Gesamtes Protokol
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Punkt 2 unserer Tagesordnung auf: Bericht zur Lage der Nation
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe die Absicht, zunächst auf das letzte Jahr der innerdeutschen Beziehungen einzugehen, sodann über den nach 30 Jahren in beiden Teilen Deutschlands erreichten Stand und schließlich über die Zukunftsaspekte zu berichten.Im letzten Bericht zur Lage der Nation, im vorigen Frühjahr, hatte ich zusammenfassend dargelegt, daß die Bundesregierung die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik trotz der gelegentlichen Rückschläge insgesamt positiv bewertet. Ich habe damals hinzugefügt, daß Bundeskanzler Brandt wie auch der derzeitige Bundeskanzler und andere seit 1969 oft die Forderung wiederholt haben, sich auf Rückschläge einzurichten und sich von ihnen nicht beirren zu lassen. Das trifft ohne Einschränkung auch auf die Entwicklung seit dem letzten Frühjahr und seit dem letzten Bericht zu.Im Laufe des Jahres 1978 sind erneut etwa 12 000 Menschen aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen, darunter über 8 000 Personen, die mit Zustimmung ihrer Behörden die DDR haben verlassen können. Wir sehen darin einen wichtigen Erfolg unserer humanitären Bemühungen.Im Reiseverkehr ist die seit Jahren zu beobachtende Entwicklung unverändert. Der hohe Stand der Reisen von Westdeutschen und West-Berlinern nach Ost-Berlin und in die DDR hat sich auch gegenüber dem Vorjahr auf gleichem Stande bewegt. Es wurden wiederum etwa 8 Millionen Reisen in West-OstRichtung gezählt. Aus der DDR konnten dagegen nur knapp 11/2 Millionen Bürger zu Besuch in die Bundesrepublik kommen, zum allergrößten Teil Rentner. Dazu kamen noch 50 000 Reisen wegen dringender Familienangelegenheiten. Bei dieser Besuchergruppe haben wir zum erstenmal seit Jahren eine Steigerung registriert, und zwar um fast 20 °/°. Wir begrüßen das.Es bleibt weiterhin zu beklagen, daß die Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger unterhalb des Rentenalters nach wie vor außerordentlich eingeschränkt sind. Zahllosen Menschen in der DDR, die reisen wollen, wird das verwehrt, obwohl an ihrer Rückkehrabsicht ein Zweifel nicht bestehen kann und die Devisenprobleme, falls es solche geben sollte, sicherlich lösbar wären. Alle anderen osteuropäischen Regierungen setzen mehr Vertrauen in die Loyalität ihrer Bürger und zeigen mehr Verständnis für deren natürliche Reisewünsche. Für die Bundesregierung hat die Verbesserung der Reisemöglichkeiten auch weiterhin hohe Bedeutung.Die lebenswichtigen Verkehrsverbindungen zwischen Berlin und dem Bundesgebiet sind 1978 weiterhin verbessert worden. Auf Grund der Vereinbarungen vom letzten Jahr werden — in wenigen Tagen ist der Baubeginn — die Autobahn zwischen Berlin und Hamburg und der Teltowkanal instand gesetzt. Gleichzeitig werden dringende Reparaturen an den Transitwasserstraßen durchgeführt. 1980, im nächsten Jahr, wird schließlich über weitere Verkehrsverbesserungen verhandelt werden.Die von uns zu zahlende Transitpauschale ist zum erstenmal langfristig auf zehn Jahre festgelegt worden. Alles das sind Verbesserungen, die viel Geld kosten. Wir haben uns gleichwohl für diese Projekte entschieden, weil sie zum einen die Lebens- und Wirtschaftskraft Berlins stärken und damit zugleich die politisch-psychologische Situation der Stadt verbessern, weil sie zum anderen durch ihre Größenordnung, durch ihre Langfristigkeit zusätzliche Elemente der Stabilität in die immer noch labilen Beziehungen zwischen den beiden Staaten einbringen. Es ist im Rahmen der Verkehrsverhandlungen endlich auch ein Weg gefunden worden, die Probleme zu lösen, die in den vergangenen Jahren den Transfer von Guthaben älterer Menschen und jüngerer bedürftiger aus der DDR in die Bundesrepublik erschwert haben. Die DDR hat für diesen Zweck zusätzlich 200 Millionen DM zur Verfügung gestellt.Ende November vorigen Jahres wurde in Bonn das sogenannte Grenzprotokoll unterzeichnet. Es be-
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12254 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Bundeskanzler Schmidttrifft die Markierung der zwischen den beiden deutschen Staaten bestehenden Grenzen. Es enthält als Anlage eine Grenzdokumentation und regelt praktische Probleme, die mit dem Grenzverlauf im Zusammenhang stehen. Diese mit großer Sorgfalt ausgearbeiteten Dokumente sind das Ergebnis einer langjährigen Arbeit der Grenzkommission. Naturgemäß konnten die fundamentalen Probleme und Härten der Grenze durch die Grenzkommission nicht gelöst werden. Das konnte auch ihre Aufgabe nicht sein.Um so wichtiger ist es, daß mit den getroffenen Regelungen den Menschen an der Grenze mehr Sicherheit gegeben und ihre Situation insgesamt erträglicher gemacht wird. Nicht zufällig ist die Zahl der schweren Zwischenfälle in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Wir sehen in der Arbeit der Grenzkommission, die fortgesetzt werden soll, einen wichtigen Beitrag zur Konfliktminderung.Allerdings ist eine Einschränkung notwendig: Die Grenzkommission hat über den Verlauf der Elbe-grenze und einiger anderer kleiner Grenzabschnitte keine übereinstimmende Feststellung erzielen können. Beide Seiten sind sich aber einig darüber, daß ungeachtet ihrer unterschiedlichen Auffassung zur Rechtslage auch im Elbebereich Schwierigkeiten und Konflikte vermieden werden müssen.Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Staaten haben sich im vergangenen Jahr nicht in dem Maße entwickelt, wie es die Bundesregierung im gemeinsamen Interesse beider Staaten anstrebt. Zwar hat das Gesamtvolumen des Austauschs mit fast 9 Milliarden DM einen hohen Stand; aber im Vergleich zum Vorjahr ist 1978 der innerdeutsche Handel nur noch um 1 °/o gestiegen; die Lieferungen der DDR gingen sogar zurück.Ich will die Situation nicht dramatisieren, doch müssen wir feststellen, daß es Anstrengungen beider Seiten bedarf, um den Handel dem allgemeinen Wirtschaftswachstum entsprechend weiterzuentwikkeln. Dazu gehört die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen, aber eben auch der politische Wille, den Handel zu fördern. Auf seiten der Bundesregierung ist dieser Wille gegeben. Wir gehen davon aus, daß auch die DDR an einer stetigen und ausgewogenen Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen interessiert ist.Die neuerlichen Einschränkungen der Arbeitsmöglichkeiten westlicher Journalisten in der DDR wie die erneute Ausweisung eines Fernsehkorrespondenten wertet die Bundesregierung als einen ernsten Rückschlag in ihrem Bemühen, mit der DDR zu korrekten zwischenstaatlichen Beziehungen, zu einem Verhältnis guter Nachbarschaft zu gelangen. Solche Maßnahmen rühren an die Grundprinzipien der Pressefreiheit, über' die es zwischen Ost und West tiefgreifende und natürlich auch in Helsinki nicht ausgeräumte Meinungsverschiedenheiten gibt. Das, was bei uns selbstverständlich ist und bei uns gleichsam zum freien Spiel der Kräfte gehört, rüttelt dort eben nach Meinung der Staatsführung an den Fundamenten des Staates und seiner Ideologie.Wir können diesen grundsätzlichen, ideologisch bedingten Konflikt heute nicht lösen, aber wir verlangen, daß konkrete vertragliche Verpflichtungen eingehalten werden. Dazu gehören auch die Verpflichtungen aus der Schlußakte der KSZE. Wir legen großen Wert auf eine ähnliche Haltung auch der osteuropäischen Staaten einschließlich der Sowjetunion.Wir haben aus politischen, humanitären, aus anderen Gründen aber daran zu denken, daß der freie Journalismus, der für uns ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Ordnung ist, nicht das einzige ist, was die Beziehungen zwischen beiden Staaten bestimmen kann. Wir halten es weder für sinnvoll noch für zulässig, Strafaktionen in die Wege zu leiten, z. B. gegen die bei uns akkreditierten DDR-Journalisten. Sie können weiterhin in aller Freiheit über die angebliche Ausbeutung der Arbeiterklasse in der Bundesrepublik berichten.Wir wollen uns über unseren Weg nicht beirren lassen, denn es bleibt richtig, daß die vor zehn Jahren eingeleitete Politik den Menschen auf beiden Seiten und für beide Staaten Erleichterungen gebracht hat. Diese Entwicklung geht weiter, wird weitergehen, denn sie liegt im Interesse der Deutschen auf beiden Seiten wie im Interesse Europas. Wir jedenfalls werden uns deshalb auch zukünftig bemühen, die Kontakte zwischen den Deutschen zu vermehren, die politischen Gegensätze zu dämpfen und die Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten auszubauen, wo immer das möglich ist.Ein Wort zu Berlin. In meinen Gesprächen mit dem sowjetischen Generalsekretär Breschnew im vorigen Mai habe ich den Eindruck gewonnen, daß die sowjetische Führung die Berlin-Situation heute realistischer und ebenso wie wir in ihrer Bedeutung für die Entspannung in Europa und für die deutschsowjetischen Beziehungen sieht. Tatsächlich ist die politische Situation der Stadt seit Mitte des letzten Jahres ruhiger geworden. Die Reibungen mit der östlichen Seite haben abgenommen. Auch wir haben uns um Vernunft und um Mäßigung bemüht.Unsere Berlin-Politik besteht nicht darin, die europäische Entspannung demonstrativ in Berlin zu testen. Vielmehr sichern wir, daß die Früchte und Wirkungen der Entspannung in vollem Umfange auch Berlin zugute kommen. Wir sind auf diesem Wege ein gutes Stück vorangekommen.Berlin wird am 10. Juni, in weniger als einem Monat, an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen. Allerdings werden die Berliner Abgeordneten nicht — wie im Bundesgebiet — direkt gewählt, sondern vielmehr durch das Abgeordnetenhaus berufen. Es wird damit sowohl dem Viermächtestatus Rechnung getragen als aber auch gewährleistet, daß Berlin in die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft einbezogen bleibt, soweit dies mit den Rechten und Verantwortlichkeiten der Drei Mächte vereinbar ist. Dies gilt seit Abschluß der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft. Es ist deshalb unbegründet, von einer Verletzung des Viermächteabkommens zu sprechen. Darüber ist
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12255
Bundeskanzler Schmidtsich die Bundesregierung mit den Drei Mächten vollkommen einig.Zwar erwarten wir nicht, daß die Sowjetunion und ihre Verbündeten ihren Rechtsstandpunkt in dieser Frage aufgeben, wir hoffen aber, daß sich auch in dieser Frage eine pragmatische Beurteilung durchsetzen wird, welche die Zugehörigkeit West-Berlins zur Europäischen Gemeinschaft unter Wahrung der Rechte und der Verantwortlichkeiten der Drei Mächte respektiert. Wir und auch die übrige westliche Welt stellen umgekehrt auch die Zugehörigkeit Ost-Berlins zu dem östlichen Wirtschaftsverbund des RGW nicht in Frage.Meine Damen und Herren, es hat in den letzten Monaten eine Welle von Verdächtigungen gegeben, durch welche die Haltung der Bundesregierung oder der Koalition zur Frage der deutschen Einheit ins Zwielicht gerückt werden sollte. Das kann niemanden überraschen, der unsere Nachkriegsgeschichte kennt, daß wieder einmal einigen führenden Sozialdemokraten „Ausverkauf deutscher Interessen" oder „Verrat an Deutschland", und was da ähnliche Verunglimpfungen mehr waren, vorgeworfen wurde. Es bleibt nicht aus, daß durch solche bösartigen Kampagnen Verunsicherungen herbeigeredet werden, bei uns, aber auch bei unseren Nachbarn im Westen wie im Osten.
Ich möchte die Opposition auffordern, sich selbst darüber klarzuwerden, welchen Vorwurf sie eigentlich erheben wollte. Einmal haben Sie behauptet, daß Sozialdemokraten der deutschen Einheit wegen angeblich aus der NATO austreten wollten. Im gleichen Zeitraum — Frühjahr 1979 — haben Sie aber umgekehrt behauptet, die gleichen Sozialdemokraten wollten angeblich die Einheit Deutschlands überhaupt nicht mehr. Beides ist falsch, aber beide Vorwürfe schließen sich offensichtlich auch gegenseitig aus. Eigentlich müßte man den Ratschlag an Sie anschließen, bei Ihrer außenpolitischen Argumentation die elementaren Regeln der Logik zu beachten.
Im übrigen bleibt zu sagen, daß solche Verdächtigungen des innenpolitischen Gegners den deutschen Interessen erheblichen Schaden zufügen können.Der Klarheit wegen und des records wegen möchte ich ganz lapidar zwei Sätze zur Sache wiederholen: Die Bundesrepublik Deutschland ist und wird ein Mitglied der Europäischen Gemeinschaft und des Atlantischen Bündnisses bleiben, das seine Pflichten und Verantwortlichkeiten ernst nimmt. Ebensowenig wird die DDR ihre wirtschaftlichen und militärpolitischen Bündnisse verlassen wollen. Die DDR würde das ja wohl auch gar nicht können. Diese Lage ist unverändert.Wir sehen keinen Widerspruch zwischen unserem Platz in den westlichen Gemeinschaften und den Zielen der Präambel des Grundgesetzes, wo es heißt:Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.Das Ziel, die Einheit Deutschlands zu vollenden, ist kein restauratives Ziel, das versunkene historische Zeiten, versunkene Zustände oder Begriffe zu neuem Leben erwecken soll.Wie Bundespräsident Scheel im vorigen Jahr in seiner Rede zum 17. Juni gesagt hat, ist die Einheit Deutschlands ein europäisches Friedensziel, untrennbar mit dem Gedanken des Friedens, mit der Gewaltlosigkeit, mit der gegenseitigen Achtung zwischen den Völkern verbunden, und sie ist — auch das hat der Bundespräsident in einer sehr zu Herzen gehenden Rede klargemacht — die Vollendung unserer freiheitlichen Demokratie.Wenn wir in diesen Tagen die 30jährige Wiederkehr des Inkrafttretens unseres Grundgesetzes begehen, so ist das gewiß ein gutes Datum. Aber im Jahre 1949 wurde auch die Teilung Deutschlands auf lange Zeit verfestigt. Und so ist dieser Jahrestag für jeden Deutschen zugleich auch ein schmerzliches Datum.Das Jahr 1979 erinnert uns dann ebenfalls an das Jahr 1939, das Jahr des Kriegsausbruchs. So ist es zugleich ein Datum, das uns zu der Besinnung mahnt, daß es ohne den Krieg eine deutsche Teilung nicht gegeben hätte.Als wir damals vor 30 Jahren in den demokratischen Parteien darangingen, diesen Staat aus den Trümmern aufzubauen, hatten wir uns als erstes mit der Last der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Viele in Deutschland haben sich von Anfang an der Geschichte gestellt, insbesondere der damals jüngsten Geschichte. Aber es sollte und darf wohl auch nicht verschwiegen werden: Das haben nicht alle getan. Andererseits gab es die Erklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland schon 1945 in Treysa, die sich zu den Fehlern der Vergangenheit bekannte. Es gab die große Rede Theodor Heuss' im November 1952 bei der Einweihung des Erinnerungsdenkmals in Bergen-Belsen, es gab die Auseinandersetzung mit Alain Resnais' Film „Nacht und Nebel", es gab die ungewöhnliche Verbreitung des „Tagebuchs der Anne Frank" — es wurden damals in Deutschland 400 000 Exemplare davon verkauft — aber es gab eben auch Neonazismus: die Sozialistische Reichspartei, vom Verfassungsgericht dann verboten, später DRP, später NPD; es gab auch Hakenkreuzschmierereien und die Schändung jüdischer Friedhöfe. Es gab — das ist auch heute noch nicht völlig überwunden — in einem erheblichen Teil unseres Volkes eine zwiespältige Einstellung zum deutschen Widerstand und zum 20. Juli. Es gab die Auseinandersetzung um den Regisseur Veit Harlan, der den Hetzfilm „Jud Süß" gemacht hatte, eine Auseinandersetzung, die Erich Lüth, Vorkämpfer für den „Frieden mit Israel", bis vor das Bundesverfassungsgericht brachte; es gab das AufrechnenWollen von Opfern und von Wiedergutmachungsleistungen, es gab auch — vor allem die junge Generation irritierend — zweifelhafte Besetzungen wichtiger staatlicher Positionen. Dies alles sind
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12256 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Bundeskanzler SchmidtStationen eines mit Schwächen, mit Fehlern, mit Zweifeln, mit Ängsten, mit Verdrängungen — auch mit Schuld! — behafteten Versuchs gewesen, unsere, wie man bei uns zu sagen pflegt, Vergangenheit zu bewältigen und aus ihr zu lernen.Vieles haben wir gewiß zu spät begonnen, z. B. die KZ-Prozesse. Aber wir haben diesen Weg auch am Anfang und von Anfang an sehr ernsthaft zu gehen versucht. Der Versuch ist noch nicht beendet, er ist noch nicht vollendet.Als die Holocaust-Serie über unsere Fernsehschirme lief, wurden wir mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in einer Weise konfrontiert, die wir vorher so noch nicht versucht hatten. Wir hatten unsere Vergangenheit rational zu begreifen versucht. Aber wir hatten sie dadurch von den Gefühlen weitgehend ausgesperrt.Warum war das so? Vielleicht war es die Angst, sich dieser Erschütterung auszusetzen. Aber es kann auch sein, daß uns ein Gefühl der Scham gehindert hat, unserem Gefühl der Trauer Ausdruck zu geben. Die Trauer um das Leiden der Verfolgten ist bei uns nicht von der Trauer über deutsche Schuld zu trennen. Die Gefahr bestand vielleicht, daß das Mitleid mit den Opfern in Selbstmitleid umgeschlagen wäre.Konnten wir, durften wir so unbefangen sein, dem Gefühl des Mitleids freien Raum zu lassen? Jedenfalls war es gut, daß wir durch diesen Fernsehfilm Holocaust erschüttert wurden, Ältere und Jüngere. Die Jüngeren haben die Älteren gefragt: War das so?, und manche der Älteren brauchten dann nur mit dem Kopf zu nicken.Diese Erfahrung hat die Generationsbrüche zwischen der Kriegsgeneration und den Nachkriegsgenerationen sicherlich nicht eingeebnet. Aber sie hat doch begehbare Übergänge oder Brücken geschlagen. Jüngere sehen besser, warum uns Älteren jede Gefahr für Freiheit und Demokratie vielleicht übergroß erscheinen muß. Für die Jüngeren selbst ist das alles Geschichte, in ihrem Vorstellungsvermögen genauso weit weg wie Bismarck oder Napoleon, ganz weit weg, Geschichte, für die sie keine Verantwortung tragen. Vielleicht verstehen sie unsere Besorgnis um die Freiheit jetzt viel besser, aber diese Besorgnisse teilen sie nur zum wenigsten.Jedoch: Die deutsche Vergangenheit wird auch die Jüngeren einholen; sie holt sie bereits ein. Die Debatte über die Verjährung von Mord, die wir im Bundestag führen, ist ein Beispiel dafür, auch ein Beispiel dafür, mit welcher Ernsthaftigkeit sich die Demokraten und ihre Parteien der Vergangenheit stellen, eine Debatte, die wir in dem Bewußtsein führen, daß sie von der ganzen Welt aufmerksam beobachtet wird.Die Welt hat mitverfolgt, wie im Majdanek-Prozeß einige der Angeklagten freigesprochen wurden. Das hat besonders in Israel und in Polen Befremden, ja, zum Teil Empörung ausgelöst. Der Zwiespalt, in dem jeder einzelne von uns bei der Verjährungsdebatte steht, tritt an diesem Beispiel besonders deutlich zutage. Wir verstehen die Reaktionen der KZ-Überlebenden und besonders der Angehörigen der Ermordeten. Unrecht muß gesühnt werden!Doch kann diese Sühne nur mit den Mitteln und nur im Rahmen des Rechts erfolgen. Das sind wir nicht nur uns selbst und unserer rechtsstaatlichen Ordnung schuldig, das sind wir auch den Ermordeten schuldig. Wir haben keine Justiz, die mit Mördern sympathisiert oder Mörder schützt, sondern wir haben eine Justiz, die an Recht und Gesetz gebunden ist. Jedermann hier hat Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren, auch wenn er sich mit furchtbarer Schuld beladen haben mag. So richtet sich der Auftrag des Grundgesetzes, die rechtsstaatliche Freiheit Deutschlands zu vollenden, zunächst an uns selbst.30 Jahre Bundesrepublik Deutschland, das sind nicht nur 30 Jahre eines Staates, der in dieser Zeit recht anständig funktioniert hat, eines Staates, der sich aus Trümmern zu einem der wirtschaftlich leistungsfähigsten Länder der Welt entwickelt hat, eines Staates, der sich in 30 Jahren Ansehen und Respekt in der Welt verschafft hat, sondern 30 Jahre Bundesrepublik, das sind für uns hier vor allem auch 30 Jahre der Demokratie, 30 Jahre der rechtsstaatlich und sozial gesicherten Bürgerfreiheit.Ich sage gern, daß ich über diese Bewährung unserer Demokratie Glück empfinde; denn 30 Jahre Demokratie hatte es in der deutschen Geschichte vorher noch niemals gegeben. Die Weimarer Republik hat weniger als die Hälfte dieser Jahre gedauert. Wenn man die Jahre der Weimarer Republik und der Hitler-Diktatur zusammenzählt, so sind es weniger als 30 Jahre.Wir Älteren, die wir vom ersten Tage an für diese Bundesrepublik in diesen 30 Jahren gearbeitet haben, halten vielleicht einen Augenblick inne und stellen ein wenig erstaunt fest: dieser Staat hat ja bereits seine eigene Geschichte. Ich denke, es ist der beste Teil der deutschen Geschichte.
