Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 3 Wahl der Schriftführer
— Drucksache 11/58 —
auf. Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen daher zur Abstimmung. Wer dem Wahlvorschlag auf Drucksache 11/58 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Wahlvorschlag ist angenommen.
Wir setzen jetzt die Beratungen mit der
Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung
fort. Hierzu sind zwischenzeitlich Entschließungsanträge der Fraktion der SPD sowie der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/59 sowie 11/64 bis 11/66 eingebracht worden, zu denen in zwei Fällen namentliche Abstimmung beantragt worden ist. Die Anträge liegen auf den Drucksachenwagen in der Eingangshalle aus.
Meine Damen und Herren, interfraktionell ist vereinbart worden, über die Entschließungsanträge in Abweichung von der Geschäftsordnung schon heute abzustimmen. Sind Sie damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist es mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen. Über den genauen Zeitpunkt der Abstimmung werden Sie rechtzeitig informiert.
Zum zeitlichen Ablauf darf ich weiterhin darauf hinweisen, daß die heutige Sitzung nach einer interfraktionellen Vereinbarung bis 20 Uhr dauern soll. Eine Unterbrechung der Sitzung ist von 13 bis 14 Uhr vorgesehen.
Das Wort hat der Abgeordnete Apel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Bundesregierung beginnt ihre neue Amtszeit mit ungeordneten Finanzen,
denn die Versprechungen, die in großer Zahl gesternin der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers hier vorgetragen worden sind, bestehen im wesentlichen aus ungedeckten Wechseln. Ich füge hinzu: Das hat es noch niemals gegeben,
daß aus dem Munde des Generalsekretärs der FDP angekündigt und vom Bundeskanzler gestern bestätigt wird, daß es zur Mitte der Legislaturperiode einen Kassensturz geben wird und daß dann erst entschieden werden kann, ob insbesondere die Versprechungen im Bereich der Familienpolitik überhaupt noch finanziert werden können. Das zeigt, daß der Bundesfinanzminister entweder die Übersicht verloren hat — das nehme ich allerdings nicht an, Herr Kollege Stoltenberg; ich kenne Sie ja zu genau — oder aber, daß Sie so lange wie möglich die triste Wirklichkeit der Bundesfinanzen verschleiern wollen.
Ihre Festlegungen in der Koalition, Ihre Versprechungen kosten doch — das wissen wir doch alle ; wir haben es nachgerechnet — 60 Milliarden DM. Ihre Finanzierung bleibt auch nach den Ausführungen des Bundeskanzlers gestern im dunklen. Sie verweigern jede konkrete Aussage.Wie wollen Sie die 44 Milliarden DM Steuersenkung finanzieren? Wo wollen Sie die Milliarden herbekommen, die Sie der deutschen Landwirtschaft, den Bauern versprochen haben? Wie wollen Sie eigentlich, Herr Kollege Stoltenberg, den erhöhten Bundeszuschuß für die Rentenversicherung bezahlen, den Sie angekündigt haben und der geboten ist?
Was Sie uns gestern vorgelegt haben, ist keine seriöse Regierungserklärung mit einer soliden finanziellen Grundlage.
Dabei hätte es, meine Damen und Herren von der Koalition, für Sie und für den Finanzminister die staatspolitische Pflicht gegeben, den Bürgern am Beginn
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138 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Dr. Apeleiner neuen Legislaturperiode die Wahrheit zu sagen.
Die Wahrheit ist, daß es mit der Konjunktur weiter bergab geht und daß wir endlich — und das kostet dann auch staatliche Mittel — massiv die Massenarbeitslosigkeit bekämpfen müssen. Die Wahrheit ist, daß wir unübersehbare Strukturkrisen bei Stahl, bei Kohle, bei Werften haben und daß wir zu ihrer Bewältigung auch Finanzmittel brauchen. Die Wahrheit ist, daß wir unsere Bauern nicht im Stich lassen können. Wir brauchen eine neue Agrarpolitik, und auch die ist zum Nulltarif nicht zu haben.
Die Wahrheit ist, daß wir massive Zuschüsse zur Rentenversicherung brauchen, damit die Renten sicher bleiben.Deswegen, meine Damen und Herren, ist es auch die Wahrheit, daß wir in der Steuerpolitik Augenmaß brauchen. Steuerpolitik darf nicht, wie es bei Ihnen geschehen ist, zu einem unsoliden Selbstbedienungsladen insbesondere für die Begüterten werden.
Deswegen sagen wir: Wir brauchen eine Steuerpolitik, die gerecht und wirtschaftlich vernünftig ist. Wir müssen vor allem die kleinen und die mittleren Einkommen entlasten.
— Darauf werden wir zurückkommen, meine hochverehrten Damen und Herren. — Wir dürfen insbesondere nicht den kleinen und den mittleren Einkommen das, was auf der einen Seite in bescheidenem Maße gegeben wird, auf der anderen Seite durch eine Anhebung der Verbrauchsteuern und der Mehrwertsteuer wieder wegnehmen.
Sie dagegen, Sie von der Koalition, Sie, Herr Kollege Stoltenberg, setzen die Arbeit so fort, wie Sie sie am Ende der letzten Legislaturperiode beendet haben:
statt der Stärkung der öffentlichen Finanzen insbesondere beim Bund ihr weiterer planmäßiger Verfall — das kostet Arbeitsplätze —, statt der Stärkung der Gemeindefinanzen ihre fortgesetzte Schwächung, statt des angekündigten Subventionsabbaus die explosionsartige Vermehrung der Steuersubventionen in der letzten Legislaturperiode und am Beginn der Arbeit dieser Koalition erneute Subventionen für die Landwirtschaft, also insbesondere für Ihre Kundschaft, statt Steuergerechtigkeit Fortsetzung der Umverteilung und weiteres Ansteigen der Steuer- und Abgabenbelastung für die Arbeitnehmer
und, was wir dem Finanzminister besonders vorwerfen müssen, statt Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit Verschleierung und Verschiebung von unabwendbaren Belastungen.
Sie wollen in diesem Jahr verbergen, was auf die Bürger zukommt, und das wegen der fünf bevorstehenden Landtagswahlen. Danach wird es dann, wie Herr Haussmann sagt, viel Geschrei geben. Deswegen betreiben Sie jetzt Ihr Versteckspiel. Ich sage Ihnen: Dies ist nicht nur eine skandalöse Täuschung der deutschen Wähler, sondern auch und insbesondere eine Mißachtung des Deutschen Bundestages.
Herr Kollege Stoltenberg, wenn Sie uns jetzt die Vorlage einer seriösen Eröffnungsbilanz verweigern, erweisen Sie sich damit selbst den schlechtesten Dienst, denn Sie werden noch erleben, wie allein Sie sein werden, wenn es darum geht, die Verantwortung für diese verfehlte Politik zu übernehmen, wenn es darum geht, für 60 Milliarden DM Deckung beizubringen.
Da wundert es uns nicht — obwohl es eine Geschmacklosigkeit ersten Grades war — , wenn der Herr Bundeskanzler bereits einmal Ihren Ministersessel fehlgeboten hat, Entschuldigung, feilgeboten hat.
— Herr Kollege Vogel, um diese Zeit hat Freud noch seine volle Wirkung.
Meine Damen und Herren, wie ist es nun wirklich um die Staatsfinanzen bestellt? Die Staatsschulden, also die Schulden von Bund, Ländern und Gemeinden, Bahn und Post hinzugerechnet, liegen derzeit bei 900 Milliarden DM. Nach Ihrer eigenen Planung, nach der Planung des Bundesministers der Finanzen, wird bereits 1989 die Billionengrenze überschritten. Dabei — und das wissen Sie doch genauso gut wie wir; das weiß der Bundesfinanzminister genauso gut wie wir, wahrscheinlich sogar genauer — wissen wir doch, daß eine ganze Reihe von Haushaltsrisiken, die nicht mehr beliebig verschiebbar sind, nicht finanziert sind: der Agrarmarkt, die EG-Finanzierung, der Airbus, Stahl, Kohle, Werften, die von Bundeskanzler Kohl angekündigten Raumfahrtprogramme,
die Hilfen für die Bauern. Für alle. diese Ausgaben fehlen Ihnen bereits heute 15 Milliarden DM.
Da dürfen wir wohl fragen, da fragt zu Recht die deutsche Öffentlichkeit, auch heute in den Kommentaren der Morgenpresse: Wo soll denn dieses Geld herkommen? Sie verweigern die Antwort. Es wird nicht mehr lange gutgehen. Spätestens im Sommer dieses Jahres
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 139
Dr. Apelbei der Vorlage des Haushaltes 1988 und bei der Vorlage der Finanzplanung bis 1991 werden Sie, meine Damen und Herren, Farbe bekennen müssen.Hinzu kommt — das wissen wir alle, und das bedauern wir alle — : Durch die beginnende Rezession wird die Haushaltsproblematik verschärft.
Das, was Sie, Herr Kollege Stoltenberg, in die Haushaltsplanungen an Einnahmen eingesetzt haben, stimmt nicht mehr. Die nächste Steuerschätzung wird deutlich machen, daß mindestens, mindestens 10 Milliarden DM Steuerausfälle auf uns zukommen. Damit reißt es ein Loch in den öffentlichen Kassen auf, nicht nur beim Bund, sondern auch bei den Ländern und bei den Gemeinden.
Auch der Bundesbankgewinn, hochverehrter Herr Kollege Uldall, bringt eben nicht mehr den warmen Regen, mit dem der Bundesfinanzminister bisher Haushaltskonsolidierung vortäuschen konnte.
In diesem Jahre können Sie noch, Herr Kollege Stoltenberg, über die Verscherbelung der restlichen Bundesanteile von VEBA und VW diesen Ausfall beim Bundesbankgewinn ausgleichen. Allerdings, Sie selbst haben deutlich gemacht, daß es wohl angesichts der Situation bei VW und des Verfalls der Aktienkurse schwierig wäre, dieses Paket in diesem Jahre zu verkaufen. Nur, dann fehlen Ihnen weitere 1,5 Milliarden DM in Ihrem Bundeshaushalt. Im übrigen, wie es auch immer gehen wird: Mit der Verscherbelung von VW und VEBA sind die letzten Reserven mobilisiert, die Sie noch zu einer außerordentlichen, nicht normalen Deckung für den Bundeshaushalt haben.
Herr Stoltenberg, Sie haben uns hier kurz vor der Bundestagswahl, als meine Freunde Roth und die Kollegen aus der Wirtschaftspolitik und auch ich über die kommenden Konjunkturaussichten gesprochen haben, Zukunftspessimismus vorgeworfen. Sie haben uns — vor wenigen Monaten war es — gesagt, nein, es werde 1987 eine Wachstumsrate von 2,5 bis 3,25 % geben. Wir wissen genau, daß Sie es auch damals bereits besser wußten. Wie auch immer: Die Wirklichkeit holt Sie ein.Schon im letzten Quartal 1986 gab es beim Bruttosozialprodukt kein Wachstum mehr. Zu Beginn dieses Jahres hat sich die Abwärtsentwicklung beschleunigt. Die Industrieproduktion nimmt schnell weiter ab; die Auftragseingänge gehen weiter zurück. Und das Bedrückendste ist, daß wir am Anfang dieses Jahres wieder 2,5 Millionen Arbeitslose haben.
Meine Damen und Herren, aus dem Export — das hören wir doch in diesen Tagen von den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten — drohen uns weitere Risiken. Wir wissen doch, daß die Binnennachfrage das nicht ausgleichen kann. Sie wissen doch selbst,meine Damen und Herren von der Koalition, daß Ihre Steuersenkung 1986/1988 viel zu einseitig auf die Spitzeneinkommen konzentriert war,
als daß sie die Binnennachfrage stimulieren kann.
Nun hat der Bundesfinanzminister vor einigen Wochen in Paris, wo die Welthandelspartner gedrängt haben, daß endlich die deutsche Konjunktur stabilisiert wird, daß wir mehr für Wachstum tun, zur Stärkung unserer Binnennachfrage 5,2 Milliarden DM zusätzliche Steuersenkungen zum Beginn des nächsten Jahres zugesagt. Aber, Herr Kollege Stoltenberg, wieder einmal — und das wäre ja wohl konjunkturpolitisch das Gebotene — konzentrieren Sie diese zusätzlichen Entlastungen eben nicht auf die kleinen und mittleren Einkommen. Auch diesmal wollen Sie den Beziehern der hohen und der höchsten Einkommen mehr geben. Sie haben das bestritten, sogar in einer Presseerklärung Ihres Ministeriums. Wir verlangen von Ihnen, daß Sie nicht verbal bestreiten, was wir gerechnet und festgestellt haben, sondern daß Sie uns endlich sagen, wie Sie denn die Progression abflachen und wie Sie entlasten wollen.
Aber Sie lassen ja auch die Katze nicht aus dem Sack, wie die 5,2 Milliarden DM finanziert werden sollen.
Meine Damen und Herren, 3 Milliarden DM von den 5,2 Milliarden DM sollen Länder und Gemeinden tragen. Wenn dann insbesondere die finanzschwachen Länder und Gemeinden diese 5,2 Milliarden DM, von denen sie ja dann einen beträchtlichen Anteil zu tragen haben, durch Kürzung öffentlicher Investitionen hereinholen müssen, dann haben wir der Konjunktur einen Bärendienst erwiesen.
Deswegen bleiben wir bei dem von uns in der Bundestagswahl, aber auch heute vertretenen Rau-Tarif. Er liefert für die übergroße Mehrheit aller Steuerzahler weiterhin größere Entlastungen, als Sie sie bei der Aufstockung des Tarifs ermöglichen wollen.
— Sie vergleichen doch immer Äpfel mit Birnen.
Was sich Herr Bangemann hier gestern zur Steuerpolitik geleistet hat — darauf werde ich noch zurückkommen — , war doch ein starkes Stück.Beim Grundfreibetrag ist der Rau-Tarif auch künftig wesentlich besser.
Wie auch immer Sie die Progression abflachen werden: Auch hier wird der Rau-Tarif für eine ganz großeZahl von Steuerzahlern besser bleiben, nämlich weil
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Dr. Apeler gerecht ist, und deswegen ist der konjunkturpolitisch zielgerecht.
Meine Damen und Herren, da ist es dann eher eine Posse, — —
— Sie sind mit Späßen sehr leicht zufriedenzustellen. Das spricht sehr für Sie.Meine Damen und Herren, es ist eine Posse, was der Bundesfinanzminister und die Koalition zum Thema Sonderabschreibungen für den Mittelstand vorschlagen.
Meine Damen und Herren, das wissen Sie doch selbst: Diese Sonderabschreibungen für den Mittelstand sind von der Wirtschaft bisher kaum in Anspruch genommen worden. Was eigentlich sehr viel erstaunlicher ist, — — Vielleicht könnte der Bundesfinanzminister zuhören.
Vielleicht könnten Sie zuhören, Kollege Stoltenberg,weil ich Ihnen eine wichtige Frage stellen möchte. Ichredete gerade während Ihrer längeren Unterhaltung.— Nichts gegen Unterhaltungen!
Nur, wenn man eine Frage stellt, möchte man gern, daß der Adressat zuhört. — Herr Kollege Stoltenberg, ich redete gerade über die Sonderabschreibungen für den Mittelstand. Sie wollen sie aus konjunkturellen Gründen vorziehen und um 500 Millionen DM aufstocken. Jetzt sind wir einigermaßen verwirrt und erstaunt, denn wir wissen doch sehr genau, daß Sie vor drei Jahren genau diese Sonderabschreibung, die Sie jetzt um 500 Millionen DM aufstocken, zur Streichung empfohlen hatten, weil dies, wie Sie gesagt haben, eine völlig überflüssige Steuersubvention sei. Können Sie bitte der Opposition erklären, was diese Art von Steuerpolitik mit Konjunktur, mit Logik, mit systematischer Steuerpolitik zu tun hat?
Oder ging es um eine ganz andere Frage, nämlich: Wie kann ich — Gerhard Stoltenberg — die Einführung einer steuerfreien Investitionsrücklage verweigern, die — zumindest bis gestern abend — die CDU-Mittelstandsvereinigung, das deutsche Handwerk und die Sozialdemokraten fordern? Wenn das so wäre, wäre das ja eine denkbare taktische und vielleicht auch gar nicht so dumme Operation. Nur, Herr Kollege Stoltenberg, mit Konjunkturpolitik hat das weiß Gott überhaupt nichts mehr zu tun.
Der Bundesvorsitzende der Jugendorganisation der CDU-Sozialausschüsse hat das Ergebnis der Koalitionsverhandlungen vor wenigen Tagen folgendermaßen bewertet — ich zitiere — :Man streitet sich wochenlang über den Spitzensteuersatz, man verliert nicht ein einziges Wort über die Massenarbeitslosigkeit.
Meine Damen und Herren, das ist die ganz nüchterne Bewertung der Koalitionsverhandlungen und ihres Ergebnisses. Trotz der Krokodilstränen des Bundeskanzlers gestern wird die Massenarbeitslosigkeit hingenommen.
Bei der Steuerpolitik geht es ausschließlich um die Frage — Herr Scharrenbroich — : Wie sichern wir unserer Kundschaft ein möglichst großes Stück am Steuerkuchen?
Herr Scharrenbroich, da ich Sie hier schon sehe und da Sie mich eben angesprochen haben: Sie werden doch nicht bestreiten können, daß die CDU mit der Senkung des Spitzensteuersatzes ihren Anspruch aufgegeben hat, eine Volkspartei zu sein.
Ihr CDA-Kollege Blüm und Ministerpräsident Vogel haben doch zu Recht darauf hingewiesen, daß Ihre ungerechte Steuerpolitik — ich zitiere das wörtlich — bei den kommenden Landtagswahlen für die CDU eine Belastung sein wird.
Herr Minister Bangemann hat gestern zum Spitzensteuersatz geredet. Er hat in etwa das wiederholt, was er bereits vorher gesagt hat. Ich zitiere Herrn Bangemann: Die Senkung des Spitzensteuersatzes nützt Millionen von Steuerzahlern; auch die große Zahl von Normalverdienern, kleinen Unternehmen, Facharbeitern und Angestellten hat davon einen Vorteil.
— Sie finden das noch gut? Sehr schön.Mit einem Einkommen von rund 30 000 DM beginnt das. — Und Graf Lambsdorff setzt dann noch einen drauf. Er sagt: Erst durch die Senkung des Spitzensteuersatzes wird der rabiate Zugriff des Staates beim Weihnachtsgeld abgeschwächt.
Meine Damen und Herren, auch wenn Sie eben zugestimmt haben: Das ist doch nichts weiter als der Versuch, die Wähler hinters Licht zu führen.
— Ja, ich bin vornehm. — Herr Kollege Cronenberg, die Wahrheit ist — das können Sie doch nicht bestreiten — , daß von der Senkung des Spitzensteuersatzes wirklich nur die Spitzenverdiener profitieren.
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Dr. ApelNur wer als Verheirateter ein zu versteuerndes Einkommen von mehr als 240 000 DM im Jahr hat, wird dadurch entlastet.
Zu diesen Spitzenverdienern gehört 1 % der Steuerzahler. Von den 1,7 Millionen Unternehmen in unserem Land, die Einkommensteuer zahlen, werden 2 durch die Senkung des Spitzensteuersatzes entlastet.
Mit anderen Worten: 99 % aller Steuerzahler, 98 aller Unternehmen, die Einkommensteuer zahlen, erhalten durch die Senkung des Spitzensteuersatzes keinen Pfennig.
— Herr Friedmann, ruhig.Mit anderen Worten: Teilen Sie Ihrem Mittelstand mit freundlichen Grüßen mit: Dank der CDU-Steuerpolitik hat der Mittelstand von dieser Maßnahme überhaupt nichts.
Herr Blüm hat die Beibehaltung des Spitzensteuersatzes als die Nagelprobe für eine ausgewogene Steuerreform bezeichnet. Er hat gesagt: „Wenn der Spitzensteuersatz gesenkt würde, wäre das ein Fausthieb in das Gesicht des Malochers." Jetzt ist der Spitzensteuersatz gesenkt. Der Arbeitnehmer hat den Fausthieb ins Gesicht bekommen. Die Nagelprobe für eine ausgewogene Steuerreform wurde nicht bestanden. Nun hat es doch auch keinen Zweck, daß der Arbeitsminister, die CDA, wer auch immer mit wilden Rechtfertigungsargumenten und Rechtfertigungskalkulationen versuchen, die Ergebnisse anders darzustellen, als sie sind.
— Darf ich eben meinen Gedanken zu Ende führen, Herr Cronenberg? Dann sehr gerne.Ich stelle es Ihnen dar, wie es wirklich ist. Sie können es nachrechnen. Ich berücksichtige noch nicht das, was es an Steuererhöhungen geben wird, sondern ich sage Ihnen ganz kühl, wie es aussieht. Es sieht folgendermaßen aus, Herr Cronenberg — wenn ich das dargelegt habe, bin ich gerne bereit, eine Zwischenfrage zuzulassen — : 1 % der Spitzenverdiener soll genauso viel Steuerentlastung bekommen wie die Hälfte aller Steuerzahler zusammen.
Ist das sozial ausgewogen?Die Hälfte der gesamten Steuerentlastung soll an die 10 % Steuerpflichtigen mit den höchsten Einkommen gehen. Ist das sozial ausgewogen?
Die Hälfte der Steuerpflichtigen, also die Normalverdiener, soll mit nur rund 10 % der geplanten Steuerentlastung zufrieden sein. Halten Sie das sozial für ausgewogen?
Damit sind wir bei der letzten Frage. Herr Uldall, Sie können hier vorkommen und können uns Ihre eigene Rechnung zeigen. Wir zeigen Ihnen unsere. Bleiben Sie bei diesen Punkten, so werden Sie sehen, wie schlecht Sie aussehen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Abgeordneten Cronenberg?
Nach dem letzten Punkt, sehr gern.
Die untere Hälfte der Steuerpflichtigen auf der Einkommensskala erhält im Durchschnitt 400 DM Steuerentlastung im Jahr, das eine Prozent Spitzenverdiener 20 000 DM im Jahr. Da muß ich doch die Sozialausschüsse, da muß ich doch Sie, Herr Scharrenbroich, fragen: Was hat denn das mit sozialer Gerechtigkeit zu tun?
Gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage des Abgeordneten Cronenberg?
Ja.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Zunächst, Herr Abgeordneter, möchte ich mich für die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen, bedanken.
Ich möchte fragen, ob Sie nicht das Problem sehen, daß sich gerade in der mittelständischen Industrie mit Körperschaft- oder Einkommensteuer — im letzteren Fall plus Kirchensteuer, plus Gewerbesteuer — Belastungen von über 70 % ergeben und diese mitursächlich, wenn nicht sogar hauptursächlich für das mangelnde Eigenkapital der Betriebe sind, daß die infolge des mangelnden Eigenkapitals auftretenden Pleiten von allen nicht erwünscht sind, sondern verhindert werden müssen, und daß die Senkung auch des Spitzensteuersatzes, der nur einen kleinen Teil des Gesamtsenkungsvolumens darstellt, ein hervorragendes Mittel zur Verbesserung der notwendigen Eigenkapitalbildung ist, das eigentlich auch von Sozialdemokraten unterstützt werden müßte?
Herr Abgeordneter, Zwischenfragen sollen kurz sein.
Herr Präsident, ich werde mich dessen befleißigen.
Herr Kollege Cronenberg, erstens, es bleibt dabei — dem haben Sie in Ihrer Frage auch gar nicht widersprochen —, daß von den Unternehmen gerade eben zwei Prozent von der Senkung des
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Dr. ApelSpitzensteuersatzes Vorteile haben. Der Mittelstand befindet sich in diesen Größenordnungen nicht.
Zweitens, darauf wird noch mein Kollege Spöri eingehen: Hören wir endlich auf, die Horrorrechnungen aufzumachen, nach denen die deutsche Industrie mit 70 % belastet ist! Da gibt es nicht nur Rechnungen von uns — die könnten Sie noch als parteipolitisch eingefärbt bezeichenen — , sondern seriöse, wissenschaftliche Arbeiten, so z. B. von Herrn Professor Littmann, die deutlich machen, daß die durchschnittliche Steuerbelastung der deutschen Unternehmenswirtschaft nicht bei 70 %, sondern bei 34 % liegt.
Es kommt immer darauf an, welchen Teil des Betriebsergebnisses man der Besteuerung unterwerfen muß und welchen nicht.
Mit anderen Worten, wenn Sie etwas für den Mittelstand hätten tun wollen, dann wäre es geboten gewesen, die steuerstundende Investitionsrücklage einzuführen und nichts weiter.
Herr Abgeordneter, Dr. Apel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Penner? — Nicht.
Meine Damen und Herren, ich habe gesagt, wie sich diese Steuerpolitik tatsächlich darstellt. Ich kann abschließend folgendermaßen zusammenfassen. Schon beim Steuerpaket 1986/88 hat die Koalition eine Regel aufgestellt: Das Steuersenkungsverhältnis zwischen Normalverdienern und Spitzenverdienern hat 1: 50 zu sein. Wir stellen fest, daß Sie bei dieser Regel bleiben: 400 DM für die Kleinen, 20 000 DM für die Großen.
Das ist das 50fache, Herr Kollege Scharrenbroich von den Sozialausschüssen. Das ist nicht sozial ausgewogen, das ist ein verteilungspolitischer Skandal.
Wir werden erleben, was noch alles passieren wird, wenn erst Mehrwertsteuer, Verbrauchsteuern und andere Steuern erhöht werden.
Herr Kollege Stoltenberg, Sie haben mit einem gewissen Recht vor der Bundestagswahl beklagt, daß 65 % aller Steuerzahler in der Progression sind. Nun bieten Sie uns eine neue Steuerpolitik mit neuen Steuersätzen an. Wir stellen fest, daß dann im Jahre 1990 nicht mehr 65 % in der Progression sein werden, sondern 95 %.
Dazu würden wir ganz gerne von Ihnen einen Kommentar hören.Herr Kollege Stoltenberg, wir Sozialdemokraten waren allerdings einigermaßen erstaunt, als Sie uns gesagt haben, die höchste Steuerentlastung gebe es im Bereich der Facharbeiter. Da müßte der verheiratete Facharbeiter schon 11 000 DM im Monat verdienen, wenn diese Aussage stimmen sollte.
Sie wissen ja selbst, Herr Kollege Stoltenberg — Sie brauchen sich ja nur einmal im Wahlkreis Rendsburg umzuhören — : Da brauchen Sie schon drei oder vier Facharbeiterlöhne, um auf diese Größenordnung zu kommen.Vor der Bundestagswahl haben die Koalitionsparteien versprochen, jeder bekäme mindestens 1 000 DM Steuersenkung. Jetzt wird behauptet — und da wird es ja nun hochinteressant —, dieses Ziel sei erreicht. Sie alle haben ja die Wahlanzeigen der Union gesehen. Darin steht — ich zitiere wörtlich — : Jeder Steuerzahler behält mindestens 1 000 DM jährlich in der eigenen Tasche. — Meine Damen und Herren, das ist doch eine glatte Lüge.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß nicht einmal die Hälfte aller Steuerzahler in die Nähe dieser Größenordnung kommt. Eine Verkäuferin mit 2 000 DM brutto im Monat erhält eine Steuerentlastung von 463 DM im Jahr. Ihr werden aber inzwischen die Krankenversicherungsbeiträge erhöht werden, weil Sie nicht bereit sind, in diesem Bereich Politik zu machen, sondern sich dem Druck der Interessierten beugen.
Ihr werden die Verbrauchsteuern erhöht, ihr wird die Mehrwertsteuer erhöht. Dagegen der Spitzenverdiener: 25 000 DM Monatsgehalt, fast 18 000 DM Steuerentlastung.
Meine Damen und Herren, so kommen Sie, Herr Uldall, zu Ihren Durchschnitten. Diese haben nur mit der Realität nichts zu tun. Die Realität sieht leider so aus: unten wenig, oben massiv, Durchschnitt: 1 000 DM. Nur, die Wähler wollen keine Durchschnitte, die Wähler wollen von Ihnen wirtschaftliche und finanzpolitische Klarheit und Wahrheit.
Sie behaupten, meine Damen und Herren, der neue „Zukunftstarif" verwirklicht eine familienfreundliche Besteuerung. Lassen Sie uns doch die Fakten zur Kenntnis nehmen: Ein Spitzenverdiener erhält künftig durch die weiter aufgestockten Kinderfreibeträge bei der gleichen Anzahl von Kindern fast dreimal mehr als der Durchschnittsverdiener.
Von den 2,7 Milliarden DM, die Sie für die Anhebung der Kinderfreibeträge bereitstellen, bekommen Familien mit niedrigem Einkommen 2 DM pro Kind und Monat. Für die große Mehrheit der Familien, meine
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Dr. ApelDamen und Herren, ist die Steuersenkung geringer als für Ledige.
— Ja, Familien mit Kindern, bei einem Monatseinkommen von 5 000 DM.
— Meine Damen und Herren, wir haben schlicht und ergreifend das, was Sie uns vorgelegt haben, gerechnet. Das würde ich Ihnen auch einmal empfehlen, dann würden Sie vielleicht überlegen, ob das vernünftig ist, was Sie getan haben.
Bei einem Monatseinkommen von 5 000 DM erhält der Ledige zweieinhalbmal soviel Steuerentlastung wie der Familienvater bei gleichem Einkommen mit zwei Kindern. Die Erklärung liegt auf der Hand: Es liegt an den ungerechten Kinderfreibeträgen. Deswegen sagen wir Ihnen: Wir wollen diese Kinderfreibeträge abschaffen. Wir wollen das einheitliche, für jeden gleiche Kindergeld; wir wollen es kräftig erhöhen. Es kann nicht so sein, wie es ja bei Ihnen der Fall ist, daß dem Staat das Kind je nach Einkommen des Vaters unterschiedlich viel wert ist. Dieses ist unmöglich.
Der Bundesfinanzminister und die Koalition reden von einem Umschichtungsbedarf in Höhe von 19 Milliarden DM für dieses Steuerpaket. Nun wissen wir doch alle, was das im Klartext bedeutet. Es bedeutet— der Bundeskanzler hat es gestern vorsichtig angedeutet, ohne klar zu sein —: Erhöhung der Mehrwertsteuer, Erhöhung der Verbrauchsteuern, Beseitigung des Weihnachtsfreibetrages, Beseitigung des Arbeitnehmerfreibetrages, Besteuerung der Nacht-, Sonntags- und Feiertagszuschläge.
— Dann kommen Sie doch hierher und sagen Sie: Nein, wir machen keine Mehrwertsteuer-, nein, wir machen keine Verbrauchsteuererhöhung, nein, wir streichen die Freibeträge nicht. Dann kommen Sie doch hierher, sagen Sie das. Schenken Sie doch den Bürgern endlich reinen Wein ein!
— Hochverehrter Herr Friedmann, wir hören doch in diesen Tagen die Debatte in dieser Koalition. Die einen sagen: Mehrwertsteuererhöhung jein, die anderen sagen: Mehrwertsteuererhöhung nein.
— Wir haben doch dieses schreckliche Steuerpaket nicht erfunden. Sie können doch Ihre Unfähigkeit nicht auf uns umbuchen wollen.
Bei Ihnen wird alles gesagt, und es wird alles angeboten. 19 Milliarden DM müssen finanziert werden. Eins sage ich Ihnen: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht.
Sie haben doch vor der Bundestagswahl massiv dementiert, daß Sie an den Spitzensteuersatz heran wollen.
Sie haben das nach der Bundestagswahl fortgesetzt. Und jetzt? Wer soll Ihnen denn überhaupt noch etwas glauben?
Herr Stoltenberg, dann kommen Sie doch hierher und sagen: Die Mehrwertsteuer und die Verbrauchsteuern werden nicht erhöht. Das wäre ein klares Wort. Aber ich sage Ihnen: Das werden Sie nicht tun. Damit bleibt es dabei, daß Sie zur Finanzierung einer ungerechten Steuersenkung die kleinen und mittleren Einkommensbezieher massiv heranziehen werden. Insbesondere werden Sie dann die Rentner, die Sozialhilfeempfänger, die Arbeitslosen, die Studenten, die Schüler und alle die, die keine Steuern zahlen, massiv belasten.Herr Kollege Stoltenberg, wie ist es denn mit den 25 Milliarden DM, die Sie dann auch noch zu finanzieren haben? Wir wissen doch, daß die Ausgaben des Bundeshaushalts weitgehend zementiert sind, daß dort 15 Milliarden DM nicht finanziert sind. Wollen Sie erneut dem sozialen Netz massive Lasten aufbürden? Wollen Sie, wie es in der Regierungserklärung anklang, den Verkehrshaushalt zusammenstreichen? Wollen Sie, was ich nicht annehme, was aber denkbar wäre, den Verteidigungshaushalt beschneiden, oder wollen Sie schlicht und ergreifend 25 Milliarden DM neue Schulden machen?
Wir haben einen Anspruch darauf, darüber von Ihnen heute Auskunft zu bekommen.
Im übrigen: Auch bei der Körperschaftsteuer bleiben Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, bei Ihrem Strickmuster. Die Körperschaftsteuer wird um 2,3 Milliarden DM gesenkt. Wenn wir uns das einmal in den Entlastungswirkungen auf Grund der letzten Körperschaftsteuerstatistik angucken, stellen wir fest, daß die Hälfte der Entlastung von 2,3 Milliarden DM 69 Großunternehmen bekommen. Mehr als 300 000 verbleibende Kapitalgesellschaften dürfen sich die andere Hälfte teilen. Das bedeutet folgendes: Die 69 gewinnstärksten Großunternehmen in unserem Lande erhalten im Durchschnitt eine Steuerentlastung von 16 Millionen DM, die 300 000 kleinen und mittleren Unternehmen im Durchschnitt eine Steuerentlastung von 3 500 DM. Da fragen wir Sie: Wie wollen Sie dies eigentlich gegenüber dem Mittelstand verantworten? Wie wollen Sie eigentlich diese zusätzliche Wettbewerbsver-
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Dr. Apelzerrung zu Lasten der Kleinen und Mittleren verantworten? Darauf hätten wir von Ihnen auch gerne eine Antwort.
Vor vier Jahren haben Sie, Herr Kollege Stoltenberg, Ihre Mitverantwortung für die Finanzen von Ländern und Gemeinden unterstrichen. Sie sind in den letzten vier Jahren dieser Verantwortung nicht gerecht geworden. Sie haben Sozialleistungen auf Länder und Gemeinden verschoben. Sie haben die Gemeinden durch eine verfehlte Arbeitsmarktpolitik und durch eine Explosion der Sozialhilfeausgaben leckgeschlagen. Bei den geplanten Steuererhöhungen zur Finanzierung Ihres Steuerpaketes wollen Sie erneut im wesentlichen Geld in die Kassen des Bundes führen und die Länder und Gemeinden mit diesen massiven Steuerausfällen belasten. Dabei handelt es sich immerhin um 10 Milliarden DM. Ihr Kollege Herr Rommel, der Oberbürgermeister von Stuttgart, hat gestern klargemacht, daß dies für die Gemeinden überhaupt nicht akzeptierbar und tragbar sei.
Ministerpräsident Albrecht hat bereits darauf hingewiesen, daß Niedersachsen nur dann Ihren Steuerplänen zustimmt, wenn Sie diesem Land die Einnahmeverluste von 1,4 Milliarden DM ausgleichen. Ich sage Ihnen: Ich kann die Haltung von Herrn Albrecht verstehen, denn, meine Damen und Herren, der Bundesfinanzminister kann doch nicht die Länder und Gemeinden dafür ausbluten lassen, daß er nicht in der Lage ist, nicht die Kraft hat, finanzielle Deckung für seine Steuerpolitik beizubringen.
Ich sage hier in aller Klarheit für uns Sozialdemokraten: Die Mehrheit unserer Bürger braucht ein funktionsfähiges Gemeinwesen, gute Schulen, Krankenhäuser, eine menschenwürdige Altenpflege. Ihre verfehlte Steuerpolitik darf unseren Sozialstaat nicht leckschlagen.
Er ist nämlich eine zentrale Voraussetzung nicht nur für den sozialen Frieden in unserem Lande, sondern auch für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft national, insbesondere aber international.Und so fasse ich denn zusammen:
Diese Bundesregierung beginnt ihre Amtszeit — man kann es nicht anders nennen — mit einem finanzpolitischen Chaos.
Ihrer Politik fehlt die solide Finanzierung. Die Bundesregierung setzt ihre ungerechte Steuerpolitik ohne Gewissen fort. Ausdruck dafür ist die Senkung des Spitzensteuersatzes.Die geplanten Steuererhöhungen zur Finanzierung der Riesenhaushaltslöcher sollen bis nach den anstehenden Landtagswahlen versteckt werden. Wir nennen das Wählerbetrug.Die Bundesregierung nimmt die Massenarbeitslosigkeit tatenlos hin.
Dem konjunkturellen Abschwung steht sie hilflos gegenüber.Wir Sozialdemokraten werden dieser verantwortungslosen Politik ohne Perspektive, ohne Zukunft nicht zustimmen.
Wir stellen hier unser Konzept für solide Finanzen, gerechte Steuern und mehr Beschäftigung entgegen. Wir werden kämpfen für eine gerechte und beschäftigungspolitisch wirksame Steuerpolitik, eine Steuersenkung für kleine und mittlere Einkommen zur Erhöhung der Massenkaufkraft. Wir stehen weiter ein für die Investitionsrücklage zur Stärkung der Investitionskraft kleiner und mittlerer Unternehmen.
Wir wollen, meine Damen und Herren, mehr Investitionen, nicht weniger, im privaten wie im öffentlichen Sektor. Im Bereich des Umweltschutzes, der Energieversorgung, der Infrastruktur, der Stadterneuerung besteht ein enormer Bedarf an langfristig orientierten Zukunftsinvestitionen.Wir werden Ihnen erneut unser Projekt „Arbeit und Umwelt" vorschlagen,
weil wir auf diese Art und Weise sichtbar machen können, wie, solide finanziert, Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit mit aktivem und in die Zukunft weisendem Umweltschutz verbunden werden kann. Und wir wollen die Arbeitsmarktpolitik in allen ihren Facetten als ein wesentliches Element im Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit verstärken.Das sind unsere Schwerpunkte für die Finanzpolitik dieser Legislaturperiode. Das ist das, was gemacht werden kann. Das ist das, was gemacht werden muß. Wir werden uns an Ihrem hemmungslosen, nicht finanzierten, auf die Wahltage schielenden Wettlauf mit ungedeckten Schecks und ungedeckten Versprechungen nicht beteiligen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Carstens .
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn Sie, Herr Kollege Apel, hier am Pult des Deutschen Bundestages von ungeordneten Finanzen und ungedeckten Wechseln reden,
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Carstens
müssen Sie sich wohl an Ihre Amtszeit als Finanzminister in der Bundesregierung erinnern;
denn bei Gerhard Stoltenberg gibt es Gott sei Dank geordnete Bundesfinanzen.
Herr Kollege Apel, Sie haben die überwiegende Zeit Ihrer Rede dafür verwandt, zu der bevorstehenden großen Steuersenkung für die deutschen Bürger Stellung zu nehmen.
Sie haben das Recht dazu. Sie haben auch das Recht, uns zu kritisieren. Ob diese Kritik allerdings so polemisch und unsachlich hätte sein müssen, wage ich ernsthaft zu bezweifeln.
Ich habe das Recht, Herr Kollege Apel, Sie darauf hinzuweisen, daß Sie hier im Deutschen Bundestag am heutigen Tage über so große Steuersenkungspläne mit uns nur debattieren können, weil Bundesregierung und Koalition die von Ihnen zerrütteten Staatsfinanzen in den letzten vier Jahren konsequent in Ordnung gebracht haben.
SPD und GRÜNE haben hierzu nichts, aber auch gar nichts beigetragen. Das wissen die Bürger in unserem Lande auch genau, meine Damen und Herren. Wenn Sozialisten regieren, ist Schluß mit Steuersenkungen. Wenn Sozialisten regieren, dann wird die Belastbarkeit der Bürger getestet.
Die SPD war schon immer sehr findig, wenn es darum ging, Wege aufzuspüren, über die die Bürger weiter belastet werden konnten —
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Apel? — Nicht.
— über die den Bürgern das Geld aus der Tasche gezogen wurde, für Ausgaben, die bei der SPD leichthin beschlossen wurden. Die SPD hat sich nie sonderlich darum gekümmert, daß die Bürger unseres Landes dieses Geld vorher erarbeiten und erwirtschaften mußten.
Meine Damen und Herren, erst diese die Ausgaben sehr begrenzende Haushaltspolitik des Bundes hat die Voraussetzungen dafür geschaffen,
daß wir nun — sozusagen alle Jahre wieder und 1990 mit einem großen Paket — die Steuern senken können. Das ist darauf zurückzuführen, daß wir imstande gewesen sind, mit einer festen Ausgabendisziplin die Ausgabenzuwächse bei durchschnittlich 1,7 % zu halten.
Diese 1,7 To machen über vier Jahre zusammengenommen eine Ausgabensteigerung aus, die niedriger als die Ausgabensteigerung ist, die wir zu SPD-Zeiten in einem Jahr gehabt haben.
Das war eine verschwenderische und unverantwortliche Schuldenpolitik der damaligen Regierung.
Herr Kollege Apel, Sie wissen ja selbst, daß Sie hieran große Mitschuld tragen. Das war damals eine teure Politik.
Sie war zusätzlich erfolglos und unsozial. Sie war teuer, erfolglos und unsozial. Die Wirtschaft schrumpfte. Die Arbeitslosigkeit stieg sprunghaft an. Die Reallöhne sanken. Die Zinskosten stiegen an und haben den kleinen Leuten das Geld aus der Tasche gezogen,
was damals bei den hohen Zinsen dazu geführt hat, daß es die größte Umverteilung von unten nach oben gegeben hat, die es jemals in unserem Lande nach dem Kriege gegeben hat.
Der Geldwert inflationierte und zog ebenfalls dem kleinen Mann das Geld aus der Tasche. Herr Kollege Apel, Sie haben am allerwenigsten Berechtigung zu polemischer Kritik hier in diesem Hause. Wenn diese Ausgabensteigerungen von durchschnittlich 8,5 weitergeführt worden wären wie zu SPD-Zeiten, würde das Haushaltsvolumen mittlerweile um 80 Milliarden DM höher ausfallen als in diesem Jahr. Meine Damen und Herren, dann brauchten wir in diesem Hause nicht über Steuersenkungen zu diskutieren, sondern dann müßte man über Steuer- und Abgabeerhöhungen diskutieren, wodurch die Bürger zusätzlich belastet würden, wie damals zur Endzeit der Regierung Schmidt. Damals ist das Kindergeld für arbeitslose Jugendliche gestrichen worden, das Kin-
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Carstens
dergeld für alle unabhängig vom Einkommen gekürzt worden.
Das waren SPD-Zeiten. Wir können soziale Maßnahmen beschließen und gleichzeitig die Steuern senken. Das ist eine typische Politik der Sozialen Marktwirtschaft mit der Union.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Gilt das für Ihre ganze Redezeit?
Ja, sehr wohl.
Ich habe immer viele Zwischenfragen zugelassen.
Herr Abgeordneter Apel, es ist seine freie Entscheidung.
Ich habe relativ wenig Zeit zur Verfügung, und die möchte ich nutzen.
Sie, Herr Kollege Apel, kommen hierher, um uns unsozialer Politik zu bezichtigen. Die SPD ist es gewesen, die die Interessen der kleinen Leute sträflich vernachlässigt hat.Wir haben nun die Möglichkeit, auf den erreichten Konsolidierungserfolgen aufzubauen. Wir haben die Voraussetzung geschaffen, um unter Fortführung einer verantwortlichen Haushaltspolitik die Steuern nachhaltig zu senken.Wir finden, der beste Aufbewahrungsort für den überwiegenden Teil des von unseren Bürgern erarbeiteten Geldes ist immer noch das Portemonnaie der Bürger, die das Geld erarbeitet haben.
Wir finden, das, was in den Unternehmen erarbeitet wird, muß vermehrt als Eigenkapital in den Unternehmen bleiben, um dadurch die Möglichkeit zu schaffen, daß es zu Investitionen und zu neuen Arbeitsplätzen kommt. Für uns hat die Stärkung der wirtschaftlichen Leistungskraft aller — der Bezieher kleinerer, mittlerer und höherer Einkommen — Vorrang vor staatlicher Umverteilung und Gängelei.
Das ist unsere finanzpolitische Philosophie und die Grundlage der wirtschaftspolitischen Erfolge der letzten Jahre.Und — lassen Sie mich das deutlich sagen — diese Politik ist frei von Neid und Klassenkampfparolen, diedie Menschen lediglich daran hindern, ihre eigenen Fähigkeiten zur Entfaltung kommen zu lassen.
Deswegen haben wir die Staatsquote, den Gradmesser der staatlichen Einmischung, in unserer Volkswirtschaft seit 1982 konsequent zurückgedrängt. Deswegen haben wir auch den Ausgabenzuwachs in allen öffentlichen Haushalten konsequent zurückgeführt und das Finanzierungsdefizit etwa halbiert.Es ist folgerichtig, daß jetzt in die Koalitionsvereinbarung geschrieben wurde, daß es bis 1989 keine neuen Leistungsgesetze geben soll. Es ist völlig undenkbar, daß ein solcher Satz in einer Koalitionsvereinbarung oder einem Regierungsprogramm der SPD stehen kann. Das macht die Seriosität unserer Finanz- und Haushaltspolitik aus.
Wenn wir es zu unserem Programm machen, begrenzt die Ausgaben steigen zu lassen, kann ich doch mit Stolz darauf hinweisen, daß wir trotz dieser Ausgabensteigerung um nur 1,7 To fähig gewesen sind, eine Politik zu machen, die viel sozialer ist, als es Ihre jemals gewesen ist.
Wir haben in den letzten Jahren dafür gesorgt, daß die Reallöhne steigen konnten. Die Renten steigen real. Die Sozialhilfe steigt real. Der Geldwert ist total stabil. Die Zinskosten sind mäßig. Die Wirtschaft wächst mittlerweile im fünften Jahr in Folge wieder auf einem soliden Fundament. Die Bundesbank hat uns gerade gestern bestätigt, daß die Realeinkommen so gestiegen sind, wie in zwölf Jahren zuvor nicht mehr. Wir haben einen Reiseboom, wie wir ihn zuvor nie erlebt hatten. Das ist ein sicherer Hinweis darauf, daß die große Mehrheit unseres Volkes an unserer Politik Anteil hat. Das ist eine Politik für die breite Masse, für den kleinen Mann.
Wir haben den Kindergeldzuschlag für jene eingeführt, die die steuerlichen Kinderfreibeträge nicht nutzen können. Durch uns gibt es das Erziehungsgeld für alle Mütter. Wir haben das Kindergeld für die arbeitslosen Jugendlichen, das die SPD gestrichen hatte, wieder eingeführt. Wir rechnen Kindererziehungszeiten für die Höhe der eigenen Rente an. Bei uns gibt es Altersruhegeld in der Rentenversicherung schon nach fünf Versicherungsjahren. Bei uns gab es eine mehrmalige Verlängerung der Höchstbezugsdauer von Arbeitslosengeld für ältere Arbeitslose.Das ist eine lange Liste sozial wirksamer Beschlüsse, die wir bei dieser geringen Ausgabensteigerung durchziehen konnten, weil wir absolut stabiles Geld haben und weil das, was wir bewilligen, in die Kassen der Bürger fließt.
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Das ist eine Sozialpolitik, die diesen Namen wirklich verdient.
Wir haben, sehr geehrter Herr Kollege Apel, in den letzten Jahren — schon vor 1986 beginnend, ab 1983 — die Steuern mehrmals so gesenkt, daß eine große Tageszeitung unlängst von einer permanenten Steuerreform gesprochen hat. Das ist, wie ich meine, ein sehr zutreffender Ausdruck. Wir werden nach der Entlastung für die Familien im Jahre 1986 eine erneute Senkung 1988 vornehmen. Die große Entlastung ist für 1990 vorgesehen und beschlossen. Wenn ich das zusammenfasse und bewerten darf, dann habe ich für meine Begriffe das Recht, hier zu sagen, daß die Union in der Bundesrepublik Deutschland die eigentliche Steuersenkungspartei ist,
gemeinsam mit der FDP, die ich gerne einbeziehen will.
Und wenn ich mir nach dieser Feststellung vor Augen führe, was die SPD auf ihrem Parteitag in Nürnberg gesagt hat, was viele Politiker anschließend hinzugefügt haben, z. B. in Sachen Ergänzungsabgabe, Sparbuchsteuer, Erhöhung der Vermögensteuer, Zurücknehmen, Rückgängigmachenwollen der für 1988 beschlossenen Steuersenkung,
dann habe ich ebenfalls das Recht, hier im Deutschen Bundestag zu sagen, daß die SPD die eigentliche Steuererhöhungspartei in unserem Lande ist.
Herr Kollege Apel, Sie haben dann den einen oder anderen Punkt aufgegriffen, um uns vorzurechnen, wie unsozial diese Steuerentlastung werden würde. Ich will Ihnen gerne bestätigen, daß wir z. B. einen Familienvater mit zwei Kindern oder eine Familie mit zwei Kindern und einem Einkommen von 34 000/ 35 000 DM, die wir mit 1 000 DM im Jahr entlasten, um etwa sechsmal weniger entlasten als einen Familienvater mit zwei Kindern und einem Einkommen von 120 000 DM. Der wird durch unsere Beschlüsse um 6 000 DM entlastet; das stimmt. Der Besserverdienende, wird also sechsmal stärker entlastet. Aber, meine Damen und Herren, vergessen Sie bitte nicht — und das müssen Sie hinzufügen; das, was Sie sagen, ist nur die halbe Wahrheit —
Dieser Familienvater, der 120 000 DM verdient, der sechsmal stärker entlastet wird als der andere, muß aber nach der Entlastung noch zwölfmal mehr Steuern zahlen als der, der weniger verdient.
Mir scheint das doch eine wirklich begründbare Ausgangsposition und ein Nachweis dafür zu sein, daß diese Steuerentlastung sachgerecht angelegt ist.
Die Wahrheit, meine Damen und Herren, ist, daß die Geringverdienenden anteilmäßig stärker entlastet werden als die Besserverdienenden. Sie, Herr Kollege Apel, haben auch soeben wieder auf den Spitzensteuersatz abgehoben.
Deshalb möchte ich den deutschen Steuerzahlern sagen, daß wir z. B. für die niedrigeren Tarifbereiche und den Grundfreibetrag insgesamt einen Betrag von 14 Milliarden DM vorgesehen haben, wohingegen die Entlastung im Spitzenbereich nur eine Milliarde DM ausmacht. Eine Milliarde DM von 44 Milliarden DM! Das ist die richtige Relation im Zusammenhang mit der Diskussion über den Spitzensteuersatz.
Wir werden dafür sorgen, daß insgesamt 500 000 Steuerzahler von heute nach dieser Reform keine Steuern mehr zu zahlen haben. Auch das ist ein Beispiel für soziale Steuergesetzgebung. Die Spitzensteuer wird weiterhin bei 53 % bleiben. Dies zeigt, daß wir im Zusammenhang mit der Entlastung, die wir noch endgültig zu beschließen haben, durchaus eine sehr soziale Ausgewogenheit anstreben.Ich freue mich darüber, daß es auch gelungen ist, zu einer spürbaren Entlastung der Wirtschaft zu kommen. Diese nachhaltige Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen ist unverzichtbar, wenn sich unsere Unternehmen im scharfen Wettbewerb, den es auf der internationalen und europäischen Ebene gibt, auch künftig behaupten sollen.Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend einige Ausführungen zur Finanzierung dieses Gesamtpakets machen. Umfassend wird das sicherlich von Gerhard Stoltenberg dargestellt.
Wir haben zwei Säulen, die das Fundament dieser Finanzierung darstellen: Das ist erstens die Verbreiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlage und zweitens äußerste Ausgabendisziplin.Die Verbreiterung der steuerlichen Bemessungsgrundlage bedeutet für die Union einmal den Abbau steuerlicher Subventionen und die Durchforstung der Nischen, durch welche mancher Steuerzahler sein zu versteuerndes Einkommen erheblich verkürzen kann. Wir sehen dabei nicht nur den Finanzierungsaspekt, es gilt auch, mehr Steuergerechtigkeit zu üben. Jeder Steuerzahler, meine Damen und Herren, muß wieder das Gefühl haben dürfen: Ich werde genauso behandelt wie mein Kollege, wie mein Nachbar, wie mein
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Konkurrent. Dies baut den Neid ab, das entschärft Konflikte, die Steuerakzeptanz wird vergrößert.
: Das entspricht
genau unserer Lesart! Also fangt doch an!)Hier liegt eine gesellschaftspolitische Aufgabe, die wir anpacken müssen. Gerechte Steuern, meine Damen und Herren, gehören zum Markenzeichen Sozialer Marktwirtschaft wie Wettbewerb oder Tarifautonomie.
Wir haben hier eine Aufgabe vor uns, die es wert ist, daß sich die Tüchtigsten an die Arbeit machen. Wenn es uns gelingt, die festgelegten 19 Milliarden DM aus Subventionen, aus der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und aus dem Finden der Nischen zusammenzubekommen, dann brauchten wir nicht mehr Verbrauchsteuererhöhungen vorzunehmen. Laßt uns also an die Arbeit gehen — mit Mut, der dazugehört — , um dieses Ziel weithin auszufüllen und zu erreichen. — Herr Kollege Apel, ich möchte Ihnen übrigens sagen, daß Sie viel über Subventionen geredet, aber im Grunde nichts dazu gesagt haben.
Meine Damen und Herren, die zweite Säule ist die äußerste Ausgabendisziplin. Da haben wir aus den letzten vier Jahren Erfahrung, die wir in die Aufgabe der nächsten Jahre einbringen werden. Wir haben die Absicht, die öffentlichen Ausgaben nur in etwa so steigen zu lassen, daß ca. 2 Prozentpunkte der steuerlichen Mehreinnahmen von der öffentlichen Hand nicht in Anspruch genommen werden. Wir haben zur Zeit ein Steueraufkommen von rund 480 Milliarden DM. Wenn Sie das mit 2 % aufrechnen, ergibt sich hieraus ein Finanzierungsvolumen von jährlich zwischen 8 und 10 Milliarden DM. Über diese Beträge, über die Jahre hochgerechnet, wollen wir diesen Posten von 25 Milliarden DM decken. Dazu gehört aber äußerste Ausgabendisziplin, dazu gehört auch, daß die Länder und Kommunen mitmachen. Ich möchte die Länder und Kommunen herzlich bitten, zu erkennen, worum es geht, wenn wir Wert darauf legen, diese äußerste Ausgabendisziplin beim Bund, bei den Ländern und bei den Kommunen zu praktizieren. Ob dann ein leichter Anstieg der Neuverschuldung erforderlich ist, kann im voraus nicht gesagt werden. Bei diesem großen Entlastungsvolumen wäre es kurzzeitig vertretbar; aber wir werden uns bemühen, das nach besten Kräften zu verhindern. Ich gebe hier auch für die Haushaltsgruppe — ich möchte sagen: für die ganze Fraktion — das Wort dafür, daß wir die Ausgaben im Griff behalten werden, damit sich diese Reform für alle Bürger in unserem Land wirklich lohnt.
Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich sagen, daß wir mit dieser Politik das Fundament für eine dauerhaft gesunde wirtschaftliche Entwicklung zum Wohle der Bürger unseres Landes verstärken.Danke schön.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Vennegerts.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist wirklich interessant, zu beobachten, wie aus dem sparsamen Hausvater der Nation das finanzpolitische Risiko Nr. 1 in der Republik geworden ist.
Das groß angekündigte Jahrhundertwerk entpuppt sich bei näherer Betrachtung als windige Operation mit ungedeckten Schecks, als ein steuerpolitischer Flop.
Wir sind schon sehr gespannt auf die phantasievollen Ausreden, die Sie sich werden einfallen lassen müssen, Herr Stoltenberg, wenn es darum geht, dem erwartungsvollen Bürger zu erklären, wieso ihm das Geld, das ihm auf der einen Seite zugesteckt wird, auf der anderen Seite wieder durch Erhöhung der Verbrauchsteuern oder Streichung des Weihnachtsfreibetrages aus der Tasche gezogen werden wird. Mit diesem Taschenspielertrick werden Sie die Bürger nicht täuschen können.
Nachdem Sie an dieser Stelle jahrelang das Menetekel sozialistischer Ausverkaufspolitik an die Wand gemalt und sich mit dem Glorienschein der Erblastbeseitigung umgeben haben und es immer noch tun, präsentieren Sie jetzt einen Steuerbetrug, der in der Geschichte der Bundesrepublik seinesgleichen sucht; denn 44 Milliarden DM sind nicht gedeckt. Es ist eine unseriöse Finanzierung, Herr Stoltenberg. Da Sie sich haushaltsrechtlich auskennen, denke ich, wissen Sie auch, wie man es dort nennt. Sie haben nämlich für Ihre Ausgaben keine Deckungsvorschläge erbracht. Das ist mehr als unsolide, das ist peinlich.
Daß Sie sich mit der Reduzierung der Nettoneuverschuldung von 37 auf 24 Milliarden DM sozusagen einen Vorschuß auf die Steuerreform erwirtschaftet hätten, ist doch reine Augenwischerei angesichts der Tatsache, daß bei jedem Pfennig, den der Dollarkurs unter 1,71 DM sinkt, sich der Bundesbankgewinn um 350 Millionen DM jährlich verringert. Aus diesem Topf bedienen Sie sich und haben sich in diesem Jahr schon 7 Milliarden DM herausgenommen; jawohl, meine Damen und Herren von der Koalition.Anscheinend haben Sie sich auch keine Gedanken darüber gemacht, wie die Gemeinden die 6 Milliarden DM Steuerausfall verkraften sollen, nachdem diese schon die Konsequenzen Ihrer Steuersparpolitik und katastrophalen Arbeitsmarktpolitik ausbaden müssen. Herr Bangemann hat gestern die nordrhein-westfälische Landesregierung angegriffen, dabei aber
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Frau Vennegertsganz vergessen, daß der Bundeshaushalt Mitverantwortung für Landes- und Gemeindehaushalte trägt.
Mit Ihrer Politik betreiben Sie jedoch eine Enteignungsstrategie gegenüber den dezentralen Ebenen unseres föderalen Systems. Das paßt Ihnen jetzt gar nicht, aber das ist so.
Daß Ihre Politik unsozial ist, daran ist man ja gewöhnt. Daß sie jetzt aber auch noch unseriös ist, das erstaunt uns sehr; denn die Seriosität war bisher das einzige Attribut, das man Ihnen eigentlich in diesem Fall noch zusprechen konnte.
— Nur vom Rechnen her.Schauen wir uns Ihr Wunderwerk doch etwas näher an: Die Supersteuerreform hat sich als simple, dafür um so unsozialere Tarifkorrektur entpuppt. 1 000 DM soll jeder Steuerzahler jährlich zusätzlich in seiner Tasche wiederfinden.
Das sieht dann in der Praxis folgendermaßen aus: Ein Arbeiter im öffentlichen Dienst mit zwei Kindern, verheiratet, Durchschnittseinkommen ca. 3 000 DM, wird 630 DM weniger an Steuern im Jahr zahlen. Ein kinderloser, verheirateter Fabrikant hingegen, jährliches Durchschnittseinkommen 650 000 DM — auch das gibt es — , spart über 42 000 DM im Jahr ein. Das ist kein 1 000-DM-Steuergeschenk, das ist eine 1 000DM-Steuerlüge, meine Damen und Herren.
Herr Stoltenberg, vielleicht sollten Sie jetzt einmal herschauen. Ihre Handlung ist vergleichbar mit der eines politischen Steuerbetrügers.
Frau Abgeordnete, ich rufe Sie zur Ordnung.
Es werden weiterhin Einkommen unterhalb des Existenzminimums besteuert werden. Oder wollen Sie allen Ernstes das Existenzminimum für 1990 auf 5 660 DM im Jahr festlegen? Alle Parteien haben im Wahlkampf beklagt, daß Erwerbseinkommen, die unterhalb der Sozialhilfe liegen, auch noch zusätzlich besteuert werden; auch Sie, meine Damen und Herren Sozialdemokraten. Dennoch bringt die SPD einen Tarifvorschlag ein, der den Grundfreibetrag auf klägliche 5 022 DM anhebt.Nur wir GRÜNEN
haben einen Tarifvorschlag gemacht und solide gerechnet. Ja, da staunen Sie!
Sie werfen sich hier nur gegenseitig Ihre steuer- und finanzpolitischen Verfehlungen vor, und jetzt wundern Sie sich darüber, daß wir rechnen können. Jawohl, das ist sogar solide durchgerechnet, bloß mit einem Unterschied: In unserem Modell kommt die Entlastung nicht den hohen und höchsten Einkommen zugute. Das ist der Unterschied, meine Damen und Herren. Die haben das nämlich unserer Meinung nach nicht nötig. Im Gegenteil, wir halten es aus Gründen der Gerechtigkeit und auf Grund wirtschaftspolitischer Überlegungen für notwendig, daß diese Einkommensgruppen mehr als bisher zum Steueraufkommen beitragen.
Wir meinen auch, daß dies zumutbar ist.Das ganze Gerede über den Spitzensteuersatz lenkt doch völlig davon ab, wie niedrig die Belastung der Spitzeneinkommen tatsächlich ist.
Ich will ganz einfach einmal den Durchschnittssteuersatz betrachten. Da sieht es doch so aus, daß beim Einkommen von 120 000 DM, ab dem künftig der verringerte Steuersatz von 53 % zu zahlen ist, insgesamt nur 34 % des Einkommens ans Finanzamt abzuführen sind. Das sind Tatsachen! Das ist deshalb so, weil auch die Spitzeneinkommen vom Grundfreibetrag und von der Abflachung der Progression profitieren. Unser Tarifvorschlag baut diese Grundentlastung für Spitzeneinkommen ab; deshalb ist er aufkommensneutral, seriös und solide.
Aber Ihr Reformpaket hat ja noch ganz andere Konsequenzen, und darauf ist hier viel zuwenig hingewiesen worden: Diese Steuerreform bedeutet den Verzicht auf jegliche Maßnahmen im Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Armut und Umweltzerstörung.
Mit Steuersenkungen und Ausgabenkürzungen wird der Staat systematisch aus gesellschaftlichen Verantwortungsbereichen herausgeschraubt. Der Staat wird in einer Zeit aus der Pflicht entlassen, in der er sehr stark — nämlich so stark wie nie zuvor — gefordert ist, ökologische Zukunftsinvestitionen vorzunehmen, z. B. aktiv ökologische Strukturveränderungen und Forschungsprozesse zu initiieren und zu steuern. Luftreinhaltung, Gewässer- und Bodenschutz, Lärmbekämpfung und Energieeinsparung schaffen einen öffentlichen Investitionsbedarf, der nicht zu bewerkstelligen ist, wenn der Anteil der Investitionen des Bundes an den Gesamtausgaben von Jahr zu Jahr abgebaut wird. Können wir es uns erlauben, einen Steuerausfall von 44 Milliarden DM angesichts der 48 Milliarden zu riskieren, die uns derzeit die Luftverschmutzung kostet?
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Frau VennegertsStatt dessen plädieren die Regierungsparteien weiterhin für den Abbau der Staatsquote und klammern sich an den frommen Glauben an die Selbstheilungs- und Selbstregulierungskräfte des Marktes.
Auf Bundesebene soll der Staat in die Rolle des Nachtwächterstaates zurückbeordert werden, während auf Landesebene die Herren Strauß und Späth in absolutistischer Kleinfürstenmanier eine Art stromlinienförmigen Neomerkantilismus praktizieren.
Marktgesetze werden gerne ignoriert.
— Jawohl, jetzt sollten die Herren dort, die Vertreter der Marktwirtschaft, einmal schön zuhören! Marktgesetze werden gern ignoriert und Subventionen gern mit dem Füllhorn verteilt, wenn es den politischen Eigeninteressen dient, jawohl!
140 Millionen DM werden im badischen Rastatt der Daimler-Benz AG sinnlos in den Rachen geworfen.
11,5 Milliarden DM hat der deutsche Steuerzahler schon für den Ehrgeiz bezahlen müssen, ein Drittel des Marktes zu erobern, den die Firma Boeing besetzt hält. Ginge es nach dem freien Kräftespiel des Marktes, hätte die Airbus-Industrie größte Schwierigkeiten, im Wettbewerb zu bestehen.
In bester staatsinterventionistischer Manier wird hier einem Unternehmen über die Markthürden geholfen, jawohl! Die Firma MBB — die auch, wie man heute hörte, sehr an SDI beteiligt ist — gehört zu 52 % den Ländern Bayern, Bremen und Hamburg, wird aber aus der Privatisierungsdiskussion — man höre und staune — fein säuberlich herausgehalten. Warum wohl? Franz Josef Strauß reist in seiner Eigenschaft als Aufsichtsratsvorsitzender der Airbus-Industrie in Sachen Verkaufsförderung sozusagen als höherer Handelsvertreter durch die Weltgeschichte und verkauft Jets.
Auf diese Weise wird die Bundesrepublik wirtschaftspolitisch in eine Kleinstaaterei im Stile des 19. Jahrhunderts zurückfallen und zerfallen, weil hier das Eigeninteresse der Politiker überwiegt. So treffen Sie hier Ihre Entscheidungen.Jahrelang haben Sie die Bürger dieses Landes genervt
mit dem Satz, daß ihre überzogenen Lohnforderungendie Wurzel allen Übels seien. Nachdem man esgeschafft hat, die Lohnquote wieder auf den Standvon 1960 herunterzudrücken, läßt sich feststellen, daß die Unternehmensgewinne zwar kräftig gestiegen sind, sich am Stand und Zustand der Arbeitslosigkeit jedoch nichts Wesentliches geändert hat.
Was Sie mit Lohndrückerei nicht geschafft haben, soll jetzt mit Steuerentlastungen erreicht werden. Wie hoch sollen die Unternehmensgewinne denn noch steigen? Wie lange brauchen Sie denn noch, um zu verstehen, daß Gewinnzuwächse für Großunternehmen sehr viel attraktiver und oft sehr viel lukrativer angelegt werden können als in Arbeitsplätzen? Sie sollten ab und zu eben auch einmal in die Minderheitsvoten der Sachverständigenratsgutachten hineinschauen, auch wenn Ihnen das unbequem ist.
Fazit zu dieser Steuerreform, zu der Finanz- und Haushaltspolitik, die hier vorgelegt worden ist: Erstens ist sie unsozial, zweitens unseriös in höchstem Maße — das ist noch sehr vornehm ausgedrückt — und drittens perspektivlos, da keine zukunftstragfähigen Konzepte dahinterstehen.Das einzige, was uns GRÜNE an den finanzpolitischen Koalitionsbeschlüssen zufriedenstellt — da gibt es was; jetzt passen Sie mal schön auf —
ist die Tatsache, daß unserer Aufforderung, endlich Farbe zu bekennen, so eindeutig Folge geleistet wurde. Es wurde endlich Farbe bekannt, wer in der Steuerpolitik das Sagen hat, nämlich die Lobbyisten von der FDP und Herr Strauß, und daß Sie, Herr Stoltenberg, zwar die Steuerbeschlüsse jetzt hier vortragen dürfen, aber insgesamt zum politischen Leichtgewicht herunterkoaliert wurden.
Das Wort hat der Abgeordnete Solms.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dieser Rede würde ich eigentlich vorschlagen, wir sollten eine kleine Änderung vornehmen; wir sollten Beifall spenden einmal nach Inhalt und einmal nach Vortrag. Dann kämen wir sicher zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen.
Aber, meine Damen und Herren, ich will mich dem Thema des Tages wieder zuwenden und zum Ausdruck bringen, daß die FDP-Fraktion zufrieden ist mit dem Ergebnis der Koalitionsverhandlungen
bezüglich der Steuerreformpolitik und der Finanzpolitik im allgemeinen.
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Dr. SolmsWir finden uns wieder in diesen Ergebnissen, wie die Koalitionsparteien dies alle tun können. Die Verhandlungen waren teilweise stürmisch, aber sind zu einem guten Ergebnis gekommen. Nun sind wir alle, auch Sie, die Kollegen von den Sozialdemokraten und von den GRÜNEN, aufgerufen, in den Beratungen in den Ausschüssen im Detail jeder seinen eigenen Beitrag zu liefern.Ich verstehe gar nicht Ihre Aufregung über die Finanzierungsfrage. Das ist doch schließlich auch eine Gelegenheit für die Sozialdemokraten, eigene Beiträge zum Subventionsabbau und zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage einzubringen.
Herr Abgeordneter Solms, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Apel?
Ja, bitte schön.
Bitte sehr, Herr Kollege Apel.
Herr Kollege, kann ich diese Einladung so verstehen, daß Sie diese Subventionskürzungsliste über 25 Milliarden DM pro anno, die ja die FDP irgendwo verschlossen hat, möglichst bald, und zwar vor den Landtagswahlen vorlegen, so daß da die Wähler, aber vielleicht auch die Abgeordneten einmal hineinschauen können?
Herr Kollege Apel, es wäre für Sie sicher reizvoll, wenn wir das täten, aber fairerweise kann das nur so stattfinden, daß jeder seine Vorschläge einbringt, und dann kann man miteinander diskutieren, worin das beste Ergebnis besteht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Steuerreformpaket ist ausgewogen, es ist akzeptabel für alle. Es berücksichtigt die Verteilungsgesichtspunkte. Insbesondere werden die sozialen Argumente berücksichtigt.Ich möchte den Herrn Kollegen Vogel, der gestern das Beispiel von dem Bezieher eines Einkommens von 300 000 DM und dem Bezieher eines kleinen Einkommens gebracht hat, doch daran erinnern, daß derjenige, der zählen kann, noch lange nicht rechnen kann; denn Sie können doch nicht die absoluten Zahlen vergleichen, Sie müssen natürlich relative Zahlen miteinander vergleichen.
Dann kommen Sie zu dem Ergebnis, daß die Bezieher von Spitzeneinkommen um 3 % entlastet werden, die Bezieher unterster Einkommen um etwa 10 % und daß die Facharbeiter, die gegenwärtig durch den Mittelstandsbauch oder, heute besser gesagt durch den Facharbeiterbauch gegenwärtig die höchste Belastung zu tragen haben, bis zu 30 % entlastet werden.Das ist das Entscheidende an dieser ganzen Geschichte.
Es ist unsere feste Absicht, den unerträglich gewordenen Steuerzugriff für Arbeitnehmer und Wirtschaft zu lockern. Wir stellen die Steuerpolitik wie schon in den letzten Jahren in den Dienst der Konjunkturpolitik, aber insbesondere in den Dienst der Beschäftigungspolitik.
Wir sagen deshalb Ja zur Senkung der Steuerquote insgesamt. Wir sind der Meinung, daß ein vernünftiges Konzept überhaupt nur so aussehen kann, daß dabei eine Entlastung für alle herauskommt.Kernstück der Reform ist natürlich die Schaffung des linear-progressiven Tarifs, und das ist ein echter Reformansatz; denn wenn Sie einmal den linearen Tarif haben, dann kann die Fehlentwicklung, die wir gegenwärtig mit der besonders harten Belastung für Bezieher mittlerer Einkommen haben, nicht erneut einsetzen. Dann hätten Sie schon einen großen Begründungszwang.Aber wir legen Wert darauf, daß auch die Senkung des Spitzensteuersatzes, zu der wir uns ganz eindeutig bekennen, notwendig ist. Das wirklich schlagende Argument ist die Behandlung der großen Masse der kleinen und mittleren Unternehmen, namentlich der Personengesellschaften und der Einzelunternehmen; für 90 % dieser Unternehmen ist die Einkommensteuer die entscheidende Steuer.Es ist im internationalen Maßstab überhaupt nicht umstritten, daß die Steuerbelastung der Unternehmen in Deutschland extrem hoch ist. Gerade vorgestern konnten Sie in der Zeitung lesen, daß Nigel Lawson in England den Vorschlag gemacht hat, die Körperschaftsteuer auf 35 % zu senken. Die Amerikaner haben sie auf 34 % gesenkt. Die Japaner sind im Moment dabei, auf etwa 40 % zu gehen.
Bei uns kann sich — auch das ist unumstritten — die Steuerbelastung bei Gewinn erzielenden Unternehmen auf 70 % belaufen. Das ist nicht die Durchschnittsbelastung, völlig klar. Aber die Durchschnittsbelastung ist hier höher als an vergleichbaren Industriestandorten.
