen der Lebenswirklichkeit angepasst.
Sie, meine Damen und Herren von der Union, wollen– das ist der Unterschied zu uns – die Lebenswirklichkeitständig Ihren politischen Vorstellungen anpassen. Dasgeht aber gründlich schief.Wenn Sie zu Hause alles im Griff haben, HerrDörflinger, dann ist das zwar in Ordnung, aber ich rate Ih-nen, auch einmal über den Tellerrand zu schauen.
Dann wüssten Sie, dass 80 Prozent der jungen Frauen undMänner eine Familie haben, aber auch erwerbsfähig seinwollen.
70 Prozent der Frauen mit kleinen Kindern wollen arbei-ten. Das müssen auch Sie einmal zur Kenntnis nehmen.
Wenn sich so viele Frauen wie bei uns gegen Kinderentscheiden, dann lösen Sie dieses Problem nicht mit ei-ner Trost- und Zuhausebleibprämie, mit Ihrem Familien-geld.
Mit Sicherheit schon deshalb nicht, weil Sie dieses Geldunabhängig vom Einkommen an alle zahlen, also auch andie gut verdienenden Abgeordneten. Das ist nicht die Lö-sung, die wir anstreben.
Schauen wir nicht in sozialistische Länder – Sie zitie-ren gern aus entsprechenden Berichten in der „FAZ“ –,schauen wir in unsere europäischen Nachbarländer, dieweit weg sind vom Sozialismus, die genauso demokrati-sche Staaten sind wie wir. Schauen wir in diese Nachbar-länder, schauen wir nach Frankreich und Skandinavien.Dort gibt es eine höhere Frauenerwerbsquote und einehöhere Geburtenrate.
Dort können sich Frauen, wenn sie wollen, für Kinder ent-scheiden, ohne auf Erwerbstätigkeit zu verzichten. GuteBildungs- und Betreuungsangebote machen es möglich.
Das ist ein zukunftsweisender Weg.
Frau Pawelski, gleichzeitig lösen wir mit einem besse-ren Bildungs- und Betreuungsangebot das Problem derKinder- und Familienarmut und wir helfen vor allen Din-gen Alleinerziehenden. Nach wie vor sind 60 Prozent derAlleinerziehenden Sozialhilfeempfänger, die dringenddarauf warten, dass wir ihnen das Betreuungsangebot ge-ben, das sie brauchen, um endlich erwerbstätig sein zukönnen, und das mit Kindern.
Das genau ist der Grund, warum wir unsere Bildungs-und Betreuungssituation dem internationalen Standardanpassen. Es geht in der nächsten Zeit darum, unsereknappen finanziellen Mittel effizient einzusetzen. Wirwerden das tun, so wie wir das in den vier Jahren der letz-ten Legislaturperiode getan haben. Wir werden das tunmit 4 Milliarden Euro für die Ganztagsbetreuung und1,5 Milliarden Euro für die Betreuung von Kindern unterdrei Jahren.
Diese Politik nützt den Frauen, den Familien und uns al-len, weil sie nämlich gleichzeitig die Bildungschancenverbessert.Schönen Dank.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch,
PDS.
– Ich habe nicht die Fraktion, sondern die Parteizu-
gehörigkeit genannt.
Vielen Dank. Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Sehr geehrte Gäste! Diese Debatte im DeutschenBundestag wird sicher eine der Debatten dieser Legis-
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laturperiode sein, bei der die meisten Frauen gesprochenhaben. Wenn es einerseits sehr erfreulich ist, dass Frauenpolitisch aktiv sind und auch das Wort ergreifen, ist es ge-rade in dieser Debatte wiederum ein Zeichen dafür, dassman die Verantwortung für die Familien vor allen Dingenden Frauen zuweist.