Dieser Teil wird durch die Namen der drei verstorbenen Bundespräsidenten würdig repräsentiert: Heuss, Lübke, Heinemann.Nach dem Ende der Weimarer Republik, nach der Hitler-Diktatur, nach dem Elend der Kriegs- und Nachkriegszeit wäre es gar nicht unnatürlich gewesen, wenn wir zaghaft und furchtsam gewesen wären, ob wir denn das auch schaffen würden, eine richtige freie Demokratie der Deutschen. Gewiß, es gab Zweifel, ob der westdeutsche Teilstaat ein in allen Einzelheiten ausgebauter Staat sein solle, ob er es denn dürfe, ob wir selbst damit nicht die Teilung sanktionierten. Wir hofften alle, daß die Bundesrepublik Deutschland ein Provisorium sei, und wir wollten, daß sie es sei. Aber es gab keinen Zweifel daran, daß sie ein demokratischer Staat sein sollte.Damals hatten sich die wichtigsten politischen Kräfte schon formiert. Es gab eine Fülle von Parteien. Sie sind alle bis auf die vier, die heute im
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Bundeskanzler SchmidtBundestage vertreten sind, nach und nach von der Bildfläche verschwunden. Die hier vertretenen vier Parteien oder drei Fraktionen haben alle in, diesen 30 Jahren ziemlich tiefgreifende Wandlungs- und Reifungsprozesse durchgemacht, die ihr Bild, ihre Programme und wohl auch ihr Selbstverständnis verändert haben. Wir haben uns alle entfaltet.Damals, 1949, hatten wir kaum Zeit, sehr weit in die Zukunft zu schauen. Wir waren auch zu beschäftigt, um verzagt zu sein, meine ich aus der Erinnerung sagen zu dürfen. Es gab einfach zu viel zu tun: der Wiederaufbau der zerstörten Städte, die Integration von über 10 Millionen Flüchtlingen, der Lastenausgleich, die Familienzusammenführung, der Aufbau der Wirtschaft — alles, jede für sich, Aufgaben von gewaltiger Dimension.Unser Wiederaufbau stand unter dem Zeichen der politischen Entscheidung für eine marktwirtschaftlich orientierte Ordnung. Diese Entscheidung war vor Inkrafttreten des Grundgesetzes gefallen. Sie war umstritten. Noch heute streiten wir uns darüber, ob und inwieweit diese Entscheidung immer neu sozialpolitisch korrigiert oder ergänzt werden muß, damit dem Auftrag der Verfassung gemäß der soziale Bundesstaat — ich zitiere aus dem Art. 20 des Grundgesetzes — verwirklicht wird.Unbestreitbar ist: Die marktwirtschaftliche Orientierung war von Erfolg gekrönt. Die Löhne stiegen netto und real in diesen 30 Jahren auf über das Dreifache. Noch stärker stiegen die realen Rentenleistungen.Mit solchen Zahlen kennzeichnen wir den Weg von Elend und Armut zu Wohlstand. Die marktwirtschaftliche Orientierung vor 30 Jahren erwies sich auch für die Aufgabe als richtig, dieses Land wieder in die Weltwirtschaft einzugliedern. Die Anpassung an die Nachfrage auf den Weltmärkten ist außerordentlich erfolgreich geraten. Die wirtschaftliche Entwicklung andererseits erleichterte es, ein soziales Sicherungssystem aufzubauen, das, wie wir meinen, zu den bedeutendsten politischen Leistungen unseres Landes zählt.Bei alledem ist uns zu Beginn entscheidend von außen geholfen worden. Wir erinnern uns der Care-Pakete, der Luftbrücke; wir erinnern uns des Marshall-Plans, der den Grundstein für die Aufbauleistungen legte, die wir anschließend selbst vollbracht haben. Wir haben damals Freunde gewonnen, in Amerika, in Frankreich, in England, nach und nach in der ganzen westlichen Welt. George Marshall, Lucius Clay, Jean Monnet, Robert Schuman, Victor Gollancz — wenn man anfängt aufzuzählen, fallen einem immer mehr Namen ein. Es war damals für einen Europäer oder einen Amerikaner nicht ganz leicht, ein Freund Deutschlands zu sein. Wir haben sehr viel Grund zur Dankbarkeit, wenn wir an diese erste Zeit unseres Staates zurückdenken.Wir haben damals begonnen, soweit es in unseren damaligen Kräften stand, soweit es mit materiellen Mitteln möglich war, den Berg an Schuld, den Hitler uns hinterlassen hatte, abzutragen. Wir verabschiedeten Wiedergutmachungsgesetze, wir zahlten Entschädigungen an den Staat Israel, in dem die Juden endlich eine Heimstatt gefunden hatten, wir zahlten Entschädigungen an Naziverfolgte in vielen Ländern der Welt. Aber all das vollzog sich im Schatten des Kalten Krieges. Gewissermaßen stand der Kalte Krieg an der Wiege unseres Staates. Seine Gründung wie übrigens auch die Gründung der DDR markieren den Zeitraum, in dem sich die Spannungen zwischen Ost und West zum Kalten Krieg gesteigert hatten. Wir Deutschen haben den Kalten Krieg nicht erfunden. aber seine Fronten verliefen damals mitten durch unser Land. Der Kalte Krieg zerriß Europa, zerriß Deutschland, trennte uns auch von wichtigen Teilen unserer Geschichte.Die reichen Kulturen Osteuropas entschwanden unserem Blick, der Begriff „Europa" wurde vielfach mit Westeuropa gleichgesetzt, und dabei wirkten aktuelle Bedrohung, traumatische Erfahrungen gegen Ende des Krieges und vielleicht auch Reste tiefsitzender alter Vorurteile gegen Osteuropa zusammen. Die Tatsache, daß 20 Millionen Menschen in der Sowjetunion, daß sechs Millionen Polen Opfer eines deutschen Angriffskrieges geworden waren, wurde von manchem verdrängt.Die Beobachtung dieser Verdrängung hat bei den osteuropäischen Nachbarn lange nachgewirkt. Die Menschen in Osteuropa sahen: Wir Deutschen zeigten Einsicht in alle Himmelsrichtungen; nur schien es nicht so, daß ihre eigene Himmelsrichtung einbegriffen war.War diese Verdrängung von Schuld nicht vielleicht auch Schuld? Willy Brandt hat später in einer unwiederholbaren Geste in Warschau das getan, was jenseits aller Politik dazu nötig war. Doch haben wir alle dieses Problem schon überwunden, schon bewältigt? Es haben sich viele Frauen und Männer unseres Landes redlich Mühe gegeben, uns Geist, Kultur und Geschichte der Völker Osteuropas nahezubringen. Ihnen ist zu danken.Aber wie hoch ist der Respekt vor der Kultur der Polen oder der Tschechen? Ist er dem Respekt vor den Kulturen unserer westlichen Nachbarn vergleichbar? Goethe hat Adam Mickiewicz als geehrten Gast in seinem Hause willkommen geheißen. Das war eine der Sternstunden der Begegnung deutschen und slawischen Geistes. Goethe stand Pate bei der Gründung des Nationalmuseums in Prag, da er die europäische Bedeutung der tschechischen Kultur erkannte. Was wissen wir von alledem? Wissen wir, daß viele große russische Dichter die Meisterwerke unserer Literatur, übrigens in einer meisterhaften Weise, in ihre russische Sprache übersetzt haben?Wir wollen die deutsche Einheit, und wir wissen, sie wird ohne die Zustimmung der osteuropäischen Völker nicht zu haben sein. Denen versichern wir immer wieder, daß wir deutsche Einheit nur in einer europäischen Friedensordnung von wechselseitiger Achtung und Respekt erstreben; aber dazu ist es auch nötig, daß wir unseren eigenen geistigen, unseren geschichtlichen Begriff von Europa nach
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12258 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Bundeskanzler SchmidtOsten erweitern, wenn wir diese europäische Friedensordnung erreichen wollen.
Puschkin und Petöfi gehören genauso dazu wie Shakespeare und Dante, Boris Pasternak und Ernest Hemingway genauso ,wie Jan Sobieski oder Prinz Eugen.Wird in unserem Bildungswesen z. B. die russische Sprache oder werden die slawischen Sprachen allgemein nicht doch vernachlässigt? Können wir uns das angesichts der großen russischen Literatur, angesichts der politischen Bedeutung der Sowjetunion eigentlich leisten? Sollten wir nicht die Inhalte unserer Schulcurricula daraufhin anschauen, inwieweit sie unserer Jugend helfen, die Völker Osteuropas zu verstehen?Meine Damen und Herren, 30 Jahre Bundesrepublik Deutschland, das bedeutet auch dreißigjährigen Frieden nach innen.
Dieser innere Frieden ist auf dem Boden unseres Grundgesetzes, unserer Verfassung gewachsen. Innerer Frieden bedeutet nicht, daß es keine Konflikte gäbe. Konflikte muß es geben. Innerer Frieden bedeutet vielmehr, daß wir unsere Konflikte gewaltfrei und in geregelten Formen, die wir miteinander verabredet haben, austragen und lösen. Unsere Verfassung hat uns alle, hat unser Volk langsam zu dieser gewaltfreien, geregelten Form von Konfliktaustragung erzogen. Obrigkeitsdenken und Untertanendenken sind auf dem Rückzug.Demokratische Formen kannte auch die Weimarer Republik. Aber in der Weimarer Republik gab es zu wenige Demokraten. Unsere Demokratie wird heute von der überwältigenden Mehrheit der Bürger und der gesellschaftlichen Gruppen getragen. Darin liegt die große positive Wende der deutschen Geschichte. Unser Grundgesetz war wie auch die Weimarer Verfassung nur eine Chance. Das Grundgesetz war, wie Gustav Heinemann gesagt hat, ein Angebot. Aber wir haben diese Chance ergriffen, wir haben dieses Angebot angenommen, wir alle.Das Grundgesetz sollte im Zentrum unserer politischen Bildung stehen, auf den Schulen, den Universitäten, in der Erwachsenenbildung. Wir wünschen uns eine kritische Jugend. Aber die Kritik der Jugend sollte sich auf der Kenntnis der Rechte und der Pflichten aufbauen, die unsere Verfassung jedem Bürger garantiert und die sie von jedem Bürger fordert. Und darin ist noch mancherlei zu tun.Damals, vor 30 Jahren, stand noch keineswegs fest, daß sich alle gesellschaftlichen Gruppen in diese Demokratie einfügen würden. In einer zusammenfassenden Rede bei Abschluß der Beratungen des parlamentarischen Rats hat Theodor Heuss imVerhältnis zwischen Staat und Kirche ein Zentralproblem der Bundesrepublik Deutschland gesehen. Damals mag er damit wohl recht gehabt haben.Heute können wir feststellen, daß es ein solches Maß an wechselseitigem Respekt zwischen Staat und Kirchen, an Freiheit der Kirchen in der deutschen Geschichte bisher kaum gegeben hat. Wieviel Unglück und Leiden, wieviel Verbitterung hatte das schiefe Verhältnis von Staat und Kirchen — schief von beiden Seiten -- im Laufe unserer Geschichte schon verursacht: vom Investiturstreit über die Reformationskriege, den Dreißigjährigen Krieg bis zum Kulturkampf Bismarcks und bei vielen Stationen dazwischen, die einem bei einem solchen Rückblick noch einfallen.Die weitgehend gelungene Selbstintegration der Kirchen in unsere demokratische Gesellschaft, die religiöse Toleranz, die wir dabei gewonnen haben, sind große, neue Leistungen in diesem Abschnitt der deutschen Geschichte, Leistungen von versöhnender Kraft, die viele Demokraten und viele Christen mit Dankbarkeit erfülleß. Diese weitgehend gelungene Selbstintegration hat die Kirchen in den Stand gesetzt, konstruktive Beiträge zur Lösung der schwierigen Fragen unserer Zeit zu leisten.Demokratisierung bedeutet gewiß die Einführung demokratischer Formen in der Politik und in vielen Bereichen der Gesellschaft. Vor allem bedeutet sie jedoch das Demokratischwerden der Bürger, der gesellschaftlichen Gruppen und der Instiutionen.In diesem Sinn ist die Selbstintegration der Kirchen ein herausragendes Beispiel für das Gelingen der Demokratisierung unserer Gesellschaft. Ich denke, sie ist eine der wichtigsten geistig-politischen Leistungen in diesen 30 Jahren.Wenn man von Demokratisierung unserer Gesellschaft und vom inneren Frieden spricht, dann muß man auch von unseren Gewerkschaften reden. In meinen Gesprächen mit ausländischen Partnern taucht häufig die Formel auf: „Ja, Sie haben's leicht, mit solchen Gewerkschaften." Natürlich ist es ein Irrtum, daß ich es leicht hätte. Aber daß über 30 Jahre Staat, Gesellschaft und Wirtschaft den Gewerkschaften sehr viel zu danken haben, auch dies in diesem Überblick über 30 Jahre auszusprechen, halte ich für meine Pflicht.
Wenn man fragt, was die Gewerkschaften zu ihren Leistungen befähigt hat, so würde ich es für verfehlt halten, das Verdienst der Organisationsform der Einheitsgewerkschaft allein zuzurechnen; sondern an der Spitze der Gewerkschaft standen und stehen eben auch bedeutende Persönlichkeiten, von Böckler über Brenner und Rosenberg bis auf den heutigen Tag. Das ist ein zweiter Grund für den Erfolg der Gewerkschaften.Entscheidend ist aber, daß Klugheit, Erfahrenheit, Besonnenheit, Mäßigung und Verantwortungsgefühl der Führung sich in einer großen demokratischen Organisation nur dann durchsetzen können, wenn sie bei den Mitgliedern Zustimmung und Echo finden. Deshalb dürfen wir ein Hauptverdienst an unserem dreißigjährigen inneren Frieden getrost den Millionen deutscher Gewerkschaftler zusprechen.Deutsche Gewerkschaftler waren ja Demokraten, lange bevor es in Deutschland Demokratie gab.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12259
Bundeskanzler SchmidtUnd so war ganz natürlicherweise 1949 dieser demokratische Staat ihr Staat. Sie sind von Anfang an mit dem demokratischen Staat verbunden gewesen, sind für ihn eingetreten und haben sich verantwortlich gefühlt — auch in den ersten 20 Jahren zur Zeit christlich-demokratisch geführter Regierungen.Daß die Mäßigung, die ja ein hohes Maß an demokratischem Selbstbewußtsein voraussetzt, im Ergebnis auch für die Gewerkschaftsangehörigen, für die Arbeitnehmer selbst, das Vorteilhafteste war, daß in der Tat unsere Gewerkschaften vorbildliche Reallöhne, Arbeitsbedingungen, Rechtssicherungen, reale Sozialleistungen erreicht haben, scheint mir ein durchaus gerechter Lohn für bewiesene demokratische Verantwortung zu sein.Die allermeisten Unternehmer bei uns wissen schon sehr lange, daß sozialer Fortschritt der Arbeitnehmer nicht in den Ruin der Unternehmungen führt, sondern daß er die sicherste Grundlage des gemeinsamen wirtschaftlichen Erfolges in der Zukunft ist.Wir sind mit Recht darüber zufrieden, daß bei uns, verglichen mit anderen Ländern, zum Beispiel relativ wenig gestreikt wird. Das ist ein weithin sichtbares Zeichen für das Ausmaß des sozialen Friedens. Aber es sollte doch nachdenklich stimmen, daß im Vergleich zum Ausland bei uns relativ viel ausgesperrt wird.
Im anderen Teil Deutschland gibt es beides nicht. Dort werden alle Konflikte von oben entschieden, und die Arbeitnehmer, die Bürger haben sich anzupassen oder zu fügen.Wir haben mit dem Inkrafttreten des Mitbestimmungsgesetzes einen Markstein in unserer Sozial- und Rechtsgeschichte gesetzt. Wir haben damit eine der fortschrittlichsten wirtschaftlichen Ordnungen der ganzen Welt in Ost und West. Ich bin fest überzeugt, daß die Mitbestimmung ein tragender Pfeiler unserer zukünftigen Gesellschaft werden wird. Es ist ganz klar, daß in der DDR an dergleichen nicht gedacht werden kann.Bis heute hat sich in unserem Volk ein gewisses Maß von Ursolidarität aus jener Phase unmittelbar nach dem Krieg, aus jener Zeit vor 30 Jahren erhalten, wenn auch oft durch laute Worte leider aus dem Bewußtsein verdrängt. Wir sollten wohl diese Solidarität in die nächsten 30 Jahre mit hinübernehmen. Wir werden sie brauchen. Die Probleme, die vor uns liegen, sind anders, aber sie werden nicht kleiner sein als die, die hinter uns liegen.Die Probleme werden anders sein. Die Bundesrepublik ist gegenwärtig — gemeinsam mit der DDR und anderen mitteleuropäischen Staaten — eines der Länder mit der niedrigsten Geburtenrate auf der Welt. Ich vermag darin keine Tragödie zu sehen. Wir sind, geographisch gesehen, ein kleines Land. Wir sind eines der dichtestbesiedelten Länder, fast dreimal so dicht besiedelt wie Frankreich. Und sind überfüllte Naherholungsgebiete, verstopfte Straßen, große Klassen wirklich erstrebenswert? Es liegt in alledem auch eine Chance, mehr Sorgfalt auf die Erziehung und Ausbildung unserer Kinder zu verwenden.Aber viele fragen nach der Stabilität des Generationenvertrages. Wie soll die abnehmende Zahl von Jungen und Arbeitsfähigen später die vielen Alten unterhalten?Nun, soweit sich die demographische Entwicklung sehr grob abschätzen läßt — und das heißt: allerhöchstens bis in das letzte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts hinein; was darüber hinausgeht, sind gewagteste Spekulationen —, liegt nach meiner Überzeugung kein Grund zur Dramatisierung vor. Bis Ende dieses und Anfang des nächsten Jahrhunderts wird die sogenannte Alterslast sogar niedriger sein als in der Mitte des gegenwärtigen Jahrzehnts. Insgesamt liegen die Veränderungen innerhalb jener Bandbreite, die von einem modernen Staat bei anpassungsfähigem Sozialsystem und flexibler Wirtschaft beherrschbar ist. Allerdings müssen solche Probleme rechtzeitig erkannt und bei vielen Planungen, bei vielerlei Entscheidungen berücksichtigt werden.Es gibt Menschen, die die Frauenemanzipation für den Geburtenrückgang verantwortlich machen. Es gibt einige, denen der Geburtenrückgang ein willkommenes Argument ist, um die positiven Entwicklungen in Richtung auf eine gleichberechtigte Stellung der Frau in der Gesellschaft zurückzudrängen. Wir werden dem entgegentreten. Die Entscheidung über die Gleichberechtigung der Frau sollte nicht mehr zur Diskussion stehen.Diese Entscheidung hatte schon das Grundgesetz getroffen. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" steht dort. In der Verwirklichung dieses Prinzips ist uns übrigens die DDR wohl ein bißchen voraus.Wie hat sich nun die Emanzipation der Frau bisher vollzogen? Viele Frauen strebten in den Be-Beruf, und das ist ihr gutes Recht. Damit hat sich die Welt der Frau entscheidend verändert, die Welt des Mannes aber hat sich dadurch fast überhaupt nicht verändert. Diese Art von Emanzipation, geschichtlich zunächst sicherlich unvermeidlich, überfordert auf die Dauer beide. Die Emanzipation der Frauen wird uns nur dann gelingen, wenn auch die traditionelle Männerwelt sich ändert, was einen Bewußtseinswandel auf. allen Seiten voraussetzt, der, wie ich denke, viele Generationen dauern wird.
Es gilt, auch hier realistisch zu sein und Schritt für Schritt die Räume zu erweitern, die ein gewandeltes, ein unserem Grundgesetz, dann entsprechendes Selbstverständnis von Mann und Frau ermöglichen. Statt zu versuchen, den bisher erreichten Verwirklichungsgrad der Gleichberechtigung der Frauen zurückzudrehen, sollte man — ich kehre noch einmal zu dem demographischen Problem zurück — z. B. versuchen, eine kinderfreundlichere gesellschaftliche Umwelt zu schaffen.
Es ist gewiß eine Übertreibung, zu sagen, wir Deutschen seien kinderfeindlich. Wenn aber in einer Neubausiedlung zwar eine Rutschbahn und eine
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12260 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Bundeskanzler SchmidtSchaukel stehen, es im übrigen aber verboten ist, den Rasen zu betreten,
oder wenn man sich vor Augen hält, daß natürlich wir alle als Jungens in fremden Gärten Äpfel geklaut haben,
wenn aber heute die Gärten nicht mehr erreichbar sind und wenn auch in vielen Fällen die Äpfel nicht erreichbar sind — dafür wird aber dann im Geschäft geklaut, oder es wird ein Fahrrad geklaut, und dann kommt man sehr schnell vor den Jugendrichter, —
— Ich sehe, einige haben keine Äpfel geklaut; ich entschuldige mich bei ihnen dafür, daß ich sie einbezogen habe. —
Wenn das so ist, dann müssen wir uns überlegen, ob wir unserer Erwachsenenwelt genug Freiräume geschaffen haben. Ich meine nicht die Häuser für die Jugend — auch das ist etwas Notwendiges —, ich meine gar nichts Organisiertes oder Verwaltetes. Ich erinnere mich: Vor 50 oder 55 Jahren, als ich ein Kind war, da waren das Treppenhaus und der Keller und der Dachboden und der Hinterhof und — da war eine Fabrik — der Fabrikhof und der Hafen auch unsere Kinderwelt — zugleich die Erwachsenenwelt und die Kinderwelt. Es gab wenige Spielplätze für die Kinder, kaum Reservate, die nur für die Kinder da waren. Davon haben wir heute sehr viele. Es gab nicht den Zustand, daß ein Jugendamt mit wissenschaftlich vorgebildeten Pädagogen die Kinderwelt eingerichtet hätte.
Die Frage ist, ob heute der unbetretene Rasen wirklich so wichtig ist. Ich nenne ihn nur als ein Beispiel für vieles andere. Mir geht es hier im Augenblick nicht um organisatorische oder staatliche Vorstellungen für die nächsten 30 Jahre, sondern einfach nur darum, daß zum Bewußtsein kommt, daß wir unsere Erwachsenenwelt den Kindern, auch den jungen Menschen etwas mehr öffnen müssen.Vielleicht läßt es sich wirklich bewerkstelligen, daß das neue Bonner Regierungsviertel, an dem einige Damen und Herren dieses Hauses so eifrig arbeiten, so gestaltet wird, daß sogar ein paar Kinder hier zu spielen wagen, ohne von Pflichtgestrengen verjagt zu werden.
Es wird sehr geklagt über die steigende Jugendkriminalität, über steigenden Jugendalkoholismus, über Drogenmißbrauch, über Jugendsekten, über steigende Selbstmordraten, steigende Gewalttätigkeit an Schulen — alles auch Entwicklungen der letzten 30 Jahre, nicht nur bei uns. Kurz gesagt redet man mehr und mehr von Jugendproblemen.Aber Jugendprobleme sind in Wirklichkeit auch Erwachsenenprobleme.
Wir werden dieser Probleme nicht Herr, wenn wir die Kinder und die Jugendlichen nur vor Gericht stellen oder in Erziehungsheime oder Entziehungsheime stecken oder zum Psychiater schicken. Im Grunde wird es nicht viel ändern. Im Grunde müssen wir wohl einen Teil des eigenen Verhaltens ändern.
Die Erlebniswelt der jungen Menschen in der DDR und bei uns ist unterschiedlich. Sie ist insbesondere in politischer Hinsicht sehr unterschiedlich. Die junge Generation bei uns hat die Schrecken der Unfreiheit und insbesondere natürlich auch die Schrecken des Krieges nicht mehr erlebt. Sie hat das Glück gehabt, die Freiheit nicht als Glück ersehnen zu müssen. Es fällt infolgedessen auch nicht leicht, die Freiheit als Glück zu empfinden. — Aber genau das ist es, was wir gewollt haben: Wir haben gewollt, daß sich die Jugend um ihre Freiheit keine Sorgen zu machen brauche. Nun hat sie sich an die Freiheit gewöhnt — Gott sei Dank.Vielleicht darf ich hier eine Bemerkung einfügen — auf eine Passage aus einer Neujahrsansprache zurückkommend —, in der ich mich mit dem gleichen Thema durchaus hoffnungsvoll beschäftigte und ein Zitat aus einem Brief des Heiligen Augustinus verwendete, das zwar inhaltlich richtig, aber der Zeitersparnis wegen verkürzt war und deswegen mißverstanden worden ist. Was ich sagen wollte und was richtig ist: Ich wollte mit Augustinus verdeutlichen, daß sich das Generationenproblem über die Jahrhunderte, ja über die Jahrtausende, immer wiederholt und daß man sich als Älterer immer wieder dabei zu überwinden versuchen muß.Die Freiheit, die manche der Jüngeren heute als selbstverständlich, als alltäglich, als nichts Besonderes, auch als ein wenig langweilig ansehen, ja, als etwas, was häufig gar nicht recht wahrgenommen wird, in ihrem Bestand zu sichern, ist für die Jugend nicht das zentrale Problem ihres politischen Denkens. Ihr geht es oft mehr darum, wofür, wozu diese Freiheit gebraucht werde.So stellt sie nicht so sehr die Demokratie in Frage, sondern sie stellt vielmehr sowohl ernste Fragen als auch zum Teil törichte Fragen an die Demokratie und an das, was sie leisten könne.Die Frage ist, ob wir diese Fragen alle richtig beantworten, die ernsten wie auch die törichten. Ich denke, daß die zum Teil weit übertriebene, oft geradezu albern-polemische innenpolitische Polarisierung über drittrangige Probleme oder über Scheinprobleme, die wir z. B. auch hier im Bundestag oder in der veröffentlichten Meinung häufiger als genug erleben, jedenfalls keine brauchbare Antwort ist.
Man kann gegen streitige Polarisierung dort nichtseinwenden, wo es um große und entscheidendeFragen geht. Da ist in der Demokratie Polarisie-
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Bundeskanzler Schmidtrung notwendig, da muß sie sein. Wer aber Randfragen, z. B. ob eine Trennscheibe irgendwo eingebaut werden soll oder nicht, zu Prinzipienfragen hochfrisiert, wer seinen politischen Gegner fast regelmäßig, und zwar aus immer wechselnden Anlässen, des Verfassungsbruches bezichtigt, der muß sich fragen, wie sich eine solche Form der Politik eigentlich den jüngeren Bürgern darstellt.
Ist es nicht leider wahr, daß Politik für den jüngeren Bürger zu einem zu großen Teil aus dem unvermeidlichen Gerangel um Personen und Posten — fälschlich bisweilen „Strategiediskussionen" genannt —
besteht, oft auch nur aus taktischen Finessen, z.B. wenn da Satellitenparteien durch Spaltung oder Ausdehnung „zur Ausschöpfung des Wählerreservoirs", wie es dann heißt, geschaffen, Mehrheiten konstruiert werden sollen? Was ist für die nachwachsenden Generationen der prinzipielle Gehalt all solcher Pseudopolitik?
Was ist der prinzipielle Inhalt?
Diese nachwachsenden Generationen — unabhängig davon, wo die einzelnen politisch stehen — nehmen es nicht ab, daß es für sie entweder um „Freiheit oder Sozialismus" gehe. Diese Menschen kennen andere Staaten recht gut, auch sozialdemokratisch oder sozialistisch regierte Staaten. Sie wissen, daß die Freiheit im konservativ regierten Freistaat Bayern oder in Filbingers Baden-Württemberg keineswegs größer ist als in Norwegen oder in Dänemark oder in Osterreich.
Manche Jugendlichen haben sich innerlich von unserem Staat entfernt — und das sind nicht in allen Fällen die schlechtesten —, versuchen außerhalb unserer allgemeinen politischen, außerhalb unserer gesellschaftlichen Strukturen andere, alternative Lebensformen zu entwickeln. Andere versuchen, einer anonymen Bürokratie, einer die natürliche Umwelt zerstörenden Zivilisation zu entfliehen, statt dessen sich eine kleine menschliche Gemeinschaft aufzubauen, in der einer auf den anderen Rücksicht nimmt, in der einer dem anderen wichtig ist.So unvollkommen und so vorübergehend solche Lösungsversuche nur sein mögen, so wenige dabei bedenken, daß es gerade die Gesellschaft ist, von der sie sich abwenden, die ihnen überhaupt erst ihre eigene exklusive Lebensform ermöglicht, so ist doch wahr, daß das Bemühen dieser jungen Menschen eine Frage stellt, die man nicht voreilig schon für beantwortet halten darf, die Frage nämlich nach der Menschlichkeit unserer demokratischen Lebensform. Die Frage z. B. ob die neuen Wohnsilos wirklich Ausdruck dessen sind, was das Grundgesetz unter „Würde des Menschen" versteht.Da kämpfen z. B. im Ruhrgebiet Kumpel um ihre alte Arbeitersiedlung. Warum eigentlich? z. B. deshalb, weil Küchen- und Wohnzimmerfenster zur Straße hin liegen, und die Fensterbank ist in der Brusthöhe eines Passanten, der draußen vorbeigeht, und wenn er vorbeigeht, kann man ihm sogar durchs Fenster die Hand geben. Man kann mit ihm sprechen, man sieht ihm dabei ins Auge. Zwischen den Häusern ist ein bißchen Rasen, vielleicht ein bißchen ausgefranst, und vielleicht kommt an einigen Stellen die braune Erde durch. Aber auf dem Rasen spielen die Kinder, und die Mutter hat sie vor Augen. Weil die Menschen miteinander sprechen, deswegen helfen sie einander auch, und deswegen feiern sie auch miteinander. Ob uns die Anonymität, in die wir uns selbst durch all diese Wohnsilos gebracht haben, wirklich auf die Dauer guttut, weiß ich nicht.Die Bergarbeitersiedlungen, von denen ich eben sprach, stammen meist aus alten Zeiten, aus Zeiten, in denen das Land noch nicht demokratisch war. Demokraten müssen sich fragen, ob sie nicht mitmenschlichere Siedlungsformen entwickeln können. Die seelischen Bedürfnisse sind bei der heutigen städtebaulichen Architektur nicht tief genug verstanden worden.