Wenn Sie den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland wettbewerbsfähig machen und erhalten wollen, dann dürfen Sie die Steuerbelastung nicht höher ansetzen als in anderen Ländern.
Deswegen muß das stattfinden. Dazu bekennen wiruns, und das ist auch unumstritten. Nur dann könnenwir zunehmend ausländische Investoren gewinnen,
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Dr. Solmsauch wieder in der Bundesrepublik zu investieren; denn gerade die Investitionsquote der Ausländer im Inland ist drastisch zurückgegangen.
Herr Abgeordneter Solms, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westphal?
Ja, bitte.
Herr Kollege Solms, ich will Sie eigentlich nur fragen: Kennen Sie irgendeinen in unserem Lande, der 70 % Steuern zahlt?
Ja, natürlich kenne ich die.
— Ich kann doch hier keine Namen nennen, entschuldigen Sie. Ich kann Ihnen im privaten Gespräch solche Unternehmen zeigen. Das kann ich gerne tun.
In der Bundesrepublik ist die Einkommensteuer die Unternehmensteuer für die Masse der Unternehmen, und deswegen müssen Sie die Einkommensteuer senken.
Es gäbe dafür eine Alternative; das will ich ganz offen sagen. Die Alternative wäre eine grundsätzliche Reform des Gewerbesteuersystems. Dazu sind Sie aber nicht bereit, weil Sie ja die Revitalisierung der Gewerbesteuer anstreben, d. h. eine zusätzliche Belastung der Unternehmen durch die Gewerbesteuer. Das können wir natürlich nicht zulassen. Wenn wir eine vernünftige Unternehmensbesteuerung erreichen wollen, müssen wir die Gewerbesteuer beseitigen. Dazu brauchen wir Ihre Mitarbeit, weil eine verfassungsändernde Mehrheit notwendig ist. Diese Diskussionen müssen wir in den nächsten Jahren führen, gerade auch im Zusammenhang mit der Harmonisierung der Steuersätze und Steuerarten in Europa. Deswegen können wir hier kurzfristig keinen Beitrag leisten und sind auf die Senkung der Einkommensteuer angewiesen.
Ich will über die anderen Teile und Zahlen jetzt nicht intensiv diskutieren. Sie sind vorgetragen worden; Sie kennen die verschiedenen Maßnahmen. Wichtig ist nur, zu wissen, daß Sie, wenn Sie zusammenrechnen — Anhebung des Grundfreibetrags, der Kinderfreibeträge, Senkung des Eingangsteuersatzes und linearer Tarif —, ein Volumen von 39,4 Milliarden DM Steuerentlastung für die kleinen und mittleren Steuerzahler haben. Dagegen steht die Senkung des Spitzensteuersatzes von 1 Milliarde DM. Sie können also wirklich nicht sagen, daß das eine unvernünftige Verteilungswirkung hätte.
Die Finanzierung muß geleistet werden, und zwar in einem Volumen von 19 Milliarden DM, durch Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und durch Senkung von direkten Finanzhilfen und Übertragungen. Das wird eine schwierige Diskussion werden. Daran gibt es keinen Zweifel. Das wird Mut erfordern. Aber ich erhoffe bei dieser Diskussion eben auch den Beitrag der Oppositionsparteien, auch wenn er kritisch
ist; das macht nichts. Im Endeffekt muß der Finanzierungsteil genauso wie der Entlastungsteil ausgewogen sein.
Aber leider haben Sie in der Zwischenzeit nicht weiter nachgedacht. Vielmehr haben Sie uns wieder den Rau-Tarif serviert, über den wir ja schon in der letzten Legislaturperiode gründlich zu diskutieren Zeit hatten. Er ist ein Tarif, der in der gesamten Fachwelt total verrissen worden ist, überhaupt keinen vernünftigen Ansatzpunkt bietet und bei dem schon der Facharbeiter mit einem Einkommen von 30 400 DM im Vergleich zum Tarif 1988 in Zukunft zusätzlich belastet werden soll. Sie legen ja auf diesen Vergleich immer Wert. Das kann doch wirklich nicht wahr sein: Die Masse der Arbeitnehmer, auf die es im Leistungsprozeß ankommt, soll zusätzlich belastet werden.
Ich will Ihnen gleich zwei Rechenbeispiele liefern. Wenn Sie die Grundtabelle und ein Einkommen von 20 000 DM nehmen, dann wird dieser Arbeitnehmer heute 3 420 DM Steuern zu zahlen haben, 1988 nach dem FDP-CDU/CSU-Tarif 3 415 DM, aber 1990 nur noch 2 943 DM, nach dem Rau-Tarif aber 3 290 DM. Das ist also eine klare Schlechterstellung.
Wenn Sie den Bezieher eines Einkommens von 40 000 DM nehmen, dann wird er nach dem Rau-Tarif mit 9 573 DM belastet, nach dem 88er Tarif mit 9 664 DM — also eine ganz geringe Entlastung —, aber nach dem 90er Tarif nur noch mit 8 000 DM, also um 1 500 DM weniger. Ich will es bei diesen Beispielen bewenden lassen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Apel?
Bitte.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß erstens der Rau-Tarif im Jahre 1988 auch in den von Ihnen gewählten Beispielen für diesen Facharbeiter wesentlich günstiger ist, daß es zweitens unzulässig wäre, zu behaupten, daß wir im Jahre 1990 nicht auch weitere Steuersenkungen insbesondere für diesen Bereich vorhaben, und daß deswegen drittens diese Art von Rechenweise unfair und unzutreffend ist?
Nein, Herr Kollege Apel. Ich habe jetzt den Tarif 1988 mit dem Rau-Tarif verglichen. Das ist der richtige Vergleich. Wenn Sie für 1990 eigene Vorschläge machen wollen, müssen Sie sie hier einbringen; sonst kann man ja nicht vergleichen. Bis jetzt haben Sie nur den Rau-Tarif eingebracht.
Meine Damen und Herren, heute morgen ist im Rundfunk angekündigt worden, daß der Möchtegernministerpräsident von Hessen heute die Fernsehgelegenheit im Bundestag nutzen möchte und an der Debatte teilnehmen wird.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 153
Dr. SolmsIch sehe Herrn Krollmann nicht. Wenn man im Deutschen Bundestag an der Diskussion teilnimmt, sollte man auch anwesend sein — das ist eine Frage des Anstands — und sich die Debattenbeiträge der Vorredner anhören. Das ist eine Stilfrage, auf die man Wert legen sollte.
Herr Abgeordneter Solms, wir sollten Mitglieder des Bundesrats nicht mit „Möchtegern" bezeichnen.
Meine Damen und Herren, die eigentliche Alternative für unsere Vorstellungen ist doch das Alternativmodell rot-grün in Hessen. Mit dem eigenen Anspruch, als Gegengewichtspolitik, als Gegengewichtsmodell anzutreten, sind ja die Rot-Grünen in Hessen angetreten. Daran müssen Sie sich messen lassen. Deswegen erstaunt es nicht, daß die hessische Regierung den Rau-Tarif über den Bundesrat in die gesetzgebenden Körperschaften eingebracht hat. Aber man muß doch einmal hinterfragen und genauer analysieren: Was verbirgt sich denn hinter diesem alternativen Konzept in Hessen, was wäre, wenn wir dieses Konzept hier im Bundestag zu erwarten hätten? Dazu muß man sich einige Augenblicke bemühen, die hessische Politik zu begutachten. Herr Krollmann, der heute hier auftreten wird und zehn Jahre lang Kultusminister in Hessen war, hat dafür gesorgt, daß der Ruf der hessischen Schulen auf Null gekommen ist.
— Kein dummes Zeug.
Ich habe vor kurzem einen leitenden Mitarbeiter einstellen wollen, der in Stuttgart wohnte. Wir haben uns geeinigt, doch ist der Wechsel nicht zustande gekommen, weil sich seine Frau geweigert hat, ihre Kinder in einer hessischen Schule einzuschulen. Das ist die Praxis.
Meine Damen und Herren, der Hessische Rundfunk, bekannt für seine parteipolitische „Neutralität"
— ich nehme keine Fragen mehr an, Herr Präsident, ich habe viele Fragen zugelassen —,
verkündet landauf, landab den heroischen Kampf der rot-grünen Koalition um die Freiheitsrechte der Legehennen in Hessen. Aber wenn es um die Freiheitsrechte der Bürger geht, dann sieht die Sache ganz anders aus. Den Eltern wird die freie Wahl der Schulen für ihre Kinder verweigert. Die hessischen Gymnasien sollen ausgetrocknet werden, weil sie zu sehr den Anspruch von Eliteschulen haben könnten. Oder: Den hessischen Bürgern wird verweigert, selbst zu entscheiden, welche Fernseh- und Rundfunkprogramme sie zu sehen und zu hören wünschen.
Sie sollen auch in Zukunft darauf angewiesen sein, den hessischen Rotfunk einzuschalten.
Das ist also das Verständnis der Rot-Grünen für die Freiheitsrechte der Bürger.
Schließlich war Herr Krollmann Finanzminister in Hessen, und auch dort hat er seine Verantwortung zu tragen, denn er hat die Finanz- und Haushaltspolitik in Hessen ebenfalls auf Null gebracht.
Die rot-grüne Zusammenarbeit hat bisher in Hessen zu einem Rückgang der öffentlichen Investitionen geführt. Sie hat uns jährlich eine Milliarde D- Mark Haushaltsreste beschert. Sie hat im Baubereich 300 Millionen DM nicht in Aufträge umgesetzt, und sie hat Arbeits- und Ausbildungsplätze durch eine solche Politik mutwillig gefährdet.
Das einzige Vorhaben, für das die im Haushalt vorgesehene Summe bis auf den letzten Pfennig ausgegeben wurde, war der Kauf der Neuen Heimat Südwest. Die rot-grüne Koalition hat sich dieses Projekt wirklich viel kosten lassen, dafür sind aber viele andere, wichtige Dinge stehen geblieben.
Hessen hat stabile Standbeine, aber die Substanz geht nach und nach verloren.
— Meine Damen und Herren, Sie wissen genau, daß Herr Krollmann aus bestimmten Gründen hier auftreten wird, und dem werde ich vorbeugend einiges zu entgegnen haben.
Hessen führt neuerdings die Konkursstatistik mit über 12 % an, gefolgt vom Saarland. Krollmann und Lafontaine sind die Konkurskönige unter den deutschen Politikern. Das ist die Wahrheit.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
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154 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Nein, grundsätzlich keine.
Dann betrachten Sie sich einmal die Einkommen der hessischen Landwirte im Verhältnis zu den Einkommen der Landwirte in anderen Bundesländern.
Hessen liegt am Ende der Einkommensskala. Die hessischen Landwirte haben Einkommensverhältnisse wie die Landwirte in Portugal und Griechenland. Das Land Hessen hat nichts getan, dem zu begegnen. Das ist der Skandal. Aber es gibt immer große Sprüche.
Nun beschäftigen Sie sich einmal mit der Umweltpolitik! Da hatten wir doch den kessen Sprücheklopfer Joschka Fischer als Umweltminister. Er hat in alle Ressorts hineingeredet, nur in seinem eigenen hat er überhaupt nichts geleistet. Er hat ein absolutes Chaos hinterlassen.
Gutachter zu jedem von grüner Seite durchs Dorf getriebenen Schwein wurden bezahlt. Jeder, der von sich glaubte, von seiner Sache etwas zu verstehen, bekam ein Honorar,
gerade auch wenn er ein Sozius von Herrn Schily war. Eine Stiftung für nachbarschaftliche Träger mit hohen Gehältern für die Geschäftsführung wurde gebildet, Millionen für die Befriedigung grüner Anhänger ausgegeben und so leistungswilligen und leistungsbereiten Mitbürgern zur Finanzierung alternativer Lebensweise in die Tasche gegriffen.
— Ich werde Ihnen, Herr Kollege Hauff, etwas sagen: Warum sieht man Sie in Hessen überhaupt nicht mehr? Das wundert mich seit langem.
Plötzlich unter der Decke verschwunden. Ihnen ist der hessische Boden unter den Füßen zu heiß geworden, glaube ich.
Herr Abgeordneter Hauff, nehmen Sie zur Kenntnis, daß Herr Solms keine Zwischenfragen gestattet.
Ich habe eine Reihe von Zwischenfragen zugelassen, jetzt ist Schluß.
Meine Damen und Herren, was Sie in Hessen betreiben, ist eine Finanzpolitik à la Marcos.
Damit meine ich den ehemaligen Präsidenten der Philippinen. Der hat das genauso gemacht: die Masse der Bevölkerung geschröpft durch immer höhere Steuerbelastungen und seinen Günstlingen das Geld in die Tasche geschoben.
Vor einer längeren Zeit, schon in der Zeit, als die rot-grüne Koalition bestanden hat, habe ich gehört, daß Herr Krollmann gesagt hat, die Ansiedlung des Hochtemperaturreaktors in Borken wäre die richtige Maßnahme. Potz Blitz! habe ich gesagt, der Mann hat Mut, der Mann hat Charakter.
— Weil das ja nicht populär war in der eigenen Partei.— Einige Monate später sehe ich im Fernsehen Herrn Krollmann mit den GRÜNEN verhandeln über die sofortige Abschaltung der Kernkraftwerke in Hessen, über die Schließung von Nukem und Alkem und über die Vernichtung von Tausenden hochqualifizierten Arbeitsplätzen. Da habe ich gedacht: Der Mann hat Mut zur Charakterlosigkeit. Schon ist er umgefallen.
Das ist der Zustand in der hessischen Regierung: Festkleben an den Ämtern, die Macht erhalten
ohne Rücksicht auf Grundsätze und Verluste.
Da werde ich Ihnen etwas dazu sagen: Die hessischen Wähler sind keine dummen Hühner, die lassen sich nicht für dumm verkaufen, die lassen sich das nicht länger gefallen.
Meine Damen und Herren, der genannte Herr Fischer — er ist ja nicht ungeschickt — hat die Gelegenheit genutzt, alle vertraulichen Beratungen innerhalb der Koalition zu nutzen, um ein Drehbuch zu schreiben und das dem „Spiegel" zu verscherbeln.
Er hat Geschäftssinn, der Mann. Aber daß die Sozialdemokraten mit so einem Mann anschließend wieder ins Bett steigen wollen, das finde ich ja doch interessant.
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Dr. SolmsDa kann ich nur sagen: Das ist mir eine ehrenwerte Gesellschaft, mit allen Hintergedanken dabei. Das ist mir eine ehrenwerte Gesellschaft.
Meine Damen und Herren, wenn Herr Krollmann Ministerpräsident in Hessen wird, dann wird er es sicher auch schaffen, Hessen insgesamt auf Null zu bringen und an das Ende der Bundesländer zu lancieren. Bis jetzt hat Hessen immer noch die besten Voraussetzungen, weil es ein Land ist, mit qualifizierten Arbeitnehmern in der Mitte der Bundesrepublik gelegen, mit den besten Voraussetzungen.
Aber die Wende muß nach 40 Jahren in Hessen kommen, diese Politik haben die Hessen nicht weiter verdient.Danke.
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister der Finanzen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Natürlich gehört an den Anfang dieser Wahlperiode eine gründliche Diskussion und Auseinandersetzung über Bilanz, Aufgaben und Perspektiven der Finanzpolitik. Herrn Kollegen Apel möchte ich sagen, daß ihm gegenüber den alten Sprüchen und Gruselgeschichten der vergangenen Jahre nicht viel Neues eingefallen ist.
Ein Ergebnis von 37 % bei der Bundestagswahl für die traditionsreiche Sozialdemokratische Partei, das viele Ihrer eigenen Freunde — ich beziehe mich auf die Wahlanalyse aus Ihrem eigenen Lager — ja auch mit einem mangelnden Profil der SPD in der Finanz- und Wirtschaftspolitik begründeten, wäre eigentlich ein größerer Ansporn gewesen, neue Gedanken und bessere Argumente einzubringen, als wir das heute vernommen haben.
Frau Kollegin Vennegerts, ich muß Ihnen sagen: Wir haben gestern bei dem Herrn Ebermann jedenfalls eine gewisse kabarettistische Begabung festgestellt. Bei Ihnen konnte ich nicht einmal eine finanzpolitische Begabung feststellen in dem, was Sie hier vorgetragen haben.
Ich werde das begründen, was ich einleitend gesagt habe, wenn wir jetzt, was immer gut ist in der Politik, vor allem bei der Finanzpolitik, zu Zahlen und Tatsachen kommen. Herr Apel hat von einem weiteren planmäßigen Verfall der Bundesfinanzen und von ungeordneten Finanzen geredet. Ich will Ihnen kurz die Daten der letzten vier Jahre vortragen: Wir haben es durch ein zurückhaltendes Ausgabenwachstum — beim Bund im Durchschnitt der letzten vier Jahre von jeweils knapp 2 T. und bei Bund, Ländern und Gemeinden von weniger als 3 % — erreicht, die öffentliche Neuverschuldung, die Kreditaufnahme, gemessen am Volkseinkommen, mehr als zu halbieren. 1982, in Ihrem letzten vollen Regierungsjahr, betrug sie noch rund 4,5 % unserer volkswirtschaftlichen Leistung des Volkseinkommens. 1986 betrug sie noch 2 % . Eine dramatische Verbesserung; daran kann doch kein Zweifel bestehen.
Was den Bund selbst anbetrifft, so waren es 1982 knapp 2,5 %, 1986 noch gut 1,2 % — das ist ebenfalls eine Halbierung —, jeweils gemessen an der volkswirtschaftlichen Leistung, am Volkseinkommen. Denn das ist die vernünftigste Bezugsgröße, wenn wir über die Neuverschuldung, ihre Angemessenheit oder ihre Problematik reden. So wie sich die Fähigkeit zur Kreditaufnahme für den Bürger an seinem privaten Einkommen orientiert, so orientiert sich die vertretbare Neuverschuldung für uns als Gemeinschaft natürlich am Volkseinkommen, an unserer volkswirtschaftlichen Leistung. Man muß ja schon Akrobatik vornehmen, Herr Apel, man muß ja angesichts dieser entscheidenden Eckdaten einer besseren Finanzsituation sich und die Tatsachen schon auf den Kopf stellen, wenn man zu Beginn der neuen Wahlperiode von ungeordneten Finanzen oder einem weiteren Verfall der Finanzgrundlagen spricht.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Apel?
Ichmöchte gerne im Zusammenhang sprechen, Herr Kollege Apel, auch mit Blick auf die folgenden Redner.Natürlich hat dies eine entscheidende Bedeutung im Hinblick auf den Rückgang der Inflationsrate gehabt.
— Wissen Sie, es spricht noch einer aus Ihren Reihen. Das haben Sie ja bereits angemeldet. Ich behalte mir vor, darauf noch einmal zu antworten.
Da Sie die Debatte verlängern, möchte ich jetzt auch einmal im Zusammenhang sprechen. Sie werden mir das freundlicherweise gestatten.
Natürlich hat dies einen entscheidenden Beitrag zum Rückgang der Inflationsrate geleistet: 1982
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Bundesminister Dr. Stoltenberg5,3 %, 1986 minus 0,2 %; zur Zeit, in der Momentaufnahme des letzten Monats, minus 0,5 %.
— Ich verstehe überhaupt nicht, daß Sie sich derartig leidenschaftlich gegen statistische Daten wenden. Ich habe Ihnen schon vor der Bundestagswahl geraten, den Kampf nicht gegen das Statistische Bundesamt zu führen. Das ist Ihnen schlecht bekommen, Herr Kollege.
Ich möchte noch einmal unterstreichen, was der Bundeskanzler gestern gesagt hat: Die Brechung der Inflation und der Inflationserwartung durch unsere Politik ist der größte sozialpolitische Erfolg, den wir seit langem zu verzeichnen haben,
ist Voraussetzung dafür, daß sich Sozialpolitik wieder wirklich mit Wirkung für alle Bürger und nicht nur für neue privilegierte Minderheiten entfalten kann, die à la rot-grün in Hessen parteipolitisch definiert werden, wie das eben der Kollege Solms ausgeführt hat.
— Meine Damen und Herren, Sie können mich gar nicht beleidigen. Man muß ja die Maßstäbe für Anstand und Ehrgefühl und parlamentarische Umgangsformen weit nach unten schrauben, wenn man sich Ihre Reden und Zwischenrufe mit Gelassenheit anhören soll.
Dies ist um so bedeutsamer, als uns der Rückgang der Inflationsraten natürlich kurzfristig weniger Steuern gebracht hat. Aber wir akzeptieren das, weil Stabilität für die Bürger und die Wirtschaft wichtiger ist als inflationsbeeinflußte höhere Steuereinnahmen, wie wir sie in den 70er Jahren hatten. Es ist um so bemerkenswerter, daß wir dennoch den Raum für erste Steuerentlastungen gewonnen und genutzt haben, für Betriebe, Impulse für private Investitionen, 1986 vor allem für Berufstätige mit Kindern und jetzt in der schon entschiedenen — ich komme darauf zu sprechen — Tarifentlastung 1988.Wir haben, Herr Kollege Apel, mit dieser Politik auch eine Trendwende bei den öffentlichen Investitionen erreicht. Zu den alten Märchen, die Sie hier heute neu erzählt haben, gehört die Behauptung, daß unsere Politik die kommunalen Investitionen geschwächt habe. Gucken Sie sich einmal — ich empfehle Ihnen das zur Lektüre — den Wochenbericht 11/1987 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin an, dessen Präsident, als Wissenschaftler angesehen, Ihnen ja gut bekannt ist, weil er 1983 mit Ihnen zur sozialdemokratischen Regierungsmannschaft des Herrn Kollegen Vogel gehört hat. Dieser Bericht, den ich jetzt hier leider nur im Extrakterwähnen kann — aber Sie können ihn aufmerksam lesen — , kommt zu folgendem Ergebnis: Ihre Politik 1981/82, die drastische Kürzung der öffentlichen Investitionen in der Krise, hat dazu geführt, daß in den beiden Jahren 1981 und 1982 je 100 000 Arbeitsplätze, vor allem in der Bauwirtschaft, verlorengingen. 1983 ging die Entwicklung noch weiter, aber sie bremste sich ab. 1983 sind 70 000 Arbeitsplätze verlorengegangen. 1984/85, als unsere neue Finanzpolitik wirksam war und zu einer Stabilisierung der kommunalen Investitionen führte, waren es in zwei Jahren noch 15 000. Und ab 1986 haben wir — —
Augenblick, Herr Bundesfinanzminister.
Bitte, bitte.
Ich habe den Herrn Bundesfinanzminister so verstanden, daß er keine Zwischenfragen zulassen will.
Ich bitte um Entschuldigung. Ich möchte nun wirklich mal zur Sache diskutieren, nachdem wir von Ihnen so viel billige Polemik gehört haben.
1986 haben wir, im Trend steigend für 1987, einen Anstieg der öffentlichen Investitionen, der nun erstmals auch bestimmte Impulse für die Beschäftigungsentwicklung bringt.
— Entschuldigen Sie, ich habe hier so viele Ungereimtheiten richtigzustellen, daß ich auch auf Ihre Zwischenrufe nicht eingehen will.
— Haben Sie den Eindruck, Herr Kollege Kleinert?
— Dann werde ich Ihnen heute vormittag noch das Gegenteil demonstrieren.
Wir haben in der Tat eine weiterreichende Steuerreform zur wichtigsten finanzpolitischen Aufgabe dieser Wahlperiode bestimmt. Wir haben uns — ich brauche die Argumente und Zahlen im einzelnen nicht zu wiederholen — verständigt auf einen weitreichenden Entlastungsrahmen bei der Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer in Höhe von 44 Milliarden DM, im wesentlichen für eine nachhaltige Senkung des Tarifs bestimmt. Davon sollen, nachdem wir in der letzten Wahlperiode bereits Steuerentlastungen in Höhe von fast 25 Milliarden DM in Kraft gesetzt haben — Einkommensteuer, Lohnsteuer, verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten für Wirtschaftsgebäude nenne ich als Hauptpunkte — , noch einmal 25 Mil-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 157
Bundesminister Dr. Stoltenbergliarden DM zu einer echten Entlastung für die Bürger führen. 19 Milliarden DM — ich gehe auf die kritische Sachdiskussion ein — sind durch eine Umschichtung im Steuersystem auszugleichen.Herr Kollege Apel, wenn ich mir die Reden führender Politiker Ihrer Partei aus den letzten Monaten und noch den letzten Tagen vergegenwärtige, muß ich Ihnen sagen: Was Sie hier als Gegenposition der SPD vortragen, kommt mir wie eine Scheinalternative vor; denn schon vor der Wahl waren jene Stimmen unüberhörbar, die erklärt haben: Wir wollen überhaupt keine Steuerentlastungen,
wir wollen die verfügbaren Mittel — und das ist eine andere wirtschaftspolitische oder beschäftigungspolitische Konzeption, über die man sachlich diskutieren kann —
im Grunde voll für Beschäftigungsprogramme und alle möglichen Instrumente einsetzen, wie wir das einmal in den 70er Jahren getan haben.
Ich kann Ihnen doch die Zitate des Ministerpräsidenten Rau aus dem Jahre 1985,
des Herrn Posser aus dem Jahre 1986, der Herren Breit und Geuenich und wie die namhaften sozialdemokratischen Politiker im DGB heißen, aus den letzten Wochen hier vortragen.
— Ich weiß, Herr Kollege Apel, daß das nicht Ihre Position ist.
Aber ich glaube, daß die Genannten
in Wahrheit in Ihrer Partei einen größeren Einfluß haben als Sie hier als finanzpolitischer Sprecher.
Wenn es Sie erregt, will ich es anders formulieren.
— Ich verstehe diesen Zustand der permanenten Erregung nicht, meine Damen und Herren. — Es gibt bis heute in der sozialdemokratischen Partei einen tiefen Riß in der Frage, ob man in einen steuerpolitischen Entlastungswettbewerb mit uns mit anderen Schwerpunkten eintreten soll
oder man nicht überhaupt auf Steuersenkungen verzichtet
und die Mittel für alle möglichen anderen Zwecke ausgibt, in der Auffassung, damit bessere Wirkungen zu erzielen.
— Nein, ich gestatte Ihnen keine Zwischenfrage. Ich habe die Absicht, mich Punkt für Punkt mit Ihren Absurditäten und Unterstellungen hier auseinanderzusetzen. Ich werde mich durch niemanden daran hindern lassen.
Was den hier zitierten Rau-Tarif anbetrifft, meine Damen und Herren,
so war er ein kurzes Wahlkampfereignis, genauso wie die Kanzlerkandidatur des Herrn Rau selbst. Wir brauchen dazu nichts mehr zu sagen.Unser Reformkonzept hat in der Tat als wichtigsten Schwerpunkt eine erhebliche und dauerhafte Entlastung in der Progressionszone. Die Grenze aller möglichen Entlastungsbeispiele in der Momentaufnahme liegt darin, daß es darum geht, eine neue Struktur zu schaffen, die nicht nur eine momentane Entlastung bringt mit erneut massiv ansteigender Progression für die arbeitenden Menschen, sondern einen Tarif, der eine dauerhafte Entlastung bringt. Wir brauchen einen Tarif für die 90er Jahre,
auch im Hinblick auf die Einkommenssituation der arbeitenden Menschen in zehn oder zwölf Jahren, wenn sie als Ergebnis von Tarifverhandlungen, wenn sie als Folge beruflichen Aufstiegs und persönlichen Engagements bei vorsichtigen Annahmen 30 % , 40 %, 50 %, 55 % im Schnitt mehr verdienen, als das heute der Fall ist. Heute sind 60 % der Berufstätigen in der Progressionszone. 1990 werden es fast zwei Drittel sein, 1995 nahezu 75 % der Berufstätigen. Sie haben recht, Herr Kollege Apel — ich sage das zu einer Ihrer sachlichen Anfragen — , wir wollen nicht die Progressionszone abschaffen. Die Progressionszone bleibt als Ausdruck der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit. Aber wir wollen eine unerträglich steigende Progressionsbelastung für schon heute über 60 % und in den 90er Jahren für 75 % der Steuerzahler drastisch verringern, damit das wieder sozial gerecht und eine Anerkennung beruflicher Leistung ist. Das ist das Ziel dieses Tarifs.
Es ist schon so, daß der Hauptteil der Entlastung wirklich hier angesetzt wird. Das sind 9 Milliarden DM im nächsten Jahr. So ist es schon beschlossen. Dazu kommen 3 Milliarden DM in der Verstärkung. Zu diesen 12 Milliarden DM kommt nach unserem Konzept noch einmal eine Entlastung in der Progressionszone von über 20 Milliarden DM im Jahre 1988, also rund 32 Milliarden DM insgesamt. Es hat nun überhaupt keinen Sinn, hier die Betroffenen auseinanderzudividieren. Das ist genauso der Facharbeiter mit Durchschnittseinkommen, der schon heute in der
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Bundesminister Dr. StoltenbergProgressionszone ist, das sind die Angestellten und Beamten mit vergleichbaren Einkommen,
das sind die kleinen Selbständigen, und das sind auch diejenigen, die heute 50 % oder 100 % mehr verdienen, meine Damen und Herren.Die Aufgabe der Steuerpolitik ist es, leistungsgerecht und sozial ausgewogen zu sein. Die Aufgabe der Steuerpolitik ist es jedoch nicht, Einkommensunterschiede, die sich aus ganz anderen Gründen ergeben haben, gleichsam mit dem Rasenmäher zu nivellieren. Sie können die Einkommenspolitik nicht in der Steuerdiskussion beginnen, meine Damen und Herren.
Sie müssen sie an anderen Punkten beginnen. Dann können wir einmal über Einkommen verschiedener soziologischer Gruppen und Tätigkeiten hier eine Diskussion führen.Hinzu kommt die nachhaltige Senkung des Grundfreibetrags in zwei Stufen um weitere 7 Milliarden DM, und hinzu kommt, Herr Kollege Apel, das war heute wieder ein Hauptthema bei Ihnen, eine Senkung des Spitzensteuersatzes um 1 Milliarde DM: Voraussetzung für die Senkung der Körperschaftsteuer für einbehaltene Gewinne von 56 auf 50 %. Es gibt ja sogar einige kritische Stimmen, die meinen, der Abstand von 3 % sei noch problematisch. Wir glauben das nicht — aus Gründen, die wir in einer speziellen finanzpolitischen Debatte noch einmal erörtern können. Aber da wir aus Gründen, die absolut zwingend sind, die Körperschaftsteuer als wichtigste spezifische Unternehmensteuer in das Senkungskonzept einbezogen haben, mußten wir in der Konsequenz einen Schritt beim Spitzensteuersatz tun.Herr Kollege Apel, Ihr Pathos in dieser Frage ist erstaunlich, wenn wir uns die Nachbarländer anschauen. Vor wenigen Wochen hat die neu gebildete Große Koalition in Österreich mit dem sozialistischen Bundeskanzler Franz Vranitzky
und dem sozialistischen Finanzminister Lacina — ich unterstreiche, was Sie sagen: der ist seriös — entschieden, den Spitzensteuersatz auf 50 % zu senken — in Österreich!
Sie können doch an dieser Diskussion nicht vorbeigehen! Setzen Sie sich mal — Herr Kollege Roth, ich sage das zu Ihrem Zwischenruf — ernsthaft mit dem Stand der steuerpolitischen Diskussion in der schwedischen sozialdemokratischen Partei auseinander.
Setzen Sie sich einmal damit auseinander! Wir habenfolgende Situation. Österreich geht auf 50 % — übrigens in einer Steuerreform, die überhaupt keine Steuersenkung bringt, sondern die nur aus Umschichtungen finanziert wird.
Das ist die Lage in Österreich.
— Lassen Sie mich doch diesen Gedanken zu Ende führen. Ich glaube, er ist wichtig, auch für Sie, wenn wir uns hier gegenseitig nicht nur bekämpfen, sondern auch ein paar Denkanstöße vermitteln wollen. Das ist nach meinem Verständnis auch der Sinn einer solchen Debatte.
Setzen Sie sich einmal mit den Gründen auseinander, aus denen Vranitzky und Lacina diese Politik zusammen mit der Österreichischen Volkspartei machen und die dort auch in der Sozialistischen Partei genannt werden! Umschichtung ohne Steuersenkung, weil die Haushaltslage dort noch schlechter ist, als sie 1982 bei uns war; nur Umschichtung! Das heißt natürlich auch drastischer Abbau von Sonderregelungen und Steuervergünstigungen.Es gibt — ich nenne das dritte deutschsprachige Land in unserer Nachbarschaft — in der Schweiz
traditionell einschließlich der Kantonalsteuern den Spitzensteuersatz von 33 %. Mein geschätzter sozialdemokratischer Kollege, der Schweizer Bundesrat Otto Stich, kann Ihnen sehr gut begründen, warum er das für richtig hält und die Schweizer Sozialdemokraten dies als angemessen ansehen.Weil es ja um Investitionsentscheidungen geht und weil wir alle — Sie genauso wie wir — vom größeren Markt und von der Freizügigkeit für Menschen und Unternehmen als einem Konzept für Europa reden— das sagen Sie doch wie wir in Europadebatten —, muß ich Sie fragen und müssen Sie sich die Frage stellen, was das bedeutet, wenn es in der Schweiz bei 33 % bleibt, Österreich im überparteilichen Konsens auf 50 % senkt und wir dieses Thema einer begrenzten Senkung zu einer emotionalen Frage und zum angeblichen Maßstab für Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit machen. Die Wirkung kann ich Ihnen sagen: Es werden mehr deutsche Unternehmen und Arbeitsplätze in diese Länder gehen, als wir uns aus beschäftigungspolitischen Gründen wünschen können.
Und, Herr Kollege Apel, das Thema der Steuerflucht wird brennender. Ich spreche Sie nun bewußt an. Ich möchte mit Ihnen jetzt argumentieren.
— Ja; gleich, wenn ich diesen Gedankengang zu Ende habe. Dieser Punkt unserer Debatte ist ja so interessant, daß ich dem Wunsch entsprechen möchte.Ich möchte Sie nun auch an Ihre eigenen Erfahrungen als Bundesfinanzminister erinnern. Sie werden
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 159
Bundesminister Dr. Stoltenbergsich aus Ihrer Amtszeit sehr wohl erinnern — es sind zwar Einzelvorgänge, die dem Steuergeheimnis unterliegen, aber sie spielen auch in der öffentlichen Debatte jedenfalls prinzipiell eine Rolle — , daß wir schon seit langem eine Situation haben — und sie hat sich in den letzten sechs, acht Jahren eher verschärft — , in der hoch verdienende und gut beratene Bundesbürger zwar mit gewissen Schwierigkeiten, aber, wenn sie besonders gut beraten sind, überwindbaren Schwierigkeiten ihren Wohnsitz mit steuerlicher Wirkung aus der Bundesrepublik Deutschland herausverlegen. Das ist nicht nur ein Problem — ich sage das, weil es ja Schlagzeilen gemacht hat — unseres jungen Tennisstars, und das ist nicht nur ein Problem mit Monaco. Das ist ein Problem, das Sie in der Wirklichkeit unserer Nachbarländer, auch der beiden genannten, zunehmend studieren können. Und das sind nicht nur jene Fußballer oder Schauspieler, von denen einer meiner Freunde geredet hat, nein, das sind zunehmend auch führende, fähige Persönlichkeiten, die als Wissenschaftler ein hervorragendes Einkommen haben. Und warum sollen unsere Spitzenwissenschaftler nicht ein sehr gutes Einkommen haben, meine Damen und Herren? Dagegen ist nichts einzuwenden. Das sind Leute aus dem Management von Betrieben, die mit den modernen Verkehrsmitteln einen Wohnsitz im Nachbarland mit ihrer beruflichen Tätigkeit hier heute sehr wohl vereinbaren können. Und dies, Herr Kollege Apel, kann nicht in unserem Interesse sein: weder das Abwandern von Betrieben und Arbeitsplätzen noch das Abwandern von Spitzenkräften, die wir hier halten wollen und die ihre Steuern auch weiterhin hier bei uns und nicht in steuergünstigeren Ländern zahlen sollen.
— Bitte sehr, Herr Apel.
Herr Kollege Stoltenberg, ich werde hier jetzt bewußt nicht über die Argumentation von Herrn Blüm reden; denn wir wollen das sachlich miteinander besprechen.
Tun Sie das.
Sind Sie mit mir der Meinung, daß Sie erstens die Abwanderung der von Ihnen angesprochenen Personen deswegen nicht verhindern können, weil wir in Europa Steueroasen haben, auf deren Niveau Sie unser Einkommen- und Körperschaftsteuerniveau niemals senken können und sicherlich auch nicht wollen, und sind Sie zweitens, insbesondere was die Unternehmen anlangt, bereit
— sicherlich nicht heute, aber bei Gelegenheit — , einmal in das hineinzuschauen, was z. B. Herr Professor Littmann und andere dazu gesagt haben, daß nämlich hinsichtlich des Spitzensteuersatzes und seiner Auswirkungen auf die Besteuerung von Unternehmensgewinnen vor allem die Frage zu stellen ist: Wie ist das eigentlich mit der Bemessungsgrundlage? Welche
Teile des erwirtschafteten Ertrags müssen der Besteuerung unterworfen werden oder nicht?
: Jetzt reicht's! —
Dr. Vogel [SPD]: Immer noch kürzer als Herr
Cronenberg!)
— Das können Sie nicht beurteilen, ob's reicht, Herr Friedmann. — Und können Sie sich vorstellen, Herr Kollege Stoltenberg, daß die gesamte Debatte über den Spitzensteuersatz ganz anders aussehen würde, wenn man die Erträge der Unternehmen sehr viel breiter, wie in Amerika geschehen, der Besteuerung unterwirft? Wer zahlt denn schon wirklich die 56%?
Also, Herr Kollege Apel, ich freue mich, daß wir jetzt auch mit Ihrer Frage wirklich einen sehr wichtigen und ernsthaften Punkt der Steuerdebatte berühren. Ich komme auf das Thema Erweiterung der Bemessungsgrundlage sehr bald. Ich will Ihnen auch sagen, daß ich nicht nur gelegentlich Aufsätze von Herrn Litt-mann lese, sondern mit ihm wie den anderen Mitgliedern des Wissenschaftlichen Beirats intensive Diskussionen darüber geführt habe. Ich sage Ihnen auch— um auch noch einen Punkt der Gemeinsamkeit anzudeuten; ich komme allerdings gleich in einem Nachsatz auf einen Dissens-Punkt — : Die schematische Behauptung, daß die Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland im Schnitt 70 % Steuern zahlen, ist nach meiner Analyse — natürlich auch dem Urteil, dem Votum meiner fachkundigen Mitarbeiter — so nicht haltbar.
— Ja, aber den zweiten Satz sollten Sie abwarten. —
— Nun, ich muß mich auch hier einmal wie in anderen Punkten von dem absetzen, was Verbände behaupten. — Das zweite, was ich sagen möchte: Aber wahr ist auch, daß eine differenzierte Analyse ergibt, daß wir im internationalen Vergleich eine zu hohe Unternehmensbesteuerung haben.
Und das ist ein Grund, zu sagen: Zu einem Steuerreformkonzept gehört auch eine Senkung der Unternehmensteuern, was Sie heute — mit Ausnahme der steuerstundenden Investitionsrücklage — schlichtweg bestreiten. Ja, in Ihrem Steuerprogramm war, was für den Fall eines Wahlerfolgs der SPD ein verhängnisvoller Weg gewesen wäre, die Erhöhung der Besteuerung der Unternehmen durch die Ergänzungsabgabe vorgesehen. Das wäre allerdings Gift für die Beschäftigungsentwicklung der nächsten Jahre.
Meine Damen und Herren, hinzu kommen die familienbezogenen Freibeträge, Mittelstandskomponente und Vorsorgeaufwendungen.Ich möchte, weil die Zeit schon fortgeschritten ist, noch etwas zu der Diskussion über die Verteilungs-
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160 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Bundesminister Dr. Stoltenbergwirkung sagen. Hier muß ich Herrn Apel nun wirklich sagen, daß er erneut versucht, die Öffentlichkeit in die Irre zu führen.
Auf die Steuerzahler in der bisherigen unteren Proportionalzone, also auf die, die ein steuerpflichtiges Einkommen bis 18 000 DM — bei Verheirateten 36 000 DM — haben, entfallen heute 4,4 % des Gesamtsteueraufkommens. Sie, die sehr große Gruppe mit niedrigen Einkommen und natürlich auch geringen Steuersätzen, zahlen 4,4 % des Gesamtaufkommens. Sie werden nach unserem Konzept um 6,6 To entlastet, also um 50 % stärker, als es ihrem Beitrag zum Steueraufkommen entspricht.Auf die vielgeschmähte Gruppe, die hier angeblich so bevorzugt wird, in der oberen Proportionalzone, also die, die über 130 000/260 000 DM steuerpflichtiges Einkommen haben, entfallen 13,2 % des Steueraufkommens. Diese 1 % — Herr Apel, Sie haben sie mit 1 % beschrieben, im Moment ist es noch ein bißchen weniger — zahlen immerhin über 13 % des Gesamtsteueraufkommens. Das ist im Prinzip auch richtig. Diese werden nur um 7,5 To entlastet.Somit kann die große Mittelgruppe — ich will die Zahlen hier jetzt nicht mehr vortragen — in der Progressionszone jedenfalls überdurchschnittlich entlastet werden, und das ist wirklich der entscheidende Maßstab für Verteilungswirkung und soziale Gerechtigkeit, und es sind nicht alle ausgesuchten und zum Teil auch noch etwas entstellten Einzelbeispiele, mit denen Sie die Öffentlichkeit in die Irre führen wollen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Spöri?
Ich bitte um Nachsicht. Da Sie sich noch zu Wort gemeldet haben, habe ich vielleicht die Chance, nachher noch auf Ihre Ausführungen einzugehen. Deswegen will ich jetzt fortfahren.
Dies ist überhaupt eine unschöne Diskussion. Nach unseren Berechnungen, die vom Fachreferat des Finanzministeriums erstellt sind, ergibt es nach diesem Konzept die prozentual stärkste Entlastung — Sie können wohl nur prozentuale Entlastungen ernsthaft diskutieren — bei den Verheirateten mit zwei Kindern bei den Beziehern der untersten Einkommen. Da kommen zunächst die 500 000, die aus der Steuerpflicht herausfallen. Die prozentuale Entlastung beträgt in den nächsten Gruppen 35,7 %, 30 %, 24,6 %, 21,1 %, 20,3 %, 19,1 %, d. h. mit steigendem Einkommen wird die prozentuale Entlastung geringer. Ich muß Ihnen auch sagen, Herr Kollege Apel, Sie waren hier nicht zimperlich. Sie haben erstens unsere Aussage in der Wahlkampfzeitung der CDU vor der Wahl falsch zitiert, um uns dann anschließend auf Grund eines falschen Zitates der Lüge zu bezichtigen. Das kann ich Ihnen hier nicht durchgehen lassen. Denn ich muß auch zur Ehre des Generalsekretärs Heiner Geißler sagen, daß er diese Formulierung mit mir abgesprochen hat. Ich muß das mal zu seiner Ehre
sagen; denn das ist ja nicht so selbstverständlich, wenn man die derzeitigen chaotischen Diskussionsverhältnisse in Ihrer Parteiführung, Herr Kollege, betrachtet.
Ich habe ihm gesagt: Wir können vertreten, zu sagen, daß es im Schnitt eine Entlastung um 1 000 DM gibt, und das kann ich Ihnen hier Punkt für Punkt beweisen. Das war die Aussage: im Schnitt. Das heißt natürlich: Jemand, der nur 700 DM Steuern im Monat zahlt, kann nicht um 1 000 DM entlastet werden. Wir sind hier doch nicht in der Klippschule, Herr Kollege Apel! Nehmen Sie doch den Deutschen Bundestag endlich einmal ernst in Ihrem argumentativen Niveau!
Herr Bundesminister — —
Nein, ich lasse jetzt keine Frage zu, sondern mache jetzt weiter. Ich habe noch eine Menge zu sagen.
Sie wollen jetzt also ohne Zwischenfragen fortfahren?
Ja. Ich muß auch an Herrn Krollmann denken, der mittlerweile da ist, an Herrn Kollegen Wallmann und die vielen Kollegen, die die wichtige Umweltschutzdebatte noch bestreiten wollen. Ich hoffe, daß auch Herr Spöri dem Rechnung trägt; denn sonst kann es doch länger dauern.Meine Damen und Herren, der entscheidende Punkt ist — den haben Sie, Herr Kollege Apel, in Ihrer Zwischenfrage in der Tat angesprochen — : Es bleibt die Aufgabe, die vereinbarte Umschichtung in der Größenordnung von 19 Milliarden DM konkret zu vereinbaren, konkret festzulegen, und das Ziel ist hier in der Tat — Sie haben Herrn Littmann zitiert —, eine gleichmäßigere Besteuerung zu erreichen, d. h. ein Steuersystem mit wesentlich niedrigeren Tarifen, aber auch wesentlich weniger Ausnahmen oder, um es konkret zu sagen, Schlupflöchern. Das ist das Kernproblem unseres Steuersystems. Ich sehe das nach viereinhalbjähriger Erfahrung im Bundesfinanzministerium auch klarer als zuvor. Natürlich haben auch viele kundige Kollegen aus Ihren Reihen der SPD dies im Grunde seit 20 Jahren thematisiert. Nur ist diese Aufgabe bisher niemandem gelungen. Das gilt im Rückblick auf unsere Regierungszeit der 60er Jahre und auf Ihre Regierungszeit von 1969 bis 1982. Wir müssen dies angehen; denn viel wichtiger als eine doch irgendwo oberflächliche Diskussion über momentane Wirkungen für den einen oder anderen ist die Frage, ob wir diese qualitative Reform erreichen. Nur so können wir ein in sich schlüssigeres und überschaubares Steuersystem erreichen.Nur, Herr Apel, kann man die Aufgabe auch so formulieren: Wir müssen weit über hundert Steuersubventionen, Sonderregelungen und Ausnahmetatbestände nicht nur analysieren, sondern diskutieren und einen Konsens erzielen. Man mag kritisieren, daß wir
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Bundesminister Dr. Stoltenbergdas nicht in wenigen Wochen getan haben, aber ich stelle Ihnen einmal eine Gegenfrage. Ich kenne die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in diesem Bereich der finanz- und steuerpolitischen Entscheidungen sehr gut: Wann konnte jemals eine Mehrheit im Deutschen Bundestag sieben Wochen nach der Bundestagswahl feststellen, daß sie in den grundsätzlichen steuerpolitischen Entscheidungen so weit war, wie wir es jetzt in der zweiten Märzhälfte 1987 sind?
Ich will Ihnen das sagen: Niemals zu Ihrer Regierungszeit und auch nicht in den Jahren vor 1969. Wir haben den Rahmen definiert, wir haben die Hauptelemente festgelegt,
wir haben die Größenordnungen beschrieben, in denen jetzt noch Umschichtungen, und zwar primär aus Gründen der Verbesserung der Steuerstruktur und Steuergerechtigkeit, vor uns liegen. Wir werden diese konkrete Aufgabe meistern. Wir werden den noch ausstehenden Teil Punkt für Punkt komplettieren, fertigstellen,
bis es einen Entwurf gibt, den der Bundesminister der Finanzen dann für die Steuerreform fristgerecht zur Anhörung und später als Kabinettsvorlage zuleiten wird. Das ist die Absprache.
Nun stellen Sie die Frage: Wie steht es mit den indirekten Steuern? Ich kann mich hier wie in vielen anderen Punkten der Steuerreformdiskussion auf das beziehen, was ich im Deutschen Bundestag im letzten Jahr gesagt habe, manchmal allerdings auch vor einem kleinen Kreis von Kolleginnen und Kollegen. Ich habe im letzten Jahr mehrfach, zuletzt auch hier im Parlament, erklärt: Die vorrangige Aufgabe ist es, Steuersubventionen, Sonderregelungen abzubauen oder einzuschränken. Man kann aber nicht ausschließen — und ich zitiere mich hier selbst — , daß wir in diesem Zusammenhang auch an die eine oder andere indirekte Steuer herangehen müssen. Ich habe dann immer, weil es aus steuersystematischen Gründen naheliegt, die Tabaksteuer als Beispiel genannt. Das gilt auch heute.Was die Mehrwertsteuer angeht: Wir suchen einen Weg ohne Erhöhung der Mehrwertsteuer. Ich kann mich aber über Ihre Ausführungen hier nur wundern, meine Damen und Herren. Wenn die Mehrwertsteuer zum Maßstab für Steuergerechtigkeit gemacht wird, dann will ich Ihnen einmal Ihre eigenen Entscheidungen zum Thema Umschichtung, zum Thema indirekte Steuern, zum Thema Mehrwertsteuer in Erinnerung rufen. Sie, Herr Kollege Apel, haben doch das Steueränderungsgesetz 1977 vorgelegt: Entlastungen — leider ohne eine grundlegende Tarifreform —13,535 Milliarden DM. Gegenfinanzierung: Umschichtung, Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen Punkt: plus 6,2 Milliarden DM; Nettoentlastung 7,3 Milliarden DM.Sie waren doch im Kabinett Schmidt, Herr Kollege Apel, als das Steueränderungsgesetz 1979 zugeleitet und beschlossen wurde: Entlastung 12,9 Milliarden DM. Gegenfinanzierung: Erhöhung der Mehrwertsteuer um einen weiteren Punkt, damals 6,45 Milliarden DM; Nettoentlastung 6,47 Milliarden DM.Sie waren doch im Kabinett, Herr Kollege Apel, wenn auch nicht mehr als Finanzminister, als das Steuerentlastungsgesetz 1981 von Ihnen und Ihren Freunden in der sogenannten sozialliberalen Koalition, mit Ihren Partnern beschlossen wurde: Entlastung 13,8 Milliarden DM, aber auch keine durchgehende Reform, die eine dauerhafte Verbesserung der Steuerstruktur brachte. Gegenfinanzierung: Erhöhung der Mineralölsteuer, Erhöhung der Branntweinsteuer, steuerliche Einschränkungen — das war sicher noch ein vernünftiger Teil, da haben Sie am Rande ein paar Steuersubventionen berührt — , Erhöhung der Tabaksteuer am 22. 12. 1981, der Schaumweinsteuer und — ich sage das einmal zu Ihren familienpolitischen Reden, meine Damen und Herren — Änderung des Bundeskindergeldgesetzes in diesem Kontext,
Kürzung des Kindergeldes um 1,7 Milliarden DM.
Das bedeutet Ausgleichsmaßnahmen von 9,4 Milliarden und eine Nettoentlastung von ganzen 4,4 Milliarden DM.Herr Kollege Apel, es geht nicht darum, ständig in alte Zeiten zu gehen. Nur, wer einmal zur Entlastung bei der Einkommensteuer auch für Bezieher hoher Einkommen im Kontext der Maßnahmen das Kindergeld auch für die Ärmsten um 1,7 Milliarden DM gekürzt hat — und das waren Sie, meine Damen und Herren von der SPD — , ist unglaubwürdig, wenn er heute sagt: Wir müssen die Kinderfreibeträge abschaffen und dafür das Kindergeld anheben. Das, was Sie uns hier als Alternative anbieten, ist vollkommen unglaubwürdig!
Im übrigen möchte ich Sie nur daran erinnern, daß Sie auf diesem Wege ja weiter vorangegangen wären. Sie haben noch im Frühjahr 1982 mit Ihren letzten steuerpolitischen Initiativen unter der Überschrift „Gesetz zur Förderung der Wirtschaft und zur Verbesserung der Steuerstruktur" eine weitere Erhöhung der Mehrwertsteuer vorgeschlagen, die dann im Bundesrat abgelehnt wurde. Deswegen sage ich Ihnen: Wir suchen einen Weg ohne Erhöhung der Mehrwertsteuer, um eine wirkliche Steuerreform von 44 Milliarden DM durchsetzen zu können. Sie haben doch überhaupt keine Legitimation, hier irgendeine Debatte über indirekte Steuern unter sozialen oder angeblich sozialen Vorzeichen zu brandmarken. Niemand hat die indirekten Steuern einschließlich der Mehrwertsteuer so massiv erhöht wie sozialdemokratische Bundeskanzler und sozialdemokratische Finanzminister!
Meine Damen und Herren, zum Schluß — oder, richtiger gesagt, gegen Schluß — möchte ich noch einige Anmerkungen zum Verhältnis von Steuerpoli-
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Bundesminister Dr. Stoltenbergtik, Steuerreform und Haushaltspolitik machen. In der Tat, wir entscheiden uns mit dieser Steuerreform finanzpolitisch für eine offensive Strategie, und Sie können davon ausgehen, daß ich selbst die Gründe und auch bestimmte Risiken, die ich sehe, sehr wohl überlegt habe. Ich halte diese Entscheidung für richtig. Sie bedeutet — auch dies habe ich im Deutschen Bundestag im letzten Herbst gesagt — selbst bei strenger Ausgabendisziplin, daß wir bei den 25 Milliarden DM Nettoentlastung, die wir noch einmal beschließen, mit einer zeitlich begrenzten Erhöhung der Neuverschuldung zu rechnen haben. Das ist wahr, aber das ist — der Bundeskanzler hat es gestern ausgeführt — nicht ein Freibrief, in eine unkontrollierte Schuldenwirtschaft wie die der 70er Jahre zurückzufallen. Es kann sich nur um eine zeitlich begrenzte Erhöhung handeln. Dies genau auszumessen und abzuwägen überschreitet den Rahmen meiner heutigen Rede; nur, Herr Kollege Apel, deswegen ist ja die vom Bundeskanzler hervorgehobene und von Ihnen kritisch angesprochene Vereinbarung der Koalition so wichtig, in den nächsten zwei Jahren keine neuen Leistungsgesetze zu verabschieden. Ich habe das, was Sie dazu gesagt haben, überhaupt nicht verstanden. Sie haben hier ein Horrorgemälde aufgezeichnet, wonach der Bundeshaushalt angeblich 60 Milliarden DM an neuen Risiken enthalte. Sie haben gesagt: Die Finanzen geraten aus den Fugen.
Anschließend haben Sie diese Entscheidung kritisiert, daß wir — nach großzügigen Entscheidungen der letzten zwei Jahre auch im sozialen Bereich — einmal sozusagen innehalten.
Ich sehe die innere Logik dieser Argumentation überhaupt nicht.
— Nein, das möchte ich nun nicht mehr. Sie haben schon eine gestellt, und ich muß jetzt langsam vorankommen.Nein, meine Damen und Herren, diese Kritik auch des Herrn Kollegen Vogel ist im Hinblick auf Ihre eigene Praxis sehr erstaunlich. Wir bestätigen mit dieser Koalitionsvereinbarung das, was wir an sozialen Verbesserungen geschaffen haben. Wir haben uns, was bisher nicht sehr beachtet wurde, auch über den Abbau von 2 bis 3 Milliarden DM Subventionen in Verbindung mit Haushaltsproblemen konkret geeinigt. Das haben wir vorweg getan, aber das berührt nicht soziale Leistungen. Wir bestätigen das, was wir an sozialen Verbesserungen geschaffen haben.Meine Damen und Herren, schauen Sie sich einmal Europa an, von Griechenland mit Herrn Papandreou und der PASOK, der sozialistischen Mehrheit und Regierung, bis nach Irland. Sie können dann eine große Zahl von Regierungen und Parlamenten finden, in denen nicht über eine Bestätigung der sozialen Leistungen und über Steuerentlastungen geredet wird, sondern über drastische Eingriffe in soziale Leistungen. Das ist sozialistische Politik in Griechenland! Da müssen Sie sich einmal mit der Frage auseinandersetzen, warum das so ist. Nicht weil es den Beteiligten Freude macht, sondern weil man durch eine falsche Wirtschafts- und Finanzpolitik das Land in eine Krise geführt hat. Das müssen wir vermeiden, nachdem wir unser Land aus einer Krise herausgebracht haben!
Ihre Kritik, Herr Kollege Vogel, steht doch im Gegensatz zu Ihrer eigenen Praxis. Das große moralische Pathos steht Ihnen da gar nicht gut an. Sie haben 1976 blitzartig — im Gegensatz zu Ihren Wahlversprechen — drastisch die Renten gekürzt, und Sie haben 1980 nach der Bundestagswahl, nachdem Sie unsere Kritik an der Schuldenwirtschaft als Panikmache abgetan hatten, massiv das Messer bei den sozialen Leistungen angesetzt, auch beim Kindergeld.
— Nein, Herr Kollege Vogel, wir reden zur Zeit über das Kindergeld! Ich bestimme die Themen, über die ich rede. Wir reden über Ihre Kürzungen beim Kindergeld,
und wir reden darüber, daß es unglaubwürdig ist, wenn Sie Freibeträge abschaffen wollen und eine Erhöhung des Kindergeldes als Kompensation versprechen.Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zum Zusammenhang von Finanzpolitik, Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarktpolitik sagen. Herr Kollege Vogel, die Analyse muß stimmen, wenn man zu richtigen Folgerungen kommen will. Ich habe hier mit großem Erstaunen gelesen — ich habe es gehört und es dann, weil ich sah, daß es falsch war, noch einmal nachgelesen — , was Sie in Ihrer Rede gesagt haben. Sie haben es als eine Provokation bezeichnet, daß der Anteil des Einkommens aus Unternehmertätigkeit und Vermögen am Volkseinkommen seit 1982 von fast 34 To auf etwa 42 % gestiegen ist. Ich habe mir gestern abend die letzte Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes dazu kommen lassen. Sie ist ganz neu, vom 9. März 1987. Das Statistische Bundesamt stellt in dieser Veröffentlichung „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung" fest, der Anteil des Einkommens aus Unternehmertätigkeit und Vermögen am Volkseinkommen beträgt nicht, wie Sie behaupten, 42 %, sondern 31,4 %. 1970 lag er bei 32 %. Er ist dann in Ihrer Regierungszeit zurückgegangen auf 26,2 % im Tiefstand und ist jetzt wieder bei 31,4 % und damit immer noch unter dem Niveau von 1970. Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen Erträgen der Unternehmen — —
— Entschuldigung, er hat andere Zahlen vertreten, als das Statistische Bundesamt veröffentlicht hat.
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Bundesminister Dr. Stoltenberg— Ja, darüber können wir uns gerne austauschen. Ich habe mir die amtliche Unterlage des Statistischen Bundesamtes besorgt
und möchte das richtigstellen.
Ich sage das ja auch ganz zurückhaltend. Ich rede ja nicht gleich von einer Provokation wie Sie, Herr Kollege Vogel, wenn ich selbst anfechtbare Zahlen hier zitiere.
— Nein, die Analyse muß stimmen, Herr Vogel, wenn man zu richtigen Folgerungen kommen will; das ist der Punkt.
Die drei Todsünden, die in den siebziger Jahren und dann dramatisch zu Beginn der achtziger Jahre Arbeitslosigkeit produziert haben, waren die Investitionslücke vor allem bei den privaten Investitionen, der zu starke Anstieg der Steuern und Abgaben. Wir reden doch nicht über zu hohe Nettoeinkommen der Arbeitnehmer; wir reden über zu hohe Lohnkosten für die Betriebe. Das sind zwei verschiedene Dinge, und wir müssen den Abstand zwischen Lohnkosten der Betriebe und Nettoeinkommen der Arbeitnehmer verringern. Deswegen müssen wir eine Steuerreform machen, wie wir es uns vorgenommen haben.
Deswegen müssen wir das Thema der Kostendämpfung im Gesundheitswesen lösen, weil wir sonst, wenn die Kosten im Gesundheitswesen weitersteigen wie bisher, die Beschäftigungsprobleme nicht mehr meistern können.
Die dritte Todsünde war die zu hohe Belastung der Löhne. Sie haben das bis heute, wie mir scheint, nicht begriffen. Noch wichtiger ist die Frage, ob die Tarifparteien, DGB und Arbeitgeberverbände, dies verstanden haben und daraus die richtigen Folgerungen ziehen.Herr Kollege Vogel, wir bejahen die Verantwortung des Staates und der Finanzpolitik für Wirtschaft und Beschäftigung. Aber wir können nicht das Fehlverhalten anderer ausgleichen. Wir können in der Marktwirtschaft kein Fehlverhalten einzelner Unternehmen ausgleichen, und wir können auch kein kollektives Fehlverhalten bei Tarifvertragsverhandlungen und -ergebnissen ausgleichen.
Ich sage das zu den Problemen von Schiffbau, Stahl und Kohle.
Herr Kollege Vogel, zur Politik der letzten vier Jahre gehört auch, daß wir für Kohle, Stahl und Schiffbau erheblich mehr Mittel bereitgestellt haben als Sie in Ihrer Regierungszeit,
aber es gibt Grenzen.Ich nehme für mich in Anspruch, daß ich mich mit den Problemen des Schiffbaus persönlich so intensiv beschäftigt habe wie wenige in diesem Hause.
Ich nehme das für mich in Anspruch. Ich habe Anfang dieser Woche von einer deutschen Werft eine Unterlage bekommen — natürlich immer mit der Frage, ob wir noch etwas mehr tun können — über einen interessanten Auftrag, über den in Kürze entschieden wird. Das Konkurrenzangebot aus einem asiatischen Land liegt fast 40 % preisgünstiger. Und das ist der Alltag unserer Werften. Wir können ja 20 % , wir können 25 % durch Subventionen ausgleichen. Wir haben schon eine Debatte mit anderen, Herr Westphal, die uns fragen: warum nicht bei uns? Wir können das begründen. Dann gibt es auch Grenzen. Wir haben noch einen gewissen technologischen Vorsprung. Aber wir können die Wegstrecke von 40 % im Grunde nicht mehr kompensieren. Das ist die bittere Lage.Ich sage Ihnen wirklich aus der unmittelbaren Betroffenheit und Verantwortung für Schiffbauunternehmen und ihre Mitarbeiter, die mir auch vor Augen stehen, wenn ich hier rede: Wir brauchen Tarifabschlüsse, die Kosten und Wettbewerbsnachteile für Arbeitsplätze in diesen Bereichen nicht weiter existenzbedrohend verschärfen.
Es ist die Frage, ob die IG Metall und andere endlich bereit sind, bei Forderungen, wie sie jetzt im Raum stehen — 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich — , zu differenzieren und auf jene existenzbedrohten Betriebe und Branchen und ihre Mitarbeiter Rücksicht zu nehmen, die heute trotz aller Subventionen kaum noch konkurrenzfähig sind und die, wie ich fürchte, endgültig ins Aus gelangen, wenn diese Maximalforderung mit Brachialgewalt durchgesetzt werden soll. Das muß ich hier in diesen Tagen einmal in aller Deutlichkeit sagen.
Wir haben, wie ich glaube, gute Fundamente gelegt. Wir haben große Herausforderungen und Probleme vor uns. Es gibt keinen Grund, sie zu bagatellisieren. Der Bundeskanzler hat sie gestern in seiner Regierungserklärung klar angesprochen, und ich tue es heute hier für den Bereich der Finanzpolitik. Aber wenn wir die Grundlagen unserer Volkswirtschaft betrachten, wenn wir die Bereitschaft der überwiegenden Mehrzahl der Menschen betrachten, positive Signale der Politik auch aufzunehmen und schöpferisch, produktiv in ihrem Lebensbereich zu verwirklichen, dann können wir auch mit Zuversicht an die Arbeit gehen. Wir sind dazu bereit.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Spöri.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben hier heute morgen einen ganz anderen Gerhard Stoltenberg erlebt. Das war nicht mehr der sachlich-kühle Klare aus dem Norden,
das war ein durch Koalitionsverhandlungen Angeschlagener,
der wild und unsachlich polemisiert und geflunkert hat. Herr Stoltenberg, was soll das eigentlich: Auf der einen Seite greifen Sie uns wegen des sogenannten Rau-Tarifs an, der 80 % der Ledigen und 90 % der Verheirateten besser stellt als Ihr Tarif, auf der anderen Seite aber sagen Sie: Wir wollen gar keine Steuerentlastung. Das ist doch der Gipfel der Unredlichkeit!
Aber, meine Damen und Herren, ich komme noch einmal auf die Zahlentrickserei des Herrn Bundesfinanzministers zurück. Das ändert nichts an den Realitäten.Verlauf und Ergebnisse dieser Koalitionsverhandlungen auf dem Gebiet der Steuer- und der Finanzpolitik haben einfach eine Legende zerstört, nämlich die Legende vom soliden Hausvater Stoltenberg, der die Entscheidungen im Bereich seines Ressorts souverän dominiert und seinen Haushalt unter Kontrolle hat. Wir alle haben ja in den letzten Wochen miterlebt, daß der Herr Bundesfinanzminister auf dem steuerpolitischen Spielfeld der Koalition nicht mehr der Spielmacher war, sondern als Statist von den übrigen Akteuren, nämlich von Strauß, Bangemann, Geißler und Lambsdorff, hin- und hergeschubst worden ist. So waren doch die Fakten, meine Damen und Herren.
— Das konnte man ja lesen.
Es stimmt doch, Herr Bundesfinanzminister: Sie haben Ihren immer wieder beschworenen eisernen Grundsatz aufgegeben, das Volumen einer Steuersenkung könne erst dann festgelegt werden, wenn ihre Finanzierung konkret gesichert sei. Ihr steuerpolitisch hohes Credo hier in diesem Hohen Haus war immer, daß das Volumen der Entlastung durch den Subventionsabbau bestimmt wird. 40 Milliarden DM plus X: Das war doch immer Ihre Formel; „X" war der Subventionsabbau. Da helfen doch jetzt auch nicht persönliche Ausfälligkeiten gegen Herrn Apel. Sie haben sich mit den Koalitionsergebnissen auf ein haushaltspolitisches Himmelfahrtskommando eingelassen;
denn Sie sind — das sind die Fakten — auf einen Steuersenkungsbeschluß von über 44 Milliarden DM festgeschweißt, von denen nicht eine Mark durch einenkonkreten Beschluß, z. B. zum Subventionsabbau, wirklich finanziert ist.
Das ist geradezu abenteuerlich, wenn man bedenkt, daß die Steuereinnahmen — das wird sich schon im Mai zeigen — ganz deutlich hinter den bisherigen Schätzungen auf Grund der konjunkturellen Entwicklung zurückbleiben werden.Aber eines ist sicherlich einmalig, Herr Bundesfinanzminister, in der Geschichte der Bundesrepublik: Es gab keine Steuerreform oder Tarifkorrektur, bei der eine Regierung die Finanzierungsfrage völlig offengelassen hätte. Die Regierung Kohl/Bangemann hat damit nicht nur eine haushaltspolitische Zeitbombe an Bord,
nein, die Vertagung der Finanzierungsfrage auf den Herbst ist auch ein unlauteres politisches Manöver, mit dem die Bürger über die wahren finanziellen Auswirkungen auf ihren Geldbeutel getäuscht werden sollen.
Herr Stoltenberg, Sie zeigen jetzt die Speckseite Ihrer Steuerpläne. Die Kehrseite verstecken Sie bis in den Herbst hinein. Sie wissen ganz genau, daß mit den von Ihnen angepriesenen Berechnungsbeispielen gegenwärtig kein Bürger wirklich ausrechnen kann, wie er sich nach Ihren Finanzierungsbeschlüssen im Herbst stellt: ob er entlastet oder belastet wird. Das sind die Fakten.
Es gibt ja auch gewisse historische Parallelen. Graf Lambsdorff sprach kürzlich davon, daß sich die Koalition mit der Finanzierung dieses Steuerpakets freiwillig in eine Mausefalle begeben habe. Mausefalle hat er gesagt. Das erinnert mich irgendwie an 1966. Am 26. Oktober 1966 beschloß die Bundestagsfraktion der FDP, daß der Bundeshaushalt 1967 ohne die von der CDU/CSU beschlossenen Steuererhöhungen finanziert werden müsse. Die FDP schielte damals auf wichtige Landtagswahlen wie z. B. in Hessen; auch das wiederholt sich. Dieser Beschluß war der Anfang vom Ende der Regierung Erhard. Herr Erhard hat ähnlich schwach angefangen wie Herr Kohl in dieser Legislaturperiode und dafür dann stark nachgelassen.
Ich bin gespannt, wie die FDP diesmal aus dieser Mausefalle herauskommt; denn Sie haben ja in der Frage der Mehrwertsteuererhöhung und der Erhöhung indirekter Steuern ganz rigide finanzpolitische Prestigepositionen aufgebaut. Irgendeiner muß ja im Herbst in Ihrer Koalition umfallen, wenn sich die Finanzierungsvorschläge so diametral gegenüberstehen.
Nun, lieber Herr Glos, zu den Inhalten Ihrer Tarifkorrektur. Unterschätzen Sie das nicht: Die Tatsache,
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Dr. Spöridaß die Bundesregierung den Spitzensteuersatz für 140 000 Spitzenverdiener gesenkt hat, wird nicht in ein paar Wochen oder in ein paar Monaten vergessen sein. Das geht von der Bedeutung her weit über die Beträge hinaus. Das war ein steuerpolitisch symbolischer Akt dieser Bundesregierung, der die wahre Grundrichtung Ihrer Politik demaskiert hat.
Deshalb hat der Herr Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung dazu auch keinen Pieps gesagt.Aber kolonnenweise, Herr Glos, haben ja UnionsHeroen ihre Hand dafür ins Feuer gelegt, daß der Spitzensteuersatz nicht gesenkt wird: angefangen von Heiner Geißler über Bernhard Vogel bis zum steuerpolitischen Papiertiger des Jahres, nämlich Norbert Blüm.
Ich sage Ihnen, was den Spitzensteuersatz anlangt: Wenn man sich die Belastung der Spitzenverdiener ansieht, ist festzustellen, daß es für eine Entlastung in diesem Bereich gar keinen Handlungsbedarf gibt. Die Zahlen sprechen so: Die wahre Gesamtsteuerbelastung der Spitzenverdiener in der Bundesrepublik liegt heute im Durchschnitt bei 43 % ihres Einkommens — die sind zumutbar — , also weit unter dem bisherigen formellen Spitzensteuersatz von 56 %, der ja nur für die Einkommensspitze über 260 000 DM bezahlt wird, wenn überhaupt, weil die meisten in diesen Einkommensklassen Steuersparmodelle nutzen.Die Koalition verschweigt zudem bewußt, daß jeder Spitzenverdiener alle anderen Steuersenkungsmaßnahmen, wie die Erhöhung des Grundfreibetrags, die Absenkung des Eingangssteuersatzes und die Linearisierung der Progression, voll mit nutzt und voll mit abkassiert. Das heißt, der Spitzenverdiener kassiert auch ohne Senkung des Spitzensteuersatzes mehr als alle anderen Steuerzahler bei dieser Tarifkorrektur. Wo besteht da eigentlich ein Entlastungsbedarf bei Spitzenverdienern, frage ich Sie.
Der Bundesfinanzminister hat hier mit viel Zahlenakrobatik versucht, unsere Kritik, die Kritik von Hans Apel, an diesem Steuerpaket zu entkräften. Aber aus seinem eigenen Zahlenwerk, aus seinen eigenen Finanznachrichten ergeben sich nur drei zentrale Schlußfolgerungen, die er hier nicht widerlegt hat.Erstens. Die 5,7 Millionen Bezieher niedriger Einkommen bis 48 000 DM erhalten zusammen eine geringere Entlastungsmasse als 140 000 Spitzenverdiener. Zweitens. Die Bezieher niedriger Einkommen zahlen durch die Tarifkorrektur im Schnitt 430 DM weniger, während Spitzenverdiener eine durchschnittliche Steuersenkung von 21 400 DM kassieren. Drittens. Damit ist die Behauptung der Koalition, jeder Steuerzahler behält mindestens 1 000 DM in der Tasche, schon im Steuersenkungsteil dieses Pakets falsch.
Ihre eigenen Zahlen sprechen gegen Sie, Herr Bundesfinanzminister, und widerlegen Sie.
Nicht mehr statistische Kosmetik oder statistische Trickserei, sondern eine offene Fälschung, Herr Bundesfinanzminister, sind aber die steuerpolitischen Wahlanzeigen und die Flugblätter der CDU in den Tageszeitungen, die wir gegenwärtig sehen; denn in diesen Anzeigen wird das, was in dieser Debatte immerhin noch als Umschichtungsbedarf von 19 Milliarden DM bezeichnet worden ist — was in Wahrheit Steuererhöhungen sind — überhaupt nicht mehr genannt, da wird das einfach unterschlagen. Es stimmt nicht, meine Damen und Herren, daß die CDU sagen würde, daß die Steuerzahler im Schnitt 1 000 DM weniger Steuern bezahlen müßten. Die Propagandaanzeigen der CDU zeigen ganz deutlich, daß Sie bei Ihrer Wahlpropaganda schwindeln, denn dort steht drin: Jeder Steuerzahler behält mindestens 1 000 DM jährlich mehr in der eigenen Tasche. Das sind die Fakten.