In der Koalitionsvereinbarung wird die Vereinbarkeitvon Kindern und Beruf als ein zentrales gesellschaftspo-litisches Reformvorhaben festgeschrieben und dazu willdie Bundesregierung Ganztagsschulen und Krippenschaffen. Wir als PDS halten das Reformvorhaben fürrichtig und wichtig. Die Bundesregierung kann sich beider Umsetzung dieses Projektes vertrauensvoll an unswenden; denn viele unserer guten Kommunalpolitikerin-nen und Kommunalpolitiker in Ostdeutschland haben inder Frage der Ganztagsbetreuung langjährige Erfahrun-gen. So gut und nützlich Studienreisen nach Finnland undDänemark sind, ich denke, man kann manchmal auch sa-gen: Das Gute liegt so nah. Man kann sich über die Er-fahrungen vor Ort informieren. Ich lade Sie, Frau Staats-sekretärin, gern in meinen Wahlkreis Lichtenberg ein. Dasist kostengünstiger; es kostet nur eine Fahrkarte der BVG.
Ich möchte gern noch auf ein gravierendes Problemhinweisen. Mit der Ausweitung der Betreuungsangeboteallein werden Sie Ihre Reform nicht erfolgreich umsetzenkönnen; denn eine Erfahrung haben wir in Ostdeutschlandschon in den letzten zehn Jahren gemacht: Wir haben imOsten eine ausreichende Zahl von Krippen und Kinder-gärten; in den Kommunen müssen diese sogar aufgrunddes dramatischen Geburtenrückgangs abgebaut werden.Das Problem sind hier nicht in erster Linie die Betreu-ungsangebote für die Kinder, sondern die fehlendenArbeitsplätze für Mütter und Väter.Meine Damen und Herren, bei der Finanzierung dieserReform stellen sich jedoch eine Reihe von Fragen. DerBund will den Kommunen ab 2004 1,5 Milliarden Europro Jahr zur Verfügung stellen. Das ist nicht wirklich vielGeld. Hinzu kommt aber, dass diese Mittel durch die Um-setzung des Hartz-Konzepts erst noch erwirtschaftet wer-den sollen. Die eingesparten Mittel dürfen die Kommunenfür eine bessere Kinderbetreuung einsetzen. Das ist einungedeckter Wechsel. Meine Erfahrung mit den Refor-men der letzten Bundesregierung ist, dass sie selten zumehr Geld für die Kommunen geführt haben.
Was passiert also, wenn das Hartz-Konzept nicht soschnell greift, wie sich die Bundesregierung das vorstellt?Die Bundesregierung will eine bedarfsgerechte Be-treuungsquote für Kinder unter drei Jahren von mindes-tens 20 Prozent erreichen. Die Frage für Ostdeutschlandist aus meiner Sicht, ob bei Übererfüllung des 20-Prozent-Ziels auch Mittel für die qualitative Verbesserung derBausubstanz und der Betreuung verwendet werden kön-nen, zum Beispiel für die Sanierung von Krippen undKindergärten oder für die Verbesserung des Betreuungs-schlüssels, für die Verkleinerung der Gruppen oder für diebilinguale Erziehung.Ihr Konzept setzt bei der Krippe an. Warum setzen Sieeigentlich nicht bei der Geburt an? Die leider viel zu frühverstorbene Sozialministerin von Brandenburg, RegineHildebrandt, Ihre Parteifreundin, hat dort ein Begrü-ßungsgeld von 1 000 DM pro Kind eingeführt. Dannwurde in Brandenburg das Geld knapp und diese Initiativewurde wieder eingestellt. Es gibt doch sicher ein paarreiche Kommunen, die ein solches Begrüßungsgeld fi-nanzieren könnten. Vielleicht sollte die Ministerin dieseInitiative ihrer Parteifreundin Hildebrandt aufgreifen undfür jedes in der Bundesrepublik geborene Kind ein Begrü-ßungsgeld von 1 000 Euro einführen. Sie können sichersein: Die Statistiker werden in ein paar Jahren von einempositiven Geburtenknick sprechen, der dann vielleicht der„Schmidt-Effekt“ heißen wird.Vielen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Donnerstag, den 7. November 2002,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.