Das trifft wahrscheinlich auf die DDR in einem noch höheren Maße zu; es ist kein spezifisch deutsches Problem, aber es ist auch in beiden Teilen Deutschlands ein Problem. Es wird zu einem Problem in den nächsten 30 Jahren werden, wenn wir es nicht erkennen.
— Ich versuche nur, Fragen für die nächsten 30 Jahre anzudeuten, Herr Kollege Schwarz. Ich gebe Ihnen keine Patentrezepte.Aber vielleicht ist es richtig, sich zu vergegenwärtigen, daß der Begriff „sozial" — wie er ja auch im Grundgesetz vorkommt, auch im Namen meiner Partei und im Namen anderer Parteien — bisher hauptsächlich als die Absicherung unserer Bürger vor materieller Not im Alter, bei Krankheit, bei Arbeitslosigkeit oder bei Behinderung verstanden wurde. Diese Absicherung ist gelungen. Wir können uns auf ein soziales Netz verlassen, das jeden hält. Wir sind mit gutem Gewissen stolz darauf. Wir werden an seiner Verbesserung weiterhin arbeiten, werden es noch besser, noch sicherer machen.Aber „sozial" heißt ja noch mehr. Wir müssen nach 30 Jahren auch daran denken, daß „sozial" eigentlich so etwas wie zwischenmenschlich, mitmenschlich oder auf Gemeinschaft gerichtet heißt.
Dergleichen kann der Staat nicht verordnen. Aber er kann dabei helfen, daß die wissenschaftlichtechnische Entwicklung die Möglichkeiten menschlicher Begegnung nicht zerstört. Der Staat kann solche Entwicklungen fördern, welche die Möglichkeiten der Begegnung erweitern.
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12262 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Bundeskanzler SchmidtDer wissenschaftlich-technische Fortschritt hat unser Leben verlängert, er hat es erleichtert und bequemer gemacht. Er hat uns Möglichkeiten eröffnet. Wir können überall hinreisen, wir können miteinander telefonieren. Das Fernsehen liefert uns frei Haus Unterhaltung und Information, die Butter wird im Eisschrank nicht ranzig. All das ist gut, keiner möchte es missen.
— Wenn Sie sie zu lange liegen lassen, wird selbst Ihre Butter ranzig.Das alles war vor 30 Jahren nicht so. Deshalb ist die allgemeine Verdammung des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts töricht. Solche Verdammung löst auch gar kein Problem. Aber wir müssen auch die negativen Seiten sehen; denn jeder Vorteil muß erkauft werden. Zum Beispiel: Je häufiger das Reisen, desto flacher die Eindrücke, je mehr wir telefonieren, desto weniger Briefe schreiben wir, je mehr wir fernsehen, desto weniger reden wir oder hören wir aufeinander.Der wissenschaftlich-technische Fortschritt kann unserer Freiheit und Menschlichkeit dienen, wenn wir ihn kontrolliert und kritisch nutzen. Er kann schaden, wenn er gedankenlos konsumiert wird. Hier liegt eine der zentralen Erziehungsaufgaben in der hochindustrialisierten Gesellschaft für die kommenden Jahrzehnte.Zum Beispiel stehen wir vor der Entscheidung, ob und unter welchen Bedingungen wir das Kabelfernsehen einführen wollen. Technisch ist das eine wunderbare Sache. Es gibt keinen Arger mehr mit der Antenne. Technisch wird es möglich sein, 24 Stunden am Tage 25, 30 verschiedene Programme zu empfangen. Ob aber so etwas der erstrebte, der zu erstrebende Fortschritt ist? Das wird man sorgfältig abwägen müssen.
Das ist keine Frage, die man den Elektronikfirmen oder den Fernmeldetechnikern allein überlassen kann, sondern eine gesellschaftliche, politische Frage, deren Antwort die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen sehr beeinflussen wird.Vielleicht darf ich einfügen, daß wir in diesen 30 Jahren gute Erfahrungen mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunksystem gemacht haben.
Wir halten es für ebenso bedauerlich wie bedenklich, wenn einige Politiker aus politisch durchsichtigen, wenn andere aus privaten Interessen dieses vergleichsweise verünftige und erfolgreiche System aufs Spiel setzen wollen. Die privaten Rundfunkpläne können die Substanz unseres demokratischen Lebens angreifen, und deshalb müssen sie mit unserem Widerstand rechnen.
Die Datentechnik und die Mikroelektronik werden die Gesellschaft weiter verändern, besonders auch unsere Arbeitswelt. Solange sie die Menschen von mechanischen Arbeiten befreien, von stumpfsinnigen Arbeiten befreien, sind sie willkommen und müssen genutzt werden. Aber wir wollen einen menschengerechten Computer, wenn ich so sagen darf, und nicht einen computergerechten Menschen.
Es ist klar, daß in kommunistisch regierten Staaten diese Gefahren noch größer sind als bei uns. Aber bei uns sind sie auch gegeben.Wir sind ein wissenschaftlich-technisch, ein wirtschaftlich führendes Land in der Welt. Deshalb hängt es zu einem nicht unwesentlichen Teil von uns ab, wohin sich Wissenschaft und Technik entwickeln. Wir können sogar die Definition dessen, was der Fortschritt denn sein soll, mitbestimmen. Ein Fortschritt, der seine eigenen Risiken verniedlicht oder vernachlässigt, verdrängt, ein Fortschritt, der menschliche Bezüge, der das Soziale zerstört, ist eine Gefahr. Wenn er jedoch seine Risiken erkennt und bedenkt, wenn er die richtigen Folgerungen aus diesen Bedenken zieht, wenn er sich in den Dienst der Menschen stellt, dann sollen wir ihn erstreben.Nun wird man die Entscheidung der Bundesregierung zugunsten eines begrenzten Ausbaus der Kernenergie uns an dieser Stelle entgegenhalten. Ich habe Anfang letzter Woche Gelegenheit gehabt, diese Entscheidung noch einmal persönlich ausführlich zu begründen. Ich muß das heute nicht wiederholen; es paßt auch nicht an dieser Stelle. Es gibt ernsthafte Argumente gegen die Kernenergie, aber es gibt auch ernsthafte und gute Argumente für die Kernenergie. Die haben wir alle bedacht. Wir haben unsere Entscheidung nach bestem Wissen, aber auch nach bestem Gewissen getroffen. Mir liegt am Herzen zu sagen: Nicht nur Kernenergiegegner haben ein Gewissen, die anderen auch.
Das Kernenergieproblem wird nicht das letzte Problem sein, das uns infolge der wissenschaftlichtechnischen Entwicklung gestellt wird. Andere Probleme werden aus gleichem Grund vermehrt auf uns zukommen. Dies sind die modernen gesellschaftspolitischen Probleme. Dies sind Probleme, die den Osten ebenso betreffen wie den Westen, die DDR ebenso treffen wie die Bundesrepublik Deutschland. Wir werden Nachdenklichkeit brauchen, aber auch Entschluß und Tatkraft, um den Fortschritt in menschlichen Bahnen zu halten. Wir müssen uns vorsehen, daß wir nicht eine Zukunftswelt aufbauen, die zwar ungeheuer effektiv ist, die dann aber immer weniger Möglichkeiten und Gelegenheiten läßt, freundlich miteinander oder fröhlich zu sein.Wenn uns dies gelingt, dann mag es uns vielleicht auch leichter fallen, die vielen Kinder der ausländischen Arbeitnehmer und diese selbst in unsere Gesellschaft zu integrieren. Dies ist ein Entschluß, den wir demnächst fassen müssen, meine Damen und Herren.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12263
Bundeskanzler SchmidtVielleicht wird es dann auch leichter fallen, gegenüber den Entwicklungsländern unseren Verpflichtungen gerecht zu werden.Das Grundgesetz war eine Chance zur Demokratie, die wir ergriffen haben. Die Demokratie ist eine Chance zur Menschlichkeit, die wir nutzen müssen.Nun blickt auch der andere deutsche Staat, die Deutsche Demokratische Republik, in diesem Jahr auf drei Jahrzehnte ihres Bestehens zurück. Jedermann in Europa, jedermann in der Welt ist sich dessen bewußt, daß die Deutsche Demokratische Republik ein deutscher Staat ist. Am allerwenigsten wollen wir davon absehen, daß sie ein deutscher Staat ist. Selbst wenn wir dies wollten, so könnten wir davon nicht absehen, denn die Teilung, allem voran die Verantwortung für Berlin, sind uns gegenwärtig, bedrängend gegenwärtig. So tun wir gut daran, uns bewußt zu bleiben, daß die' DDR deutsch ist, daß dort Deutsche leben, daß alles, was dort vorgeht, Teil der Gegenwart des deutschen Volkes ist.Die gegenwärtig lebenden Deutschen, die gegenwärtige Generation, machen eine einzigartige Erfahrung durch. Ich meine nicht die Erfahrung des Nebeneinanders in verschiedenen deutschen Staaten. Das ist uns Deutschen in unserer Geschichte jahrhundertelang begegnet. Nein, ich meine die Erfahrung, daß staatliche Trennung zugleich mit einer tiefgreifenden Auseinanderentwicklung im Gesellschaftlichen, im Politischen und zu einem Teil auch im Kulturellen einhergeht.Als 1949 die DDR gegründet wurde, da war die Phase, wie sie es nannten, der „antifaschistischen Umwälzung". In dieser Phase waren die sozioökonomischen Bedingungen, die politischen Bedingungen schon geschaffen, die zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft sowjetischen Musters der damaligen Führung notwendig erschienen, so z B. die Entmachtung des Bürgertums, die Sicherung der politischen Führung durch die kommunistische Partei, weitgehend auch schon die Entmachtung der erst im Wiederentstehen begriffenen Gewerkschaften.Auf ihrer zweiten Parteikonferenz im Juli 1952 hat die SED bestimmt, „daß der Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe der DDR geworden" sei. Also noch bevor die sowjetische Deutschlandpolitik in der Mitte der 50er Jahre ihre Optionen, ihre Strategien in bezug auf Gesamtdeutschland aufgegeben hatte zugunsten der Verfestigung und Konsolidierung des Staates DDR, war in der DDR längst eine umfassende Umgestaltung aller öffentlichen und privaten Lebensverhältnisse angelaufen. Man nannte das dort drüben einen einheitlichen revolutionären Prozeß.Dementsprechend hatte die SED, zumindest die SED-Führung, von Beginn an ihr Ziel primär darin gesehen, im Gebiet der heutigen DDR eine sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung von marxistisch-leninistischem Typus zu errichten. Nicht zuletzt dies hat dann zu der bitteren Erfahrung des 17. Juni geführt.Heute, etwa ein Jahrzehnt nach der zweiten Verfassung der DDR von 1968, leugnet die DDR, daß es eine deutsche Frage, daß es eine deutsche Nation überhaupt gäbe. Dabei hat sie sich in jener Verfassung 1968 selbst noch „sozialistischer Staat deutscher Nation" genannt und hat sich selbst bekannt zur „Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung". Heute, nach einer erneuten Verfassungsänderung 1974, bezeichnet sich die DDR als sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Ihre Bürger dürfen sich nicht der Staatsbürgerschaft nach als Deutsche bezeichnen, wohl aber der Nationalität nach als Deutsche. Offiziell heißt es, in der DDR entwickle sich die sozialistische deutsche Nation, während in der Bundesrepublik die bürgerliche Nation fortbestehe.Es ist ganz offenkundig, daß solche Wendungen und Verfälschungen vom Bewußtsein der Deutschen in der DDR nicht getragen werden,
sondern daß sie vielmehr der vordergründigen politischen Opportunität der Führung entsprechen. Auch in der DDR ist das letzte Wort zur Nation keineswegs gesprochen, und so bald wird es keineswegs gesprochen werden.
Meine Damen und Herren, gleichwohl ist nicht zu leugnen, daß hier ein souveräner Staat entstanden ist, dem wir unseren Willen nicht aufzwingen könnten, sofern wir dies wollten. Auch jener Staat zählt zu den führenden Industriestaaten der Welt. Seine Industrieproduktion hat sich im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte mehr als verdoppelt. Im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe nimmt die DDR mit ihren wirtschaftlichen Erfolgen eine Spitzenstellung ein. Ihre wirtschaftliche Effizienz und ihr Lebensstandard sind führend unter den Staaten des RGW. Viele Bürger der DDR — und nicht nur Kommunisten — sind darauf stolz; ich denke, sie sind mit sehr gutem Recht darauf stolz, denn dieser wirtschaftliche Aufschwung war für die DDR ungleich schwieriger als für uns.Die Startbedingungen waren schlechter: Demontagen, Entnahmen aus der laufenden Produktion. Politische Gründe, die die Einbeziehung in den Marschall-Plan verhinderten, und die Trennung von Westdeutschland erzwangen eine völlige Umstrukturierung der Industriebeziehungen, der Wirtschaftsbeziehungen insgesamt. Am Anfang gab es keinerlei Schwerindustrie.Wenn man das alles berücksichtigt und die Leistungen sieht, die gleichwohl zustande gekommen sind, dann sind es einerseits deutsche Leistungen, andererseits sind Leistungen und Umstände Ergebnisse einer anderen, einer kommunistischen Politik, die auch Ergebnisse gezeitigt hat, die für uns untragbar wären, die von den Menschen große Opfer an persönlicher und an bürgerlicher Freiheit fordert, die den Menschen auferlegt, ein Leben unter Einschränkungen und Belastungen führen zu müssen, die . in unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung niemand von uns tolerieren würde. Von
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12264 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Bundeskanzler Schmidtdenen, die ihre Stimme in der Offentlichkeit zu Gehör bringen dürfen, verlangt die Staatsführung der DDR kritiklose Zustimmung zu alledem. Es liegt auf der Hand, daß geistige Eigenständigkeit und geistige Freiheit dort schwer behindert sind.Die DDR-Führung weiß in Wirklichkeit — dies ist mein Eindruck —, daß ihre Vorstellung von einer besonderen Nation, die sich von den Deutschen in der Bundesrepublik unterscheidet, ja, die sich uns gegenüber durch ein besonderes Nation-Bewußtsein abhebt, unrealistisch war und auch bleibt.Es wird heute in der DDR gerne der Eindruck suggeriert, daß sie die guten Elemente unserer nationalen Geschichte bewahre oder wiederbelebt habe, während auf unserer Seite die negativen zu finden seien. Das ist Geschichtsklitterei.Aber es ist sicherlich zu begrüßen, wenn wir uns in beiden Teilen Deutschlands mit der nationalen Geschichte der Deutschen kritisch auseinandersetzen, denn weder bei uns noch in der DDR möchte man heute über Nation so reden und schreiben, wie Treitschke es vor 100 Jahren getan hat. Auch die Fernsehserie, die in der DDR über Scharnhorst produziert wurde — ich finde es gut, daß wir sie demnächst auf unseren Bildschirmen sehen werden —, ist wohl, was die historische Wahrheit angeht, nicht über jeden Zweifel erhaben. Aber grundsätzlich ist es nicht schlecht, daß die preußisch-deutsche Geschichte heute in beiden deutschen Staaten — ich denke dabei auch an Sebastian Haffners Preußen-Buch — von neuem betrachtet und diskutiert wird. Allerdings werden wir nicht mitmachen können, wenn die DDR die preußischen Reformer wie Gneisenau und Stein und Hardenberg gleichsam für sich vereinnahmen will, wohingegen der preußische Obrigkeitsstaat von uns übernommen werden müßte. Das sind Possen! Das sind Albernheiten!
Manche in der DDR — insbesondere in deren Führung — mißverstehen schon lange unser Festhalten am Gedanken der Nation. Die Ideologen der Abgrenzung argwöhnen dahinter eine Politik des von ihnen so genannten Revisionismus. Sie wittern den Versuch, der DDR ihre Staatlichkeit wegzunehmen. Das ist Unfug. Wir haben die Existenz des zweiten deutschen Staates längst anerkannt. Wir würden aber unsere Verantwortung verleugnen, wenn wir so täten, als ob der Gedanke der einen Nation von den Deutschen oder von uns preisgegeben werden würde. Das wird er nicht!
Das hat auch die polnische Nation trotz langer, langer Teilung nicht getan. Mir ist jedenfalls gewiß, daß die eine Nation für die künftigen Generationen in beiden deutschen Staaten wichtig bleiben wird, unabhängig davon, wie sich die beiden Staaten in ihrem Inneren entwickeln.Die Betrachtung der vergangenen 30 Jahre oder der Ausblick auf die kommenden 30 Jahre ergibt in der Vergangenheit und in der Zukunft sehr vielUnterschiedliches, sehr viel Gegensätzliches, aber auch Gemeinsames. In einem jedenfalls stimmen die Deutschen — sogar die Politiker — in beiden Staaten sogar politisch überein, nämlich darin, daß wir alle wollen — das ist vor neun Jahren in Erfurt und Kassel besonders deutlich geworden —, daß von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehe.
Die Deutschen in beiden Teilen wollen den Frieden auch und gerade angesichts des Faktums der Teilung in zwei unterschiedliche Staats- und Gesellschaftsformen, und wir wollen durch eine Politik der kooperativen Nachbarschaft die Folgen der Teilung erträglicher machen. Aber in Wirklichkeit kann dieser Beitrag nur von beiden deutschen Staaten geleistet werden; sie können ihn nur gemeinsam leisten. Die Bundesrepublik Deutschland ist dazu bereit.Was aus der deutschen Nation wird, ist nicht nur eine Frage für die Deutschen, sondern auch für unsere Nachbarn in Europa, unsere Partner in den wirtschaftlichen Gemeinschaften, in den Bündnissen, denen die beiden deutschen Staaten angehören. Die Völker und die Regierungen auf unserem Kontinent und in der ganzen Welt wissen: Es gibt d i e Deutschen, obwohl sie in zwei Staaten leben.Manchmal unterscheidet das Deutschlandbild, das man im Ausland hat, weniger deutlich zwischen der Bundesrepublik und der DDR, weniger deutlich, als wir es tun, die wir täglich mit den harten Tatsachen der Teilung und ihren Folgen konfrontiert sind. Vielleicht ist es sogar tröstlich zu sehen, daß manche Ausländer in der Welt unsere Nation mit Augen betrachten, in denen die deutsche Nation für sie, für die Nachbarn, für die Partner, auch nach einer vollen Generation der Teilung ihre Eigenständigkeit, ihre Identität nicht eingebüßt hat.Ebenso muß man auch erkennen, daß wir Deutschen von den anderen Völkern nicht mit derselben Gelassenheit betrachtet werden wie andere Nationen. Allein die Vorstellung, daß eines Tages ein Staat von 75 Millionen Deutschen in der Mitte Europas entstehen könnte, bereitet vielen der Nachbarn und Partner Sorgen, auch wenn die nicht so laut ausgesprochen werden. Wir müssen uns deshalb gefallen lassen, daß wir Deutschen, daß die Entwicklung in beiden deutschen Staaten und die Entwicklung zwischen beiden Staaten vom Ausland her sehr bewußt, sehr aufmerksam, zum Teil sehr kritisch unter die Lupe genommen werden. Wir dürfen nicht übersehen, daß die deutsche Teilung in den Augen anderer heute ein Teil, ein Element des europäischen Gleichgewichtes ist, das den Frieden in Europa sichert.Unsere Nachbarn und Partner wissen das sehr genau und sagen das. Wir können nur dann mit deren Verständnis für unsere nationalen Fragen rechnen, wenn wir sie umsichtig und sorgsam, wenn wir sie realistisch angehen, d. h., wenn wir
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12265
Bundeskanzler Schmidtsie unter pflegsamem Eingehen auf die Interessen aller unserer Nachbarn angehen.Ich habe im Bundestag mehrfach betont, daß die Frage nach der Einheit der Nation den Frieden nicht von der ersten Priorität abdrängen darf. Wir dürfen auch nicht den Anschein erwecken, als wollten wir eine Deutschlandpolitik betreiben, die die Erfordernisse des europäischen Friedens aus dem Auge verlieren könnte. In unserer geopolitischen Lage, angesichts unserer jüngeren Geschichte können wir Deutschen uns nicht eine politische Schizophrenie leisten, etwa auf der einen Seite eine realistische Friedenspolitik voranzubringen und auf der anderen gleichzeitig eine illusionistische Wiedervereinigungsdebatte zu führen.
Gestatten Sie mir ausnahmsweise ein Selbstzitat, zu dem ich stehe. Vor zehn Jahren habe ich geschrieben:Bereitschaft zur Realität ist nötig, wenn unser Wille zum Frieden gelten soll.
30 Jahre Bundesrepublik Deutschland und 30 Jahre Deutsche Demokratische Republik — das war auch 30jähriger Friede nach außen, und zwar für alle Deutschen, trotz des Kalten Krieges, trotz höchst gefährlicher Krisen in manchen früheren Stadien und trotz vieler Tragödien einzelner und ihrer Familien.Unsere Friedenspolitik gründet auf der festen Verankerung, die wir im Westen gefunden haben, in den Europäischen Gemeinschaften, in der Atlantischen Allianz, besonders auf der engen Verbundenheit mit Frankreich, auf der freundschaftlichen Partnerschaft mit den USA, mit Großbritannien und anderen.Wir haben durch die Politik der Verträge, der Gewaltlosigkeit, der Zusammenarbeit den Frieden in Europa tatsächlich sicherer gemacht. Wir bemühen uns zäh und entschieden um ein gutnachbarliches Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn — auch zu dem anderen deutschen Staat.Unser Verhältnis zu den osteuropäischen Staaten und zu der östlichen Weltmacht Sowjetunion ist ein anderes als unser Verhältnis zu unseren westlichen Partnern, denn wir gehören verschiedenen politischen, verschiedenen gesellschaftlichen Systemen und Denksystemen an. Gleichwohl möchte ich auch in Richtung Osten von Partnerschaft reden, nämlich von Vertragspartnerschaft und insbesondere von Sicherheitspartnerschaft.
Die Ostverträge haben vertragliche Bindungen geschaffen, die sich trotz aller Rückschritte fortentwickeln. Mit dem Viermächteabkommmen, mit dem Grundlagenvertrag wurden politische Voraussetzungen für die Konferenz von Helsinki geschaffen. Die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten und die Lage Berlins — all das ist seitdem eingebettet in die Entspannungspolitik in Europa. Es ist den Berlinern, den Deutschen in der DDR, denDeutschen hier und allen Völkern Europas zugute gekommen.Über die vertraglichen Beziehungen hinaus ist auch mit der Sowjetunion und mit Osteuropa das politische Gespräch möglich geworden, das erst einen Grad an gegenseitiger Vorhersehbarkeit der Politik, an gegenseitigem Vertrauen schafft, auf dem eine wachsende Kooperation aufgebaut werden kann.Ein wesentlicher Teil der Entspannungspolitik und des Ost-West-Gesprächs sind heute die Bemühungen um Begrenzung und um Abbau der Rüstungspotentiale. Wir freuen uns darüber, daß zwischen den USA und der Sowjetunion der SALT-Abschluß zustande gebracht werden konnte, der auch in unserem Interesse liegt.
Wir Deutschen haben ein besonderes Interesse daran, daß die hohe Konzentration von Truppen und Kriegsmaterial auf deutschem, auf zentraleuropäischem Boden abgebaut und ein europäisches Kräftegleichgewicht auf niedrigerer Ebene hergestellt wird. Alle Staaten in Ost und West können deshalb auf unser Engagement für Abrüstung und Rüstungskontrolle zählen.Die jüngsten Entwicklungen in der Europäischen Gemeinschaft, etwa das Europäische Währungssystem, die erste Direktwahl zum Europäischen Parlament oder die Erweiterung um Griechenland in der übernächsten Woche und später auch um Portugal und Spanien, entsprechen unseren eigenen Zielen. Denn die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in eine sich entwickelnde demokratische Gemeinschaft Europas hilft uns, Argwohn gegenüber vermuteten oder befürchteten deutschen Übergewichten entgegenzutreten.Unsere historische Lektion und Erfahrung, gelernt in diesen 30 Jahren, daß nämlich die Nation nicht der oberste Maßstab für alle Politik sein darf, ist notwendige Voraussetzung einer umsichtigen deutschen Politik der Verständigung mit Osteuropa und auch mit der DDR. Sie dient dem Frieden, aber sie verhindert auch, daß das Bewußtsein von der andauernden Identität der Nation — von den politischen Realitäten des Augenblicks verdeckt — tatsächlich vergewaltigt werden kann.Wer sich realistisch mit den Problemen der deutschen Teilung auseinandersetzt, der weiß, daß die Vollendung der deutschen Einheit, daß ein gemeinsames Dach für alle Deutschen nur dann denkbar wird, wenn sich West und Ost tatsächlich aus ihrer verkrampften, aus ihrer militärisch hoch aufgeladenen Polarisation befreien, wenn sie die Spannungen zwischen sich abbauen, ja wenn sie sich selbst entspannen, weil sie auf die verläßliche Friedlichkeit der Partner auf der anderen Seite vertrauen können.