Dies widerspricht dem, was Sie vorher gesagt haben.
Meine Damen und Herren, ich bleibe auch nach den heutigen windigen Ausführungen zu dem Betrag von 19 Milliarden DM Umschichtung, d. h. Steuererhöhung, dabei: Konkret droht eine Erhöhung der Mehrwert- und der Verbrauchsteuern, die Streichung der Arbeitnehmer- und der Weihnachtsfreibeträge sowie die Besteuerung der Zuschläge für die Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit oder aber die steuerliche Erfassung der Personalrabatte für die Arbeitnehmer. Wenn Sie bei den Finanzierungsvorschlägen auf irgendwelche Dementis Bezug nehmen, dann kann ich nur sagen: Zur Zeit wird an Finanzierungsvorschlägen alles dementiert, von Lambsdorff und von Blüm. Wenn alles zutreffen würde, was es da an Dementis gibt, dann hätten Sie keine einzige Mark an Finanzierung für Ihre 19-Milliarden-DM-Umschichtung, die Sie genannt haben.
Herr Stoltenberg, ich will Ihnen einmal eine seriöse Rechnung aufmachen.
Die ganze Wahrheit zum Steuerpaket, die jetzt krampfhaft bis zum Herbst vernebelt werden soll, ist sehr einfach. Hören Sie einmal zu! Wenn der Belastungsteil des gesamten Steuerpakets von 19 Milliarden DM auf 19 Millionen Steuerzahler gleichmäßig verteilt wird, kommt man zu einer Zusatzbelastung von 1 000 DM. Das heißt im Klartext: Diejenigen, deren Entlastung bei der Tarifkorrektur unter 1 000 DM liegt, werden unter dem Strich im Herbst drauflegen.
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Dr. SpöriDamit wird sich die im Herbst geplante Gesamtoperation als gigantische Umverteilung von unten nach oben entpuppen, und zwar vor allen Dingen zu Lasten der Rentner.
Nun sagt der Graf Lambsdorff im „Handelsblatt" vom 11. März ganz offen, daß man jetzt diese 19 Milliarden DM Steuerbelastungen im zweiten Teil dieses Pakets, daß man diese Liste der Grausamkeiten, wie es immer flapsig genannt wird, noch einmal bis nach den Landtagswahlen dieses Jahres in der Schublade versteckt halten wolle, weil ansonsten die Gefahr bestehe — nach Lambsdorff — , daß die Koalition die Mehrheit im Bundesrat verliert. Das heißt: Wenn man die Wahrheit sagt, verliert man also die Mehrheit. Welch zynische Reduzierung unserer Bürger zum Stimmvieh, denen man vor den Landtagswahlen die steuerpolitischen Leckereien unter die Nase hält und nicht einmal den politischen Preis, den sie dafür zahlen müssen, sagt, meine Damen und Herren.
Das ist, ohne zu stark in die Tasten zu greifen, politischer Betrug, meine Damen und Herren.
Wenn ich jetzt ganz kurz noch eingehen darf auf die Senkung der Unternehmensteuern. Wir sind gegen die Körperschaftsteuersenkung, die einseitig die gewinnstärksten Kapitalgesellschaften bevorzugt. Dies wird mit der unhaltbaren Behauptung begründet, unsere Unternehmen wären international benachteiligt, was die Steuerbelastung anlangt. Mein Kollege Apel hat bereits darauf verwiesen, daß die deutschen Unternehmen faktisch nicht mit 71 % belastet sind — dies ist ein Horrorwert der Wirtschaftslobby — , sondern daß das eigene Beiratsmitglied Ihres Ministeriums ausgerechnet hat, daß die tatsächliche, effektive Belastung bei 34 % des Gewinns liegt.Meine Damen und Herren, wer jetzt in einer solchen konjunkturellen Situation eine solch ungezielte Steuerentlastungspolitik betreibt, der sollte sich einmal näher die Entwicklung des Volkseinkommens nach Steuern und nach Abgaben angucken.
Von 1982 bis 1986 stieg das Bruttoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um 164 Milliarden DM; davon blieben 154 Milliarden DM netto übrig. Im gleichen Zeitraum stiegen die Bruttoeinkommen der Arbeitnehmer um 139 Milliarden DM; davon blieben nur 53 Milliarden DM übrig. Den Arbeitnehmern wurden also 62 % ihres Zusatzverdienstes abgenommen, den Unternehmern und Kapitaleignern dagegen nur 6 % abgezogen. Wo ist da der steuerpolitische Handlungsbedarf? Wo ist da überhaupt Entlastungsbedarf? Den sehe ich überhaupt nicht.
Meine Damen und Herren, ich darf zum Schluß kommen. Gerade jetzt bewahrheitet sich der Grundsatz sozialdemokratischer Steuerpolitik: Die aus der Sicht des einzelnen Bürgers verteilungspolitisch gerechtere Steuerpolitik ist gleichzeitig auch die wirtschaftspolitisch vernünftigere Steuerpolitik. Die steuerpolitische Ideologie der deutschen Konservativen, die Wirtschaft könne nur durch Umverteilung von unten nach oben florieren, ist nicht nur in anderen Ländern gescheitert, sondern auch hier in der Praxis der Bundesrepublik. Gerechtigkeit und ökonomische Rationalität, Gerechtigkeit und wirtschaftspolitische Effizienz stehen steuerpolitisch nicht im Widerspruch, sondern im Einklang. Deshalb heißt unser Kurs in diesem Haus: Steuergerechtigkeit.Herzlichen Dank.
Ich erteile das Wort dem Herrn Staatsminister der Finanzen des Landes Hessen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe gehört, daß von Hessen die Rede war. Zunächst darf ich mich mit Stolz zu den hessischen Verhältnissen bekennen.
— Sie können sich diese aufgesetzte Fröhlichkeit sparen. Ich bin den Umgang mit falsch gesetzten Backbenchern gewöhnt.
— Nein, nein, ich bin stolz darauf, daß mich meine langjährige Erfahrung in einem Provinzparlament darauf rüstet, mit — ich wiederhole — falsch gesetzten Back-benchern fertigzuwerden.
Ich bin also stolz auf die hessischen Verhältnisse. Wir stehen in der Wirtschaftskraft in Hessen an der Spitze aller Flächenländer vor Baden-Württemberg, obwohl dort matt der Mercedes-Stern glänzt.
Sie haben ja wohl aus der Statistik gelernt, daß die Chemie nach den letzten Daten das hat, was man Negativwachstum nennt. Die hessische Chemie ist immerhin noch um 0,5 % gewachsen. Der Umsatzverlust beträgt bundesweit statistisch 5,5 %. Das heißt, daß sich offenbar in den Vorstandsetagen herumgetrommelt hat, daß es sich in Hessen gut leben läßt.
Schließlich bin ich als Hauptbuchhalter dieses behaupteten Finanzchaos stolz darauf, im letzten Jahr 900 Millionen DM in den Länderfinanzausgleich angewiesen zu haben.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 167
Staatsminister Krollmann
Dies war eine Verdoppelung gegenüber 1984. Ichdenke, das läßt sich sehen. Wie gesagt, auch die CSU— ich liebe das Land der Bayern; ich liebe nicht alle Bayern, das kann im Amt wohl auch nicht verlangt werden — hat sehr gerne die Dividenden angenommen, die wir aus den hessischen Verhältnissen erwirtschaftet haben.
— Darf ich Ihnen einmal sagen: Wenn Sie sich so benehmen, imponiert mir das nicht.
— Sie sollten gelernt haben: Sie sind — ich wiederhole — in meinen Augen ein falsch gesetzter Backbencher.
Herr Staatsminister, es besteht nicht völlige Klarheit, was dieser Ausdruck bedeuten soll.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich bin gerne bereit, zur Klarheit beizutragen: Ein Back-bencher ist jemand, der von seiner Fraktion in die hinteren Reihen des Parlaments gesetzt wird, weil er nur dort die Fraktion mitträgt. Gelegentlich sind die Entscheidungen der Fraktion falsch — das hatte ich hier festgestellt — , wenn jemand zu schnell avanciert.Ich bin hier hergekommen, um mich zu einer Frage zu äußern, und zwar als Finanzminister eines Bundeslandes
und als stellvertretender Ministerpräsident eines Bundeslandes, die für mich eine existentielle Dimension hat. Die Frage der Energiepolitik hat nicht nur für uns eine solche Dimension, sondern auch für die kommende Generation.
Ich denke, es gibt Chancen und Wege, Fehlentwicklungen zu korrigieren, die in der Energiepolitik eingetreten sind, und die Akzeptanz der Energiepolitik, um die wir uns ja wohl alle bemühen, wenn wir in Verantwortung stehen, zu verbessern.Im Mittelpunkt dieser Bemühungen muß die Energieeinsparung stehen. Hessen hat vor zwei Jahren — ein Stück hessisches Beispiel, das ich vortragen kann — ein Energiespargesetz verabschiedet. Wir haben rund eine halbe Milliarde öffentlichen Geldes zur Förderung rationeller Energieerzeugung und -verwendung bereitgestellt. Dieses Gesetz basiert auf folgenden Grundsätzen — dies ist nicht eine Wunschvorstellung, sondern politische Realität — , die übertragen werden können und nach meiner Überzeugung in die Energiepolitik anderer Länder und in die des Bundes übertragen werden müssen:Erstens, Vorrang für Energieeinsparung. Durch Wärmedämmung, stromsparende Geräte und eine Änderung von Produktions- und Verbrauchsgewohnheiten können lebenswichtige Ressourcen und damit auch die Umwelt geschont werden.Zweitens. Wir sind handfest für die Optimierung der Energieerzeugung, z. B. durch Kraft-WärmeKoppelung, Nutzung der Abwärme, Einsatz regenerativer Energie. Das sind nur wenige Beispiele.Drittens treten wir mit diesem Gesetz und mit Mitteln nach diesem Gesetz für die Anpassung der Energieerzeugung an die benötigten Energiedienstleistungen ein. Klartext: Wir sind z. B. nicht länger bereit, uns zu erlauben, Strom zur Herstellung von Niedertemperaturwärme zu vergeuden.
Viertens. Wir wollen — und da sind wir unterwegs — praktisch die Priorität für umweltverträgliche Kohlenutzung und für die Unabhängigkeit der Energieversorgung durch Rückgriff auf heimische Steinkohle durchsetzen.
Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang muß die Bundesregierung sagen, wie sie es mit dem Nachfolger des Jahrhundertvertrages halten will.
Es muß entschieden werden — auf deutsch gesagt —, wie viele Zechen auf Dauer in Betrieb bleiben sollen und wie viele man absaufen lassen will.
Für den Steinkohlenbergbau ist, nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen, sondern aus Erwägungen der Daseinsvorsorge — wenn man das ernst nimmt —, eine politische Entscheidung erforderlich. Sie nehmen statt dessen den Verlust von Arbeitsplätzen in Kauf und drücken sich um eine nationale Kohlepolitik.
Im Mittelpunkt einer zukunftsorientierten Energiepolitik können und müssen die Kommunen stehen.
Sie sind maßgebliche Träger der Energiepolitik. Siesind dafür prädestiniert, örtliche Energiekonzepte zu
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168 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Staatsminister Krollmann
erstellen und die Energieversorgung durch kommunale Energiedienstleistungsunternehmen zu einem guten Teil in eigene Verantwortung zu übernehmen.
Deshalb muß diese örtliche Gemeinschaft in die Lage versetzt werden, alle Potentiale zur Energieeinsparung auszuschöpfen und vor allem die Nutzung von Abwärmepotentialen in Industrie und Gewerbe zu fördern. Dazu bedarf es nicht nur der guten Worte — die haben wir genug — , dazu bedarf es finanzieller Unterstützung, so, wie wir sie in dem Bundesland, für das ich spreche, leisten. Es bedarf auch der Hilfe des Kartell- und Energiewirtschaftsrechts, damit die nachteiligen Folgen der energiewirtschaftlichen Monopolisierung beseitigt werden können. Und solche nachteiligen Folgen gibt es wahrhaftig.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, dieser energiepolitische Ansatz, den ich hier kurz skizziert habe, ist zugleich Umweltpolitik im besten Sinn des Wortes. Jede nicht erzeugte Energieeinheit spart Ressourcen und vermindert die Emissionen, und sei nur von CO2.Das gilt auch und gerade für Anlagen, die in KraftWärme-Kopplung mit heimischer Kohle betrieben werden. Unsere Anlagenbauer sind längst imstande, Kraftwerke so zu konzipieren. Wir wollen sie in die Lage versetzen, die auch mal zu Hause zu bauen und nicht nur in Japan damit zu konkurrieren.
Was sie brauchen, ist eine politische Vorgabe. Die muß nicht nur in den Ländern, sondern die muß auch in Bonn gesetzt werden.Es kommt ein weiteres Argument hinzu: Der Umstieg in die rationelle Energienutzung schafft mehr Arbeitsplätze, als dies bei einem Zubau von Großkraftwerken je der Fall sein könnte.
Es läßt sich mit einem solchen Konzept, das sich — ich sage das ausdrücklich, damit ich nicht mißverstanden werde — nicht nur auf die Grundlast an Wärme erstrecken darf, die Sicherheit der Arbeitsplätze im Bereich der deutschen Steinkohle verbessern.Mir ist bewußt, daß nach einer Untersuchung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung eine Senkung der Steinkohlenförderung um nur 10 Millionen t pro Jahr 49 000 Arbeitsplätze kostet. Wir fordern deshalb von der Bundesregierung, daß sie energiepolitische Entscheidungen trifft, die zukunftssicher sind.
Wir fordern alle Beteiligten auf, mit uns bereit zu sein, aus Erfahrung zu lernen. Dies ist nicht schädlich, so man zugibt, daß es möglich ist.
Wir haben alle den Stand der Vollkommenheit noch nicht erreicht.
— Nein. Ich selbst bekenne mich dazu, daß ich lerne. Und ich bin sogar stolz genug, Fehler zuzugeben, weil ich das für Stärke und nicht für Schwäche halte.
Wir werden uns als Land bemühen, diesen Prozeß zu beschleunigen.
Da geht es um die Novellierung des Atomgesetzes, um die längst überfällige Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes aus dem Jahre 1935. Es geht um die Bundestarifordnung Elektrizität. Wir unterstützen deshalb als Land den von der SPD-Bundestagsfraktion eingebrachten Entwurf eines Kernenergieabwicklungsgesetzes.Ich mache mir, so denke ich, keine Illusionen. Es wird uns nicht gelingen, es wird mir nicht gelingen, einen überzeugten Verfechter des weiteren Ausbaus der Kernenergie für den vernünftigen Weg eines mittelfristigen Ausstiegs aus dieser Technologie zu gewinnen. Das halte ich für nicht machbar. Das ist aber auch nicht nötig. Es muß niemand der zivilen Nutzung der Kernenergie abschwören, um mindestens dies zu begreifen: daß es eine Technik gibt, aus der wir in breiter Überzeugung aussteigen müßten, wenn wir denn überhaupt bereit wären, aus Erfahrung zu lernen.
Ich habe — mit anderen Worten — die Hoffnung noch nicht aufgegeben, daß einige in Ihren Reihen Argumenten zugänglich sind. Ich meine die sogenannte Entsorgung unserer Kernenergiekraftwerke. Ich meine den Einstieg in den Plutoniumkreislauf. Damit wir uns ganz klar verstehen: Dies war eine politische Entscheidung, wie sie gemeinsam getroffen worden ist, gemeinsam von Sozialdemokraten und Freien Demokraten in der Bundesregierung, mitgetragen, so denke ich, zumindest von weiten Teilen, wenn nicht von der ganzen Fraktion der damaligen Opposition. Energiepolitiker in den Reihen aller Parteien und ich selbst auch waren fasziniert von der Idee des energiepolitischen Perpetuum mobile, das aus Wiederaufarbeitung, Umsetzung des extrahierten Plutoniums in neue Brennelemente — wie das bei Alkem geschieht — , Einsatz dieser Brennelemente im Schnellen Brüter besteht: eine wundersame Vermehrung, fast unerschöpfliche Vermehrung von Energieressourcen. Das war schon ein interessantes Konzept. Ich bekenne mich dazu — , dies mitgedacht zu haben, mehr noch: Ich habe wahrhaftig meinen Kopf für Wiederaufarbeitung hingehalten, anders als die Freunde von der CDU in Niedersachsen, die das integrierte Entsorgungskonzept als technisch machbar, aber politisch nicht durchsetzbar bezeichnet haben.
Ich erinnere mich also, wie gesagt, daran.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 169
Staatsminister Krollmann
Aber, meine Damen und Herren, weshalb ich dafür werbe, daß wir nachdenken: Es ist keine der Voraussetzungen eingetreten, von denen wir ausgegangen sind. Es gibt keine Rohstoffknappheit
auf dem Uransektor. Ich werde Ihnen das gleich belegen. Der Brüter brütet nicht, und das Ganze ist — das müßten zumindest Marktwirtschaftler einsehen, die das immer als ihr Prinzip herausschreien — extrem unwirtschaftlich. Die Kosten für den Brüter schließen es aus, daß er jemals preisgünstig Strom liefern wird. Es ist doch inzwischen anerkannt, daß nur bei einem Preis von 175 Dollar pro Kilogramm Natururan die direkte Endlagerung der abgebrannten Brennelemente gerade so teuer wäre — von Risiken abgesehen — wie die Wiederaufarbeitung. Langfristige Uranlieferverträge werden heute in der Größenordnung von 50 bis 60 Dollar pro Kilogramm abgeschlossen. Der Spotmarktpreis liegt zur Zeit bei 30 Dollar pro Kilogramm. Aus den Analysen der Uranreserven wird deutlich, daß sich die Reserven schneller ausweiten, als die Preise steigen.Man könnte das fast beliebig fortsetzen. Ich nenne noch ein Beispiel. Es ist doch unbestritten — jedermann weiß das, der sich mit dieser Frage je beschäftigt hat, statt nur zu polemisieren — : Wir könnten Rohstoff sparen, indem wir das eingesetzte Uran höher abbrennen. Das kostet. Dadurch wird das Brennelement etwa 200 Dollar teuer. Deshalb wird das zur Zeit unterlassen: weil es nicht kostengünstig ist. Die gleichen Leute, die das aber unterlassen, reden, wenn es um Wiederaufarbeitung geht, plötzlich davon, daß Ressourcen geschont werden müßten. Meine Damen und Herren, da stimmt doch etwas nicht.
Da wird doch nach Argumenten gehascht, um einen einmal eingeschlagenen Weg auch wider bessere Einsicht weiterzubeschreiten.Es ist doch wohl kein Zufall, daß in den Vereinigten Staaten auf Grund wirtschaftlicher und Bedarfsentwicklung die Bereitschaft, in Wiederaufarbeitung zu investieren, nicht mehr vorhanden ist. Carter hat die Beispielsanlage, an der wir uns mit ihren 1 400 Jahrestonnen orientiert haben, in der Wiederaufarbeitungsdiskussion angehalten. Die Reagan-Administration, hat das korrigiert. Und siehe da, was geschieht? Die amerikanische Industrie ist trotz dieser Korrektur und trotz Aufforderung nicht bereit, eine solche Anlage in Betrieb zu nehmen.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich bitte, mir nachzusehen, daß ich die Zwischenfrage nicht zulasse. Ich beuge mich — das spricht gegen mein Selbstgefühl als Vertreter eines Landes — einer Abrede, nach der meine Redezeit zu Lasten der sozialdemokratischen Fraktion geht. Also bitte ich Sie um Verzeihung.
— Ich wäre bereit. Ja. Ganz konkrete Antwort! Die politische Entscheidung gegen Wiederaufarbeitung bedeutet Entscheidung für Endlagerung. Und ich wäre bereit, auch in Hessen die Möglichkeit von Endlagerung prüfen zu lassen,
das heißt, dies politisch mit zu vertreten.
Wenn wir auf der einen Seite wissen, daß die Elektrizitätsversorger nichts lieber täten, als — heute lieber als morgen — aus der Wiederaufarbeitung — aus Kostengründen und auch aus Gründen der Last, die sie ihnen auferlegt — auszusteigen, wäre es extrem unredlich, sich auf der anderen Seite zu weigern, die in Betrieb befindlichen Reaktoren zu entsorgen. Zu dieser Entsorgung gehört Lagerung. Übrigens nicht nur Endlagerung — damit auch dieses Argument weg ist! Wir lagern zur Zeit zwischen. Wir lagern in Abklingbecken. Wir lagern in Kompaktlagern. Und wer sagt, dies sei technisch nicht machbar, redet an der Wahrheit vorbei. Es tut mir leid, das so klar feststellen zu müssen.
Jeder von Ihnen kennt wie ich den Prozeß, Argumente zu verdrängen, wenn sie einem nicht in den Kram passen. Wer derzeit dabei ist, Milliarden in Wiederaufarbeitung zu investieren, mag nicht hören, daß es anders billiger geht. Das ist verständlich.
Ich rede hier von wirtschaftlichen Argumenten, weil ich davon ausgehe, daß die Vertreter der die Regierung tragenden Parteien sich mindestens diesen Argumenten beugen müßten. Ich rede von wirtschaftlichen Argumenten, weil ich weiß, daß z. B. die FDP, die mir sonst, wenn ich spreche, gegenüber sitzt — die hessische FDP — , sich sehr klar gegen Wiederaufarbeitung und die Inbetriebnahme des Schnellen Brüters entschieden hat. Ich vergesse dabei nicht die Ängste von Menschen nach Tschernobyl.Ich frage Sie alle schlicht, ob es moralisch vertretbar ist, dieser Gesellschaft eine Technologie zuzumuten, die im Katastrophenfall zerstörerischer als alles ist, was wir bisher an Industrieunfällen erlebt haben, wenn noch nicht einmal wirtschaftliche Gründe gefunden werden können, in diese Technologie einzusteigen.
Ich stelle nicht die Frage, was bei NUKEM oder ALKEM noch mit Plutonium passieren muß, bis Sie endlich bereit sind, die Verarbeitung dieses gefährlichsten Kunstprodukts, das es gibt, zu stoppen.
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170 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Staatsminister Krollmann
Derzeit schickt Herr Minister Wallmann einen Beamten nach Hanau, damit er dort Aufsicht ausübe, statt sich um die ganz offenkundige Frage zu kümmern, wieso beim Lieferanten, einer Einrichtung des Bundes, geschlampt worden ist.
Ich will Ihnen sagen, was da anliegt. Die einen — ich meine die GRÜNEN — kommen nicht ohne eine Verschwörungstheorie aus, obwohl es eine klare politische Entscheidung war. Wir mußten die Industrie zum Jagen tragen — wenn ich dieses Beispiel verwenden darf —; sonst hätte die das nie angefangen. Dies ist schlicht die Wahrheit. Und die anderen— damit richte ich mich an diese Seite des Hauses — entblöden sich nicht, einen Sabotagevorwurf in die Welt zu setzen.
Herr Staatsminister, ich bitte um etwas Zurückhaltung in der Ausdruckswahl. Ich weise diesen Ausdruck zurück.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident, ich bin gern bereit, auch diesen Ausdruck zu erklären. Er ist literarisch, zuletzt
und in besonderer Weise von Goethe gebraucht.
Passen Sie auf: Ein „Blöder" ist ein Tauber.
Und wer sich nicht entblödet, der weigert sich, die Ohren zu öffnen für Argumente.
Also noch einmal, meine sehr geehrten Damen und Herren:
Noch einmal, meine sehr verehrten Damen und Herren: Endlagerung ist nötig.
— Herr Abgeordneter, Sie sollten doch nach dem bisherigen Verlauf meiner Ausführungen gemerkt haben, daß Sie mir den Schneid nicht abkaufen können; Punkt eins.
Punkt zwei: Wenn Sie das Protokoll, meine Ausführungen nachlesen, werden Sie sich schämen, daß Sie sich jetzt so aufpusten. —
Also, meine Damen und Herren: Endlagerung ist nicht zuallererst ein technisches Problem, sondern sie ist ein politisches Problem. Wir müssen uns entscheiden. Für die Konditionierung von Brennelementen zur direkten Lagerung gibt es verschiedene Konzepte, auf die ich hier nicht eingehen will, aber politisch entscheiden in diese Richtung müssen wir uns. Oder glaubt nach alledem, was jedermann weiß, die Bundesregierung, glauben die sie tragenden Fraktionen ernsthaft, daß es darauf ankomme — in Wackersdorf oder anderswo — , der staunenden Welt zu beweisen, daß wir in der Lage sind, mit moderner Technologie umzugehen? Es geht wirklich nur noch um Prestige. Und wenn es nur um Prestige geht, dann ist es den Bürgern in diesem Lande nicht zuzumuten, unkalkulierbare Risiken zu tragen.
Meine Damen und Herren, ich werbe wirklich mit Nachdruck dafür
— und ich werbe dafür als jemand, der nicht zu denen gehört, die die Anwendung von Kernenergie fundamental ablehnen — , den Mut aufzubringen, die Entscheidung für den Schnellen Brüter, der seinen Sinn ohnehin nicht mehr erfüllt, rückgängig zu machen.
Man schreibt dem Solon von Athen den Satz zu — —
— Also, ich gehöre zu den werktätigen Politikern, die gelegentlich noch Zeit finden zu lesen. —
Also, Solon von Athen schreibt man den Satz zu: „Ich werde älter, und ich lerne dazu."
Ich nehme diese Fähigkeit für mich in Anspruch undbekenne mich dazu, daß ich in der Frage Wiederauf-
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Staatsminister Krollmann
arbeitung/Schneller Brüter alte Überzeugungen revidiert habe,
übrigens vor Tschernobyl. In der Plutonium-Frage würde die Fähigkeit des alten Solon von Athen dieser Bonner Bundesregierung gut zu Gesicht stehen.
Wir jedenfalls haben als hessische Landesregierung unsere Entscheidung getroffen. Wir werden vom Bundesverfassungsgericht prüfen lassen, ob die weitere Verwendung von Plutonium zur Erzeugung von Energie unter der Verfassung und unter dem Atomgesetz — unter dem jetzt geltenden Atomgesetz — zulässig ist. Ausnahmen — ich antworte auf eine hier nicht ausgesprochene Frage — sind nach unserer Überzeugung nur für die weitere Verwendung von Plutonium für Zwecke der Wissenschaft und Forschung und vor allem zur schadlosen Beseitigung des in der Bundesrepublik Deutschland vorhandenen Plutoniums gerechtfertigt.
Das gleiche gilt übrigens für Plutonium, das wir auf Grund bestehender Verträge nach der Aufarbeitung aus dem Ausland zurücknehmen müssen. — Nein, konsequent ist es, sich den Folgen seines eigenen Handelns zu stellen
und nicht der Illusion zu erliegen, man könne dadurch, daß man seine Abneigung laut herausschreit, die Wirklichkeit ändern. —
Die hessische Landesregierung widerspricht deshalb mit Nachdruck der Weisung des Bundesministers für Reaktorsicherheit, Plutoniumverarbeitung über die Beseitigung der Reste hinaus zuzulassen. Der Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht gebietet es nach unserer Überzeugung, dessen Entscheidung zunächst abzuwarten.Herr Präsident, meine Damen und Herren, der von uns geforderte Verzicht auf die weitere Verarbeitung von Plutonium im großtechnischen Maßstab schließt selbstverständlich die Entwicklung von Produktionsalternativen mit hohen Umsatz- und Beschäftigungschancen ein. Wir sind bereit, und zwar über das hinaus, was die marktwirtschaftliche Entwicklung ohnehin bringt, zusammen mit Siemens für die Sicherheit der Arbeitsplätze einzustehen, die nach unserer Politik — es sind 500 bei Alkem — auf dem Spiel stehen.
Da gibt es markt- und absatzfähige Produkte, die bei dem hohen Qualifikationsniveau dieser Mitarbeiter die Arbeitsplätze auf Dauer garantieren. Wir treten — ich sage es noch einmal — , auch wenn wir die Grenzen der Marktwirtschaft damit wirklich überschreiten, für die politische Verantwortung auch für diesen Bereich ein.Wir haben den zuständigen Konzern aufgefordert, gemeinsam mit uns solche Alternativen zu prüfen und
gemeinsam mit uns eine Umstrukturierungsplanung in Angriff zu nehmen, von der ich im übrigen weiß, daß dieser Konzern selbst nicht nur darüber nachdenkt, sondern bereits in dieser Richtung handelt. An der finanziellen Hilfe des Landes wird es dabei jedenfalls nicht fehlen.Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich bedanke mich für die Geduld.
Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Krollmann, Sie haben hier eben bekannt, daß Sie auf die hessischen Verhältnisse stolz sind. Lassen Sie mich feststellen: Ich bin stolz auf das Hessenland und auf meine hessischen Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Ich will feststellen, Herr Kollege Krollmann, daß unsere hessischen Mitbürgerinnen und Mitbürger die hessischen Verhältnisse nicht verdient haben;
denn diese hessischen Verhältnisse sind inzwischen sprichwörtlich geworden; sie stehen für eine quälende Dauerkrise, für permanenten Streit und Zank. Das Wort „Ausstieg" ist nicht zufällig, sondern es ist ein Stichwort für die politische Haltung von Rot und Grün in Hessen. Hessische Verhältnisse, das ist das, was Ihre Koalition in den vergangenen Jahren angerichtet hat.
Dieses, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben unsere Bürger nicht verdient, die fleißig sind, die kreativ sind, die sich einsetzen, die das Gegeneinander leid sind und endlich wieder das Miteinander wollen, die nicht den permanenten Streit wollen, sondern sich fragen: Wie können wir den Gesamtstaat Bundesrepublik Deutschland und wie können wir unser Bundesland Hessen weiterentwickeln? Das sind die Fragen, die sich stellen.
Ich will auf einige weitere Stichworte eingehen. Herr Kollege Krollmann, Sie haben offenbar die Berichte Ihres Kollegen Wirtschaftsministers nicht gelesen, was er etwa ganz offiziell zur Chemie, zur
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172 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Bundesminister Dr. WallmannElektroindustrie, zum Straßenbau auszuführen hatte.
Hessen läuft weit unter Bundesdurchschnitt. So sieht die Wirklichkeit aus.
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Sie berühmen sich — darauf will ich antworten — des Länderfinanzausgleichs. Sie haben offenbar vergessen, daß rund 40 % aller Steuereinnahmen aus der Stadt Frankfurt herrühren, und dort regiert bekanntlich die CDU mit absoluter Mehrheit.
Kollege Krollmann, Sie haben natürlich völlig recht, wenn Sie im Zusammenhang mit Umweltpolitik davon sprechen, daß wir die Energieeinsparung deutlich zu verstärken haben. Da ist uns in den vergangenen Jahren unendlich viel gelungen. Ich möchte hier nicht in erster Linie den Politikern danken, welcher Couleur auch immer, sondern unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern, den tüchtigen Handwerkern, den Facharbeitern, den Ingenieuren, die es fertiggebracht haben,
daß in der Bundesrepublik Deutschland seit 1977 pro 1 000 DM Bruttosozialprodukt 18 % Energie eingespart wurden.
Auf diesem Wege werden wir weitergehen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Penner?
Nein, ich möchte jetzt im Zusammenhang vortragen. — Herr Penner, Sie wissen, daß ich vor Fragen überhaupt keine Sorge habe. Vielleicht machen Sie es einmal, damit keiner annimmt, ich hätte irgendwelche Besorgnisse, wenn Sie sich jetzt an das Mikrophon stellen. Bitte schön.
Danke schön.
Aber bitte nur einmal und bitte nicht anrechnen, Herr Präsident.
Herr Bundesminister Wallmann, trifft es denn zu, daß die Stadt Frankfurt die am höchsten verschuldete Stadt der Bundesrepublik Deutschland ist?
Nein, das trifft nicht zu,Herr Kollege Penner, sondern dieses ist Bremen mit weitem Abstand.
Frankfurt ist in der Tat die steuerstärkste Stadt. Aber darüber wollen wir jetzt nicht sprechen.Ich wollte ein Zweites sagen, weil Herr Krollmann davon gesprochen hat, daß wir neue Wege in der Energieversorgung gehen sollten. Meine Damen und Herren, Sie müssen sich vorstellen, was man in Hessen geplant hat. Da gibt es Zauberformeln: Blockheizkraftwerke mit 30 Megawatt. Auf diese Weise sollen Biblis A und B abgelöst und ersetzt werden. Man muß wissen, meine Damen und Herren: Wenn man Biblis A und B abschaltet, müßte es allein in Südhessen 250 derartige Blockheizkraftwerke geben.
Nun müssen Sie uns erzählen, meine Damen und Herren, wie Sie mit solchen Blockheizkraftwerken für die Umwelt wirklich etwas leisten können, wie Sie dort Wirbelschichttechniken, alle möglichen anderen Verfahren wie Rauchgasentschwefelung praktizieren wollen, wie Sie dann noch die Wettbewerbsfähigkeit sichern wollen und den Arbeitnehmern erklären können: Eure Arbeitsplätze sind so sicher wie in der Vergangenheit. Das ist Augenwischerei; das hat mit seriöser Politik aber nicht mehr die Bohne zu tun.
Da möchte ich, an diese Überlegungen einfach anknüpfend, meine Damen und Herren, den Herrn Kollegen Krollmann fragen: Wie wäre es denn, wenn Hessen hier etwa eine Vorbildfunktion einnähme und wenn sich alle so verhielten, wie sich die SPD in Hessen verhalten will? Wie sähe es dann eigentlich mit dem Verbund von Kohle und Kernenergie aus? Wie sähe es dann mit der Sicherung der Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen und im Saarland aus? Sie müssen die Gesamtrechnung aufmachen, meine Damen und Herren, dürfen nichts verschweigen und nichts vortäuschen.
Wenn Sie inzwischen ein so leidenschaftlicher Gegner der friedlichen Nutzung der Kernenergie sind, Herr Krollmann, dann sagen Sie hier, warum Sie bis vor kurzem noch einen Atomreaktor, nämlich einen Hochtemperaturreaktor für Nordhessen, in Borken, verlangt und gefordert haben.
Sagen Sie bitte hier vor dem Hohen Hause des Deutschen Bundestages, wie Sie zustimmen konnten, daß noch am 5. November des vergangenen Jahres der hessische Ministerpräsident Börner vor dem hessischen Landtag in einer Regierungserklärung erklärt hat: Alles, was in Hanau geschehen ist, war legal; daß er dort erklärt hat: Eine Stillegung von Alkem und von anderen Brennelementfabriken in Hanau kommt für uns nicht in Betracht; daß er erklärt hat: Ich war und bleibe ein Anhänger der Kernenergie. Herr Kollege Krollmann, Sie haben gesagt, man muß bereit sein zu
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 173
Bundesminister Dr. Wallmannlernen. Das ist ja auch gut. Aber Lernfähigkeit muß man von Opportunismus unterscheiden.
Sie, Herr Krollmann, und Ihre politischen Freunde verbrennen zu viele Positionen,
von denen Sie gestern noch erklärt haben, sie seien absolut notwendig und deswegen unangreifbar in der Sache.
Ob es sich um die Sicherheitspolitik, um die Außenpolitik, um die Energiepolitik oder um die Müllentsorgungspolitik handelt, worum es sich auch immer handelt: Kehrtwendungen um 180 Grad! Und warum, meine Damen und Herren? Weil „rot-grün" nur zum Schein geplatzt ist. Man möchte nämlich einerseits den GRÜNEN zu Gefallen sein, ohne auf der anderen Seite Arbeitnehmer zu verlieren, und deswegen wird nicht die ganze Wahrheit gesagt.
Ich sage ohne Wenn und Aber, daß die Entscheidung — Sie haben diese Frage ja grundsätzlich aufgeworfen — zur friedlichen Nutzung natürlich nicht einfach getroffen werden kann. Wir haben mehr als einmal gesagt: Mit dieser Energie sind große, sehr, sehr große Gefahren verbunden. Ich denke, keiner von uns ist kernkraftsüchtig oder ein Kernkraftfetischist.
— Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir nicht! Wir nehmen allerdings Gesamtabwägungen vor.Ich füge, an die Adresse der SPD gerichtet, allerdings hinzu: 16 von 21 Kernkraftwerken sind zu Zeiten Ihrer Verantwortung geplant oder gebaut worden oder ans Netz gegangen. Wenn die Kernkraft so wenig verantwortbar ist, wie von Ihnen, Herr Kroll-mann, hier dargestellt, dann können Sie keine zehn Jahre mehr warten; dann ist es unverantwortbar, Ihren Weg zu gehen. Dann müssen Sie sofort aussteigen!
Die Entscheidung ist — ich sage es noch einmal — nicht einfach.
Der Herr Bundeskanzler hat ja gerade deswegen, weil es nicht nur um die deutschen Kernkraftwerke geht, sondern um die Kernkraftwerke insgesamt, vor allem hier in Europa — wer wüßte das nicht spätestens seit Tschernobyl? — , jene Energiekonferenz angeregt, die dann auch in Wien stattgefunden hat und ein beachtlicher Erfolg gewesen ist.
Sicherheit geht allem anderen vor. Wir haben nichts zu verbergen.
— Ich sage es noch einmal: Wir haben nichts zu verbergen, überhaupt nichts!
Glauben Sie denn, wir seien so blauäugig wie Sie?
Meinen Sie, wir sähen nicht jeweils auch die Kehrseite der Medaille, die Gefährdungen? Weil wir um die Gefährdungen wissen, haben wir nicht nur die höchsten Sicherheitsstandards der Welt,
sondern können auch sagen: Diese Energieart ist verantwortbar, bis wir eine bessere, eine noch sicherere Energieart gefunden haben.
Ich empfehle dringlich, einmal das nachzulesen, was der frühere Kanzler Helmut Schmidt am 1. Juli 1986 in der Marktkirche in Hannover gesagt hat. Er hat erklärt: Nirgendwo, auch nicht im Katechismus, finden Sie eine Antwort auf die Frage: Ausstieg, ja oder nein? Er hat davor gewarnt, sich irgendwelchen Modeströmungen und -trends anzupassen. Er hat gesagt: abwägen. Was bedeutet es, wenn wir aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie aussteigen, was bedeutet es beispielsweise für unsere Umwelt?
Was heißt es, wenn wir mehr Kohle, wenn wir mehr Öl verbrennen?
Was bedeutet dies mehr an S02, an Schwefeldioxid, an NOR, an Stickstoffoxiden, an Kohlendioxid? Das alles ist überhaupt nicht reduzierbar und hat gefährliche Folgen: Treibhauseffekt, Veränderung des Weltklimas, Veränderung ganzer Landstriche,
Ansteigen der Meeresspiegel. Entweder wissen Sie nicht, worüber Sie reden, oder Sie stellen die Situation bewußt falsch dar, weil Sie auf Stimmungen setzen, um Stimmen zu gewinnen, und das ist unverantwortlich.
Deswegen hat der Bundeskanzler völlig zu Recht Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
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174 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Bundesminister Dr. Wallmannin einem Ministerium zusammengefaßt. All dies, Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, hat nämlich miteinander zu tun.
Von den Arbeitsplätzen, von der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik Deutschland, von der Wettbewerbsfähigkeit der kleinen, der mittleren und der großen Unternehmungen hier bei uns
gegenüber einem Weltmarkt, auf dem wir ein Drittel unserer Leistungen und Produkte absetzen müssen, haben Sie, meine Damen und Herren von der SPD, die Sie früher einmal eine Arbeitnehmerpartei gewesen sind, hier und heute nicht ein einziges Wort gesagt, und das ist in der Tat aufschlußreich.
Ich sage auch dieses noch dazu, Herr Kollege Krollmann, weil Sie sich rühmen, die Weisung des Bundesumweltministers nicht befolgen zu wollen:
Dieses ist glatter Verfassungsbruch,
ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Herr Bundesminister, darf ich Sie bitte unterbrechen. — Ich bitte Sie, Zwischenrufe nicht in dieser Häufigkeit zu machen, sondern hier Zurückhaltung zu üben.
Ich kenne noch nicht all Ihre Namen, meine Damen und Herren von der Fraktion der GRÜNEN.
Aber den Namen des verehrten Kollegen, den ich jetzt anschaue, muß ich mir sicher einprägen; denn ich habe den leisen Verdacht, ich muß davon Gebrauch machen.
Bitte schön, fahren Sie fort.
Ich sage mit aller Deutlichkeit, Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß Sie, die Sozialdemokraten, sich nun nicht nur mit Rechtsbrechern, die ja zum Boykott des Volkszählungsgesetzes aufrufen, ins Koalitionsbett gelegt haben, sondern jetzt nicht nur in Opposition zu den in Bonn Regierenden, sondern zur Rechtsordnung und damit zum Rechtsstaat selbst gestellt haben.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schily?
Ich habe gesagt: einmal. Die Zeit ist begrenzt. Wir können uns privat unterhalten, Herr Schily.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch etwas zu den Darstellungen zu Alkem/Nukem. Erstens will ich feststellen: Über den Vorfall bei Alkem, Herr Kollege Krollmann, habe ich aus der Presse erfahren.
Ich mußte also bei Ihrem Kollegen Steger anfragen, was dort geschehen ist. In der Angelegenheit Nukem, meine Damen und Herren, bin ich fast zwei Wochen nicht informiert worden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ob Ihnen dieses gefällt oder nicht: Ich habe den Eindruck, Ihr sachlich gebotenes Handeln und Entscheiden steht allzuoft unter der Überlegung taktischen Wohlverhaltens, insbesondere unmittelbar vor einer Wahl.
Dieses können wir, meine Damen und Herren, auf Dauer nicht hinnehmen, und zwar nicht nur, weil es Weisungsverhältnisse gibt, sondern weil dies der Gesamtstaat Bundesrepublik Deutschland auf Dauer nicht vertragen kann und sich letzten Endes auch die Länder selbst damit Schaden zufügen.Was die Frage dieser Brennelementfabriken und insonderheit Alkem angeht, möchte ich Sie darauf hinweisen, daß die Genehmigung für Alkem am 15. August 1968 erteilt worden ist.
— Die Betreibergenehmigung; reden Sie doch nicht dazwischen.
Die Genehmigungsgrundlage heute ist diejenige von 1975.
— Herr Schily, Sie können schreien, wie Sie wollen. Sie wissen es ganz genau. Denn Ihr Sozius, Herr Geulen, hat ja dann für den Herrn Fischer ein Gutachten erstellt. Dann ist der Herr Fischer gekommen und hat erklärt: Alles unrechtmäßig; sämtliche Vorabzustimmungen waren illegal.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 175
Bundesminister Dr. WallmannDann ist der Herr Börner gekommen, lebhaft assistiert von Herrn Krollmann, und hat gesagt: Was der Herr Geulen erzählt hat, ist alles Unsinn;
alles, was dort in Hanau in den vergangenen Jahren geschehen ist, war rechtmäßig, war legal. Soviel sozusagen, meine Damen und Herren, zur Abteilung Glaubwürdigkeit in Sachen friedliche Nutzung der Kernenergie unter besonderer Berücksichtigung der SPD und der hessischen Landesregierung.
Herr Bundesminister, einen Augenblick.
Herr Abgeordneter Schily, es geht nicht an, daß Sie permanent dazwischenreden. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß dies als Störung, als gröbliche Störung der Ordnung des Hauses angesehen werden muß. Die Folgen kennen Sie.
Herr Minister, darf ich bitten fortzufahren.
Danke schön. — Ich will nur so viel sagen, meine sehr verehrten Damen und Herren: Wenn ich mir das Gesamtszenario anschaue, dann, so muß ich feststellen, verläuft die Bruchlinie ja gar nicht, wie manche annehmen, zwischen rot und grün, sondern diese Bruchlinie verläuft mitten durch die SPD hindurch.
Da sind die alten gestandenen Sozialdemokraten, die in ihrer Partei mit dem Rücken an der Wand stehen, und da ist die grüne SPD — sie ist es inzwischen geworden — , die über die Mehrheit verfügt und die damit bestimmt
und die deswegen eine rot-grüne Koalition nicht nur in Hessen, sondern wo immer nur möglich durchsetzen will. Das steht hinter den Sachfragen, die scheinbar aus neuer Einsicht mit scheinbar neuer Erkenntnis hier vorgetragen werden.
Meine Damen und Herren, das war die Antwort auf das, was Herr Kollege Krollmann hier vorgetragen hat. Ich möchte noch einiges zur Umweltpolitik in dieser neuen Legislaturperiode bemerken.Ich glaube, der Herr Bundeskanzler hat mit seiner Regierungserklärung gestern deutlich gemacht, wie sehr es uns darauf ankommt, in dieser neuen — der 11. — Legislaturperiode eine zweite Phase der Umweltpolitik fortzuentwickeln, diese Umweltpolitik auszubauen.
— Ja, in den ersten vier Jahren haben wir hier mehr geleistet, als Sie in 13 Jahren auch nur an Zielen zu formulieren vermochten.
Umweltpolitik und Naturschutz, das heißt für diese Koalition der Mitte
vor allem Vorsorgepolitik. Wir wollen Umwelt und Natur bewahren und verbessern. Wir wollen Umwelt und Natur vererben, nicht verderben.
Wir wollen — wo immer nur möglich — Schäden verhindern, und in diesem Sinne, meine Damen und Herren, begreift sich der Umweltminister als Treuhänder und Anwalt von Umwelt und Natur.
Umwelt und Naturschutz stehen nicht im Gegensatz zu einer modernen Dienstleistungs- und Industriegesellschaft. Beide dienen den Menschen. Beide schaffen Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben.Aber, meine Damen und Herren, wie Marktwirtschaft seit Ludwig Erhard sich der sozialen Verantwortung bewußt — sie will dies — unterwirft, muß sie zusätzlich einen ökologischen Ordnungsrahmen aufnehmen. Sie muß ihn selbst wollen. Dynamik und Kreativität der Sozialen Marktwirtschaft können und müssen sich auch den ökologischen Herausforderungen unserer Zeit stellen und für unsere Umwelt genutzt werden.
Die Umweltprobleme, die durch die Industrialisierung über mehr als 100 Jahre und durch Massenkonsum entstanden sind, bewältigen wir, meine Damen und Herren, weder durch Technikfeindlichkeit noch durch Ausstieg oder Verweigerung.
Nur durch Einsatz modernster Verfahren reduzieren wir Luft- und Gewässerbelastungen und schützen wir unseren Boden. Es wäre zu schön, wenn unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger die mehr als törichten Zwischenrufe des Herrn Abgeordneten Schäfer einmal nachlesen könnten. Sie würden nämlich zeigen, wie bar er jeder Sachkenntnis in diesen Fragen ist,
und man wundert sich, daß seine Fraktion ihn zum Sprecher in diesen Angelegenheiten berufen hat.
Meine Damen und Herren, der Ausstieg aus unserer Zivilisation wäre ein Einstieg in die Probleme der Vergangenheit. Wer aussteigt, verweigert sich den Herausforderungen unserer Zeit, und er entzieht sich seiner Verantwortung. Die falschen Propheten von heute predigen den Ausstieg aus unserer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft, den Ausstieg aus der Automobilindustrie, aus der chemischen, der
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Bundesminister Dr. Wallmannpharmazeutischen Industrie, aus dem Straßenbau; sie predigen den Ausstieg aus der modernen Informations- und Kommunikationsgesellschaft und den Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie.
Was wir brauchen, ist ein Einstieg, ein Einstieg in eine verantwortungsbewußte Nutzung unserer Chancen, die uns Fortschritt von wissenschaftlicher Erkenntnis und Technik anbieten. Wir wollen den Einstieg in eine noch größere Humanisierung unserer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft.
— Ihre Reaktion kann man nur verstehen, weil Sie niemals in Ihrem Leben einen Blaumann angehabt haben;
sonst wüßten Sie, was sich Gott sei Dank für unsere Arbeitnehmer in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten durch modernste Techniken zum Guten hin verändert hat.Wir wollen mehr Humanisierung, noch viel mehr Humanisierung in unserer Gesellschaft. Wir wollen den Einstieg in mehr persönliche Lebensgestaltung. Wir wollen den Einstieg in mehr Sicherheit bei großtechnischen Anlagen. Die Erfolge der vergangenen Jahre bestätigen uns ja in unserer Politik.
Wir wollen entschlossen weitermachen, um Belastungen von Luft und Wasser abzubauen. Wir werden nicht nachlassen, unsere Partner in der Europäischen Gemeinschaft, aber auch unsere Partner in der östlichen Welt für eine aktive und vorsorgende Umweltpolitik zu gewinnen.
Die Europäische Gemeinschaft muß sich so, wie es gestern vom Bundeskanzler formuliert worden ist, auch zu einer europäischen Umweltgemeinschaft entwickeln. Unseren Nachbarn, die im Osten leben, dort Verantwortung tragen, bieten wir unsere Kooperation an. Gerade in der Umweltpolitik muß es eine Internationale Verantwortungsgemeinschaft geben.Das alles können nicht wenige, kann auch nicht der Staat allein leisten. Vielmehr brauchen wir dafür die Kooperation, das Miteinander all unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger und natürlich auch die Unterstützung der Länder wie der Gemeinden. Deswegen wissen wir, daß wir an jedem Tage immer wieder auf die Bedeutung dieser Probleme hinzuweisen haben.
Ich glaube, wir können feststellen, daß wir in den Koalitionsverhandlungen — und alle drei Partner haben daran ihren Anteil —
die umfänglichsten und anspruchsvollsten Ziele für die Umweltpolitik formuliert und vorgegeben haben, die es jemals bei uns gegeben hat.
Ich will nur wenige Punkte nennen, die unseren allgemeinen Handlungsrahmen vergrößern und verbessern.Ich sage schlicht und einfach: Die Verankerung des Umweltschutzes als Staatszielbestimmung im Grundgesetz hat ihre ganz besondere Bedeutung. Die gesetzliche Verankerung der Umweltverträglichkeitsprüfung wird zu weitreichenden Konsequenzen führen. Alle Bereiche der Politik sind davon betroffen.
Die Ausdehnung der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung auf Luft und Boden verstärkt den Druck auf mögliche Störer von Umwelt und Natur.Wer in dem Zusammenhang etwas von Beweislastumkehr dazwischenruft, weiß eben nichts von der wirklichen Problematik; denn auf diese Frage — Schuld oder nicht Schuld? — kommt es dann überhaupt nicht mehr an, weil allein die Verursachung für die daraus folgende Haftung maßgebend ist.Wir werden dafür sorgen, daß über die drastische Erhöhung der Bußgelder auch die Schadensvermeidung stärker im Bewußtsein der Menschen sein und entsprechende Vorsorge getroffen wird.Wir wollen dafür sorgen, daß innerhalb der Unternehmungen auf der Vorstandsebene ein Mitglied des Vorstandes unmittelbar Verantwortung für die Umweltanliegen in dem Betriebe übernimmt. Auch das wird dazu beitragen, daß von der privaten Seite, von den Unternehmungen her eigene Anstrengungen zu mehr Sicherheit unternommen werden.
Ich bitte, den hier anwesenden Herrn Betriebsratsvorsitzenden von BASF ansprechen zu wollen: Wir lassen unter dem Thema Umweltschutz die Arbeitnehmer nicht hängen und nicht fallen, wir spielen das eine nicht gegen das andere aus. Das ist Ihre Politik.
Wir haben in der Luftreinhaltepolitik wohl die größten Erfolge errungen, aber wir werden unsere Anstrengungen verstärken, national, aber auch international. Ich will anmerken: Jener Entschließungsanträge zu Partikelemissionen hätte es nicht bedurft, denn auf unseren Antrag hin stehen diese Themen wie auch andere heute und morgen auf der Tagesordnung der Sitzung der Umweltminister in Brüssel.Wir wollen auch im leichten Heizöl und Dieselkraftstoff den Schwefelgehalt deutlich reduzieren, weil wir wissen, welche Bedeutung das insbesondere für die Gesundheit hat. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode über die Großfeuerungsanlagen-Verordnung beachtliche Leistungen erreicht, aber wir wollen jetzt auch die Abgase bei den Kleinfeuerungsanlagen reduzieren. Wir erreichen damit zugleich eine bessere Wärmenutzung und die Schonung unserer Energieressourcen. Handwerk, Fachhandel und Industrie
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Bundesminister Dr. Wallmannsind heute dazu in der Lage, das Erforderliche zu liefern und zu installieren.Vor allem, meine Damen und Herren, setzen wir unsere Anstrengungen zur Bekämpfung der Waldschäden fort. Ich stelle hier fest, daß der Begriff Waldsterben/Waldschäden bei einigen, die vor einigen Jahren ständig darüber geredet haben, im Vokabular überhaupt nicht mehr vorkommt. Das ist eine der wichtigsten Aufgaben, die von uns gelöst werden müssen.
Wir werden auf diese Weise, meine sehr verehrten Damen und Herren, in den verschiedensten Bereichen der Umwelt- und Naturschutzpolitik wie in den Fragen der Reaktorsicherheit in dieser Legislaturperiode weiterhin deutliche Fortschritte erzielen, Erfolge im Interesse unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Es kommt darauf an, daß wir ihnen auch heute sagen: Wir verharmlosen nichts; die moderne Industriegesellschaft hat vieles — Wohlstand, soziale Sicherheit, Gesundheit — hervorgebracht, bedeutet aber auf der anderen Seite auch Gefahren und Belastungen. Weder Technikeuphorie noch Zivilisationspessimismus sind angezeigt, sondern verantwortliche Politik, Einstieg in verantwortungsbewußtes Entscheiden und Handeln. Unter dieser Überschrift steht auch die Umweltpolitik in dieser Legislaturperiode.
Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.
Herr Wallmann, ich muß eines vorausschicken. Im Unterschied zu Ihnen fehlt mir nicht nur der Blaumann, ich beherrsche auch den Diener längst nicht so perfekt wie Sie, von Kaschmir wollen wir gar nicht erst anfangen. In der Sache aber war es erbärmlich, was Sie hier abgeliefert haben.
Als leibhaftiger Umweltminister, der sich ansonsten bei jeder Gelegenheit gerne mit der Aura urbaner Liberalität umgibt, haben Sie hier Horrorvisionen und Schreckensgemälde an die Wand gemalt, die vielleicht in Ihrer eigenen Einbildung existieren, aber sonst nirgendwo.Wenn man sich näher überlegt, wer da gesprochen hat, dann wächst sich das Ganze, was Sie hier über Hessen gesagt haben, zur Groteske aus. Walter Wallmann, Bundesumweltminister, hat nämlich mittlerweile in Bonn Duftmarken hinterlassen. Walter Wallmann, Bundesumweltminister, steht dafür, daß diese Bundesregierung auch nach Tschernobyl ungebrochen am Weg in den Atomstaat festhalten will.
Walter Wallmann steht dafür, daß jetzt bei einer Regierung Wallmann in Hessen Alkem unverzüglich genehmigt würde. Sie stehen für ein sogenanntes Strahlenschutzvorsorgegesetz, das niemandenschützen kann, aber dafür Manipulation und Desinformation ermöglicht.
Sie stehen für ein Abfallgesetz, das beispielhaft ist für Ihr Nachgeben gegenüber der Industrie und das nicht nur GRÜNE als „Lex Aldi" bezeichnet haben. Das ist ein Abfallgesetz, das auch die kümmerlichsten Ansätze vernünftiger Abfallpolitik auf Länderebene entscheidend behindert. Herr Wallmann, Sie stehen für eine Chemiepolitik, die auch nach den Gifteinleitungen bei Sandoz und anderswo nicht mehr zu bieten hatte als Handauflegen. Herr Wallmann, Sie stehen für verstrahltes Molkepulver, das in der Republik herumkutschiert wird, und Sie spucken hier große Töne über Umweltpolitik und wollen Zensuren darüber abgeben, was in Hessen tatsächlich gelaufen ist.
Ich sage nur: Ihnen fehlt jede Kompetenz, dazu irgend etwas sagen zu können. Ich halte es für eine Frechheit, wenn Sie sich in dieser Weise hier aufspielen wollen. Sie sind der letzte, der uns hier über die praktischen Schwierigkeiten von grüner oder grün-roter Umweltpolitik in Hessen zu belehren hat.
Tatsache bleibt, daß in Hessen Ansätze für eine neue Energiepolitik durchgesetzt werden konnten. Tatsache bleibt, daß zahlreiche Straßenbauprojekte verhindert werden konnten, und ich bekenne mich ausdrücklich dazu, daß es im Interesse der Umwelt unbedingt notwendig war, sie zu verhindern;
und es war noch viel zuwenig, was verhindert werden konnte. Tatsache bleibt, daß in der Landwirtschaft ein paar vernünftige Ansätze verwirklicht werden konnten. Tatsache bleibt, daß in Hessen ein neuer Weg in der Abfallpolitik versucht worden ist.
Tatsache bleibt das hessische Frauen-Aktionsprogramm. Tatsache bleibt die Förderung von Arbeitsloseninitiativen und von lokalen Projekten zur Schaffung sinnvoller Beschäftigung.Ich sage dazu: Das mag alles viel zuwenig gewesen sein. Es ist ein offenes Geheimnis, daß wir als GRÜNE der Auffassung sind, daß das nicht mehr als Ansätze waren. Ich will hier gar nicht verheimlichen, daß uns vieles lange nicht ausgereicht hat, was in diesen anderthalb Jahren möglich gewesen ist. Ich will auch nicht verheimlichen, daß sich auch für die hessischen GRÜNEN die praktischen Schwierigkeiten als noch gravierender herausgestellt haben, als wir uns das selber ursprünglich vorgestellt hatten.Das hatte viele Gründe. Das hatte den Grund, daß nicht in 15 Monaten all das wieder weggeräumt werden kann, was in der Vergangenheit von sozialdemokratischen und anderen Vorgängern angerichtet worden ist, und das hat — das muß hier auch klipp und
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Kleinert
klar gesagt werden — auch einen Grund im Verhalten der SPD.
Ich will sehr deutlich auch an die Adresse von Hans Krollmann sagen: Ich halte es für ein Ding der Unmöglichkeit, auf der einen Seite entschiedene Beschlüsse gegen die Plutoniumwirtschaft zu fassen, auf der anderen Seite aber gerade da, wo praktisches Verhalten erforderlich und auch möglich ist, gegen diese Beschlüsse zu verstoßen.
Das ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ich halte es auch für ein Unding, daß Sie in Ihrem Widerspruch gegen die Anweisung des Umweltministers Wallmann ankündigen, daß Sie die Produktion in Hanau in Teilbereichen für weitere zehn Jahre für akzeptabel halten. Auch das ist meines Erachtens ein Unding.Meine Damen und Herren, Herr Wallmann mag glauben, daß er in Hessen nun eine Chance hat. Ich sage Ihnen, Herr Wallmann: Sie werden sie nicht haben. Trotz unterschiedlicher Auffassungen auch innerhalb der GRÜNEN ist eines ganz klar: Für uns wird im Vordergrund stehen, dafür zu kämpfen, daß Hessen Wallmann-frei bleibt.
In dieser Frage gibt es bei den GRÜNEN überhaupt keine Differenzen. Ich sage Ihnen voraus: Sie mögen die umweltpolitische Kriechspur hier noch so schleimig auslegen, Sie mögen hier noch so viel Roßtäuschertricks anbringen wollen, unter der Maske des Biedermanns wird der Brandstifter immer deutlich erkennbar.
Sie können uns nicht mit Ihrem liberal-konservativen Mäntelchen darüber hinwegtäuschen, daß Sie immer noch da stehen, wo Sie einstmals politisch angefangen haben, nämlich am rechten Flügel Ihrer Partei.
Weil das die Menschen merken, werden Sie in Hessen Schiffbruch erleiden. Deshalb werden Sie ebenso wie die FDP scheitern, die sich in Hessen in Ihrem Schlepptau offenbar eine Chance ausrechnet, nun endlich auch einmal wieder an die Futterkrippe heranzukommen. Das erbärmliche Schauspiel, das Herr Solms heute vormittag in der finanzpolitischen Debatte geboten hat,
hat einmal mehr deutlich gemacht, daß bei dieser Partei — namentlich und ganz besonders in Hessen — der blanke Machtopportunismus regiert.
Sie glauben, im Schlepptau dieses Herrn eine Chancezu haben. Sie setzen insgeheim darauf, daß sich daswiederholen könnte, was bei der Bundestagswahl leider zu Ihren Gunsten eingetreten ist, daß nämlich Herr Genscher über Herrn Strauß ins Spiel gebracht werden konnte und mancher glaubte, oberschlau zu sein, indem er Sie gewählt hat. Ich sage Ihnen voraus: In Hessen werden die Leute darauf nicht hereinfallen. In Hessen wissen die Leute, daß FDP wählen Wallmann wählen heißt. Ich sage Ihnen weiter voraus: Es wird gelingen, Hessen Wallmann-frei zu halten. Am 6. April werden wir uns wiedersprechen.Besten Dank.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatsminister Krollmann, wenn ich mich recht entsinne, war es das erste Mal, daß Sie hier als Bundesratsmitglied gesprochen haben.
Wenn das so ist, dann mag das vielleicht erklären, daß Sie in einer Art und Weise Kollegen, die Sie kaum oder überhaupt nicht kennen, bezeichnet und hingestellt haben, die ich nur als stillos bezeichnen kann.
Darüber kann auch das Zitieren von Goethe nicht hinweghelfen. Für einen ehemaligen Kultusminister ist diese Art in meinen Augen doppelt bedauerlich.
Zu Zinns oder Börners Zeiten wäre eine solche Art der Argumentation hier nicht vorgekommen.
Sie, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, haben sich, als mein Kollege Solms eine Bemerkung zu den hessischen Wahlen machte, darüber mokiert.
Ich mußte daraus den Schluß ziehen, daß Herr Krollmann nicht gerne Ministerpräsident werden möchte, denn aus den Reaktionen war das zu entnehmen, wobei ich volles Verständnis dafür hätte, wenn er diesen Kelch, in Hessen mit den GRÜNEN eine Mehrheit zu bekommen, an sich vorübergehen lassen könnte.
Wir sind überzeugt, daß uns das gelingen wird, weil Sie in Hessen nach langen Jahren positiver Arbeit, was unbestritten ist, Ihre eigenen Grundsätze aufgegeben haben. Herr Krollmann sprach vorhin von „Hessen vorn". Heute ist doch feststellbar, daß Sie noch von dem leben, was in den 60er und 70er Jahren aufgebaut worden ist. Das wird nun langsam, Schritt für Schritt von Ihnen verspielt. So ist doch die Situation in Hessen.
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Mischnick— Aber Herr Kollege Horn, das ist doch nicht gegen uns, sondern gemeinsam mit uns aufgebaut worden.
Herr Abgeordneter Horn, bitte! Sie sind doch sonst so ein friedlicher Mensch.
Herr Kollege Krollmann, wenn Sie die Nuklearpolitik der SPD vertreten haben, muß ich Sie und Ihre Kollegen im Bundestag daran erinnern, daß es am 14. Dezember 1978 die SPD-Bundestagsfraktion war, die durch ihre führenden Persönlichkeiten die Entscheidung über Kalkar zur Koalitionsfrage gemacht hat. Das war Ihr Verlangen. Heute wollen Sie sich aus diesen Entscheidungen davonstehlen.
Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns, die wir das, was wir gemeinsam entschieden haben, nie verleugnet haben, die wir bereit sind, Entscheidungen, die getroffen worden sind, auch zu einem Zeitpunkt zu vertreten, wo es in der Öffentlichkeit nicht die Wirkung hat, wie man sie sich früher ausgerechnet hatte.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn jetzt von Ihnen hier so getan wird, als würde im Umweltschutz
— Augenblick, Sie kommen gleich dran — in Hessen besonders viel Positives geleistet, muß man feststellen: Die Bilanz sieht anders aus. — Aber das wird gleich kommen, nachdem ich Ihre Frage beantwortet habe.
Herr Abgeordneter Vosen.
Herr Mischnick, ist Ihnen bekannt, daß die Inbetriebnahme des Schnellen Brüters Folgekosten zwischen 1,5 und 2,5 Milliarden DM mit sich bringen wird, die also dann noch gezahlt werden müßten, wenn wir dieses fürchterliche Ding in Betrieb nähmen?
Aber lieber Herr Kollege, natürlich ist mir bekannt, was an Folgekosten entstehen wird. Ich habe nicht darüber gesprochen, was heute auch nach unserer gemeinsamen Auffassung weiterhin an Prüfungen notwendig ist. Ich habe Sie nur daran erinnert, daß der Kalkar-Beschluß von Ihnen 1978 zur Koalitionsfrage gemacht wurde und heute so getan wird, als hätten andere die Entscheidung gefällt.
Das sollten Sie doch endlich mal einsehen.
— Bitte.
Herr Abgeordneter Mischnick, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß wir diese Fragezeiten mit auf Ihre Rechnung setzen.
Halt! Bisher sind die Fragen nie angerechnet worden,
sondern nur die Antworten.
Die Fragen nicht, nur die Antworten.
Herr Abgeordneter Hauff, bitte sehr.
Herr Kollege Mischnick, können Sie bestätigen, daß ich in dieser Sitzung am 14. Dezember 1978 als Bundesminister für Forschung und Technologie im Namen der Bundesregierung erklärt habe, daß das ein Entscheidungsprozeß sei, der in einzelne Teilschritte zu untergliedern sei, und daß wir uns darüber einig gewesen sind, daß keine dieser Teilentscheidungen die spätere Endentscheidung würde präjudizieren dürfen?
Dies bestreite ich überhaupt nicht. Ich wäre aber dankbar, wenn Sie dann draußen nicht ständig so täten, als hätte die heutige Koalition über Kalkar mit allen weiteren Folgen im ersten Schritt entschieden.
— Das machen Sie draußen. Deshalb wehre ich mich dagegen.
Meine Damen und Herren, ich komme zu dem zurück, was Sie über den Umweltschutz gesagt haben: Mit Recht hat mein Kollege Gerhardt als Vorsitzender der Landtagsfraktion in Hessen davon gesprochen, daß in Hessen nunmehr der Zustand eingetreten sei, daß rot und grün bis zum Hals in Abwasser stünden und Müll in Hessen durch Ihre gemeinsame Politik mit den GRÜNEN der Exportschlager Nummer eins geworden sei.
Der Transport quer durch das Land — statt Ablagerungsstätten zu schaffen — ist das Ergebnis Ihrer gemeinsamen Politik.
Sie, rot und grün gemeinsam, haben 40 Millionen DM für die geplante Deponie Messel in den Sand gesetzt. Sie haben 21 Millionen DM für die Vorbereitung eines Müllheizkraftwerkes im Frankfurter Osthafen in den Sand gesetzt. Sie haben 57 Millionen DM für die Sondermülldeponie in Mainhausen in den Sand gesetzt. Sie haben Bürgschaften in Höhe von 169 Millionen DM für die Hessische Industriemüll GmbH notwendig, weil sich rot und grün in eine mißratene Abfallpolitik begeben haben. Das sind die Fakten. Und dann treten Sie hier so auf, als sei das, was rot-grün in Hessen an Umweltpolitik macht, vorbildlich. Das
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MischnickGegenteil ist der Fall. Sie haben es schlimmer gemacht, als es vorher war.
Wenn Sie so tun, als wären die Bürgerrechte in Ihrem Bereich besonders gut aufgehoben, dann kann ich mich nur wundern, wie es möglich war, daß im Verwaltungsbereich des hessischen Agrarministers — Hessisches Bildungsseminar für die Agrarverwaltung — ein Fragebogen zustande gekommen ist, den Sie dann erfreulicherweise zurückgezogen haben, obwohl er draußen im Lande schon längst verteilt war. Er ist gemacht worden, um u. a. zu prüfen, welche Zuschüsse gezahlt werden können. Ich will das nicht alles vorlesen; es ist ein ganzes Buch.
— In Ihrem Interesse nicht. — Unter 1 a steht: Speisenplan und verwendete Lebensmittel. Ordnen Sie Ihren Wochenspeisenplan in die aufgeführten Stufen ein,
und kreuzen Sie die für Ihren Haushalt zutreffende Stufe an. — Stufe 1 bedeutet: überwiegend zwei Gänge, entweder Suppe plus Hauptgericht oder Hauptgericht und Dessert. Stufe 2 bedeutet: überwiegend drei Gänge, Suppe, Hauptgericht und Nachtisch. Hier ist nicht aufgezählt, ob mit Nachtisch Pudding oder was weiß ich alles gemeint ist. — Das kann doch wohl nicht wahr sein!Sie tun so, als wären hier manche Bürgerrechte in Frage gestellt. Sie selbst haben mit einem solchen Fragebogen eine Ausschnüffelung betreiben wollen, die widerwärtig ist.
Sie von den GRÜNEN waren bisher die Koalitionspartner, die diese Geschichte haben durchgehen lassen. Gott sei Dank war der Widerstand der hessischen Landwirte groß genug, um diesen Unsinn zurückziehen zu lassen.Dann stellen Sie sich hierher und verkünden, dies sei alles eine gute Politik gewesen, brechen die Koalition, um den Wählern vorzugaukeln, Sie könnten nicht mehr miteinander operieren, erklären auf dem Parteitag der SPD in Hessen, Sie seien für den Ausstieg aus der Kernenergie, aber gleichzeitig sagt Herr Krollmann, in das Regierungsprogramm würde er das jedoch nicht übernehmen. Die GRÜNEN erklären: Wir wollen aussteigen. Das Ganze bieten Sie dem hessischen Wähler als eine Möglichkeit an, in Zukunft in Hessen Politik zu machen. Das Gegenteil ist der Fall. Die hessischen Wähler werden Ihnen im Gegensatz zu dem, was Sie sagen, Herr Kleinert,
beweisen, daß diese Politik des ständigen Herabwirtschaftens ein Ende hat. Hessen wird nach dem 5. Aprilin bessere Hände kommen, als es bisher der Fall gewesen ist.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung fortgesetzt. Ich unterbreche die Sitzung.
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Wir setzen die Aussprache über die Regierungserklärung fort.
Wir sind in der Debatte über Umweltfragen. Dazu liegen noch vier Wortmeldungen vor.
Wenn meine Zeitabschätzung richtig ist, bedeutet das, daß danach gegen 15.00 Uhr die Abstimmungen stattfinden werden, von denen der Präsident heute morgen gesprochen hat. Darunter sind zwei namentliche Abstimmungen. Ich teile also mit, daß etwa für 15.00 Uhr mit den namentlichen und den anderen Abstimmungen zu rechnen ist.
Nun hat der Abgeordnete Hauff das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir behandeln in der Aussprache zur Regierungserklärung in der Tat das Thema Umweltschutz. Ich wende mich diesem Thema zu.Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat vor vier Jahren beantragt, den Umweltschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen. Das hat die Koalition damals abgelehnt — die einen mit einem sehr guten Gewissen, die anderen mit einem schlechten Gewissen. Mittlerweile hat sich das nach der Koalitionsvereinbarung geändert. Das begrüßen wir. Das ist ein gutes Zeichen.Aber eine solche Grundgesetzänderung setzt Maßstäbe und schafft Erwartungen. Gemessen an diesen Erwartungen, sind die Regierungserklärung und die Koalitionsvereinbarung enttäuschend.
Vor einem Jahr ereignete sich die größte Katastrophe industrieller Produktion in der Geschichte der Menschheit. 1 500 km von uns entfernt, in Tschernobyl, ging ein Reaktor in die Luft. Tschernobyl hat die Welt verändert.Darüber findet sich in dieser Regierungserklärung kein einziges Wort. Weder Tschernobyl noch der Sachverhalt kommen überhaupt vor. Damit setzt man sich überhaupt nicht auseinander.Damals wurden 570 Millionen Menschen in Europa mit zusätzlicher Radioaktivität belastet. Damals trugen — ich bin sicher, da werden noch unangenehme Erkenntnisse auf uns zukommen — 5 Millionen Mütter in Europa werdendes menschliches Leben in
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Dr. Hauffihrem Körper. Noch lange, noch viele Generationen, werden die Folgen dieses Unfalls auf uns lasten. Selbst nach den Angaben des Politbüros der KPdSU sind dort 1 000 qkm für viele Generationen nicht mehr bewohnbar. Aber die Bundesregierung meint, zu alldem brauche man nichts zu sagen; das sei nicht Gegenstand von Beratungen.Vor einem halben Jahr wurde durch eine weitere Technikkatastrophe — in Basel bei Sandoz — die Welt aufgeschreckt. Das Leben im Rhein wurde vernichtet. Es wird Jahre dauern, bis sich der Rhein wenigstens einigermaßen wieder erholt hat.Auch dazu kein einziges Wort in der Regierungserklärung. Der Sachverhalt kommt überhaupt nicht vor. Das beschäftigt die Bundesregierung offensichtlich gar nicht. Damit braucht man sich nicht auseinanderzusetzen. Darüber kann man hinweggehen. Dabei sind das Mahnzeichen.
— In der Tat: Jedermann redet über dieses Problem, nur diese Bundesregierung nicht.
Das sind Mahnzeichen, Warnzeichen für eine Entwicklung, die uns zur Auseinandersetzung zwingen.Ich zitiere in diesem Zusammenhang gern den Herrn Bundespräsidenten. Er hat gesagt: Die Umweltkrise — er hat dieses Wort in den Mund genommen — zwingt zum Innehalten, zur Neubewertung und zum Nachdenken.
Der nach Tscherbobyl zur politischen Entsorgung ins Kabinett geholte Umweltminister Wallmann ist alles andere als ein Anwalt der Umwelt.
Nach Tschernobyl hat sich gezeigt: Er ist ein bedingungsloser Anwalt der Kernenergie. Nach Sandoz hat sich gezeigt: Er ist ein Anwalt der Großchemie, er ist ein Anwalt der Mächtigen. Er will nicht innehalten und neu bewerten, sondern er will festhalten und durchsetzen. Deswegen ist die Botschaft, die von dieser Regierung ausgeht, auch auf umweltpolitischem Gebiet dieses blasse und platte „Weiter so".Dabei geht es um unsere Zukunft. Die Überschriften in der Regierungserklärung sind ja durchaus richtig, auch die Überschriften von Herrn Wallmann. Es wurde ein großes Sammelsurium von sehr attraktiven Sprechblasen heute morgen vor dem Deutschen Bundestag ausgebreitet. Nur, die Regierungserklärung bietet statt Zukunftsperspektiven einen Warenhauskatalog, einen Flickenteppich von einzelnen Maßnahmen an. Begriffe werden besetzt, die groß klingen, z. B. „Die Schöpfung bewahren" . Und wie sieht die Wirklichkeit aus? Ich zitiere aus der Drucksache 10/3993, einer Antwort der Bundesregierung:... Sind ... 53 % der Säugetiere, 53 % der Vögel, 70 % der Kriechtiere, 60 % der Lurche, 48 % der Fische und 70 % der Weichtiere gefährdet bzw. vom Aussterben bedroht.Gemessen an dieser Herausforderung — schon mit der richtigen Überschrift „Die Schöpfung bewahren" — wird diese Regierungserklärung auf umweltpolitischem Gebiet keinen Bestand haben. Ich glaube, daß unser Kollege Grünbeck mit Recht gesagt hat,
es sei eine wachsweiche Erklärung zum Umweltschutz, zum Umweltschutz sei nicht ein einziger konkreter Satz enthalten.
Auf jeden Fall ist eines sicher: Diese Regierung hat keine Kraft zur Zukunft. Sie hat nicht die Fähigkeit, über den Tag hinauszudenken, auf jeden Fall nicht die Fähigkeit, über eine Legislaturperiode hinauszudenken. Wer die Probleme auf umweltpolitischem Gebiet lösen will, muß aber über eine Legislaturperiode hinausdenken, muß fähig sein, auch Fehlentwicklungen nicht nur zu erkennen und zu benennen, sondern daraus auch praktische Konsequenzen zu ziehen.In der Regierungserklärung wird alles und nichts angesprochen. Ihre umweltpolitischen Ankündigungen lesen sich wie ein Einkaufszettel, den man am Freitag mit in den Supermarkt nimmt, wenn man zum Wochenende einkaufen will.
Das ist zwar alles nicht ganz falsch, aber die wirklich entscheidenden Probleme, die über den Tag hinausweisen, werden nicht angepackt, die werden verdrängt, z. B. in der Kernenergie. Ich will jetzt nicht unsere Position darstellen,
sondern will mich gern darum bemühen, eine rationale Diskussion zu ermöglichen. Herr Fellner, Ihr Kollege Biedenkopf hat gesagt, wir sollten in 20 bis 30 Jahren aus der Kernenergie aussteigen.
— Das ist seine Position. — Graf Lambsdorff hat gesagt, in 50 bis 70 Jahren sollte man aussteigen. Herr Stoltenberg hat gesagt, eines Tages sollte man aussteigen.
Herr Genscher hat wörtlich gesagt, das sei eine Übergangslösung und man sollte bitte so schnell wie möglich aussteigen.
Ich nehme das einmal alles so hin und sage: Wenn das ernst gemeint ist, dann ergäben sich daraus, selbst wenn man 50 Jahre zugrunde legt, was ich für falsch halte, eine ganze Reihe von harten und klaren Konsequenzen. Dann macht es keinen Sinn, den Schnellen
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Dr. HauffBrüter in Betrieb zu nehmen, wenn man in 50 Jahren aussteigt.
Dann macht es keinen Sinn, die Wiederaufarbeitung zu betreiben. Dann müßte die Priorität Nummer eins wirklich das Energiesparen sein, dann müßte man Kohlevorrangpolitik betreiben, dann müßten die Alternativen wirklich ernsthaft vorangetrieben werden. Nur, auf all diesen Gebieten macht die Bundesregierung ganz genau das Gegenteil. Sie versucht, den Schnellen Brüter auf Teufel komm raus durchzusetzen, die Wiederaufarbeitungsanlage trotz erwiesener ökonomischer Unsinnigkeit mit Polizeigewalt durchzusetzen. Sie macht die Kohlevorrangpolitik kaputt, sie läßt das Fernwärmeprogramm auslaufen und zerstört damit den wichtigsten Bereich der rationellen Energieverwendung, und sie hat die Mittel für die nichtnukleare Energieforschung gekürzt. Kein Ansatz einer zukunftsorientierten Energiepolitik, die wirklich über den Tag hinausgeht.
Sie hat, gemessen an dem, was in der Finanzplanung ursprünglich vorgesehen war, die Mittel pro Jahr um 200 bis 300 Millionen DM gekürzt. Das ist die Wirklichkeit. Daß Sie es nicht wissen, Herr Fellner, macht die Sache eher noch schlimmer, aber keineswegs verständlich.
Mein Eindruck ist, daß die Bundesregierung nicht den Konsens, sondern die Konfrontation sucht. Ich und viele andere fragen sich, warum diese Regierung die großtechnische Verarbeitung von Plutonium per Weisung anordnet, wo doch jeder weiß, das Plutonium einer der gefährlichsten Stoffe ist; ein Stoff, der über Jahrtausende, über mehrere zehn Jahrtausende hinweg seine Giftigkeit behält. Plutonium ist ein künstlicher Stoff, der in der Natur überhaupt nicht vorkommt. Das ist Menschenwerk, das da entsteht, und das ist eine riesige Gefahr für die Zukunft, die uns belastet. Das ist eine Hypothek für kommende Generationen. Da sagen wir: Diese Hypothek darf nicht weiter ausgebaut werden. Deswegen haben wir hier im Deutschen Bundestag den Antrag gestellt, daß die unsinnige Weisung des Herrn Wallmann an die hessische Landesregierung endlich zurückgenommen wird.
Sie fühlen sich stark genug, in Wackersdorf die weltweit größte zivile Plutoniumanlage zu bauen. Diese Bundesregierung verwandelt unsere Industriegesellschaft in eine Risikogesellschaft. Dabei sind Sie noch nicht einmal in der Lage, Herr Wallmann, 7 000 Tonnen verstrahltes Molkepulver aus dem Verkehr zu ziehen und wirklich unschädlich zu machen. Aber die größte Plutoniumanlage wollen Sie bauen!
Ich komme noch einmal auf die Regierungserklärung zurück. Es ist ein leerer, ein überhaupt nicht weiterhelfender Satz, wenn der Bundeskanzler sagt: Jeder Fortschritt hat sein Risiko. Als ob das irgendjemand bezweifeln würde! Das ist überhaupt nicht dieFrage, die sich stellt, sondern die Frage, die sich für dieses Land, für uns alle stellt, ist: Welchen Fortschritt wollen wir eigentlich, und welches Risiko sind wir eigentlich bereit, für uns und für kommende Generationen auf uns zu nehmen?
Wir sagen: Wir wollen raus aus der Atomkraft. Herr Kollege Wallmann, Ihnen mag die Gemeinsamkeit von grünen Fundamentalisten und schwarzen Fundamentalisten wehtun. Als ob es zur Kernenergie nur die Position gäbe: Entweder bekenne ich mich vorbehaltlos dazu, oder ich lehne das vorbehaltlos ab! Das war und wird nie eine Position sein, die in der SPD als einer Partei, die von der Industriegesellschaft geprägt ist, mehrheitsfähig sein wird. Wir müssen vielmehr die Risiken schrittweise abbauen und durch konkretere Fortschritte dazu kommen, daß das, was wir als Gefahr erkannt haben, auch tatsächlich abgebaut wird.
Dazu brauchen wir neue Techniken, Innovationen, Geräte, Anlagen, Autos, die Energie besser nutzen, die neue Energiequellen erschließen. Es kann tatsächlich nur gelingen, wenn wir alle die Ärmel hochkrempeln, wenn wir uns anstrengen, wenn wir bei den Technikern und Ingenieuren in der Wirtschaft auch die Bereitschaft schaffen, aufzubrechen, uns ein Ziel zu setzen, wie wir die Risiken tatsächlich verringern können.Nicht derjenige ist technikfeindlich, der aus der Atomkraft herauswill, sondern derjenige, der behauptet, man müsse auf jeden Fall an ihr festhalten. Neue Technologien und neue Erkenntnisse entstehen nur dort, wo die Bereitschaft da ist, zu neuen Ufern auf zu-brechen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Die Kernenergie erlaubt uns wirtschaftlich die Verwirklichung des Jahrhundertvertrages mit seiner Kohleabnahmegarantie." Meine Damen und Herren, wenn Sie den Satz in aller Ruhe noch einmal durchlesen, dann erkennen Sie sehr rasch, was da wirklich gemeint ist. Die Kohlevorrangpolitik wird aufgegeben, es gibt eine Atomvorrangpolitik, und die Kohle wird zur Restgröße, die noch den Restbedarf in unserem Energiesystem zu befriedigen hat.Sie glauben nach wie vor an das Märchen vom billigen Atomstrom. Ich frage Sie: Wie kann man denn die Kosten beziffern, solange man noch nicht einmal weiß, wie die Entsorgung technisch aussieht und wie es technisch aussieht, wenn man Kraftwerke abreißen muß? Da soll doch niemand behaupten, daß man dann wisse, wie billig das ist! Wie hoch sind eigentlich die Kosten, die bei Unfällen wirklich entstehen, wenn es dazu kommt? Ist das in diesen Überlegungen alles wirklich enthalten? Nein, es ist nicht enthalten, und Sie lassen für diese Illusion über die Billigkeit des Atomstroms Tausende von Arbeitsplätzen an Ruhr und Saar über die Klinge springen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 183
Dr. HauffEine Regierungserklärung von zweieinhalb Stunden, aber kein einziger Satz zu dem zentralen Problem der Kohlevorrangpolitik, das ansteht, nämlich zum Kohlepfennig! In zweieinhalb Stunden kein Wort dazu!
Alles deutet darauf hin, daß Sie dabei sind, die Kohlevorrangpolitik für dieses Land aufzugeben. Zu der Frage, was mit dem Kohlepfennig passiert, wäre eine konkrete politische Absichtserklärung notwendig gewesen. Darauf hat man nicht nur an Rhein und Ruhr und an der Saar gewartet, sondern darauf haben viele Menschen gewartet, und sie sind enttäuscht worden.In der Regierungserklärung wird von Solidarität gesprochen. Nur, noch nie seit Ludwig Erhard hat eine Bundesregierung in der Energiepolitik so wenig Solidarität mit den Bergleuten gezeigt wie diese Bundesregierung.
Ein zweites großes Problem: die Chemie. Für sie ist die Bundesrepublik ein wichtiger Standort. Nur, auch für die Chemie gilt, was der Deutsche Gewerkschaftsbund in seinem Umweltprogramm festgehalten hat: Nur umweltverträgliche Arbeitsplätze sind sichere Arbeitsplätze. Sie, Herr Wallmann, sagen, Sie ließen die Arbeiter in den chemischen Werken nicht hängen. Wir haben uns zwei Jahre lang mit der IG Chemie zusammengesetzt und ein Konzept für eine umweltverträgliche Chemiepolitik definiert, mit Zustimmung der Gewerkschaften. Sie waren überhaupt nicht bereit, mit ihnen zu reden. Sie haben unsere Anträge, die auf dieser Grundlage basierten, abgelehnt und abgeschmettert, allerdings vor dem Unfall bei Sandoz. Danach ist dann manches ein bißchen ins Wanken geraten, haben Sie auch manches bereut.Sie wiederholen jetzt — das sage ich Ihnen — genau den gleichen Fehler bei der Diskussion über die Altlasten, ein riesiges Problem, das uns die nächsten zehn bis 15 Jahre in Atem halten wird, weil nämlich Kosten von 20 bis 50 Milliarden DM — man kann es gar nicht genau beziffern, die Experten sind sich uneinig — auf uns zukommen. Es ist ein Risiko für die Trinkwasserversorgung, ein Risiko, das eine tickende Zeitbombe darstellt. Sie müssen wir entschärfen. Die Städte und Gemeinden sind bei der Lösung dieses Problems überfordert. Sie können es nicht allein lösen, übrigens auch in anderen Ländern nicht, wo man das Problem wirklich angegangen ist, z. B. in den USA.Da frage ich: Wo ist denn Ihr Zukunftskonzept, um die Bundesrepublik von diesen Lasten zu befreien, bei denen niemand weiß, was morgen passiert?Wir haben dazu ein Konzept vorgelegt, das eine bundeseinheitliche Regelung und einen Entgiftungsbeitrag der deutschen Industrie vorsieht. Zu dem ganzen Thema heißt es dann in der Koalitionsabsprache gerade noch: Forschungsvorhaben zur modellhaften Sanierung von Altlasten, ohne das Verursacherprinzip und die Verantwortlichkeit der Länder in Frage zu stellen. Ich sage Ihnen: Das reicht nicht aus. Das ist nicht Zukunft, das ist Hingewurschtle. Sie sind nicht in der Lage, über die Zukunftsprobleme wirklich zu reden und vorhandene Strukturen aufzubrechen, sondern alles, was Sie tun können, ist, in den bestehenden, verkrusteten Strukturen zu denken und zu sagen: Weiter so, lassen wir das treiben, und lassen wir die Länder und die Gemeinden allein.
Arbeit und Umwelt — ein anderes wichtiges Thema. Der zweite Teil der Regierungserklärung, die Überschrift lautet: Die Zukunft gewinnen; eine aus dem Wahlkampf hinlänglich bekannte Wortschöpfung. Nur, Zukunft kann man nur gewinnen, wenn man ausgetretene Pfade verläßt, wenn Politik wirklich Mut zur Zukunft aufbringt. Wer nur — und jetzt zitiere ich wörtlich — einen ökologischen Ordnungsrahmen zur Sozialen Marktwirtschaft beigeben will und nicht sagt, wo, wie und was er an den Rahmenbedingungen ändern will, der betreibt reines Wortgeklingele.Ich will zwei Fragen formulieren, bei denen ich fest davon überzeugt bin, daß sie für die Zukunft unseres Landes umweltpolitisch von großer Bedeutung sind.Erste Frage: Was machen wir eigentlich auf all den Gebieten, wo wir das Verursacherprinzip nicht oder nicht vollständig anwenden können, vor allem bei den Altlasten, aber nicht nur dort? Darauf muß man eine Antwort finden.Die zweite umweltpolitische Frage — wenn man wirklich über den Tag hinaus sieht und nicht nur Gesetzesflickerei betreibt — : Wie schaffen wir es eigentlich, daß die umweltpolitischen Schnelläufer, diejenigen, die bereit sind, sehr viel mehr zu tun und weiter zu gehen als das, was im Augenblick Stand der Technik und der Gesetzgebung ist, gefördert werden, damit ein ökonomischer Anreiz da ist, daß dieses Land auf diesem Gebiet Spitze wird?
Wie können wir erreichen, daß sich die Erkenntnis durchsetzt, daß die gesamte Umwelttechnik eine wichtige Zukunftsindustrie ist und daß wir dabei nicht bei dem stehenbleiben dürfen, was gesetzlich für alle vorgeschrieben ist? Wir müssen die Dynamik unserer Wirtschaft nutzen, um neue Technologien zu entwikkeln, um Neues voranzubringen.Das sind die beiden Fragen. Wir haben uns damit beschäftigt und eine Antwort formuliert, einen ganz konkreten Vorschlag. Es ist das Sondervermögen Arbeit und Umwelt, das auf zehn Jahre angelegt ist und mit dem wir in diesen zehn Jahren wirklich strukturelle Veränderungen erreichen können. Sie haben das abgelehnt. Nur sage ich Ihnen, mit der Ablehnung unserer Antworten werden die Fragen noch lange nicht gegenstandslos.
Mit diesen Fragen müssen Sie sich endlich auseinandersetzen, und Sie müssen Ihre Antworten darauf formulieren.Mit diesem Konzept können wir auf marktwirtschaftlicher Grundlage rund 1 % des Bruttosozialprodukts der Bundesrepublik, d. h. ca. 20 Milliarden DM, für neue Arbeitsplätze und für neue, moderne Technologien in Gang setzen. Das ist unser Zukunftsbegriff. Wir geben den mutigen und risikofreudigen Unternehmen, die bei uns investieren wollen einen
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184 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Dr. HauffImpuls, und wir schaffen damit Hunderttausende von Arbeitsplätzen. Wir dürfen nicht immer nur am Ende ansetzen, sondern müssen unseren Produktionsprozeß selbst umgestalten. Nur der, der das versucht, hat eine Chance, des schleichenden Prozesses der Naturzerstörung und der wachsenden Zivilisationsrisiken Herr zu werden. Natur bewahren, Gesundheit erhalten, das verlangt mehr als nur eine ökologische Beigabe zur Marktwirtschaft.Meine Damen und Herren, Wohlstand und Reichtum in unserem Lande werden in der Zukunft auch daran gemessen werden, ob unsere Wirtschaftsweise, unsere Art des Produzierens und Konsumierens, im Einklang mit den Gesetzen der Natur steht. Wir müssen die Gesetze der Natur mehr achten, als wir es bisher getan haben, und wir müssen mehr für die Vorsorge und für die Gesundheit der Menschen tun, als wir bisher getan haben. Neben der Friedenssicherung ist das in der Tat das große Problem, das vor uns liegt, die große Aufgabe meiner Generation.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Nein, ich bin gleich am Ende, und meine Zeit geht auch zu Ende.
Nur derjenige, der den Umweltschutz nicht mehr als etwas versteht, was zusätzlich zur Wirtschaftspolitik oder nebenbei geschieht, nur derjenige, der erkennt, das ökonomische Probleme ohne eine stärkere Beachtung ökologischer Kriterien überhaupt nicht gelöst werden können, nur derjenige, der von der Voraussetzung ausgeht, daß es einen engen Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Umwelt gibt und daß wir diesen Zusammenhang bei unseren Entscheidungen stärker beachten müssen, wird auch Erfolg haben.
Das ist zunächst ein tiefer Eingriff in unser Denken und in vielerlei Gewohnheiten, die wir haben. Diese Zäsur in der Philosophie des Wirtschaftens ist von dieser Bundesregierung nicht begriffen worden, immer noch nicht. Ich hoffe, daß sie irgendwann begriffen wird. Zu Beginn einer Legislaturperiode wäre Platz dafür gewesen, sich mit diesem Problem wirklich gründlich und inhaltlich auseinanderzusetzen.
Deswegen bleibt es dabei: Die fehlende Erkenntnis über das, was eine solche Gestaltung der wirtschaftlichen Entwicklung verlangt, ist jenseits von vielen positiven Einzelaspekten die traurige Botschaft, die von dieser Bundesregierung umweltpolitisch ausgeht.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Laufs.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Koalition hat sich für die 11. Wahlperiode in der Umweltpolitik umfassende und zugleich sehr konkrete Ziele gesetzt.
Vor uns liegt das ehrgeizigste Umweltprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Die Wochenzeitung „Die Zeit" hat das „respektabel" genannt, allerdings zu Recht darauf hingewiesen, daß dieses Programm erst noch durchgesetzt werden muß. Dies ist unser Wille. Unser Land soll in den nächsten vier Jahren einen großen umweltpolitischen Sprung nach vorn machen. Wir fordern die Opposition dazu auf,
konstruktiv mitzuwirken. Der Beitrag des Kollegen Hauff war in diesem Zusammenhang allerdings nicht sehr ermutigend.Die SPD sollte vorsichtig sein, eine Diskussion über die praktischen Ergebnisse ihrer eigenen Umweltpolitik, etwa bei der hessischen Müllentsorgung, zu provozieren. Man kann die Stationen rot-grüner Unzulänglichkeiten nicht oft genug bewußt machen. Die hessische Abfallverordnung mußte wegen Rechtswidrigkeit eingestampft werden. Die als Hausmülldeponie für Südhessen geplante Grube Messel, in welche bereits 40 Millionen DM investiert sind, wurde fallengelassen. Die mit 55 Millionen DM für industrielle Sonderabfälle nahezu fertiggestellte Deponie Mainhausen mußte als Investitionsruine abgeschrieben werden.
Der hessische Mülltourismus hat unter grüner Verantwortung vorher kaum vorstellbare Ausmaße erreicht. Es wurde nicht nur Sondermüll munter in die DDR geschickt;
der Versuch, 10 000 Tonnen zwischengelagerter Filterstäube in die Steiermark zu verschieben, nahm ein klägliches Ende. Die Sondermüllverbrennungsanlage in Biebesheim liegt still. Alle Entsorgungskanäle sind derzeit verstopft. Die mit großem Aufwand getrennt eingesammelten Batterien, Farben und Medikamente türmen sich auf städtischen Bauhöfen auf.Meine Damen und Herren, die rot-grüne Regierung hat aus dem hessischen Müllnotstand ein Müllchaos gemacht.
Viel Wind und wenig Leistung, kann man dazu nur sagen.
Das ist der Unterschied zwischen schönen Reden und praktischen Taten.
Das muß sich am 5. April endlich wenden.
Meine Damen und Herren, wir werden unsere moderne Industriegesellschaft weiterentwickeln. Wir
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 185
Dr. Laufswerden sie umweltverträglich machen und die technischen Risiken minimieren.
Risiken, die man selbst nicht abschätzen kann, die man nicht selbst erfahren hat, werden als besonders bedrohlich und unheimlich empfunden. Unsere Aufgabe ist es, Risiken nüchtern zu erkennen, zu bewerten und zu beseitigen und nicht Angste in der Bevölkerung zu schüren und politisch auszuschlachten.Beim Stichwort Plutonium verbreitet sich nirgendwo das Gefühl seliger Behaglichkeit, in der Tat: bei niemandem. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, daß seit Jahrzehnten in vielen Industrienationen allein bei der friedlichen Kernenergienutzung große Mengen Plutonium erzeugt werden, die wieder in Kernreaktoren verbrannt und dadurch beseitigt werden. Es gibt umfangreiche Erfahrungen mit den Gefahren und der erforderlichen Sicherheitstechnik bei der Nutzung dieses Transurans. Der Kollege Hauff erklärte am 11. März — und der heute vorliegende Entschließungsantrag der SPD wiederholt dies — , daß beim großtechnischen Umgang mit Plutonium die Lebensgrundlagen der Menschen in ihrer Existenz bedroht würden.Meine Damen und Herren, dies ist eine ganz und gar unsachliche, unerhört unverantwortliche und falsche Behauptung. Der Kollege Hauff müßte eigentlich wissen, in welchem Umfang und wie seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland mit Plutonium umgegangen wird; gerade auch während seiner eigenen SPD-Regierungszeit.
Waren Sie nicht mit uns der Meinung, daß die Verbrennung des Plutoniums aus den Leichtwasserreaktoren zur Energieerzeugung die beste Art seiner schadlosen Beseitigung darstellt? Wollen Sie denn auch das Plutonium nun auf Lagerplätzen sich auftürmen lassen?
Als Forschungsminister haben Sie am 20. April 1978 in diesem Hause zur Nutzung auch des Plutoniums gesagt:Bei den fortgeschrittenen Reaktorsystemen, dem Hochtemperaturreaktor wie dem Schnellen Brüter, geht es darum, die Forschung und die Entwicklung weiter verantwortlich voranzutreiben, weil beiden Systemen als Zukunftssicherung für unser hochindustrialisiertes Land große Bedeutung in der Energieversorgung zukommen kann.Das sind Ihre Worte, Herr Kollege Hauff, aus einer Zeit, als Sie politische Verantwortung trugen. Wir führen in Kalkar, Hanau und Wackersdorf mit enorm verbesserter Sicherheit das weiter, was Sie begonnen haben. Ich weiß, Sie distanzieren sich heute von Ihrer damaligen Politik.Staatsminister Krollmann tut dies heute hier mit dem Hinweis auf die Spotmarktpreise des heutigen Uranmarktes. Auch Sie, Herr Kollege Hauff, habenauf die ökonomischen Aspekte der Gegenwart hingewiesen.Es ist ja gerade so bedrückend, daß die Sozialdemokratie die Entscheidung über eine langfristig angelegte Energieversorgungsstrategie — der Reaktor in Kalkar soll doch als Prototyp einer Energietechnik des kommenden Jahrhunderts erprobt werden — , die Entscheidung über diese existentielle Frage der Opportunität des Augenblicks,
der Stimmung des Tages unterwirft.
Wenn Sie hier die Katastrophe von Tschernobyl in die Debatte bringen, bin ich mit Ihnen ja in einer Hinsicht einig: Es ist tatsächlich höchst beklagenswert, daß die Sowjetunion einen inhärent unsicheren Reaktortyp ohne die Mindestausstattung an Sicherheitstechnik in großer Zahl betreibt. Diese Atomkraftwerke wären in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt nicht genehmigungsfähig. An der Beherrschbarkeit und Verantwortbarkeit deutscher Kernenergienutzung hat Tschernobyl aber nicht das geringste geändert.
Geändert hat sich nur die Position der SPD. Man kann es nur als unseriös bezeichnen, wie die SPD Harrisburg, Tschernobyl, Alkem, Nukem und deutsche Reaktortechnik zusammen in einen Topf wirft und mit den Schlagworten „existenzbedrohend" und „hochgiftig" etikettiert.
Das hat mehr mit Hexenwahn als mit rationaler Politik zu tun.
Meine Damen und Herren von der Opposition, beide Arten der Blindheit kommen meist zusammen: Wer nicht sieht, was ist, meint zu sehen, was nicht ist.
Zum hessischen Normenkontrollverfahren kann man nur sagen: Der hessische Landtagswahlkampf läßt grüßen. Seit geraumer Zeit schon kündigt die hessische Landesregierung den Gang nach Karlsruhe an. Gestern hat sich die hessische Landesregierung endlich zu einer Normenkontrollklage durchgerungen; sie kündigt sie jedenfalls an. Sie geht damit einem Bund-Länder-Streit nach Art. 93 des Grundgesetzes, der einzig zutreffenden Klageart, aus dem Weg, offensichtlich weil sie zu Recht befürchtet, vor dem Bundesverfassungsgericht zu verlieren. Meine Damen und Herren, sie hätte den Normenkontrollantrag schon seit 1975, d. h. bei Inkrafttreten der dritten Novelle zum Atomgesetz, stellen können. Dieser Feststellung ist nichts hinzuzufügen.
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Dr. LaufsSelbst die „taz" bringt heute
unter den Überschriften „Hessens Alkem-Klage ist dünn" und „Vorsicht, Roßtäuscher! ", Herr Kollege Vogel, Totalverrisse dieser hessischen Klageabsicht. Um so gravierender ist der eklatante Verfassungsbruch der hessischen Genehmigungsbehörde, der darin besteht, den Vollzug der Weisung abzulehnen, was übrigens bisher nur über die Presse mitgeteilt worden ist. Dies ist ein einmaliger Vorgang in der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das ist nichts anderes als die Ausübung des Faustrechts im Bund-Länder-Verhältnis.
Wenn wir uns Ihren Antrag vornehmen, dann müssen wir feststellen: Es ist die blanke Unwahrheit, wenn Sie im Zusammenhang mit Alkem unterstellen, es handle sich um den Einstieg in die großtechnische Plutoniumwirtschaft und ihre massive Ausweitung. Die Erhöhung der innerbetrieblichen Umgangsmenge bei Alkem hat zunächst nichts mit Produktionsausweitung, sondern mit der Verbesserung der Sicherheit für die Menschen zu tun; durch Verminderung der Transporte und Verkürzung der Wege.Sie fordern vom Deutschen Bundestag heute eine besondere politische und rechtliche Bewertung. Die Koalition nimmt diese Beurteilung in ihrem Antrag vor und trägt die Weisung des Bundesumweltministers an die hessische Landesregierung ohne Einschränkung mit.Es ist ja richtig: Die physikalisch-technischen Zusammenhänge sind so kompliziert, daß man sie in ihrer großen Fülle nicht mehr vermitteln kann.
Komplizierte Technik verzerrt und verfälscht zur politischen Agitation zu mißbrauchen war bisher eine Spezialität der GRÜNEN.
Die SPD eifert den GRÜNEN nach und sieht nicht gut dabei aus. Eine Klarheit der politischen Linie in der SPD zwischen dem Arbeitnehmerinteresse und ihrer Aussteigermentalität ist nicht mehr zu erkennen.
Eine Partei, die mit sich selbst entzweit ist wie Sie — man kann es in Hessen ganz besonders gut studieren — , ist unfähig zu regieren.Unser umweltpolitisches Programm hat klare Prioritäten und ist realistisch.
Wir betreiben, Herr Kollege Hauff, keine Flickschusterei, sondern wir gehen systematisch vor. Die Staatszielbestimmung Umweltschutz im Grundgesetz wirdein Zeichen für die besondere ökologische Verpflichtung unserer Sozialen Marktwirtschaft sein.
— Ich bestätige gern, Herr Kollege Hauff, daß meine Freunde und ich eine solche Verankerung im Grundgesetz wegen der in unserer Verfassung bereits geregelten Umweltschutzaufgaben und der bestehenden verfassungsrechtlichen Verpflichtungen früher nicht als vordringlich angesehen haben.
Es wäre redlich, meine Damen und Herren von der SPD, ebenso deutlich auszusprechen, daß ein solcher Grundgesetzartikel allein die praktischen Umweltprobleme überhaupt nicht lösen kann.
Das Staatsziel Umweltschutz soll ein ständiger Orientierungspunkt für Gesetzgeber, Verwaltung und nicht zuletzt jeden einzelnen Bürger sein.
Keine Verfassungsbestimmung kann uns aber im Deutschen Bundestag in den nächsten Jahren abnehmen, den Ausgleich zwischen den natürlichen und den von Menschen geschaffenen Lebensgrundlagen zu finden und konkrete Handlungsanweisungen zu geben. Dabei sollte uns stets bewußt sein, daß der Umweltschutz für den Menschen da ist. Das ist für die Unionsparteien, die Umweltschutz aus christlicher Verantwortung betreiben, eine Selbstverständlichkeit.
Wir können Ihnen, der Opposition, nicht verbieten, auf jeden Störfall mit Panikmache und auf jeden angeblichen Umweltskandal mit dem nächsten Ausstiegsbeschluß zu antworten.
Wir bieten Ihnen aber eine konstruktive Mitwirkung bei unserer Politik für die Umwelt an.Meine Damen und Herren, wir sind entschlossen, die nächsten vier Jahre für den Umweltschutz praktisch zu nutzen. Folgen Sie uns dabei!Vielen Dank.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Garbe.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ich werde in meinem Redebeitrag nicht auf das Thema Atomenergie eingehen. Dazu spricht meine Kollegin Frau Rust. Lassen Sie mich zu
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 187
Frau Garbeden anderen Bereichen im Umwelt- und Naturschutz folgendes ausführen:Die Zerstörung der Umwelt ist eine Grundrechtsverletzung. Deshalb muß der Umweltschutz auch als einklagbares Grundrecht im Grundgesetz verankert werden; das heißt, wenn man die Absicht hat, der Zerstörung der Umwelt Einhalt zu gebieten. Alles andere sind Halbheiten, und Herr Laufs hat das soeben bestätigt. Es werden also keine Verbesserungen im Bereich des Umweltschutzes zu erwarten sein. Das ist auch der Bundesregierung bekannt. Herr Waigel hat gestern ehrlicherweise auch vor zu hohen Erwartungen bei der Staatszielbestimmung im Grundgesetz gewarnt.Ich befürchte, meine Herren und Damen, der Begriff Umweltschutz muß den verantwortlichen Politikern dieser Bundesregierung erst noch einmal klargemacht werden. Der Begriff Umweltschutz ist nämlich nur für die Umweltschutzvorsorge gerechtfertigt. Den eingetretenen Schaden zu beseitigen — vorausgesetzt, es gelingt — ist demnach keine Umweltschutzmaßnahme; auch wenn Sie die modernste Technik einsetzen wollen, Herr Wallmann, bedeutet es immer ein kapitalintensives Nachtarocken. So ist auch der Bau von Kläranlagen keine Umweltschutzmaßnahme, sondern eine Selbstverständlichkeit. Die in den Koalitionsverhandlungen vereinbarte Einführung der dritten Reinigungsstufe fällt in dieselbe Rubrik.Es besteht kein zwingender Grund, weder technisch noch finanziell, daß Produktionsbetriebe immer noch ihre Giftstoffe in die Gewässer und in die Kanalisation leiten dürfen, um sie danach, wie gesagt, sehr energie- und kostenintensiv wieder herauszuholen. Herr Kohl sagte gestern in seiner Regierungserklärung, die Bundesregierung brauche Pläne zur Reduzierung von Giftstoffeinleitungen. Der Bundeskanzler ist nicht da, ich sage es dem Herrn Minister Wallmann: Wir brauchen keine Pläne mehr, sondern klare Verbote, damit den Brunnenvergiftern endlich das Handwerk gelegt werden kann.
Da wir nun schon bei den Giftstoffen sind, ein paar Bemerkungen zu den Vereinbarungen im Chemikalienbereich. Im Koalitionspapier steht z. B.: Senkung der Schwelle für Verbote und Beschränkungen von Stoffen und Stoffgruppen. — Meine Frage ist dabei: Ist Ihnen, Herr Minister Wallmann, die Schwelle immer noch zu hoch, obwohl schon lange bekannt ist, daß beim Umgang mit hochtoxischen Stoffen, z. B. bei der PVC-Produktion, Krebs entsteht, der dann auch als Berufskrankheit anerkannt wird? Reicht Ihnen die Kenntnis nicht aus, daß Giftstoffe am Arbeitsplatz Krebs und andere gefährliche Krankheiten verursachen — z. B. stehen Friseusen inzwischen in der Krebsstatistik weit oben —, um diese Produktionslinien und/oder die Anwendung dieser Produkte zu verbieten?
Sie, Herr Wallmann, haben dem Einstieg in eine noch größere Humanisierung am Arbeitsplatz das Wort geredet. Was muß denn noch passieren, ehe Sie handeln, Herr Minister? Was haben Sie getan bzw. was werden Sie tun, damit die umweltfreundliche,besser gesagt: umweltgerechte Produktion und die umweltgerechten Produkte der Normalfall sind und nicht, wie heute, umgekehrt?
Die Bundesregierung, meine Herren und Damen, behauptet, eine bürgernahe Politik zu betreiben und die Sorgen und Ängste der Bevölkerung ernst zu nehmen. Ich habe hier 476 Unterschriften von Bürgern und Bürgerinnen, die eine neue Chemiepolitik fordern und die dezidierte Vorschläge zu dieser Forderung unterbreiten, u. a. die Einführung des Fachs Ökologie an allen Schulen. Sie sollten diese Bitten und Forderungen wie auch unserem mehrfach vorgebrachten Antrag auf Einsetzung einer Entgiftungskommission endlich ernst nehmen. Der erneute Unfall bei der Hoechst-AG sollte Ihnen diese Entscheidung inzwischen doch wohl leicht machen, Herr Wallmann.
Die Kommission hätte die Aufgabe, Konversionszenarien für die verschiedenen Teilbereiche der Chemie zu erarbeiten und die Erforschung der sanften Chemie voranzubringen. Von einer Neuorientierung im Chemiebereich ist jedenfalls in den Koalitionsvereinbarungen nichts zu finden, meine Herren und Damen.
Welch großspurige Ankündigungen hat der Minister nach den Serienunfällen gemacht!
Eine konkrete Zielvorgabe wäre gewesen: In zehn Jahren ist der Rhein wieder so sauber, daß jeder darin schwimmen kann. — Das hätten die Menschen draußen verstanden und bei der gemeinsamen Anstrengung, das Ziel erreichen, sicher mitgeholfen.Zu dem Bereich der Luftreinhaltemaßnahmen, meine Herren und Damen, haben wir aus aktuellem Anlaß einen Entschließungsantrag eingebracht, der sich auf die heute und morgen stattfindende EG-Umweltministerratssitzung bezieht. Herr Wallmann, Sie haben noch im Dezember vorigen Jahres der Öffentlichkeit gegenüber erklärt, es gäbe keine wissenschaftlichen Erkenntnisse über die krebserzeugende Wirkung von Dieselabgasen. Dies haben Sie erklärt, obwohl Ihrem Ministerium bereits zu jenem Zeitpunkt ein Schreiben des Umweltbundesamtes vorlag, in dem ausgeführt wird — ich zitiere — : „daß grundsätzlich mit einem krebserzeugenden Potential von Dieselabgasen auch für den Menschen zu rechnen ist".Wir GRÜNEN haben diesen Tatbestand aufgedeckt und die Anwendung scharfer Grenzwerte für Dieselruß verlangt. Offenbar ist dies nicht ohne Wirkung geblieben. In den Koalitionsvereinbarungen wird eine Reduzierung der Partikelemissionen aus Dieselkraftfahrzeugen vereinbart, wie sie zur Zeit Standard in den USA sind.In unserem Entschließungsantrag fordern wir Sie nun auf, während der EG-Umweltministerratssitzung auf diesem US-Grenzwert zu bestehen und den For-
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Frau Garbederungen anderer EG-Staaten nicht nachzugeben, die einen bis zu dreifach schlechteren Grenzwert einführen wollen. Wir sind gespannt, ob sich die Koalitionsfraktionen an ihre eigenen Vereinbarungen halten und diesem Antrag zustimmen werden.Nun zu den Fluor-Chlor-Kohlenwasserstoffen. Die Bundesregierung tut hier so — Herr Wallmann hat zwar gar nicht darüber gesprochen, aber der Bundeskanzler gestern — , als ob sie eine Vorreiterstellung einnehmen würde. Dabei wird das Thema aber nun schon seit 13 Jahren regelrecht zerredet, und die Anstrengungen der Bundesregierung, FCKWs aus dem Verkehr zu ziehen, sind dabei gleich Null gewesen.
Aus einer Übersicht der eingesetzten Alternativtreibgase innerhalb der EG geht hervor, daß z. B. in den Niederlanden bereits 1979 bei 90 % der Spraydosen keine FCKWs mehr Anwendung fanden. Die Bundesregierung hätte ebenso handeln können. Sie hat es nicht getan und somit die Schäden an der Ozonschicht in der Stratosphäre mit den bekannten Folgen — Vermehrung von Hautkrebs, Störung der Photosynthese und möglicherweise irreversible Schäden für das Phytoplankton in den Weltmeeren — mitzuverantworten.Ich muß nun aus Zeitgründen leider übergangslos zum Verkehrsbereich noch ein paar Bemerkungen machen. Die Sanierung der mit über 38 Milliarden DM verschuldeten Bundesbahn ist in diesem Bereich die dringlichste Aufgabe in dieser Legislaturperiode, .
ebenso die rasche Entschuldung und ein umfassendes Investitionsprogramm. Im Zuge der bevorstehenden EG-Liberalisierung besteht die Gefahr einer weiteren Verdrängung des Güterverkehrs weg von der Schiene zugunsten des Straßengüterfernverkehrs. Dieser Entwicklung muß energisch entgegengetreten werden.Deshalb fordern die GRÜNEN die Einführung einer Schwerverkehrsabgabe für den Straßengüterfernverkehr. Güter gehören auf die sichere und umweltfreundliche Bahn und nicht auf die Straße.
Darüber hinaus gilt unsere alte Forderung, das längst überfällige Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen und 80 km/h auf Landstraßen einzuführen, und zwar aus Gründen der Verkehrssicherheit und des Umweltschutzes.Meine Redezeit reicht leider nicht aus, um all die Bereiche im Umweltschutz aufzuzeigen, die von den Koalitionsvereinbarungen total vergessen wurden. Mit Sicherheit werden wir Sie im Laufe der Zeit daran erinnern und Sie an Ihren Taten messen. Herr Laufs — pardon, Herr Hauff hat schon darauf hingewiesen
— ja, das war schlimm; ich bitte um Entschuldigung — : Während wir uns hier über den Naturschutzunterhalten, sterben draußen weitere Pflanzen undTierarten aus. Deshalb möchte ich zum Schluß den Philosophen Günther Anders zitieren, meine Herren und Damen, der da sagt:Gewalt wird so lange nicht nur erlaubt, sondern gilt als moralisch legitimiert, als sie von der anerkannten Macht gebraucht wird.Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang die Frage: Welches Verhältnis haben Sie, meine Herren und Damen von der Bundesregierung, zur Gewalt,
zur Gewalt, die durch fehlerhafte, nein, vorsätzlich falsche Politik ausgeübt wird gegen Menschen, gegen Tiere, gegen die Natur, gegen alles, was da kreucht und fleugt?
Bei 75 % aller festgestellten Umweltvergehen wurde keine Anklage erhoben, obwohl das Herr Wallmann längst hätte ändern können. Nur wenige wurden zumeist auch nur zu geringfügigen Geldbußen verurteilt. Die BASF leitet immer noch genauso viel Abwasserinhaltsstoffe in den Rhein wie 21 Städte zusammengenommen,
bezogen auf den chemischen Sauerstoffbedarf. Ganz legal pumpt der Konzern immer noch täglich 1,2 bis 1,3 Tonnen organische Chlorverbindungen, schwerabbaubare und krebserregende Stoffe, über die Kläranlage in den Rhein. Das nenne ich eine zerstörerische Gewaltanwendung, das nenne ich ein Vergehen an den Interessen der Bevölkerung.
Frau Kollegin Garbe, das war ein guter Schlußsatz, finde ich.
Meine Frage: Wann werden Sie das ändern, wann werden Sie sich, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, von diesen Gewalttätern distanzieren?
Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir darauf eine Antwort geben könnten.
Ich danke fürs Zuhören.
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich warne vor einer Verwischung des Gewaltbegriffs. Jedenfalls darf das, was Sie eben gesagt haben, nicht dazu führen, daß sich andere herausgefordert fühlen, Gewalt auszuüben. Es gibt eine Art Öko-Gewalt oder sogar schon Öko-Terrorismus in unserer Gesellschaft. Das kann nicht die Konsequenz sein.
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BaumDie Koalitionsparteien haben ein Programm vorgelegt, zu dem ich mich bekenne, das ich verteidige und zu dem ich mit Selbstbewußtsein stehe. Es ist ein Umweltprogramm, das alle vorhandenen Instrumente des Umweltschutzes überprüft, zum Teil verschärft, die Rahmenbedingungen verbessert und es wirklich, wie Herr Wallmann gesagt hat, rechtfertigt, von einer neuen Phase der Umweltpolitik zu sprechen.
Ich kann nur sagen: Ihre Kritik geht über den Inhalt dieses ausführlichen Programms, das aus vielen sehr konkreten Einzelpunkten besteht, hinweg, Herr Hauff. Wir sind fest entschlossen, dieses Programm durchzusetzen, auch gegen Widerstände bei Interessentengruppen und bei der Wirtschaft. Es ist eine entschiedene weitere Umorientierung unseres Wirtschaftens, unseres Verbrauchens, unseres Produzierens, so wie wir das seit vielen Jahren seriös gemacht haben.
Aber wir halten an den vorhandenen Prinzipien fest, Herr Hauff. Wir halten am Verursacherprinzip fest.
Ihr Sondervermögen Arbeit und Umwelt ist ein Abschied vom Verursacherprinzip. Sie bestrafen nämlich auch den mit Abgaben, der etwas tut. Sie schaffen eine große Bürokratie, die die Mittel verteilt.
Das Verursacherprinzip schafft Arbeit: Rauchgasentschwefelungsanlagen müssen eingebaut werden, die Milliarden an Investitionen kosten. Das ist Umweltschutz und schafft Arbeitsplätze.
Wir sind fest entschlossen, die Grundlage der Marktwirtschaft nicht aufzugeben. Ich habe viel Verständnis für Sehnsüchte, die Sie auch haben, meine Damen und Herren von den GRÜNEN. Aber wir können nicht in eine romantisch verklärte Vergangenheit zurückkehren. Wir haben diese Industriegesellschaft und die Marktwirtschaft als die effizienteste Wirtschaftsordnung. Wenn Sie diese angreifen, haben Sie überhaupt nicht die Mittel, die Investitionen durchzuführen, die wir brauchen, dann haben Sie nicht die Technologie.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kühbacher?
Ja, gerne.
Herr Kollege Baum, unabhängig von Ihrem Engagement beim Verursacherprinzip: Würden Sie mir denn wenigstens darin zustimmen, daß gerade bei der Aufarbeitung und Bewältigung der Altlasten, die wir in der Bundesrepublik haben, das von Ihnen geschilderte Prinzip gar nicht machbar ist und statt dessen eine riesige staatsanwaltschaftliche und andere Bürokratie aufbrechen würde, und würden Sie nicht auch meinen, daß das Prinzip von Zahlungen auf freiwilliger Basis in einen bestimmten Fonds, mit dem die Vereinigten Staaten mit diesem Problem fertigwerden, wohl der vernünftigere Ansatz ist?
Herr Kollege Kühbacher, ich bestreite überhaupt nicht, daß das Verursacherprinzip dann nicht zieht, wenn es keinen Verursacher mehr gibt. Das wissen auch wir. Aber Sie wollen doch hier ein allgemeines Instrumentarium über die Fälle der Beseitigung von Altlasten hinaus neu einführen. Wo es keinen Verursacher gibt, muß natürlich die öffentliche Hand eintreten,
aber doch nicht in der Weise, daß derjenige, der sich umweltfreundlich verhält, bestraft wird. Das macht ja inzwischen leider Herr Späth mit seinem Wasserpfennig. Gehen wir doch bitte nicht auf diesen Weg!
Sie gehen hier zweispännig — mit anderen Fehlentwicklungen. Das sind Sündenfälle.Das Verursacherprinzip hat sich bewährt. Wir sollten daran festhalten und nicht den bestrafen, der auf sauberes Wasser Anspruch hat.
Also, wir haben hier deutliche Zielvorgaben gemacht, meine Damen und Herren. Es ist einer der konkretesten Abschnitte der Koalitionsvereinbarung.
Es ist geradezu grotesk, wenn Sie so tun, als läge hier nichts vor. Setzen Sie sich doch mit unseren Vorschlägen auseinander! Stellen Sie doch Ihr Konzept daneben! Wo ist es denn? — Hier sind wirklich klare Vorgaben auf allen Gebieten.Schwerpunkt Luftreinhaltung: Natürlich wollen wir Fluorkohlenwasserstoffe weiter bekämpfen. Das haben wir, Frau Kollegin, schon seit vielen Jahren getan. Jetzt muß das hier verboten werden. Herr Wallmann und ich sind uns einig. Wir werden hier nicht auf die EG warten, auch beim Diesel nicht.
Wir werden jetzt hier in der Bundesrepublik Deutschland handeln. Wir werden die Großfeuerungsanlagen-Verordnung, die TA Luft, überprüfen, um zu sehen, ob sie ziehen. Wir wollen mit der DDR, mit der CSSR auf dem Gebiet der Luftreinhaltung zusammenarbeiten.Wir haben einen weiteren Schwerpunkt im Wasserrecht. Wir werden die Instrumentarien des Abwasserabgabengesetzes, des Wasserhaushaltsrechts verschärfen. Wir wollen auch die quantitativ gefährlichen Stoffe, nicht nur die qualitativ gefährlichen Stoffe, miteinbeziehen. Wir wollen uns dem Grundwasserschutz widmen.
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BaumEin Schwerpunkt ist auch das Chemikalienrecht. Das soll umfassend verbessert und verschärft werden. Die Vorsorge gegen Chemieunfälle ist zu nennen.Zu erwähnen sind auch der Bodenschutz, der Naturschutz. Meine Damen und Herren, das Naturschutzgesetz wird novelliert werden. Das Bundes-Immissionsschutzgesetz wird noch einmal angesehen werden. Wir wollen landwirtschaftliche Nutzung und Naturschutz näher zueinander führen. Wir wollen den Landwirt einsetzen, seine Kenntnisse, seine Arbeitskraft für Naturschutz nutzen, statt dazu, Überschüsse zu produzieren.
Wir haben vereinbart, daß das Grundgesetz ergänzt wird. Meine Damen und Herren von der SPD, als wir mit Ihnen koaliert haben, waren Sie dazu nicht bereit. Jetzt wird das geschehen.
Und der Umweltschutz wird damit stärker werden. Das ist doch nicht nur weiße Salbe, sondern er wird wirklich stärker werden, auf allen staatlichen Ebenen. Und das wollen wir.Wir wollen das Abfallrecht ausfüllen. Natürlich wird es dort auch Produktionsverbote geben. Stoffe, die gefährlich sind, dürfen nicht mehr in den Wirtschaftskreislauf kommen, dürfen gar nicht mehr in den Abfall kommen. Da gibt es erste Vorschläge des Umweltministers.Wir wollen das Mengenproblem beim Abfall bekämpfen und das Mehrwegsystem erhalten.Also, wenn Sie nur wollen, meine Damen und Herren, Sie haben eine Fundgrube an Vorschlägen und Absichten der Regierung. Setzen Sie sich bitte damit auseinander. Wir werden Ihnen im Laufe der Legislaturperiode zeigen, daß wir es ernst meinen mit dem, was wir vereinbart haben.
Nun noch ein Wort zur Kernenergie: Meine Partei hat schon Mitte der 70er Jahre klar zum Ausdruck gebracht — Sie haben das heute ja auch zum Teil zitiert — : Für uns ist die Kernenergie Übergangsenergie. Sie ist nie die letzte Antwort auf die Energiefragen gewesen. Wir haben gesagt: Wir brauchen Kernenergie in einem bestimmten Umfang. Wir haben sie unter den gegebenen Umständen, mit hohem Sicherheitsstandard als verantwortbar angesehen und tun das auch heute noch. Sie ist im Moment ohne Alternative.Aber wir bleiben hier nicht stehen, meine Damen und Herren. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung durchgesetzt, daß die Suche, die Forschung nach alternativen Energien verstärkt wird, weil wir die Kernenergie eines Tages ersetzen wollen. Und wir haben durchgesetzt, daß die ernsthafte Prüfung fortgesetzt wird, ob man ohne Wiederaufarbeitung lagern kann. Das steht in der Vereinbarung der Koalition ausdrücklich drin. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung auch unseren Wunsch verankert, daß der forschungspolitische Nutzen, der forschungspolitische Stellenwert des Schnellen Brüters erneut überprüft wird.Wir sind keine blauäugigen Kernenergiefetischisten. Wir sehen die Gefahren. Aber wir machen keine unglaubwürdigen Ausstiegsszenarien. Wir machen den Leuten nichts vor.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Ja.
Bitte schön, Herr Stratmann.
Herr Baum, wenn Sie erklären, Ihre Partei betrachtet die Atomenergie nur als eine Übergangsenergieform, dann erklären Sie mir, was Sie hinsichtlich des Schnellen Brüters noch prüfen müssen, der, wenn er überhaupt einen Sinn machte, kommerziell erst im nächsten Jahrtausend nutzbar ist und nur, wie das Herr Laufs dankenswerterweise in aller Klarheit dargestellt hat, im Rahmen einer Übergangsstrategie in einen noch weiteren Einstieg in die Plutoniumwirtschaft einen Sinn macht. Was ist dort für Sie noch zu prüfen?
So einfach kann man es nun auch wieder nicht machen. Wir haben hier gemeinsam über viele Jahre Investitionsentscheidungen getroffen. Wir wollen das jetzt alles in Ruhe auswerten. Die kommerzielle Nutzung dieses Schnellen Brüters stand nie zur Debatte. Aber lassen Sie uns bitte die Möglichkeit, mit Sachverständigen, wie das jetzt vereinbart ist, in Ruhe zu prüfen, welcher forschungspolitische Stellenwert dem Brüter heute noch beizumessen ist. Wir werden diese Diskussion führen.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal ganz klar zum Ausdruck bringen: Hier beginnt eine neue Phase der Umweltpolitik. Wir wollen unsere Art des Produzierens, des Verbrauchens weiter umorientieren. Wir müssen unsere natürlichen Lebensgrundlagen noch entschiedener als bisher schützen. Wir müssen auch internationale Anstrengungen verstärken, um das gefährdete Raumschiff Erde nicht in neue Gefährdungen bringen zu lassen. Die Koalitionsfraktionen leisten hier ihren Beitrag. Wir sind der Meinung, daß wir hier in der Bundesrepublik beginnen sollten, wie wir das auch schon in den letzten Jahren getan haben, beispielsweise mit dem Automobil. Wir dürfen uns nicht auf internationale Vereinbarungen zurückziehen, nicht warten, bis sich das langsamste Schiff dem Geleitzug angeschlossen hat. Wir werden in der kommenden Legislaturperiode eine entschiedene Umweltpolitik betreiben. Herr Wallmann hat unser volles Vertrauen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Rust.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 191
Vizepräsident WestphalMeine Damen und Herren, Sie alle wissen — jedenfalls diejenigen, die schon länger hier sind — , wie schwierig es für einen Redner ist, kurz vor einer namentlichen Abstimmung zu reden. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die entsprechende Ruhe hielten, zumal es sich um jemanden handelt, der das erste Mal hier oben spricht.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Umweltminister, als ich Sie heute morgen über Atomenergie reden hörte, in wohlgesetzten Worten über sichere Arbeitsplätze, als Sie uns dann versicherten, daß Sie auch weiterhin ein Anhänger der Atomenergie seien, und uns zusicherten, auch Sie hätten jetzt begriffen, daß Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit miteinander zu tun hätten, dachte ich plötzlich: Du bist hier auf der falschen Veranstaltung.
Worum geht es hier eigentlich? Reden wir von einem Chemiebaukasten für Heranwachsende? Nein, Herr Minister, wir reden über Atomtechnik, die unsere Gesundheit und unsere Umwelt schon durch einfache Anwendung unzumutbar belastet, über eine Technik, bei der ein Fehler uns alle vom Leben zum Tode befördern kann. Im Mai letzten Jahres fragte Emnid im Auftrag des „Spiegel" Bürgerinnen und Bürger nach ihrer Meinung zur Atomenergie. Das Ergebnis wurde in einem Artikel veröffentlicht, der die Überschrift trug: „Neue Mehrheit für den Ausstieg" . Eine satte Zweidrittelmehrheit sagte damals: Die Gefahren sind zu groß. Seit der Katastrophe von Tschernobyl hat also die Atompolitik der Bundesregierung keine Mehrheit mehr in der Bevölkerung.
Dieses sprunghafte Anwachsen der Antiatombewegung war der Anlaß für die Gründung Ihres Ministeriums, Herr Wallmann. Es war damals eine Zeit großer Sorgen. Wir hatten Mühe, für uns und unsere Kinder das Notwendigste an unverstrahlter Nahrung zusammenzusammeln. In Ihrer Antrittsrede sagten Sie:
Mir liegt am Gespräch mit den Bürgern, deren Ängste und Sorgen ich sehr ernst nehme. Die Menschen sollen erfahren, welche Bedeutung die Bundesregierung dem Umweltschutz beimißt.
Das haben Sie gesagt, Herr Wallmann. Und was haben Sie getan? Ein Gesetz mit dem unsäglichen Namen Strahlenschutzvorsorgegesetz verabschiedet. Als gäbe es Vorsorge oder Schutz vor Strahlenschäden! Die einzige wirksame Vorsorge für die Menschen wäre Beseitigung der Ursache, nämlich Abschalten der Atomkraftwerke.
Doch davon keine Rede. Im Gegenteil: Mit diesem Gesetz gestehen Sie ein, daß die atomare Katastrophe auch bei uns vorstellbar ist. Es ist ein Ermächtigungsgesetz, mit dem Sie die Grenzwerte an die jeweilige Strahlensituation anpassen können und das Informationsmonopol für die Bundesregierung bunkern.
Inzwischen, Herr Minister, haben wir eine relativ breit gestreute radioaktive Belastung unserer Lebensmittel mit Cäsium und Strontium. Das ist ein ernstes Problem für die Gesundheit der Bevölkerung, besonders für Kinder, Schwangere, Alte und Kranke.
In Berlin kommen neun Monate nach Tschernobyl häufiger Babies mit Trisomie 21 auf die Welt. Das ist Mongolismus. Die Häufung ist „statistisch signifikant" ; so der seelenlose Fachausdruck für dies Meer an Leid und Tränen, mit dem die Betroffenen die Folgen dieser mörderischen Technologie tragen müssen.
Frau Abgeordnete, lassen Sie mich Sie einen Moment unterbrechen.
Ja, gern.
Meine Damen und Herren, ich bitte noch einmal — besonders die Kollegen, die in den Eingängen stehen —, Ihre Plätze einzunehmen.
— Ich bitte, auch hier vorn — wenn es sich um eine Besprechung des Auswärtigen Amts handeln sollte, zumal da gerade drei Beteiligte sprechen — Platz zu nehmen. Es ist in diesem Saal schwierig, gerade vor Abstimmungen. Ich bitte deshalb, Platz zu nehmen und die Rednerin zum Schluß kommen zu lassen. Sie hat noch eine Weile Redezeit.
Bitte schön, Frau Rust.
: Wir reden von Trisomie 21 — Mongolismus — bei Kindern. Berlin ist nicht die einzige Stadt, aus der eine ungewöhnlich hohe Zahl von Geburten mit Trisomie 21 gemeldet wird. Der Umweltminister hält es nicht für erforderlich, diesen Informationen nachzugehen.Zur gleichen Zeit verhandeln die Koalitionsparteien über die Grundlagen ihrer Regierungspolitik. Doch siehe da: Die radioaktive Belastung der Lebensmittel spielt in diesen Verhandlungen überhaupt keine Rolle. Die Regierungsparteien nehmen die schleichende Verseuchung der Bevölkerung billigend in Kauf. Die akute Gefährdung von Schwangeren und Kleinkindern ist kein Thema. Die Mehrheit der Bevölkerung wünscht den Ausstieg aus der Atomenergie. Auch dies ist kein Thema. Statt dessen wird der Einstieg in die Plutoniumwirtschaft festgeklopft. Der Schnelle Brüter wird weiterfinanziert. Die WAA soll weitergebaut werden. Die Plutoniumverarbeitung bei Alkem soll ausgebaut werden.Wer dies tut, Herr Wallmann, und das auch noch als Umweltpolitik verkauft, der zeigt, daß er zu Anteilnahme am Leben, an den wirklichen Sorgen der Menschen überhaupt nicht mehr fähig ist.
Wer das tut, Herr Wallmann, der riskiert, neben grenzenloser Traurigkeit auch Wut, Haß und Zorn zu wekken. Wer das tut, sät Gewalt.
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192 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Frau RustDie Ursache dafür, daß junge Menschen Steine schmeißen, ist doch nicht die Haltung der GRÜNEN, Herr Baum. Die Ursache ist die Atompolitik der Regierung. Sie versuchen, Ihre Politik gegen den erklärten Willen der Bevölkerung durchzudrücken. Das ist die Ursache für Gewalt.
Wut, Hilflosigkeit und verletztes Gerechtigkeitsempfinden können in Gewalt umschlagen.Die GRÜNEN sind für Gewaltfreiheit.
Deshalb treten wir für eine Politik ein, die dem Recht der Bevölkerung auf Gesundheit keine Gewalt antut.
Wir sind die einzige Partei, die dies zu einem ihrer Grundsätze macht.
Basisdemokratisch, ökologisch, sozial, gewaltfrei: dafür treten wir ein, hier im Parlament, in Wackersdorf und überall sonst.
Sie reden von Aufnahme des Umweltschutzes als Staatsziel in die Verfassung, Herr Wallmann. Doch kaum haben Sie dieses hehre Ziel verkündet, zerschlagen Sie selber alle Hoffnungen, die Sie damit wecken wollten. Sie weisen Hessen an, die Errichtung der Plutoniumfabrik Alkem nun endlich zu genehmigen.Es erscheint mir angebracht, hier an die „Güte" des Gifts Plutonium zu erinnern. Ein Teelöffel fein verteiltes Plutonium reicht aus, um die gesamte Bundesrepublik zu verseuchen. Ein millionstel Gramm löst Krebs aus. Ein tausendstel Gramm, eingeatmet, ist mit ziemlicher Sicherheit tödlich.Heiner Geißler sagt, Restrisiko sei nur für diejenigen ein Problem, die nicht an ein Leben nach dem Tode glauben. Angesichts der neun Nukem-Arbeiter, die in der letzten Woche Plutonium eingeatmet haben, ist der Zynismus dieser Worte unerträglich.Nach Ihrer Anweisung, Herr Minister, gibt es für die jährliche Verarbeitungsmenge in Alkem keine Begrenzungen. Ich frage Sie, Herr Wallmann: Wie wollen Sie für unsere Sicherheit garantieren? Wie oft muß Restrisiko noch zur grauenhaften Wirklichkeit werden? Für Sie gibt es nur eine Möglichkeit, Ihre Vorsorgepflicht verantwortungsvoll wahrzunehmen: die sofortige Stillegung der Hanauer Firmen Alkem und Nukem.
Meine Damen und Herren, Ihnen liegt ein Entschließungsantrag vor, der die Rücknahme der Alkem-Weisung an Hessen sowie die sofortige Schließung der Firma Alkem fordert. Ich fordere Sie auf, diesem Antrag zuzustimmen, um dem illegalen undverantwortungslosen Umgang mit dem Supergift Plutonium in Hanau ein Ende zu bereiten.Danke schön.
Meine Damen und Herren, bevor wir die Aussprache fortsetzen, kommen wir nun zur Abstimmung über die vorliegenden Entschließungsanträge.Ich lasse zunächst über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/64 abstimmen. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dann ist dieser Entschließungsantrag bei einer Reihe von Enthaltungen mit Mehrheit abgelehnt.Jetzt lasse ich über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/59 abstimmen. Wer diesem Antrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Wer enthält sich der Stimme? — Dann ist dieser Entschließungsantrag bei einer großen Anzahl von Enthaltungen abgelehnt.Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/69. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Dieser Entschließungsantrag ist mit Mehrheit angenommen.Meine Damen und Herren, wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen auf den Drucksachen 11/65 und 11/66, zu denen namentliche Abstimmung verlangt worden ist.Wir stimmen zunächst über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/65 ab. Ich glaube, ich kann davon ausgehen, daß auch die neuen Kollegen unser Verfahren kennen und die entsprechenden Abstimmungskarten haben.Ich eröffne die namentliche Abstimmung über den Antrag der SPD auf Drucksache 11/65.Ich möchte gern noch bekanntgeben, daß wir die zweite Abstimmung gleich anschließend machen können. Wir brauchen nicht das Ergebnis der Auszählung der ersten Abstimmung abzuwarten. Ich bitte deshalb, in der Nähe zu bleiben.Meine Damen und Herren, ich wäre dankbar, wenn die Kollegen, die ihre Stimmkarte abgegeben haben, gleich den Weg in die hinteren Teile des Saales antreten oder zu ihrem Platz gehen, damit die Kollegen, die noch nicht abgestimmt haben, dann weiter vorankommen können.Ich möchte noch einmal darum bitten, daß hier vorn für diejenigen Platz gemacht wird, die ihre Abstimmungskarten abgeben wollen. Wer abgestimmt hat, sollte den vorderen Teil des Saales verlassen.Meine Damen und Herren, ist noch jemand anwesend, der seine Stimme abzugeben wünscht, es aber noch nicht getan hat? — Dann soll er das jetzt tun.Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführer, den Austausch der Urnen so schnell wie mög-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 193
Vizepräsident Westphallich vorzunehmen, damit wir dann mit der zweiten Abstimmung beginnen können. *)Meine Damen und Herren, ich eröffne nun die Abstimmung über den Entschließungsantrag auf der Drucksache 11/66. Das ist der Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN. Es handelt sich erneut um eine namentliche Abstimmung.Ich eröffne die Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? — Meine Damen und Herren, ich habe die Absicht, die Abstimmung zu schließen. Ich sehe keinen Hinderungsgrund. Ich schließe die Abstimmung und bitte, mit der Auszählung zu beginnen. *) Alle Schriftführer — alle außer den beiden, die uns hier oben begleiten — sind gebeten, an der Auszählung teilzunehmen, also jetzt in den Auszählungsraum zu gehen.Meine Damen und Herren, ich darf Sie bitten, Platz zu nehmen, damit wir in der Debatte fortfahren können.Meine Damen und Herren, wir setzen die Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung fort.Das Wort hat der Abgeordnete Weiermann.
Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Aus meiner Tätigkeit als Betriebsratsvorsitzender eines Stahlunternehmens weiß ich um die Sorgen der Arbeitnehmer in den Montanrevieren. Die Aussagen des Regierungsprogramms zu Kohle und zu Stahl — das darf ich an dieser Stelle sagen — sind ungenügend.
Vom Bundesarbeitsminister, der im Ruhrgebiet kandidierte, sind wohl offenbar auch keine entscheidenden Impulse dazu ausgegangen.
Unter dem Motto „Wir wollen leben" hielten Stahlarbeiter vom 11. bis zum 18. März Mahnwachen rund um die Uhr hier in Bonn auf dem Münsterplatz. Sie dokumentierten ihr deutliches Nein zu der weiteren Arbeitsplatzvernichtung.
Ich darf an dieser Stelle festhalten: Je eigensinniger die Bundesregierung auf ihrer liberalen Ideologie einer marktwirtschaftlichen Krisenlösung beharrt, um so mehr geht die Entwicklung darauf hinaus, das Kapazitätsproblem durch die Vernichtung ganzer Stahlstandorte zu lösen. Das ist eine Schweinerei, meine Damen und Herren.
Wir sagen: Die Stahlmarktordnung ist fortzusetzen, solange die Kapazität in Europa die künftigen Absatzmöglichkeiten übersteigt. In jedem Falle ist es besser und vernünftiger, Arbeitsplätze statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren.
Bundeskanzler Kohl hat es abgelehnt, eine Bestandsgarantie für die Stahlstandorte zu geben.
*) Ergebnis Seite 203 A, 204 C
Die Bundesregierung läßt es zu, daß ganze Regionen zu Armenhäusern werden. Auch das ist ein Skandal.
1974 gab es noch 344 000 Stahlarbeitsplätze; 1986 waren dies nur noch 202 000. Das ist ein Abbau von 142 000, ein Abbau um ein Drittel. Der Kahlschlag geht weiter. Zum ersten Mal wird die Vernichtung von Stahlstandorten wie in Hattingen und Oberhausen einkalkuliert.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Lammert?
Entschuldigen Sie bitte, ich will meine zehn Minuten hier ausschöpfen; ich bitte um Verständnis.Stahlarbeiter sind weder Stimmvieh noch billige Schlachtopfer. Sie und ihre Familien wollen leben und arbeiten, und deswegen wehren sie sich auch.
An jedem Arbeitsplatz in der Stahlindustrie hängen zwei bis drei weitere Arbeitsplätze. Die Sorgen der Stahlarbeiter sind die Sorgen aller Arbeitnehmer. Deswegen demonstrieren in den Stahlstädten die Bäcker und Metzger und andere genauso wie die Mütter und ihre Kinder. Alle werden es spüren — und ich betone: alle werden es spüren —, wenn ganze Hütten dicht gemacht werden. Arbeitslosenquoten bis zu 30 To — wie das Beispiel Hattingen zeigt — , wären das Ergebnis einer ungenügenden Stahlpolitik der Bundesregierung.
— Wenn Sie sagen „völliger Quatsch",
dann frage ich Sie für die Kolleginnen und Kollegen, für die Menschen, die um den Wegfall ihres Arbeitsplatzes fürchten: Wie soll ich ihnen denn klarmachen, daß mit der Senkung des Spitzensteuersatzes einer kleinen privilegierten Schicht Steuervergünstigungen in Milliardenhöhe gewährt werden, daß für die jedoch, die jeden Tag Angst um ihren Arbeitsplatz haben, nichts in dieser Frage geschieht? Das ist ein Skandal.
Die bisherigen Reaktionen aus dem Regierungslager zeigen uns: Der Ernst der neuerlichen Stahlkrise wird nicht erkannt. Dabei kann man von Monat zu Monat erleben, daß sich der Arbeitsplatzabbau weiter und dramatisch beschleunigt, die Importe von subventioniertem Stahl weiter zunehmen; schon jetzt kommt jede zweite Tonne Stahl aus dem Ausland.Ich fordere die Bundesregierung auf, nicht tatenlos zuzusehen, wie weitere Arbeitsplätze geopfert werden. Die bundesdeutsche Stahlindustrie zählt zu den besten und leistungsfähigsten Stahlindustrien der Welt, aber sie kann der Wettbewerbsverdrängung
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194 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Weiermannnicht standhalten, wenn in anderen Bereichen der Europäischen Gemeinschaft Subventionen von rund 180 DM pro Tonne Walzstahl gewährt werden.
Es gibt doch ein Motto der Bundesregierung, das da heißt: Leistung soll sich wieder lohnen. Hier wird — bezogen auf die Situation der deutschen Stahlindustrie — Ihr eigener Ausspruch völlig mißachtet.
Die Bundesregierung soll dafür sorgen, daß das Bundeswirtschaftsministerium nicht andauernd erklärt, für die Stahlindustrie gebe es keinen Handlungsbedarf. Das ist eine Provokation angesichts der ungleichen und ungerechten Behandlung der Stahlarbeiter und der Stahlbetriebe in der Europäischen Gemeinschaft.
Üben Sie bitte Druck auf die Stahlunternehmen aus, sich zu mehr Gemeinsamkeit in der nationalen und internationalen Preispolitik zusammenzufinden. Sorgen Sie für ausreichende soziale Absicherung der Arbeitnehmer, die auf Grund europäischer Beschlüsse, welche auch von der Bundesregierung gefaßt worden sind, ihren Arbeitsplatz verlieren.Die gegenwärtige chaotische Entwicklung in der Stahlindustrie ist eine Bestätigung der Auffassung, daß die Bewältigung der Krise mit privatwirtschaftlichen Mitteln nicht oder noch nicht möglich ist. Die Arbeitnehmer erwarten von der Bundesregierung, daß sie sich mit Entschiedenheit dafür einsetzt, den bisherigen Anteil an der EG-Produktion aufrechtzuerhalten. Generell muß sie dafür sorgen, daß die Brüsseler Entscheidungen die deutschen Unternehmen nicht benachteiligen.
Meine Damen, meine Herren, nach wie vor prägt die Eisen- und Stahlindustrie die Wirtschaftslage wichtiger Industriereviere. In keinem anderen Fall haben Kapazitätseinschränkungen derart katastrophale Folgen für Großregionen.Wir Sozialdemokraten fordern einen nationalen Stahlausschuß, in dem Staat und Tarifparteien vertreten sind, damit die gesamte Stahlindustrie neu geordnet werden kann,
die sofortige Bereitstellung von Finanzmitteln, die die Erhaltung der Stahlstandorte im Kern sicherstellen, sowie die Verlängerung des Stahlstandorteprogramms.In den Montanrevieren lag die Arbeitslosigkeit vor drei Jahren ein Drittel über dem Bundesdurchschnitt. Gegenwärtig ist sie schon zwei Drittel höher. Insofern wird die Forderung nach einem Montanstandorteprogramm immer dringender.
Die Gemeinden und Städte stellen eine explosionsartige Steigerung der Ausgaben für Sozialhilfe fest. Wenn — wovon ausgegangen werden muß — weiter Kapazitätseinschränkungen erfolgen, darf dies nurunter dem Schutzmantel der Quotierung der Produktion, der Aufrechterhaltung der Mindestpreise und der außenwirtschaftlichen Absicherung geschehen, und es darf gegenwärtig auch keine weitere Liberalisierung der Stahlproduktion erfolgen.
Es ist weiter notwendig, daß die soziale Flankierung der Kapazitätsminderung nicht nur von Brüssel angeboten, sondern auch von der Bundesregierung mitgetragen wird.