Bis dahin ist noch ein weiter, ein unübersehbar weiter Weg. Deshalb wissen wir heute nicht, ob und wann, in welcher Form, in welchen Stufen die deutsche Einheit vollendet werden kann. Wir wis-
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12266 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Bundeskanzler Schmidtsen jedoch, daß beide deutsche Staaten, eingebettet in unterschiedliche Gemeinschaften und Bündnisse, heute, morgen und übermorgen ihre Teilaufgabe, ihre Teilverantwortung für den Frieden Europas zu erkennen und auszufüllen haben.Wir haben also Grund zu der Frage: Was können die Deutschen in den beiden deutschen Staaten heute und morgen tun, um den Frieden in Europa für die Zukunft zuverlässiger zu machen? Ich denke, zur Antwort gehört bei aller Klarheit der Kritik auch, daß wir gegenseitig den Beitrag anerkennen sollten, den die Deutschen in beiden deutschen Staaten in 30 Jahren zum Wiederaufbau Europas geleistet haben. Man sollte also gegenseitig anerkennen, was zustande gebracht worden ist.
Wir sollten beiderseits den allgemeinen Prozeß der Zusammenarbeit, der Entspannung in Europa durch eigene Mitwirkung, z. B. bei Abrüstung und Begrenzung, fördern und stützen.Kollege Barzel hat jüngst in einem Aufsatz darauf hingewiesen, daß überall in der Welt, ihrem Lebensalter entsprechend, jene Menschen aus den Führungen der Staaten schon ausgeschieden sind, die ihre entscheidenden politischen Erfahrungen vor der Zeit der europäischen Diktaturen und vor dem Zweiten Weltkrieg gewonnen haben. Das ist die Generation der Schumacher, Adenauer, de Gasperi und wie sie alle geheißen haben. Im kommenden Jahrzehnt der 80er Jahre wird nun überall in der Welt auch die Kriegsgeneration von der politischen Bühne abtreten. Wir sollten fragen, was wir tun können, damit gleichwohl die Lehren aus dem bitteren Krieg nicht verlorengehen.Die Zeit ist gekommen, daß wir weniger über das gemeinsam Verlorene klagen, als vielmehr über das nachdenken und sprechen, was die beiden Seiten zur friedlichen Zukunft Europas beitragen können. Es kann ja nur einen Frieden geben, und das ist der Friede, der Ost und West gemeinsam ist. Es kann nur einen gemeinsamen Frieden geben.
Nur in einem politisch und vertraglich organisierten Frieden ist es möglich, daß Europa wirtschaftlich, kulturell und menschlich wieder zusammenwächst. Nur nach langem Frieden ist Einheit denkbar.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Bevor ich das Wort weitergebe, darf ich auf der Diplomatenbühne die Präsidentin des Senats von Kanada, Frau Renaude Lapointe, begrüßen.
Ihr Besuch unterstreicht die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Kanada und der Bundesrepublik Deutschland und setzt eine lange Tradition parlamentarischer Kontakte unserer beiden Länder fort. Es ist mir eine große Freude, den hohen Gast aus Kanada im Deutschen Bundestag willkommen
zu heißen. Wir wünschen Ihnen einen guten Aufenthalt in Deutschland.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Kohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Tagesordnungspunkt, den wir heute zu behandeln haben, heißt „Bericht zur Lage der Nation" . Gehört haben wir den Versuch eines Festvortrags „30 Jahre Bundesrepublik".
Meine Damen und Herren und Herr Bundeskanzler, um das Bild einer Weihestunde abzurunden, fehlte nur noch das Kammerorchester mit seinen Einsätzen am Anfang und Ende.
Es gibt — und ich muß Ihnen sagen: das ist schon bewundernswert — fast kein Thema, das Sie in diesem Bericht ausgelassen haben. Damit will ich natürlich nicht behaupten, daß Sie diese Themen auch immer behandelt haben; Sie haben sie nicht ausgelassen.Ich füge gleich hinzu: Es sind auch viele Themen behandelt worden, die überhaupt nicht strittig sind. Das brauchten Sie ja auch für das Gesamtgebäude Ihrer Rede, die eine Reihe von Selbstverständlichkeiten enthielt, wobei Sie auch das mit eingepackt haben, wozu Sie nicht konkret Stellung nehmen wollen, worüber Sie hinweggingen. Nach Harrisburg, nach den Ereignissen der letzten Wochen ist es schon bemerkenswert, daß Sie nur knapp drei Passagen zum Thema Kernenergie gebracht haben.
Dann machten Sie einige wirklich hinreißende Bemerkungen aus Ihrer Kindheit, aus unserer Kindheit: mit den Äpfeln in Nachbars Garten. Es kam die Klage über die Zementklötze, wobei ich fragen muß: Welche Stadtverwaltungen waren es denn, die diese Zementklötze gebaut haben?
Dann redeten Sie so beiläufig davon, es werde zuviel reglementiert. Aber in der gleichen Woche stimmen Sie über ein Gesetz ab, das über 10 000 neue Planstellen zur Reglementierung im familienpolitischen Bereich bringt.
Das alles ist der Entwurf einer Politik, wie Sie sie verstehen, und der eigentlich weniger mit dem Bericht zur Lage der Nation als mit der Vorbereitung eines Datums im nächsten Jahr zu tun hat.Herr Bundeskanzler, man kann es so zusammenfassen: Das war eine Rede, die Verständnis für alle und für alles hat, und eine Politik, die nur Gutes ankündigt, wobei der Glücksbringer Helmut Schmidt heißt. Auf diesen kurzen Nenner kann man das Ganze bringen. Antworten, auch auf die von Ihnen selber aufgeworfenen Fragen, etwa auf
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12267
Dr. KohlFragen junger Leute, etwa der Rentner, etwa derer, die das Thema Kernkraft bewegt, haben wir nicht gehört.Wenn ich mir überlege, was Sie zur Frage der demographischen Entwicklung, zur Frage der Geburtenentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland gesagt haben, wobei Sie zu der wirklich „überzeugenden" Bemerkung kommen, daß im Wege dieser Entwicklung die Straßen leerer würden, dann kann ich nur sagen: Das ist eine so profunde Aussage, daß es einem die Sprache verschlägt.
Ich werde zu einigen Ihrer Themen gleich Stellung beziehen. Aber zu einem Punkt muß ich ein kurzes Wort sagen, ohne ihn hier intensiv zu behandeln. Sie beklagten die Polarisierung. Herr Bundeskanzler, wer ist denn der Vater der Polarisierung in diesen letzten zehn Jahren gewesen? Die Bundesrepublik Deutschland hat in ihrer dreißigjährigen Geschichte, auf die Sie so gern abgehoben haben, niemals eine vergleichbare Zeitspanne gehabt wie jene zehn Jahre unter der Kanzlerschaft von Sozialdemokraten. Sie selber sind doch immer ein Meister dieser Polarisierung gewesen. In diesen Tagen, vor der wichtigen Wahl des Staatsoberhaupts, erleben wir doch fast täglich, was Sie unter innerem Frieden in Wahrheit verstehen, was Sie an Polarisierung betreiben.
Wenn man Ihre Bemerkungen — man könnte ein Stunde lang darüber reden — etwa zur Sozialen Marktwirtschaft hört und sich erinnert, was Sie zum Vater der Sozialen Marktwirtschaft, zu Ludwig Erhard, von diesem Pult aus gesagt haben, und zwar zu jener Zeit, als Sie noch nicht dabei waren, und wie Sie jetzt versuchen, sich sein Erbe anzueignen, dann muß man fragen: Wie können Sie eigentlich mit einem so kurzen Gedächtnis der Bürger dieser Republik rechnen?
Aber ich will zu dem eigentlichen Thema dieses Tages zurückkommen. Herr Bundeskanzler, Ihr Bericht zur Lage der Nation kommt über vier Monate zu spät. Sie haben hier eine Pflicht. Sie kommen ihr mit erheblicher Verspätung nach. Wir sind überzeugt, daß die Verspätung einen klaren politischen Grund hat: daß Sie der Auseinandersetzung aus dem Weg gehen, die über wichtige Grundfragen der innerdeutschen Politik und der Politik zwischen Ost und West hier ausgetragen werden muß.
Die Ereignisse der letzten Tage, der Maulkorberlaß der SED gegenüber Journalisten, die unbestreitbaren Vertragsverletzungen durch die DDR zwingen Sie, heute dem Parlament auch über Ihre Einschätzung der Lage Rechenschaft zu geben, endlich Rechenschaft zu geben.Denn wieder einmal, Herr Bundeskanzler, hat sich das kommunistische Regime in der DDR über das offenkundige Wohlverhalten Ihrer Regierung, über geltende Verträge und Abmachungen in verächtlicher Weise hinweggesetzt, als es darum ging, brutal die Interessen der SED zu vertreten.Die Empörung — dies stelle ich fest — über diese Willkürmaßnahmen ging quer durch das ganze Haus, durch die ganze deutsche Offentlichkeit. Aber für die DDR und ihre Führung gab es sofort zwei wichtige Entlastungszeugen — wie immer bei solchen Vorgängen: Herbert Wehner und Willy Brandt. Das ist leider keine Überraschung mehr.Als die Offentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland und in den NATO-Mitgliedsländern immer hartnäckiger in dieser wichtigen Phase der Abrüstungsverhandlungen den Widerspruch zwischen sowjetischer Aufrüstung und den ständigen Bekenntnissen der Sowjetunion zur Entspannung und Abrüstung geißelte, waren Sie es, Herr Wehner, der den Sowjets mit öffentlichen Äußerungen über den „defensiven Charakter" sowjetischer Rüstung den Rücken gestärkt hat.
Und jetzt lenken Sie und Willy Brandt erneut von den Zwangsmaßnahmen und Vertragsbrüchen der DDR ab. Sie verwarnen nicht die DDR. Nein; Sie verwarnen die Demokraten in der Bundesrepublik Deutschland, Sie warnen vor angeblicher „Kraftmeierei" und „Muskelspielen". Sie zetteln bewußt eine neue Diskussion über die Grundpositionen einer gemeinsamen Deutschlandpolitik an und werfen dabei — zumindest Willy Brandt tut es — kaltschnäuzig den Verfassungsbegriff der Wiedervereinigung über Bord.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie haben in Ihrer Regierungserklärung viele Worte gemacht. Aber Sie haben nicht den Mut gefunden, hierherzutreten und zu sagen: Was Willy Brandt hier sagt, ist für die deutsche Politik und für die Position der Deutschen schädlich.
Es ist doch Ihres Amtes, zuerst und vor allem in diesem Haus die Frage zu stellen, zu welchem Ende solche Erklärungen letztlich führen. Sie nützen doch nur dem kommunistischen Regime in der DDR und schaden empfindlich den deutschen Interessen.Sie tun das, meine Damen und Herren von der SPD, in einem Augenblick, in dem wir doch durchaus eine eindrucksvolle Neubelebung der Diskussion über Fragen der Nation, der deutschen Einheit, Menschenrechte und Gesellschaftsordnungen erfahren, die ihren Ursprung in der DDR selbst haben, angefangen beim sogenannten SED-Manifest über das Buch von Rudolf Bahro bis hin zu den jüngsten Ereignissen um Nico Hübner, Robert Havemann und Stefan Heym. Das alles zeigt doch, daß Bewegung da ist und daß niemand von uns aus seiner persönlichen Resignation heraus in einer Grundfrage der deutschen Nation aufgeben darf.
Niemand von uns — das sei klar gesagt — weiß wirklich, wie .diese Entwicklung weitergeht. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie haben zu Recht auf die polnische Geschichte, auf den langen Atem unserer
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12268 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. Kohlpolnischen Nachbarn in ihrer Geschichte hingewiesen. Wer gibt uns, den Deutschen in der Bundesrepublik — von denen die wenigsten persönlich einen Beitrag dazu geleistet haben, daß sie heute in der Bundesrepublik auf der Sonnenseite der deutschen Geschichte leben können und leben dürfen —, das Recht, hier zu resignieren? Niemand! Wer von uns, wer aus unserer Generation weiß denn, was die, die heute als Kinder die Grundschule besuchen oder die, die noch gar nicht geboren sind, zu dieser Frage einmal denken werden? Das ist eine Frage, in der nicht unsere Generation die letzte Entscheidungsbefugnis hat.
Aber was tun Sie? Sie, Herr Wehner und Herr Brandt, verweigern die Antworten und das Echo auf die Menschenrechtsbewegungen in der DDR und in anderen kommunisten Staaten. Mit Ihrer öffentlichen Kampagne — und dadurch, daß Sie sich dieser Kampagne nicht widersetzen, sind Sie, Herr Bundeskanzler, an dieser Entwicklung mitschuldig — verweigern Sie den Menschen Hoffnung.Und Sie tun noch etwas anderes: Sie zerstören bewußt die Gemeinsamkeit zwischen den demokratischen Parteien in den Grundpositionen der Deutschland- und Ostpolitik.
Denn, meine Damen und Herren, bei aller Unterschiedlichkeit, bei aller Leidenschaft in der Diskussion und beim Einschätzen von Risiken und Chancen: Es gab doch wesentliche Elemente der Übereinstimmung: das Festhalten an den vorhandenen Rechtspositionen, die Verwirklichung der im Grundgesetz festgelegten Ziele, keine völkerrechtliche Anerkennung der DDR, Ausgestaltung eines Sonderverhältnisses zwischen der Bundesrepublik und der DDR und die Bemühungen um menschliche Erleichterungen im geteilten Deutschland.Meine Damen und Herren aus der Bundesregierung und aus der Koalition, wenn Sie dabei sind, einzelne Elemente aus diesem Gesamtgebäude herauszulösen, zerstören Sie das Ganze. Und das ist doch eine kontinuierliche Entwicklung. Da war der Staatssekretär Gaus, der in der Frage der Staatsangehörigkeit der DDR entgegenkommen wollte. Jetzt stellt der Vorsitzende der SPD, Willy Brandt, das Wiedervereinigungsgebot in unserer Verfassung in Frage. Viele andere Beispiele könnte ich noch hinzufügen.Meine Damen und Herren, Sie zerstören die Grundübereinstimmung, den Grundkonsens unserer Republik in dieser Frage. Ich sage Ihnen voraus, wenn wir in dieser Grundfrage der deutschen Politik nicht eine Mindestausstattung an Gemeinsamkeit behalten, werden wir auf eine ganz und gar abschüssige Bahn geraten.
Sie tun das, obwohl doch unstrittig ist,. daß im Grundlagenvertrag der Dissens beider Staaten in der Frage der deutschen Nation festgeschrieben worden ist. Das Bundesverfassungsgericht — nicht irgendwer — hat in der Begründung seines Urteils vom 31. Juli 1973 diesen Gesichtspunkt besonders deutlich herausgehoben. Das Bundesverfassungsgericht hat den Grunddissens in der nationalen Frage zu einem Kernpunkt seines Urteils gemacht und hat dabei auch die Auslegung des Vertrages an die bisherige Grundgesetzauslegung gebunden.Die DDR ihrerseits kann unbeschadet der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des im Vertrag formulierten Dissenses ihre eigene Position vortragen und offensiv vertreten, und sie tut dies doch auch. Ich verweise nur auf die Änderung der DDR-Verfassung vom Oktober 1974 und auf den Freundschaftsvertrag mit der Sowjetunion im Oktober 1975.Meine Damen und Herren, wir als Bürger der Bundesrepublik Deutschland können uns diesem Konflikt selbst dann, wenn wir es wollten, nicht entziehen, denn er bezieht sich ja auf eine vertragliche Regelung im Grundlagenvertrag. Das heißt also: Wir befinden uns im Zustand der Rivalität und des Wettbewerbs mit der DDR um die Ausfüllung und Überwindung des Konflikts, der durch diesen Dissens in der nationalen Frage begründet ist. Wir stehen in einer offenen, in einer weltweiten Konkurrenz mit der DDR, die ihren Nation-Begriff an Sozialismus und Klassenkampf gebunden hat. Wir aber sagen seit Konrad Adenauer, daß wir an der normativen Bindung der Nation an Freiheit und Selbstbestimmung festhalten wollen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sie haben sehr eindringlich vom Frieden gesprochen. In unserer Friedensbereitschaft, in unserer Friedenssehnsucht wollen wir uns doch gemeinsam zurufen: Niemand in diesem Hause läßt sich gern in seiner Friedenspolitik von einem anderen übertreffen. Wir alle wollen den Frieden!
Es gibt keine parteiische Form des Friedens. Wir alle sagen doch auch — ich hoffe, das darf man hier noch so sagen —, daß Frieden und Freiheit unlösbar miteinander verbunden sind
und daß ein Frieden ohne Freiheit eben kein wahrer Frieden ist
und daß der, der dies sagt, kein „Kalter Krieger" ist, sondern selbstverständlich ein Patriot, der in diesem Fall die deutschen Interessen, die Interessen unseres Volkes zu vertreten hat.
Ich sage es noch einmal: Wir werden — und ich hoffe, Sie stimmen dem zu — wie seit Konrad Adenauer an der normativen Bindung der Nation an Freiheit und Selbstbestimmung festhalten. Die DDR, meine Damen und Herren, geht diesen Konflikt, dieses Ringen um die legitime Repräsentanz der deutschen Nation offensiv an. Sie ist in der Lage, ihren Nation-Begriff je nach Bedarf als Kampfbegriff, als Integrationsinstrument auch mit gesamtdeutscher Perspektive einzusetzen.Herr Bundeskanzler, Sie haben vieles im. Rückblick auf die Geschichte gesagt, was ich durchaus
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12269
Dr. Kohlunterstreiche. Es waren doch Männer und Frauen aus der Union, die in den letzten zehn, fünfzehn Jahren immer wieder eindringlich gerade auch Ihre Regierung und die Regierung Ihrer politischen Freunde darauf hingewiesen haben, wie sehr sich die SED aufgemacht hat, Geschichte als ein tragendes Fundament ihres Regimes zu mißbrauchen, wie auf allen Feldern — Sie sprachen davon in einzelnen Beispielen — die deutsche Geschichte verfälscht wird, wie man den Versuch unternimmt, die junge Generation in der DDR — und auch in den Bereich unserer Bundesrepublik Deutschland ausstrahlend — durch ein solches verfälschtes Geschichtsverständnis für sich einzunehmen und — um es einmal salopp auszudrücken — wie man in vielen Maßnahmen des DDR-Staates den Versuch sehen kann, die emotionale Bindung, die vaterländischen Gefühle der Bürger auf eine Linie von Friedrich dem Großen bis zu Honecker zu bringen. Meine Damen und Herren, das ist eben jener Versuch, die Identität der deutschen Nation auf die Identität der DDR zu beziehen.Was haben wir dem, Herr Bundeskanzler, in diesen zehn Jahren entgegengesetzt? Wo war denn der Beitrag der Sozialdemokratischen Partei, als es um diese geschichtliche Auseinandersetzung ging. Es war doch Ihre Partei, die in vielen deutschen Schulen Geschichte durch Sozialkunde ablösen wollte, ablösen ließ.
Es genügt doch nicht, daß Sie, sozusagen zur Feier des Tages dies rügen. Was tun Sie denn selbst, was tut denn Ihre Regierung, was tut denn beispielsweise das Bundespresseamt, das doch über viele Millionen DM verfügt, um in dieser wesentlichen Frage der Information unserer Bürger weiterzukommen? Was tut das zuständige Ministerium zur wissenschaftlichen Erforschung der wahren Verhältnisse innerhalb der DDR? Es geschieht fast nichts mehr auf diesem Gebiet.
Wenn Sie, Herr Wehner und Herr Brandt — ich sage es noch einmal —, mit stillschweigender Duldung des Kanzlers
jetzt Grundpositionen räumen, dann überlassen Sie der DDR einen Freiraum, Interpretationen politisch durchsetzen zu können, den wir niemals kampflos preisgeben dürfen. Die Verwerfung der Begriffe „Wiedervereinigung" und „deutsche Frage" durch den Vorsitzenden der SPD, Willy Brandt, und durch den Vorsitzenden der Fraktion der SPD, Herbert Wehner, ist — Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen —, wie auch immer ihre Motive sein mögen, in Wahrheit auch in der Erfahrung, in der Psychologie der Völker und auch unseres Volkes nicht anderes als der Verzicht auf die deutsche Einheit und auf das Recht aller Deutschen auf Selbstbestimmung.Keiner von uns darf sich doch in hämischer Weise über Begriffe hinwegsetzen, die in den zentralen Dokumenten und Verträgen seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland verankert sind, in derPräambel des Grundgesetzes und in anderen wesentlichen Bestimmungen unserer Verfassung im Bund wie in den Ländern,
im Deutschlandvertrag mit den drei Westmächten, im Brief zur deutschen Einheit, in der gemeinsamen Entschließung aller Bundestagsfraktionen, auf den Tag genau vor sieben Jahren, am 17. Mai, gefaßt, im Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das ich erwähnt habe. Wir alle wissen doch, Herr Wehner — ich weiß gar nicht, warum Sie jetzt erregt dazwischenrufen — —
— Herr Wehner, wir alle wissen doch — —
— Ich brauche nichts zu zitieren. Ich rede ja, da brauche ich nichts zu zitieren.Wir alle wissen doch, Herr Kollege Wehner — und ich hoffe, da sind wir uns doch einig —, welche eminent politische Bedeutung die Sprache — —
— Herr Kollege Wehner, wir alle wissen doch, weich eminent politische Bedeutung gerade auch die Sprache für das kommunistische Regime hat und daß in den Begriffen „Wiedervereinigung" und „deutsche Frage" zu Recht der Ausdruck unserer Überzeugung und unseres Willens zu sehen ist, daß die Teilung Deutschlands rechtlich, moralisch und geschichtlich vorläufiger Natur ist. Das ist doch das, was immer wieder hervorgehoben werden muß.
Herr Bundeskanzler, da fehlte mir eben die zweite Seite zu Ihrer Äußerung.
Natürlich ist diese Teilung Deutschlands der bittere Preis, das Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und der Schuld, die im deutschen Namen auf uns geladen wurde; das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, daß die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht eben nicht im Zweiten Weltkrieg untergegangen sind.
Herr Wehner, Herr Brandt und Herr Bundeskanzler, wenn wir nicht mehr über Wiedervereinigung und deutsche Frage sprechen, wenn wir das aus unserem Sprachgebrauch streichen, dann verschweigen wir doch Entscheidendes, nämlich die Tatsache, daß die Teilung Deutschlands durch die unmenschlichste Grenze der Erde ein ständiger Akt der Unmenschlichkeit ist.
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12270 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. KohlWenn wir über die innere Lage unserer Republik sprechen, Herr Bundeskanzler, über das Befinden unserer Kinder — ich komme noch darauf zu sprechen, und ich sage, ich bin dafür —, dann läßt sich doch nicht leugnen, daß diese Unmenschlichkeit nicht dadurch besser wird, daß wir sie einfach totschweigen. Sie gehört in diesen Bericht zur Lage der Nation.
Sie selber haben doch bislang in allen Äußerungen und Dokumenten in diese Richtung gesprochen. Es war doch die Regierung des Bundeskanzlers Brandt, die im Zusammenhang mit der Verhandlung über den Grundlagenvertrag beim Bundesverfassungsgericht mit folgender Begründung den Vertrag als verfassungsgemäß verteidigt hat:Der Grundlagenvertrag entspricht den beiden elementaren Grundsätzen, auf denen das politische und rechtliche Selbstverständnis unserer Verfassungsordnung beruht: dem Friedensgebot und dem Wiedervereinigungsgebot.Herr Bundeskanzler, ich finde, es ist überfällig, auch wenn das der Vorsitzende der SPD und der mächtigste Mann der SPD, Herbert Wehner, anders sehen, es ist überfällig, daß Sie und Ihre Regierung hier vor dem Forum des deutschen Volkes, im Deutschen Bundestag klipp und klar erklären, daß Sie auf dieser Position stehen und daß das, was Brandt und Wehner in diesem Zusammenhang ausführen, der deutschen Politik nicht nützlich, nicht dienlich ist, daß Sie endlich einmal eine klare Grundposition aufrichten.
Das Bundesverfassungsgericht hat in dem soeben erwähnten Urteil die Bedingungen für die Vereinbarkeit des Grundlagenvertrags mit dem Grundgesetz unmißverständlich festgelegt — wörtlich zitiert —:Aus dem Wiedervereinigungsgebot folgt zunächst: Kein Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland darf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel aufgeben; alle Verfassungsorgane sind verpflichtet, in ihrer Politik auf die Erreichung dieses Zieles hinzuwirken — das schließt die Forderung ein, den Wiedervereinigungsanspruch im Innern wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten — .. .Wer dann sagt, er nehme das Wort nicht mehr in den Mund — was immer er sich darunter vorstellen mag, was immer seine Motive sein mögen —, der muß doch zur Kenntnis nehmen, daß er mit seiner Sprache der Interpretation der DDR weit entgegenkommt, sie weitgehend übernimmt.
Herr Bundeskanzler, Sie sagten, es würden starke Worte gebraucht; Sie haben auf den Begriff des Wortbruches hingewiesen. Ja, wenn wir diesen Begriff der Wiedervereinigung aus unserer Sprache streichen, dann ist das doch gar nichts anderes als ein Wortbruch. In allen parlamentarischen Behandlungen der Ostverträge hat die damalige RegierungBrandt immer wieder beteuert, die deutsche Frage bleibe selbstverständlich, notwendigerweise, nachgewiesenermaßen offen. Deshalb heißt es doch in der gemeinsamen Entschließung aller Bundestagsfraktionen vom 17. Mai 1972:Die Politik der Bundesrepublik Deutschland, die eine friedliche Wiederherstellung der nationalen Einheit im europäischen Rahmen anstrebt, steht nicht im Widerspruch zu den Verträgen, die die Lösung der deutschen Frage nicht präjudizieren.Ich könnte das mit den Äußerungen des damaligen Außenministers Scheel belegen; ich will es wegen der Kürze der Zeit jetzt nicht tun.Deswegen, Herr Kollege Wehner, ist eben das, was Sie und was Willy Brandt gesagt haben, unverantwortlich. Es ist vor allem auch gegenüber Berlin unverantwortlich. Auch das muß man doch wieder einmal in Erinnerung rufen.
Das ausdrückliche Offenhalten der deutschen Frage und der Wille zur Wiedervereinigung sind für die westlichen Rechte in Berlin von grundlegender Bedeutung. Wer beide Begriffe preisgibt, rüttelt an den Fundamenten des freien Berlin. Das ist keine Wortklauberei, das ist die realistische Betrachtung der politischen Lage am Ende des achten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts.
Ich verstehe schon gar nicht, Herr Bundeskanzler, wie Sie zu diesem Thema schweigen können, wenn Sie Jahr für Jahr vor der Weltöffentlichkeit, etwa vor den Vereinten Nationen, die Position vertreten — Sie oder der Bundesaußenminister sind dabei von uns unterstützt worden, weil es durchaus in unserem gemeinsamen Interesse liegt —, die auch wir in diesem Zusammenhang für richtig halten. Was sind denn all diese Worte noch wert, wenn Sie jetzt nicht den Mut besitzen, das, was einfach richtig ist, was gemeinsame Politik ist, auch gegen die Genossen in der eigenen Partei entschieden durchzusetzen?
Wenn wir eine Klärung dessen herbeiführen wollen, was die Lage der deutschen Nation ist, was unser Staatsbewußtsein ist, dann gehört dazu auch — hier stimme ich Ihnen zu, Herr Bundeskanzler — die Auseinandersetzung mit dem Unrechtsstaat der Jahre 1933 bis 1945. Sie sprachen über die anhaltende öffentliche Diskussion um den Film „Holocaust" und über die Verjährungsdiskussion. Ich kann nur sagen: Ich persönlich bin zutiefst davon überzeugt, daß die Frage, in welcher Art und Weise, in welcher Offenheit, mit welcher Sensibilität wir uns unserer eigenen Geschichte stellen, eine der Schicksalsfragen dieser Republik ist.Nur, Herr Bundeskanzler — das ist ja mein Einwand; ich komme damit auf aktuelle Ereignisse zurück, ohne sie heute in der Diskussion noch einmal breit darzulegen —, man kann die jüngste deutsche Geschichte nicht bewältigen — wobei das ein
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12271
Dr. Kohlschreckliches Wort ist, das allein schon unter psychologischem Gesichtspunkt allem im Wege steht —, man kann sie nicht verstehen, vor allem nicht der jungen Generation verständlich machen, wenn man das nicht aus dem Geiste der gemeinsamen Verantwortung tut. Wer aber, wie Ihre politischen Freunde es in diesen Tagen und Wochen wieder tun, vor allem beim politischen Gegner die Schwierigkeiten und die Belastung vergangener Zeit sieht, der macht das in einer vordergründigen Weise, die dem Ganzen schädlich ist.Herr Bundeskanzler, Sie haben heute in Ihrer Regierungserklärung in diesem Zusammenhang wieder Formulierungen gebraucht, die einen solchen geistigen Hochmut im Blick auf die jüngste Geschichte offenbaren, zu dem Sie meines Erachtens keine Berechtigung haben. Ich will das in aller Ruhe und in aller Deutlichkeit sagen.
Ein Volk kann aus der Geschichte nur lernen, wenn man gemeinsam daraus zu lernen versucht, wenn man es nicht mit einer moralischen Beckmesserei tut, indem man dem einen dies und dem anderen jenes vorwirft. Wir werden gegenüber der jungen Generation unseres Volkes nur bestehen können, wenn wir ohne Wenn und Aber über die Geschichte sprechen, nichts beschönigen, nichts dramatisieren, wenn wir das, wie wir es erlebt haben oder wie wir es erkannt haben Oder heute wissen, als geschichtliche Wahrheit vertreten. Aber wir müssen es gemeinsam tun, wir müssen sehen, das Schuld in jenen Tagen auf allen Seiten zu finden war; das allein hilft uns weiter. Die Geschichte kann man nur aus dem Geiste der Gemeinsamkeit vernünftig verstehen und erläutern, nicht aus einer totalen Polarisierung heraus, indem die eine Seite behauptet, sie allein besitze die geschichtliche Wahrheit.
Wir können kein klares Verhältnis zu unserer Geschichte wiedergewinnen, wenn wir uns heute erneut, wenn auch unter anderen ideologischen Vorzeichen, mit der Existenz eines totalitären Regimes auf deutschem Boden abfinden würden, dem jede demokratische Legitimierung fehlt; eines Regimes, das seine Bürger unterdrückt und ihnen die personalen Menschenrechte vorenthält.Natürlich wissen wir um die ideologischen Unterschiede zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten. Aber die stalinistischen Methoden der Unterdrückung, der Menschenjagd mitten in Deutschland an Mauer und Stacheldraht müssen wir genauso als das bezeichnen, was sie sind: als Mord, wie wir auch das als Mord bezeichnen müssen, was an Schlimmem im deutschen Namen unter der Barbarei der Nazis geschah.
Herr Bundeskanzler, wir verkennen nicht die politischen Realitäten in Europa. Die erste Realität ist die bittere Erkenntnis, daß sich das reale Gewicht der Rechtsidee nicht ungestraft um nationaler Ziele willen verleugnen läßt.
Recht kann Anspruch und Verpflichtung sein. Das gilt auch für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. So stehen wir — Regierung und Opposition — gemeinsam in der Verantwortung für unser Land und unser Volk, in seinem gesamten Umfang das Recht Recht und das Unrecht Unrecht nennen zu dürfen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das war eine bittere Entscheidung, und das bleibt eine bittere Entscheidung. Es ist wichtig, daß man in einer solchen Stunde noch einmal feststellt, daß es an diesem Stück unseres Weges hoffentlich noch Gemeinsamkeit gibt.
Unser Verständnis von der Nation ist unauflöslich mit den Prinzipien der Freiheit und der Demokratie verbunden. Deshalb erfolgte doch unser Weg in die Europäische Gemeinschaft und in die westliche Allianz, in ein Bündnissystem mit Völkern, die mit uns eine gemeinsame Wertordnung haben.
Meine Damen und Herren, niemand, der einigermaßen ernsthaft die Zeit und die Welt betrachtet, kann doch glauben, daß ein Weg zurück in den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts, etwa ins Bismarcksche Reich, die Zukunft bewältigen könnte.
— Herr Kollege Ehmke, das haben wir zu einer Zeit gesagt, als Sie noch mit nationalstaatlichen Ideen in Deutschland herumgelaufen sind!
Lesen Sie doch die Schlachten nach, die Sie hier im Saal geschlagen haben beim Eintritt in den Europarat und bei all den wichtigen Entscheidungen!
Es war doch Konrad Adenauer, der in jenen Jahren erklärt hat: Wir lassen über vieles mit uns reden, wenn die Deutschen in der DDR ihre inneren Angelegenheiten in freier Selbstbestimmung gestalten dürfen. Er schreibt dazu wörtlich in seinen „Lebenserinnerungen" :
Wir mußten realistisch unsere Möglichkeiten abschätzen und uns dessen bewußt bleiben, daß das Wichtigste eine Erleichterung des Loses der Menschen in der Zone war.
— Aber Herr Ehmke, Sie machen es sich doch viel zu einfach.
Ich habe meine Begründung dazu gegeben. Das
war unsere Politik, und das bleibt unsere Politik,
was ich eben hier vorgetragen habe. Das hat doch
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Dr. Kohl
nichts mit Regierung oder Opposition zu tun. Für die Union sind Wiedervereinigung und europäische Integration zwei politische Ziele, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern gegenseitig bedingen.
Gestatten Sie? — Keine Zwischenfrage.
Meine Damen und Herren, die Einigung Europas bleibt seit der Kanzlerschaft Konrad Adenauers für uns in der Union — und das ist heute noch genauso — die Voraussetzung für die Wiedergewinnung der Einheit Deutschlands in Freiheit.
Das Staatsbewußtsein unserer Bürger, gesamtdeutsches Nationalbewußtsein und europäisches Bewußtsein sind drei Formen eines Gemeinschaftsbewußtseins. Es besteht untereinander kein Gegensatz, das ergänzt sich: Ein deutscher Patriot ist ein überzeugter Europäer, ein überzeugter Europäer ist ein guter deutscher Patriot. Das ist doch die Formel, von der wir ausgehen müssen.
Die Politik der deutschen Einigung und der Westintegration sollte die wiedergewonnene Freiheit der Deutschen, die in der Bundesrepublik Deutschland leben, sichern. Europa wurde damit zugleich jener wichtige Rahmen und jener Wirkungsraum deutscher Politik, mit dessen Hilfe wir, die Bundesrepublik Deutschland, unsere Ziele und unsere Interessen verfolgen konnten: Sicherung der Freiheit, Friede, Einheit des Volkes, Verhinderung internationaler Isolation, Gewinn neuen Vertrauens und internationale Gleichberechtigung.Angesichts der vorgegebenen weltpolitischen Lage bedeutet Integration für die Bundesrepublik Deutschland die Voraussetzung ihrer politischen Handlungsfähigkeit, auch der deutschlandpolitischen Handlungsfähigkeit im Sinne der Mitwirkung und Mitverantwortung in der internationalen Ordnung. Europäische Integration bleibt aber auch — wir vergessen dies nie — die zentrale Vorbedingung, unter der überhaupt eine Möglichkeit denkbar und erreichbar ist, daß die Nachbarn Deutschlands einer Lösung der deutschen Frage zustimmen können.Eine freiheitliche Lösung der deutschen Frage gibt es in Wahrheit nur in einem gesamteuropäische Rahmen. Wenn das Prinzip der Freiheit wirksam werden soll, dann hat dies zur Voraussetzung, daß die westeuropäischen Staaten imstande sind, ein gesamteuropäisches Konzept entscheidend zu beeinflussen. Wir brauchen das starke freiheitliche Europa, auch wenn es in der ersten Phase nur Westeuropa ist, wenn wir die deutsche Frage freiheitlich lösen wollen. Gerade weil wir, die Deutschen, durch bittere Erfahrung mehr als andere die geschichtliche Erfahrung unseres Jahrhunderts begriffen haben, wissen wir, daß Deutschland nur nach Europa hinein wiedervereinigt werden kann als Volk unter Völkern und ganz und gar nicht im Alleingang der Deutschen.
Wir werden uns als Nation nur verwirklichen können, wenn wir über die Nation hinausdenken und hinauswachsen, d. h., wir müssen unsere deutschlandpolitische Strategie auch in diesem Sinne ausrichten.Für die Bürger in der Bundesrepublik Deutschland müssen wir Klarheit über die eigene Position erreichen. Die Kenntnisse in unserem Volk, nicht zuletzt in der jungen Generation, über die Bedingungen und Gegebenheiten der deutschen Frage müssen viel mehr als bisher vertieft werden. Wir müssen diesen Appell an die Bürger der DDR richten. Ihnen muß die Chance zur Pflege des Zusammengehörigkeitsgefühls erhalten bleiben. Sie bedürfen unserer besonderer Solidarität. Wir müssen uns an die Regierung der DDR wenden, deren Taktieren in der nationalen Frage ein Symptom für ihre Einschätzung der politischen Brisanz dieses Problems ist.Wir müssen uns vor allem an unsere internationale Umwelt wenden. Sie muß den ungebrochenen Willen der Deutschen zur Einheit in Freiheit erfahren und gleichzeitig unser aller Bereitschaft zur Verständigung und Zusammenarbeit.Sehen Sie, Herr Wehner, das ist ja der Punkt. Wenn Sie draußen im Ausland diskutieren und die Frage der deutschen Wiedervereinigung ansprechen, ist eben ein Zitat wie diese Äußerung von Willy Brandt eine blanke Katastrophe. Wie wollen Sie denn den Menschen in Frankreich, in den Niederlanden oder in Großbritannien klarmachen, daß die Deutschen in Sachen Einheit der Nation ihren Weg gehen, auch wenn es Generationen dauert, wenn gleichzeitig einer der führenden Politiker der Bundesrepublik Deutschland erklärt, er werde dieses Wort aus seinem Sprachschatz streichen. Das ist doch genau die Frage, die Sie hier zu beantworten haben!
Natürlich müssen und können wir unsere eigenen Beiträge leisten. Wir müssen das Zusammengehörigkeitsgefühl der unteilbaren deutschen Nation pflegen und stärken. Dazu gehört, daß möglichst viele Bürger der Bundesrepublik die Chance wahrnehmen, in die DDR zu reisen, um dort mit Menschen, Mitbürgern Begegnungen zu pflegen. Dazu gehört — ich sage es noch einmal — die Verbesserung der Kenntnisse über die deutschen Fragen. Dazu gehört, Herr Bundeskanzler, die intensivere Behandlung der Deutschlandpolitik im Schulunterricht. Herr Bundeskanzler, Rainer Barzel hat Sie neulich darauf angesprochen: Da beschließt die Ständige Kultusministerkonferenz der Länder am 23. November 1978 einstimmig, also mit den Stimmen aller Länder, gemeinsame Richtlinien über „Die deutsche Frage im Unterricht" mit dem Ziel — ich zitiere —:
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12273
Dr. KohlDas Bewußtsein von der deutschen Einheit und der Wille zur Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit ist wachzuhalten und zu entwikkein ... Die deutsche Frage muß im Unterricht aller Schulen einen festen Platz besitzen. Diese Richtlinien sollen nicht nur für den Unterricht Geltung haben, sondern auch in der Lehreraus- und -fortbildung berücksichtigt und in den Lehr- und Lernmitteln Eingang finden.Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler, auch nach Ihrer heutigen Regierungserklärung: Was sollen sich eigentlich Lehrer, Schüler und Eltern denken, wenn sie dann hören müssen, daß zwei der wichtigsten Repräsentanten Ihrer Partei im gleichen Atemzug erklären, daß Wiedervereinigung und deutsche Frage überholte Begriffe seien.
Wie wollen wir eigentlich die Lehrer zu dieser verantwortlichen Aufgabe auffordern, wenn es hier im Deutschen Bundestag nicht möglich ist, in der deutschen Frage völlig übereinstimmend miteinander zu sprechen?
Sosehr ich dafür bin, daß möglichst viele von uns in die DDR fahren, daß möglichst viele private Kontakte intensiviert werden, sosehr dies alles ein wesentlicher Bestandteil auf dem Wege des Erhalts der eigenen deutschen Nation ist, so sehr, meine Damen und Herren, muß man doch deutlich sagen, daß dies alles nicht dazu führen darf, daß die deutsche 'Frage zu einer Privatsache einzelner Bürger wird. Diese Frage darf nicht privatisiert werden.
Die Wertgebundenheit und die Wertbezogenheit der Deutschlandpolitik muß wieder deutlicher werden. Sprache vermittelt Normen. Normen, die nicht mehr selbstverständlicher Bestandteil der Sprache sind, verlieren nicht nur an Ausstrahlung, sondern sie verlieren in der Länge der Zeit alle Bindewirkung und Verläßlichkeit. Wir müssen wieder deutlich machen — wir alle —, daß es im Kern der Deutschlandfrage um die politische Freiheit unseres ganzen Volkes geht. Die Entscheidung für oder gegen die Freiheit, das ist der eigentliche Grund, das ist doch in Wahrheit der Hauptgrund für die Spaltung Deutschlands. Politik ist immer auch der Kampf um die Sprache.Die SED versucht, die Begriffe Nation, Frieden und Demokratie in ihrem Sinne zu besetzen und festzulegen. In dem Maße, meine Damen und Herren, in dem wir in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der DDR auf eine offensive Strategie im Bereich der Sprache verzichten, findet eine schleichende Positionsverbesserung der DDR statt.
Deswegen müssen wir in der prinzipiellen Frage der Nation — gerade auf Grund des Dissenses mit der DDR in dieser Frage — diese geistige Auseinandersetzung führen. Das Beispiel der KSZE hat doch bewiesen, welches Gewicht die Politik des Westens gewinnen kann, wenn sie öffentlich und gemeinsam durchgefochten wird. Auf die Deutschlandpolitik übertragen heißt das doch: Im Zweifel muß der öffentliche Weg gewählt werden, nicht das Taktieren einer Geheimdiplomatie à la Egon Bahr. Eine aufmerksame Offentlichkeit, eine kritische Begleitung und Gemeinsamkeit mit der Opposition, Herr Bundeskanzler, das kann schon eine wirkungsvolle Unterstützung für die Regierung darstellen. Publizität — das wissen Sie aus vielen Erfahrungen — ist ein wesentliches Druckmittel gegenüber einer Diktatur. Weil dies so ist, sollten wir die Publizität auch im eigenen Lande pflegen, um die eigene Bevölkerung vor kommunistischen Visionen und Vernebelungen zu bewahren.Das alles, meine Damen und Herren, hat — damit das klar ist — nichts mit dem Vorwurf kommunistischer Regierungen zu tun, der Westen mische sich in innere Angelegenheiten dieser Länder ein. Dieser Vorwurf ist nichts anderes als der vergebliche Versuch, die Unmenschlichkeit dieser Systeme den Augen der Weltöffentlichkeit zu entziehen. Verständigung gründet sich auf Verläßlichkeit und auf Eindeutigkeit des gegebenen Wortes. Gerade deshalb muß Eindeutigkeit in den Vereinbarungen und Verträgen mit der DDR unser Ziel sein. Wer Grundsätzliches regeln will, muß Klarheit im Grundsätzlichen vermitteln können. Die Toleranzgrenzen — Sie sprachen davon — und die Handlungsmöglichkeiten müssen dann — dies sei eingeräumt — natürlich kontrollierbar und kalkulierbar sein. Das heißt, Herr Bundeskanzler: Wir haben kaum etwas darüber erfahren, daß die Provokationen der DDR eine angemessene Reaktion erfahren müssen. Warum sollte die DDR nicht bei nächster Gelegenheit noch weitere Provokationen an den Tag legen, wenn sie ihren Handlungsspielraum immer wieder erst auslotet und dann ausweitet?
Natürlich: Dies ist ein schwieriges Feld, aber dennoch stehen Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung: auf wirtschaftlicher Ebene, auf der internationalen Ebene im Rahmen bestehender Gremien, auch im Rahmen der internationalen Offentlichkeit, auf der Ebene der innerdeutschen Verhandlungen. Ich glaube, Sie können mit der vollen Unterstützung des ganzen Hauses rechnen, wenn -die Bundesregierung die im Grundlagenvertrag formulierten Absichtserklärungen mit allem Nachdruck, ohne Wenn und Aber einfordert. Tun Sie das!
Ich sehe auch, daß deutschlandpolitische Fragen auf der Ebene internationaler Konferenzen zunehmend Gewicht bekommen: KSZE, MBFR, UNO, Europäischer Wirtschaftsrat. Überall dort besitzen die Verhandlungen auch einen deutschlandpolitischen Bezug, der sich nur allzu oft öffentlicher Aufmerksamkeit entzieht. Ich glaube, es ist eine Chance der Bundesregierung für die Bundesrepublik Deutschland, auf der multilateralen Ebene konzentriert darauf hinzuwirken, daß die deutsche Frage nicht abgekoppelt wird, sondern die Aktionsmöglichkeiten genutzt werden.
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12274 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. KohlDie DDR, meine Damen und Herren, ist dabei, ihre Position in zwei Bereichen vorrangig zu verbessern: in der Frage der deutschen Staatsbürgerschaft und beim Status Berlins. Es bedarf unserer ganzen Aufmerksamkeit, der Aufmerksamkeit aller politischen Kräfte, damit wir nicht aus vordergründiger Konfliktscheu wichtige Positionseinbußen, ja Statusveränderungen hinnehmen müssen.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß mit kurzfristigen Lösungen in der deutschen Frage nicht zu rechnen ist. Deutschlandpolitik ist ein geschichtlicher Auftrag, eine langfristige Alternative, nicht bloß kurzfristig oder gar wahltaktisches Kalkül. Sie verlangt von unserer Generation jenen langen Atem, der alle historischen Perioden der Geschichte prägte. Die Erfahrung, die geschichtliche Erfahrung vieler Völker hat bewiesen, daß Demokratien diesen langen Atem nur dann aufbringen, wenn Existenzfragen nicht in die kleine Münze der Tagespolitik, nicht in die kleine Münze parteipolitischer Taktik übersetzt werden.Herr Bundeskanzler, ich will ein zweites Kapitel ansprechen, das in Ihrer Rede in einer mir völlig unverständlichen Weise kaum seinen Niederschlag gefunden hat: die gegenwärtige Diskussion um die Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland.
— Ach, Herr Kollege, ich finde, Sie sollten in Ihren Zwischenrufen doch wenigstens dem Gegenstand, den wir diskutieren, gerecht werden. Ob Sie wirklich mehr von Energiepolitik verstehen, können Sie gleich beweisen, wenn Sie hier hergehen. Ich jedenfalls habe Ihre Stimme bisher vermißt, wenn es darum ging, die Sicherheit der Arbeitsplätze in der Bundesrepublik über eine vernünftige Energiepolitik zu sichern.
Herr Bundeskanzler, Sie sagten dieser Tage in einer öffentlichen Äußerung, daß die Frage einer ausreichenden Energieversorgung für die Zukunft und die Sicherheit der_ Bundesrepublik Deutschland zu einer Schicksalsfrage geworden sei. So ungefähr war es formuliert. Ich kann diesem Satz nur zustimmen. Sie haben in diesem Zusammenhang überhaupt kein Problem mit der CDU/CSU. In der Frage, daß die Energieausstattung der deutschen Wirtschaft eine Schicksalsfrage ist, gibt es bei uns keine Probleme. Sie selbst haben aber zur Verharmlosung der Probleme beigetragen, wie Sie das immer tun. Noch zu Beginn dieses Jahres — Sie haben die Neujahrsansprache heute erwähnt — haben Sie die Ereignisse im Iran -- damals war alles in voller Gärung — voller Beruhigung für den Bürger abgetan. Sie sagten, es gebe vorübergehende Störungen, die leicht behoben werden könnten. Gleichzeitig — dies gehört schon zum Bericht zur Lage der Nation — hören wir von einer BenzingutScheinaktion des Bundesministers für Wirtschaft für den Fall einer Rationierung. Heute sagt Graf Lambsdorff, ein Heizölengpaß sei durchaus möglich. Ein Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herr von Dohnanyi, redet von drastischen Einsparungen und Verboten, damit das Energiedilemma nicht zur Energiekatastrophe werde. Herr Graf Lambsdorff hat darauf klug geantwortet. Er meinte, es sei typisch für Sozialisten, daß ihnen außer Verboten nichts einfällt. Graf Lambsdorff, Sie haben völlig recht.
Ich frage mich nur, in welch einer Gesellschaft Sie sich bewegen, Herr Graf, wenn Sie dies in diesem Zusammenhang so sagen.
— Gnädige Frau, ich weiß, daß Sie sich in dieser Gesellschaft wohlfühlen. Das ist allgemein bekannt. Das braucht nicht mehr betont zu werden. Ich komme auch in diesem Zusamenhang nicht auf den Gedanken, daß das bei Ihnen aus der liberalen Überzeugung kommt. Auch das sei hier deutlich gesagt.
Die Frage nach einer ausreichenden künftigen Energieversorgung für die Bundesrepublik ist zu einer nationalen Frage geworden. In dieser entscheidenden nationalen Frage — so schien es — bestand ja auch Einigkeit zwischen den im Bundestag vertretenen Fraktionen: Erstens. Wir müssen zu Einsparungen im Energiebereich fähig sein. Zweitens. Wir wollen und müssen die heimische Kohle vorrangig nutzen.
Drittens. Wir müssen alternative nichtnukleare Energien entwickeln. Viertens. Auf den Ausbau der Kernenergie kann nicht verzichtet werden.Herr Kollege, zu Ihrem Zwischenruf: Ich habe Ihr Wort in Schleswig-Holstein vermißt, als Ihre Genossen den Bürger in einem Wählerbetrug sondergleichen täuschen wollten.
Herr Bundeskanzler, die eben hier vorgetragenen Zitate, die Ihre eigenen Fraktionskollegen offensichtlich nicht mehr kennen, waren ein wichtiger Bestandteil der Regierungserklärung vom 16. Dezember 1976. Wir haben dem ausdücklich zugestimmt. Sie haben in der zweiten Fortschreibung des Energieprogramms als selbst formulierte Verpflichtung hervorgehoben: Fortsetzung des Ausbaus der Kernkraft als vorrangiges Ziel der Energiepolitik der Bundesregierung. In diesen Tagen haben Sie in Hamburg leider erst nach der Wahl in Schleswig-Holstein — in einer beherzigenswerten Weise diese Worte noch einmal deutlich unterstrichen. Nach dem energiepolitischen Konzept der Bundesregierung heißt das konkret: knapp 20 000 Megawatt oder 16 Kernkraftwerke bis 1985. Die Taten sind ausgeblieben. Die Bürger wurden mit Worten abgespeist.Wie sind die Tatsachen? Der letzte Auftrag für ein neues Kernkraftwerk in der Bundesrepublik
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12275
Dr. Kohlstammt von 1975. Die letzte erste Teilerrichtungsgenehmigung stammt von Mitte 1977. Das ist in Wahrheit ein De-facto-Moratorium, das die Linken in der SPD, von einigen in der FDP unterstützt, erreichten, um einen Hebel für sozialistische Gesellschaftspolitik zu schaffen. Es können weder derzeit im Bau befindliche Kernkraftwerke fertiggestellt werden, noch können die für eine zukünftige ausreichende Energieversorgung unverzichtbaren weiteren Reaktorbauten in Angriff genommen werden. Ich weiß, daß Sie dies bis 1980 herunterspielen werden, aber ein Großteil Ihrer Wähler, der Arbeitnehmer, wird die Zeche für Ihre Feigheit und Ihren mangelnden Mut zu bezahlen haben.