Auch die deutschen Kohlereviere haben große Sorgen. Die Haldenbestände an Kohle und Koks sind in den letzten zwölf Monaten von 10,8 Millionen Tonnen auf 14,8 Millionen Tonnen gestiegen, und das, obwohl seit Ende 1983 die Kapazitäten von 90 Millionen auf 80 Millionen Jahrestonnen vermindert wurden. Das heißt aber auch 20 000 Arbeitsplätze weniger, und das heißt weiter — bitte hören Sie zu! — 12 % Leistungssteigerung. Hier drückt sich deutlich der Leistungswille von Bergleuten und Unternehmen aus, ihren Beitrag zur Überwindung der Probleme zu leisten.
Der Bundeskanzler steht im Wort. Er hat auf dem Gewerkschaftskongreß der IG Bergbau 1984 unmißverständlich erklärt: „Der Jahrhundertvertrag steht nicht zur Disposition. " — Dies haben die Bergleute noch in genauso guter Erinnerung wie die Feststellung in der Regierungserklärung vom Mai 1983.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Der Jahrhundertvertrag sichert den Vorrang der heimischen Kohle. " — Davon haben wir gestern nicht viel gehört.
Und 1984 hat er auch gesagt: „Das Schicksal der Bergleute war, ist und bleibt uns wichtiger als ein rein wirtschaftliches, fiskalisches Kalkül." Ich hoffe, Sie denken daran in Ihrer Regierungsarbeit.
Die Entwicklung des Dollarkurses und die Entwicklung auf den Weltenergiemärkten haben den Steinkohlebergbau in eine Krise gebracht, die er mit eigener Kraft nicht bewältigen kann. Das kohlepolitische Instrumentarium wurde letztlich geschaffen, um sich in Krisenzeiten zu bewähren und nicht gerade dann über Bord geworfen zu werden.Die Forderungen der Bergleute sind klar: Den Jahrhundertvertrag voll ausfüllen und fortsetzen und das System der Kokskohlebeihilfe erhalten.Der Bergmann und auch der Stahlarbeiter haben nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich mit dazu beigetragen, daß über die Grundstoffindustrien unserer Bundesrepublik das geschaffen werden konnte, was
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 195
Weiermannman allgemein als Wirtschaftswunder bezeichnet hat.
Viele der heute älteren Arbeitnehmer haben 1945 unter körperlichem Einsatz Demontagen ganzer Betriebs- und Produktionsstätten verhindert. Das sogenannte Wirtschaftswunder war nichts anderes als viel Maloche und viel Schweiß.
Daran sollte sich die Bundesregierung erinnern und im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer handeln.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich gratuliere dem Kollegen Weiermann zu seiner ersten Rede in diesem Deutschen Bundestag. Es ist immer gut, wenn ein Betriebsrat — die werden bei Ihnen ja selten —
auch im Bundestag Stimme und Platz hat. Ich wünsche dem Kollegen Weiermann vor allen Dingen, daß er von den neuen Liebhabern der GRÜNEN in seiner Partei nicht untergepflügt wird. Das wünsche ich ihm, damit die große Arbeitertradition, auf die sich auch Weiermann berufen kann, in Ihrer Partei überleben kann.
Ich stimme ihm auch zu: Das deutsche Wirtschaftswunder — wie es andere genannt haben — war kein Wunder. Richtig, Kollege Weiermann, das war Maloche; es waren Schweiß, Hunger und Entbehrung von Arbeitnehmern, von Millionen von Menschen. Und es war der Verzicht auf eine sozialistische Bonzenwirtschaft. Das Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft hat den Karren aus dem Dreck geholt.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dreßler?
Bitte schön.
Herr Bundesminister, dürfen wir, nachdem Sie unseren Kollegen Weiermann so herzlich begrüßt haben, erwarten, daß Sie sich im Verlaufe Ihrer weiteren Ausführungen auch noch mit den
Inhalten der Rede des Kollegen Weiermann auseinandersetzen?
Herr Kollege Dreßler, ich weiß schon, daß Sie sich durch Übereifer auszeichnen. Ich rede jetzt gerade 60 Sekunden. Ich hatte mir vorgenommen, längere Zeit zu reden, um zu Inhalten Stellung zu nehmen. Ich weiß, das ist Ihre Schwäche. Aber ich bleibe dabei: eins nach dem anderen. Die Themen, die die Sozialpolitik berühren, will ich so behandeln, wie sie sich aus unserer Sicht darstellen. Deshalb fangen wir gleich an. — Sie können sich setzen.
Sie haben nach der Zukunft des Stahls gefragt. Ich will Ihnen in Erinnerung bringen — ziehen Sie doch endlich die Wahlkampfstiefel aus; aber wenn Sie es unbedingt hören wollen —: 140 000 Stahlarbeiter haben ihren Arbeitsplatz aufgeben müssen, drei Viertel unter sozialliberaler Regierung. Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich das Thema gar nicht erwähnen. Ich wilde vor Scham rot werden. Aber Sie sind ja schon rot.Nun aber auch zu dem, was wir getan haben. Wir müssen unser Licht doch nicht unter den Scheffel stellen. Ich stehe — damit wir uns nicht mißverstehen — vor Ihnen nicht selbstzufrieden da, die Hände im Schoß. Aber wir müssen das, was wir gemacht haben, nicht verstecken. Von 1983 bis 1985 hat die Stahlindustrie insgesamt 5 Milliarden DM von Bund und Ländern erhalten: Stahlinvestitionszulage nach dem Stahlhilfeprogramm, Strukturverbesserungshilfen nach dem Stahlhilfeprogramm, Forschungsförderung, Beihilfen, beispielsweise für Saarstahl Völklingen, soziale Beihilfen nach Art. 56 des Montanunionsvertrages. Wir haben das Kurzarbeitergeld für die Stahlarbeiter verlängert. Das ist nicht Hilfe mit Worten — da sind Sie unüberbietbar — , die Verlängerung des Kurzarbeitergelds für Stahlarbeiter ist ganz konkrete Hilfe.
Wir haben auch viele Betriebe, die in Not geraten waren, aus der Erstattungspflicht nach § 128 AFG entlassen. Wenn wir das Arbeitslosengeld jetzt noch einmal verlängern, dann hilft das auch den Unternehmen, und da gibt es auch einen Zusammenhang mit der Sozialhilfe. Sehen Sie, das ist konkrete Politik und nicht Politik der Überschriften; davon haben wir genug.Ich weiß auch, daß die Stahlkocher unserer Solidarität bedürfen, daß sie eine faire Chance in einem europäischen Stahlmarkt brauchen. Sie wollen ja gar keine Almosen, da stimmen wir doch überein. Sie wollen nur, daß der Wettbewerb nicht durch Subventionen verzerrt wird. Das hat gestern auch der Bundeskanzler klargestellt. Wir sind bereit, in Brüssel gegen Subventionsverzerrungen auf den Tisch zu schlagen. Wir brauchen allerdings Beweise, je mehr Beweise auf
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196 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Bundesminister Dr. Blümden Tisch gelegt werden, um so stärker können wir in Brüssel auftreten.
Auch beim Stahlstandorteprogramm sind wir mit von der Partie. Die sozialen Flankierungen bei Stahl bleiben erhalten, sie werden verbessert. Ich setze auf den praktischen Sinn vieler Kolleginnen und Kollegen an Rhein und Ruhr und an der Saar, die sich nicht an Worten, sondern an Taten orientieren. Ich sage noch einmal: In einem rot-grünen Bündnis haben auch die Stahlarbeiter keine Zukunft.
Das schlimmste Programm für die Arbeiter ist rotgrüne Konfusion. Also, mit Windmühlen wird mit Sicherheit kein Hochofen betrieben.
Wir brauchen das Bekenntnis zu einer modernen Industriegesellschaft. In einer Aussteigergesellschaft haben die Arbeiter überhaupt keine Zukunft.Meine Damen und Herren, das gilt auch für die Bergleute. Sie haben in schwerer Zeit Deutschland vor Erfrieren und Verhungern bewahrt.
Das darf hier auch von den revierfernen Ländern nicht vergessen werden. Die Bergleute haben Treue verdient.Wir brauchen die Kohle auch für unsere energiepolitische Unabhängigkeit. Deshalb wiederhole ich es: Der Jahrhundertvertrag wird in seinem Kern erhalten.
Ich will allerdings auch hinzufügen: Wer aus der Kernenergie aussteigt, der steigt auch aus dem großen energiepolitischen Konsens aus. Drehen Sie also die Sache nicht um. Wer auf Kernenergie verzichtet, der verzichtet auf das, was Jahrzehnte gegolten hat: auf einen großen energiepolitischen Konsens.Ich halte es auch für ein Stück Schizophrenie von den Ländern, die sich gegen Kernenergie und damit auch gegen eine kostengünstigere Energieform aussprechen, sich den Kohlepfennig bezahlen zu lassen und anschließend die Demonstranten nach Wackersdorf zu schicken.
Das ist so ähnlich, als würde einer im Pelzmantel gegen Tigerjagd in Afrika protestieren.Ich bleibe dabei: Die Kumpels können sich auf uns verlassen. Ich sage das auch im Zusammenhang mit dem Thema, das gerade für Stahl und Kohle ganz wichtig ist, der Montan-Mitbestimmung. Ich sage es voller Stolz: Wir werden die Montan-Mitbestimmung vor dem Versickern bewahren, und zwar durch eine rechtsstaatlich saubere Sicherung. Sehen Sie, da werden Sie ganz ruhig. Die wäre nämlich nicht notwendig gewesen, wenn Sie 1981 das geschaffen hätten, was wir 1987 schaffen. Damit wäre die Montan-Mitbestimmung nie ins Gerede gekommen. Deshalb wundere ich mich, daß der Kollege Urbaniak, der Auslauf-Urbaniak, den Sicherungs-Blüm beschimpft. Ich kann nur sagen: Wir verdanken doch der Pfuscharbeit aus dem Jahre 1981, daß wir jetzt nachbessern müssen.Die Montan-Mitbestimmung steht für uns auch für eine uralte Erfahrung, nämlich, daß man schwere Zeiten durch Zusammenstehen besser meistert. Das ist auch eine Erinnerung für die Zukunft. Wir sind ja ein relativ junger Staat mit deshalb relativ sparsamen Traditionen. Aber zu den großen sozialstaatlichen Traditionen gehört die Montan-Mitbestimmung. Deshalb, auch in Erinnerung an die großen Gestalten Konrad Adenauer und Böckler, die aus ganz unterschiedlichen Lagern kamen, die aber wußten, daß Zusammenarbeit dem Volk und der Arbeitnehmerschaft bessertut als Konfrontation — und diese Erinnerung ist wichtiger als je zuvor — , auch deshalb unser Bekenntnis zur Montan-Mitbestimmung.
— Warten Sie doch einmal ab. Ich werde noch mehr in Fahrt kommen, als Ihnen lieb ist.
Ich habe ja manchmal wirklich den Eindruck, daß wir am Ende einer Legislaturperiode stehen. Hier ist eine Stimmung, als müßte pausenlos abgerechnet werden. Mir geht es nicht um Rückblick, mir geht es mehr um Ausblick. Es geht nicht um Vergangenheitsbewältigung, es geht um Zukunftsbewältigung: Arbeit für alle, nicht nur für die Jungen und Gesunden, soziale Sicherheit, Rentensicherheit bei zurückgehender Bevölkerung, Geborgenheit in einer anonymen Massengesellschaft.Aber, meine Damen und Herren, es kommt nicht nur darauf an, Probleme zu nennen, es müssen auch die Wege zu ihrer Lösung beschrieben werden. Es genügt nicht, Grundsätze zu feiern, aber die Praxis der Verwirklichung anderen zu überlassen. Es genügt nicht, das Gute zu wollen, man muß auch das Richtige tun. Deshalb: Politik hat immer mit ganz konkreten Vorhaben zu tun. Mich stört ein neumodischer, narzistischer Moralismus, der sich immer nur selbst bewundert, sich aber um die Folgen einen Dreck kümmert. Zufrieden mit sich selbst werden Gesinnungen vor sich hergetragen, ohne sich darum zu kümmern, wie die konkreten Probleme heute, hier und jetzt gemeistert werden, grüne Politik — Sie sind doch geradezu ein Muster — vollzieht sich nach dem Vorbild: Wir brauchen keine Mülldeponie, wir haben ja unseren Mülleimer im Haus.
— Wissen Sie, wenn ich da noch fortfahren soll: Was mich auch stört, ist ein moralischer, ist ein neudeutscher Überzeugungsexhibitionismus,
ein Exhibitionismus, der sich ja auch gerade bei Ihnenzeigt. Da laufen Sie mit Ihren Votivtafeln durch dieGegend. Wer seine Gesinnung nicht im Kopf hat, muß
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 197
Bundesminister Dr. Blümsie sich offensichtlich auf die Brust stecken, kann ich da nur sagen.
Ich finde diese Art von pausenlosem Überfallen mit Gesinnungen ohne die Anstrengung zum Detail, ohne die Kalkulation der Detailarbeit, eine Flucht aus der Politik.
Eine andere Form der politischen Verniedlichung, um nicht zu sagen: der Primitivierung hat gestern ja auch Jochen Vogel vorgeführt. Der Bundeskanzler, so meint er anklagend, habe das Wort Arbeitslosigkeit in seiner Regierungserklärung nur dreimal genannt.
Also wäre denn den Arbeitslosen geholfen, wenn er es neunmal genannt hätte? Wäre ihnen da 300 % mehr geholfen? Dieser Wortfetischismus der Sozialdemokraten
: Thema!)
steht in proportional umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Realitätsbewältigung. Deshalb, meine Damen und Herren, lassen Sie uns zu den Sachen reden, lassen Sie uns hier ringen.
— Ich danke für den Beifall. Jetzt will ich zur Sache „Rentenversicherung" reden.
— Auch darauf komme ich zurück. Darf ich noch die Reihenfolge selbst bestimmen, Frau Fuchs? Aber wenn Sie eine andere Reihenfolge haben wollen, rede ich auch in einer anderen Reihenfolge. .
Also: Die Bevölkerung geht zurück. Selbst unter der Annahme, daß die Geburtenrate nicht noch weiter absinkt und die Lebenserwartung im Umfang der letzten Jahre steigt, wird die Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik von rund 61 Millionen 1986 in gut 40 Jahren auf rund 48 Millionen abnehmen. Diese Zahlen sind mehr als nur ein statistischer Zündstoff. In ihnen ist sozusagen ein großes Umwälzungspotential enthalten. Deshalb droht nach dem Klassenkampf der Generationenkampf.Man muß die Bevölkerungsentwicklung ja nicht wie ein Naturgesetz hinnehmen. Wir bestimmen unsere Geschichte. Ob Familienfreundlichkeit oder Familienfeindschaft, das ist eine Bestimmung über die Zukunft unserer Gesellschaft. Ob Kinder in unserer Gesellschaft Platz haben oder nicht, entscheidet auch über Rentensicherheit.
In der Tat: Zukunftsangst oder Zukunftszuversichtentscheiden über Aufstieg oder Abstieg in unsererGesellschaft. Wer ständig Angst verbreitet, wer vonAngst lebt, wer die Produktion von Angst zu seiner bevorzugten Politik macht, muß sich nicht wundern, wenn in unserer Gesellschaft Familien- und Kinderfeindschaft entsteht.
Wer sich an den alten marxistischen Frontlinien zwischen Kapital und Arbeit eingegraben hat, bemerkt womöglich gar nicht, wo die neuen Problemfälle abgesteckt sind. Sie werden sich wundern. Es zeigt sich, wie oberflächlich Sie die Rentenpolitik betrachten, wenn Sie den Kern der Rentenproblematik nicht in der Veränderung der Bevölkerungsstruktur erkennen. Das zeigt, wie oberflächlich Sie bisher die Rentenversicherung gehandhabt haben.
Ich will es noch einmal exemplifizieren: Heute bezahlen 100 Beitragszahler 56 Renten. Im Jahre 2030 werden, wenn nichts geschieht, 132 Renten von 100 Arbeitnehmern bezahlt werden müssen. Ein Arbeitnehmer wird mehr als eine Rente mitfinanzieren und seinen Lohn teilen müssen. Das ist das Ergebnis von Zukunftsblindheit und Kinderfeindschaft.
— Frau Unruh, ich habe Sie gestern schon mit Ihrem Dazwischenschreien bewundert. Nomen est omen. Wenn es nach Ihrem Schreien geht, würde ich Sie Frau Schreier nennen. Das wäre eigentlich viel besser.
Die Beitragszahler schaffen es nicht alleine. Sie müßten sonst in die Rentenversicherung mehr einzahlen, als sie herausbekämen. Wir brauchen in der Tat zur Bewältigung des Bevölkerungsrückganges auch die Beteiligung des Bundes. Das ist die große rentenpolitische Weichenstellung dieser Koalitionsvereinbarungen. Daß sich der Bund dazu bekannt hat, daß er Beteiligter an der Bewältigung der demographischen Veränderung ist, daß er den Bundeszuschuß über das geltende Gesetz hinaus erhöhen muß, ist in der Tat ein Kontrastprogramm zu ihrer Praxis. Sie haben sich aus der Verantwortung für die Rentenversicherung mit einer Verkürzung der staatlichen Pflichten des Zuschusses von 3,5 Milliarden DM verabschiedet.Wir bekennen uns ausdrücklich zur gestiegenen Verantwortung, und zwar zu einer Verantwortung in Mark und Pfennig mehr Bundeszuschuß. Wir lassen die Rentenversicherung nicht im Stich. Sie bleibt die verläßliche Zusage für ein sicheres Alter.Strukturreform der Rentenversicherung heißt allerdings nicht Rentenrevolution. Wir stellen die Rentenversicherung nicht auf den Kopf, sondern wollen ihre Weiterentwicklung. Es bleibt bei der Beitrags- und Lohnbezogenheit. Ich sehe in der Leistungsbezogenheit der Rente auch das emanzipatorische Element unseres Sozialsystems. Altersrente spiegelt die Lebensarbeit wider. Rente ist keine Fürsorge, sondern Gegenleistung für Lebensarbeit. Deshalb ist die Rente auch nichts anderes als ein Alterslohn für Lebensarbeit. Dieses Prinzip werden wir mit Zähnen und
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Bundesminister Dr. BlümKlauen, ich hoffe, in Übereinstimmung mit den Sozialdemokraten, erhalten.
Es ist ja ganz fraglos, daß es natürlich außerhalb des Zusammenhanges Arbeit/Rente auch noch Leistung gibt, daß also Leistung nicht nur in der Erwerbsarbeit steckt: Kinder zu erziehen ist eine bedeutsame Leistung, die nicht weniger Wert ist als Erwerbsarbeit. Deshalb muß Kindererziehung im Rentenrecht anerkannt werden. Wir waren es, die diesen Grundsatz durchgesetzt haben, freilich nicht vom Beitragszahler, sondern von der staatlichen Gemeinschaft finanziert. Denn die Rentenversicherung kann nicht alle sozialen Fragen lösen und finanzieren, sonst würden die Beitragszahler den Sozialstaat überproportional finanzieren. An den allgemeinen sozialen Fragen, auch an der Bekämpfung der Altersarmut, müssen sich alle beteiligen, nicht nur die Beitragszahler der Rentenversicherung.
Es bleibt dabei, daß die Alterssicherung nicht die Aufgabe hat, das Existenzminimum abzusichern, sondern sie hat die Aufgabe, den Lebensstandard zu sichern. Das ist ein wichtiger Unterschied, der sie auch von der Sozialhilfe abgrenzt.Es bleibt bei unserer Einladung zum großen Rentenkonsens. Zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und der Bundesregierung gibt es bereits eine breite Übereinstimmung in der Rentenfrage. Das könnte auch der Kristallisationskern für die Renteneinigung sein. Ich bedanke mich auch bei der Sozialdemokratischen Partei für ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit.
Der Beginn der Diskussion über die Rentenstrukturreform läßt hoffen, daß sie auch ein gutes Ende nehmen wird. Meine Damen und Herren, ich denke, das gehört auch zu unserer politischen Kultur. Darin muß die Fähigkeit zu beidem enthalten sein, zu Konflikt und Konsens. Es wird noch genügend Spielraum, auch in diesem Hause, zum Konflikt, zum Streit geben. Laßt uns nicht aus jeder Frage eine Streitfrage machen! An Renten-Streit kann niemand interessiert sein. Er würde nur die Angst unserer älteren Mitbürger erhöhen.
Auch deshalb bin ich für eine große Renten-Einigung aller Parteien.Auch in der Krankenversicherung löst der Bevölkerungsrückgang Belastungsverschiebungen aus. Die Rentner zahlen zwar ihren Beitrag zur Krankenversicherung — das entspricht auch dem Gebot der Solidarität, alt für jung, aber auch jung für alt — , aber die Kosten der Krankenversicherung der Rentner wachsen schneller als die Beiträge. Der Abstand zwischen Beitrag und Leistung betrug 1986 rund 25 Milliarden DM. Jeder Beitragszahler hat das im Jahr mit 1 000 DM Beitrag ausgleichen müssen. Das wollen wirnicht ändern. Es gehört zur Generationensolidarität, daß die Jungen für die Alten einstehen; denn schließlich werden ja auch die Jungen mal alt — es wird niemand übervorteilt — , und die Alten waren auch mal jung. Trotzdem bleibt es dabei: Bevölkerungsrückgang heißt, daß weniger Beitragszahler die Rentnerkrankenversicherung finanzieren müssen.Auch deshalb müssen wir in der Krankenversicherung umschichten. Wir können nicht einfach so weitermachen. Wir würden zu Beitragssätzen kommen, die niemand mehr zahlen könnte. Wir haben gar nicht die Wahl, weiterzumachen wie bisher oder Veränderung. Das Kunststück wird nur sein, sich zu entscheiden: Was ist wichtig, und was ist wichtiger? Die Kunst der Krankenversicherungsreform wird der Mut zur Prioritätensetzung sein.Wir werden Überversorgungen abbauen müssen — Gewohnheiten aufzugeben ist immer schmerzhaft — , um damit Spielräume zu gewinnen, Unterversorgungen auszugleichen, umzuschichten. Es gibt sicherlich in unserem Krankenversicherungssystem Überversorgungen.Wir haben beispielsweise viel zuviele Krankenhausbetten, aber zuwenig Pflegebetten.
Also wird doch die Kunst darin bestehen, sozusagen das Überangebot zurückzunehmen, um das Unterangebot an einer anderen Stelle auszugleichen. Nicht alles, was uns lieb und teuer ist, muß von Krankenversicherungsbeiträgen bezahlt werden, nicht jede Bagatelle, nicht jeder Luxus. Sonst würde doch der mit bescheidenen Ansprüchen mit seinem Pflichtbeitrag den Luxus des anderen mitfinanzieren. Also müssen wir uns auf einen Grundkern der Krankenversicherung verständigen, der solidarisch abgedeckt wird.Dabei muß über jeden Zweifel erhaben sein: Wer krank ist, muß geheilt werden, ohne Rücksicht darauf, ob er reich oder arm ist. Dieser Grundsatz kann nicht zur Disposition gestellt werden.
Ich wünsche uns gemeinsam Mut und Phantasie bei der Krankenversicherungsreform,
Mut, um den tausendfüßigen Lobbyismus zu besiegen, und Phantasie, um neben den ausgelatschten Trampelpfaden der Gewohnheit neue Wege zu finden.
Ich habe über den Bevölkerungsrückgang gesprochen. Allerdings, meine Damen und Herren, betrachte ich dieses Phänomen nicht lediglich als ein Zahlenphänomen, sondern als eines, das Auskunft über den Zustand einer Gesellschaft gibt, die in Gefahr ist, eine Summe von Egoismen zu werden. Wenn jeder nur an sich selber denkt, denkt niemand mehr über seine Existenz hinaus. In einem so vernagelten Individualismus gibt es keine Chance für Zukunft und Kinder.Ich glaube, daß der Rückgang der Kinderzahl etwas damit zu tun hat, daß ein Programm von Selbstver-
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Bundesminister Dr. Blümwirklichung verkündet wird, das bei Licht betrachtet nichts anderes ist als Alleinverwirklichung, als eine neue Flucht aus solidarischen Pflichten: daß mit Emanzipation verwechselt wird, was nichts anderes ist als Egoismus. Für Kinder arbeiten heißt doch auch, für die, die nach uns kommen, zu arbeiten, über die eigene Existenz hinauszudenken. Etwa wie ein Bauer Wälder anpflanzt, die er nie roden kann, so muß unsere Gesellschaft fähig sein, sich selber zu transzendieren.
Ich sehe — ich wiederhole mich — : Selbstverwirklichungsprogramme neumodischer Art sind nichts anderes als ein Tanz um sich selber.
Das Verhältnis der Generationen zueinander wird, da bin ich sicher, eines der großen Themen der Sozialpolitik der Zukunft.Das Thema Alter stellt sich auch auf dem Arbeitsmarkt. Meine Damen und Herren, wir sind in Gefahr, eine jugendwahnsinnige Gesellschaft zu werden: jung, gesund, ausgebildet.
— Verehrte Frau Kollegin, den harten Kern der Arbeitslosen bilden die älteren Arbeitnehmer. Dort sind die Langzeitarbeitslosen. Eine Politik, die sich um die konkreten Notlagen kümmert, muß die unterschiedlichen Lebenslagen berücksichtigen. Die Härte der Arbeitslosigkeit hängt keineswegs nur von der Höhe der Arbeitslosenzahl ab, sondern auch von der Dauer. Ein 50jähriger, der seinen Arbeitsplatz verliert, hat es viel, viel schwerer, wieder Arbeit zu finden, als ein 20jähriger. Darauf antworten wir, weil wir keine Gesellschaft wollen, in der nur die Jungen, Gesunden, Ausgebildeten Arbeit haben und die anderen mit Unterstützung abgefunden werden. Das ist nicht unsere Gesellschaft. Das wäre eine neue Klassengesellschaft.
Alte, Kranke, Ungelernte — denen müssen wir uns zuwenden. Die Zahl derer, die solche Handicaps haben, wächst. Das ist der harte Kern der Arbeitslosigkeit, der durch konjunkturelle Maßnahmen zunächst auch gar nicht aufgelöst werden kann. Fachleute schätzen, daß es eine Million ist. Deshalb geht eine gezielte Arbeitsmarktpolitik nicht mit der Gießkanne vor, nicht mit großen Beschäftigungsprogrammen, sondern konzentriert sich auf diejenigen, die am meisten Hilfe brauchen.Wir brauchen Qualifikation. Auch berufliche Bildung, meine Damen und Herren, muß von der Scheuklappe befreit werden, Bildung hätte — erstens — nur etwas mit der jungen Generation zu tun, sei nur etwas für das erste Drittel des Lebens, oder hätte — zweitens — nur etwas mit Aufstieg zu tun.
Berufliche Bildung ist auch Sache der Älteren. Es gehtnicht nur um Aufstieg, Diplome und Prüfungen. Ein50jähriger Dreher darf nicht „verschrottet" werden, wenn eine neue Maschine kommt. Er muß in die Lage versetzt werden, eine Maschine, die es in seiner Lehrzeit noch gar nicht gab, zu beherrschen. Dafür sind auch die Unternehmer verantwortlich. Ein moderner, sozialer Unternehmer ist nicht nur für Investitionen, für neue Maschinen verantwortlich, sondern auch für die berufliche Bildung.
Es geht nicht nur darum, Maschinen zu warten. Menschen müssen gepflegt werden. Zu dieser Pflege gehört Bildung. Wir unterstützen Weiterbildung und Umschulung mehr als je zuvor,
mehr auch als zu Ihrer Zeit. — Es ist nicht wahr, Frau Fuchs. Gegen Adam Riese kommen selbst Sie mit Ihrem Charme nicht an. Zu Ihrer Zeit gab es in einem Jahr 260 000 Umschüler. Im letzten Jahr waren es 530 000. Fragen Sie einmal bei Adam Riese, was mehr ist: 530 000 oder 260 000.
Über Zahlen können wir uns nicht streiten. Es gibt keine katholischen oder evangelischen, keine grünen, roten oder schwarzen Zahlen.
— Ja, rote Zahlen in einem ganz bestimmten Sinn. Dazu haben Sie eine gewisse Nähe. Rote Zahlen sind die Bankrottzahlen.
Meine Damen und Herren, zwei Drittel der Teilnehmer hatten spätestens ein halbes Jahr nach der Bildungsmaßnahme einen Arbeitsplatz. Sie sehen, das ist nicht Bildung ins Blaue hinein — um eine weitere Farbe zu nennen —, sondern Bildung mit der Chance, wieder Arbeit zu finden. Ich fand es gestern ganz rührend, als der Oppositionsführer der SPD gesagt hat: „Bei der Qualifizierungsoffensive machen Sie nur, was wir in Anträgen gefordert haben." — Ja, das ist Ihre Stärke: Anträge stellen, Papier bedrucken. Warum haben Sie das nicht umgesetzt, als Sie die Mehrheit hatten? Wir haben es gemacht. Wir helfen den Leuten. Wir sorgen für Umschulung und Fortbildung.
Qualifizierung ist auch deshalb notwendig, weil Arbeitsplätze der Ungelernten stärker wegfallen. Es gibt Fachleute, die sagen, daß in den nächsten zehn Jahren drei Millionen Arbeitsplätze für Ungelernte wegfallen. Technische Neuerungen führen zur Höherqualifikation. Von zehn Arbeitsplätzen, die durch Technologie verändert werden, erfordern neun
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Bundesminister Dr. Blümeine Höherqualifizierung. Auch daran können Sie sehen, daß Ihre Technikfeindschaft falsch ist.
Es führt zu qualitativ höherwertiger Arbeit. Um so mehr müssen wir uns um diejenigen kümmern, die nur schwer bildungsfähig sind.
Wir wollen mit Lohnkostenzuschüssen helfen, und zwar in einer großzügigen Form und nicht degressiv wie bisher. Wir wollen die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf diese Langzeitarbeitslosen konzentrieren.Ich gebe zu: Das ist ein Programm mit vielen Details. Aber jene großsprecherischen Programme, die man in einem einzigen Satz beschreiben kann, haben den Menschen nie geholfen. Detailliert ist die Lage der Betroffenen. Deshalb gibt es nur eine detaillierte Antwort.
— Ach, wir zahlen Geld dafür.
Ich appelliere an die Arbeitgeber, zuerst die Behinderten einzustellen. Oft scheitert die Einstellung nicht daran, daß ein Behinderter überfordert wäre. Der Leistungswille, der Wille mitzuarbeiten ist bei vielen behinderten Mitbürgern stärker als bei manchem, den wir herkömmlich als nicht behindert betrachten. Es scheitert manchmal einfach daran, daß ein Arbeitsplatz nicht mit ein paar Handgriffen oder mit einer Zusatzeinrichtung behindertengerecht gemacht wird.Ich appelliere ganz besonders an die öffentlichen Arbeitgeber, mit gutem Beispiel voranzugehen.
Neun von elf Ländern erfüllen nicht ihre Beschäftigungspflicht. Das ist ein Armutszeugnis. Deshalb mein Apell an die Länder, an die Kommunen, mit gutem Beispiel voranzugehen.
— Der Bund geht mit gutem Beispiel voran. Der Bund hat seine Beschäftigungspflicht über Gebühr erfüllt.Zur Beschäftigungslage insgesamt: Wir sollten uns nicht überschätzen. Ich glaube nicht, daß der Staat selber Unternehmen ersetzen und Arbeitsplätze schaffen könnte. Wir wollen keine Funktionärs-, Bürokraten- und Bonzenwirtschaft.Mut, Risiko, Einfallsreichtum, Fleiß können nicht befohlen werden.
Fleiß muß sich lohnen. Das merkt doch selbst Gorbatschow. Freie Arbeitnehmer, freie Unternehmer, Gewerkschaften und Arbeitgeber müssen zusammenarbeiten. Das ist eine der wichtigsten Bedingungen dafür, daß neue Arbeitsplätze entstehen.Arbeit und Wohlstand gibt es nur in einer modernen Wirtschaft. Mit den Methoden einer Aussteigergesellschaft kann das Wohlstandsniveau einer Industriegesellschaft nicht gehalten werden.
Ich sage noch einmal: Das größte Arbeitsplatzvernichtungsprogramm ist eine rot-grüne Konfusion.
DIE GRÜNEN und die Arbeiterbewegung passen zusammen wie ein Parasit und sein Wirtstier.
— In Köln haben Ihre Freunde doch gefordert, die Automobilproduktion auf Fahrradproduktion umzustellen. Die Opel-Arbeiter in Rüsselsheim lassen grüßen, kann ich nur sagen.In der Tat, das Bekenntnis zu moderner Technik ist eine der Voraussetzungen, daß wir auf der Höhe der Zeit bleiben.
Ich stelle die moderne Technik nicht als Idylle dar. Natürlich hat sie immer zwei Seiten. Aber es ist doch die politische Kunst, die Chancen zu nutzen und die Gefahren zurückzudrängen.
Am dümmsten ist es, Chancen nicht zu nutzen. Und hat sich nicht viel gebessert gegenüber Ihrem Katastrophenszenario?Mein Großvater
hat die Urlaubsplätze, zu denen seine Enkel fahren, noch nicht einmal auf der Landkarte gefunden. Hat sich nicht die Lage der Bergleute, die mit der Spitzhacke in der Hand die Kohle abbauten, gebessert? Mit 40 Jahren hatten sie Staublunge. Wie war das mit den Webern? Hauptmann hat doch keine Fiktion geschrieben;
das war Reportage. Wie war das mit den Naßschleifern, mit den Maurern, die den Speis schleppen mußten? Hat der Kran uns nicht Arbeit abgenommen?
Nein, jene aus der spätbürgerlichen Bewegung der Zivilisationsmüden — das nämlich ist die grüne Bewegung — können nicht die Freunde der Arbeiterbewegung sein.
Natürlich hat die Technik — ich sage es noch einmal — zwei Gesichter. Aber ich sehe in der Technik keineswegs die Fratze des Teufels, sondern auch die helfende Hand des Dieners. Sie hat uns Arbeit abgenommen. Am Anfang des Jahrhunderts war die durchschnittliche Jahresarbeitszeit 3 000 Stunden; heute sind es 1 600, die Hälfte. Die Lebenserwartung
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Bundesminister Dr. Blümhat sich in den letzten 40 Jahren um 35 Jahre erhöht.Wenn die Welt so schlecht, so vergiftet, so katastrophenhaltig wäre, frage ich mich, warum die Leute alle älter werden. Vor 50 Jahren war eine Blinddarmoperation noch eine lebensgefährliche Operation.
— Ich bin sicher, Frau Unruh: Wenn Sie eine Blinddarmoperation haben, werden Sie zu einer modernen Hochleistungsmedizin gehen, die alle Angebote der modernen Errungenschaften der Wissenschaft in Anspruch nimmt.
Kindersterblichkeit: Vor hundert Jahren starben von 1 000 neugeborenen Kindern 400 im ersten Lebensjahr; sie erreichten gar nicht ihren ersten Geburtstag. Heute sind es 7.Ja, meine Damen und Herren, Sie können über vieles klagen: Ich sehe in der Technik die helfende Hand für menschlichen Fortschritt.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sellin?
Ja, bitte.
Sellin [GRÜNE]: Herr Blüm, darf ich Sie fragen: Konnte Ihr Großvater im Rhein noch schwimmen?
Mein Großvater konnte im Rhein noch schwimmen. Und wenn wir die erfolgreiche Politik von Walter Wallmann, die er jetzt begonnen hat, fortsetzen können, werden auch Sie bald wieder im Rhein schwimmen können. Da können Sie ganz sicher sein.
Das ist ja das Kunststück einer vernünftigen Politik: die Gefahren zurückzudrängen und die Chancen zu nutzen, aber nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Die Arbeiterbewegung jedenfalls — und jetzt appelliere ich doch an die Sozialdemokraten, das ist doch Ihre Geschichte — hat doch geradezu von der Idee gelebt: Fortschritt, es kann besser werden, es soll besser werden, es muß besser werden. Die Arbeiterbewegung war doch geradezu von dem Glauben getrieben, die Welt verbessern zu können. Ihr Optimismus, ihre Zuversicht hat Fortschritt überhaupt erst möglich gemacht. „Wann wir schreiten Seit' an Seit' . " — das ist doch das klassische Lied des Fortschritts. Und jetzt singen Sie mit diesen GRÜNEN Heiapopeia, zurück zu den Petersiliengurus.
Die Verwirrung ist doch bei Ihnen schon weit fortgeschritten. Sehen Sie sich doch einmal Hessen an: Erst wird die Ehe gekündigt, und auf dem Rückweg vom Scheidungsanwalt wird schon wieder das Aufgebot für die nächste Hochzeit bestellt. Dann muß die Verwirrung doch schon sehr groß sein. Ich appelliere an meine Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben, nicht auf den Leim dieser rot-grünen Konfusion zu gehen, sondern den besten Traditionen der Arbeiterbewegung treu zu bleiben.
Meine Damen und Herren, Sie haben heute in großer Geste auch die Steuerpolitik attackiert. Also, damit Sie sich gar nicht aufregen: Ich denke über den Spitzensteuersatz heute nicht anders als vor drei Wochen. Nur, das eine sage ich Ihnen: Sie haben überhaupt keinen Grund, uns auf die Anklagebank zu setzen. Wer für die kleinen Leute in Sachen Steuer so wenig getan hat wie Sie, der eignet sich überhaupt nicht als Nachhilfelehrer für Norbert Blüm — überhaupt nicht!
Ich kann es Ihnen, wenn Sie es in Zahlen haben wollen, gern einmal vortragen: Wer als Lediger 20 000 DM pro Jahr versteuert, spart nach dem Rau-Tarif 130 DM, nach dem Vorschlag der Koalition 477 DM. Bei Verheirateten mit gleichem Einkommen beträgt der Steuervorteil bei Rau 214 DM, bei Kohl 726 DM.
— Ja, machen wir es doch ganz einfach. Das ist für die kleinen Leute, das sind keine großen Phrasen. — Wer als Lediger 30 000 DM versteuert, wird bei Rau mit 483 DM, bei Kohl mit 1 009 DM entlastet. Was ist mehr: 483 DM oder 1 009 DM?
Verheiratete mit 30 000 DM müßten bei Rau 241 DM, bei Kohl etwa viermal weniger zahlen, 892 DM. Bei 40 000 DM — das sind alles keine Millionäre — zahlt ein Lediger bei Rau 569 DM weniger Steuern, bei Kohl 2 075 DM weniger. Verheiratete mit diesem Einkommen stehen sich beim Kohl-Tarif immer noch um 694 DM besser als beim Rau-Tarif. Und laßt die kleinen Leute entscheiden, welche Steuerreform ihnen besser zugute kommt: die, die wir vorschlagen, die eine große Entlastung für die breiten Einkommensschichten bringt, die eine halbe Million Mitbürger von der Steuerlast ganz befreit — ich meine, damit kann man sich sehen lassen — , oder die, die die SPD vorschlägt.
— Meine Damen und Herren, nicht so aufgeregt, wir können hier ein ganzes Abendprogramm machen,
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Bundesminister Dr. Blümwenn Sie nur Zeit genug haben. Nur, wie vorteilhaft unser Tarif ist, wollte ich Ihnen doch gern gesagt haben.
— Ihre Aufregung muß groß sein. —Meine Damen und Herren, wir haben in den acht Wochen nach der Bundestagswahl nicht nur Koalitionsverhandlungen geführt, sondern wir haben auch— das will ich Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgehen lassen — sozialpolitisch gehandelt.
— Das will ich Ihnen ja gerade sagen. Da sehen Sie, wie notwendig es ist, daß ich das hier erzähle. —
Die Probleme haben ja keinen Urlaub.
Erstens. Bereits drei Tage nach der Wahl haben wir den Gesetzentwurf für die Verlängerung des Arbeitslosengeldes vorgelegt. Ist das für die Arbeitslosen gut oder schlecht? Antworten Sie darauf: Ist es gut oder schlecht?
Zweitens. Wir haben drei Tage nach der Wahl, wie im Wahlkampf versprochen, den Referentenentwurf vorgelegt, um auch die älteren Mütter in die Anrechnung der Kindererziehungszeiten mit einzubeziehen.
Das Kabinett hat den Entwurf bereits beschlossen. Eine Million älterer Mütter, die vorher überhaupt nichts bekommen haben, von der SPD nichts bekommen haben, von Ihnen nichts bekommen haben, werden ab 1. Oktober 1987 in den Genuß von Kindererziehungszeiten kommen. Ist das sozialpolitischer Fortschritt oder nicht?
Wir haben das Kurzarbeitergeld für die Stahlarbeiter auf den Weg gebracht, das jetzt auf drei Jahre verlängert wird. Das Kurzarbeitergeld für alle Kurzarbeiter wird ab 1. April 1987 von sechs Monaten auf zwei Jahre verlängert. Sie sehen: Sie reden, wir handeln. Das ist das Kontrastprogramm der Regierung zur Opposition.
Jetzt die aktuellste Nachricht: Gestern ist der Referentenentwurf zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung, erster Teil, verschickt worden. Sie sehen: Bei uns wird nicht lange gefackelt; was wir beschlossen haben, wird durchgeführt. Was wir vor der Wahl versprochen haben, wird nach der Wahl gemacht.
Wir verkünden nicht Absichten, wir verwirklichen sie.Wir sind auch in der Sozialpolitik, meine Damen und Herren, einer Politik der Mitte verpflichtet. DieMitte ist jeder Einseitigkeit abgeneigt: sozialer Ausgleich, Machtbalance, Partnerschaft, nicht gegeneinander, sondern miteinander, das sind ihre bevorzugten Instrumente. Nicht der Knall der großen Revolution verändert die Welt, sondern der leise Schritt der Evolution bringt die Welt vorwärts. Erhalten und Verändern, das ist die große Balance. Von beiden Seiten ist eine solche Politik der Mitte gefährdet. Wenn sie nur erhält und zur Veränderung nicht fähig ist, verrutscht sie nach der einen Seite. Wenn sie nur verändert und nicht erhält, verrutscht sie nach der anderen Seite.
Die Reaktionäre können die Politik der Mitte als umsturzverdächtig ansehen, die Revolutionäre können sie als Besitzstandsverwahrung verdächtigen. Die Mitte wird von zwei Seiten gezerrt und gedrückt.
Sozialismus und Kapitalismus sind nur die beiden Extreme.
Sie haben Teilwahrheiten verabsolutiert. Der Uraltliberalismus sagt, der Mensch sei nur Individuum, und der Uraltsozialismus und seine jüngeren Nachfahren sagen, der Mensch sei nur ein Kollektivwesen. Er ist beides, er ist doppelgesichtig, und deshalb ist eine solche Politik der Mitte nie dogmatisch festzulegen.
Ich gebe zu, Mitte ist nicht glanzvoll, aufregend, aber die Verrücktheiten sind halt immer spektakulärer als die Mitte.
Vernunft beansprucht nicht den bunten Rock eines Jahrtausendereignisses, aber zuverlässig begleitet sie den Weg der Menschen zum Fortschritt.
Ideologie gleicht dem Elefanten im Porzellanladen, Vernunft ist eher wie die Eule, lautlos, bescheiden.
Politik der Vernunft muß für neue Fragen empfindlich bleiben. Wir bekennen uns zu einer Politik der vernünftigen Mitte.
Meine Damen und Herren, ich gebe erst einmal die von den Schriftführern ermittelten Ergebnisse der namentlichen Abstimmung bekannt, und zwar zuerst das Ergebnis der Abstimmung über den Entschließungsantrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 11/65: 455 Stimmen wurden abgegeben, keine ungültigen Stimmen. Mit Ja haben 164 Abgeordnete, mit Nein haben 290 Abgeordnete gestimmt. Es gab eine Enthaltung.
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Vizepräsident Frau RengerEndgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 454; davonja: 164nein: 289enthalten: 1JaSPDAndresAntretter Dr. Apel Bachmaier BahrBambergBecker
Frau Becker-Inglau BernrathBindigFrau BlunckDr. Böhme Börnsen (Ritterhude) BrandtBrückBüchler
Büchner
Dr. von BülowFrau BulmahnBuschfort Catenhusen Frau ConradConradiFrau Dr. Däubler-Gmelin DaubertshäuserDillerDreßlerDuveEgertDr. Ehmke
Dr. EhrenbergDr. EmmerlichErlerEstersEwenFrau FaßeFischer
Frau Fuchs
Frau Fuchs
Frau GanseforthGanselDr. Gautier Gerster
GilgesDr. GlotzFrau Dr. GötteGrafGroßmann Haack
Frau HämmerleFrau Dr. Hartenstein HasenfratzDr. HauchlerDr. Hauff Heimann HeistermannHeyennHiller
Dr. Holtz HornHuonker Ibrügger Jahn
Dr. JensJung KastningKiehmKirschnerKlein
Dr. KlejdzinskiKloseKolbow Koltzsch KoschnickKretkowskiKühbacherKuhlwein Lambinus Leidinger Lennartz Leonhart Lohmann
LutzFrau LuukMenzel Meyer Dr. MitzscherlingMüller
Müller MünteferingNehmFrau Dr. NiehuisDr. NieseDr. NöbelOesinghausOostergeteloPaterna PauliDr. PennerPeter
PfuhlDr. Pick Porzner PoßPurpsReimann Frau RengerReschke Reuter RixeRothSchäfer SchanzDr. ScheerScherrer SchluckebierFrau Schmidt Schmidt (Salzgitter)Dr. SchmudeDr. Schöfberger SchreinerSchröer SchützSeidenthalFrau SeusterSielaffSieler
SingerFrau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. SperlingDr. SpöriSteinerFrau SteinhauerStiegler Stobbe Dr. StruckTietjenFrau Dr. Timm ToetemeyerFrau Traupe UrbaniakVahlbergVerheugen Dr. VogelVoigt Waltemathe WaltherWartenberg WeiermannFrau Weiler Dr. Wernitz WestphalFrau Weyel Wieczorek Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspützvon der Wiesche Wimmer WischnewskiDr. de With WittichZanderZeitlerZumkleyNeinCDU/CSUDr. Abelein AustermannBauerBayhaDr. Becker Frau Berger (Berlin) Dr. Biedenkopf BiehleDr. BlankDr. BlensDr. BlümBöhm Börnsen (Bönstrup) Dr. BötschBohlBohlsenBorchertBreuerBühler BuschbomCarstens Dr. CzajaDr. Daniels DawekeFrau Dempwolf DeresDörflingerDr. DollingerDossDr. Dregger EchternachEhrbarEigenEngelsbergerEylmannDr. Faltlhauser FeilckeDr. FellFellnerFrau FischerFischer Dr. FriedmannDr. FriedrichFuchtelGanz GeisDr. von GeldernGerstein Gerster
GlosDr. GöhnerGröblDr. GrünewaldGünther Harries Haungs Hauser
Hauser
HedrichFreiherr Heereman von ZuydtwyckFrau Dr. HellwigHelmrich Dr. HennigHerkenrathHinrichs Hinsken Höffkes HöpfingerHörsterDr. HoffackerFrau Hoffmann
Dr. HornhuesFrau Hürland-BüningDr. HüschDr. Jahn
Dr. JenningerDr. JobstJung
Jung
KalbKalisch Dr.-Ing. KansyDr. KappesFrau KarwatzkiKittelmannDr. Köhler
Dr. Kohl KossendeyKrausKreyKroll-SchlüterDr. KronenbergDr. Kunz
LamersDr. LammertDr. LangnerLattmannDr. LaufsFrau LimbachLink
Link
LinsmeierLintnerDr. Lippold
Dr. h. c. LorenzLouven Lowack Lummer MaaßFrau MännleMagin MarschewskiDr. Meyer zu BentrupMichelsDr. MiltnerDr. MöllerDr. MüllerMüller
Müller
Dr. NeulingNeumann
NiegelDr. OlderogOswald Frau PackPeschPetersen Pfeffermann
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204 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Vizepräsident Frau RengerPfeiferDr. PfennigDr. PingerDr. Pohlmeier Dr. ProbstRauenRaweReddemann Regenspurger RepnikDr. Riedl
Dr. RiesenhuberFrau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) Dr. RoseRossmanithRoth RüheDr. Rüttgers RufSauer Sauer (Stuttgart) Sauter (Epfendorf)Dr. Schäuble Scharrenbroich Schartz SchemkenScheuSchmidbauer Schmitz
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer SchreiberDr. Schroeder SchulhoffDr. Schulte
Schulze (Berlin)
Dr. Schwörer SeesingSeitersDr. SprungDr. Stark
Dr. Stavenhagen Dr. SterckenDr. Stoltenberg StraßmeirStrubeStücklenFrau Dr. SüssmuthSussetTillmannDr. Todenhöfer Dr. UelhoffUldallDr. UnlandFrau VerhülsdonkVogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. Vondran Dr. VossDr. WaffenschmidtGraf von Waldburg-Zeil Dr. WallmannDr. WarnkeDr. WarrikoffDr. von WartenbergWeiß Werner (Ulm)Frau Will-Feld WilzWimmer WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. Wittmann Dr. WörnerWürzbachDr. WulffZeitlmannZiererZinkSPDNiggemeier Stahl
FDPFrau Dr. Adam-Schwaetzer BaumBeckmann BredehornCronenberg Eimer (Fürth)Frau Folz-Steinacker FunkeGallusGattermann Genscher GriesFrau Dr. Hamm-Brücher Dr. HaussmannHeinrichDr. Hirsch HoppeDr. Hoyer IrmerKohnDr. Graf LambsdorffLüderMischnick Neuhausen NoltingPaintnerRichterRindRonneburger Schäfer
Frau Dr. SegallFrau Seiler-AlbringDr. Solms Dr. Thomae TimmDr. Weng Wolfgramm (Göttingen) Frau WürfelZywietzDIE GRÜNENFrau Beck-OberdorfFrau BeerFrau Brahmst-RockBrauerDr. Briefs Ebermann Frau Flinner Frau Garbe Frau Hensel Frau HillerichHossHüserKleinert
Dr. Knabe Kreuzeder Frau Krieger Dr. Lippelt
Dr. MechtersheimerFrau NickelsFrau Oesterle-Schwerin Frau OlmsFrau Rust Frau Saibold Frau SchillingSchilyFrau Schmitt-BottFrau SchoppeSellinStratmannFrau Teubner Frau Vennegerts Frau Dr. Vollmer VolmerWeiss WetzelFrau Wilms-Kegel Frau Wollny WüppesahlEnthaltenDIE GRÜNENDr. Daniels
Der Antrag ist abgelehnt.Das Ergebnis der Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/66: 451 Mitglieder des Hauses haben ihre Stimme abgegeben; davon war keine Stimme ungültig. Mit Ja haben 39 Abgeordnete des Hauses gestimmt, mit Nein haben 408 Abgeordnete des Hauses gestimmt, und es gab 4 Enthaltungen.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen 451; davonja: 39nein: 408enthalten: 4JaDIE GRÜNENFrau Beck-OberdorfFrau BeerFrau Brahmst-Rock BrauerDr. BriefsDr. Daniels EbermannFrau Flinner Frau Garbe Frau Hensel Frau HillerichHossHüserKleinert
Dr. Knabe Kreuzeder Frau KriegerDr. Lippelt Frau NickelsFrau Oesterle-Schwerin Frau OlmsFrau Rust Frau Saibold Frau SchillingSchilyFrau Schmitt-BottFrau SchoppeSellinStratmann Frau TeubnerFrau Unruh Frau VennegertsFrau Dr. VollmerVolmerWeiss
WetzelFrau Wilms-KegelFrau Wollny WüppesahlNeinCDU/CSUDr. Abelein Austermann BauerBayhaDr. Becker Frau Berger (Berlin)Dr. Biedenkopf BiehleDr. BlankDr. BlensDr. BlümBöhm
Börnsen
Dr. Bötsch BohlBohlsenBorchertBreuerBühler Buschbom Carstens (Emstek)Dr. CzajaDr. Daniels DawekeFrau DempwolfDeresDörflingerDr. Dollinger DossDr. Dregger Echternach Ehrbar
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 205
Vizepräsident Frau RengerEigenEngelsbergerEylmannDr. FaltlhauserFeilcke Dr. Fell Fellner Frau FischerFischer
Dr. FriedmannDr. FriedrichFuchtelGanz
GeisDr. von GeldernGerstein Gerster
GlosDr. GöhnerGröblDr. GrünewaldGünther Harries Haungs Hauser
Hauser
HedrichFreiherr Heereman von ZuydtwyckFrau Dr. HellwigHelmrichDr. HennigHerkenrathHinrichs Hinsken Höffkes HöpfingerHörsterDr. HoffackerFrau Hoffmann
Dr. HornhuesFrau Hürland-BüningDr. HüschDr. Jahn
Dr. JenningerDr. JobstJung
Jung
KalbKalisch Dr.-Ing. KansyDr. KappesFrau KarwatzkiKittelmannDr. Köhler
Dr. Kohl KossendeyKrausKreyKroll-SchlüterDr. KronenbergDr. Kunz
LamersDr. LammertDr. LangnerLattmannDr. LaufsLemmrichFrau LimbachLink
Link
LinsmeierLintnerDr. Lippold Dr. h. c. LorenzLouven Lowack Lummer Maaß Frau MännleMagin MarschewskiDr. Meyer zu BentrupMichelsDr. Miltner Dr. Möller Dr. Müller Müller
Müller
Dr. Neuling Neumann NiegelDr. Olderog OswaldFrau Pack PeschPetersenPfeffermann PfeiferDr. Pfennig Dr. Pinger Dr. Pohlmeier Dr. Probst RauenRaweReddemann Regenspurger RepnikDr. Riedl
Dr. RiesenhuberFrau Rönsch Frau Roitzsch (Quickborn) Dr. RoseRossmanith Roth RüheDr. Rüttgers RufSauer
Sauer
Sauter
Dr. Schäuble ScharrenbroichSchartz
Schemken ScheuSchmidbauer Schmitz
Dr. Schneider Freiherr von Schorlemer SchreiberDr. Schroeder SchulhoffDr. Schulte Schulze (Berlin)Dr. Schwörer SeesingSeitersDr. SprungDr. Stark
Dr. StavenhagenDr. Stercken Dr. Stoltenberg Straßmeir StrubeStücklenFrau Dr. Süssmuth SussetTillmannDr. TodenhöferDr. Uelhoff UldallDr. UnlandFrau VerhülsdonkVogel
Vogt
Dr. Voigt
Dr. Vondran Dr. VossDr. WaffenschmidtGraf von Waldburg-Zeil Dr. WallmannDr. Warnke Dr. WarrikoffDr. von Wartenberg Weiß Werner (Ulm)Frau Will-FeldWilzWimmer WindelenFrau Dr. Wisniewski WissmannDr. WittmannDr. Wörner Würzbach Dr. Wulff Zeitlmann ZiererZinkSPDAndresAntretter Dr. Apel Bachmaier BahrBambergBecker
Frau Becker-Inglau BernrathBindigFrau BlunckDr. Böhme Börnsen (Ritterhude) BrandtBrückBüchler
Büchner
Dr. von BülowFrau BulmahnBuschfort CatenhusenFrau ConradConradiFrau Dr. Däubler-Gmelin DaubertshäuserDillerDreßlerDuveEgertDr. Ehmke
Dr. EhrenbergDr. EmmerlichErlerEstersEwenFrau FaßeFischer
Frau Fuchs
Frau GanseforthGanselDr. GautierGerster
GilgesDr. GlotzFrau Dr. GötteGrafGroßmann Haack
Frau Hämmerle HasenfratzDr. HauchlerDr. Hauff Heimann HeistermannHeyennHiller
Dr. Holtz HornHuonker Ibrügger Jahn
Dr. JensJung
Kastning KiehmKirschnerKlein
Dr. KlejdzinskiKloseKolbowKoltzsch Koschnick Kretkowski Kühbacher Kuhlwein Lambinus Leidinger Lennartz Leonhart Lohmann
LutzFrau Luuk MenzelMeyerDr. MitzscherlingMüller
Müller MünteferingNehmFrau Dr. NiehuisDr. Niese NiggemeierDr. Nöbel OesinghausOostergeteloPaternaPauliDr. Penner PfuhlDr. PickPorznerPoßPurpsReimann Frau RengerReschke ReuterRixeRothSchäfer
SchanzDr. Scheer Scherrer SchluckebierFrau Schmidt Schmidt (Salzgitter)Dr. SchmudeDr. SchöfbergerSchreinerSchröer
SchützSeidenthal Frau SeusterSielaffSieler
SingerFrau Dr. Skarpelis-SperkDr. Sperling Dr. SpöriStahl
SteinerFrau SteinhauerStiegler StobbeDr. Struck TietjenFrau Dr. TimmToetemeyerUrbaniak Verheugen Dr. Vogel Voigt
Waltemathe
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206 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Vizepräsident Frau RengerWaltherWartenberg WeiermannFrau Weiler Dr. Wernitz WestphalWieczorek Wiefelspützvon der WiescheWimmer WischnewskiDr. de With WittichZanderZeitlerZumkleyFDPFrau Dr. Adam-Schwaetzer BaumBeckmann Bredehorn Eimer
Frau Folz-Steinacker FunkeGallusGattermann Genscher GriesFrau Dr. Hamm-Brücher Dr. HaussmannHeinrichDr. Hirsch HoppeDr. HoyerIrmerKohnDr. Graf Lambsdorff LüderMischnick Neuhausen NoltingPaintnerRichterRindRonneburger Schäfer
Frau Dr. SegallFrau Seiler-AlbringDr. SolmsDr. Thomae TimmDr. Weng Wolfgramm (Göttingen) Frau WürfelZywietzEnthaltenSPDFrau Fuchs
Frau Dr. Hartenstein Peter
Frau Wiersorek-ZeulDer Antrag ist ebenfalls abgelehnt.Wir fahren jetzt in der Tagesordnung fort. Das Wort hat Frau Abgeordnete Unruh.
Herr Blüm hat ganz toll geredet.
Nur, ob die Rentner draußen ihm das glauben, ich weiß es nicht.Ich habe die große Ehre, heute hier als Parteilose eine Altjungfernrede zu halten. Ich glaube, es ist nötig, daß eine Parteilose wie ich in diesem Hause zwischen den Fronten, auch den Männerfronten, etwas Erfreuliches bewirken kann. Ich heiße leider nicht Frau Schreier, ich bin die schlichte Trude Unruh, und das genügt auch für die Bundesrepublik Deutschland.
Ich wirke seit zwölf Jahren. — Guckt mal, ich habe doch nur sechs Minuten. Seid mal friedlich, Freunde!Seit zwölf Jahren wirke ich ganz, ganz einsam, hart, aber mit immer größeren Mehrheiten unter den altenMenschen, die wollen, daß diese Bundesrepublik Deutschland eine andere Altenpolitik einleitet, nämlich für eine existenzsichernde Rente.
Ich könnte jetzt zehn Seiten lang darüber reden, daß es sie heute nicht gibt. Volksvertreter und -vertreterinnen, Frau Präsidentin — ich habe vorhin vergessen, Sie zu begrüßen — , ich gehe davon aus, daß Sie Volksvertreter und -vertreterinnen sind, und möchte auch in diesem Sinne zu Ihnen reden: Nach über 40 Jahren Schufterei gibt es — man höre und staune; auch die SPD war dran — eine Eckwertrente von ca. 1 300 DM, Herr Blüm, und die Witwe bekommt davon 60 % . Und dann suchen Sie seit Jahren in der Bundesrepublik Deutschland die armen Leute! Vor lauter Armut sehen Sie sie nicht. Nur weil sie zum Friedhofsgemüse geworden sind, meinen Sie, sie könnten sich nicht mehr wehren. Damit ist Schluß, seitdem es die Grauen Panther gibt.
Wir werden Ihnen noch mehr Feuer unter dem Hintern machen, bis Sie letztlich erkennen, daß Sie die Alten von morgen sind, daß andere Konzepte kommen müssen und kommen werden. Wir werden es nicht zulassen, daß unsere Arbeitnehmerkinder und -kindeskinder an Sozialbeiträgen ersticken. Die Volksversicherung ist überfällig, die Beteiligung aller am Risiko des Lebens. Es lebt nicht jeder in einem Himmelbett wie die Herren und Damen Abgeordneten in diesem Haus.
Millionen Menschen, Herr Blüm, leben nun einmal in Armut. Sie haben nie gedacht, daß sie durch Arbeitslosigkeit, durch Nichtanrechnungszeiten usw. einmal so tief fallen könnten, daß sie in die sogenannte Sozialhilfe abrutschen, von der wir Grauen Panther immer nur sagen: Eine Schande für Deutschland.Ich bin dem Herrn Bundeskanzler gar nicht böse, daß er mir gestern Erbärmlichkeit des Denkens vorwarf. Mir hat der liebe Gott zu der Einsicht verholfen, daß es andere Konzepte geben kann. Es liegt nur an Ihrem guten Willen, zu erkennen, daß ein neues Zeitalter angebrochen ist. Die Erbärmlichkeit des Denkens war und ist immer noch auf dieser Regierungsbank zu finden.Frau Süssmuth, bis heute haben Sie meinen offenen Brief nicht beantwortet. Ich verstehe nicht, warum nicht. Die Altmütter sind ausgeklammert. Gut, Sie haben damit angefangen, aber, Herr Blüm, wenn Sie vor sich selbst ehrlich wären, dann hätten Sie mit Blick auf Lebensleistung und Alterslohn zuerst den Altmüttern Ihre mickrigen 25 Mark zugestanden. Aber Sie können sich ja noch ändern.Ich bitte Sie wirklich: Die Menschen draußen warten darauf, ob Christliche, ob Sozialdemokraten, egal, wo sie stehen, sie warten fraktionsübergreifend, daß Sie helfen, die jetzige Altersarmut, die jetzige Altersrechtlosigkeit, die jetzigen Altersdiskriminierungen zu überwinden, abzubauen, damit die Alten, auch die in den Alten- und Pflegeheimen, ihren Wohnort selbst
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 207
Frau Unruhbestimmen können, damit ein Einzelzimmer zur Pflicht wird. Denken Sie an Ihre eigenen Eltern, dann kommen wir zu einem Zustand, der der reichen Bundesrepublik Deutschland würdig ist.Jetzt kommt mein Kollege Hoss. Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bedaure, hier nicht im Namen des Kollegen Hoss sprechen zu können. Er wird sicher zur geeigneten Zeit das Wort ergreifen.
— Nein, mein Verhältnis zum Kollegen Hoss war menschlich immer durchaus in Ordnung.Meine Damen und Herren, für die Liberalen ist Sozialpolitik Dienst am und für den Menschen. Wir bekennen uns zur solidarischen Aufgabe für die Mitbürger, die in Not geraten sind, die die großen Risiken nicht alleine tragen können. Für uns hat Sozialpolitik einen hohen Stellenwert.
Die vier Säulen unserer sozialen Sicherheit — Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung — sind zusammen mit der Sozialhilfe als Auffangnetz eine bewährte Organisationsstruktur, und es ist keine Schande, sondern das gute Recht - im eigentlichen Sinne des Wortes „gutes Recht" —, die Solidarität anderer in Anspruch zu nehmen. Aber diese Inanspruchnahme setzt die Bereitschaft zur Eigenverantwortung und zur Eigenvorsorge derjenigen, die dazu in der Lage sind, voraus.Nur solide finanzierte Sicherungssysteme sind fähig, auf die künftigen Herausforderungen angemessen zu reagieren. Die Sozialpolitik wird aus den Versicherungsbeiträgen und Steuern der Bürger finanziert. Steuern und Versicherungsbeiträge werden von offizieller, von legaler Arbeit geleistet, nicht von Schwarzarbeit. Ausreichend abgabenpflichtige Arbeit haben wir aber nur dann, wenn wir im Export wettbewerbsfähig sind und wenn wir den Preis für die Arbeit auch nicht durch zu hohe Personalzusatzkosten zu hoch treiben, auch nicht, meine Damen und Herren, durch Arbeitszeitverkürzung, denn jedermann weiß, daß von kürzerer Arbeitszeit und von mehr Urlaub keine Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden.Meine Damen und Herren, für das Funktionieren unserer Alterssicherungssysteme ist die Akzeptanz der ganzen Bevölkerung bedeutsam. Frau Unruh, Gott sei Dank wird ja auch von der überwiegenden Mehrheit der Rentner unser Rentensicherungssystem akzeptiert. Nicht zuletzt deswegen, weil diese Akzeptanz erforderlich ist, wollen wir mit den Sozialdemokraten in einen ernsthaften Dialog über diese Problematik kommen. Ich meine, die jetzt von der Koalition formulierten Grundsätze sind bewußt so formuliert, daß sie als Einladung zur Mitverantwortung und Mitgestaltung verstanden werden können. Dabei gehe ich — wie Sie sicher auch — davon aus, daß Konkretisierungen erforderlich sein werden.Da weder unerträgliche Steigerungen der Beitragssätze noch ein beachtliches Absinken des Rentenniveaus zumutbar sind, müssen wir dafür sorgen, daß künftige Belastungen von allen Beteiligten angemessen getragen werden. Deswegen habe ich von dieser Stelle aus immer gesagt: Weder Beitragssatz noch Rentenniveau noch Bundeszuschuß sind für uns tabu.Inzwischen herrscht erfreulicherweise in einem Punkt Einigkeit, der vor nicht zu langer Zeit noch umstritten war, nämlich darin, daß sich die Rentenanpassungen nettoähnlich orientieren müssen. Als ich dies 1979 zum erstenmal gefordert habe, haben mich noch beide großen Parteien der sozialen Demontage bezichtigt. Heute ist dies Gott sei Dank Allgemeingut.
Froh bin ich auch darüber, daß Klarheit über Funktion und Höhe des Bundeszuschusses besteht. Wir begrüßen ausdrücklich, daß Sie, Herr Bundesfinanzminister, zu der Einsicht gekommen sind, daß der Bundeszuschuß erhöht werden muß. Die FDP ist der Auffassung, daß eine verläßliche prozentuale Festlegung des Bundeszuschusses unerläßlich ist. Unserer Ansicht nach muß er möglichst bald kontinuierlich Jahr für Jahr um 1 % steigen, um dann insgesamt auf ein Volumen von 20 % der Rentenausgaben zu kommen. Damit — und wir interpretieren die Koalitionsvereinbarungen auch so — dürfte ein Großteil der versicherungsfremden Leistungen abgedeckt sein.Meine Damen und Herren, ich mache darauf aufmerksam, insbesondere den Bundesfinanzminister, daß eine solche Steigerung unter Berücksichtigung der Kriegsfolgelasten, die ja sinken werden, keinen zwangsläufigen Anstieg der Gesamtausgaben für die sozialen Leistungen im Bundeshaushalt bedeutet.
: Aha! Das ist ja
interessant, Herr Kollege!)Meine Damen und Herren, wichtig und notwendig ist die Neubewertung der beitragsfreien und beitragsgeminderten Zeiten. Mit Rücksicht auf die Zeit erspare ich mir hier Einzelheiten. Aber ich weise auf meine Ausführungen in diesem Zusammenhang hin: Beitragsgeminderte Zeiten müssen neu bewertet werden. Die Bemessung der Beitragshöhe für die Arbeitslosen und die Bemessung der Rente müssen dekkungsgleich sein.Ich möchte noch auf ein anderes Problem im Zusammenhang mit der Rentenversicherung aufmerksam machen. Späterer Berufseintritt, vorzeitiger Rentenbeginn, längere Lebenserwartung belasten auf Dauer die Finanzen der Rentenversicherung sehr stark. Unsere Konsequenz daraus ist: Wir wollen die Wahlfreiheit des einzelnen, wann er in die Rente gehen will, erweitern, nach unten wie auch nach oben. Aber dies darf nicht auf Kosten derjenigen gehen, die län-
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208 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Cronenberg
ger oder bis zum Ende der Regelarbeitszeit ihre Beiträge zahlen. Hier sind entsprechende Zu- und Abschläge, wie wir sie seit langem fordern, notwendig. Berücksichtigt man darüber hinaus, daß ab Mitte der neunziger Jahre, verstärkt nach der Jahrtausendwende demographische Belastungen auf die Rentenversicherung zukommen, so ist langfristig — „langfristig" unterstrichen — die Verlängerung der Lebensarbeitszeit meiner Meinung nach unvermeidbar.
Wer jetzt den Eindruck zu erwecken versucht, das sei sozusagen Ausgeburt einer liberalen Phantasie, der lese einmal nach, was einer der geistigen Väter der Rentenreform, Professor Wilhelm Schreiber, 1957, als die Menschen noch bis zum 65. Lebensjahr gearbeitet haben, gefordert hat. Er hat damals gesagt: Wenn die Menschen länger leben, ist es durchaus zumutbar und vernünftig, die Dauer des Arbeitslebens ein wenig heraufzusetzen. Wenn wir mehr Flexibilität beim Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand haben wollen, müssen wir dafür auch die Voraussetzungen schaffen. Ich erwähne deswegen noch einmal eine Uraltforderung der Liberalen in diesem Zusammenhang: Teilrente und Teilzeitarbeit, zur Erleichterung des gleitenden Übergangs vom Arbeitsleben in den Ruhestand.Meine Damen und Herren, ich wünsche mir in der Rentenpolitik — und das ist eine ehrlich gemeinte Aufforderung — eine sachliche Diskussion aller Beteiligten. Polemik, Verdächtigungen, Geschimpfe sind für die Akzeptanz unseres Rentenversicherungssystems ebenso schädlich wie revolutionäre Vorschläge, die sich nicht immer durch Sach- und Detailkenntnis auszeichnen.
— Frau Kollegin Fuchs, man kann dem Norbert Blüm viel vorwerfen; aber revolutionäre Vorschläge im Zusammenhang mit der Rentenversicherung hat er bestimmt nicht gemacht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme nun zur Gesundheitspolitik. Unser Gesundheitswesen hat trotz des hohen medizinischen Leistungsstandards seine Schwächen. Es fehlen vernünftige Anreize zu mehr Wirtschaftlichkeit und zu mehr Eigenverantwortung aller Beteiligten. Es fehlt an Flexibilität im Leistungs- und im Beitragsrecht. Zu viel hat der Gesetzgeber vorgegeben. Der Leistungskatalog ist immer weiter ausgeweitet worden. Das Sachleistungssystem fördert die Mitnahmementalität und schwächt die Eigenverantwortung, und — das soll nicht geleugnet werden — die Überkapazitäten in nahezu allen Versorgungsbereichen gefährden letztendlich auch die Qualität der Versorgung. Soweit es überhaupt Wettbewerb zwischen den einzelnen Sparten der gesetzlichen Krankenversicherungen gibt, trägt er eher zur Leistungsausweitung denn zur Beitragssenkung bei. Das alles sind Mängel im System, die nur durch eine umfassende Strukturreform beseitigt werden können. Deswegen begrüße ich es, daßsich die Koalition verpflichtet hat, eine solche Strukturreform kurzfristig anzupacken.In den Koalitionsverhandlungen sind die Grundpositionen für die Strukturreform festgelegt worden. Ziel ist die Sicherstellung der Finanzierbarkeit einer hochwertigen Versorgung bei Erhalt der freiheitlichen Strukturen im Gesundheitswesen. Wir wollen kein Gesundheitswesen, in dem der Staat vorgibt, zu welchem Arzt man gehen darf. Die freie Arztwahl ist für uns unantastbar.Auch wollen wir dem Arzt nicht vorschreiben, welche Medikamente er verordnen darf. Die Therapiefreiheit hat für uns einen sehr hohen Stellenwert. Dabei versteht es sich von selbst, daß auch in diesem Zusammenhang dem Gebot der Wirtschaftlichkeit Folge zu leisten ist.Wir brauchen mehr Wettbewerb und vor allen Dingen gleiche Wettbewerbschancen innerhalb des gegliederten Systems der gesetzlichen Krankenversicherung. Allerdings müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß der Wettbewerb die Beiträge mehr nach unten hin „schaukelt" und nicht die Leistungen nach oben. Mir sitzt immer noch der Wettbewerb bei den Ersatzkassen mit der Kur für den Auszubildenden im Nacken.Eine Strukturreform kann nur gelingen, wenn alle -- ich unterstreiche: alle — Beteiligten ihren Beitrag dazu leisten. Die Leistungserbringer müssen sich nicht zuletzt in ihrem eigenen Interesse mehr als bisher für die Kosten der Gesundheitsversorgung in die Pflicht nehmen lassen. Durch sozial abgefederte Selbstbeteiligungsregelungen muß das materielle Interesse der Versicherten am sparsamen Umgang mit den Ressourcen und vor allen Dingen am vorsichtigen Umgang mit der eigenen Gesundheit gefördert werden. Gesundheitserhaltung und -vorsorge müssen sich lohnen.Dabei ist klar, das Selbstbeteiligungsregelungen von den Versicherten nur akzeptiert werden, wenn Kosten und Leistungsspektrum transparent sind. Experimentierklauseln sind unserer Auffassung nach ein geeignetes Instrument, den Krankenkassen Spielräume für Änderungen im Beitrags- und im Leistungsrecht zu eröffnen.Die Orientierung an medizinischen Prioritäten bei begrenztem Spielraum erfordert auch eine kritische Durchforstung des Leistungskataloges. Dabei darf das medizinisch Notwendige selbstverständlich nicht in Frage gestellt werden.Wirtschaftlichkeitsreserven sehe ich auch bei der stationären Versorgung. Ein Drittel der GKV-Ausgaben sind Kosten für das Krankenhaus. Ich persönlich halte den De-facto-Rechtsanspruch auf Abschluß von Pflegesatzvereinbarungen auf der Basis nachgewiesener Kosten für einen Kardinalfehler. Kosten produzieren, sie anschließend nachweisen, um sie sich dann erstatten zu lassen: Das ist im Grunde genommen viel zu einfach.Wir werden deswegen in der Kommission, die sich mit den Fragen beschäftigen wird, besondere Aufmerksamkeit auf die Frage legen, wie wir das Eigeninteresse der Krankenhäuser an kostensparenden
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Cronenberg
Organisationsformen fördern können. Damit da keine Mißverständnisse auftauchen: Für mich ist das Krankenhausfinanzierungsgesetz nicht sakrosankt.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer in der gesetzlichen Krankenversicherung neue Aufgaben unterbringen will, wer ihr zusätzliche Ausgaben aufbürden will, der muß uns auch sagen, woher das Geld dafür zu nehmen ist. Die Übernahme von Zuständigkeit bei der Versorgung Pflegebedürftiger, die ja heute bei den Ländern und Kommunen liegt, zu Lasten der Krankenkassen ist meines Erachtens nicht zu verantworten. Wir müssen hier nach anderen Lösungsmodellen Ausschau halten und dieselben auch praktizieren, denn niemand leugnet das Problem.Meine Damen und Herren, erfolgreiche Reformpolitik innerhalb der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung ist aktive Beschäftigungspolitik. Bleiben diese Reformen ohne Erfolg, dann werden die Entlastungen aus der Steuerreform wieder abkassiert und die Leistungsanreize, die wir gesetzt haben, zugeschüttet.Wir brauchen keine Beschäftigungsprogramme à la SPD, und wir brauchen keine generellen Lohnsubventionen. Vielmehr brauchen wir nicht mehr und nicht weniger als eine vernünftige, ordentliche, praktizierbare Wirtschaftspolitik und eine vernünftige Sozialpolitik. Wir brauchen eine vernünftige Wirtschaftspolitik, wie sie der Sozialdemokrat und Vorstandsvorsitzende von Hoesch, Karsten Rohwedder, nicht besser, als ich es könnte, mit folgenden Worten charakterisiert hat:Wenn man der Wirtschaft die Möglichkeit gibt, sich möglichst ungehindert zu entfalten, technologische Entwicklungen mitzumachen, so ist das für mich die beste Rezeptur zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen. Ich halte es für einen Fehler, daß die SPD wieder den Glauben pflegt an die Befähigung des Staates, den Strukturwandel und die Beseitigung der Arbeitslosigkeit durch entsprechende Haushaltsprogramme bewirken zu können. So, wie sich die SPD darstellt, hat sie die wirtschaftlichen Realitäten nicht mehr im Auge.Ich habe dem nichts hinzuzufügen.
Was wir brauchen, sind bezahlbare Personalkosten, vernünftige Rahmenbedingungen. Dafür ist eine verantwortungsvolle Tarifpolitik erforderlich, eine Tarifpolitik, die stärker als bisher an die Arbeitslosen denkt. Wer den Preis für Arbeit unbezahlbar macht — egal, ob die Tarifvertragsparteien oder dieses Parlament — , der gefährdet leichtsinnig Arbeitsplätze, der schadet den Arbeitslosen.
Ausdrücklich möchte ich begrüßen, daß die Koalitionsparteien vereinbart haben, das Arbeitsförderungsgesetz und die Arbeit der Bundesanstalt für Arbeit zu vereinfachen, zu entbürokratisieren. Ebenso begrüßen wir die Vereinbarung — Herr Arbeitsminister Blüm möchte an dieser Stelle bitte aufpassen —, das Arbeitslosengeld entsprechend der Beitragsdauer zu staffeln. Das ist ein alter Mischnick-Vorschlag. Ich kann Sie, Herr Bundesminister, nur auffordern und noch einmal ermahnen, in diesem Punkt an Stelle zögerlicher Absichtserklärungen endlich die Voraussetzungen zu schaffen, damit wir auf Dauer zu individuellen Beitragskonten in der Arbeitslosenversicherung kommen.
Arbeitslosigkeit kann nicht par ordre de mufti beseitigt werden. Arbeit muß erarbeitet werden. Dazu muß es in der Wirtschaft, insbesondere für die kleinen und mittleren Unternehmen, die notwendigen Freiräume geben.
Wir dürfen, Herr Kollege Weiermann, nicht nur auf die Großbetriebe schauen. Gerade die Krisenbranchen Kohle und Stahl zeigen uns, daß trotz einer speziellen Form der Mitbestimmung die Probleme, die Sie eindrucksvoll geschildert haben, ungelöst geblieben sind.
— Mein lieber Rudolf Dreßler, wir haben lange genug zusammengearbeitet und uns in dieser Frage Mühe gegeben. Es ist schon richtigerweise gesagt worden, daß zwei Drittel der Arbeitsplätze zur Zeit der sozialliberalen Koalition, zu unserer Zeit — ich bekenne mich zu der Verantwortung — abgebaut worden sind. Wir wollen die Dinge doch objektiv sehen.Wir wollen einmal ehrlich sein, Herr Kollege Weiermann. Auch ich bin — um Ihre Worte aufzugreifen — als Unternehmer für einen Betrieb mit Strukturproblemen verantwortlich. Dabei handelt es sich nur um eine kleine Bude mit 70 Beschäftigten, die niemand interessiert und wo wir einmal Sensen geschmiedet haben. Niemand vom Staat hat sich dafür interessiert, hat uns geholfen. Wir mußten uns selber helfen, umstellen. Der Stahlindustrie wird in einem großen Umfang geholfen. Aber wir können doch nicht Kapazitäten aufrechterhalten, um — mit Verlaub zu sagen — uns Stahlhalden hinter jedes Haus zu packen.Die Textilindustrie, die dort tätigen Menschen — ich erinnere z. B. an Gronau; Herr Kollege Buschfort, Sie kommen aus der Gegend — sind nicht so behandelt worden wie die Stahlarbeiter und wie die Bergleute. Wer in diesem Zusammenhang die Gleichberechtigung will, muß auch an diese Menschen denken. Wir müssen den Strukturwandel fördern
und nicht alte Kapazitäten erhalten. Dafür bitte ich um Unterstützung. Meine Damen und Herren, wenn wir nicht eine so drückende Abgabenbelastung bei den kleinen und mittleren Unternehmen gehabt hätten, dann wären nicht zigtausende von Betrieben Pleite gegangen, dann hätten wir mehr Arbeitsplätze. Bitte interessieren Sie sich doch nicht nur für die Großen. Bei 1 mal 10 000 Menschen sind alle auf den Barrika-
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210 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Cronenberg
den, aber 1 000 mal 10 Menschen interessieren niemanden.
Die Überbelastung der kleinen und der mittleren Unternehmen sind doch Ursache für unser Dilemma. Ich flehe Sie geradezu an, doch nicht dagegen zu meutern, daß wir in diesem Bereich Steuerentlastungen insbesondere durch den Abbau des sogenannten Mittelstandsbauchs vorgenommen haben. Entschuldigen Sie, wenn ich mich gerade an dieser Stelle ein wenig errege, aber es ist wirklich entnervend, daß immer nur von der Großindustrie die Rede ist und die kleinen und mittleren Unternehmen nicht die entsprechende Berücksichtigung finden.
Meine Damen und Herren, solide finanzierte Sozialpolitik ist im Grunde genommen Voraussetzung für eine aktive, erfolgreiche Politik, die uns mehr Beschäftigung bringt.Lassen Sie mich, weil das rote Licht auch für mich gilt, am Schluß noch einmal deutlich machen: Mehr Beschäftigung ist ebenso Voraussetzung für eine solide finanzierte Sozialpolitik wie der sparsame Umgang mit den sauer erarbeiteten Versicherungsbeiträgen der Versicherten. Deshalb möchte ich mit einem Zitat von Abraham Lincoln schließen, der einer neuen Regierung einmal ins Stammbuch geschrieben hat:Ihr könnt den Menschen nie auf Dauer helfen, wenn ihr für sie tut, was sie selber für sich selber tun sollten und tun könnten.Ich bedanke mich für Ihre Geduld.
Das Wort hat Frau Fuchs .
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Blüm hat eines fertiggebracht: Er war in seiner Unbestimmtheit noch schlimmer als der Bundeskanzler; so kann man das, glaube ich, am besten formulieren.
Die uns vorgetragene Regierungserklärung und dieser „sozialpolitische Nachmittag" sind keine Unterhaltungsveranstaltungen,
sondern wir wollen uns mit der Regierungserklärung auseinandersetzen. Ich will aus sozialdemokratischer Sicht unsere Perspektiven darlegen. Ich bin sehr betrübt darüber, daß Herr Blüm den Ort wieder mit „Rudis Tagesschau" verwechselt hat. Er hat nämlich im Bundestag geredet. Ich glaube, er hat es gar nicht gemerkt.
Die uns vorgetragene Regierungserklärung ist ein Musterbeispiel dafür, Herr Kollege, wie Parteiprestige wichtiger genommen wurde als die Lösung von wichtigen Problemen. Die Regierungserklärung ist eine Regierungserklärung ohne Perspektiven. Sie dokumentiert Reformunfähigkeit und Reformunwillen. Es mag ja sein, daß der Bundeskanzler mit dieser Politik zufrieden ist. Aber, meine Damen und Herren, eine Regierungserklärung ist nicht daran zu messen, ob der Bundeskanzler und die Koalitionsparteien mit dem Kompromiß zufrieden sind, sondern eine Regierungserklärung ist daran zu messen, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen in der Lage sind, die Probleme zu lösen, die in diesem Lande vorhanden sind. Dazu ist diese Regierungserklärung ungeeignet.
Kein Zukunftsprogramm, ein Programm des politischen Durchwurstelns liegt vor. Der Kanzler hat das dicke Fell eines Elefanten, aber die Perspektive einer Eintagsfliege.
Das zeigt sich besonders in der Sozialpolitik. Obwohl die Probleme hier besonders drängend sind, enthält die Regierungserklärung nur wolkige Erklärungen und unverbindliche Leerformeln. In den steuer- und finanzpolitischen Beschlüssen der Koalitionsrunde ist der Bankrott der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik dieser Regierung schon vorprogrammiert; denn mit dem ungedeckten Milliardenscheck vor allem für die Klientel der FDP ist jeder vernünftigen Sozialpolitik der Boden entzogen.
Ich will es einmal so sagen: Die Martinsgans bekommt Herr Bangemann, für Frau Süssmuth und Herrn Blüm bleiben nur die Knochen oder die Reste übrig, die Herr Bangemann nicht mehr zu essen in der Lage ist.
— Er wird dann auch noch sagen: Sie sollten froh sein, daß Sie keine Gans essen müssen, weil das eh schädliches Fleisch ist. Das fällt ihm dann auch noch ein.
Ich komme zurück auf die Regierungserklärung. Von Sozialer Marktwirtschaft, meine Damen und Herren, sprach der Bundeskanzler, er hat nicht einmal vom Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes gesprochen.
Wer aber das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes ernst nimmt, der darf nicht nur sozial Schwächeren unter die Arme greifen wollen und sich darauf beschränken — wie der Bundeskanzler meinte — , in der leistungsstarken Wirtschaft sozialen Halt zu geben. Das ist zuwenig. Er muß eintreten für eine
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Frau Fuchs
staatlich verbürgte soziale Sicherung, für den Rechtsanspruch auf Sozialleistungen und für verläßliche Arbeitnehmerbedingungen.
All dies gehört nämlich zur sozialen Infrastruktur unserer Gesellschaft und hat ja auch den ökonomischen Erfolg in der Nachkriegszeit eigentlich erst möglich gemacht. Wir Sozialdemokraten sagen deswegen: Ein Zurück zur Armenpflege — ich komme gleich darauf — wird es mit uns nicht geben. Wir wollen die staatliche Verantwortung für Beschäftigung und für soziale Sicherung.
Für mich ist schon erschreckend, daß die CDU als Partei in der Regierung zu einer reinen Wirtschaftspartei geworden ist.
Sie ist in der Sozialpolitik konzeptionslos. Das einzige, was sie auch als Partei anbietet, ist, daß sie die Flickschusterei der Regierung mitmacht. Die Kollegen von der CDU — ich habe ja gestern Herrn Biedenkopf zugehört — lassen es zu, daß die doch von vielen gemeinsam gewollte soziale Sicherung von diesem Herrn Biedenkopf in leichtfertiger Überheblichkeit auch noch als beschäftigungsfeindlich diskreditiert ist. Das ist die CDU der 90er Jahre, meine Damen und Herren.
Herr Blüm und Frau Süssmuth haben die Koalitionsvereinbarungen nicht verhindern können. Wie hieß es doch noch — ich komme noch einmal damit, Herr Kollege Blüm; Entschuldigung — : Die Senkung des Spitzensteuersatzes ist ein Schlag in das Gesicht eines jeden Malochers. Richtig! Warum haben Sie dann diesen Punkt der Koalitionsvereinbarung nicht verhindert, wenn es Ihnen ernst damit gewesen ist?
Sie haben heute nachmittag wieder Äpfel mit Birnen vertauscht. Ich schicke Ihnen noch einmal die Rede meines Kollegen Apel. Nehmen Sie diesen Teil aus Ihrer Rede heraus; er ist wirklich falsch, weil Sie Beispiele des Jahres 1988 mit denen von 1990 vergleichen.
Ich habe die herzliche Bitte. Sie machen sich lächerlich, wenn Sie das belassen.Jetzt sagt der Bundesarbeitsminister in vielen Interviews, er wolle die steuerlichen Freibeträge erhalten und er wolle mit Argusaugen auf eine sozial ausgewogene Finanzierung der Steuerpläne achten. Ich sage Ihnen, Herr Blüm: Wer nach diesen Koalitionsvereinbarungen schon zwei blaue Augen hat, der ist nicht Argus, der vieläugige Riese, der das Wächteramt ausüben könnte. Sie übernehmen sich, wenn Sie meinen, Sie hätten noch Argusaugen für die Sozialpolitik zur Verfügung.
Ihre Aufgabe wäre es gewesen, die finanzielle Handlungsfähigkeit des Staates zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit zu erhalten. Statt dessen haben Sie sich am steuerpolitischen Monopoly beteiligt.Nun ist es ja interessant — das ist in dieser Debatte klargeworden — : Vor der Wahl sah alles fabelhaft aus, nach der Wahl wurde klar: Wir steuern auf eine Massendauerarbeitslosigkeit von 2,5 Millionen Menschen hin. Deswegen ist es für mich unbegreiflich, daß die Koalition um die Entlastung des Spitzensteuersatzes tagelang rangelt, aber zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit überhaupt nichts zustande bringt.
— Ja, ja, Sie weisen auf Ihre geringfügigen Änderungen im Arbeitsförderungsgesetz hin. Wir werden es begrüßen. Aber, Herr Kollege Blüm, das ist doch weniger als ein Pflästerchen. Sie haben doch zugelassen — Herr Cronenberg hat es bestätigt —, daß in den Koalitionsverhandlungen die registrierte Massenarbeitslosigkeit mit über 2 Millionen Menschen festgeschrieben wurde. Es ist Ihnen doch völlig egal, welche Auswirkungen Massenarbeitslosigkeit auf das Gefüge unseres Staates hat.
Die Chancenungleichheit bei jungen Menschen, die Chancenungleichheit bei den Frauen und bei den älteren Mitbürgern läßt Sie doch kalt. Der Bundeskanzler hat kein Wort über arme Menschen in diesem Land gefunden. Das ist Ihre unbarmherzige Politik.
Wer sich mit der Massenarbeitslosigkeit abfindet, versündigt sich an der Demokratie und höhlt das Sozialstaatsprinzip aus.
— Keine Sorge, ich komme noch darauf.Ich will Ihnen das noch einmal sagen. Sie haben die Debatte von gestern vielleicht nicht ganz verfolgt. Ich nenne noch einmal Stichworte, weil ich auch noch zu anderen Fragen kommen will. Herr Rohwedder — er hat schon immer mit der FDP geliebäugelt — mag seine Auffassung haben. Wir sind eine pluralistische Partei. Ich teile seine Meinung zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit überhaupt nicht.
Um es ganz klar zu sagen: Wir brauchen mehr öffentliche Investitionen. Bei Ihnen: Fehlanzeige.
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212 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Frau Fuchs
Wir brauchen Arbeit und Umwelt. Bei Ihnen: nicht einmal Nachdenklichkeit. Wir brauchen Arbeitszeitverkürzung. Sie sollten sich dazu bekennen, daß sie als Gewerkschaftler den Weg der Gewerkschaften hin zur 35-Stunden-Woche unterstützen, weil das nämlich Arbeitszeitverkürzung ist.
Wir brauchen neue Bemühungen um ein Arbeitszeitgesetz.Herr Kollege Blüm, Sie haben ja recht, wenn Sie sagen, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen seien sinnvoll. Warum denken Sie denn nicht mit uns über das nach, was wir aktive Arbeitspolitik nennen? Die Kommunen sind doch in einem Teufelskreis: Durch Bundespolitik werden ihnen Steuern vorenthalten; durch Bundespolitik wird ihnen die Last der Arbeitslosigkeit durch steigende Sozialhilfe überantwortet. Sie könnten, wenn wir ihnen diese finanzielle Last wegnähmen, hier und heute Arbeitsplätze schaffen. Die Kommunen sind die ersten Stellen, die das könnten.
Sie lassen die Arbeitslosen allein. Herr Cronenberg, Sie haben mit den kleinen und mittleren Betrieben ja recht. Warum machen Sie denn die Investitionsrücklage nicht mit, die wir seit Monaten gerade für die kleinen und mittleren Betriebe verlangen. Sie weigern sich doch, diese mitzumachen.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Cronenberg?
Ja, bitte sehr.
Frau Kollegin, können Sie mir zustimmen, wenn ich formuliere: Steuerstundung ist schlechter als Steuerentlastung, wobei wir entlastet und nicht gestundet haben.
Herr Kollege Cronenberg, Ihre Steuerentlastung trifft ja nun den von Ihnen gewünschten Personenkreis gerade nicht in dem Maße, wie es erforderlich wäre. Deswegen ist die Stundung besser, die wir vorschlagen.
Herr Kollege Cronenberg, wir wollen Arbeitsplätze erhalten. Sie haben recht, wenn Sie sagen:
Wir brauchen jede Anstrengung zur Erhaltung derArbeitsplätze. Ich komme nachher bei der Krankenversicherung noch dazu. Für die kleinen und mittleren Betriebe, die keine Chance haben, in eine Betriebskrankenkasse zu gehen, wird die Verwerfung bei unserer Krankenversicherungsstruktur allmählich beängstigend, denn die kleinen und mittleren Betriebe müssen die AOK-Beiträge von 15 % an aufwärts bezahlen. Vielleicht sind wir uns einig, daß wir an das Krankenkassensystem heranmüssen, weil sonst die Arbeitnehmer und die Meinen und mittleren Unternehmen besonders betroffen sind.
— So manchen Gedanken haben wir ja durchaus gemeinsam, Herr Kollege Cronenberg.Nun komme ich zu den Stahlarbeitern. Es ist doch wohl ein Unterschied, ob ich eine Region habe, die wie Kohle und Stahl das Nachkriegsdeutschland aufgebaut hat und die von Kohle und Stahl lebt. Wenn dort die Standorte verlorengehen, lassen Sie doch ganze Regionen verarmen, dann lassen Sie ganze Bereiche von Arbeitnehmern und ihre Familien ohne Zukunftsperspektive. Es ist für solche Regionen einschneidender, wenn diese Betriebe zumachen, als wenn kleine und mittlere Betriebe ihre Türe zumachen müssen, sosehr ich das auch bedaure.Deswegen reicht es nicht, Herr Minister Blüm, wenn Sie auf die Verlängerung der Montan-Mitbestimmung — ich gebe Ihnen diesen Pluspunkt — stolz sind, sondern es ist Ihre Verantwortung, Stahlarbeitern die Arbeitsplätze zu erhalten und in Europa Druck zu machen. Es ist doch keine Frage von deutscher Überkapazität, sondern es ist eine Frage des europäischen Subventionsrausches, in dem die anderen Länder sind, die unsere Stahlindustrie in dieser Frage kaputtmachen.
Franz Josef Strauß hat es hinbekommen, daß die Max-Hütte in den Koalitionsvereinbarungen auftaucht. Warum eigentlich schafft das nicht der Abgeordnete Blüm aus Dortmund? Warum haben Sie eigentlich nicht dafür gesorgt, daß unter anderem Ihr Stahlstandort erhalten wird? Dies ist die typische Haltung eines Ministers, der meint, dort die Arbeitnehmer zu vertreten.Wenn wir schon nicht überall Arbeitsplätze schaffen können — ich könnte das jetzt lange ausführen; ich lasse es an diesem Punkt sein — , müssen wir doch wenigstens für die soziale Sicherung der Arbeitslosen sorgen. Ihre Vorschläge reichen nicht aus, Herr Minister Blüm. Es muß gelingen, die unsozialen Kürzungen des Arbeitslosengeldes rückgängig zu machen.
Darauf ist besonders die weiter steigende Zahl der Berufsanfänger angewiesen. Auch dürfen Arbeitnehmer, die langjährig Beiträge gezahlt haben, nicht länger in die Sozialhilfe abrutschen. Wir brauchen doch auch bei Arbeitslosigkeit eine soziale Grundsicherung, damit die Menschen ihre soziale Sicherung in
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der Bundesanstalt für Arbeit und nicht in der Sozialhilfe finden.
— Sie seien dafür nicht zuständig, sagen Sie immer, weil Frau Süssmuth für die Sozialhilfe zuständig sei. Das ist mir egal. Ein Mensch lebt nicht von der Zuständigkeit von Ministerien der Bundesregierung, sondern ein Mensch hat Anspruch darauf, daß man ihm hilft, wenn er in eine besondere Situation hineinrutscht.
In den letzten Jahren, meine Damen und Herren, ist Armut immer geleugnet worden. Der Bundeskanzler sagt: Abbau von Massenarbeitslosigkeit hat Vorrang. Steuerentlastung — Ende. Er sagt kein Wort zu der Frage: Welche Auswirkungen hat Massenarbeitslosigkeit auf die Demokratie, auf Chancengleichheit, auf die Situation in den Kommunen, in denen sich jegliche soziale Infrastruktur verändert und so manches, was wir an kommunaler Politik gemacht haben, gar nicht mehr durchgehalten werden kann? Und großspurig wird gesagt, Armut gebe es nicht.Aber jetzt hat sich die Bundesregierung bekannt. Sie hat sich nämlich an der Winteraktion der EG beteiligt, bei der überschüssige Produkte aus der Agrarwirtschaft an Bedürftige verteilt wurden. Die Menschen stehen Schlange, Herr Bundesarbeitsminister, um umsonst Butter, Milch oder Mehl zu bekommen. Es gibt sie also, die Armut in unserem Lande, die Sie immer geleugnet haben.Das Diakonische Werk in Hamburg hat von einem erschreckenden Ausmaß von Bedürftigkeit gesprochen.
Wir sollten den Wohlfahrtsverbänden sehr herzlich danken, daß sie diese Aktion trotz des Kiechle-Chaos durchgeführt haben.
Aber ich finde, wir sollten auch aufwachen, meine Damen und Herren, und dafür sorgen,
daß Menschen in diesem Land nicht auf überschüssige Butter angewiesen sind, sondern, daß sie durch eigenes Einkommen in der Lage sind, sich ihre Nahrungsmittel zu kaufen.
Und wir müssen wohl endlich mal durch eine vernünftige Agrarpolitik dafür sorgen, daß die Überschüsse gar nicht erst entstehen können.
Ich komme zurück zu den Koalitionsverhandlungen. Wenn es um Verbesserungen für die Arbeitnehmerschaft und ihre Familien geht, bleibt die Bundesregierung unbestimmt, dann ist die Koalitionsvereinbarung seltsam. Aber wenn es darum geht, Arbeitnehmerrechte abzubauen, ist die Koalitionsvereinbarung ganz präzise.So soll das Ladenschlußgesetz geändert werden.
Warum eigentlich müssen die Verkäuferinnen angesichts vermehrter Freizeit der Verbraucher längere Arbeitszeiten in Kauf nehmen?
Ich verstehe das nicht, meine Damen und Herren.Wenn Sie etwas für die Verkäuferinnen tun wollen, Herr Bundesarbeitsminister, dann schaffen Sie die Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung ab.
Sie haben mich in dieser Forderung im Wahlkampf unterstützt. Schaffen Sie das Beschäftigungsförderungsgesetz ab, damit die Frauen vernünftige Arbeitsplätze bekommen.
Wir brauchen nicht mehr Kaufzeit, meine Damen und Herren, sondern viele Menschen in unserem Lande brauchen mehr Kaufkraft. Das würde übrigens auch die Binnennachfrage ankurbeln.
Sie wollen das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen aufheben oder lockern.
Das ist nicht die Gleichberechtigung, die wir anstreben. Die Arbeiterinnen in der Textilbranche und in den Zulieferbetrieben der Automobilindustrie z. B. haben wahrlich schwierige Arbeitsbedingungen. Sie auch noch nachts arbeiten zu lassen würde ihre Ausbeutung nur vergrößern. Es wäre an der Zeit, darüber nachzudenken, wie man Nachtarbeit für Männer und Frauen reduzieren könnte, statt sie auf Arbeiterinnen auszudehnen bereit zu sein.
Die Sicherung der Montan-Mitbestimmung ist Ihr Pluspunkt. Sie können das in allen Facetten ausmalen, Herr Bundesarbeitsminister. Das kann ich Ihnen nachempfinden. Aber Sie können mir nicht erklären, warum Sie die Sicherung der Montan-Mitbestimmung gegen eine auch von den Arbeitgebern abge-
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lehnte Demontage des Betriebsverfassungsgesetzes haben eintauschen müssen.
Minderheiten sind nach dem geltenden Recht des Betriebsverfassungsgesetzes Minderheiten der Belegschaften, und die sind heute geschützt.
Sie wollen kleine politische Gruppierungen aufpäppeln.
Sie wollen das Industriegewerkschaftsprinzip kaputtmachen. Sie wollen eine einheitliche Interessenvertretung verhindern.
Wenn es um die Frage von mehr Mitbestimmung geht, dann bleiben Sie nebulös. Informationsrechte bei technischen Entwicklungen, das ist zu wenig. Denn es bleibt ja wohl dabei: Wer den technischen Fortschritt bejaht, der muß ihn auch gestalten wollen. Und gestalten heißt mehr Mitbestimmung, mehr Mitbestimmung auch für die Arbeitnehmer in den Betrieben.Sie, Herr Bundesarbeitsminister, rufen zu mehr Gemeinsamkeit auf, insbesondere in der Alterssicherung. Wir sind dazu unverändert bereit.
Aber ich habe mich, als Sie erzählt haben, was Sie so vorhaben, gefragt: Erstens. Was hat er eigentlich vor? Mir ist das nicht ganz klar geworden. Zweitens. Worin soll eigentlich die Gemeinsamkeit liegen? Gemeinsamkeit kann nicht heißen, Herr Bundesarbeitsminister, daß wir mit Ihnen gemeinsam vertagen. Gemeinsamkeit heißt doch, daß wir uns jetzt an eine Reform heranmachen, die diesen Namen auch verdient. Was Sie bisher anbieten, sind die alten Geschichten, die wir schon 1984 in Form eines Gesetzentwurfs eingebracht haben. Legen Sie also unseren Gesetzentwurf vor, dann können wir an die eigentliche Reform des Alterssicherungssystems herangehen.
Sie prahlen, mit der neuen Rentenformel ist ja alles gegessen. Neue Rentenformel, gleichgewichtige Entwicklung von Arbeitnehmereinkommen und Renteneinkommen!
Sie sind ganz stolz auf den verbesserten Bundeszuschuß.
Das kann ich ja verstehen. Aber ich habe jetzt gehört, wie das finanziert werden soll. Der Herr Cronenberg hat die Katze aus dem Sack gelassen. Er hat nämlich gesagt: Die Erhöhung des Bundeszuschusses ist angesichts der sich verringernden Mittel finanzierbar, die wir für die Kriegsopferversorgung ausgeben. DerBundeszuschuß kann erhöht werden, ohne daß sich der Staat mehr als bisher in den Systemen der sozialen Sicherung engagiert.
Das, meine Damen und Herren, ist das Zynischste,was ich in der Sozialpolitik seit langem gehört habe.
Wir brauchen keine Kommission. Wir brauchen Ihre Taten. Ihre Vorschläge sind nicht falsch, aber nebelhaft.
Was Sie uns vortragen, Herr Minister, bleibt ein Miniwerk. Deswegen nenne ich Ihnen nochmals unsere Bedingungen für eine Gemeinsamkeit. Eine Rentenformel und ein nebulöser Bundeszuschuß, so gestaltet, wie Herr Cronenberg möchte, sind kein Grund zur Siegesfeier. Was wir brauchen, ist das Prinzip der Sicherung des Lebensstandards in der Rentenversicherung. Das ist richtig. Wer lange gegen Entgeld gearbeitet hat, hat Anspruch darauf, daß die Rentenversicherung seinen Lebensstandard im Alter aufrechterhält. Sagen Sie das bitte Herrn Biedenkopf, damit er das endlich begreift.Um das zu tun, brauchen wir die weitgehende Unabhängigkeit der Rentenversicherung von der Arbeitslosigkeit. Auch für die Rentenversicherung ist das wichtigste Gebot, daß wir Arbeitsplätze haben.
Arbeitnehmer sind Beitragszahler. Beitragszahler sichern die Zukunft der Rentenversicherung.
Wenn wir Arbeitslose haben, dann brauchen wir die Wiederherstellung voller Beiträge an die Rentenversicherung. Wir wollen, daß die Frauen wieder Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente beziehen können.
Wir wollen uns fragen: Wie sieht eigentlich eine vernünftige Reform der Hinterbliebenenversorgung aus? Wir wollen uns dafür einsetzen, daß das Babyjahr für alle Frauen kommt. Wir wollen die Rente nach Mindesteinkommen in der Rentenversicherung einführen.
Wir werden mit den GRÜNEN zusammen
verhindern, daß weiterhin die Frauen im Alter auf Sozialhilfe angewiesen bleiben. Das ist ein Unding in dieser sozialen Wirklichkeit.
Deshalb wollen wir anders konzipiert eine soziale, einkommensabhängige Mindestsicherung. Es kann nicht so sein, daß man nur diejenigen, die erwerbstätig sind und Beiträge zahlen, im Alter absichert. Das
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wollen wir. Aber ergänzend dazu muß eine Verzahnung von Rente und Sozialhilfe dergestalt kommen, daß die Frauen im Alter nicht mehr zum Sozialamt gehen müssen, sondern ihre eigene soziale Sicherung in der Rentenversicherung bekommen. Das ist unser Prinzip der sozialen Grundsicherung, von Ihnen bisher nicht einmal gedanklich nachvollzogen, Herr Bundesarbeitsminister.
Wir brauchen Ansätze zur Harmonisierung der Alterssicherungssysteme. Es kann ja wohl auf die Dauer nicht so bleiben, daß die Rentner mit ihren Anpassungen die Zeche zahlen und die Altershilfe für Landwirte und die Beamtenversorung außen vor der Tür bleiben. Meine Damen und Herren, das kann auf Dauer so nicht weitergehen.
Schließlich brauchen wir eine Debatte über die Frage: Welche Folgen hat die technische Entwicklung auf die Finanzierung der Alterssicherung? Wenn durch immer mehr Technik immer weniger Menschen beschäftigt werden, dann können wir auf Dauer nicht am lohnbezogenen Arbeitgeberbeitrag festhalten. Deswegen wollen wir Sozialdemokraten eine andere Bemessungsgrundlage. Deswegen sind wir für den Wertschöpfungsbeitrag.
Also, Herr Bundesarbeitsminister: Lernen Sie dazu! Denken Sie nach! Wir kommen mit unseren Konzepten. Wir werden sehen, was sich da gemeinsam machen läßt.Ich komme zur Krankenversicherung. Jetzt gibt es Beitragserhöhungen. Ich habe Herrn Cronenberg schon darauf hingewiesen, daß besonders die kleinen und mittleren Betriebe nicht zu Betriebskrankenkassen ausweichen können. Und nun kommt es: Haben Sie einmal die Koalitionsvereinbarung dazu gelesen? Also das ist ja so was von unverbindlich! Das einzige, was ich herausgelesen habe, ist, daß Sie sich nicht zutrauen, an die Struktur heranzugehen.
Sie wollen Selbstbeteiligung,
als ob die Arbeitnehmer sich mit ihren Beiträgen nicht selber an ihrer Krankenversicherung beteiligten. Die Beiträge sind wahrlich hoch genug, so daß sie einen Anspruch darauf haben, dann, wenn sie krank sind, die Leistungen aus der Solidargemeinschaft zu bekommen.
Erhöhung der Rezeptgebühr; Senkung der Zuschüsse: Wir brauchen eine Strukturreform! Wir haben Vorschläge gemacht. Ich nenne nur die Stichworte: Es darf doch nicht so bleiben, daß die pharmazeutische Industrie jedes Medikament zu jedem Preis zu Lasten der Versicherten verkauft. Mit diesem Mißbrauch muß ein Ende gemacht werden.
Es darf doch nicht so sein, daß medizinische Großgeräte ungeplant eingesetzt werden. Und es darf nicht so bleiben, daß das Arzthonorarsystem sich nicht am Menschen, sondern an möglichst vielen Einzelleistungen orientiert.
— Wir haben das versucht. Das wollte ich sagen. Es ist schwierig.
Wir sind bereit, es mit Ihnen zusammen zu machen. Aber Sie können nicht tatenlos zusehen, Herr Bundesarbeitsminister, daß Frau Adam-Schwaetzer immer noch sagt, es geht mit uns nicht, und die übrige Bevölkerung die weiter steigenden Krankenkassenbeiträge leisten muß. So kann das auf Dauer nicht weitergehen.
Ich wollte etwas noch zur Familienpolitik sagen. Aber das ist mir aus Zeitgründen nicht mehr möglich.
Es ist nur so: Die Steuerentlastungen, die Sie machen, sind das Familienunfreundlichste, das es gibt. Die Kinderlosen bekommen mehr Steuerentlastung als Familien mit Kindern.
Das ist Ihnen hier wiederholt vorgerechnet worden.
Auch uns ist bewußt, daß die finanziellen Ressourcen begrenzt sind und daß man sparen muß, wenn es nicht anders geht. Niemand von uns wird pauschale Ausweitungen von Sozialleistungen fordern. Aber daß Sie der Senkung des Spitzensteuersatzes zustimmen und zugleich sagen, soziale Leistungen gibt es — um im Bild zu bleiben — erst, wenn von der Martinsgans des Herrn Bangemann nach zwei Jahren etwas übriggeblieben ist, das ist in der Tat eine unsoziale Politik.
Deswegen ist es eine Frage der politischen Prioritäten. Und ich sage: Es ist eine falsche Priorität, wenn man der Senkung des Spitzensteuersatzes zustimmt. Es ist eine falsche Priorität, wenn es in der Steuerpolitik keinen Weg gibt um entnommene Gewinne in den Betrieben anders als die Gewinne zu besteuern, die für Investitionen verwendet werden. Es ist eine falsche Priorität, zuerst zu sehen, wie man Steuerentlastung finanzieren kann, statt sich zu fragen: Welche Aufgaben habe ich für die soziale Sicherung, und wie
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halte ich das Geld zusammen, damit diese sozialen Leistungen bezahlt werden können?
Wir sind ein reiches Land. Deswegen können wir es uns leisten, die Prioritäten umzukehren. Wir brauchen kein christdemokratisches Winterhilfswerk,
und wir müssen nicht zu denen gehören, die Bedürftigen Butter und Mehl anbieten.
Wir können, wenn wir uns an das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes halten, Armut in unserem Land so auffangen, das sich jeder seine Butter selber kaufen kann und nicht auf Barmherzigkeit angewiesen ist.
Das Grundgesetz hat uns den Auftrag gegeben, das Sozialstaatsprinzip, das der Bundeskanzler nicht einmal erwähnt,
in der Wirklichkeit zu realisieren. Nein, das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes ist mehr als ein Untertitel der Sozialen Marktwirtschaft. Es ist unsere Aufgabe, den schwierigen Weg zwischen zunehmender Individualisierung und der Notwendigkeit kollektiver Sicherung zu gehen. Aber eines bleibt: Die meisten Menschen mit ihren Familien leben von der Arbeit und von der durch Arbeit gewonnenen sozialen Sicherung. Deswegen behält die Schaffung von Arbeitsplätzen für uns Vorrang.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Faltlhauser.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir lesen heute in den Zeitungen, daß ein SPD-Landesvorsitzender, Herr Bruns, und einige der Kollegen, die hier auf der Seite der SPD sitzen,
sagen: Die SPD-Führung ist führungsschwach! Ich glaube, Frau Kollegin Fuchs, Sie haben durch Ihre Rede hier zur Sozialpolitik
wiederum den Beleg dafür gebracht, daß diese SPD auch konzeptionsschwach ist, gerade in der Sozialpolitik.
Zur Führungsschwäche kommen noch die Konzeptionsschwäche und die Inkonsequenz hinzu.
Sie reden draußen: Den Minderheiten muß geholfen werden. Aber den Minderheiten in den Betrieben, in den deutschen Betrieben wollen Sie nicht helfen, da widersprechen Sie diesem Bundesarbeitsminister.
Ich will nun etwas zu Herrn Weiermann sagen, der hier seine Jungfernrede gehalten hat. Er hat von den Problemen bei den montan-mitbestimmten Betrieben gesprochen. Ich hätte eigentlich erwartet, Herr Weiermann, daß Sie diesem Bundesarbeitsminister hier auch einen Dank abstatten. Gehen Sie raus zu Ihren Kollegen und veranstalten Sie mit ihnen gemeinsam einen Fackelzug für Norbert Blüm,
zum Dank dafür, daß er die Montan-Mitbestimmung gerettet hat, die Sie im Jahre 1981 durch Ihre Entscheidungen verschlampt haben.
Die großen Reformvorhaben dieser Legislaturperiode, die Rentenstrukturreform, die Krankenversicherungsstrukturreform und die Reform der finanziellen Absicherung des Pflegerisikos, brauchen nicht nur den festen Willen des Regierungschefs — der ist vorhanden, das haben wir gehört — , brauchen nicht nur den festen Willen und die Durchsetzungsfähigkeit der Regierung — auch die sind vorhanden — , sondern brauchen auch eine besondere Qualität der politischen Auseinandersetzung zwischen Regierungsfraktionen und Opposition. Im Vordergrund dieses Ringens muß ein ganz bestimmter Ernst bei der Analyse der Probleme stehen. Wir müssen alle miteinander eine große Unvoreingenommenheit, die Bereitschaft zum Zuhören und zur Kreativität haben.Es nützt dem 17jährigen Lehrling, der im Jahre 2030 seine Rente beziehen will, einfach nichts, wenn wir uns in diesem Hause mit Rechthaberei, Polemik, wie soeben geschehen, und ideologischer Bunkermentalität bekriegen. Nur ein breiter Konsens der demokratischen Parteien hilft der Rente dieses jungen Mannes im nächsten Jahrhundert.Diesen Anforderungen an den Stil und an die Qualität der politischen Auseinandersetzung hinsichtlich der großen Reformen dieser Legislaturperiode haben Sie, Frau Kollegin Fuchs, in Ihrer Rede leider nicht genügt. Sie haben die Klamotten des Wahlkampfes noch nicht abgelegt, Frau Fuchs.
Man könnte bestenfalls mutmaßen, daß Sie sich demHauruck-, Zackzack-, Schmeiß-raus-Stil des Saar-
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Dr. FaltlhauserNapoleon annähern wollen, um auf diese Weise vielleicht Bundesgeschäftsführerin zu werden.
Da kann ich nur sagen: Mädel, bleib' sauber, bleib' bei der Sache! Dann werden wir auch für die Reformen Besseres hinbringen.
Der Beifall für ein flottes polemisches Wort hier im Hause sollte Ihnen nicht mehr wert sein als die Inhalte von Reformen, die mehr als 20 Jahre Grundlage unseres sozialen Systems sein müssen.
In der Sozialpolitik der 11. Legislaturperiode können wir auf gesichertem Boden der letzten Legislaturperiode aufbauen, und diese Konsolidierungsarbeit hat an vorderster Stelle Bundesarbeitsminister Blüm verantwortet und durchgesetzt.
Der Kleinste hat die größten Brocken vom Schuttplatz des eingestürzten Gebäudes sozialdemokratischer Sozialpolitik weggetragen.Frau Unruh, der Blüm hat den Rentnern, ob sie nun grau oder nicht grau sind, die Rente in der letzten Legislaturperiode sicher gemacht, und er wird die Rente auch für das nächste Jahrhundert sicher machen.
Die Grauen Panther sollten den grauen Schleier von den Augen nehmen und sehen, was etwa auch in der Sozialhilfe mit einer Steigerung um 8 % geschaffen wurde. Das haben auch dieser Arbeitsminister und diese Bundesregierung gemacht.
Im Mittelpunkt der sozialpolitischen Herausforderungen dieser Legislaturperiode steht die Entwicklung des Altersaufbaus in unserer Bevölkerung. Es werden zuwenig Kinder geboren, die Kinderwagenhersteller satteln um. In den 60er Jahren kamen die 65jährigen in unsere Altersheime, in den 70er Jahren war das Durchschnittsalter etwa 75 Jahre. Heute liegt das Eintrittsalter in den Altenheimen meines Münchener Wahlkreises zwischen 80 und 82 Jahren. Die Folge: Wir werden eine langfristig wirksame Rentenversicherungsstrukturreform durchführen müssen, zu der ich hier einige Anmerkungen auf der Basis der Koalitionsvereinbarungen machen will.Zum einen: Zum bestehenden Rentensystem gibt es aus ordnungspolitischen, sozialpolitischen und volkswirtschaftlichen Gründen keine akzeptable Alternative. Wir lehnen deshalb, Frau Fuchs, jede Art staatlicher Grundsicherung, etwa die Grundrente oder Mindestrente, ab.
Würden wir das bestehende Rentensystem durch ein völlig neues ersetzen, die Lösung der Probleme der demographischen Entwicklung, mit denen wir es zu tun haben, würden wir damit nicht erleichtern, sondern im Gegenteil erschweren. Immer wieder neue Vorschläge dieser Art schaffen lediglich ein Beunruhigungspotential für die Rentner.
Wir können weder von den Beitragszahlern noch von den Rentnern ein Sonderopfer zur Finanzierung der Belastungen aus der Bevölkerungsentwicklung verlangen. Deshalb muß und wird der Bund, wird diese Bundesregierung einen erheblichen Beitrag zur langfristigen Konsolidierung der Renten leisten. Der Bundeszuschuß betrug im Jahre 1957 32 %, und heute macht er 18 % aus. Diesen Zuschußverfall hat Ihre Regierung zu verantworten, Frau Fuchs. Sie war es, die diesen Bundeszuschuß permanent abgebaut hat. Es würde aber die Leistungskraft des Bundeshaushalts übersteigen, wollte man von einem Moment zum anderen von 18 % auf, sagen wir, 23 oder 25 hinauf. Aber wir sollten versuchen — hier stimme ich dem Kollegen Cronenberg sehr zu — , den Bundesanteil etwa auf 20 % anzuheben, um ihn dann Schritt für Schritt, entsprechend dem Anstieg der Rentenausgaben, fortzuschreiben.Ich glaube ebenso wie Kollege Cronenberg, daß wir diese Strukturreform in der Rentenversicherung nicht ohne eine Flexibilisierung des Renteneintrittsalters bewältigen. Hier liegt auch das größte finanzielle Potential: Das Hinausschieben des durchschnittlichen Renteneintrittsalters von heute etwa 59 Jahren um ein Jahr würde der Rentenversicherung 6 Milliarden DM Ersparnis bringen. Wir sollten dabei aber — damit keine Mißverständnisse aufkommen — beim Grundsatz der Flexibilität bleiben. Aber wer vor einer Renteneintrittsaltersgrenze freiwillig in Rente geht, der muß eine Minderung seiner Rente hinnehmen.Die Rezepte der Opposition zur langfristigen Rentensicherung sind von Frau Fuchs hier auch wiederum leider nur angedeutet worden: Wertschöpfungsabgabe oder — populärer — Maschinensteuer. Natürlich liegt in diesen Vorschlägen einige Verlockung, weil man dadurch z. B. den Haushalt entlasten könnte, aber bei genauerer Prüfung lehnen wir diesen Ansatz vor allem aus drei Gründen ab.Zum einen, Frau Fuchs: Der hochangesehene Professor Krelle hat in einem Gutachten gezeigt, daß die wertschöpfungsbezogene Bemessungsgrundlage wegen der durch sie ausgelösten negativen gesamtwirtschaftlichen Rückwirkungen finanziell weniger ergiebig ist als die Bruttolohn- und Gehaltssumme. Ihre Maschinensteuer-Wundertüte ist also letztlich leer!
Zweitens. Die Maschinensteuer bestraft diejenigen Unternehmen, die sich dem Strukturwandel stellen,
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Dr. Faltlhauserdie investieren, die den technischen Fortschritt realisieren.
Die Wertschöpfungsabgabe ist eine Investitionsstrafsteuer und damit auch eine Arbeitsplatzvernichtungssteuer. Gerade unter beschäftigungspolitischen Aspekten sind die technischen Neuerungen besonders bedeutsam.Drittens. Nicht zuletzt warnen wir vor dieser Scheinlösung der Wertschöpfungsabgabe, weil dadurch der Zusammenhang zwischen persönlicher Lebensleistung und Rentengewährung aufgeweicht wird. Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sind die individuellen Rentenansprüche eigentumsrechtlich um so weniger geschützt, je weniger sie auf individuellen Beitragsleistungen beruhen. Wer also die Wertschöpfungsabgabe will, nimmt dem Bürger ein Stück Rentensicherheit.
Ich hoffe, daß wir mit der Rentenversicherungsstrukturreform schnell vorankommen und im nächsten Jahr entsprechende Beschlüsse fassen können.Der schwierigere Teil der großen Reform ist ohne Zweifel die Krankenversicherungstrukturreform. Schwierig nicht nur deshalb, weil die Zusammenhänge zwischen Leistungserbringung, Kreislauf der Scheine und Kreislauf der Geldzahlungen so kompliziert sind, sondern weil es im Gesundheitsbereich offenbar nur Opfer gibt und keine Täter. Was wir im Vorfeld der anstehenden Auseinandersetzungen an Meldungen von Standesvertretern, Drohungen gegenüber Politikern und Beleidigungen gegenüber Gutachtern hören mußten, überschreitet bereits heute die Grenze des Erträglichen und läßt ahnen, welche Kanonaden wir als Begleitmusik zu diesem Reformvorhaben zu erwarten haben.
Ich möchte deshalb von dieser Stelle alle Beteiligten, die Kassen und die Verbände der Leistungserbringer, bitten, sich konstruktiv und sachlich und nicht mit polemischen Rundumschlägen an der Diskussion über die Reform des Gesundheitswesens zu beteiligen.
Eines ist dabei von besonderer Bedeutung: Wir müssen diese Reform schnell über die Bühne bringen. Wir werden sie schnell über die Bühne bringen. Die Grundlagen der Koalitionsvereinbarung sind hierzu völlig ausreichend.Natürlich wollen wir das freiheitliche Gesundheitswesen erhalten. Das Gesundheitswesen ist aber keine heilige Kuh, die im Himmel gefüttert und auf Erden lediglich gemolken werden muß. Was nützt uns die beste ärztliche Einzelleistungsvergütung, was nützt das beste pharmazeutische Präparat, der goldene Zahn oder das modernste Krankenhaus, wenn alles unter dem Strich nicht zu bezahlen ist?
Es ist insbesondere dann nicht zu bezahlen, wenn wir neue Aufgaben wie z. B. die Pflegeabsicherung oder die Finanzierung der AIDS-Kranken bewältigen müssen, die nach Kassenschätzungen am Ende dieser Legislaturperiode etwa 2 Milliarden DM pro Jahr zusätzlich kosten werden. Die Vorstellung, daß man auch mit 15, 16 oder 18 % Beitragssatz leben könnte, kann mit Sicherheit nicht unsere Politik sein.
Diese Koalition wird eines nicht tun: auf der einen Seite die Bürger massiv steuerlich entlasten und ihnen auf der anderen Seite über steigende Sozialabgaben das Geld wieder aus den Taschen nehmen.
Das wird diese Bundesregierung und diese Koalition nicht tun!Im übrigen muß man allen, die es angeht, auch sagen: Es entspricht einfach nicht den Tatsachen, daß bei stabilem Beitragssatz kein Spielraum mehr für medizinischen Fortschritt bestehe. Allein im Jahre 1986 sind durch den Anstieg der Löhne und Gehälter fast 4 Milliarden DM mehr als 1985 in das Gesundheitssystem geflossen.Wir wollen keine Strukturrevolution, wir wollen eine Anpassung. Warum Anpassung? Weil wir wesentliche Elemente erhalten wollen: freie Arztwahl, Freiberuflichkeit der Gesundheitsberufe, Vielfalt der Träger von Krankenhäusern, Wettbewerb der Kassen, kostenlose Mitversicherung der Familienangehörigen oder die Bemessung der Beiträge nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit der Versicherten und nicht nach Äquivalenzprinzip.
Frau Fuchs, wenn ich mir Ihre Vorschläge so anhöre, die Sie punktuell eingestreut haben,
muß ich sagen: Bei uns heißt Strukturanpassung nicht Gängelung und immer mehr Staat. Sie wollen gewissermaßen nur oben auf dem dampfenden Topf den Deckel festschrauben. Wir wollen mit unserer Strukturanpassung das Feuer unter diesem Topf „Gesundheitswesen" etwas zurücknehmen, und dazu bedarf es struktureller Veränderungen.Eugen Roth hat einmal gereimt: „Was bringt den Doktor um sein Brot? a) die Gesundheit und b) der Tod. Drum hält der Arzt, auf daß er lebe, uns zwischen beiden in der Schwebe."Meine Damen und Herren, das ist sicherlich das — nicht leicht zu erreichende — Ziel unserer Reform; Anreize dafür zu schaffen, daß der Patient nicht aus ökonomischen Gründen in diesem Schwebezustand gehalten werden muß.
Im fünften Punkt der Koalitionsvereinbarung zum Gesundheitswesen steht etwas ganz Wichtiges. Da heißt es nämlich, daß der Gestaltungsspielraum für die Selbstverwaltung unter Achtung der Schutzfunktion der gesetzlichen Krankenversicherung zu erweitern ist, auch im Leistungs- und Beitragsrecht. Das ist
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Dr. Faltlhausermir besonders wichtig; denn ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser Bundestag ein umfängliches Gesetz mit vielen Paragraphen macht, in dem Listen stehen, in dem einzelne Deckelungen stehen und in dem irgendwelche Vergütungssysteme vorgeschrieben werden. Damit würden wir die Flexibilität der entsprechenden Steuerung beeinträchtigen, und wir würden sicherlich nicht regional und zeitlich angemessen reagieren. Wir müssen der Selbstverwaltung den Spielraum und die Steuerungsinstrumente in die Hand geben, die für ein sinnvolles Handeln notwendig sind.Eines der zusätzlichen Themen wird die Pflege sein. Mit Blick auf das Licht am Rednerpult muß ich meine Ausführungen dazu kürzen. Herr Kollege Cronenberg: wir werden auch dieses Problem im Zusammenhang mit der Krankenversicherung lösen müssen, und zwar in einem Zwischenweg zwischen dem, was Bundesarbeitsminister Blüm in der letzten Legislaturperiode vorgelegt hat, und dem, was der Bundesrat auf bayerische Initiative vorgelegt hat. Ich glaube, da ist ein Zwischenweg mit der Leistung „Pflegehilfe" möglich.Wir sollten jedoch in der Krankenversicherung nicht nur auf die Kosten sehen. Wir dürfen nicht eine gesundheitspolitische Reform machen, die nur Kostendämpfungsreform ist. Die Reform des Gesundheitswesens muß die ethischen, die menschlichen und die medizinisch-fachlichen Gesichtspunkte stärker mitberücksichtigen. Wir sehen nicht nur die Kosten, sondern den Menschen, der hinter dem Begriff „Patient" steht.Im Hinblick auf die großen Reformen dieser Legislaturperiode würden wir Sie, Frau Fuchs, und Ihre Fraktion gern auffordern, konstruktiv, offen und auch kontrovers mitzudiskutieren und mitzumachen. Die bisherige Debatte heute war kein gutes Omen für ein derartiges fachliches und sachliches Vorgehen.
Diejenigen, die es angeht, die Patienten ebenso wie die Rentner und diejenigen, die pflegebedürftig sind, haben eine solide Arbeit verdient und nicht Polemik. Wir werden mit dieser Arbeit anfangen, und wir werden die entsprechenden Reformmaßnahmen durchführen.
Meine Damen und Herren, während der Rede des Herrn Bundesministers Dr. Blüm ist von dem Herrn Abgeordneten Schreiner und anderen Mitgliedern der SPD-Fraktion das Wort „heucheln" gefallen.
Ich rüge diesen Ausdruck und bitte, da das öfter vorkommt, das ganze Haus, derartige Beleidigungen zu unterlassen.
— Es kommt wirklich nicht darauf an, ob das an Ihnen
abprallt, sondern wir wollten ja in diesem Hause einen
Ton pflegen, bei dem solche Beleidigungen überflüssig werden.
— Danke schön.
Da das keine Rüge an den Präsidenten war, darf ich jetzt fortfahren.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoss.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich habe noch die Worte aus der Regierungserklärung 1983 im Ohr, die der Bundeskanzler und auch Minister Blüm gebraucht haben und die für mich folgenden Kern hatten — in etwa — : Die Opfer, die wir den Bürgern heute auferlegen, rechtfertigen sich durch mittelfristige Beseitigung der Arbeitslosigkeit und durch den allen zugute kommenden Aufschwung.
Das war 1983. Zur selben Zeit hat Ihr Oberguru Heiner Geißler die Prophezeiung hinzugefügt: In einem Jahr haben wir 1 Million Arbeitslose weniger.Es zeigt sich, daß sich die abverlangten sozialen Opfer in einen schamlosen — das kann man so sagen — Raubzug zur Umverteilung von unten nach oben ausgeweitet haben,
und um das nicht nur zu sagen, sondern auch zu begründen, nenne ich drei Beispiele, die ich hier wegen der Redezeit nicht im einzelnen analysieren kann:Erstens. Die Einkommen der Mehrheit der Bürger aus Nettolöhnen, Renten und Unterstützungen haben sich von 1980 bis 1985 um 60 Milliarden DM verringert.
Von '80 an; da sind die anderen auch mit drin, das wissen Sie; Sie können ja auch rechnen.
Die Unternehmereinkünfte in derselben Zeit und Einkünfte aus Vermögen und Kapitalerträgen haben sich in dieser Zeit um 70 Milliarden DM erhöht.Zweitens Beispiel: Der größte Teil der gemachten Gewinne ist nicht in der Bundesrepublik reinvestiert worden, sondern ist als Kapitalanlage ins Ausland abgewandert. Von 84 Milliarden DM sind nur 35 Milliarden DM — das sind etwa 40 To — in der Bundesrepublik verblieben; das andere ging nach draußen.
Drittens. Die Subventionen, die Sie einschränken wollten, Subventionen, die nicht für die armen Leute gedacht waren, haben Sie von 1982 — Herr Günther, das ist genau Ihre Zeit — bis 1986 von 29 Milliarden DM auf 44 Milliarden DM erhöht, und das sind auch
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220 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Hossnicht solche, die an die armen Leute kommen, an dieNormalverdiener, sondern die an die Oberen gehen.Es erweist sich, daß das, was Sie, Herr Blüm, damals und auch heute gesagt haben, nur starke Worte sind und daß es nicht darauf ankommt, jeden dritten Tag neue Ideen zu produzieren oder ganz detaillierte Pläne, wie Sie das vorhin in der Rede hier gesagt haben, auszuarbeiten. Denn man kann auch detailliert eine falsche Politik machen, nicht nur wenn man einen großen Entwurf macht.
Ich sage Ihnen: Unter dem Strich wird zusammengezählt, und unter dem Strich hat sich in Ihrer Zeit, ob nun mit großem Entwurf damals, wie es Herr Kohl gemacht hat mit seiner großen moralischen und geistigen Anstrengung, oder wie Sie mit Ihren detaillierten Plänen,
die Zahl der registrierten Arbeitslosen um eine halbe Million erhöht. Die Armut sieht so aus, daß von zehn Witwen neun eine Rente unter 700 DM haben.
Das ist das, was Sie hervorgebracht haben. Ich habe sehr aufmerksam zugehört; für mich ist es wichtig, das, was Sie heute an Plänen in Ihrer Regierungserklärung gesagt und vorgestellt haben, unter dem Gesichtspunkt 1983 zu werten.Sie reden heute davon, daß das Allheilmittel eine Qualifizierungsoffensive sei.
Ich frage mich nur, wie Sie bei derzeit 140 000 freien Stellen, selbst wenn wir alle 2,4 Millionen Arbeitslose qualifizieren würden, diese auf diesen Stellen unterbringen können. Das heißt, dieser detaillierte Plan ist vielleicht nur zur Hälfte richtig. Ich bin auch für Qualifizierung, aber ich bin dagegen, daß man hier den Eindruck erweckt, daß Sie das Rezept in der Tasche haben, mit dem die Arbeitslosigkeit beseitigt werden kann.
Es geht um folgendes: Es gilt zunächst einmal festzustellen, wer überhaupt ernsthaft den Willen hat, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. Wir sind dafür, daß man sofort hilft. Derjenige, der nicht nur Krokodilstränen verweint, sondern der sofort helfen will, der muß z. B. statt der zweifelhaften Steuerreform, die da angegangen wird und die auch nur eine neue Umverteilung von unten nach oben darstellt, die zu mobilisierenden 44 Milliarden DM zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit, zur Beseitigung von Armut einsetzen. Sie bringen Zahlengegenüberstellungen zu der neuen Steuerreform.
Sie sagen: Unsere Steuerreform bringt so viel, und die Steuerreform von Rau bringt nur so viel. Das ist gar nicht die Frage. Sie lenken vom Problem ab. Es geht darum, ob Sie wieder neue Gelder locker machen, umdenjenigen, die in Lohn und Arbeit stehen und die Großverdiener sind, neue Vergünstigungen zu geben und die, die außerhalb stehen, außen vorzulassen. Das machen Sie erneut.
Nun ist es ja so, daß bei dieser Steuerreform ein Normalverdiener, also eine Familie mit Kind, auf monatlich 10 bis 20 DM Ermäßigung kommt, während ein Spitzenverdiener, ein Manager, oder ein gutverdienender Selbständiger, meinetwegen jetzt ein gutverdienender Arzt, bis zu 1 900 DM monatlich durch die Steuerreform haben kann; das zeigt alles. Es kommt also darauf an — und das ist das, was wir verlangen und womit wir Sie ständig konfrontieren werden —, daß Sie die Gelder, die freizumachen sind, nicht wieder an die Gutverdienenden, an die Großverdiener und an die Kapitalseite weitergeben, sondern a) daß damit sinnvolle Arbeitsplätze in Gebieten mit Strukturkrisen geschaffen werden wie wir sie jetzt beim Stahl und bei den Werften haben, auch im Hanauer Gebiet, b) daß wir Gelder in ökologischen Bereichen einsetzen, z. B. zur Entgiftung, die dringend notwendig ist, und auch zur Stützung und Förderung biologischer Landwirtschaft, um dort Arbeitsplätze zu schaffen, die dauerhaft sind. Das kann man von mir aus in einer Kombination von ABM-Maßnahmen machen, aber es sollten sinnvolle ABM-Maßnahmen sein, hinter denen dauerhafte Arbeitsplätze stehen müssen, natürlich auch Arbeitsplätze im sozialen Bereich.Wenn Sie ernsthaft helfen wollen und wenn Sie wirklich der Mann der katholischen Arbeiterbewegung sind, dann müssen Sie Solidarität mit denen zeigen, die Ihre Hilfe brauchen. Sie aber haben bei den Koalitionsverhandlungen Solidarität mit Stoltenberg und mit dem Teil der Regierung gezeigt, der die Arbeiterbewegung und die Interessen der Armen und Schwachen nicht vertritt.
Die zweite Frage, wie man sofort helfen kann, führt zum Problem der Überstunden. Auch im vergangenen Jahr sind 1,5 Milliarden Überstunden gefahren worden. Wir haben schon in der vorigen Legislaturperiode einen Entwurf vorgelegt mit dem Ziel, die Zahl der Überstunden einzuschränken. Rein rechnerisch sind das 800 000 Arbeitsplätze.
Wir wollen es einmal nicht so streng nehmen, aber 300 000 Arbeitsplätze kann man schaffen, wenn man unserem Gesetzentwurf, der ein Verbot von Überstunden vorsieht, zustimmt.
Wir werden Sie damit konfrontieren, und wir werden dann sehen, was Sie davon halten, ob Sie dem zustimmen oder nicht.Genauso ist es mit der 35-Stunden-Woche. — Die Lampe leuchtet schon, und ich bin auch gehalten,
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Hossmeinen Kollegen, die noch nach mir kommen, nicht die Zeit wegzunehmen.
Ich will nur noch eines sagen: Sie haben die Frage der Mitbestimmung im Betriebsverfassungsgesetz, die Sie angesprochen haben, nicht so behandelt, daß dabei wirklich erweiterte Rechte der Arbeitnehmer herauskommen. Ich will Ihnen sagen, wo wir in der nächsten Legislaturperiode hinzielen werden: Es zeigt sich, daß die alleinige Verfügungsgewalt der Kapitalseite und der Unternehmer über die Produkte, über die Produktpalette, über die Art und Weise, wie die Produkte hergestellt werden, über die Stoffströme nicht garantiert hat, daß unser Boden, unsere Luft, unser Wasser erhalten geblieben ist. Wir als Arbeiter, als Arbeiterbewegung, die Gewerkschaften, alle Bürger sind aufgefordert, die Mitbestimmungsrechte in diesen Bereich hineinzutragen, weil die Zeit, in der die Unternehmer über diesen Bereich alleine bestimmen können, vorbei ist.Danke schön.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will die Diskussion hier nur in ein paar Bemerkungen aufnehmen. Rede und Widerrede sind ja der Sinn einer Parlamentsdebatte.
Zunächst einmal: Ich bin hier nie aufgetreten, als gäbe es Patentrezepte im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Es gibt nur ein Programm der tausend Schritte, zu dem man Ausdauer und auch Geduld haben muß.
Im übrigen, es ist Schwarzweißmalerei, zu behaupten, wir würden öffentliche Investitionen ablehnen. Wir haben die Mittel für die Städtebauförderung aufgestockt, und wir werden auf dieser Höhe bleiben. Aus meiner Sicht war das das erfolgreichste Beschäftigungsprogramm, das je gelaufen ist.
Wir haben die Voraussetzungen geschaffen, daß Zinsen sinken. Das ist ein Beschäftigungsprogramm ohne Schalter, ohne Genehmigungsbehörde, das Nachschub für Investitionen schafft.
Meine Damen und Herren, wir haben doch Kohle und Stahl — soll ich es noch einmal erwähnen? — nicht im Stich gelassen. Wir haben doch Geld für Stahl und für Kohle gegeben.
Wir haben im übrigen auch die Anpassungsschichten mitfinanziert. Ich nenne das nur, damit die alte Märchentante die Sache hier nicht so darstellt
— ich nenne keinen Namen — , als sei die böse Hexe die CDU/CSU und die gute Fee die SPD. Das ist etwas für politische Kleinkinder und ihre Anhänger, aber nichts für erwachsene Politiker.
Was Schwarzarbeit anbelangt, so sind wir mit von der Partie, sie zu bekämpfen. Auch hier besteht Übereinstimmung: Der Mißbrauch mit Kleinstarbeitsverhältnissen muß abgestellt werden, weil auch ich sehe, daß das nicht mehr die Ausnahme ist, sondern daß hier versucht wird, den Sozialstaat durch ein trojanisches Pferd zu unterwandern. Laßt uns allerdings eine Lösung versuchen, die nicht überbürokratisch ist, die den Mißbrauch bekämpft. Im Reinigungsgewerbe beispielsweise sind 300 000 von 360 000 Beschäftigten in sogenannten Kleinstarbeitsverhältnissen unterhalb der Versicherungspflichtgrenze beschäftigt.
— Hören Sie mal, ich baue doch gerade Brücken, aber Sie sind in Ihrer Fixierung so weit, daß Sie vor allen Dingen einmal schreien, wenn Blüm spricht. Egal ob er recht hat, erst einmal schreien.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hoss?
Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung. Bitte, Herr Hoss.
Weil Sie gerade vom Mißbrauch und von Schwarzarbeit sprechen, will ich Sie fragen: Haben Sie damit die Schwarzarbeit bei Alkem gemeint?
Nein, Herr Hoss. Kommen Sie nicht so nach dem Motto „Der Elefant hat einen wurmartigen Rüssel, es gibt folgende Arten von Würmern" auf ihre Lieblingsthemen. Ich habe eben von der klassischen Schwarzarbeit geredet und nicht von irgendwelchen Nebenkriegsschauplätzen, die Sie jetzt wieder eröffnen wollen.Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen: Frau Fuchs, wie Sie sich als Kritikerin unserer Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aufspielen, dazu gehört schon sehr viel Mut. Ein Drittel von dem, was wir in ABM machen, hat die SPD gemacht, und jetzt stellen Sie sich dar, als müßten Sie uns Ratschläge geben, wie wir das besser machen könnten.Was die Kürzungen anbelangt: Glauben Sie im Ernst, es hätte mir Spaß gemacht, es gäbe für den Sozialminister nichts Schöneres als zu kürzen? Aber was wollen Sie denn machen, wenn die Bundesanstalt 14 Milliarden DM Defizit hat? Jetzt hat sie Gott sei Dank wieder Überschüsse.
Jetzt können wir wieder Arbeitsmarktpolitik machen.
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222 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Bundesminister Dr. BlümUm auch diese Zahl zu nennen — meine besten Verbündeten sind Zahlen; ganz ruhig —:
Wir haben das Arbeitslosengeld um 5 % gekürzt. Das war schmerzhaft. Das hat der Bundesanstalt 1 Milliarde DM Nachschub verschafft. Die Verlängerung des Arbeitslosengeldes hat jetzt schon 2 Milliarden DM gekostet. Wenn Sie also über Kürzungen sprechen, Herr Hoss, reden Sie auch über Leistungsverbesserungen, damit das ein ganzes Bild ergibt.
Zur Rentenversicherung nur soviel: Wir können jetzt über Strukturreform noch viel philosophieren. Nur, wenn der Bund seinen Zuschuß nicht erhöht, sind die ganzen Philosophien auf Sand gebaut. Daß wir in der Koalition vereinbart haben, der Bundeszuschuß wird erhöht, halte ich für eine Weichenstellung. Das sollten Sie, die Sie die Bundeszuschüsse immer gekürzt haben, begrüßen.Was den Wertschöpfungsbeitrag anbelangt: große Verlockung, gebe ich zu. Auf den ersten Blick ist das ganz verlockend. Ich bleibe nur dabei: Alles, was wir machen, sind nur Übungen auf dem Rangierbahnhof. Ohne Arbeit nützt das schönste Stellwerk nichts; wenn kein Zug fährt, ist das alles umsonst. Insofern geht es immer darum, was eine erwerbstätige Generation, die Arbeit hat, für die Alteren abzugeben bereit ist. Ob mit Maschinen hergestellt oder ohne Maschinen hergestellt, ist völlig belanglos. Es geht um den Teil, den sie abgibt.Ich bleibe dabei, daß dieser Beitrag an den Lohn gekoppelt bleibt, weil das auch der Schutz ist vor Manipulationen, weil auf diese Weise auch der verfassungsrechtliche Anspruch auf Eigentumsschutz verwirklicht wird.Lassen Sie uns weiter miteinander streiten, aber auch keine Hemmungen haben, dort, wo Übereinstimmungen bestehen, diese auch zu formulieren. Ich hoffe, es gelingt uns, die Rentenversicherung mit einem Maximum von Übereinstimmung zu verbessern. Das sind wir den älteren Mitbürgern schuldig.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt .
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wenn Politiker und Politikerinnen Optimismus verbreiten, wenn sie Hoffnungen erwecken, anstehende Probleme auch lösen, die Verbesserung der Lebensverhältnisse herbeiführen zu können, dann halte ich das für richtig. Derartige Hoffnungen, Herr Blüm, haben die Frauen, vor allen Dingen die 1 033 895 — weil Sie Zahlen so sehr lieben — arbeitslosen Frauen, die Sie mit keinem Wort erwähnt haben, weil Frauen für Sie nur im Zusammenhang mit Familie vorkommen, nötig.
Derartige Hoffnungen haben die 1,4 Millionen alleinerziehenden Frauen, die 95 % Rentnerinnen, diebisher kein Kindererziehungsjahr anerkannt bekommen haben, die Frauen, die wieder zurück wollen in den Beruf und vor verschlossenen Türen stehen, die Familien, die seit 1982 Jahr für Jahr weniger Geld zur Verfügung haben, derartige Hoffnungen hätten sie alle bitter nötig.Die Hoffnung, der Optimismus, den Sie, Frau Ministerin, Sie von der Koalition jenen zu bieten haben, sind aber entweder auf das Leugnen der Probleme gegründet oder auf Reden, ohne diesen Reden entsprechendes Handeln folgen zu lassen.Nun kann man Ihnen, Frau Süssmuth, etwas garantiert nicht vorwerfen, nämlich nicht Ignoranz. Diese kann „frau" z. B. Herrn Kroll-Schlüter wegen seiner letzten Interviews vorwerfen. Nein, Ihnen, Frau Süssmuth, ist vorzuwerfen, daß zwischen Ihrem Denken, Ihrem Reden und Ihrem konkreten Handeln keine oder viel zuwenig Einheit besteht,
daß Ihren häufig ganz richtigen Analysen der Situation der Frauen, Ihren sympathischen Reden mit teilweise richtigen Lösungen kein adäquates Handeln gegenübersteht.Sie, Frau Süssmuth, haben nicht die Fähigkeit — vielleicht kommt sie ja noch —, zu erkennen, wann sie die Macht haben, sich durchzusetzen. Diese Chancen hätten Sie meiner Einschätzung nach letztes Jahr gehabt, aber Sie haben nicht das notwendige Stehvermögen.
Hoffnung und Optimismus, die auf nichts gegründet sind, sind Mogelpackungen. Wer sich für so etwas hergibt, dient lediglich als Aushängeschild, als Köder für bestimmte Wählergruppen; die Mohrin hat ihre Schuldigkeit getan, sie kann wieder in den Hintergrund treten.
Ich darf Ihnen ganz ehrlich und ohne irgendwelche Einschränkungen sagen: Ich freue mich nicht darüber, daß Sie zu scheitern drohen, weil wir alle ja nicht nur Parteipolitikerinnen sind, sondern weil wir alle auch Frauen sind, egal, woher wir kommen, und weil wir einen gut Teil gemeinsame Interessen haben.So werden Sie uns leider auch heute wieder genauso wie vier Tage vor der Wahl erzählen — ich nehme das zumindest an —, was Sie tun wollen; ich sage: wollen, und nicht etwa, was Sie tun werden. Sie werden uns erzählen, daß Sie das Erziehungsgeld und den Erziehungsurlaub verbessern wollen. Was haben Sie eigentlich in dieser Frage erreicht? Nichts außer einer vagen Absichtserklärung. Wo haben Sie die Kompetenzen? Wo haben Sie die Mittel? Wo steht das in den sonst so detaillierten Koalitionsvereinbarungen, wo in der mittelfristigen Finanzplanung, und nur die ist maßgebend?