Es ist ganz und gar töricht, daß dies überhaupt zu einer parteipolitischen Frage gemacht wurde; das ist eine Frage der Sachgerechtigkeit, der politischen Vernunft und des Verantwortungsbewußtseins im Sicherheitsbereich gegenüber unseren Bürgern. Während wir in eine solche Entwicklung auf Grund der mangelnden Kraft und der Entschlußlosigkeit der Bundesregierung und des Kanzlers hineinschlittern, fassen unsere Nachbarn ihre Beschlüsse mit Zustimmung kommunistischer Fraktionen im Parlament, mit Zustimmung der Sozialisten ohne Wenn und Aber. Denken Sie an die Entwicklung in der DDR und der CSSR oder vor allem auch an die in Frankreich! Bei jenem Energieprogramm, das die Franzosen aufgelegt haben, und bei dem, was sich bei uns entwickelt, kann gar kein Zweifel darüber bestehen, daß wir bis zum Ende dieses Jahrhunderts im industriellen Bereich gegenüber Frankreich zweitrangig werden, wenn jetzt nicht gehandelt wird.
Die Bundesregierung ist der Verpflichtung, ihr zweimal umgeschriebenes Programm in die Tat umzusetzen, nicht nachgekommen. Außer Reden wurde nahezu alles unterlassen, um hier zu der notwendigen Gemeinsamkeit zu kommen. Ich weiß, welches die Gründe dafür sind, aus denen Sie, Herr Bundeskanzler, auch nicht darüber gesprochen haben. Sie haben in dieser entscheidenden Frage in Ihrer Fraktion keine Mehrheit. Bei der FDP werden wir auf dem nächsten Bundesparteitag eine Neuauflage des Mainzer Parteitages erleben. Ich will Ihnen jetzt keine Blütenlese der Äußerungen aus den letzten Wochen vortragen; aber es ist einfach eine Wahrheit — Sie berühmen sich dessen als einer großen Tat —, daß es nur durch die Abstimmungsguillotine, die die FDP-Kabinettsmitglieder gegenüber ihrer eigenen Fraktion verhängt haben, möglich war, bei der Kalkar-Abstimmung eine Mehrheit zu bekommen.
Was jetzt in Schleswig-Holstein passiert ist, spottet wirklich jeder Beschreibung. Was waren das für Zustände? Wir gehen wie alle demokratischen Parteien in diesen Wahlkampf. Es passieren die bedrückenden Ereignisse in Harrisburg, die wir alle in ihren Konsequenzen durchdenken müssen. Keiner von uns wird sich dabei ausschließen wollen. Jeder weiß, daß die Erfahrungen von Harrisburg aufs sorgfältigste ausgewertet werden müssen und daß dann für unsere Reaktoranlagen die Frage geprüft werden muß, ob etwas zu ändern ist. Ich glaube, das kann gar nicht strittig sein. Herr Bundeskanzler, wir haben die ganze Zeit Ihre Energiepolitik unterstützt. Aber in dem Wahlkampf in Schleswig-Holstein erklärte Ihr Spitzenkandidat, dessen Plakat mit einer Aufnahme, die Sie gemeinsam mit ihm zeigte, an jeder Plakatsäule hing — „damit Helmut Schmidt es leichter hat, wählt diesen Herrn Matthiesen", hieß es dort —, schlank und einfach: Wenn er die Wahl gewinnt, gibt es keine Kernkraft in Schleswig-Holstein. Wo war denn eigentlich Ihre Stimme, Herr Bundeskanzler, bei diesen ungeheuren Vorgängen?
Wo war die Stimme des FDP-Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher, als Herr Ronneburger den gleichen Unsinn — anders kann man es nicht sagen —aussprach? Der einzige, der Mut bewiesen hat, waren Sie, Graf Lambsdorff; aber vermutlich .ist das die Abteilung, wo Sie etwas sagen dürfen. Auch das gehört natürlich in das Bild
Herr Bundeskanzler, Sie sind Hamburger Bürger und zu Recht auf Ihre hanseatische Herkunft stolz. Aber was sollen wir von einem Regierungschef, einem Bürgermeister, halten, der auf dem Stuhle von Max Brauer und Herbert Weichmann sitzt, wenn dieser Herr Klose im Wahlkampf nicht vor der Hamburger Wahl — denn dort hätten ihn die Industriearbeiter gefragt, wie er die Arbeitsplätze sichern will —, aber vor der Wahl in Schleswig-Holstein, erklärt, er brauche das Kernkraftwerk Brokdorf nicht, obwohl jeder weiß, daß die Hamburger Energieunternehmungen Hauptaktionäre und Hauptantragsteller in Brokdorf sind. Meine Damen und Herren, so können Sie mit der deutschen Offentlichkeit und mit der Glaubwürdigkeit Ihrer Politik nicht weiter umgehen.
Herr Bundeskanzler, es genügt nicht, daß wir uns im Kernenergierat streiten, ob Sie dies oder jenes gesagt haben. Wir erwarten, daß Sie draußen auf den Straßen und Plätzen und im Wahlkampf sagen: Herr Matthiesen, so können wir nicht miteinander umgehen. — Dann können sie eben nicht mit Ihrem Bild gemeinsam mit Herrn Matthiesen beim Wähler werben, wenn Sie eine völlig andere Politik vertreten als er. Das muß doch deutlich werden.
Man kann in dieser nationalen Frage nicht im Bund für ein Kernenergieprogramm und in den Ländern draußen dagegen sein. Noch viel, viel erbärmlicher ist es, zu sagen, nach dem Text des Gesetzes sei das Aufgabe der Landesregierung. Natür-
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12276 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. Kohllich steht das so im Gesetz. Nur werden wir diese Probleme nur gemeinsam lösen können. Ich habe es Ihnen immer wieder angeboten. Wir wollen in dieser Frage keine große Auseinandersetzung, weil sie für die Zukunft des Landes nur Verderbliches bringt. Aber Sie müssen jetzt handeln, Sie müssen den Mut haben, gemeinsam mit Herrn Genscher in Ihrer eigenen Partei für Ordnung zu sorgen und das Richtige zu tun.
Damit wir uns da ganz klar verstehen — ich sehe schon Ihre Replik voraus —: Hier geht es nicht um die Äußerung von irgend jemandem. Ich werfe ihnen wahrlich nicht vor, was diese oder jene Juso-Gruppe gesagt hat. Hier sind es ganze Landesverbände der SPD. Denken Sie an die Äußerungen aus Rheinland-Pfalz, denken Sie an die Äußerungen aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen! Hier sind es Leute, die bei Ihnen auf der Regierungsbank sitzen. Lesen Sie einmal nach, was Herr Staatsminister Wischnewski in Schleswig-Holstein gesagt hat, was der Bundesgeschäftsführer der SPD, Herr Bahr, gesagt hat! Das ist doch nicht irgend jemand. Das ist Meinungsbildung in der deutschen Offentlichkeit.Dementsprechend kann ich nur sagen: Bekennen Sie sich nicht nur zu Ihrer Verantwortung, sondern stehen Sie in Tat und Praxis dazu! Das ist eine der Voraussetzungen.
Meine Damen und Herren, ich will in dieser Frage noch einmal etwas sagen, und das ist ein Angebot an die SPD und die FDP. — Herr Wehner, es ist klar, wenn ich von Angebot rede, dann müssen Sie lachen, weil Sie gar nicht an einer Zusammenarbeit interessiert sind.
Sie sind daran interessiert, daß Gräben aufgerissen werden. Ich kann Ihnen nur sagen: Mit dieser Politik werden Sie möglicherweise gelegentlich Wahlen gewinnen können, aber für die Zukunft des Landes ist das eine verderbliche Politik. Das muß man deutlich sagen.
Herr Wehner, wenn Ihnen der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, der Vorsitzende der CDU, in dieser Woche, in dieser Debatte das Angebot macht: laßt uns bei all den Auseinandersetzungen der letzten Wochen hier eine neue gemeinsame Basis um der Zukunft, um der sozialen und wirtschaftlichen Existenz unseres Volkes willen herstellen — —
— Herr Kollege Wehner, ich kann nur sagen: esist schlimm, wie Sie in diesem Zusammenhang dieVerantwortung eines Parlamentariers sehen. Es tutmir leid, daß das Beispiel, das Sie in dieser Frage geben, ein so erbärmliches Beispiel ist.
Herr Bundeskanzler, Sie sprachen dann sehr entschieden und sehr ausgiebig über die Bevölkerungsentwicklung, über die Familienpolitik, über die Frage der jungen Generation. Ich finde es ganz und gar berechtigt, daß Sie dieses Thema in den gegenwärtigen Abschnitt unserer Gesamtpolitik hier einführen. Lassen Sie mich kurz hierauf eingehen.Wenn man über die Lage der Nation spricht, muß man über die Grundlagen der Nation sprechen. Wir müssen dann in diese Fragen alles einbeziehen, was sich auf die Grundlage auswirken kann und was langfristige Veränderungen bewirkt. Dazu gehört natürlich die jetzige Situation der Familie in hohem Maß.Die Grundvoraussetzung für die Wohlfahrt unseres Landes war bisher gegeben. Es ist der gemeinsamen Arbeit unseres Volkes, unserer Bürger in 30 Jahren gelungen, ein wirtschaftlich starkes und alles in allem stabiles Land aufzubauen. Daß wir inneren und äußeren Frieden hatten, fügte sich in dieses Bild.Wir müssen heute aus begründetem Anlaß fragen, ob alle diese Voraussetzungen noch für die Zukunft gesichert sind. Sehen Sie, Herr Bundeskanzler, die Art und Weise, wie Sie hier mit der demographischen Entwicklung, mit der Entwicklung der Geburtenrate in der Bundesrepublik umgegangen sind, halte ich für ganz und gar unerträglich. Das Problem darauf zu reduzieren, daß dann unsere Straßen leerer sein werden, ist in der Tat eines Bundeskanzlers unwürdig; um das klar und deutlich zu sagen.
Heute sind wir in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich mit den anderen Ländern der Welt das Land mit der niedrigsten Geburtenrate. In der Bundesrepublik kommen jährlich nur noch halb so viele Kinder zur Welt wie im Jahr 1964. Wenn sich dieser Trend so fortsetzt — ob er es tut, wissen Sie nicht und weiß ich nicht; und ich spreche auch gar nicht nur für die nächsten Jahrzehnte —, werden wir im ersten Viertel des kommenden Jahrhunderts rund 20 Millionen Bürger weniger haben.Herr Bundeskanzler, Sie werden nicht leugnen können, daß angesichts der Alterspyramide und der Gesamtentwicklung dies alles tiefgreifende Auswirkungen auf unsere Gesellschaft hat. Denn die im Erwerbsleben stehenden Bürger werden in Zukunft extreme Belastungen tragen müssen, um die soziale Sicherheit der dann Älteren zu gewährleisten. Es kann doch gar keine Rede davon sein, daß wir von der dann jungen Generation die Einlösung des Generationenvertrags erwarten können, wenn sie uns rückfragt: Was habt ihr eigentlich 1979/80
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12277
Dr. Kohlin Sachen Familienpolitik getan? Das war doch alles absehbar. Das war doch alles erkennbar.Es werden erhebliche Folgen für die Wirtschaftskraft unseres Landes auftreten. Bei einem anhaltenden Bevölkerungsrückgang werden ein empfindlicher Nachwuchsmangel und eine Überalterung 'der Erwerbstätigen mit den ohnehin schwierigen Problemen des wirtschaftlichen Strukturwandels zusammentreffen, die dann beinahe unlösbar werden. Das hat alles Auswirkungen auf die internationale Position unseres Volkes und unsere wirtschaftlichen, unsere militärischen und alle anderen Verpflichtungen.Herr Bundeskanzler, es stimmt: Der Rückgang der Geburtenzahlen ist eine Erscheinung, die man in allen hochentwickelten Industrieländern beobachten kann. Aber es muß uns doch aufrütteln, daß die Entwicklung in der Bundesrepublik überdeutlich macht, daß wir den stärksten Rückgang hinsichtlich der Bevölkerungszahl zu verzeichnen haben.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir sind das einzige Land in Westeuropa, dessen Regierung sich immer noch nicht dazu entschließen kann, die Bevölkerungspolitik als eine wichtige staatliche Aufgabe für die Zukunftssicherung zu begreifen. In allen anderen Ländern hat man längst erkannt, daß der Geburtenrückgang zu einem Problem allerersten Ranges werden muß, wenn er so stark wird, daß er auch einen merklichen Rückgang der Bevölkerung zur Folge hat.Wer sich, wie Sie es heute wieder getan haben, mit der vagen Hoffnung beruhigt, die belastenden und die entlastenden Wirkungen eines Bevölkerungsrückganges würden sich am Ende die Waage halten, arbeitet mit ungedeckten Wechseln. Sie müssen sich fragen lassen, ob das, was Sie heute zu diesem Thema gesagt haben, wirklich die Politik der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland ist. Es ist eine unverantwortliche Spekulation zu Lasten der eigenen Zukunft, die sich kein Volk rings um die Bundesrepublik leistet. In allen Ländern der Europäischen Gemeinschaft mit Ausnahme Luxemburgs — ich will die Zahlen gar nicht aufführen — wird auf diesem Feld mehr geleistet als bei uns.
Dann haben Sie ein Bild des Buben von früher und des Buben von heute entworfen, das volle Sympathie erwecken muß. Sie sprachen von dem Buben, der in Nachbars Garten Kirschen klaut und der das heute nicht mehr kann, weil es Nachbars Garten nicht mehr gibt. Aber, Herr Bundeskanzler, wer hat denn eigentlich diese regulierte Welt jahrelang propagiert?
Was haben Sie denn von diesem Pult aus im Blick auf die Wohnungsbaupolitik unseres verstorbenen Freundes Paul Lücke an Spott und Hohn ausgeschüttet?
In jenen Jahren — und wir sind doch beim Bericht „30 Jahre Bundesrepublik" — ist doch Paul Lücke als ein Mann verspottet worden, der das Land zersiedelt,
der eine Schrebergartenidylle verwirklicht. Und jetzt sprechen Sie von jener nachbarschaftlichen Gemeinsamkeit, in der einer dem anderen die Hand der Mitmenschlichkeit reicht.
Ja, was haben Sie denn in diesen letzten zwei .Jahrzehnten getan, um das überhaupt möglich zu machen?
Herr Bundeskanzler, wer sitzt denn in den Aufsichtsräten und den Führungsgremien großer deutscher Wohnungsbaugesellschaften, die für eine ganze Reihe solcher Baumaßnahmen verantwortlich sind?Ichgehöre nicht zu denen, die sagen, daß es hier eine Politik des Entweder-Oder gibt — es kann nur eine Politik des Sowohl-Als-auch geben —, aber ich wehre mich dagegen, daß es Ihnen inzwischen durchgeht, vor jedem Gremium das zu sagen, was die Leute gerade gerne hören; und danach folgt keine Tat.
Da gehen Sie zum Deutschen Städte- und Gemeindebund und prangern an, was für verbrecherische Taten es im Bereich der Verwaltungsreform gegeben hat. Sie schimpfen über Lahnstadt und anderes, aber Sie tun nichts dafür, daß dort der Bürgerwille durchgesetzt wird.
Da gehen Sie zum Deutschen Städtetag und sprechen über Bürokratie. Ja, Herr Bundeskanzler, lassen Sie sich doch einmal aufstapeln, was in Ihrer Amtszeit an Gesetzen und Verordnungen erlassen wurde. Es gab doch noch nie eine Regierung, die so schludrig gearbeitet hat, daß in der dritten Lesung gerade ein Gesetz verabschiedet wird und zugleich die Novelle vorbereitet wird. Das ist doch die Erfahrung, die die Kollegen hier täglich machen!
Da reden Sie davon, daß zuviel bevormundet wird; Sie sagen, die Kinder müßten ihren Ausflugsraum haben. Sehr einverstanden! Aber gerade bringen Sie ein Gesetz durch, mit dem in diesem Bereich weit über 10 000 neue Stellen geschaffen werden. Herr Bundeskanzler, dies alles ist doch Ihre Politik. Sie müssen sich allmählich wieder daran, gewöhnen, daß Sie als Sozialdemokrat gefragt werden: Sind Sie nun mit in der Haftung für Ihre Partei oder nicht?Wenn ich quer durch die Bundesrepublik fahre und — ich nehme noch einmal dieses Beispiel — neue Stadteile in bestimmten deutschen Großstädten sehe, kann ich nur sagen: Aus dem Geist der
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12278 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. Kohlchristlichen Demokraten sind diese Bauvorhaben ganz gewiß nicht entstanden.
Wenn man die Gesetzgebung, die Sie in diesem Zusammenhang betreiben, einmal betrachtet, muß man doch sagen: Es war Ihre Politik, die die Familien gesellschaftspolitisch und juristisch verunsichert, disqualifiziert und unter staatliche Kontrolle stellt,
die die kinderreiche Familie ins soziale Abseits abdrängt und alle Familien mit nur einem Einkommen sozial diskriminiert, die sich von einer Gesellschaftstheorie aus entwickelt, die die Familie als ein altertümliches Relikt betrachtet.Herr Bundeskanzler, ich laste Ihnen nicht jeden Unsinn an, der in Ihrer eigenen Partei von alt gewordenen Jusos — nicht von den Jusos selbst, sondern von alt gewordenen Jusos — niedergeschrieben wird, aber ich laste Ihnen an, daß Sie auch auf diesem Felde den Eindruck einer heilen Welt erwecken, wo doch diese Welt aus Ihrer politischen Ideologie heraus gestört wurde. Das ist doch die Erfahrung, die wir gemacht haben!
Wer von der allmählichen Ablösung der Familie durch alternative Formen der Partnerschaft ausgeht, wer so denkt, der nimmt doch eine Entwicklung in Kauf, bei der Kinder zu haben entweder ein privater Luxus wird oder aber die Bereitschaft zu einem Leben des Verzichts im sozialen Abseits verlangt.Herr Bundeskanzler, ich bin mit Ihnen unterwegs beim Bau einer kinderfreundlichen Gesellschaft. Das wäre eine schöne gemeinsame Aufgabe für alle deutschen Demokraten. Aber eine kinderfreundliche Gesellschaft werden wir nur haben, wenn es eine Entwicklung zu einer gesunden Familienpolitik gibt; denn die Voraussetzung des gesunden Staates ist die gesunde Familie.
Es gibt überhaupt nichts Kinderfreundlicheres, meine Damen und Herren, als eine intakte Familie. Das wissen Millionen in unserem Lande immer wieder zu bestätigen.
Das bedeutet doch, daß die staatliche Politik das überall dort, wo Gesetze gemacht werden, die den Bereich der Familie und der Kinder betreffen, sehen muß. Das gilt beispielsweise für die Schulpolitik. Ich sage das gar nicht nur im Blick auf ein Land oder auf eine Partei. Das gilt für die Schulpolitik in der Bundesrepublik generell. Wir müssen fragen, ob nicht zu viel an den Kindern und den Familien über die Schule experimentiert wurde und ob nicht dadurch Familienfrieden und Familiengemeinsamkeit in den letzten eineinhalb Jahrzehnten empfindlich gestört wurden.
Dann war da noch etwas: die Emanzipation der Frau. Sie haben da niemanden genannt. Aber da sind offensichtlich nach Ihrer Vorstellung dunkle Kräfte, die in der Geschichte wirksam sind, wieder am Werke, um die Emanzipation zurückzuschrauben. Ich weiß nicht, wen Sie meinen. Früher hätte ich daran gedacht — nicht bei Ihnen, aber bei anderen aus Ihrer Partei —, Sie könnten die Kirchen meinen. Aber nachdem Sie ein so leidenschaftliches Bekenntnis zu den Kirchen abgelegt haben, kommt mir dieser Gedanke nicht mehr. Ich weiß also nicht, wer gemeint ist. Ich habe aber die sichere Erwartung, daß wir spätestens zur Bundestagswahl 1980 wissen werden, wer gemeint ist. Weil ich diese Ahnung habe, will ich Sie jetzt gleich darauf ansprechen, Herr Bundeskanzler. Ich kenne niemanden, jedenfalls keine politisch relevante Kraft in der Bundesrepublik, der die Gleichberechtigung, die in unserem Grundgesetz verankert ist, nicht ganz und gar ernstnimmt. Ich kenne auch niemanden, der an dieser Entwicklung etwas zurückdrehen wollte. Ich glaube aber, daß wir uns alle fragen müssen, ob wir über das rechtlich Formale hinaus wirklich genug getan haben. Das ist nicht nur die Frage einer Partei, das ist unsere Frage. Wenn ich als Parteivorsitzender etwa sehe — ich sage das ganz offen —, welche Probleme sich für weibliche Kandidaten in unseren demokratischen Parteien stellen, dann müssen wir allesamt auf eine entsprechende Frage sehr zögerlich antworten. Ich weiß nicht, ob Sie da ein besseres Gewissen haben, als ich es habe. Aber Sie haben ja ein notorisch gutes Gewissen.
Ich bin der Meinung — und das sollte man hier wieder einmal aussprechen —, daß der Staat und die Politik kein Recht haben, sich in die private Entscheidung einer Frau einzumischen, ob sie berufstätig sein will oder nicht. Das ist ihre ganz persönliche private Entscheidung. Die hat sie mit sich und mit ihrer Familie auszumachen und mit sonst überhaupt niemandem.
Aber, meine Damen und Herren, es ist nicht nur Privatsache, wenn wir ein soziales Gefälle zwischen der berufstätigen Frau und der Hausfrau und Mutter sehen.
Ich will noch einmal deutlich aussprechen, was meine Freunde und Kollegen am letzten Donnerstag hier gesagt haben: Für uns hat der Beruf der Hausfrau und Mutter — ich meine jene Frau und Mutter, die zu Hause ist und z. B. drei Kinder für sich und ihren Mann großzieht — auch eine wichtige Funktion für die Gesamtgesellschaft.
Wir erwarten, daß die Politik, etwa im Bereich der sozialen Sicherung — und das ist die Vorstellung, die hinter der Forderung nach einem Familiengeld steht — das Notwendige tut.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12279
Dr. KohlHerr Bundeskanzler, ich stimme Ihnen in noch einem Punkte gern zu — vielleicht können Sie deshalb jetzt in umgekehrter Weise auch mir zustimmen —: Sie haben so freundlich von den Gewerkschaften und von der Wirtschaft gesprochen; einverstanden. In diesen 30 Jahren gab es da bedeutende Leistungen. Aber, ohne daß wir uns in die Tarifhoheit einmischen wollen, in der Frage der Gleichberechtigung gibt es noch einen unerträglichen Zustand. Das ist der Zustand, der durch die Existenz von Leichtlohngruppen gekennzeichnet ist, d. h., daß bei gleicher Arbeit nicht gleicher Lohn gewährt wird. Das ist nicht primär eine Sache der Politik. Aber wenn Sie als Bundesregierung im Blick auf die Gespräche mit den Gewerkschaften sagen „Laßt doch das jetzt endlich einmal als ein wichtiges Programm für die nächsten fünf Jahre anlaufen, damit am Ende dieser Periode Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam zu der Überzeugung kommen, daß Mann und Frau bei einer gleichen Arbeit den Anspruch auf gleichen Lohn haben", haben Sie einen entscheidenden Schritt für die Realisierung der Gleichberechtigung getan.
Die Frage, die sich stellt — wenn ich einmal die Lyrik Ihrer Ausführungen in Sachen Kinder weglasse —, Herr Bundeskanzler, heißt doch: Warum betreiben Sie regierungsamtlich eine Politik, die den Menschen eine Teilhabe am materiellen Wohlstand, Freizügigkeit Ihrer Lebensgestaltung und soziale Anerkennung nur dann gewährt, wenn sie sich von familiären Bindungen und Verpflichtungen möglichst frei halten? Das muß doch zwangsläufig Auswirkungen auf das Verhalten der heranwachsenden Generation haben.In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage Ihrer Fraktion zum Thema Jugendsekten spricht die Bundesregierung von tiefgreifenden Sozialisationsdefiziten in der jungen Generation, von einer existentiellen Verunsicherung, von übersteigerter Zukunftsangst, vom Unvermögen, soziale Konflikte befriedigend zu bewältigen. Herr Bundeskanzler, dies alles ist nicht von allein gekommen. Das ist ein weltweites Problem. Ich denke gar nicht daran, es nur der Bundesregierung in die Schuhe schieben zu wollen. Aber es ist auch ein wesentliches Problem unserer Bundesrepublik Deutschland: Drogensucht, Alkoholsucht, Anwachsen der Jugendsekten, steigende Kriminalitätsrate von Kindern und Jugendlichen — das sind Signale der Hilflosigkeit, der Hoffnungslosigkeit, der Resignation.Herr Bundeskanzler, dies ist eine Krise, in der das bloße Management versagt. Es ist eine Krise, der mit Finanzprogrammen und Datenanalysen und hurtigen Worten nicht beizukommen ist. Hier ist menschliches Verständnis, hier ist die sinnstiftende Kraft überzeugender Werte und Ideale gefragt. Hier kommt es auf eine Politik an, die nicht nur nach Macht, nach Wahldaten und Mehrheit schielt. Hier ist eine Politik gefragt, die eine Zukunftsvision enthält. Ich kann diese Vision in Ihrem Bericht nicht erkennen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mattick.