Sie werden uns heute wieder einmal Ihre Absicht, die Pflegetätigkeit in der Rentenversicherung abzusichern, mitteilen. Auch hierfür findet sich für die vielen
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 223
Frau Schmidt
Frauen, die sich diese schwere Aufgabe aufgeladen haben, nichts Konkretes in den Koalitionsvereinbarungen, weil Sie auch hier weder Kompetenzen haben, noch Mittel dafür eingesetzt sind.
Sie werden uns etwas von der Verbesserung des Familienlastenausgleichs mit einem Schwerpunkt für Alleinerziehende erzählen. Nur leider, leider wurde die Mühe, die man sich mit der Ausformulierung der Senkung des Spitzensteuersatzes gemacht hat, hier nicht aufgewandt. Für die Verbesserung des Familienlastenausgleichs fehlen die Mittel. Die sind für den Spitzensteuersatz längst verfrühstückt. Ihr Vorgänger, Herr Geißler, hat ganz richtig gesagt: Erst kommt der Kassensturz. — Da wird so arg viel nicht zu stürzen sein, das wissen wir beide. Dennoch versuchen Sie nach wie vor krampfhaft, den Anschein zu erwecken, Sie hätten die Kompetenzen und die Mittel, ihre Ziele durchzusetzen.Sie werden uns wieder von Ihrem Wollen berichten, wie in Ihrem Zwölf-Punkte-Programm — wie gesagt, vier Tage vor der Wahl — , das arbeitsrechtliche EG-Anpassungsgesetz zu verschärfen, Teilzeitarbeit sozialversicherungsrechtlich abzusichern, die versicherungsfreien 430-DM-Arbeitsverhältnisse abzuschaffen oder einzuschränken, den Schutz der Frauen vor Gewalt zu verstärken, der Frauenförderung im öffentlichen Dienst einen neuen Stellenwert zu verschaffen. Nur leider auch hier Fehlanzeige in den Koalitionsvereinbarungen; auch hier kein Geld, keine Kompetenzen, ja, teilweise noch nicht einmal Absichtserklärungen.Was haben Sie nun eigentlich erreicht? Zwölf Zeilen Frauenpolitik in den Koalitionsvereinbarungen, vage formuliert und mit einer deutlichen, auch heute schon absehbaren Verschlechterung. Auch die Kollegin Fuchs hat das schon angesprochen. Das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen soll aufgehoben werden. Wenn so der Fortschritt für die Frauen aussieht, wenn das Frauenförderung ist, die die Möglichkeiten für Frauen in schlecht bezahlten Berufen, im DreiSchicht-Betrieb zu arbeiten, erweitert, wenn das familienfreundliche Arbeitszeiten sein sollen — tags versorgt Mutti Kinder und Haushalt, nachts geht sie ans Fließband schuften — , dann kann ich im Namen aller dieser Frauen nur sagen: Nein, danke.
Wir Sozialdemokraten wollen gesundheitsschädigende und mit diesem Schwerpunkt familienfeindliche Schichtarbeit einschränken, für Männer und Frauen, und sie nicht etwa erweitern.Den zwölf Zeilen in den Koalitionsvereinbarungen unter der Überschrift Frauenpolitik stehen immerhin zwei Seiten detailliert ausformuliert zum Beratungsgesetz zum § 218 gegenüber. Sie und auch Frau Adam-Schwaetzer behaupten, damit sei keine Aushöhlung der sozialen Indikation verbunden. Von Herrn Kroll-Schlüter und Herrn Stoiber hört man es anders. Leider scheinen beide Herren besser zu wissen, wie die Schwangerschaftskonfliktberatung künftig aussehen wird. Leider haben Sie sich nicht gegen die ungeheure Diffamierung der Pro-Familia-Beratungsstellen durch diese und andere Herren gewandt.
Diese Beratungsstellen weisen nämlich selbstverständlich auf alle Hilfsmöglichkeiten hin, stimmen selbstverständlich ihre Informationsmaterialien mit Ihrem Ministeriums ab. Leider haben Sie sich nicht für die Vielfalt der Beratungsstellen ausgesprochen, sondern sehen tatenlos zu, wie ihnen der Geldhahn zugedreht und damit ihre Existenzmöglichkeit und ihre verdienstvolle und anerkannte Tätigkeit vernichtet werden sollen.
Leider haben Sie nicht klargemacht, daß die unsinnige Teilung der Beratung in eine medizinische und in eine soziale das Ziel einer frühzeitigen Entscheidung unmöglich macht. Leider haben Sie in den Grundzügen dieses Beratungsgesetzes nicht klargemacht, daß es ein Fehler ist — ich dachte immer, daß wir darin übereinstimmen — , die soziale Notlage mit einer materiellen Notlage gleichzusetzen.
Das ist der herausragende Fehlschluß dieses sogenannten Beratungsgesetzes, der Verweis der Frauen auf die Sozialhilfe, auf Erziehungsgeld, auf lebenslange Sozialhilfe für viele dieser Frauen, das Drohen mit Strafe, statt der Intention des Gesetzes zu entsprechen und wirkliche Hilfe anzubieten.Leider haben Sie es in diesen Koalitionsvereinbarungen nicht einmal geschafft — Sie waren ja auch im wesentlichen nicht dabei — , die Sprache in Ordnung zu bringen. So gibt es nur Berater und keine Beraterinnen, nur Ärzte und keine Ärztinnen in diesen Texten.
— Da sagen Sie: Ach je! Wir Frauen sind für Sprache inzwischen sehr sensibel.
Die Handschrift der Männer in einem Bereich, der uns Frauen so sehr angeht, ist unverkennbar.Leider haben Sie auch zugestimmt, die systemwidrige Honorarkürzung, wenn Ärzte ihrer Meldepflicht nicht genügen, in dieses Gesetz aufzunehmen, und wissen dabei genau, daß davon nur Kassenärzte und damit nur Kassenpatientinnen betroffen sind. Mit dieser eigenartigen Konstruktion wird Ihre Absicht vollkommen deutlich: Weniger Ärzte sollen legale Schwangerschaftsabbrüche über die Krankenkasse abrechnen. Das bedeutet: Die Privatpatientin hat — wie schon immer — alle Möglichkeiten, der Kassenpatientin wird mit finanziellem Druck ein legaler, indizierter Schwangerschaftsabbruch verweigert.
So werden garantiert Schwangerschaftsabbrüche nicht verhindert
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224 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Frau Schmidt
— ich erkläre es Ihnen gerne hinterher —, sondern nur durch eine frauen-, kinder-, familienfreundliche Politik, die Hilfe nicht auf das Existenzminimum reduziert. Genau das ist es, was wir an und für sich bräuchten.Ich kündige Ihnen deshalb den entschiedenen Widerstand der Sozialdemokraten und der Sozialdemokratinnen und der Mehrheit der Frauen gegen dieses Gesetz an.
Sie werden heute, Frau Süssmuth, vielleicht auch wieder von den Erfolgen der letzten Legislaturperiode und vom Erziehungsgeld erzählen sowie die Anerkennung der Kindererziehungszeiten erwähnen.Lassen Sie mich auf den letzten Punkt eingehen. Sie beteiligen sich an dem Etikettenschwindel des Herrn Blüm, wenn Sie den Frauen erzählen, alle würden diese Leistungen erhalten. Im Jahre 1986 waren es nicht einmal 5 % aller Rentnerinnen über 65 Jahre, die etwas von den Kindererziehungszeiten merkten. Auch dann, wenn das horrende Unrecht beseitigt sein wird, die älteren Rentnerinnen von den Kindererziehungszeiten auszuschließen, werden es 20 bis 25 % gar nicht mehr erleben, daß sich ihre Rente wegen ihrer früheren Leistung der Kindererziehung erhöht.
Sie haben nichts dafür getan, die Ungereimtheiten, den Unsinn, die Ungerechtigkeiten dieses Gesetzes wenigstens jetzt zu beseitigen. Vielleicht hätten Sie es sogar gewollt, daß die Frauen, die sich freiwillig weiterversichert haben, Frauen, die evakuiert waren, die vertrieben wurden oder die nur von ihrer Witwenrente leben müssen, die bei diesen Kindererziehungszeiten alle nichts bekommen, auch ihre Kindererziehungszeiten gutgeschrieben erhalten. Durchsetzen allerdings könnten Sie es nicht, weil Sie zwar den Titel „Frauenministerin" tragen, aber nicht die Mittel haben, nicht das Geld und nicht die Kompetenzen.Ich habe das Wort „Kompetenzen" in diesem Beitrag bisher sehr häufig verwendet und erinnere an unsere Diskussionen zum Ende der letzten Legislaturperiode und erneuere meinen Vorwurf: Frau Süssmuth, Sie haben sich zu billig verkauft. Kein Mann hätte sich das gefallenlassen und sich so gezielt benutzen lassen.
So haben Sie mit Ihrem öffentlich gemachten Vorschlag recht, daß der Titel „Frauenministerin" am besten aus Ihrem Titel zu streichen wäre.
— Die Idee ist nicht von mir, sondern von Frau Süssmuth selber.Leider sagen uns die Koalitionsvereinbarungen auch zu vielem anderen nichts Konkretes, z. B. zum Abbau der Frauen- und Jugendarbeitslosigkeit. Die gestern angekündigte Weiterführung der Qualifizierungsoffensive muß durch ein Angebot an sicheren, zukunftsorientierten Arbeitsplätzen begleitet werden, sonst wird das strukturelle Problem der Frauen-,Jugend- und vor allen Dingen Mädchenarbeitslosigkeit nur verschoben und nicht gelöst. Hier sollten Sie, Frau Süssmuth, arbeitsmarktpolitische Konzeptionen zugunsten der arbeitslosen Frauen und Mädchen vorlegen und durchsetzen.Es ist z. B. nicht von der von uns immer wieder geforderten Aufhebung des Beschäftigungsförderungsgesetzes in seinen frauenfeindlichen, arbeits- und sozialrechtlich verfehlten Teilen die Rede,
ebensowenig von der Aufhebung der schrankenlosen Zulassung befristeter Arbeitsverhältnisse, dem Unterlassen der gesetzlichen Förderung sozialwidriger Formen von Teilzeitarbeit wie Jobsharing oder kapazitätsorientierter variabler Arbeitszeit. Im Gegenteil: Anscheinend wird sogar die Verlängerung dieses sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetzes erwogen. Hier sollten Sie, Frau Süssmuth, einschreiten und die Erhebungen der Gewerkschafterinnen zur Kenntnis nehmen. Sie sollten die Sorgen der Kolleginnen und Kollegen ernst nehmen und etwas dagegen tun, daß Frauen beinahe nur noch befristete Arbeitsverhältnisse — ohne Mutterschutz, wenn sie schwanger werden — erhalten. Aber nichts dergleichen ist von Ihnen zu hören.
Ferner erfahren wir in diesen Vereinbarungen nichts zu familienpolitischen Maßnahmen, die Sie in vielen Reden genannt haben und die über materielle Leistungen hinausgehen, nichts zur dringend überfälligen Reform der Sozialhilfe, nichts zur Jugendhilfe, nichts zur Hilfe für ausländische Frauen.Dort, wo etwas Ihr Ressort Betreffendes steht, ist es das Falsche, wie bei der Verlängerung des Zivildienstes auf 24 Monate. Ihre Zustimmung als engagierte Katholikin auch zu dieser Maßnahme mutet seltsam an. Nicht nur Sozialdemokraten, sondern z. B. auch die Caritas befürchten ein Absinken der Motivation der Zivildienstleistenden und sehen bei dem schweren Dienst, den viele zu leisten haben, nicht verantwortbare psychische Belastungen auf die jungen Menschen zukommen.
Ebenso unverantwortlich ist es, daß das Ihnen unterstehende Bundesamt für Zivildienst zugesehen hat, daß Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistende beim Wintex-Manöver eingesetzt waren und daß die Schwerstbehindertenbetreuung durch Zivis eingeschränkt wird. Hier hätten Sie Kompetenzen, und hier nutzen Sie sie nicht.An dieser Stelle noch ein Wort zur FDP. Da haben sich doch namhafte Vertreter dieser Partei, z. B. Frau Adam-Schwaetzer und Herr Bangemann, im Herbst 1985 gegen die Verlängerung um sechs Monate ausgesprochen. Herr Eimer hat am 16. Januar 1986 im Plenum des Bundestages für seine Fraktion — die ist ja im wesentlichen nicht so ganz unterschiedlich von der heutigen — gesagt: Dei Verlängerung um ein Drittel findet nicht statt. Er hat von der äußersten Grenze von fünf Monaten gesprochen. Bahnt sich hier vielleicht ein weiterer Umfall an? In den Koalitionsver-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 225
Frau Schmidt
einbarungen heißt es nämlich ganz einfach und lapidar: Beim Zivildienst bleibt es bei der Drittel-Regelung.Vielleicht wollen Sie, Frau Ministerin, uns auch die Änderung des Ladenschlufigesetzes als Erfolg für die Frauen verkaufen. Ich behaupte, daß hier nur die eine Gruppe erwerbstätiger Frauen gegen die andere ausgespielt wird, daß sich mit dieser Änderung die Versorgungssituation von älteren Frauen und von Frauen mit kleinen Kindern verschlechtern wird,
daß das Ladensterben der kleinen Tante-EmmaLäden, die nicht umsonst so heißen, also das Sterben von Arbeitsmöglichkeiten für selbständige Frauen, rapide voranschreiten wird, daß Streß und familienfeindliche Arbeitszeiten für Verkäuferinnen an der Tagesordnung sein werden.Auch in einem weiteren sehr, sehr wichtigen Bereich der Frauenpolitik ist Fehlanzeige zu vermerken: die Diskriminierung von Frauen im gesellschaftlichen Leben. Sie haben zu Recht beklagt, daß in diesem Parlament zu wenig Frauen sitzen, in Ihrer eigenen Fraktion sogar eine Frau weniger als in der letzten Wahlperiode,
während alle übrigen Fraktionen ihren Frauenanteil erhöhen konnten. Wo sind jene Absichten, das Wahlrecht zu ändern, wo Ihre Ambitionen sich z. B. für eine Absicherung der Finanzierung von Frauenhäusern einzusetzen? Wo ist die Vereinbarung, frauendiskriminierende Werbung zu verbieten, an erster Stelle die unsägliche Werbung von Heiratsinstituten mit reizenden Thai-Mädchen, sauberen Philippininnen und Polinnen? Überall Fehlanzeige. Wir — das darf ich Ihnen versichern, Frau Süssmuth — werden Ihren mangelnden Kompetenzen, Ihrer nicht vorhandenen Durchsetzungsfähigkeit unserer Kompetenz entgegensetzen.
— Ich habe das Lachen so erwartet, daß ich hier sogar eine Pause einkalkuliert habe.
Wir werden dabei einen Teil Ihrer Forderungen aufgreifen und prüfen, wieviel hinter Ihren Reden eigentlich steht. Wir werden dabei fünf gleichwertige Schwerpunkte setzen: erstens die Gleichstellung der Frau im Berufsleben, zweitens die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf für Frauen und Männer, drittens die Wiedereingliederung von Frauen ins Erwerbsleben, viertens die Beseitigung von Diskriminierung von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen, fünftens die gesellschaftliche Anerkennung von Familien- und Hausarbeit. Wir werden zu jedem dieser Bereiche konkrete Gesetzentwürfe und Anträge vorlegen. Wir brauchen nämlich keine neuen Berichte. Frauenpolitik darf sich nicht in Frauenforschung erschöpfen. Wir müssen das, was wir an Erkenntnissen über Frauen in allen Lebenssituationen haben und auch selbst als Mütter, Großmütter, Politikerinnen, Berufstätige erfahren haben, endlich in konkrete Politik umsetzen.
Das Wort hat Frau Süssmuth, Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach so viel düsterem Szenario und scheinbarer Nachhilfe, die ich nun wirklich nicht nötig habe,
möchte ich an den Anfang stellen, daß es auch notwendig ist, Frau Schmidt, Zuversicht auf erzielte Ergebnisse zu stellen. Ich brauche sicherlich nicht Sie, um meine Forderungen durchzusetzen. Das kann ich hinreichend mit unserer Fraktion und mit der anderen Koalitionsfraktion. Und dabei ist eine Menge erzielt worden.
Ich werde auch nicht daran denken, wenn Sie mich wie gerade auf sprachliche Unrichtigkeiten und mangelnde Sensibilität in der Frauen-Sprache verweisen — , mich als Frau zu verkaufen. Ich bitte auch Sie, das aus Ihrem Vokabular zu streichen; denn das gehört einer anderen Sprache an.
Wenn man Koalitionsvereinbarung und Regierungserklärung liest, kann man das auch aus der Position des ständigen Nein-Sagers tun und auch Erreichtes oder Vereinbarungen nicht wahrhaben wollen. Sie möchten nicht wahrhaben, daß seit Bestehen der Bundesrepublik noch nie so viele Frauen an der Regierungsverantwortung beteiligt waren wie in der jetzt begonnen Legislaturperiode.
Jedenfalls habe ich dazu kein Wort gehört; im Gegenteil ist gestern angemahnt worden — —
— Vielleicht wäre es möglich, daß auch wir Frauen uns mal als Zuhörerinnen verhalten können.
— Herr Waigel, darüber sollten wir beide uns nicht unterhalten.
Statt dessen fragten Sie gestern nur, welche Qualifikationen Frau Wilms denn für dieses Amt aufweise. Ich denke, daß wir als Frauen mal gemeinsam
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226 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Bundesminister Frau Dr. Süssmuthbeschlossen haben, daß Frauen für jedes Amt qualifiziert sind und nicht nur in den traditionellen Frauenbereichen.
Wenn heute mehr Frauen als je zuvor in nichttraditionellen Frauenbereichen tätig sind, sollten Sie besser die Biographie von Frau Wilms studieren, um festzustellen, zu welchem Zeitpunkt sie just in der Deutschlandpolitik gearbeitet hat, um nicht zu fragen, was sie dafür qualifiziere. Ich denke, auch das gehört zur Frauensolidarität.
— Bei uns wird niemand abgeschoben,
und Frau Wilms ist stark genug, sich nicht abschieben zu lassen.
Ich frage: Wo waren denn die Frauen während der Kanzlerschaft Helmut Schmidts, und wo ist die große Zahl der Frauen in den von der SPD geführten Landesregierungen? Ich finde da nicht viel zu zählen.
Ich habe nie bestritten, daß ich mir mehr Frauen in unserer CDU-Fraktion wünsche und daß wir dazu entsprechende Beschlüsse gefaßt haben. Aber es gilt auch das Erreichte zu sehen und nicht nur ständig darauf zu verweisen, was denn bisher nicht erreicht sei.Nun haben Sie gesagt, Sie machen sich Sorgen um meine Position. Um die brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.
Ich empfehle Ihnen, sich mehr Sorgen um die Position Ihres Parteivorsitzenden zu machen. Da haben Sie im Augenblick mehr zu tun.
Nun erklären Sie, wir begnügten uns mit Absichtserklärungen in der Familienpolitik.
— Ich werde zur Politik schon Hinreichendes sagen, damit die Frauen Perspektiven haben und nicht nur düstere Szenarien hören, die für sie wenig hilfreich sind.Deswegen möchte ich zunächst erklären: Es ist selbstverständlich, daß bei einer seriösen Haushaltspolitik Leistungsgesetze nur im Rahmen der haushaltlichen Möglichkeiten verabschiedet werden können. Gerade Sie haben heute morgen noch einmal erklärt, wir gingen in der Haushaltspolitik einen gefährlichen Gang. Der Finanzvorbehalt in der Regierungserklärung 1983 war sehr viel deutlicher und stärker formuliert. Was war das Ergebnis? 10 Milliarden DM mehr für die Familien und mit dem Erziehungsurlaub und der Beschäftigungsgarantie ein Durchbruch in der Familienpolitik und ein durchschlagender Erfolg dazu. 95 % der Betroffenen nehmen das in Anspruch.
— Es ist eine Beschäftigungsgarantie. Ich möchte hier und heute nicht zum x-ten Mal wiederholen, woran die Arbeitsplatzgarantie bei dem Mutterschaftsurlaub gelegen hat: nämlich bei der Umgehung des Bundesrates.Ein Markenzeichen unserer Politik ist, daß wir mehr halten, als wir versprechen, während ich von der SPD zwar eine Menge Forderungen, eine Menge Versprechungen höre. Offenbar versprechen Sie stets mehr, als Sie dann halten können.
Nun haben Sie gesagt: Wo sind die Leistungen für die Erziehungszeiten der älteren Frauen? Ich habe mir nicht vorzuwerfen, mich dort zu wenig engagiert zu haben.
Immerhin ist es ein Beitrag von 10 Milliarden DM, der für die Erziehungszeiten zusätzlich bereitgestellt worden ist. Jeder, der über Verbesserungen in der sozialen Sicherung der älteren Frauen spricht, muß auch sagen, woher er die Mittel nimmt, um sie zu finanzieren.
Jedenfalls hat es vorher trotz einer langen Wohlstandsentwicklung keinerlei Leistungen in der Bundesrepublik gegeben. So und nicht anders sind die Tatbestände.
Zum anderen. Ich sehe wie Sie, daß es noch einer langen Zeit bedarf, um die Benachteiligung der Frauen im Ausbildungssektor, im Arbeitsleben, in der sozialen Sicherung und in der Familie zu beseitigen.
Ich glaube, ich brauche keinerlei zusätzliche Ermahnung, um auf diese Tatbestände hinreichend aufmerksam zu sein und für ihre Beseitigung zu kämpf en.
Nur, denke ich, hilft es nicht, daß wir ständig nurerklären, wie die Welt wäre, wenn es keine Problemegäbe, sondern konkret hilft uns nur ein Abbau der
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 227
Bundesminister Frau Dr. Süssmuthbestehenden Benachteiligungen in Teilschritten weiter.
Wann je zuvor hat es in Koalitionsvereinbarungen überhaupt Vereinbarungen zur Frauenpolitik gegeben?
Ich habe einmal nachgesehen. Ich habe sie nicht gefunden.
Es ist erstmalig, daß hier Maßnahmen zur Frauenpolitik aufgenommen worden sind.
Wenn Sie fragen, warum Vorhaben wie EG-Anpassungsgesetz oder Jugendhilfe nicht enthalten sind, dann antworte ich: Es sollte Ihnen nicht entgangen sein, daß z. B. zur Jugendhilfe in der Regierungserklärung ausdrücklich Stellung genommen war.
— Entschuldigen Sie, Frau Schmidt, das Geld ist in dem Rahmen zu ermitteln, wie wir die Jugendhilfe einbringen. Jeder, der in der Jugendhilfe tatig war, weiß, daß wir Jugendhilfe — die die Länder angehen — nur mit den Ministerpräsidenten und den zuständigen Ministern der Länder durchsetzen können. Deswegen tue ich nicht den zweiten Schritt vor dem ersten.Deshalb wiederhole ich hier: Die Jugendhilfe gehört zu den Vorhaben der nächsten Legislaturperiode, die ich in Aussicht gestellt habe und die ich auch durchführen werde.Ich komme auf den Punkt zurück: Wir haben Beschlüsse zur Erleichterung gefaßt: zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch die Offensive für sozialversicherungsrechtlich abgesicherte Teilzeitarbeitsplätze im öffentlichen Dienst und durch eine Offensive mit Wiedereingliederungsprogrammen für Frauen. Wenn ich mir Ihre letzten fünf Punkte ansehe, muß ich sagen: Wir haben in der Koalition die Maßnahmen für einen wesentlichen Teil des Programms festgelegt,
das Sie am Ende als Ihr Programm vorgestellt haben. Das sind für mich Tatsachen und nicht Worte.
— Die Landwirte haben ebensowenig wie alle anderen exakte Zahlen bekommen. Diese sind im Rahmen des Haushalts auszuhandeln.Ich meine, daß wir in der Familienpolitik konsequent den Weg weiter beschreiten, den wir in der vorigen Legislaturperiode begonnen haben.Sie mögen eine Menge Vorbehalte gegen Kinderfreibeträge haben. Dennoch gilt, daß wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu den Grundprinzipien des Steuerrechts und der Steuerpolitik gehört und daß daher Familien mit Kindern weniger Steuern als Ehepaare ohne Kinder zu zahlen haben. Das soll auch für die Zukunft gelten.
— Ich bin in der Steuerpolitik inzwischen versiert genug, um zu wissen, was eine Tarifsenkung für die Familien und die Einkommensbezieher allgemein und was Kinderfreibeträge für die Familien im besonderen bringen.
Aber es ist doch wohl unbestritten, daß die Senkung des Einkommensteuertarifs zu einer deutlichen Senkung der Steuerbelastungen und damit zur Erhöhung des verfügbaren Einkommens führt. Wir können doch nicht so tun, als ob die Tarifreform an den Familien vorbeiginge.
Weiter muß ich Ihnen sagen, daß die Steuerschwelle für Familien mit Kindern deutlich gehoben wird: für Ehepaare mit einem Kind um rund 3 500 DM, so daß sie bis 21 000 DM steuerfrei bleiben, für Ehepaare mit zwei Kindern um rund 4 000 DM — also bis ca. 25 000 DM steuerfrei — und für Ehepaare mit drei Kindern um rund 4 800 DM — auf rund 29 000 DM —; und über dieser Schwelle zahlen Familien mit Kindern gegenüber Kinderlosen erheblich weniger Steuern. Wir können also durchaus festhalten, daß das durchschnittliche Familieneinkommen im Jahr 1990 mit 1 000 DM weniger Steuern belastet sein wird.Da aber bei einer solchen Tarifreform eines der Standbeine die Kinderfreibeträge sind, habe ich mit den Koalitionären — wie der Ausdruck heißt — um mehr Kindergeld gefochten. Man war sich auch sehr bald einig, daß im Bereich der Kindergelderhöhung ein Weiteres notwendig ist. Ich muß Ihnen sagen: In unserem Wahlprogramm stand nicht: Erhöhung des Kindergelds vom zweiten Kind an. Das ist ein Ergebnis der Koalitionsverhandlungen; es ist von allen Koalitionspartnern getragen und verfochten worden. Ich meine, diese Leistungen und geplante deutliche Anhebungen für drei und mehr Kinder führen zur Entlastung in der Familienpolitik.Kein Mensch hätte angenommen, daß innerhalb weniger Jahre entschieden werden würde, Erziehungsgeld zu erhöhen und Erziehungsurlaub zu verlängern. Das ist für einen großen Teil der jungen Familien gerade für die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine ganz entscheidende Leistung.
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228 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Bundesminister Frau Dr. SüssmuthSie kritisieren immer wieder, es gebe keine Arbeitsplatzgarantie. Mir ist aus Eingaben nicht bekannt, daß die jungen Frauen und Männer — es sind inzwischen über 3000 — nicht an ihre Arbeitsplätze zurückkehren können. Selbst bei den Kleinstbetrieben haben sich bis auf ganz wenige Fälle — die Zahl liegt bisher unter 15 — keine Probleme in der Beschäftigung dieser Frauen ergeben, wenn sie zurückkehren. Also, ich denke, man darf hier nicht ständig nur darauf schauen, was nicht ist, sondern muß darauf schauen, was bereits erzielt ist.
Sie mögen gegen Teilzeitarbeit operieren. Aber ich denke, für einen Großteil der Frauen ist das eine wichtige Arbeitszeitform, um Beruf und Familie vereinbaren zu können. Und wenn in der Arbeitsmarktstatistik vom Februar 1987 erneut gesagt wird, daß nur ein Zehntel derjenigen Frauen, die Teilzeitarbeit nachfragen, auch Teilzeitarbeitsplätze bekommen, dann zeigt das, wie dringend die Erweiterung des Angebots ist.
Daß es uns darum geht, diese Arbeitsplätze sozialversicherungsrechtlich abzusichern, mögen Sie auch daraus entnehmen, daß wir an das Problem geringfügig Beschäftigter erneut herangehen und hier die Mißbrauchstatbestände zu ändern versuchen. Die Einschätzung, daß dies eine schwierige Aufgabe ist, teile ich mit Ihnen. Trotzdem müssen wir an diese Aufgabe heran.Ich möchte ein Weiteres benennen, was mir wichtig ist: Was die Wiedereingliederung von Frauen angeht, so habe ich bisher nirgendwo gefunden, daß Qualifizierungsoffensiven auch verstärkt den ländlichen Raum einbeziehen, um die Benachteiligung des ländlichen Raums gegenüber dem städtischen erheblich zu verringern. Überhaupt meine ich, daß wir, was den Bereich Stadt und Land angeht, die Lebenssituation der ländlichen Familien erheblich vernachlässigt haben, was wir auf Grund des sich verschärfenden Drucks in der Landwirtschaftspolitik erst allmählich wieder begreifen,
sei es, daß es sich um abhängig Beschäftigte, sei es, daß es sich um Selbständige oder in der Landwirtschaft tätige Frauen handelt.
— Das ist ganz massiv vernachlässigt worden. Da brauchen wir uns gegenseitig keine Vorhaltungen zu machen. Aber ich denke, es ist wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu ermitteln, um hier ein Umdenken vorzunehmen und den Kurs zu ändern.Ich möchte ein Weiteres sagen: Mir scheint, daß in der hier geübten Kritik an dem § 218 StGB offenbar noch weniger an Gemeinsamkeit übriggeblieben ist, als in vielen Verlautbarungen zu erkennen ist. Ich distanziere mich ganz energisch von den Verlautbarungen, die da lauten, wir planten ein Beratungsgesetz, das Frauen bevormunde, unterdrücke, mit Zwangsmaßnahmen konfrontiere.
Ich möchte hier an das erinnern, was Sie selbst— ich zitiere hier Frau Däubler-Gmelin — gesagt haben. In einer Entschließung vom 26. April 1974, die Sie gemeinsam mit der FDP verfaßt haben, hieß es:In vielen Fällen, in denen die Fortsetzung der Schwangerschaft wegen einer persönlichen oder sozialen Notlage der Schwangeren bedroht ist, wird das Leben des Ungeborenen durch eine einfühlsame und helfende Beratung erhalten werden können.
Und Frau Kollegin Däubler-Gmelin hat am 21. Mai 1986 klargestellt, daß Beratung und Hilfe in den Vordergrund des staatlichen Bemühens treten, während die notwendigen strafrechtlichen Verbote den Rahmen dafür bilden sollten.
Ich möchte ein Drittes hinzunehmen, was immer wieder kritisiert worden ist, auch in Verbindung mit der „Stiftung Mutter und Kind" : daß die Beratungsstellen nicht über ausreichende finanzielle und personelle Ressourcen verfügen, um Beratung und Vermittlung von Hilfen wahrnehmen zu können. Wenn wir in der Frage Leben der Frau und ungeborenes Leben wirklich ernsthaft weiterkommen wollen, dann kann es doch wohl nicht angehen, daß Verbesserungen in der Beratung verteufelt werden.
— Also, ich bitte Sie, lassen Sie mich bei diesem Thema erst einmal aussprechen; kritisiert haben Sie mich schon im Vorfeld genug.
— Ob es zu Recht geschah, mag sich zeigen. Warten Sie doch erst einmal ab, worum es geht.
— Ich kenne den Text am besten, denn ich war dabei, und ich kenne auch die Intentionen. Wir unterscheiden uns allerdings, wenn Sie eine Fristenlösung wollen, wo die Beratung entfällt oder nur Beiwerk und lästig ist.
— Das unterstelle ich Ihnen auch nicht. Wenn wir diesnicht wollen — das muß ich sagen —, dann wäre dochder allerwichtigste Schritt in einer solch lebenswichti-
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 229
Bundesminister Frau Dr. Süssmuthgen und lebenserhaltenden Frage, die Beratung so gut wie nur möglich auszustatten.
Jetzt sage ich Ihnen noch einmal: Es geht nicht gegen die Frau, sondern es geht um die Frau und um das ungeborene Kind; es geht um beide.
Hier geht es darum, daß diese Frauen nicht nur mal eben punktuell eine Beratung erfahren,
sondern in ein Beratungsgesetz sollte aufgenommen werden, daß in die Beratung auch die Hilfen aufgenommen werden, die den Frauen während und nach der Schwangerschaft zur Verfügung stehen.
Hinsichtlich der Beratung sollten Sie zumindest die Information entgegennehmen, daß es drei Typen von Ratsuchenden gibt: diejenigen, die zum Abbruch entschlossen sind, die Ambivalenten und diejenigen, die nicht, auf keinen Fall den Abbruch vornehmen möchten, aber durch die Umstände, durch Partner, Eltern oder andere gezwungen werden. Ich denke, die Beratung ist der Ort, wo die größtmögliche Hilfe erfolgen muß.
— Ich muß Ihnen sagen: Just das Gegenteil hat gerade in diesen Tagen selbst die Vorsitzende der Pro Familia ausdrücklich bestätigt. Ich glaube, hier ist der Wunsch Mutter des Gedankens und nichts anderes. Wenn wir wirklich den Auftrag ernst nehmen, daß Beratung darin besteht, den Frauen die Möglichkeit zu geben, sich zu öffnen und ihre Situation darzulegen,
wenn wir ihnen zweitens nicht nur in dieser kurzen Situation Rat erteilen, sondern ihnen konkrete Hilfen an die Hand geben,
bis hin zu den Fragen, wo das Kind betreut wird, welche Hilfen die Mutter erhält, wenn das Kind geboren ist,
was mit der Nachsorge, mit der Wohnungssuche ist, was mit dem Erhalt des Arbeitsplatzes ist
— das wird heute nicht gemacht, weil überhaupt keine Zeit und keine Mittel dafür zur Verfügung stehen —,
dann hätte ich eigentlich erwarten können, daß Sie zumindest in diesem Punkt einer personellen und finanziellen Verbesserung entscheidend zustimmen.
Das hätte ich als das Mindeste erwartet, wenn es um das Leben von Kindern und Frauen geht.
Ich möchte ein Zweites nennen. Ich glaube, daß es eine Selbstverständlichkeit ist, wenn wir halbwegs menschlich und logisch an die Beratungssituation herangehen, daß die Beratung vor der Indikation erfolgt und daß nicht der Arzt oder die Ärztin, die die Indikation vornehmen, die Frau daran hindern, überhaupt offen ihre Motive, ihre Probleme, ihre Lebenssituation darzustellen. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt, daß ich in der Beratungssituation die Chance habe, mich so frei wie möglich äußern zu können, ohne daran die Gefahr zu knüpfen, daß das möglicherweise die Indikation beeinträchtigt.
Auch hier glaube ich also, daß heute schon weitestgehend so beraten wird.Wenn wir drittens festhalten, daß wir eine entsprechende fachliche Voraussetzung gerade auch bei den Ärzten brauchen, dann gibt es überhaupt keinen Unterschied in den Auffassungen, daß es über das Medizinische hinaus gerade an psychologischem, sozialem und auch sozialrechtlichem Wissen fehlt. Selbst der Vorsitzende der Gynäkologen, Herr Professor Beck, oder die Beratungsstelle in Düsseldorf teilen immer wieder mit, daß hier dringend zusätzliche Fortbildung erforderlich ist.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Nickels?
Ja.
Bitte sehr, Frau Abgeordnete.
Frau Ministerin, ich kann ja Ihre Absicht verstehen, wenn Sie sagen: Ich will die Beratungsmöglichkeiten verbessern. Die sind auch verbesserungswürdig. Wir brauchen viel mehr Beratungsstellen. Aber alles, was Sie sagen, hat einen entscheidenden Fehler: Dem haftet der Geruch von Zwang an
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230 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Frau Nickels— ja, ich frage jetzt — und auch der Geruch, daß eine Frau nicht imstande ist, selber zu entscheiden, wenn sie ein Angebot hat. Das verstehe ich nicht. Da möchte ich gerne wissen, ob Sie nicht andere Möglichkeiten auf freiwilliger Ebene dem vorziehen würden?
Ich denke, in einer so wichtigen Angelegenheit — und hier passiert nichts anderes, aber Wichtiges, was Verfassungsgerichtsurteil und Gesetz festlegen — , wenn es um die Entscheidung über Leben und Tod geht, dann kann ich nicht sagen: Ich entscheide freiwillig über Leben und Tod;
sondern dann geht es darum, daß diese Entscheidung sehr sorgfältig abgewogen wird und daß daran mehrere beteiligt sind. So sehen es Gesetz und Verfassungsgerichtsurteil vor.
— Also, ich unterstelle gar nichts, und ich unterstelle keiner Beratungseinrichtung, die auf der Grundlage von Gesetz und Verfassungsgerichtsurteil berät, irgendein Defizit gegenüber den bestehenden rechtlichen Tatbeständen. Das möchte ich noch einmal ausdrücklich festhalten.
Sie haben eben davon gesprochen: Es gibt eine Meinungsvielfalt in Ihrer Partei, und es gibt eine Meinungsvielfalt in unserer Partei. Es gehört aber auch zugleich dazu zu sagen, daß es in der Frage des Umgangs mit dem § 218 auch Mißbrauchstatbestände gibt.
Wenn alles dies nicht mehr zur Sprache kommen darf, dann leben wir mit unterschiedlichen Auffassungen. Diese müssen dann zur Sprache gebracht werden.Ich denke, daß es hier weniger um die Frage geht, daß die Beratung verbessert wird.
— Ja, eben, Sie möchten, daß die Beratung beim Schwangerschaftskonflikt ganz entfällt, und das ist außergesetzlich.
— Erstens ist keine Frau gezwungen, es steht den Frauen völlig frei, ob sie zur Diakonie, Caritas oder zu Pro Familia gehen.
Zweitens steht ihnen sogar in den meisten Fällen ein Angebot an unterschiedlichen Beraterinnen, Ärzten und Ärztinnen frei.
— Hier sind wir unterschiedlicher Auffassung. Auf Grund der gesetzlichen Grundlagen ist es eine Beratung in einer anerkannten Beratungsstelle. So sieht es das Gesetz vor.Ich möchte jedenfalls hoffen, daß an Stelle von Unterstellungen, es handele sich hier um Zwangsmaßnahmen gegen Frauen, der Gedanke Platz greift, daß es um die Verbesserung von Beratung, um mehr Chancen für das geborene und ungeborene Leben geht und daß Frauen und ungeborene Kinder unteilbare Einheiten sind.
— Woher Sie diese Behauptung nehmen, möchte ich zunächst erst einmal wissen. Jedenfalls ist das die Beratungsintention und die Intention zur Verbesserung der Beratung.Ich möchte abschließend noch auf einen Punkt kommen, der mir sehr wichtig zu sein scheint und wo offenbar die Übereinkunft größer ist als in anderen Punkten. Ich meine die bedrohliche Krankheit AIDS. Wir haben in den Koalitionsvereinbarungen festgelegt, daß alle Möglichkeiten der Aufklärung, der Beratung, der stationären medizinischen Hilfen und der Verbesserung der ambulanten Hilfen durch ein Sofortprogramm des Bundes, wodurch Länder und Kommunen entlastet werden, umfänglich vorgesehen und umgesetzt werden.Ich möchte an alle Frauen und Männer hier im Parlament appellieren, daß wir bei der weiteren Bekämpfung der Krankheit — es geht darum: AIDS muß niemand bekommen, wenn ich von den Fällen absehe, die sich durch Blutpräparate in den Jahren zuvor infiziert haben — sehen, es geht entscheidend darum, daß wir diese Krankheit vermeiden und die Infektionskette durchbrechen. Hier kommt kein Staat ohne Eigenverantwortlichkeit der Bürger aus. Es kommt aber auch kein Staat ohne das bewußte Zusammenleben von Kranken und Nichtkranken, Gesunden und Infizierten aus. Deswegen ist ganz entscheidend, daß— neben den Maßnahmen der Hilfe für die Kranken und des Schutzes der Gesunden — unsere Gesellschaft hier die Nagelprobe besteht, daß wir nicht ausgrenzen, sondern lernen, als Kranke und als Gesunde zusammen zu leben.
Ich fürchte, daß wir hier eine Menge an Bewährungsproben zu bestehen haben, und hoffe, daß wir den gemeinschaftlich festgelegten Weg — auch mit Maßnahmen zur besseren Erfassung und zur Anwendung des Seuchengesetzes dort, wo es notwendig ist— beschreiten können. Ich unterstreiche dabei noch einmal: Es kann nicht angehen, daß wir in Fällen, in denen rücksichtslos und verantwortungslos gehandelt wird, die Augen zumachen und die Weiterverbreitung
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 231
Bundesminister Frau Dr. Süssmuthder tödlichen Krankheit in Kauf nehmen. Dies kann nicht angehen, aber entscheidend ist, daß wir es schaffen, auf dem Wege der Aufklärung Eigenverantwortlichkeit zu praktizieren und denen, die betoffen sind, zu helfen.
— Ich brauche Herrn Waigel hier überhaupt nicht anzuschauen; er weiß, was vernünftig und notwendig ist.
Ich möchte meine Ausführungen mit der Aussage beschließen: Politik braucht Zukunftsvisionen aber ich glaube, daß wir in der Familien- und Frauenpolitik keine neuen Visionen brauchen. Was wir brauchen, sind konsequente Schritte zur Umsetzung der von uns als notwendig erkannten Maßnahmen.
Ich glaube, daß wir in den Koalitionsvereinbarungen dazu bereits einen entscheidenden Beitrag geleistet haben,
und wir werden dies auch in die Tat umsetzen. Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wilms-Kegel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin Süssmuth hat der staunenden Öffentlichkeit das sogenannte Beratungsgesetz zum § 218 als echte Hilfe für Frauen, die ungewollt schwanger sind, verkauft. In Wirklichkeit handelt es sich hier um ein neues Kontrollmittel gegenüber Frauen, Ärzten und Beratungsstellen.
Da soll neuerdings das soziale Umfeld in die Beratung einbezogen werden. Soziales Umfeld, damit meint die Bundesregierung nicht nur Ehemann und Eltern, sondern auch den Arbeitgeber. Eine angenehme Vorstellung für ungewollt schwangere Frauen, daß die Beratungsstelle, zu der sie unfreiwilligerweise gehen müssen, mal eben bei ihrem Arbeitgeber anruft, ganz freiwillig natürlich!
Das läuft praktisch darauf hinaus, daß Frauen unter Druck gesetzt werden können, Leute mitreden zu lassen, die sie eigentlich lieber heraushalten wollen.
Die Anerkennung und Förderung einer Beratungsstelle soll künftig davon abhängig gemacht werden, daß sie auch bereit ist, Mittel dieser ominösen Stiftung„Mutter und Kind" zu vergeben, die ja aber bekanntermaßen nur Almosen anbietet.
Es ist ja klar, wogegen sich dieses Gesetz richtet. Die Beratungsstellen sollen diszipliniert werden, und selbst die Ärzte sollen nun von oben zu Zwangsindoktrinationskursen verdonnert werden. Sie werden, so fürchte ich, den Druck erst recht an die Frauen weitergeben, und ganz genau das ist offensichtlich auch bezweckt.
Nun stellt sich die Frage, warum die Koalition so viel Energie in das genaue Ausrechnen der Zahl der Schwangerschaftsabbrüche stecken will. Es gibt darauf nur eine Antwort: Genaue Abtreibungszahlen braucht nur derjenige, der damit die eigene Position untermauern will, daß es sowieso und auf jeden Fall zu viele Abtreibungen sind.
Wären die Abtreibungszahlen um die Hälfte niedriger, würden die Herren Geißler & Co. ganz genauso lamentieren.Die Idee, die Ärzte zur Erfüllung ihrer Meldepflicht zu zwingen, indem die Bezahlung durch die Krankenkasse davon abhängig gemacht wird, ist nun wirklich ein Hammer. Die Maßnahme wird lediglich bewirken, daß immer mehr schwarz abgetrieben wird, um so die Meldepflicht zu umgehen.
Die Frauen müssen dann die Zeche zahlen. Zwar verhindert das keine einzige Abtreibung, aber vielleicht können Frau Süssmuth und Herr Geißler dann ja in dem Wissen ruhiger schlafen, daß die Frauen, die abtreiben, dafür wenigstens ordentlich löhnen müssen.Allein der Name dieses Beratungsgesetzes ist der reinste Hohn. All denen, die meinen, der bestehende § 218 sei so erhaltens- und verteidigenswert, muß deutlich gesagt werden: Im Grunde sind diese ganzen Verschärfungen nichts anderes als die konsequente Fortführung dessen, was in diesem Paragraphen immer schon stand und was auch immer schon praktiziert wurde:
straffreier Schwangerschaftsabbruch nur dann, wenn die Frauen dafür Gängelung, Schikane, Angst, Moralpredigten
und oft genug auch finanzielle Nachteile dafür in Kauf nehmen.
Was hier als Fortschritt verkauft wird, ist in unseren Augen ein massiver Rückschritt.
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232 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Frau Wilms-KegelWie wir den elf Zeilen der Regierungserklärung und den Koalitionsvereinbarungen entnehmen können, wird die Regierung jetzt auch schnellstens beginnen, die Struktur des Gesundheitswesens für die Benutzer und Benutzerinnen zu verschlechtern. Unter dem Deckmantel der Wirtschaftlichkeit und des Anreizes zum Sparen werden Sie, meine Damen und Herren der Regierungsparteien, auch im Gesundheitswesen eine Zwei-Klassen-Gesellschaft schaffen.
Die einen sind wohlhabend und können sich Gesundheit, optimale Behandlung von Krankheiten und teurere Medikamente leisten. Die anderen sind auf Billigmedizin angewiesen und müssen selbst bei lebenswichtigen Medikamenten überlegen, ob sie sich diese Medikamente überhaupt leisten können. Sie fordern Selbstverantwortung und meinen höhere finanzielle Selbstbeteiligung und Privatisierung des Krankheitsrisikos.
Es ist schon auffällig, daß Ihre Konzepte zur Einsparung im Gesundheitswesen immer den Menschen treffen, der krank ist oder es nicht werden möchte. Die Anbieter im Gesundheitswesen, insbesondere die Pharmaindustrie, lassen Sie gänzlich unangetastet. Hinweise auf krankmachende Arbeits- und Umweltbedingungen in unserer Gesellschaft fehlen völlig.
Was das Problem der zunehmenden HIV-Infektionen angeht, so haben Sie in den Regierungsparteien eine zunehmende Hysterie geschürt. Sie haben da, wo Sie früher Sündenpfuhle vermutet haben, jetzt Virusreservate indentifiziert. Sie versuchen, unter dem Vorwand der Seuchenbekämpfung wieder Kontrolle über liberalisiertes Sexualverhalten und unliebsame Minderheiten zu bekommen.
Dabei ist AIDS schon lange kein Problem von Minderheiten mehr, AIDS betrifft uns alle. — Ich habe mich schon mit Patienten beschäftigt, die HIV-infiziert waren. Sie auch?
Der Hintergrund Ihrer Prävention und die Drohung, mit rechtlichen Mitteln gegen alle vorzugehen, die AIDS verbreiten, legt den Schluß nahe, daß Sie hier Kranken die Schuld an ihrer Krankheit geben, anstatt ihnen Zuwendung und Betreuung zu gewähren. Sie machen da doch Opfer zu Tätern. Wenn Sie schon drohen, gegen diejenigen vorzugehen, die AIDS verbreiten, wie werden Sie sich gegenüber den Pharmaherstellern verhalten, die HIV-verseuchte Präparate zur Behandlung von Bluterkranken in den Handel gebracht und hier zahllose HIV-Infektionen verursacht haben?
Im größten Behandlungszentrum für Bluter in derWelt, in Bonn, liegt die Infektionsrate bei 60 % . Hierwerden Sie aber sicherlich wieder eine Lücke im Gesetz finden, weil Sie für diese spezielle Problematik der Pharmaindustrie Verständnis haben, ein Verständnis, das Sie für eine suchtkranke Prostituierte aber nicht aufbringen.
Die Prävention von HIV-Infektionen hat nichts mit Polizeilogik, mit Sexualfeindlichkeit und mit Diskriminierung und Ausgrenzung zu tun, schon gar nichts mit Moral. Hier hilft nur staatlich unterstützte Selbsthilfe, Aufklärung und Eigenverantwortung. Die Regierung kann jetzt zeigen, ob sie bereit ist, das AIDS-Problem zu einem positiven Testfall problemorientierter Gesundheitspolitik zu machen. Viren machen weder Geschichte noch Politik, aber der Umgang mit Viren ist Politik.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Da mein verehrter Kollege Eimer leider verhindert ist, habe ich hier eine kurze Intervention für ihn zu machen.Ich habe mich gewundert, Frau Kollegin Schmidt, warum Sie die Ministerin Süssmuth so säuerlich angehen. Sie hat hier doch eine famose Rede gehalten. Wir wissen alle, daß sie ihre Aufgaben mit großer Überzeugungskraft, mit großem Engagement und mit Erfolg wahrnimmt. Das sollte man akzeptieren und begrüßen.
Ich habe drei kurze Bemerkungen zu machen.
— Ich kann Sie leider nicht verstehen. Das hängt damit zusammen, Frau Vollmer, daß Sie — nicht Sie persönlich, aber Ihre Gruppe — derartig viele Zwischenrufe machen, daß man vor der geballten Macht weiblicher Zwischenrufe fast geneigt ist, die Ohren zu schließen, weil es ungewöhnlich schwer ist, die einzelnen Stimmen auseinanderzuhalten.
— Natürlich, das ist alles gegenseitig.Lassen Sie mich etwas zu Ihrer Bemerkung zur Verlängerung des Zivildienstes sagen. Die Zustimmung zur Verlängerung des Zivildienstes um sechs Monate ist unserer Fraktion außerordentlich schwergefallen. Es besteht überhaupt keine Veranlassung, darüber hinwegzureden. Die grundsätzliche Verlängerung, die ursprüngliche Drittellösung, sollte ein Äquivalent für den Reservedienst sein, also keine prohibitive Sperrung gegen eine Gewissensentscheidung. Es ist nicht zu verkennen, daß ein Zuschlag von sechs Monaten für den einzelnen in der Tat außerordentlich belastend ist. Aber Sie wissen auch aus unserer Koalition, daß man in vielen Fragen Kompromisse eingehen muß. Ich glaube, daß die Grenze zum Verfassungsrecht hier nicht berührt ist. Ich denke, daß wir in der schwierigen Lage, in der wir uns befinden, was die
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 233
Dr. HirschZahl der Wehrdienstpflichtigen, die Bevölkerungsentwicklung angeht, eine solche Lösung in der Tat hinnehmen können. Aber sie stellt — da stimme ich Ihnen zu — einen schwierigen Kompromiß und sie stellt die Obergrenze des Möglichen dar.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Schmidt?
Ich habe so wenig Zeit, Herr Präsident, ungern.
Okay. — Es tut mir leid.
Die zweite Bemerkung, die ich machen will, bezieht sich auf § 218. Ich glaube, wir wollen und brauchen die alten Schlachten, die wir in den letzten Legislaturperioden ja in großer Intensität dazu geführt haben, nicht zu wiederholen.
Die Entscheidung für die Indikationslösung war für uns eine Entscheidung für das Leben. Sie entsprach der sozialen und forensischen Wirklichkeit, und es entspricht unserer Überzeugung, daß die Frau nicht mit den Mitteln des Strafrechts dazu gebracht werden muß, sich für das Leben zu entscheiden, sondern daß sie das tut, wenn es möglich ist.
Darum wollen wir an dem § 218 in der gegenwärtigen Form festhalten; wir werden daran nichts ändern. Die Indikationsregelung bleibt formell und inhaltlich unberührt. Aber natürlich hat Frau Minister Süssmuth recht, wenn sie sagt, daß diese Entscheidung nicht bedeuten kann, etwa nicht für eine optimale Beratung zu sorgen, eine Beratung, wie das Leben des werdenden Kindes erhalten werden kann und wie sich das Leben der Mutter gestalten kann. Das darf nicht bedeuten, daß eine Beratung zur Gängelei führt.
Es darf kein Hürdenlaufen geben.
Es darf natürlich keine Einbeziehung des sozialen Umfeldes einer Schwangeren gegen ihren Willen erfolgen,
und das ist auch in keiner Weise beabsichtigt.
— Auf ihren Wunsch hin, das steht drin, und es besteht Veranlassung, das hier noch einmal ausdrücklich zu wiederholen. Ich sage Ihnen, daß Sie sich dann, wenn Sie das Gesetz sehen werden, wirklich beruhigen können.
Die dritte Bemerkung, die ich machen will, bezieht sich auf das Problem AIDS, eine Krankheit, die unser soziales Leben tiefgreifend verändern kann. Hier sind politische Eifereien und Emotionen fehl am Platze, denn es gibt niemanden in diesem Hause — ich glaube, auch nicht außerhalb dieses Hauses — , der uns eine überzeugende Patentlösung für dieses,
unsere Gesellschaft zutiefst berührende und verändernde Problem bieten kann.
Die Erkenntnisse, auch die medizinischen Erkenntnisse, verändern sich. Alle Fraktionen — das begrüßen wir — lehnen bisher eine Meldepflicht ab. Das ist gut, solange eine Meldepflicht aus Angst vor Diskriminierung zum Untertauchen der Betroffenen und eher zu einer Verdunkelung der notwendigen Erkenntnisse führen würde. Es ist ein grundsätzlicher Fehler der bayerischen Staatsregierung, daß sie nicht die Hilfe, sondern den ordnenden und strafenden Zugriff des Staates in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt hat.
Vor jeder Maßnahme muß sichergestellt werden, daß ihre Folgen nicht eine Diskriminierung der Betroffenen sind. Es wird mit uns keine neuen Aussätzigen in dieser Gesellschaft geben.
Unser Verhalten dieser Krankheit gegenüber wird ein schwerer Test für die Toleranz und die Toleranzbereitschaft in unserer Gesellschaft werden.
Dazu ist der Vorschlag gemacht worden, eine Enquete einzurichten. Meine Erwartungen in Enqueten sind nicht allzu hochgespannt. Aber wenn Sie glauben, daß wir damit weiterkommen, werden wir uns der Mitarbeit in einer solchen Enquete selbstverständlich nicht entziehen.
Frau Minister Süssmuth, Sie haben unsere Unterstützung.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Verhülsdonk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Schmidt, ich mache Ihnen ein Angebot: Am Ende dieser Legislaturperiode, also in etwa vier Jahren, nehmen wir uns noch einmal Ihre heutige Rede vor.
Dann haken wir Punkt für Punkt ab, wo Sie mit Ihren negativen Prognosen und Ihren Unterstellungen unrecht gehabt haben. Ich freue mich schon darauf.Im Gegensatz zu Ihnen bin ich nämlich der Meinung, daß die Regierungskoalition ein Programm vorgelegt hat, das in den Bereichen der Familienpolitik, der Politik für Frauen und für junge Menschen so gestaltet ist, daß wir mit Zuversicht das letzte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts ansteuern können. Zuversicht zu haben, fällt vielen heute schwer. Das Unglück von Tschernobyl, die Umweltkatastrophe im Rhein, die Gefährdung durch AIDS — das alles sind Bedrohungen, die von den Menschen als existentiell empfunden werden. Ich kann das verstehen, weil Rezepte, wie sie in den 60er und 70er Jahren noch Gültigkeit hatten, heute so nicht mehr stimmen.Manche erwarten in dieser Situation eine Politik des großen Wurfes, die praktisch mit einem Geniestreich
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234 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Frau Verhülsdonkdie Dinge in den Griff bekommt. Aber wir wissen, das ist Illusion. Was wir brauchen, ist eine verläßliche, glaubwürdige Politik, die die Sorgen der Menschen ernst nimmt, die die richtigen politischen Prioritäten setzt, die Lösungen in Solidarität mit den Generationen sucht, die nach uns kommen. Das, meine ich, hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung überzeugend dargestellt.
Neben der Friedenssicherung, dem Schutz unserer Umwelt, der Strukturreform der sozialen Systeme steht der Politikbereich Familie, Frauen, Jugend und Gesundheit, den Sie, Frau Süssmuth, politisch zu verantworten haben, im Mittelpunkt unserer Bemühungen bei der Gestaltung unserer Zukunft. Darum wünschen wir Ihnen Tatkraft, das Stehvermögen und die politische Weitsicht, die Sie im vergangenen Jahr so reichlich bewiesen haben, auch für die nächsten Jahre. Wir werden Sie wie den Bundeskanzler auf diesem Weg unterstützen.Wir können in dieser Legislaturperiode dort ansetzen, wo wir im Dezember aufgehört haben: bei einer erfolgreichen Politik für die Familien und für mehr Partnerschaft zwischen Männern und Frauen in unserem Land. Unsere neue Politik, gekennzeichnet durch Dinge wie Erziehungsgeld, Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung, Erziehungsurlaub, wollen wir in der neuen Legislaturperiode fortschreiben. So wird — das steht im Programm — der Familienlastenausgleich deutlich verbessert. Nicht nur der Kinderfreibetrag im Steuerrecht wird angehoben, auch das Kindergeld, und zwar ab dem zweiten Kind, wird erhöht. Ich halte das für unabdingbar; denn vor allem bei den Mehrkinderfamilien besteht noch immer ein großer Nachholbedarf.Ich räume ein — da haben Sie gar nicht unrecht —; Die von der Koalition beschlossenen Steuererleichterungen im Tarifbereich, so wichtig sie sind — auch für die Familien — , reichen allein nicht aus.Die Dauer der Zahlung des Erziehungsgeldes werden wir über zwölf Monate hinaus verlängern. Ich versichere Ihnen, Frau Schmidt: Wir wollen alles dafür tun, damit möglichst ein volles zweites Jahr erreicht wird.
Natürlich wird zugleich der Erziehungsurlaub verlängert. Der Ausbildungsfreibetrag wird erhöht, denn heute sind die Familien mit durchschnittlichen Einkommen, die gerade so über der BAföG-Grenze liegen und die Kinder in der Ausbildung haben, in einer schwierigeren Lage als die BAföG-Bezieher.
Natürlich müssen wir die Alleinerziehenden wesentlich mehr unterstützen, aber das ist schon gesagt worden.Wir wollen das Problem der Pflegebedürftigkeit anpacken. Fast 9 von 10 Pflegebedürftigen werden heute noch von ihren Angehörigen gepflegt. Die mit der Pflege verbundenen Kosten und die aufopfernde Tätigkeit der Pflegepersonen wurden bisher von derGesellschaft kaum zur Kenntnis genommen. Wird stationäre Pflege in Anspruch genommen, dann entstehen hohe Kosten für die Krankenkasse. Bei Heimpflege muß in sieben von zehn Fällen die Sozialhilfe einspringen. Wir müssen die Bereitschaft der Familien zur häuslichen Pflege anerkennen und stärken. Das soll u. a. durch einen neuen Steuerfreibetrag geschehen.Es ist darüber hinaus notwendig, den Familien, die Angehörige pflegen, mehr fachliche Hilfe bei der Versorgung der Angehörigen zu gewähren und ihnen auch Urlaubsmöglichkeiten zu verschaffen. Ein entsprechender Gesetzentwurf lag bereits in der letzten Legislaturperiode vor.Wir müssen aber auch im Rahmen der großen Rentenreform Wege für eine bessere Alterssicherung von Frauen finden, die über längere Zeit Angehörige oft unter Verzicht auf eigene Berufstätigkeit gepflegt haben.
Hier sind wir CDU-Frauen ganz ernstlich entschlossen, dies anzupacken.Frauen wollen heute Familie und Beruf. Sie wollen Kinder, aber sie wollen nicht zugleich für immer auf eine Berufstätigkeit verzichten. Ich halte es für eine Gesellschaft, in der Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften gemeinsam Verantwortung tragen, für ein Armutszeugnis, daß die Abstimmung zwischen Berufswelt und Familienwelt immer noch so unvollkommen klappt.
Wer hier vernünftige, praktikable Lösungen anbietet, leistet mehr für die Zukunft unserer Gesellschaft, als dies Prozente mehr an Lohn, über die jedes Jahr monatelang gestritten wird, je tun könnten.
Darum begrüßen wir die Ansätze zu größerer Flexibilität, wie sie im Regierungsprogramm deutlich werden. Für mich gehört zu dieser Flexibilität auch der Dienstleistungsabend.
Den Frauen größere Freiräume und eine bessere Abstimmung zwischen Familie und Arbeitswelt zu eröffnen, dazu stehen im Regierungsprogramm richtige, sehr konkrete Schwerpunkte, z. B. mehr berufliche Weiterbildungsangebote für Frauen, die in den Beruf zurückkehren wollen, und das vor allem auch im ländlichen Bereich, wo die Chancen von Frauen geringer sind als in städtischen Regionen. Es ist gut, daß die Regierung daran denkt, die Betriebe bei diesen Maßnahmen stärker mit einzubeziehen. Es ist gut, daß die Bundesregierung eine Offensive für mehr Teilzeitarbeit starten will und dem öffentlichen Dienst eine Vorreiterfunktion zuweist.Die Tarifparteien müssen viel phantasievoller über neue Arbeitsformen verhandeln. Warum sollen nicht Arbeitszeitverkürzungen und Teilzeitarbeitsplätze insbesondere Müttern und Vätern angeboten werden,
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 235
Frau Verhülsdonkdie kleine oder behinderte Kinder zu versorgen haben, die aber beide mit dem Beruf Kontakt halten wollen und gemeinsam das Familieneinkommen erwirtschaften wollen? Die vom Bundeskanzler angekündigte Offensive für Teilzeitarbeit im öffentlichen Dienst — auch in der Bundesverwaltung — und bessere Förderungsbedingungen für Frauen sind alles richtige Schritte. Wir dürfen hier vor dem Beamtenrecht nicht haltmachen.Noch eines ist wichtig. Vorübergehende Teilzeitbeschäftigung darf nicht in alle Zukunft ein Hindernis für beruflichen Aufstieg bleiben. Wir müssen mit Phantasie darangehen, dieses Problem aufzulösen.Die Zunahme von sozial ungesicherter geringfügiger Beschäftigung ist nicht nur zu einem großen Frauenproblem geworden. Sie hat sich mehr und mehr zum Wettbewerbsproblem entwickelt. Das kann so nicht weitergehen.Es gibt noch einige Beschäftigungshemmnisse, die sich einseitig gegen die Frauen auswirken, die müssen beseitigt werden. Da ist die Finanzierung des Mutterschutzes ebenso ein Thema wie das Nachtarbeitsverbot für Arbeiterinnen. Es gilt ja bekanntlich für weibliche Angestellte sowieso nicht. Es wird oft genug als Begründung für niedrigere Frauenlöhne — bis in Arbeitsgerichtsurteile hinein — mißbraucht. Arbeitsschutz muß für Männer und Frauen als individueller Gesundheitsschutz am ganz konkreten Arbeitsplatz wirksam werden und nicht als kollektiver Schutz für ganze Gruppen, für die dadurch der Zugang zur Arbeitswelt unsinnig erschwert wird.
Die Ankündigung der Koalition, ein Gesetz zur Verbesserung der Beratung im Rahmen des § 218 zu erlassen, hat sogleich viele unsachliche Unterstellungen ausgelöst. Einiges dazu haben wir heute auch hier gehört. Solche Äußerungen werden dem eigentlichen Anliegen nicht gerecht.Wenn ich es richtig sehe, hat in den vergangenen Jahren eine Bewußtseinsänderung dem Leben gegenüber stattgefunden, durchaus verstanden als eine umfassende neue Einstellung. Diese betrifft auch das ungeborene Leben, und sie zeigt sich ebenso in wachsenden Vorbehalten gegenüber Möglichkeiten, die mit Hilfe der Genforschung verwirklicht werden können. Ich nenne Leihmütter, Samenbanken und Tiefkühlembryonen.Die ganze große Mehrzahl der Menschen in unserem Land erwartet vom Deutschen Bundestag, daß er alles tut, um menschliches Leben in allen Stadien und die Menschenwürde zu schützen. Dieser Erwartung müssen wir gerecht werden. Seit wir menschliche Embryonen in der Retorte zeugen und sie in den Mutterleib verpflanzen können, bestreitet niemand mehr ernstlich, daß der Mensch von Anfang an Mensch ist.Das Bundesverfassungsgericht hat klargestellt, daß das Recht des ungeborenen Kindes auf Leben ein hohes Rechtsgut ist. Es bestehen offenbar bis in dieses Haus hinein große Unkenntnisse über das geltende Recht, das unter einer SPD-Regierung verabschiedet worden ist. Es läßt eine Abtreibung dann straffrei, wenn eine ernsthafte Notlage für die Schwangere besteht. Es muß sich allerdings um eine Lebenssituation mit dem Charakter einer gewissen Ausweglosigkeit handeln, sagt das Bundesverfassungsgericht.Bei der Verabschiedung des geltenden Strafrechtsparagraphen 218 haben übrigens alle Fraktionen, die damals in diesem Hause waren, nachdrücklich bekundet, daß die soziale Notlagenindikation nicht zum Routinevorgang werden darf. Deshalb wurde vom Gesetzgeber damals schon Beratung und Vermittlung von Hilfe der Indikationsstellung vorgeschaltet.Männer unterstellen manchmal, daß Frauen sich leichtfertig zu Abtreibungen entscheiden. Ich habe das immer zurückgewiesen; auch Beratungsstellen weisen das zurück. Sie machen eine andere Erfahrung. Deshalb bin ich davon überzeugt, daß die allermeisten Frauen in Konfliktsituationen dankbar sind, wenn ihnen zunächst Wege gewiesen werden, wie sie aus der Notlage herauskommen können, ohne ihr Kind opfern zu müssen.Dabei geht es nicht nur, wie wir wissen, um die Vermittlung von Sozialhilfe und von Geldmitteln aus der Stiftung „Mutter und Kind". Oft liegen die Probleme im persönlichen sozialen Umfeld der Schwangeren. Auch das berichten uns immer wieder die Beratungsstellen. Da liegt es doch nahe, in Fällen, wo die Frau dies selbst wünscht, den Partner oder die Eltern in die Beratung einzubeziehen und zu persönlichen Hilfestellungen zu motivieren.Es geht uns weiter darum, daß Mütter nach Austragung einer Konfliktschwangerschaft auch nach der Geburt des Kindes begleitet werden, wenn notwendig, bis zum 3. Lebensjahr.Wir wollen also die Aufgaben der Beratungsstellen erweitern und die Beratung weiter qualifizieren und möglichst bundesweit einheitliche Bedingungen herstellen. Ich meine, wir sind es den Frauen schuldig, sie in ihrer Konfliktlage zu entlasten und ihnen den Zugang zu allen denkbaren Hilfen zu erleichtern.
Mir ist klar: Bei einem Beratungsgesetz geht es um sehr sensible Fragen. Aber für die Ausgestaltung haben wir ja die Möglichkeit umfangreicher Beratungen hier im Bundestag. Und da werden wir, wie wir es immer getan haben, alle Sachkundigen gerne zu Wort kommen lassen und ihren Rat einholen. Niemand will hier ein Gesetz, das die Frauen abschreckt, eine Beratungsstelle aufzusuchen, und sie auf illegale Wege abdrängt. Wir ändern nicht das geltende Strafrecht, aber wir wollen einen Beitrag dazu leisten, daß Frauen überall alle verfügbaren Hilfen erhalten.Durch die Weltseuche AIDS kommt eine Herausforderung ungeahnten Ausmaßes auf unsere Gesellschaft zu. Es geht darum, die Gesunden zu schützen und die Kranken menschenwürdig zu behandeln. Wir Christen haben die Pflicht — da stimme ich Kardinal Höffner voll zu — , die AIDS-Infizierten und AIDS-Kranken nicht in ein Ghetto abzuschieben. Die Bundesregierung hat ein Konzept gegen AIDS vorgelegt, das den gegenwärtigen Erfordernissen Rechnung trägt. Sicherlich muß es ständig weiter überprüft werden.
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Frau VerhülsdonkAber auch das Parlament ist gefordert, sich intensiv an dieser Diskussion zu beteiligen und eigene Vorschläge einzubringen. Die CDU/CSU will aus diesem Grunde eine Enquete-Kommission einsetzen. Da sich die SPD und, wie wir eben hörten, auch die FDP bereits in gleicher Richtung geäußert haben, besteht gute Hoffnung, daß wir in dieser wichtigen Frage parteiübergreifend zusammenarbeiten und zu gemeinsam getragenen Lösungen kommen.Abschließend möchte ich feststellen — und das in bezug auf das gesamte Koalitionsprogramm, das wir in diesen Tagen diskutieren — : Es ist ein gutes Regierungsprogramm, das nicht über den Wolken schwebt. Es ist nämlich schwerer, die Dinge dieser Welt Schritt für Schritt zu verändern, als sich in großen Entwürfen oder Versprechungen zu ergehen. Unsere Politik wird den Alltag verbessern und ihn für viele Menschen, vor allem auch für die Frauen in unserem Land, erleichtern. Dafür lohnt es sich zu arbeiten.
Nun hat das Wort der Abgeordnete Penner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es noch eines Hinweises auf Beschaffenheit von Koalition und Regierung bedurft hätte: Verlauf und Verlautbarungen der Koalitionsverhandlungen nach der Wahl waren kennzeichnender als alles, was verhüllend-freundlich Regierungspropaganda oder attackierende Oppositionsrede hätte hervorbringen können.Gewiß: Wir Deutschen wollen auch in der Politik zu häufig das Große, das Erhabene, das Wegweisende, was das auch immer sei, und haben weniger Sinn für den politischen Alltag, das Handwerkliche, das politische Graubrot.Doch ist es nicht nur die Enttäuschung über ein eher farbloses Kabinett und viele blasse Kompromisse, die in den Medien, und zwar von links bis rechts, scharfe Kritik bewirkt hat. Es ist vielmehr das totale Ausbleiben der geistigen Reform, des politisch frischen Windes des Konzeptes einer politischen Führung.
Was von den Koalitionsverhandlungen haften bleibt, ist dies — so ist es jedenfalls dem Bürger vorgekommen — : Sollten es nun 56 % Spitzensteuersatz sein und bleiben, oder kommen wir darunter? Wo sollte die Abflachung der Progressionskurve bei den Steuern beginnen und wo enden? Wer war für innere Sicherheit, und wer war für Datenschutz? Wer hatte mehr mit der Landwirtschaft, und wer hatte mehr gegen Europa im Sinn? Wer tauschte den Umweltschutz im Grundgesetz gegen ein bißchen weniger § 218 und ein bißchen mehr strafbewehrte Vermummung minus Gauweilers AIDS-Rezept? Welcher Generalsekretär hatte als erster im Fernsehen das Wort, entweder direkt aus dem Autofenster einer Nobelmarke oder bei der Bundespressekonferenz? War Stoltenberg der Spielball der FDP und von Strauß, oder war er nur der Spielball von einem von beiden? Und war es wirklich ein Zeichen von Freundlichkeit für die Dauer der Koalitionsverhandlungen,den Bonner Journalisten ein Zelt vor dem Bundeskanzleramt zur Verfügung zu stellen?Der Bundeskanzler war jedenfalls immer dabei. Er hat die Verhandlungen geleitet. Er hat sich zurückgehalten. Nur einmal hat er auf den Tisch gehauen; da ging es um den Spitzensteuersatz. Da ist es dann passiert: Der Blüm wurde desavouiert, sofern das überhaupt möglich war, und bis heute steht nicht fest, ob die Steuerentlastung zu finanzieren ist. Das war das Ergebnis einer Rücktrittsdrohung des Bundeskanzlers.Wie ist es bei den Personalentscheidungen gewesen, die ja immer delikater Natur sind? Kohl hat hier sehr viel Sinn für Eigenmacht bewiesen. Mit dem Angebot für Strauß, ihm das Innenministerium oder das Verteidigungsministerium oder das Finanzministerium plus Vizekanzlerschaft anzubieten, hat er diesen zufriedengestellt und ihn sich damit zugleich vom Leibe gehalten. Er verknüpfte damit ganz locker und ohne weiteres die Demontage Stoltenbergs, nicht ohne die Gelegenheit auszulassen, es noch einmal und zum wiederholten Male Zimmermann und Wörner einzutunken, damit die beiden auch wirklich mausetot bleiben. Da der Bundeskanzler bei sonst schwachen Gedächtnisleistungen zu erstaunlichen Erinnerungskräften bei der Abteilung Rachsucht in der Lage ist,
hat es dann gleich auch bei Biedenkopf und dem von ihm geleiteten Landesverband Nordrhein-Westfalen eingeschlagen. Besonders die Kaltstellung des ebenso queren wie brillanten Kollegen Biedenkopf beweist mehr als alles andere:
Der Bundeskanzler ist kleinlich und nicht großzügig.
Er demütigt, wo Ermutigung und Aufforderung geboten wären. Er hält Abstand vom Denken und von Denkern.
Glauben Sie, es sei unbemerkt geblieben, daß der Bundeskanzler mit einem Mann am Koalitionstisch gesessen hat, der der politischen Korruption überführt ist, der als Angeklagter im Flick-Prozeß versucht hat, einen mißliebigen Staatsanwalt mittels persönlicher Einschaltung parlamentarischer Gremien ablösen zu lassen, wie das Landgericht Bonn es festgestellt hat —
ein einmaliger Vorgang in der Nachkriegsgeschichte der deutschen Justiz?Glauben Sie, es sei unbeobachtet geblieben, daß der Bundeskanzler mit der CSU einen Koalitionspartner hat, der in seinem Programm gleiches Wahlrecht für alle Südafrikaner ablehnt?
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 237
Dr. PennerDer Bundeskanzler begleitet in Kenntnis des UN-Embargos das U-Boot-Geschäft mit Südafrika mit wohlwollenden Prüfungsaufträgen und zieht sich erst zurück, nachdem der Schaden eingetreten war.
Der Bundeskanzler hatte wie in der Flick-Affäre in der U-Boot-Affäre die Gelegenheit, ja die Pflicht, politisch zur Heilung eines schwierigen Komplexes beizutragen. Aber keine Spur davon!
Verantwortung von Beamten wurde beschworen, um die eigene Haut zu retten.
Nichts von der zu fordernden politischen Gestaltungskraft eines Bundeskanzlers! Keine Rede von der beschworenen Verpflichtung, den Nutzen des deutschen Volkes zu mehren!
Das Ganze mag geschickt, das Ganze mag clever sein. Die Verfassung und das Amt des Bundeskanzlers, wofür andere prägend gewirkt haben, mögen das noch eine Weile tragen.
Politisch lebt der amtierende Bundeskanzler vom Glanz des Erbes seiner Vorgänger.
Wie Kohl sich unter den obwaltenden Umständen über politische Gleichgültigkeit in unserem Volk wundern kann und politische Auffaserung, ja Zeichen der Zersetzung, für die die GRÜNEN lediglich Symptom sein mögen, nur reaktiv begleitet, ist schleierhaft.
Der Bundeskanzler hat dafür geradezustehen, daß der Staat keinen Schaden leidet.
Der Bundeskanzler trägt Verantwortung für das ganze Volk und nicht nur für die, die ihm passen.Wir können die vor uns liegenden Probleme nur lösen oder zumindest einer Lösung näherbringen, wenn sich möglichst alle in unserem Staatswesen wiederfinden.Der Bundeskanzler muß von seiner Neigung ablassen, Menschen, die ihm nicht zusagen, beiseite zu schieben, ja ab- oder auszugrenzen.
Der Bundeskanzler muß die Möglichkeiten seines Amtes zum politischen Gestalten nutzen und nicht zum Baden in den Insignien staatlicher Macht auf Zeit.
Noch eines zum Grundsätzlichen: Die Koalitionsvereinbarungsklubs — das war in der Vergangenheit auch schon ansatzweise der Fall — werden mehr undmehr zu in der Verfassung nicht vorgesehenen Entscheidungsnebengremien ohne Transparenz — und damit zur Herausforderung für die parlamentarische Demokratie.
Ich kann keinen Sinn darin sehen. Es ist eine ungute Entwicklung, wenn die die Regierung tragende Mehrheit zunehmend für außerhalb des Parlaments bis ins Detail vorformulierte Politik bei der Abstimmung in Anspruch genommen wird.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, in der Innenpolitik, so wird gesagt, spiegeln sich unterschiedliche politische Überzeugungen besonders der Koalitionspartner FDP und CSU wider. Ich weiß nicht, ob das zutrifft. Richtig ist sicher, daß die Innenpolitik zur Verlautbarung solcher Unterschiede mit nicht geringer publizistischer Aufmerksamkeit gedient hat und auch den Zweck hat, ein unterschiedliches politisches Angebot zu simulieren und zu insinuieren.
Soweit es um die innere Sicherheit geht, werden bei der Koalition Besessenheiten erkennbar, die sich hauptsächlich auf Fragen politischer Gewalttätigkeit konzentrieren. Die Suche nach immer neuen Lücken im ohnehin engmaschig geknüpften Regelwerk des Strafrechts feiert fröhliche Urständ. Von der Strafbarkeit der Vermummung und der passiven Bewaffnung, der Befürwortung von Gewalt, der Erweiterung und Verschärfung sonstiger Straftatbestände bis hin zu ausufernden Regeln der Strafprozeßordnung : es sind allesamt durch Sachverständige zigfach enttarnte Ladenhüter politischen Irrglaubens und zudem wohl ungewollte Bekenntnisse der Unzulänglichkeiten bei der Bekämpfung terroristischer Gewaltkriminalität.
Gewiß, es fehlt nicht der Hinweis auf die Notwendigkeit der Fahndung. Den Ursachen der Gewalt soll von einer Regierungskommission nachgegangen werden. Aber selbst dieser Teilaspekt der inneren Sicherheit fügt sich nicht zu einem überzeugenden Ganzen. Wir brauchen Kontinuität. Wir brauchen Konzentration. Wir brauchen Sachverstand. Wir brauchen kühle Nüchternheit bei der Verfolgung der terroristischen Gewalttäter.
Wir brauchen einen langen Atem und keine kurzatmige Hektik.
Alle Terroristen mit Ausnahme einer Frau der ersten Generation sind verhaftet und längst verurteilt. Das wird auch künftig so sein. Auch diejenigen, die jetzt
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Dr. Pennerterroristische Gewalttaten begehen, werden über kurz oder lang gefaßt und den ordentlichen Gerichten überantwortet werden.
Wir befürchten, daß die aus einem überholten polizeistaatlichen Denken heraus von der Union geforderten gesetzgeberischen Maßnahmen dazu führen, daß mehr, vor allem jüngere Menschen den Terroristen geradezu in die Arme getrieben werden.
Es gibt keinen absoluten Schutz vor Kriminalität — das müssen Sie sich einmal sagen lassen —,
schon gar nicht in einer offenen Gesellschaft.
Die Chancen der Verhinderung und Ahndung werden nicht dadurch größer, daß pausenlos der Gesetzgeber bemüht wird und so auch Stück für Stück der freiheitlichen Substanz unserer Verfassung abgeschmolzen wird.
Hier gibt es Anlaß zur Sorge. Ich denke dabei an die Versammlungsfreiheit nach dem Grundgesetz, gemeinhin mit der inzwischen irreführenden und negativ gefärbten Vokabel Demonstrationsrecht belegt. Damit es keinen Zweifel gibt: Wir Sozialdemokraten halten ohne Wenn und Aber daran fest, daß „alle Deutschen das Recht haben, sich ... friedlich und ohne Waffen zu versammeln", wie das in Art. 8 des Grundgesetzes niedergelegt ist.
Es ist die Herzkammer unserer Demokratie. Wir haben dieses Recht in der Vergangenheit erstritten, und wir haben dieses Recht in der Vergangenheit immer wieder gegen autoritäres Staatsverständnis verteidigt und werden dies auch künftig tun.
Das Demonstrationsrecht ist für uns unantastbar.Damit aber auch dies klar bleibt: Der Unfriedliche und Bewaffnete kann sich nicht auf den Schutz der Verfassung berufen. Es sollte auch gesicherte Überzeugung sein, daß nach unserer Verfassung die vollziehende Gewalt und damit auch die Polizei insonder-heit auch die Ausübung des Rechts nach Art. 8, der Versammlungsfreiheit, zu gewährleisten hat. Es ist absolut lächerlich, zu glauben, das rechtliche Besteck dafür reiche nicht aus.
Wir müssen begreifen, daß lästiges oder auch anstößiges Verhalten anderer nicht notwendig strafwürdig ist. Wir müssen akzeptieren, daß politische Entwicklungen nicht auf dem Rücken der Polizei ausgetragen werden dürfen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat bewiesen, wie Demonstrationen bei geltendem Recht ohne Reibungen stattfinden können.
Natürlich ist nicht unbeachtet geblieben, daß die Gesamtzahl der Demonstrationen 1986 gegenüber 1985 um 20 % gestiegen ist. Auch das ist ein Gradmesser für oder gegen politische Bewegungen in unserem Volk. Daraus kann man unterschiedliche Schlüsse ableiten und zu differierenden Einschätzungen kommen. Wir werten dies auch als Zeichen lebendiger Demokratie, nicht als etwas prinzipiell Kritikwürdiges. Im Gegenteil: Der im Grundgesetz postulierte Aktiv-Bürger ist dies auch, wenn er demonstriert.
Von den mehr als 7 000 Demonstrationen im Jahr 1986 waren 261 unfriedlich. Das sind 3,6 %. 1985 war es nicht anders. Die Zahlen sind seit vielen Jahren konstant. Auffallend erhöht hat sich 1986 die Zahl der im Zusammenhang mit unfriedlich verlaufenden Demonstrationen verletzten Polizeibeamten. Wir bedauern die Tatsache zutiefst, daß 818 Polizeibeamte verletzt worden sind. Fast die Hälfte davon, nämlich 391, wurde aus Bayern gemeldet, offensichtlich im Zusammenhang mit den Demonstrationen in und um Wackersdorf. 1985 waren in Bayern nur 22 Polizisten bei Ausschreitungen verletzt worden. Die Frage ist erlaubt — und sie ist ja auch von vielen Polizeipraktikern gestellt worden — , ob nicht die zum Teil ungeschickte und schlechte Polizeiführung bei den Demonstrationen um Wackersdorf die Verantwortung dafür trägt,
die ihrerseits auf ideologisch bedingte Verspannungen der politischen Führung in Bayern zurückgeführt werden können.
Wir bedauern, daß andere Problemfelder der inneren Sicherheit unerwähnt bleiben oder nur beiläufig behandelt werden.
— Auch das ist kein gutes Beispiel. — Dabei gibt die Kriminalität in unserem Land zu tiefer Sorge Anlaß.Schwerpunkt der Kriminalitäts-Steigerung sind die Eigentumsdelikte und dabei vor allem Diebstähle aus Kraftfahrzeugen. Die „schnelle Mark" , das leichte Geld und die immensen Gewinne, die heute aus der Kriminalität zu schöpfen sind, sind ein großes, schwieriges gesellschaftliches Problem.
Hierzu hat die Bundesregierung keinen Ton gesagt, hat sie keine Perspektive, keine Lösung anzubieten.
Dabei stagnieren die Aufklärungsquoten oder gehen ständig zurück. Sie schwanken zwischen
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Dr. Pennerextrem hohen Werten von 100 % beim Totschlag und nur 7,5 % beim Diebstahl aus Kraftfahrzeugen. Einher geht mit dieser Entwicklung die Erschütterung des Rechtsbewußtseins in Teilen unserer Bevölkerung, die die Tendenz erkennen läßt, leichtere Eigentumsdelikte zu tolerieren.Die SPD fordert die Bundesregierung nachdrücklich auf, der Rauschgiftkriminalität, der Wirtschafts- und der Umweltkriminalität mehr Aufmerksamkeit als in der Vergangenheit zu widmen.
Motiv all dieser Straftaten ist letztlich immer auch— meist allein — Bereicherungsabsicht. In der Wirtschafts-, der Rauschgift- und der Umweltkriminalität gibt es gigantische Profitmöglichkeiten, die genutzt werden wollen. Mit schwersten Verbrechen gegen unsere Gesellschaft und gegen unsere Natur lassen sich riesige Gewinne machen. Diesem Problem sollte die Bundesregierung mehr Aufmerksamkeit widmen als der Frage, ob sich künftig wieder jemand strafbar macht, der nur zufällig und unbeteiligt bei einer gewalttätigen Demonstration angetroffen wird.
Längst überfällig, aber offensichtlich nicht beabsichtigt ist die Überarbeitung, d. h. die Modernisierung, der beiden 1972 und 1974 verabschiedeten Programme für die innere Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist höchste Zeit daß die Auseinanderentwicklung der Länderpolizeien und der Sicherheitsorgane des Bundes ein Ende findet.
Der Stillstand auf diesem Gebiet bedeutet gleichzeitig Rückschritt, wie man u. a. an der unterschiedlichen Ausrüstung der Länderpolizeien ablesen kann. Modernisierung, Vereinheitlichung, mehr Effektivität, allgemeingültige Datenschutzbestimmungen im Sicherheitsbereich, Rechtsangleichungen sind gefordert und nicht hektische Aktivitäten zur Einschränkung des Demonstrationsrechts.Meine Damen und Herren, beim Datenschutz hat sich die Koalition darauf verständigt, die Entwürfe der sogenannten Sicherheitsgesetze erneut einzubringen. Einzige Variante gegenüber früher: Diesmal soll die Regierung initiativ werden und nicht — wie in der 10. Legislaturperiode — die Fraktionen. Sonst bleibt alles beim alten.
Der Wettbewerb um den besten Popanz, Herr Baum— hier innere Sicherheit und dort Datenschutz —, kann erneut stattfinden. Typisch dafür sind entsprechende Formulierungen im Koalitionspapier, die alles bedeuten können. Es heißt da — Zitat — :Oberster Grundsatz für die Gesetzgebungsarbeit muß sein, das vom Bundesverfassungsgericht beschriebene Grundrecht— das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung —des einzelnen Bürgers auf den Schutz seiner persönlichen Daten in Einklang zu bringen mit den Aufgaben der Sicherheitsbehörden, das Grundrecht der Bürger auf ein Leben in Sicherheit auch durch einen gesetzlich geregelten Datenaustausch wirksam schützen zu können.
Wissen Sie, um was es sich da handelt?Es nimmt nicht wunder, wenn es weiter heißt, daß „Datenschutz auch für die Sicherheitsbehörden gilt, dieser andererseits aber nicht zur Schwächung der inneren Sicherheit führen darf ".
Mit Erwägungen solcher Art kann man auch die Wiedereinführung der Folter begründen.
Daß „der Funktionsbereich der Datenschutzbeauftragten" — ich zitiere aus Ihrer Koalitionsvereinbarung — „gesetzlich umschrieben ist und Befugnisse der allgemeinen Fachaufsicht ihm nicht zustehen", mag als ebenso albern wie lapidar abgetan werden. Hingegen bedeutet die Betonung „der besonders engen Verzahnung der Arbeit von Polizei und Verfassungsschutz" den Einstieg ins Schattenreich einer düsteren Vergangenheit, die bis jetzt für längst überholt gehalten wurde.
Es verstärkt unsere Skepsis gegenüber dem Vorhaben eines Zusammenarbeitsgesetzes.
— Alles Ihre eigenen Produkte. —
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundesregierung muß den Anforderungen des Verfassungsgerichts zum Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung endlich nachkommen. Dazu gehört eine Novellierung der Strafprozeßordnung und des Datenschutzrechts. Wir wollen die sicherlich komplizierten Detailarbeiten konstruktiv begleiten.
Wir raten dazu, die Länder sehr viel intensiver als bisher in die Arbeit einzubeziehen.
Wir warnen davor, Datenschutz als Ausgeburt intellektueller Klügeleien und Symptom des Staatsverfalls zu begreifen. Die Bundesregierung selbst bekommt bitter zu spüren, was es heißt, den Eindruck eines reaktionären Datenschutzverständnisses zu vermitteln. Auf Herrn Zimmermann ist es zurückzuführen,
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240 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Dr. Pennerwenn politisch dafür geworben wird, die so notwendige Volkszählung zu sabotieren.
Ganz traurig sieht es mit den Vorstellungen der Koalition zur Ausländerpolitik aus. Kein Wort zur Frage des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit, kein Wort zur politischen Beteiligung, kein Wort zur Integration, nichts an inhaltlichen Elementen. Die Koalition beschränkt sich — wie schon in der vergangenen Legislaturperiode — auf die markige Zusicherung: „Das Ausländerrecht wird umfassend neu geregelt." Sie begreifen nicht, wollen oder können nicht verstehen, daß es sich bei dem Kürzel „Ausländerpolitik" um Menschen, um menschliche Schicksale handelt, die ein Recht darauf haben, anständig behandelt zu werden
und zu erfahren, welche persönlichen Zukunftsplanungen sie anstellen können und welche nicht.
Wir werden uns mit allem Nachdruck gegen Diffamierung und Diskreditierung von Ausländern wenden, wie sie in der Asylkampagne des vergangenen Sommers einen unrühmlichen und beschämenden Höhepunkt erreicht haben.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, der Bundesinnenminister trägt auch politische Verantwortung für den Sport.
Neben anderem vermissen wir eine klare Aussage zum Thema Sport und Steuern.
Daß Stoltenberg dabei zu Ausweichmanövern neigt und Kommissionen ans Arbeiten bringt, das mag wohl zu den Amtspflichten eines Kassenverwalters gehören. Auf Sabotage läuft das Verhalten des Präsidenten des Deutschen Turnerbundes Walter Wallmann hinaus.
Der organisierte Sport mit über 60 000 Vereinen, 20 Millionen Sporttreibenden und ca. 2 Millionen ehrenamtlich Tätigen hat darauf gewartet, daß sich Wallmann, am Kabinettstisch in Bonn sitzend, dafür verwendet hätte.
Nichts davon, kein Sterbenswörtchen! Herr Bundesminister Wallmann, Sie kommen dem organisierten Sport teuer zu stehen, zu teuer, wie ich meine. Mit salbadernden Feiertagsreden ist dem Sport nicht geholfen.
Wir erwarten — das erwartet der gesamte organisierte Sport — , daß Sie kämpfen, nicht mehr und nicht weniger.
Verstecken und wegtauchen ist nicht akzeptabel.
Wenn der Bundesminister Wallmann den Interessenkonflikt zwischen Amt und Ehrenamt nicht aushalten kann, dann muß er sich für das eine oder das andere entscheiden.
Ich betone für meine Fraktion erneut: Die Sportvereine und -verbände haben ein Recht darauf, daß ihre dem Gemeinwohl dienende sportliche, soziale, kulturelle und pädagogische Arbeit dauerhaft von steuerlichen Abgaben befreit wird.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird deshalb in Kürze einen entsprechenden Antrag einbringen.
Dies gilt auch für die verstärkte Förderung der sozialen Aufgaben des Sports. Spiel und Sport müssen mehr als bisher vor allem den 4 Millionen behinderten Mitbürgern und davon rund 800 000 Kindern und Jugendlichen als aktive und solidarische Lebenshilfe zugänglich gemacht werden.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, in der Bildungspolitik werden wir den neuen Minister an seinen Taten messen und uns nicht mit Vergangenem aufhalten.
Es bleibt abzuwarten, ob er auch nur die programmatischen Entscheidungen seiner eigenen Partei, nämlich der FDP, umsetzen kann, und dazu gehören — alles programmatische Erklärungen der FDP — erstens der Ausgleich für die hemmende Wirkung sozialer Beeinträchtigung, zweitens Neuordnung und Verbesserung der individuellen Ausbildungsförderung für Schüler, Berufsschüler und Studenten, drittens — alles Zitat aus dem FDP-Programm — schrittweiser Abbau des Numerus clausus, viertens Stellen und Mittel für die Weiterbildung an den Hochschulen und fünftens mehr Ausbildungsplätze im staatlichen und halbstaatlichen Bereich.
Nach den Koalitionsvereinbarungen, meine Damen und Herren, sitzt Möllemann an einem ungedeckten Tisch. Aber das kann sich ja ändern, das muß sich
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Dr. Pennerändern. Anderenfalls ist Möllemann nur ein höchst überflüssiger Ausgabeposten im Bundesetat.
Wir Sozialdemokraten bleiben dabei: Bildung ist kein Privileg der wohlgefüllten Brieftaschen einzelner, Bildung ist Lebenschance für alle, ein Stück Weg zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Freiheit und zu mehr Gleichheit. Bildung muß deshalb auch öffentliche Angelegenheit, eine Sache der Politik sein und bleiben, und das kostet Geld. Das kostet viel Geld — wir wissen das —, aber es ist auch im Interesse unseres Volkes gut angelegt.
Herr Bundesminister Möllemann hat kein einfaches Amt übernommen. Die auf ihn zukommenden Aufgaben werden nicht einfach zu lösen sein. Möllemann kann auf eine ebenso faire wie wachsame und konstruktive Opposition unsererseits rechnen.Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Miltner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was wir soeben gehört haben, die Rede meines Kollegen Penner, war natürlich ein aufgewärmtes Sammelsurium über viele Sachgebiete hinweg und sozusagen ein Abgesang, obwohl wir diese Debatte erst morgen mittag beenden wollen.
Die wichtigste Aufgabe auf dem Gebiet der Innen- und Rechtspolitik — darum geht es jetzt — ist die Erhaltung der Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers und die Sicherung unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates, die Sicherung des Gemeinschaftsfriedens. Leider fehlt hier auf weiten Strecken der notwendige Grundkonsens, der jahrzehntelang unangefochten Bestand hatte und heute in einigen wesentlichen Punkten in Frage gestellt, ja sogar aufgegeben wird.
Entschuldigen Sie, Herr Abgeordneter, wenn ich Sie unterbreche.
Meine Damen und Herren, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie, sofern Sie dem Redner nicht zuhören wollen, den Saal verlassen, damit hier in Ruhe vorgetragen werden kann.
Sie haben das Wort, Herr Abgeordneter.
Lassen Sie mich einige Aspekte von grundsätzlicher Art zur inneren Sicherheit behandeln. Ich gehe davon aus, daß der Bundesinnenminister nachher noch zu Einzelproblemen der Innenpolitik Stellung nehmen wird.Der Bundeskanzler hat zum Grundkonsens wörtlich ausgeführt:Dieser Konsens, der auch unsere Verfassung trägt, umfaßt unbedingt die Achtung der Menschenwürde, die Anerkennung des demokratischen Mehrheitsprinzips, das den Respekt vorMinderheiten einschließt, sowie den Verzicht auf Gewaltanwendung.Wie steht es nun mit dem Grundkonsens bei uns? Die GRÜNEN haben von Anfang an keinen Zweifel daran gelassen, daß sie einen anderen Staat wollen
und grundlegende Prinzipien unseres freiheitlichdemokratischen Rechtsstaates ablehnen.
Die SPD verbündet sich nunmehr mit den GRÜNEN in den Ländern und sucht die Macht selbst um den Preis der Verleugnung ihrer eigenen Identität, wenn sie eine Koalition mit den GRÜNEN eingeht.
Was, glauben Sie, würden heute Sozialdemokraten sagen, die damals ihren Mann gegen Faschismus oder Kommunismus gestanden haben, wie z. B. der frühere preußische Innenminister Severing oder der Parteivorsitzende Kurt Schumacher,
der Hamburger Bürgermeister Weichmann oder der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn? Niemand in der SPD kann sich heute herausreden, er wisse nicht, mit wem seine Partei paktiert, denn die GRÜNEN lehnen es immer ungeschminkter ab, sich von Gewaltanwendung klar zu distanzieren.
Bereits im Programm der GRÜNEN zur hessischen Landtagswahl im Jahre 1982 war zu lesen: „Sozialer Widerstand geht von Regel- und Gesetzesverletzung aus, wenn andere Mittel nicht ausreichen."
Am 19. November 1983, nachdem die SPD in Hessen den Pakt mit den GRÜNEN eingegangen war, erklärte der Bundesvorstandssprecher Trampert vor der 6. Bundesdelegiertenversammlung der GRÜNEN in Duisburg: „Das staatliche Gewaltmonopol steht unseren Interessen unmittelbar im Weg. "Für den Sprecher der GRÜNEN, Ebermann, ist, um mit seinen Worten zu sprechen, „die Mißachtung des staatlichen Gewaltmonopols immer wieder Bedingung, um überhaupt ernsthaft bestimmte politische Ziele zu verfolgen".
Nun erleben wir: Zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik hat eine Fraktion des Deutschen Bundestages offen zum Gesetzesboykott aufgerufen und die Parlamentseröffnung zu einer Demonstration gegen das geltende Gesetz mißbraucht.
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Dr. MiltnerDer von den GRÜNEN propagierte Boykott des Volkszählungsgesetzes, das im übrigen von der überwiegenden Mehrheit dieses Bundestages und vom Bundesrat sogar einstimmig beschlossen worden ist, ist eine Mißachtung des Mehrheitsprinzips, eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips
und damit ein Angriff auf den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat.Wie ungeniert die SPD trotz dieser Tatsachen einem Bündnis mit den GRÜNEN entgegentreibt, zeigt ein Artikel des offiziellen SPD-Parteiorgans „Vorwärts" vom 31. Januar 1987. Dort heißt es: „Für die SPD stellt sich gar nicht mehr die Frage, ob sie mit den GRÜNEN zusammenarbeiten kann oder darf; es geht nur noch um das Wie. " — Welch eine Kehrtwendung, wenn man bedenkt, daß z. B. der hessische Finanzminister Reitz noch 1983 eine Koalition mit den GRÜNEN wegen ihres gestörten Verhältnisses zur Gewalt abgelehnt hat!
Machen wir uns nichts vor, meine Damen und Herren: Die Absage an jede Gewaltanwendung und an den Rechtsbruch wird künftig die Kardinalfrage für den inneren Frieden in der Bundesrepublik Deutschland sein.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, allein im vergangenen Jahr wurden bei gewalttätigen Ausschreitungen etwa 1 200 Polizeibeamte zum Teil schwer verletzt. Wer eines der höchsten Güter des freiheitlichen Rechtsstaates, die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, dazu mißbraucht, sich bei Demonstrationen zu vermummen, zu bewaffnen und Gewalt zu üben, der beleidigt die freien Bürger unseres Landes.Die Koalition der Mitte wird diesen gewalttätigen Ausschreitungen auch in Zukunft nicht tatenlos zusehen.
CDU und CSU sind entschlossen, unsere Bürger vor Gewalttätern zu schützen und die staatlichen Sicherheitsorgane rechtlich und materiell so auszustatten, daß sie die Gewalt erfolgreich bekämpfen.
und die Gewalttäter einer gerechten Strafe zuführen können.
Eine Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat dazu eine Reihe konkreter Vorschläge zur Sicherung der Demonstrationsfreiheit erarbeitet,
: Zur Aushöhlung des Demonstrationsrechts!)
und gesetzgeberische und administrative Maßnahmen dafür vorgeschlagen. Die Koalitionsparteien haben Handlungsbedarf festgestellt, und wir werden im Herbst dieses Jahres dazu noch die notwendigen Maßnahmen beschließen. Dabei steht für die Union nach wie vor im Vordergrund, auch die Vermummung mit Strafe zu bedrohen.
Ich stelle fest, daß es vor zehn Jahren in diesem Hause noch einen grundsätzlichen Konsens im Hinblick auf gewalttätige Ausschreitungen gab. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat in seiner Regierungserklärung vom 16. Dezember 1976 ausgeführt — ich zitiere — :Wo sich Extremisten und Chaoten in Bürgerinitiativen und Protestgruppen einschleichen und sie damit kompromittieren, dort erwarten wir klare Trennungsstriche! Bei uns darf jeder demonstrieren, aber niemand darf demolieren.Meine Damen und Herren von der SPD, ich würde Sie gern auch einmal an die Rede erinnern, die der frühere Hamburger Bürgermeister Weichmann zum 17. Juni 1982 hier gehalten hat.
Ich empfehle Ihnen, sie noch einmal nachzulesen. Ich appelliere an die Opposition, zu dieser Gemeinsamkeit nicht nur beim Schutz der Demonstrationsfreiheit, sondern auch bei der Bekämpfung des Terrorismus zu stehen.Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung ebenfalls nachdrücklich auf die terroristische Herausforderung unserer Tage hingewiesen. Die Terroristen und Gewalttäter, die in blindem Haß mit allen Mitteln auf die Vernichtung unseres demokratischen Rechtsstaates abzielen, haben ihre geistige Heimat im Linksextremismus und können auf einen begrenzten Kreis von Gesinnungsfreunden bauen.
Sie versuchen, aktuelle politische Auseinandersetzungen über Abrüstung oder friedliche Nutzung der Kernkraft für ihre kriminellen Zwecke zu mißbrauchen.
Allen Appellen zur Besonnenheit und Gewaltfreiheit zum Trotz lassen immer wieder Personen, die für sich eine besondere Kompetenz für Frieden und Umweltschutz in Anspruch nehmen, Verständnis für Gewalt und Sympathie mit kriminellen Anschlägen erkennen.Das von den Koalitionsfraktionen erarbeitete Gesetz zur Terroristenbekämpfung vom letzten Dezember ist ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung der inneren Sicherheit.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 243
Dr. Miltner— Leider, Herr Penner, hat sich auch hier die parlamentarische Opposition ihrer Mitverantwortung entzogen.
Um den Sumpf des internationalen Terrorismus auszutrocknen und die Pest des 20. Jahrhunderts zu bekämpfen, sind auch auf internationaler Ebene eine Reihe von Maßnahmen notwendig, z. B. Errichtung eines verschlüsselten Kommunikationsnetzes zwischen den Polizeibehörden der EG-Mitgliedstaaten, Schaffung eines europäischen Lagedienstes Terrorismus und vieles andere mehr. Ich möchte es mir ersparen, dies im einzelnen aufzuzählen. Wir werden uns ja darüber im Innenausschuß noch unterhalten müssen.
Ich verstehe nicht, Herr Tietjen, wenn ich Sie gerade ansprechen darf, warum die SPD z. B. den § 129a StGB, der das Werben für terroristische Vereinigungen unter Strafe stellt, abschaffen will. Daß die GRÜNEN zukünftig kriminelle und terroristische Banden nicht mehr strafrechtlich verfolgt wissen wollen, kann in diesem Zusammenhang kaum überraschen.
Innerer Frieden ist nur möglich, wenn sich alle an die gesetzten Regeln halten. Im besonderen Maße muß dies von denjenigen erwartet werden, die mit verbindlicher Wirkung auch Recht sprechen. Die Richter unseres Landes haben für die Bürger Vorbildfunktion. Sie kommen dieser Aufgabe in ihrer ganz überwiegenden Zahl in hervorragender Weise nach. Um so mehr muß es befremden, daß sich erstmals Richter an offenkundig gesetzeswidrigen Boykottaktionen beteiligt haben.
Die Entgleisungen der etwa 20 Richter und Staatsanwälte vor einigen Wochen in Mutlangen sind schlimm. Sie haben sich in selbstherrlicher Arroganz über geltendes Recht hinweggesetzt und für alle staatlichen Organe und Bürger der Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen verbindliche Entscheidungen des Gesetzgebers und des Bundesverfassungsgerichts mit Füßen getreten.
Das Bundesverfassungsgericht hat klar festgestellt, daß § 240 StGB, der die rechtswidrige Nötigung unter Strafe stellt, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. CDU und CSU bekräftigen ihre Auffassung, daß solche Sitzblockaden vor militärischen Einrichtungen strafbares Unrecht sind. Ich stelle fest, daß die SPD auch in diesem Bereich den Konsens in der Zwischenzeit aufgegeben hat.Meine Damen und Herren, zum Schutz der Freiheitsrechte unserer Bürger ist ein verfassungstreuer öffentlicher Dienst unerläßlich.
Verfassungsfeinde haben bei uns im öffentlichen Dienst nichts zu suchen.
Wenn der SPD-Ministerpräsident des Saarlandes bei Einstellungen in den öffentlichen Dienst die Verfassungstreue praktisch nicht mehr prüfen läßt, dann heißt dies: freier Eintritt für die Verfassungsfeinde in den öffentlichen Dienst. Auch hier wird schon, meine Damen und Herren, die Bündnisfähigkeit der SPD mit den GRÜNEN vorexerziert.
Wir lassen uns dadurch aber nicht beirren und werden auch künftig die Verfassungstreue und Leistungsfähigkeit des deutschen öffentlichen Dienstes, der bekanntlich ja auch im internationalen Vergleich eine Spitzeneinstellung einnimmt, erhalten und ausbauen.Wir richten ihn nach klaren Prinzipien aus.Erstens: Die Erhaltung und Festigung des Berufsbeamtentums ohne Wenn und Aber.
Möchte der Herr Penner eine Frage stellen?
Herr Abgeordneter, Sie gestatten?
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Miltner, was sagen Sie denn zu den Empfehlungen der ILO, die ja keineswegs durchgängig freundlich mit unserer Praxis der Eignungsprüfung im öffentlichen Dienst umgehen?
Dazu kann ich nur sagen: Sie haben ja mit uns, Ihr eigener Bundeskanzler mit allen Ministerpräsidenten,
den Erlaß betreffend Verfassungsfeinde beschlossen. Wenn Sie unsere Gesetze, Art. 33 unserer Verf as-sung,
das Bundesbeamtengesetz und das Bundesrechtsrahmengesetz nachlesen, dann wissen Sie ganz genau, daß die Verfassungstreue zur Eignung des Beamten gehört. Wir haben es hier mit deutschem Recht zu tun
und nicht mir Recht, das etwa in Genf gemacht wird.
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244 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Dr. MiltnerMeine Damen und Herren, Erhaltung und Festigung des Berufsbeamtentums ohne Wenn und Aber ist ein Prinzip unserer Politik.Zweitens, Eigenständigkeit der Altersversorgung der Beamten als Bestandteil der Garantie des Berufsbeamtentums.Drittens, Gleichklang der Besoldungs- und Tarifverbesserungen für Beamte, Angestellte und Arbeiter des öffentlichen Dienstes, Teilhabe an der allgemeinen Wirtschafts- und Einkommensentwicklung.Viertens, Prüfung der noch fortwirkenden Sparmaßnahmen.
Ich nenne als Beispiel die Absenkung der Eingangsbesoldung, die beginnt, den öffentlichen Dienst im Wettbewerb um Nachwuchs zu beeinträchtigen. Über die noch von der SPD geschaffene rückwirkende Rentenanrechnung gemäß § 55 des Beamtenversorgungsgesetzes entscheiden wir, wenn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorliegt.Meine Damen und Herren, auch der öffentliche Dienst muß sich den Folgen des Bevölkerungsrückgangs stellen. Der Beamte, der heute mit 25 Jahren ernannt wird, ist auch noch im Jahre 2027 im Staatsdienst. Dies zwingt dazu, den Anteil der im öffentlichen Dienst Beschäftigten an allen Erwerbstätigen vorausschauend anzupassen. Ich glaube, wir sollten auch in diesem Punkt einmal etwas vorausschauen und dafür sorgen, daß der öffentliche Dienst der Bevölkerungsentwicklung aufgabengemäß angepaßt wird.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß und fasse zusammen.
Bei aller Auseinandersetzung muß unstreitig sein, daß wir im freiheitlichsten und sozialsten Staatswesen leben, das es je auf deutschem Boden gegeben hat.
Die politische Auseinandersetzung und der Dialog der Parteien und Fraktionen auch über schwierige Probleme müssen auf der Grundlage unserer Verfassung stattfinden. Unsere innerstaatlichen Verhältnisse halten jeden Vergleich mit anderen Staaten aus. Wir Abgeordnete haben die Verpflichtung, den freiheitlich-demokratischen sozialen Rechtsstaat zu schützen und auszugestalten, und ich glaube, die Sicherung unserer Freiheit ist jede Anstrengung wert und bleibt unsere gemeinsame Aufgabe.Vielen Dank.
Herr Abgeordneter Stratmann, für den Zwischenruf „Koalition der Polizeispitzel" erteile ich Ihnen einen Ordnungsruf.
Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.
Sehr geehrte Frauen und Männer in diesem Raum!Gestern und heute haben wir hören müssen, welch schöne neue Welt die Regierungskoalition in den nächsten vier Jahren im Bereich der Innen- und Rechtspolitik plant. Wenn wir uns ferner vergegenwärtigen, welche Maßnahmen bereits in der Vergangenheit realisiert oder zumindest praktiziert worden sind, kommt mir zunächst das kalte Grausen.Bekanntlich ist jedoch die Politik der sogenannten inneren Sicherheit stets auch Indikator für die „Bedrohungsanalyse" der Regierung, nämlich die Einschätzung der vorhandenen bzw. befürchteten Proteste.Am Vorabend einer sich abzeichnenden Wirtschafts- und Strukturkrise, sich verschärfender sozialer Auseinandersetzungen und von Verteilungskämpfen gilt es, die gegenwärtig laufende gewaltige materielle Umverteilung von unten nach oben abzusichern.Was wollen wir GRÜNE im Bereich der Innen- und Rechtspolitik?Erstens. Die Ämter für Verfassungsschutz müssen ersatzlos abgeschafft werden.
Umschulungen für die Dunkelmänner. Entziehungskuren für die Trunkenbolde.
Parlamentarische Kontrolle versagt, wenn sich die Kontrolleure aus den Altparteien zu Komplizen der Geheimbündler machen und darüber hinaus Verfassungsschutz-Dossiers gegen den politischen Gegner einsetzen.Solange es noch den Verfassungsschutz gibt, beanspruchen wir den uns zustehenden Platz in der Parlamentarischen Kontrollkommission, so daß über unsere Vertreter in dieser Kontrollkommission — ich betone: Kontrollkommission — zukünftig nicht mehr ein bloßes Nachgeklapper der durch clevere Journalisten und andere Kanäle in die Öffentlichkeit gelangten Skandale zu erwarten sein dürfte, sondern eine tatsächliche Kontrolle der Geheimdienste eintritt.
Zweitens. Bereitschaftspolizeien und die Bundespolizei BGS sind aufzulösen.
Einer Begründung dafür bedarf es nicht, Herr Kollege, denn die Notwendigkeiten liegen auf der Hand.
Drittens. Die politischen Strafrechtsdelikte sind zu streichen, gleichgültig ob sie nun Radi-Kal, RadioAktiv, „taz", Sägefische oder nur deren Dokumentation betreffen. Dies alles darf nicht durch primitive Definition von Stammtisch-Geistern als kriminell bzw. neuerdings sogar terroristisch stigmatisiert werden.
Gehen Sie diesen Weg weiter, werden Sie langfristig das Gegenteil der erhofften Befriedung erwirken.
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WüppesahlViertens. Wir fordern den Ausbau des auf Unglücksfälle im Frieden bezogenen Katastrophenschutzes der Länder. Wir wollen zugleich dessen Entflechtung von dem allein kriegsdienlichen Zivilschutz als Teil der Gesamtverteidigungsstrategie.
Fünftens. In Ergänzung zum Schleppnetzparagraphen neuer Fassung — § 163 d der Strafprozeßordung — und zu dem maschinenlesbaren Personalausweis ist die geplante Ausweitung der Voraussetzungen für die Einrichtung von Straßenkontrollen zu sehen.Wir wollen unsere Bürgerinnen nicht Ihren Schleppnetzen und Rastern aussetzen!
Sechstens. AIDS: Auch diese Krankheit mißbrauchen Sie, um Ihr gesellschaftspolitisches Werte-Rollback durchzusetzen. Statt AIDS-Meldewesen mit zentralen Infektionsregistern fordern wir die Aufstellung von Pariser-Automaten in Behörden — beginnend im Hause Gauweiler.
In der Innenpolitik möchte ich noch im besonderen darauf hinweisen, daß Sie über die beiden sich einander überlappenden Prinzipien, nämlich über das Prinzip der Kriminalisierung, von Betäubungsmittelkonsumenten und das Prinzip der Prävention, dafür Sorge tragen, daß zur Zeit ungefähr ein Drittel der HIV-positiv erkrankten Mitbürgerinnen in dieser Republik für den Abschuß freigegeben sind.Wir erwarten und hoffen, daß Sie die Entkriminalisierung dieser Drogenkonsumenten durch die freie Abgabe von sterilen Nadeln und Ersatzstoffen für Heroin herbeiführen.
Siebtens. Gleichzeitig sollte bei der Inangriffnahme des Betäubungsmittelgesetzes der Konsum von Marihuana und Haschisch entkriminalisiert werden, weil auch die hierfür bestehenden Strafvorschriften kriminalpolitisch absurd sind und das Gegenteil ihres Zieles bewirken.Ich erzähle Ihnen das in einer Ausschußsitzung gerne noch genauer.Achtens. Ich zitiere aus einem Bericht des Ausschusses für Recht und Bürgerrechte zu den Fragen des Asylrechts, EG-Bericht vom 23. Februar diesen Jahres:Als zum Teil menschenunwürdig ist die Betreuung in der Bundesrepublik Deutschland anzusehen. Die Bundesregierung räumt ein, daß durch anreizmindernde Maßnahmen wie zwangsweiser Aufenthalt in Sammelunterkünften, Arbeitsverbot, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Kochverbot, Kürzungen und Auszahlungen der Sozialhilfe in Sachleistungen Asylbewerber in der BRD abgewehrt werden sollen.Das spricht für sich.
Neuntens. Wir wollen dagegensetzen: Fluchtburgen gegen die Aushöhlung von Ausländer- und Asylrecht. Jeder verberge einen Flüchtling.
Zehntens. Datenschutz: Das Klatschen der schallenden Ohrfeigen der Datenschützer für die bisherige Praxis ist noch nicht verklungen. Sogar die vielen Mahnungen des Ex-Verfassungsrichters und Innenpolitikers Benda, die bisherige Praxis kritisch zu überprüfen, fruchtet bei Ihnen nicht. Es gibt noch weitere Warnungen — so z. B. des Richterbundes vor einer pauschalen Zweckentfremdung von Justizdaten zur Gefahrenabwehr.Was macht die Koalition? Sie warnt statt dessen vor einer zu großen Tiefe der kommenden Regelungen und übergroßer Kontrolldichte der Datenschutzbeauftragten. Sprechen Sie es endlich aus, Herr Zimmermann und Ihre Helfershelfer: Sie wollen den Überwachungsstaat und bereiten ihn massivst vor.
Was Sie immer wieder besonders erregt, ist die Volkszählungsboykott-Debatte.Die Volkszählung, die eigentlich Datenerhebungsaktion heißen müßte, macht dieser Regierung und der SPD immer noch großes Kopfzerbrechen. Sie kommen aus der Defensive nicht heraus.
Wissen Sie zur Rechten und zur Linken der in der Mitte dieses stillgelegten Betriebes — wie ein ruhender Pol, vertrauenerweckend und als einzige Hoffnung vermittelnd — sitzenden grünen Fraktion eigentlich,
um wieviel stärker wir 1987 gegenüber 1983 sind?
Natürlich wissen Sie es nicht. Ich möchte es Ihnen aber trotzdem erzählen. Zu einem Boykott rufen u. a. folgende Organisationen auf:
die Bürgerinitiativen Umweltschutz, die Jungsozialisten, die Jungdemokraten, die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend, die Humanistische Union, die Vereinigung Demokratischer Juristen, die Deutsche Vereinigung für Datenschutz, sogar die SPD — Unterbezirk Aachen und Bezirk Schöneberg in Berlin —,
die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, sogar der Deutsche Beamtenbund mit Einzelkritiken und nicht zuletzt die Winzer bei Wyhl.
Ich wundere mich auch über Ihre Reaktion. Wem ist eigentlich — und das nicht so einfach mir nichts, dir nichts — ins Stammbuch geschrieben worden, daß er 1982 ein verfassungswidriges Gesetz erlassen hat?
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246 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
WüppesahlIhnen oder uns? Sie müßten hier viel nachdenklicher sitzen, als wir es auch in Handeln umzusetzen in der Lage sind. Es wird doch immer klarer, wer den Geist der Verfassung im besonderen auch im Bereiche des Datenschutzes auf den Hund zu bringen gewillt ist.
Sie blasen doch nicht in der Gegend herum, als gelte es, mit Volkszählungsgegnern die Pest zu bekämpfen. Oder glauben Sie, je lauter Sie trompeten, desto kräftiger werden Ihre Diäten erhöht?
Haben Sie eigentlich noch rationale Maßstäbe? Was ist mit dem ungesetzlichen Betrieb der Atomanlagen in Hanau? Dafür und so vieles andere mehr an rechtswidrigem Handeln stehen CDU, CSU, FDP und SPD. Für Sie ist es doch schlimmer, wenn irgendwo auf dem flachen Land ein Mast fällt, als wenn Tschernobyl hochgeht.
Nur Blauäugige mit braunem Einschlag, wie unser blonder Barde Heino, können glauben, daß, wenn wieder einmal eine Terrorwelle über das Land schwappen sollte, die vorhandenen Daten von den Sicherheitsbehörden nicht für Schleppnetz- und Rasterfahndungen verwendet werden. Die Moral aus der Geschicht': Trau deinem Zähler nicht!
Zudem stellt selbst der Bremer Rechtsinformatikprofessor Wilhelm Steinmüller in Frage, ob die Bußgeldvorschrift überhaupt angewendet werden kann. Seiner Meinung nach wird die unklare Gesetzeslage, also das von Ihnen produzierte Gesetzeschaos, zwischen Bundesstatistikgesetz 1980 und 1987 sowie Volkszählungsgesetz 1986 dazu führen müssen,
daß Boykotteure straffrei bleiben müssen. Deswegen: Hören Sie auf mit Ihrer dummerhaften Angstmache: Strafe 10 000 DM; wer bietet mehr?Zwei Monate vor dem Stichtag haben Sie sich schon fast vollständig verausgabt. Was wollen Sie denn in zwei Wochen sagen? Oder in einem Monat? Dann müssen Sie noch weitere vier Wochen solch geistigen Dünnpfiff ernsthaft und seriös vertreten.
Selbst Herrn Rebmann, der in schon krankhafter Manie seine Zuständigkeit als Generalbundesanwalt eigenmächtig ausdehnt und als Teil der Exekutive öffentlich Mitglieder der Legislative zum Abschuß freigibt, haben Sie bereits bei der Orgie von Zählungsaufrufen verbraten.Nein, nein, lassen Sie es dabei bewenden! Noch besteht die Chance zur Einsicht. Nur Schafe werden gezählt. Boykott ist und bleibt Ehrensache.
Herrr Abgeordneter, ich rufe Sie für diesen Ausspruch zur Ordnung.
Ich bedaure, daß ich jetzt nicht ausführliche Darlegungen zum Bereich der Polizei machen kann, weil die Zeit wegläuft. Klar ist: Wo Zimmermanns BGS ist, da ist auch Gewalt. Immer klarer wird auch, von wem in diesem Staat quantitativ und qualitativ mehr Terror für die Bevölkerung ausgeht.
Um nur einmal die entsprechende Staatsschutzpropaganda aufzugreifen: Was wäre eigentlich, wenn die RAF die Trinkwasserversorgung einer Kleinstadt von 15 000 Einwohner gefährdete? Ich garantiere Ihnen: Wochen, nein, Monate würde der Blätterwald rauschen, würde in Bonn und in den Ländern Gesetzesaktionismus ausbrechen, und Sie würden verschiedene neue Gesetze auch beschließen. Was war bzw. ist, nachdem der Rhein als Trinkwasserreservoir von 17 Millionen Menschen verschiedener Länder gefährdert bzw. zerstört worden ist? Die Täter, Terroristen im sprachwissenschaftlichen Sinne, konnten sich in Schlips und Kragen mit den zuständigen Ministern zum Kaffeekränzchen am Tisch sammeln und — —
Ich muß leider Schluß machen.
Betrachten Sie auf jeden Fall eines als ganz fest. Diese Erklärung im Rahmen unserer Oppositionserklärung hat den Charakter einer Widerstandserklärung gegen Ihre Politik in den nächsten vier Jahren.
Ihre Redezeit ist beendet, Herr Kollege.
Meine Damen und Herren, nur der Ordnung halber möchte ich mitteilen, daß ich den inneren Anteil und Wert einer Rede hier nicht beurteilen kann. Das müssen andere Leute machen. Das sage ich, da hier verschiedentlich der Zuruf kam, das müsse man rügen.
Herr Dr. Hirsch, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Penner, Sie haben eine diskreditierende Äußerung über den Grafen Lambsdorff, ein geschätztes Mitglied dieses Hauses, gemacht. Ich weise das zurück. Vor allen Dingen können Sie nicht in dieser Weise einen abwesenden Kollegen angehen. Ich hätte von Ihnen als Jurist eine etwas sensiblere Behandlung dieser Materie erwartet.
Im übrigen, Herr Kollege Penner, Herr Tietjen, HerrNöbel, Herr de With, Herr Wernitz, Sie haben einewirklich überzeugende Vorstellung Ihres Wunsch-
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Dr. Hirschpartners in Hessen bekommen. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Reise auf diesem Weg.
Das war schon toll. Ich hätte gerne die Rede, die wir eben genießen durften, möglichst bald im Wortlaut.Es wird, meine verehrten Damen und Herren, in diesen Tagen sehr viel über Gewalt, über die Aufforderung zum Rechtsbruch, über Boykott eines Gesetzes und über die Notwendigkeit gesprochen, Gesetze auch mit hohen Strafen durchzusetzen. Dabei geht es nicht um ein Gesetz aus dem Kernbereich unserer politischen Existenz, sondern um die Volkszählung, um Ordnungswidrigkeiten, um eine gezielte Provokation des Parlaments durch eine Gruppe gewählter Abgeordneter. Die Debatte über die Volkszählung ist geradezu ein Lehrstück über die Methoden politischer Agitation. Der berechtigte Wunsch des Bürgers nach Privatheit, seine Abneigung gegen Bürokratie, der verbreitete und teilweise auch berechtigte Spott über den Sinn von Statistiken, das Unbehagen über die Möglichkeiten der elektronischen Datenverarbeitung werden systematisch genutzt und umgemünzt zu einer Loyalitätsprobe zum Staat. Der Bürger soll gegen seine eigenen Interessen mobilisiert werden; er wird zum Werkzeug in einer politischen Auseinandersetzung.
Die Betreiber in dieser Kampagne wissen ganz genau, daß das Gesetz in penibelster Weise die Privatsphäre respektiert, mit der Verfassung nach Wortlaut und Sinn übereinstimmt, daß die dem Bürger gestellten Fragen harmlos sind und seine Anonymität gewahrt ist. Sie wissen, daß das Gesetz notwendig ist für die Chance zu rationalen politischen Entscheidungen.Die Agitatoren scheuen natürlich den Weg zum Bundesverfassungsgericht, und sie verschweigen sorgfältig, daß sie die Volkszählung zunächst deswegen angegriffen haben, weil ihnen die Fragen nicht weit genug gingen. Das ist doch der politische Sachverhalt.Wir haben im übrigen heute vormittag gehört, welche tollen Fragen von der hessischen Landesregierung, solange sie an ihr beteiligt waren, auf die Landwirte losgelassen worden sind — Fragen, was sie zu Mittag essen, ob die Kinder am Mittagstisch teilnehmen, ob sie Topf- und Schnittblumen kaufen und wieviel, was sie für Unterwäsche und Socken ausgeben und was für Zeitungen sie abonnieren. Unter Ihrer Verantwortung geht so etwas in das Land.Sie wollten entschieden mehr zwangsweise erfragen. Ich sage ihnen, daß ihnen in Wirklichkeit die Volkszählung selbst völlig gleichgültig ist. Sie wollen eine Loyalitätsprobe zum Staat, und das ist kein Kinderspiel.
Darum ist es für uns weit über den Anlaß hinaus von Bedeutung, daß die demokratische Opposition dieses Hauses, nämlich die Sozialdemokraten, an ihrer Haltung für die Volkszählung keinen Zweifel lassen. Natürlich ist es richtig, wenn der Generalbundesanwalt sagt, daß die Agitatoren in erheblicher Höhe bestraft werden können. Das mag geschehen, ändert aber überhaupt nichts daran, daß der Erfolg oder Mißerfolg der Volkszählung nicht von der Strafe, sondern von der Bereitschaft der Bürger zur Mitwirkung abhängt. Zu dieser politischen Auseinandersetzung sind strafrechtliche Mittel nur von begrenztem Wert, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der mit Befehl und Gehorsam alleine wenig auszurichten ist, sondern in der es vielmehr darauf ankommt, das Vertrauen, die Mitarbeit, die Zustimmung der überwiegenden Mehrheit der Bürger zu gewinnen.Wir befinden uns — mit anderen Worten — mehr, als das vielen bewußt ist, in einer liberalen Gesellschaft. Viel wichtiger als die strafrechtliche Wertung ist die politische Bestätigung, daß die GRÜNEN zu rationaler Politik offenbar unfähig sind — das ist hier wieder dokumentiert worden —
und daß ein Teil von ihnen die minimale demokratische Grundhaltung aufkündigt, daß nämlich nicht jeder einzelne nach Belieben darüber entscheiden kann, ob ein Gesetz verbindlich ist oder nicht. Wer die Achtung des einzelnen vor dem Gesetz zerstört, verweist die Mehrheit und den Staat immer mehr auf die Benutzung von Zwangsmitteln. Er polarisiert die Gesellschaft und verwandelt sie in eine Mehrzahl von Gruppen, die um die Macht kämpfen. Die GRÜNEN beschwören bürgerliche Freiheiten und wollen uns auf einen Weg locken, der genau zur Vernichtung dieser Freiheiten führen würde.
Für Demokraten ist es unstreitig, daß das Ansehen und die Autorität des demokratischen Staates geschützt werden müssen. Auch Liberale wollen keinen schwachen Staat, weil dort immer der Ruf nach dem starken Mann ertönt. Die melden sich immer sehr frühzeitig und mit einfachen Lösungen. Der Staat muß die Rechte des Bürgers wirksam schützen können und zu diesem Zweck von seinem Gewaltmonopol Gebrauch machen. Das alles ist in der Regierungserklärung im einzelnen ausgeführt worden und kaum ernsthaft streitig.Es muß aber die Frage behandelt werden, mit welchen Mitteln das geschehen soll und ob das alles ist. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Bürger in zunehmendem Maße Anteil am politischen Leben nehmen können und das auch tun, in der sie mehr Individualität, mehr Freizeit, mehr Privatheit und mehr Selbstverantwortung in Anspruch nehmen. Die Forderung nach kultureller Freiheit, nach Toleranz gegenüber anderen, insbesondere gegenüber Minderheiten, eine Politik der aktiven Humanität bestimmen immer mehr das geistige Klima der Gesellschaft, in der wir leben und die nicht restaurativ, sondern liberal ist.Wir haben im Vergleich zur Vergangenheit und zu anderen Ländern ein solches Maß an innerer Sicherheit erreicht, daß sich die Erkenntnis durchsetzt, daß innere Sicherheit überhaupt nichts nutzt, wenn sie
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248 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Dr. Hirschnicht dem inneren Frieden einer demokratischen Gesellschaft dient.
Dazu gehört nicht nur die Entfaltung staatlicher Macht, sondern die Übereinstimmung einer Gesellschaft mit den Grundwerten, den Grundrechten, die ihren Bestand ausmachen. Dazu gehört die Privatheit gerade unter den Bedingungen der elektronischen Datenverarbeitung. Moderne Informationstechnik, die notwendig ist, wird im öffentlichen wie im privaten Bereich wachsenden Widerständen ausgesetzt sein, wenn der Schutz der persönlichen Daten nicht überzeugender als bisher gesichert wird.Wer den Datenschutz, also den Schutz der Privatheit, nur als Täterschutz begreift, als eine veredelte Form des Widerstandes gegen die Staatsgewalt betrachtet, braucht sich über die Heftigkeit der Volkszählungsdiskussion nicht zu wundern. Darum brauchen wir mehr Offenheit, mehr Selbstbeschränkung, übrigens auch mehr festgeschriebene politische Verantwortung in der staatlichen Datenverarbeitung, insbesondere im Verfassungsschutz, und zwar mehr als bisher.
— Wir werden in eine Gesetzgebung eintreten, Herr Kollege, an der das ganze Haus mitwirken wird und mitwirken kann.Der Bürger akzeptiert das entschlossene Vorgehen gegen Straftäter und diejenigen, die unsere verfassungsmäßige Ordnung untergraben wollen, aber nicht das vorsorgliche Registrieren aller möglichen sonstigen Personen in noch so vorsorglicher Absicht. Er hat recht damit. Der Übergangsbonus nach dem Volkszählungsurteil geht zu Ende. Es ist unsere dringendste rechtsstaatliche Aufgabe, die Informationsgewinnung und -verarbeitung der Polizeien des Bundes und der Länder bei der Strafverfolgung und bei der Gefahrenabwehr im Verhältnis zum Verfassungsschutz und zu anderen Diensten zu regeln, die vom Verfassungsgericht geforderte Transparenz und die informationelle Gewaltenteilung zu ordnen, so schwer das im einzelnen auch ist.
Zur Privatheit gehört auch eine massive Anstrengung zur Entbürokratisierung und zur Regelungsdichte, in die wir hineingeraten sind. Nicht immer neue Gesetze fordern, solange nicht erwiesen ist, daß die geltenden Gesetze auch ausgeschöpft werden.
Wir wollen einen Beitrag zu mehr Humanität und Toleranz leisten. Darum kann das angekündigte Ausländerrecht nicht nur die Fortschreibung des traditionellen Ausländerrechtes als Fremdenrecht sein. Die lange bei uns lebenden Ausländer, besonders diejenigen, die hier geboren und aufgewachsen sind, müssen eine breite Aufnahme und einen gesicherten Rechtsstatus finden.
Ihr Weg in unsere Gesellschaft muß erleichtert werden, wie das übrigens alle unsere westlichen Nachbarn seit Jahrzehnten in ihrem eigenen Interesse verwirklichen.Ein Beitrag zur Humanität ist auch das Asylrecht für politische Flüchtlinge, das wir erhalten wollen und müssen. Es ist richtig, daß wir die wirtschaftlichen Ursachen von Flüchtlingsbewegungen dadurch nicht lösen können. Das ist in ihrer Dimension eine europäische Aufgabe von größter Bedeutung.Zur Humanität gehört übrigens auch, daß wir uns erneut den noch offenen Fragen bei der Entschädigung nationalsozialistischer Opfer zuwenden. Wir haben dazu am Ende der 10. Legislaturperiode im Anschluß an den Bericht der Bundesregierung eine alsbaldige Anhörung mit dem Ziel einer Härteregelung zugesagt, und wir werden uns natürlich an diese Zusage halten.Wir wollen eine gewaltfreie Gesellschaft. Das bedeutet nicht nur den Kampf gegen politisch motivierte Gewalt, sondern ebenso gegen schlichte Kriminalität, die zwar weniger spektakulär ist, den einzelnen aber nicht minder hart trifft. Wir wollen uns den Blick nicht auf bestimmte Erscheinungsformen der Gewalt verengen lassen, sondern neue Ansätze für politische Entscheidungen durch eine breitangelegte Untersuchung über die politischen und materiellen Ursachen der Gewalt in unserer Gesellschaft finden, wie das vor Jahren schon einmal gemacht worden ist.Wir schlagen erneut vor, das gemeinsame Sicherheitsprogramm des Bundes und der Länder fortzuschreiben, die Zusammenarbeit der Polizeien von Bund und Ländern auf ein erneuerte gemeinsame Basis zu stellen und Klarheit über ihre gewachsenen personellen und materiellen Anforderungen zu gewinnen.Wir verfolgen wie auch Sie mit großer Sorge das Auseinanderfallen, das Auseinanderreißen des Polizeirechtes, der Ausstattung der Polizei, ihrer taktischen Einstellungen. Wir wollen bei unseren zukünftigen politischen Entscheidungen unverändert insbesondere Polizeipraktiker hören, also diejenigen, die unmittelbar mit den Folgen unserer Entscheidungen konfrontiert werden. Wir wollen sie nicht in die Rolle des Gesetzgebers drängen. Aber sie haben einen Anspruch auf unmittelbares Gehör und ernsthafte Würdigung.Es ist außerordentlich ermutigend, in welchem Maße besonnene Polizeipraktiker zur Zurückhaltung mahnen, weil sie mehr als mancher Politiker wissen, wie leicht man Eskalationen erzeugen kann, und weil sie wissen, in welchem Maße sie vom Vertrauen und von der Mitarbeit der Bevölkerung abhängen.
Wer eine gewaltfreie Gesellschaft will, kann sie nicht mit polizeilichen Mitteln allein erreichen, sondern er muß sorgfältig prüfen, wo die Grenzen auch von Mehrheitsentscheidungen sind und ob er das Äußerste unternommen hat, bei seinen Entscheidungen auch andere Meinungen zu berücksichtigen und die Zustimmung möglichst vieler Menschen zu gewinnen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 249
Dr. HirschIch möchte meine letzte Bemerkung unseren Mitarbeitern im öffentlichen Dienst widmen. Wir haben eine Verwaltung, um die uns viele Länder dieser Erde beneiden und die uns manchmal als zu perfekt vorkommt. Um das richtige Maß zu gewinnen, brauchen wir gute Mitarbeiter, die auch zu selbständigem Handeln bereit sind, die wissen, daß ein moderner Rechtsstaat zum Scheitern verurteilt ist, wenn er mit obrigkeitsstaatlichen Mitteln und mit Schaltermentalität verwaltet wird.Wer gute Mitarbeiter haben will, muß dafür sorgen, daß ihre materiellen Voraussetzungen stimmen und daß sie die Gewißheit haben, auch in ihren materiellen Interessen gerecht behandelt zu werden. Wir werden uns auch in dieser Legislaturperiode ernsthaft darum bemühen, diesen Ansprüchen gerecht zu werden.Der Weg in eine liberale Gesellschaft ist vorgezeichnet, und wir werden nicht zögern, ihn zu beschreiten.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Innern, Herr Dr. Zimmermann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! In der jetzt beginnenden 11. Legislaturperiode wird die Bewahrung des inneren Friedens eine zentrale politische Aufgabe bleiben. Inneren Frieden gibt es nicht ohne Sicherheit für den einzelnen. Und der freiheitliche Staat, der sich nicht gegen seine Feinde verteidigt, verspielt die Freiheit seiner Menschen.
Die Gefährdungen, denen unser Gemeinschaftsleben auch im vergangenen Jahr ausgesetzt war — ich erinnere an die terroristischen Verbrechen, an die zahllosen Gewalttätigkeiten —, zeigen, daß der freiheitliche Rechtsstaat selber zum Angriffsobjekt geworden ist. Um so mehr sind wir verpflichtet, die Freiheit des Staates von äußeren Einflüssen und damit die Freiheit der Bürger zu sichern.Die Bedrohung durch den Terrorismus, besonders durch die RAF und ihr Umfeld, aber auch international, bereitet uns nach wie vor große Sorge.Wir haben große Fortschritte in der internationalen Zusammenarbeit gemacht, die sich vor allem mit Frankreich darin niederschlagen wird, daß ich in den ersten Tagen des April ein intensives und ins Detail gehendes Abkommen, das sorgfältig vorbereitet worden ist, mit meinen französischen Amtskollegen gemeinsam unterzeichnen werde.Im übrigen haben uns bei der Aufdeckung des Lagers der Action Directe in der Nähe von Orléans die französischen Sicherheitsbehörden, so früh und so umfassend es nur irgend ging, informiert; ein Maßstab für unsere zukünftige Zusammenarbeit.
Die Entwicklung des Terrorismus, meine Damen und Herren, ist vor dem Hintergrund einer wachsenden Gewaltbereitschaft — die Zahl der verletzten Polizeibeamten ist gesagt worden — extremistischer und militanter Gruppen zu sehen, wo Gewalt nicht nur offen befürwortet, sondern auch angewandt wird. In gefährliche Nähe dazu begeben sich die, die Gewalttaten verharmlosen und das staatliche Gewaltmonopol in Frage stellen. Das staatliche Gewaltmonopol existiert ja nicht aus einer Laune des Staates heraus, meine Damen und Herren,
oder aus einer Randbemerkung oder Fußnote der Verfassung. Das staatliche Gewaltmonopol, richtig verstanden, garantiert allein, daß nicht Gruppen im Staat versuchen, die Gewalt für sich in Anspruch zu nehmen — weil das staatliche Gewaltmonopol nicht mehr funktioniert — , um damit den Bürgerkrieg in dieser oder jener Form zu eröffnen. Es gibt welche, die noch selbst erlebt haben, was das heißt, und es gibt andere, die genügend Anschauungsmaterial aus der Diskussion mit Eltern, Älteren, Lehrern und aus anderem haben, um zu wissen, was ich damit meine. Dieser Entwicklung muß jeder entgegentreten, der es mit dem Rechtsstaat und damit auch mit dem Gewaltmonopol ernst meint.
Der Staat kann und darf, wie ich meine, keine Art von Gewalt, von wem auch immer, dulden. Ein Staat, der Gewalt duldet, hat sich selber aufgegeben. Deswegen sage ich für diese Regierung, daß wir es nicht zulassen werden, daß Gewalt und Rechtsbruch verbrämt werden, eingehüllt werden mit Begriffen wie „ziviler Widerstand", „ziviler Ungehorsam" oder dem ganz verharmlosenden Wort „Regelverstoß", das ich dieser Tage wieder gehört habe.Der Versuch, Gesetzesverletzungen durch Berufung auf das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes zu rechtfertigen, ist eine absolute Pervertierung einer der grundlegenden Normen unserer Verfassung.
Der arrogante Anspruch, sich selbst von der Bindung und Ordnung freizustellen und nach eigenem Gutdünken darüber zu entscheiden, welche Rechtsvorschriften zu befolgen sind und welche nicht, ist ein wirklicher Ausdruck eines gestörten Rechtsbewußtseins. Er darf nicht geduldet werden, meine Damen und Herren, darf nicht geduldet werden.
Wir werden den verfassungs- und datenschutzrechtlichen Erfordernissen Rechnung tragen, die sich aus dem bekannten Urteil des Verfassungsgerichts ergeben.
Das ist ein so komplexes Regelungswerk, das mindestens 13 Gesetze auf dem Gebiet der inneren Sicherheit umfaßt, daß uns das Verfassungsgericht — jeder, der Gelegenheit haben sollte, mit einem Mitglied des
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250 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987
Bundesminister Dr. ZimmermannGerichts zu sprechen, wird es bestätigt finden — , dazu durchaus eine ausreichende Zeit eingeräumt hat. Das wird diese Legislaturperiode sein. Die wird fast ausgeschöpft werden müssen, um all das zu regeln, was hier geregelt werden muß.
Noch ein Wort zur Volkszählung. Auf sie ist mehrfach hingewiesen worden. Auch der Bundeskanzler hat gestern darüber gesprochen. Ein Abgeordneter, in dessen Lebenslauf ich lese, daß er Kriminalbeamter a. D. ist, hat sie gerade hier in einer besonders unmöglichen Weise verhöhnt und lächerlich gemacht.Wer die Volkszählung 1970 und ihren Fragebogen noch kennt, wer ihn ausgefüllt hat, der weiß, wie diese und ihr Regelungswerk am Ende einer Großen Koalition zustande kamen. Innenminister war wohl der unverdächtige nachmalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda. Wer diesen Bogen liest und ihn mit dem heutigen vergleicht, der weiß eigentlich, wovon wir sprechen. Hier wird nicht nach Intimitäten gefragt. Hier wird dem Bürger überhaupt nichts zugemutet. Hier wird nur nach 17 Jahren — damit sind wir von allen großen Industriestaaten dieser Welt der, der sich die größte Pause zwischen der vorigen und dieser Zählung geleistet hat — etwas gefragt, um festzustellen, ob die automatischen Abrechnungen — Mikrozensus, und wie sie heißen — noch wirklich funktioniert haben.
Wir werden — diese Voraussage wage ich — feststellen, daß diese automatischen Weiterberechnungen nicht funktioniert haben, weil sie bereits auf einer falschen Basis erfolgt sind.Das ist der Sinn, der letzte Sinn und Zweck dieser Volkszählung: festzustellen, ob wir nicht vielleicht eine Million Einwohner weniger haben, als heute in unseren Melderegistern stehen.
Daß diese Wahrscheinlichkeit — das sagen alle Statistiker — sehr groß ist, braucht man nicht als Neuigkeit zu verkaufen.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein. Leuten, die gegen ein verfassungsmäßig zustande gekommenes Gesetz in dieser Art und Weise vorgehen, beantworte ich keine Fragen. Ich orientiere mich an ihren Antworten.
Meine Damen und Herren, lassen Sie sich nicht durch verleumderische Behauptungen, mit denen ganz andere Ziele verfolgt werden, verunsichern.
An dieser Volkszählung gibt es nichts auszusetzen. Sie ist auf Herz und Nieren geprüft.
Europa wächst zusammen. Darauf haben Asyl- und Ausländerrecht Rücksicht zu nehmen.Beim Asylrecht müssen wir zu einer Harmonisierung auf europäischer Ebene kommen. Lassen Sie sich nicht durch die Entwicklung täuschen, die seit der Schließung der Berliner Lücke im vorigen Herbst eingetreten ist.
Wir hatten im Februar 4 879 Asylbewerber. Das ist die zweithöchste Februar-Zahl seit dem Rekordjahr 1980.Nicht weniger dringlich ist eine Neuordnung des Ausländerrechts. Das Gesetz stammt aus dem Jahr 1965 und entspricht in keiner Weise mehr den heutigen Gegebenheiten. Es trägt auch den legitimen Interessen der bei uns lebenden viereinhalb Millionen Ausländer nicht hinreichend Rechnung.Die ausländerpolitischen Grundpositionen dieser Bundesregierung bleiben unverändert. Wir stellen ab auf die Begrenzung des weiteren Zuzugs, auf die Förderung der freiwilligen Rückkehr in die Heimatländer und auf die Integration der bei uns seit langer Zeit lebenden Arbeitnehmer und ihrer Familien. Der tragende Gedanke dieser Ausländerpolitik ist, weder eine möglichst geringe noch eine möglichst große Zahl von Ausländern in den Grenzen dieses Landes zu haben. Der tragende Gedanke ist ein möglichst spannungsfreies Zusammenleben von Deutschen und bei uns lebenden Ausländern.
— Schauen Sie: Nicht einmal ein Satz, den eigentlich jeder Vernünftige
jeden Alters unterschreiben können müßte, findet bei Ihnen Anklang, nicht einmal ein solcher Satz.
Auf dem Gebiet der Rechts- und Verwaltungsvereinfachung werden wir unsere Arbeit konsequent fortsetzen. Wir setzen weiter auf einen loyalen öffentlichen Dienst.Wir haben Akzente in der Kulturpolitik gesetzt.
Wir werden dabei auch den kulturellen Leistungen der Deutschen aus dem Osten unsere Aufmerksamkeit widmen.Dem Interesse breiter Schichten der Bevölkerung an unserer geschichtlichen Herkunft und dem Bedürfnis nach historischer Ortsbestimmung werden wir mit dem Deutschen Historischen Museum in Berlin und mit einem Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn Rechnung tragen.
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Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. März 1987 251
Bundesminister Dr. ZimmermannWir unterstützen die neue Medienordnung und begrüßen es, daß die Ministerpräsidenten der Länder nach langer Zeit eine, wie wir glauben, tragbare Regelung für wichtige medienpolitische Folgeentscheidungen gefunden haben.Der Sport ist angesprochen worden. Wir wissen genau, was wir dem Sport schuldig sind und was der Sport, der Hochleistungssport und der Breitensport, in dieser Bundesrepublik Deutschland für eine Bedeutung hat. Wir sind das Land mit der breitesten Sportbewegung in der Welt, mit einer Vielzahl von Vereinen, und wir sind ein Land des Spitzensports mit einer großen Tradition, die keinen Ausnahmecharakter, keine Leistungszüchtung, keine Klassengesellschaft kennt und trotzdem eine Vorbildfunktion für unsere jungen Leute wahrnimmt.
— Ja. — Wir wissen, daß gezielte Förderung notwendig ist, damit Chancengleichheit für unsere Athleten bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften gegeben ist. Aber auch hier stellen sich viele Fragen, die zu erörtern sein werden.Ein Ziel unserer Sportpolitik ist darüber hinaus, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für eine optimale Entfaltung des Sports für alle in Angriff zu nehmen.Wir nehmen die Verpflichtungen des Staates gegenüber seinen Bürgern bei Naturkatastrophen und anderen Gefährdungslagen ernst. Wir wollen den Katastrophenschutz verbessern, wir wollen das Zivilschutzgesetz, die rechtlichen Grundlagen neu fassen,bestärkt durch die Unterstützung, die dieses Anliegen bei den Ländern, den kommunalen Spitzenverbänden und den humanitären Hilfsorganisationen findet.Meine Damen und Herren, in der Innenpolitik geht es um die Grundlagen des Zusammenlebens in diesem Staat. Wir müssen uns bei allem Bemühen, die eigene Position in der Öffentlichkeit zu vertreten und politisch durchzusetzen, bewußt sein, daß dann, wenn es darum geht, Freiheit und Sicherheit zu bewahren und den Rechtsstaat zu sichern, die entsprechenden Maßnahmen — wie bei der Volkszählung — von einer möglichst breiten Mehrheit getragen werden sollten.Ich stelle hier namens der Bundesregierung ausdrücklich fest: Wir sind zur konstruktiven Zusammenarbeit mit allen Kräften dieses Hauses bereit, die willens sind, das Grundgesetz, unsere Rechtsordnung und die verabschiedeten Gesetze dieses Hohen Hauses als verbindliche Grundlage politischen Handelns anzuerkennen.
Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Ich schließe die Aussprache für den heutigen Tag.
Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages berufe ich auf morgen, Freitag, den 20. März 1987, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.