Mattick: : Frau Präsidentin!
Herr Abgeordneter, warten Sie einen Moment, bis sich die Damen und Herren gesetzt haben oder den Saal verlassen haben. Sonst kann man nicht reden. — Ich würde Sie herzlich bitten, dem Redner die Möglichkeit zum Sprechen zu geben, meine Damen und Herren.
Das Wort hat der Abgeordnete Mattick.. Ich bitte, Platz zu nehmen oder den Saal zu verlassen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Kohl hat die Diffamierungen, die in den letzten Tagen, insbesondere wohl auf Europawahl-Veranstaltungen, gegen einige Sozialdemokraten verkündet worden sind, hier heute in den Raum gebracht. Ich denke, es ist richtig, dazu einige Bemerkungen vorweg zu machen.Ich habe mir erlaubt, in die Vergangenheit zurückzuschauen, weil ich mehr und mehr den Eindruck habe, daß die Rechtsaußenseite dieses Hauses zuwenig von der Vergangenheit weiß
und sie daher gerne nacherleben möchte. Ich gehöre zu denen, die diese Vergangenheit miterlebt und miterlitten haben. Ich werde mich nicht mit viel Zitaten aufhalten, sondern nur ein Beispiel dessen geben, was ich meine. Der Oppositionsführer Dr. Kohl stellt fest: Wehner, Brandt begehen Verfassungsbruch
— ja, das hat in der Zeitung gestanden, und Sie haben das auch gesagt —, weil sie die Wiedervereinigung — das haben Sie hier ja im Grunde wiederholt, Sie haben das Wort sogar gebraucht — in den Vorstellungen der 50er Jahre in Frage stellen und davon ausgehen, daß die deutsche Frage nur in einer Überwindung der europäischen Spaltung, also in einem einheitlichen freien Europa mitgelöst werden kann.Herr Zimmermann stellt fest — das ist jetzt ein Zitat —Noch nie wurden dem Ziel der staatlichen Wiedervereinigung Deutschlands so ungeniert Absagen erteilt wie in diesen Tagen durch die SPD-Führer Wehner und Brandt.
Dies führt bis zu der Behauptung, daß die gesetzten Wegweiser dieselbe Richtung zeigen wie die des Kreml, nämlich in die Richtung einer finnlandisierten Bundesrepublik Deutsch-
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12280 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Mattickland, damit eines Staates, der seine Außenpolitik nach Moskaus Wünschen ausrichtet, insbesondere die Zugehörigkeit der DDR im östlichen Lager nicht mehr in Zweifel zieht. Was aber bewegt deutsche Politiker wie Brandt und Wehner, sich für sowjetische Ziele einzusetzen?
So weit Herr Zimmermann.Hätte er nicht besser seinen eigenen Boß fragen sollen, ob er ihn mit seinen bösen Bemerkungen nicht selbst desavouiert? Schließlich war es Strauß, der in einem Buch, das sich mit der Wiederherstellung der deutschen Einheit befaßt, als einer der ersten festgestellt hat, daß die deutsche Wiedervereinigung nur in einer gesamteuropäischen Erneuerung möglich sei. Das ist Jahre her. Und seine letzte Aussage können Sie in der „Bild-Zeitung" — wo sonst? — vom 23. April 1979 nachlesen. Strauß antwortet dem Interviewer auf die Frage „Was halten Sie selbst von der Wiedervereinigung?" :Ich glaube nicht an die Wiedervereinigung im Sinne einer Wiederherstellung des alten Deutschen Reiches. Das wiedervereinigte Deutschland muß eingebettet werden in eine Architektur der europäischen Einigung und kann nicht mit Gewalt hergestellt werden.So weit Herr Strauß.In diesem Zusammenhang ist die Feststellung von Herrn Professor Sontheimer, getroffen in der Wochenzeitung „Christ und Welt", sicherlich ganz interessant:Es ist kein Verfassungsbruch, — sagt Herr Sontheimer —wenn man dabei zu der Schlußfolgerung kommt, daß die alte Idee der Wiedervereinigung quer zu den politischen Realitäten steht und vielleicht anders gefüllt werden muß. Auch die Deutschlandexperten der Union— so Professor Sontheimer —sind sich wohl klar darüber, daß das Bestehen auf Norm die Wirklichkeit noch nicht geneigt macht, sich ihr zu fügen.So viel zu dieser Frage.Noch ein Wort zu einer Bemerkung Herrn Zimmermanns, die er bei der Beurteilung unserer Partei und unsers Handelns unter Verwendung des Begriffs „Finnlandisierung der Bundesrepublik" gemacht hat.
Ich finde es unerhört, daß einige Politiker und Journalisten in unserem Lande nicht den geringsten Respekt vor dem finnischen Volk haben, dessen Schicksal es ohne eigene Schuld ist, in einer besonderen machtpolitischen geographischen Lage für seine eigene Sicherheit sorgen zu müssen. Ich halte es für unerhört, daß der Name eines Volkes für den Vorwurf politischer Kapitulation mißbraucht wird.
Ich wünschte mir für das ganze deutsche Volk so viel Selbstbewußtsein, wie es das finnische Volk hat.
Die Vorstellung, die Herr Zimmermann mit die, Bemerkung verbindet, ist im übrigen auch eine Verleumdung der Bundesregierung und ihres Tuns. Bevor Sie weiter solche Bemerkungen machen, rate ich Ihnen, sich selbst einmal nach Finnland zu begeben und sich anzusehen, wie es dieses Volk mit seinem Selbstbewußtsein und seiner Politik versteht, seine Verteidigung zu sichern, seine Sicherheit ohne Kapitulation, ohne Nackenbeugung zu gewährleisten.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Nein.
Herr Kohl und Herr Zimmermann wissen, daß sich dieser kurze Satz „Brandt und Wehner betreiben Verfassungsbruch" — oder „Wortbruch" oder „Landesverrat" —, als Schlagzeile aus einer ihrer Reden entnommen, in irgendeiner Zeitung auf der ersten Seite publiziert, in viele Köpfe gedankenlos einschleicht und bei passender Gelegenheit, wo immer es möglich sein kann, mit dem Finger auf die beschimpften Personen gezeigt wird mit dem Ruf „Dies ist ein Landesverräter!".Herr Kohl, ich habe Sie jetzt angesprochen.
— Nein, Sie haben nicht zugehört. Ich will es noch einmal sagen: Herr Kohl und Herr Zimmermann, wenn Sie die Behauptung „Brandt und Wehner betreiben Verfassungsbruch" — „Wortbruch" und „Landesverrat" heißt es an einer anderen Stelle —, so kurz ausdrücken,
und in der Zeitung steht am nächsten Tag „Brandt und Wehner sind Verfassungsbrecher," dann können Sie erleben, daß sich dieser Satz in leichte Gehirne einnistet. Die Leute wissen gar nicht, warum diese Personen „Verfassungsbrecher" sind.
Aber diese Methode ist nicht neu. Ihre verheerenden Auswirkungen hat meine Generation aus der Weimarer Republik noch in bitterster Erinnerung. Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen aus diesem Grunde aus dem Nachlaß von Julius Leber seine Mahnung in Erinnerung rufe:Wir sprechen es frei aus: Die wahren Schuldigen, die wahren Verantwortlichen für diese Taten wohnen in den Straßen aller deutschen Städte, von wo aus Hetzpresse unverantwortliche Lüge und Verleumdung auf jeden politischen Gegner ausspritzt. Der Mord an Erzberger hat wie mit Blitzlicht die politische Lage in
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MattickDeutschland aufgehellt. Viele, zu viele haben die ehrabschneidenden Lügen gegen den württembergischen Volksmann Erzberger geglaubt. Die Ermordung ist die Folge. Die Schuld fällt auf die Hetzer. Das Opfer war ein christlicher Zentrumspolitiker. Das nächste Opfer war Walter Rathenau.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich warne davor: Ich unterstelle Herrn Kohl und Herrn Zimmermann bisher nicht die Absicht, den von mir angezeigten Weg selber gehen zu wollen. Aber ich sage Ihnen: Macht das Schule, werden bald die Gegner in diesem Hause in feindliche Lager getrennt sein, und dann ist ein Parlament nicht mehr fähig, seine Aufgabe zu erfüllen. Hier gilt die Lehre: Beim ersten Schritt ist man noch frei, beim zweiten ist man der Getriebene. Setzen Sie diese Art der Beschimpfung fort, dann sammeln sich hinter Ihnen die Kräfte, Herr Kohl, die Sie, so hoffe ich, selbst nicht rufen wollten.
Das heutige Thema lautet „Die Lage der Nation". Im Mittelpunkt der Nation befindet sich Berlin im geteilten Land, die geteilte ehemalige Hauptstadt. Der 30. Jahrestag der Blockade ist für uns Anlaß zum Rückblick. Das Ringen um Berlin begann am ersten Tag der Besetzung Berlins durch alle vier Mächte. Die Sowjetunion hat in ihrer Beziehung die Potsdamer Beschlüsse als eine kurze Übergangszeit betrachtet, in der Vorstellung, daß die Westmächte sehr bald genug haben von dem ewigen Gerangel um Berlin.In der Vorstellung der Sowjetrussen hieß es: Wer Berlin hat, hat Deutschland. Dem Volke Berlins ist damit von der Geschichte ein entscheidender nationaler Auftrag aufgeladen worden. Die sowjetische Besatzungsmacht hat drei entscheidende Versuche gemacht, um ganz Berlin unter ihre Macht zu bringen. Dies begann mit der Order an Pieck und Ulbricht, den Zusammenschluß von Kommunistischer Partei und Sozialdemokratischer Partei zu erzwingen. Dies gelang in der sowjetisch besetzten Zone in keiner Weise auf freiwilliger Basis, sondern durch brutalen physischen Druck, durch Verhaftungen und durch Entziehung aller Werbemittel für die sozialdemokratische Gegenposition. Vor den Toren Berlins wurde diese Zwangsvereinigung von den Sozialdemokraten blockiert. Nachdem die sowjetische Besatzungsmacht eine geheime Urabstimmung aller Sozialdemokraten im sowjetischen Bereich verboten hatte, konnten nur die Berliner in ihrem Bereich ein Zeichen setzen. Die Vorbereitung für die Urabstimmung im sowjetischen Sektor von Berlin wurde dann von der sowjetischen Besatzungsmacht am Tage vor der Abstimmung verboten; das Material in den Wahllokalen wurde beschlagnahmt. Deshalb konnte nur in den drei westlichen Sektoren Berlins die Urabstimmung erfolgen. Allerdings gelang es uns, einen großen Teil der sozialdemokratischen Mitglieder des Ostsektors in die Wahllokale der Westsektoren Berlins zu bringen. Das Votum gegen die Vereinigung mit der KPD war eindeutig. Die Schlußfolgerung ist berechtigt, daß dieses Ergebnis in der gesamten sowjetischen Zone das gleiche gewesen wäre.Diese Urabstimmung im März 1946 hatte noch einen anderen Aspekt. Obwohl die Viermächteverwaltung der Stadt durch die vier Siegermächte nach den Bestimmungen von Potsdam als einheitliches Ganzes wahrgenommen werden sollte, haben die Westmächte darauf verzichtet, sich im Ostsektor für die Aufrechterhaltung der Wahlvorbereitungen einzuschalten.Meine Schlußfolgerung für die damalige Zeit ist die, daß hier noch einmal deutlich geworden ist: Die Westmächte und die Sowjetunion haben sich von Anfang an gegenseitig in ihre Besatzungsgebiete nicht reinreden lassen. Das war ein stillschweigendes Übereinkommen. Dies war der erste Versuch der sowjetischen Besatzungsmacht, ganz Berlin in die sowjetisch besetzte Zone einzuordnen.Der zweite weit schwerer wiegende Versuch geschah im Zuge der Währungsreform, als die sowjetische Besatzungsmacht verhindern wollte, daß West-Berlin in das Währungsgebiet Westdeutschlands einbezogen wurde. Die Sowjets verhängten die Blockade in West-Berlin in der sicheren Überzeugung, daß ein verhungertes Berlin den kürzesten Atem haben würde. Die Willenskraft der Berliner Bevölkerung unter Führung von Ernst Reuter war die Voraussetzung für die Entschlossenheit des Generals Clay, die Zustimmung seiner Regierung und der westlichen Alliierten zum Aufbau einer Versorgungsluftbrücke zu erreichen. So behielt die Berliner Bevölkerung den längeren Atem. Auch dieser zweite Versuch der Sowjetunion, Berlin zu erobern, ist zum Scheitern gebracht worden.Meine Damen und Herren, jeder wird verstehen, wenn ich am 30. Jahrestag des Endes dieser Blokkade als Berliner auf diese Entwicklung mit einem gewissen Stolz hinweise.
Wenn man sich die Position Berlins von Anfang an noch vor Augen hält, versteht man besser die nationale Aufgabe, die sich ergab, und man versteht auch das Ringen um die se Stadt im Rahmen der gesamtdeutschen Politik.Zwischendurch kam dann 1953 in der sowjetisch besetzten Zone — damals war es schon die DDR — der Aufstand gegen die Ausbeutung. Auch dort wurde deutlich, daß die Westmächte im Grunde die Viermächteaufgabe für ganz Deutschland nicht wahrgenommen haben, sondern vielmehr die Vereinbarung zwischen der Sowjetunion und den Westmächten galt: Jeder bleibt in seinem Bereich. 1953 gab es ansonsten eine andere Gelegenheit, die ich geschichtlich nicht noch einmal ausmalen möchte.Der dritte Versuch war dann 1958 das Chruschtschow-Ultimatum an die Westmächte und die Bundesregierung, den Rückzug aus Berlin anzutreten, um Berlin in eine freie Stadt umzuwandeln. Wa-
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Mattickren die ersten beiden Versuche der sowjetischen Besatzungsmacht offensive Positionen, so war dieses Ultimatum mehr aus der defensiven Position der sowjetischen Besatzungsmacht in der DDR zu sehen. Das soziale Gefälle zwischen den beiden Teilen Deutschlands und damit den beiden Teilen Berlins mit der gleichzeitigen politischen Zuspitzung zu einer harten Diktatur brachte die Gefahr der Ausblutung für die DDR mit sich. Die Bürger wanderten in Scharen aus dem sowjetischen Teil Deutschlands und Ost-Berlin.Ich will mir eine eingehende Schilderung dieser Vorgänge ersparen. Ich will nur daran erinnern, daß dieses Ultimatum in den Reihen der Unternehmer in Berlin eine Schockwirkung auslöste. Einige Betriebe sind nie zurückgekehrt.In diesem Abschnitt hing der Frieden — meine Damen und Herren, das wissen nicht viele — nur noch an einem sehr dünnen Faden. Aber ich halte es für richtig, daß wir uns heute erinnern, mit welcher Härte und Ausdauer Präsident Kennedy den Krieg sowie die Kapitulation verhinderte.Meine Damen und Herren, diese Erinnerungen sind notwendig, um einigermaßen zu wissen, was der Kampf um Berlin seit dem Zusammenbruch für die Berliner bedeutet hat. Ich will jetzt nicht von der tiefen Sorge der Regierungschefs Otto Suhr und Willy Brandt reden, die Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Bundesregierungen zu führen hatten, um die ausreichende materielle Hilfe für Berlin sicherzustellen. Wir haben der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion unter Führung von Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer dabei viel zu danken.Wenn auch das Ultimatum durch Kennedy quasi blockiert wurde, dauerten die Spannungen mit wechselnder Stärke unentwegt an, denn der Flüchtlingsstrom aus der DDR nahm zu. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion spürte damals, daß es kaum noch eine Chance gab, die Spannungen durch eine solide Entwicklung abzubauen. In diesem Sinne hielt Herbert Wehner am 30. Juni 1960 die geschichtliche Rede mit dem Grundthema, gemeinsam zu retten, was noch zu retten ist. Die damaligen Regierungsparteien glaubten auf die Rede von Herbert Wehner nicht eingehen zu müssen. Sie schlitterten auf den, 13. August 1961, auf den Bau der Mauer, zu — initiativlos und hilflos zugleich.Wiederum war die Berliner Bevölkerung an einem Wendepunkt, der sie vor die Frage stellte: Hat es noch einen Sinn, in dieser Stadt zu bleiben? Es dauerte dann noch zehn Jahre, bevor — durch die Große Koalition vorbereitet — die erste sozialliberale Koalition gegen den Willen der Opposition eine Neuorientierung des Verhältnisses zur DDR und zur Sowjetunion eingeleitet hat, die nicht nur realistischer, sondern auch tragfähiger war.Nachdem die westlichen Verbündeten im Rahmen der NATO und bei anderen Gelegenheiten ihre Gesprächsbereitschaft und Entspannungsbereitschaft verdeutlicht hatten, formulierten, die Staaten des Warschauer Pakts am 17. März 1969 jenen Budapester Appell, der bemerkenswerte Veränderungen der östlichen Deutschlandpolitik signalisierte.Eine der Hauptvoraussetzungen für die Gewährleistung der europäischen Sicherheit ist die Unantastbarkeit der in Europa bestehenden Grenzen,— so heißt es in diesem Budapester Appell —darunter der Oder-Neiße-Linie sowie der Grenze zwischen der DDR und der westdeutschen Bundesrepublik, die Anerkennung der Existenz der DDR und der westdeutschen Bundesrepublik, der Verzicht der westdeutschen Bundesrepublik auf ihren Anspruch, das ganze deutsche Volk zu vertreten, und ihr Verzicht auf Verfügungsgewalt über Kernwaffen in jeder Form.West-Berlin hat da einen besonderen Status und gehört nicht zu Westdeutschland. Von der zuvor geforderten besonderen politischen Einheit Berlins steht nichts mehr darin; von der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR wird auch nichts mehr erwähnt. Kein Wort mehr von der revanchistischen militärischen Bundesrepublik. . Die Erfüllung der Forderungen ist auch nicht mehr die Voraussetzung für die Aufnahme der Verhandlungen. Es ist das historische Verdienst des damaligen Bundesaußenministers Willy Brandt, daß er bereits am 19. März 1969 positiv reagierte. Er hat den Gedanken der KSZE begrüßt und damit deutlich gemacht, daß die Bundesrepublik von sich aus bereit sei, einen aktiven Beitrag zur Entspannung zu leisten.Die Bildung der sozialliberalen Regierung Brandt/Scheel eröffnete dann im Herbst 1969 die Möglichkeit, die neue Ostpolitik zum Regierungsprogramm zu machen. Die neue Opposition, meine Damen und Herren, sah in diesem Schritt riesengroße Gefahren auf die Bundesrepublik Deutschland zukommen. Viele in diesem Hause erinnern sich sicher noch jener eindrucksvollen letzten Rede des Abgeordneten Freiherr von und zu Guttenberg, in der dieser am 27. Mai 1970 — seiner tiefen Überzeugung Ausdruck gebend — beschwörend eine Reihe von Befürchtungen darlegte, die aus der Sicht der CDU eine notwendige Folge del Ostpolitik sein müßten. Diese Befürchtungen lauteten, kurz gefaßt, wie folgt:Erstens. Die deutsche Frage werde nicht mehr offengehalten. Das war die erste Formel des Freiherrn von und zu Guttenberg, ausgesprochen im Auftrag seiner Fraktion. — Die Tatsache daß heute noch drüben diskutiert wird, bezeugt das Gegenteil: Die deutsche Frage ist offengehalten, Beziehungen zwischen beiden Teilen Deutschlands sind entstanden.Die zweite Bemerkung des Freiherrn von und zu Guttenberg lautete: Die Bindungen zu Berlin würden gelöst, eine Feststellung der Fraktion der CDU angesichts dessen, was wir vorhatten und durchgeführt haben. — Die Bindungen, meine Damen und Herren, wurden nicht gelöst, sondern sie wurden vielmehr gestärkt und international abgesichert.
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MattickDie dritte Bemerkung des Freiherrn von und zu Guttenberg war die: Die Berlin-Frage könne nur vor dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Vertrages gelöst werden. — Das Viermächteabkommen wurde nach Abschluß des deutsch-sowjetischen Vertrages erfolgreich abgeschlossen. Gelöst werden kann die Berlin-Frage nur im Rahmen der Lösung der Deutschlandfrage, sage ich.Vierte Behauptung des Freiherrn von und zu Guttenberg: Normalisierung der Beziehungen bedeute für die Sowjetunion die Unterwerfung der Bundesrepublik unter den sowjetischen Machtwillen. — Wir haben keinen Schritt zur Unterwerfung unter den sowjetischen Machtwillen getan.Fünftens: Die Sowjetunion wolle keinen wirksamen Gewaltverzicht aussprechen. — Die Sowjetunion hat den Gewaltverzicht ausgesprochen.Sechstens: Der Schutz der NATO werde zerbrökkeln, und die Sowjetunion könne dann die Vorherrschaft über Europa antreten. — Der Schutz der NATO ist nicht zerbröckelt. Die NATO ist fester und stabiler geworden.Siebtens: Das Deutschlandkonzept des Westens werde aufgegeben und in jenes der Sowjetunion eingehen. — Das sowjetische Deutschlandkonzept wurde nicht übernommen.Achtens: In Amerika würden viele fragen: Wozu noch amerikanische Truppen in Europa? — Die Parole„Weg von Europa!" ist in Amerika nie laut geworden. Das Gegenteil ist eingetreten: Der Zusammenhalt ist besser, sicherer geworden. Diese Vorhersage der CDU-Fraktion wie auch alle anderen bisher von mir verlesenen Voraussagen treffen auf Grund falscher Einschätzung nicht zu.Die neunte Feststellung der CDU-Fraktion lautete: Der Wind werde sich in Europa zugunsten der Sowjetunion drehen. — Der Wind bläst nicht zugunsten der Sowjetunion.Zehnte Voraussage: Die Friedensstörer, deren letztes Opfer die Tschechoslowakei war, würden in ihrer Politik bestärkt. — Dies ist nicht eingetreten.Elftens: In der Bundesrepublik werde im Bewußtsein des Volkes eine geistig-moralische Verwirrung gestiftet und die Grenze zwischen demokratischer Rechtsstaatlichkeit und totalitärem Verbrecherregime verwischt. — Das Gespür für die Erhaltung des Rechtsstaates ist eher gestärkt worden.Das waren elf Behauptungen, die Herr von Guttenberg im Namen der CDU/CSU-Fraktion vor zehn Jahren hier im Bundestag aufgestellt hat. Ist es nicht an der Zeit, meine Damen und Herren von der CDU und der CSU, zu diesen Behauptungen aus heutiger Sicht Stellung zu nehmen und einmal zu überprüfen, wie sich eine so große Fraktion — vielleicht nur aus dem Grunde, weil sie sich in der Opposition befand und nicht selbst handeln konnte? —, die mit uns auf dem gleichen demokratischen Boden stehen will, in der Einschätzung der Auswirkungen der Politik, die von der sozialliberalen Koalition betrieben worden ist, so verschätzen kann? Ich bitte darum, daß uns auf diese Frage eine Antwort gegeben wird.
Willy Brandt hat damals kurz darauf geantwortet, und zwar wie folgt. Erstens: Ergänzung des Schutzes der NATO durch Politik der aktiven Koexistenz. Zweitens: Keine kurzfristige Lösung der Probleme. Drittens: Wir bemühen uns um einen Zuwachs an Sicherheit und an Möglichkeiten der friedlichen Zusammenarbeit. Viertens: Positive Auswirkung auf Berlin. Fünftens: Das Gleichgewicht in Europa wird nicht gestört.Was Willy Brandt vorausgesagt hat, ist eingetreten. Ich bitte noch einmal: Es ist an der Zeit, daß die CDU/CSU an diese Auseinandersetzung damals hier im Hause, als Ihr von uns hochgeschätzter Kollege von Guttenberg die letzte Rede gehalten hat, anknüpft. Von dem Kollegen von Guttenberg aus war das ein Vermächtnis. Sie hätten die Pflicht gehabt, irgendwann darauf zurückzukommen. Sie hätten den Vorwurf gegenüber der sozialliberalen Koalition nicht im Raume stehen lassen dürfen, der da lautet: Ihr betreibt eine Politik, die die deutsche Bundesrepublik im Grunde genommen an den Rand des Abgrunds bringt. — Ich habe die elf Punkte hier aufgeführt. Nun stehen Sie hier Rede und Antwort, ob eine der elf Behauptungen sich als richtig erwiesen hat und ob es der Bundesrepublik heute schlechter geht als 1970! Darauf möchten wir eine Antwort haben.
Wo bleiben die Initiativen der CDU/CSU? Für Sie sind die KSZE-Dokumente, gegen deren Verabschiedung Sie sich auch ausgesprochen haben, nur ein Vehikel für Forderungen an die östliche Seite, die in Ihr ostpolitisches Konzept passen. Wo bleiben die Ideen der CDU/CSU zur Vertiefung der Zusammenarbeit? Ist, der Grund dafür, daß wir von Ihnen nichts hören, der, daß Ihnen nach wie vor die ganze Richtung nicht paßt, weil nicht Sie für die Politik die Verantwortung trugen, sondern die sozialliberale Koalition in den letzten zehn Jahren der Bundesrepublik eine völlig neue internationale Position gegeben hat? Das Verhältnis zu den Ostblockländern hat sich in einer Weise entwickelt, die wir nur begrüßen können. Damit ist für Europa eine völlig neue Entwicklung eingeleitet worden. Können Sie das nicht einsehen? Können nicht auch Sie einmal Ihren 30. Juni 1960 ansteuern und prüfen, ob es nicht an der Zeit ist, zu sagen: Wir haben uns geirrt; als wir Ihre Politik Anfang der 70er Jahre blockieren wollten, haben wir uns geirrt? Sie könnten sagen: Unsere Einschätzung war falsch; das veranlaßt uns zur Gemeinsamkeit.Herr Kohl hat hier heute nun viel von Gemeinsamkeit gesprochen. Wenn ich mir seine Rede noch einmal vor Augen halte, stelle ich allerdings fest, daß er sich im Kreise gedreht hat. Er hat im Grunde genommen uns anklagen wollen und dabei vergessen, wer damit in der Berlin- und Deutschlandfrage zugleich mit angeklagt ist. Diese Ankla-
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Mattickge galt dann zumindest auch Herrn Strauß und einigen, die sich gleichermaßen geäußert haben.Es wird Zeit, daß die CDU/CSU zur Besinnung kommt. Ich komme noch einmal auf meine letzte einleitende Bemerkung zurück. Wenn diese Art der Auseinandersetzung auf der Basis von Ausdrücken wie „Landesverräter" und „Verfassungsbrecher", wenn solche Formulierungen in den Sprachgebrauch der Politiker untereinander Eingang finden, dann wird dieses Parlament bald nicht mehr von einer gemeinsamen Grundhaltung ausgehen. Da ich die Entwicklung der Weimarer Republik miterlebt habe, warne ich davor. Ich bitte darum, das so ohne Polemik ernst zu nehmen; Sie haben heute bei meinen Bemerkungen noch kein polemisches Wort gefunden.In Helsinki hat kein osteuropäischer Staat versprochen — auch dies möchte ich deutlich machen —, von nun an den westlichen Idealen von Freiheit und Menschlichkeit nachzueifern. Das muß uns auch in der Zukunft klar bleiben. Vieles, was geschrieben steht, sind Absichtserklärungen — ich setze hinzu — mit Zeitzünder. Aber in Helsinki haben sich alle bereit erklärt, nicht nur auf der Ebene der Regierungen die Zusammenarbeit zu suchen, sondern in allen Dingen für die Bürger in den beteiligten Ländern den Freiraum zu schaffen, der zur Voraussetzung der Menschenwürde gehört.Hier begegnen osteuropäische Staaten inneren Problemen. Ich bitte, Verständnis dafür zu haben, daß ich versuche, etwas zu erklären. Dies ist keine Pro- oder Kontraposition. Aber uns bedrückt und erfüllt mit Sorge der Umgang mit dem politisch Andersdenkenden. Jeder Europäer wird verstehen, daß uns in diesem Zusammenhang besonders das Schicksal der Deutschen nahegeht, die von uns getrennt in einem anderen Staat leben. Dieses Solidaritätsgefühl wird uns keine Macht in dieser Welt rauben können.Es ist daher verständlich, daß die deutsche Offentlichkeit protestiert, wenn sie hört, wie die Regierung der DDR auf eine Fernseherklärung von Stefan Heym reagiert und den Korrespondenten des ZDF zur sofortigen Ausreise zwingt. Meine Vermutung ist es, daß die besagte Erklärung Heyms die DDR-Führung in einer besonders kritischen Situation und an einer besonders kritischen Stelle getroffen hat. Nun ist es uns allen klar, daß das System in der DDR nicht auf einem soliden Boden steht. Dennoch muß auch die Regierung der DDR einmal zur Kenntnis nehmen, daß die Tendenz zu zivilisiertem Umgang mit dem Andersdenkenden auf die Dauer auch nicht an ihr vorübergehen kann. Bei diesen Leuten handelt es sich nicht um Gegner, die die herrschende Grundordnung stürzen wollen, und doch reagiert man in Ost-Berlin so empfindlich. Wie schwach muß sich eine Regierung fühlen, wenn sie nicht einmal überzeugte Kommunisten, wie Stefan Heym und Robert Have-mann, ertragen kann, die sich kritisch äußern und damit zum Ausdruck bringen, daß sich die Erwartungen, die sie selbst gegenüber dem Staat hatten, nicht erfüllt haben?Die Regierung der DDR muß wissen, daß sie mit solcher Haltung in der deutschen Offentlichkeit — ich sage: in der deutschen Offentlichkeit — die Bereitschaft zur Zusammenarbeit nicht fördert. Ich meine, was auch immer geschieht, so muß es immer unser Bemühen sein, die Zusammenarbeit zu fördern; denn nur mit der Förderung dieser Zusammenarbeit kann auch in der DDR unter Umständen die Solidität zunehmen. Die Regierung der DDR muß wissen, daß sie damit die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten belastet.In unserem Staat ist die Presse frei. Die Bundesregierung hat keine Handhabe, Journalisten vorzuschreiben, was sie publizieren, und wir wollen dies auch nicht.Lassen Sie mich zum Schluß noch einige Bemerkungen zu der Position der Kommunisten in unserem Land anfügen. Es war für mich immer ein erstaunlicher Vorgang, daß die heutigen Oppositionsparteien schon früher immer so taten, als ob das deutsche Volk so anfällig für kommunistische Ideologien sei, daß wir ständig in der Gefahr der kommunistischen Unterwanderung leben.
— Das kann ich Ihnen auch belegen, Herr Kohl. Die Unterwanderungsdebatte ist doch eine ständige Debatte von Ihnen aus gewesen. In Wirklichkeit befinden sich die Kommunisten in unserem Land sowie in dem größten Teil des europäischen Nordens und Westens in der ideologischen Defensive. Überall, wo starke sozialdemokratische Parteien die Politik des jeweiligen Landes mitgestalten, auch wenn das nach parlamentarischem Brauch mit Unterbrechungen geschieht, haben die Kommunisten keine Chance mehr, ihre Basis zu erweitern und zu einer ideologischen Gefahr zu werden.
Entscheidend für diesen Prozeß war die Tatsache, daß die kommunistischen Regierungen nicht in der Lage waren, nach dem Zweiten Weltkrieg im sozialen Wettbewerb den Demokratien in Europa standzuhalten. Das wiederum hätte aber nicht diese Auswirkungen gehabt, wenn es die moderne Information über Fernsehen und Rundfunk den kommunistischen Regierungen heute nicht weit, weit schwerer machte als zu der Zeit, da Völker wie das russische Volk noch informationsisoliert waren und nicht wußten, wie es in der übrigen Welt aussieht.Für mich ist es eine nicht mehr erklärbare Tatsache, daß die Regierung der DDR noch nicht begriffen hat, wie wenig es heute möglich ist, das eigene Volk von internationalen Informationen fernzuhalten. Denn wie anders ist es zu verstehen, wenn die DDR glaubt, mit ihren Maßnahmen gegen die westdeutschen und anderen Korrespondenten ihr eigenes Volk vor der Wahrheit und Wirklichkeit schützen zu müssen? Die Kommunisten in Europa müssen sich darüber im klaren sein, daß das System auf die Dauer nicht funktionieren kann, wenn
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Mattickdie Information im eigenen Land und die Wirklichkeit im Weltbild so weit auseinanderklaffen, wie es im Augenblick in den kommunistischen Staaten der Fall ist.Meine Damen und Herren, unser Bemühen muß dem Ziel dienen, durch internationale Entwicklung den Frieden zur Grundlage für das Leben der Völker im Innern wie im Äußeren zu erreichen. Dem dient unsere Politik.
Meine Damen und Herren, obwohl wir mit dem nächsten Redner etwas in die Mittagspause hineinkommen, erteile ich Herrn Abgeordneten Hoppe das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bericht des Bundeskanzlers zur Lage der Nation war eine nüchterne, kritische und auch selbstkritische Gesamtschau der deutschen Situation. Der Bericht hat die notwendigen Orientierungsdaten für das Ringen um die richtigen Entscheidungen der in Deutschland anstehenden Tagesfragen geliefert. Wir danken deshalb für diesen Bericht, der keinen nationalen und internationalen Aspekt vernachlässigt hat. Er hat auch zutreffend gezeigt, wie eng unser Handlungsspielraum in den elementaren nationalen Fragen tatsächlich ist. Diese Erkenntnis, so will mir scheinen, möchte die Opposition einfach nicht akzeptieren. Meine Damen und Herren, aber Pathos hilft hier nicht weiter. Deshalb hat sich die Rede des Bundeskanzlers so wohltuend vom Auftritt des Oppositionsführers unterschieden.
Helmut Kohl gerät das Thema doch immer wieder zu einer dramatischen Polit-Arie. Dann, meine Damen und Herren, habe ich schon lieber eine Feierstunde! Die schwierigen Fragen der deutschen Politik verlangen gezügelte Emotionen und einen klaren Kopf.Nun ist in dem Disput zwischen dem Bundeskanzler und dem Oppostionsführer — jedenfalls Noch-Oppostitionsführer —
die Energiepolitik zu einem wichtigen Aspekt geworden. Ich darf zu dem Gebiet allerdings sagen, daß nach meiner Beurteilung bislang allein die Bundesregierung auf einem klaren Kurs geblieben ist, und das, wie mir scheint, in eindrucksvoller Geschlossenheit. Dagegen hat die Opposition zunächst forsch agiert. Jetzt schwenkt sie auf Besinnlich um. Nun will auch sie diese Politik mit dem Bürger und nicht gegen den Bürger durchsetzen.Ein Wort an Sie, Herr Kohl: Wenn Sie in diesem Zusammenhang wieder das Attribut „erbärmlich" benutzen, dann ist es in diesem Augenblick auf Sie selbst zurückgefallen.
Denn Hans-Dietrich Genscher in dieser Frage ins Zwielicht ziehen zu wollen ist einfach mies. Seine Haltung war klar und hat keinen Anlaß zu Zweifeln geboten. Gerade die harte, aber demokratisch geführte Auseinandersetzung in der Freien Demokratischen Partei und in unserer Fraktion hat das, wie mir scheint, für jeden, der es sehen wollte, in eindrucksvoller Weise demonstriert. Und im Wahlkampf in Schleswig-Holstein konnte sich Hans-Dietrich Genscher wegen einer Erkrankung leider nicht zu Wort melden. Wir haben das bitter zu spüren bekommen, und Herr Stoltenberg hat es sicher als Erleichterung empfunden. Aber diesen Mann dann dafür zu schmähen, Herr Kohl, ist ein böser Mißgriff.
Und, meine Damen und Herren von der Opposition, Graf Lambsdorff brauchen Sie die Energie-Nische als politisches Betätigungsfeld wahrlich nicht zuzuweisen. Der läßt sich wie Sie genau wissen, bestimmt nicht einsperren und auch ganz bestimmt nicht den Mund verbieten.
Denn er ist nun einmal kein Schmalspurpolitiker. Er hat sich ja denn auch — und Sie, Herr Kohl, mußten das hier bestätigen — in Schleswig-Holstein für die Partei unmißverständlich zu Wort gemeldet.
Lassen Sie deshalb doch diese Anrempeleien!Energiepolitik wird uns Tag für Tag und Woche für Woche beschäftigen. Dieses Thema läßt uns nicht mehr los. Ich kann nur hoffen, daß wir diese Aufgabe mit Anstand bewältigen.Heute möchte ich meine Energien gern bevorzugt für die Auseinandersetzung mit den deutschlandpolitischen Problemen im engeren Sinn einsetzen. Die deutsche Frage ist, meine ich, in jüngster Zeit zunehmend aktuell, ja virulent geworden. Ich denke dabei nicht so sehr an die etwas zwirnsfädige Diskussion über das Wort Wiedervereinigung. Der praktische Nutzen dieser Diskussion ist gleich Null.Nein; weit, interessanter ist da schon zu sehen, wie dieses Thema von Künstlern, besonders Schriftstellern, in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland angepackt wird. Wo in den 50er und 60er Jahren eher ein Auseinanderdriften zu bemerken war — der Herr Bundeskanzler hat in seinem Bericht davon gesprochen —, damals besorgt als Erscheinung zweier deutscher Literaturen beschrieben, hat sich in den letzten Jahren eine geradezu sensationelle Umkehrung vollzogen. Oder ist diese Entscheidung vielleicht doch gar nicht so sensationell? Es gibt — um Professor Hans Maier zu zitieren — hier eine neue Konvergenz. Hier wie dort
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12286 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Hoppewird das sensibilisierte Ich gepflegt, hat die Auseinandersetzung mit Dogmen und Ismen eingesetzt; das Individuum wird gegen das Kollektiv gestellt, und die subjektiven Empfindungen von der deutschen Gegenwart gewinnen allmählich politische Dimension.Niemand wird behaupten, daß solche Geistesströmungen nicht weiter wichtig zu nehmen wären. Sie sind es, wie mir scheint, sehr wohl, und sie sind um so wirkungsvoller, je stärker sie das Bewußtsein und das Gefühl der Deutschen in Ost und West ansprechen. Es ist ja kein Zufall, daß wir besonders in den letzten Jahren eine so allergische Abwehrreaktion der DDR-Führung gegen diese neuen Tendenzen erleben. Gerade in autoritären und totalitären Staaten wird rigoros jede Regung erstickt, die von den Herrschenden als bedrohlich empfunden wird. Insofern zieht sich ein roter Faden von Heine und Börne bis Havemann, Biermann und Bahro; und diese drei Letztgenannten stehen stellvertretend für viele, auch für viele Namenlose, in der DDR. Nun nenne ich noch Stefan Heym, der „des ewigen Rundlaufs um den heißen Brei müde" ist und offen -von dem „erstickenden Ring" redet, den die Vergangenheit der DDR um die Gegenwart spannt.Es reicht nicht, über solche mutigen Worte zu frohlocken. Was von den Literaten hierzulande zur deutschen Gegenwart angemerkt wird, muß uns genauso nachdenklich machen. Auch in diesem Teil Deutschlands dominiert nach dem Enthusiasmus der späten 60er Jahre nun der Zungenschlag der Resignation. Es wird viel von Ängsten geschrieben, von den Gefühlen der Beziehungslosigkeit und des Kommunikationsmangels; Irritation ist die Antwort auf die Folgen sogenannter technischer und wirtschaftlicher Zwänge.Diese vielfältig dargebotene Momentaufnahme eines Lebensgefühls geht uns Politiker doch wohl auch sehr an. Man muß fragen: Hat sich die Politik etwa zu weit entfernt von den alltäglichen Sorgen, Freuden und Fragen der Bürger, gerade von jenen der heranwachsenden Generation? Machen wir uns überhaupt noch richtig verständlich? Und vor allem: Sind wir wach und aufgeschlossen für allmählich aufkeimende Probleme in der Gesellschaft, für Neues, für Gärendes und auch für Bedrückendes?Hierfür ein Beispiel: Wie konnte es eigentlich zu dem „Klima der Ressentiments" kommen, von dem Max Frisch einmal gesprochen hat, und was haben wir — auch wir hier im Parlament — getan, um den Zustand zu überwinden, um diese Zustandsbeschreibung als falsch darzutun? Mir scheint, verteifelt wenig. Nicht auf Abbau von Ressentiments, sondern eher auf ihre weitere Verstärkung schienen häufig unsere Aktionen gerichtet. Immer weniger wird um das gesicherte Urteil gerungen; vielmehr bestimmen die grobklotzigen Vorurteile unsere Debatten. Die familienpolitische Aussprache am vergangene Donnerstag steht hier für eine große Zahl ähnlicher Fehlleistungen. Sie alle zeugen eher von der Absicht, Andersdenkende zu verteufeln, als von dem Bemühen, vernünftige Lösungen im Disput miteinander zu finden.Das gleiche gilt für die Auseinandersetzungen in der Deutschlandpolitik. In Wahrheit sind die Gegensätze gar nicht so abgrundtief, wie das laute Geschrei und die harten Vorwürfe vermuten lassen. Verlangen denn die eingeschliffenen Mechanismen wirklich danach, um so mehr zu schimpfen und zu verunglimpfen, je geringer die tatsächlichen Alternativen und Hand lungsspielräume in unserer Politik sind? Es wäre gut — gewiß nicht zu unserem Schaden, aber auch bestimmt nicht zum Schaden der Oppostion —, wenn die jüngste Äußerung ihres Parteifreundes Rommel zu Herzen genommen würde. Er kommt nämlich zu dem Schluß, daß der Bürger dieses übersteigerte parteipolitische Gegeneinander satt habe und daß um so mehr wieder liberale Positionen gefragt seien.
— Halten wir uns also an Fakten und Sie sich, verehrter Herr Jäger, ganz eng an Herrn Rommel.Wir stellen fest: In den 50er und 60er Jahren wurde die Deutschlandpolitik von dem politischen Standpunkt des Alles-oder-Nichts bestimmt — mit dem Ergebnis, daß der Graben der Teilung tiefer und tiefer wurde. Ich will die Einzelheiten dieses Prozesses nicht nachzeichnen, aber jeder sollte sie in Erinnerung haben, wenn er vergleichen will — und er muß vergleichen, wenn er den jetzigen Zustand und Sinn und Erfolg der Politik werten will.Meine Damen und Herren, der Prozeß der Spaltung wurde damals von den Kommunisten in Ost-Berlin forciert. Wir hatten uns aus der Auseinandersetzung um die Zukunft der Nation fast abgemeldet. Das rufe ich besonders jenen in Erinnerung, die heutzutage so schnell mit dem Wort Gegenmaßnahmen zur Hand sind, wenn im deutsch-deutschen Verhältnis Störungen und Belastungen auftreten.Jedermann weiß, daß wir zu den Verstößen gegen die Verträge nicht schweigen. Wenn jetzt in Ost-Berlin auf dem Weg zu gutnachbarlichen Beziehungen eine Übungsstunde für Abgrenzungsartisten an der Eskaladierwand eingelegt werden soll, dann können dabei schnell jene Prinzipien über Bord gehen, die Erich Honecker für die Fortsetzung einer auf Ausgleich gerichteten Politik der Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten anläßlich der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED noch einmal bekräftigt hat. Die DDR muß wissen, daß sie drauf und dran ist, sich um jeden Kredit zu bringen, .und ich meine das im ökonomischen wie im politischen Sinne.Wir werden der DDR-Führung weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene das erbärmliche Doppelspiel durchgehen lassen. Wie werden den Widerspruch anprangern, einerseits den westlichen Journalisten in Ost-Berlin die Arbeitsmöglichkeiten zu beschneiden und andererseits lauthals zu verkünden — so Honecker Ende April —: „Wir bauen die sozialistische Gesellschaftsordnung unter
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Hoppeweltoffenen Bedingungen auf". Meine Damen und Herren, im nachhinein wirkt dieser Ausspruch wie eine satirische Kommentierung der Ausweisung des ZDF-Korrespondenten Peter van Loyen — hat er doch die Kühnheit besessen, eine Probe auf die Weltoffenheit der DDR-Führung dadurch zu wagen, daß er Stefan Heym nicht den Mund zuhielt, als dieser ein Statement zu der versuchten Kriminalisierung von DDR-Schriftstellern über das Devisengesetz abgab.Die Reaktion der DDR-Regierung zeigt, wie sehr sie das freie Wort fürchtet. Aber sie kann es auch durch die Verletzung der Grundsätze und Vereinbarungen, wie sie in Helsinki und im Zusammenhang mit dem Grundlagenvertrag getroffen wurden, nicht niederdrücken. Sie provoziert vielmehr den Widerspruch im eigenen Staat und reduziert ihr Ansehen im internationalen Bereich.Meine Damen und Herren, aber auch die Sowjetführung wird der DDR mit einer eher peinlich wirkenden Parallelaktion gegen das ZDF-Team kaum erfolgreichen Flankenschutz geben können.Die DDR jedenfalls muß bei jedem ihrer Schritte die Rückwirkung auf den eigenen Staat bedenken, denn die Rahmenbedingungen für die Politik haben sich nun einmal auf eine ganz entscheidende Weise geändert. Unsere Politik der vertraglichen Regelungen hat ja nicht nur die millionenfachen Begegnungen der Menschen über die Grenzen hinweg möglich gemacht und somit Unschätzbares zum Zusammenhalt der Nation beigetragen. Unsere Politik hat auch Ost-Berlin dazu gezwungen, auf dem internationalen Parkett Farbe zu bekennen. Die Zeiten sind vorbei, da sich mit — unfreiwilliger Hilfe der Hallstein-Doktrin — die Herrschaftsverhältnisse in der DDR in einer Art „splendid Isolation" konsolidieren konnten, unangefochten von internationalen Bindungen und Verpflichtungen. Heute muß sich die DDR-Führung bisweilen in einer für sie schmerzhaften Konkurrenzsituation darstellen und damit auseinandersetzen.Vor den Vereinten Nationen sah sie sich genötigt, zu unserer festen Haltung zur deutschen Frage Position zu beziehen. Ich nehme an, Sie haben den Vorgang auf der letzten Generalversammlung alle beobachtet. Der Bundesaußenminister, Hans-Dietrich Genscher, wiederholte dort unsere politische Maxime, wonach wir auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. DDR-Außenminister Oskar Fischer replizierte wie gewohnt, aber er wählte dabei eine Formulierung, die nicht nur wegen ihrer Lautmalerei aufhorchen ließ. Seine Antwort lautete:. Es bleibt das erklärte Ziel der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, auf einen Zustand in Europa hinzuwirken, in dem der Frieden auf der Grundlage der unumstößlichen Realitäten der Nachkriegsentwicklung dauerhaft gesichert, die friedliche Koexistenz Lebens- und Umgangsformen der Staaten unterschiedlicher sozialer Ordnung ist und das Volk der Deutschen Demokratischen Republik freivon äußerer Einmischung sein friedliches sozialistisches Aufbauwerk fortsetzen kann.Als sehr geglückt kann man diesen Versuch wahrlich nicht bezeichnen. Er drückt mehr die Unfähigkeit der DDR aus, mit der nationalen Frage fertig. zu werden.Die Flucht in die sozialistische Völkergemeinschaft war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Aus der Geschichte und in der sich stündlich lebendig erweisenden Nation kann man sich nicht mit einem ideologischen Kündigungsgrund abmelden. Es ist die Wirklichkeit, die der DDR zu schaffen macht. Hans-Dietrich Genscher hat sie vor der UNO treffend beschrieben:Den Gang der Geschichte kann niemand aufhalten. Er bewegt sich in Richtung auf Einheit und nicht 'Trennung, auf Fortschritt und nicht Abgrenzung.Das gilt übrigens um so mehr, je stärker das Abgrenzungsbedürfnis der Verantwortlichen in der DDR vorherrscht. Es entwickelt sich nicht nur international zu einem Bumerang, sondern hält in der DDR selbst kritisches Bewußtsein wach, provoziert gegenläufige Tendenzen, und das nicht nur bei Schriftstellern.Richtig ist deshalb auch die Betrachtung, daß unsere Politik der vertraglichen Abmachungen die Gründe geliefert hat, die dort jetzt diese Wirkungen zeigen. Deshalb ist es ganz besonders töricht, in diesem Zusammenhang über angeblich einseitige Leistungen zu klagen. Haben diejenigen, die da über die zweifellos beträchtlichen Summen für den Ausbau der Verkehrsverbindungen oder über die Antriebsmittel für den innerdeutschen Handel zetern, immer noch nicht begriffen, daß es sich hier um gesamtdeutsche Investitionen handelt? Es ist, wie mir scheint, eine krause Logik, von der Einheit und von einer gemeinsamen Zukunft der Deutschen zu reden und sich gleichzeitig den Weg dorthin selbst zu verbauen. Denn nichts anderes würde es bedeuten, wenn wir aus einer temporären Verärgerung oder Enttäuschung heraus die Finanzierung gemeinsamer Projekte in Frage stellten.Noch deutlicher: Die Milliarden, die wir im Laufe der Jahre in deutsch-deutsche Maßnahmen stecken, sind ja vor unseren Bürgern, sind ja vor den Steuerzahlern der Bundesrepublik Deutschland nur deshalb zu verantworten, weil sie Bausteine für den Zusammenhalt der Nation sind und mithelfen, die Chance zur Überwindung des staatlichen Nebeneinanders aufrechtzuerhalten.Auch den Bürgern in der DDR wollen und sollten wir bestätigen, daß ihr Gefühl der Zusammengehörigkeit mit uns nicht nostalgisch, sondern zukunftsorientiert ist. Ihr Wunsch nach Wiedervereinigung — in welcher Form auch immer — ist gleichbedeutend mit dem Verlangen nach Freiheit. Dieses Verlangen ist im übrigen so dominierend, daß es dem Wunsch nach spezifischem Staatsbewußtsein sichtbar entgegenwirkt — nicht zuletzt deshalb, weil die dort propagierte sozialistische Alternative zum Westen in wesentlichen Teilen nichts anderes als ein verformtes Plagiat ist.
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HoppeDie Abgrenzungsstrategen in der DDR und die ewigen Neinsager hierzulande müssen doch wohl mehr Gemeinsamkeiten haben, als ihnen eigentlich lieb sein kann. Wie sonst ist es zu erklären, daß der „Rheinische Merkur" vor kurzem auf die Idee verfallen konnte, beide in einer Anzeige mit Balkenüberschrift „Zur Lage der Nation" in ein Boot zu setzen? In dieser Anzeige, in der für die Abnahme der Zeitung geworben wurde, heißt es dann so:Beginnen wir links, dann sehen wir nichts Neues: die alten Posen, die alte Verkrampfung, das alte Sektierertum. Und rechts? Auch der deutsche Konservatismus ist der Langeweile und Verbissenheit verdächtig: ewig nörgelnd, ewig defensiv und so mitreißend wie die Debatte zweier Ohrensessel vor dem Kamin.Wer sich von diesem Text der Anzeige getroffen fühlt, tut gut daran, über Korrekturen an seinem Image nachzudenken.Meine Damen und Herren, gefragt sind Ideen. Nicht Formelbeschwörung hält die deutsche Frage offen, sondern Kreativität und prinzipienfestes Handeln. Und wenn es auch schon hundertmal gesagt wurde: Wir brauchen für diese Politik einen langen Atem. Das ferne Ziel der Einheit aber bleibt für uns eine Realität. Wir halten in unbeugsamer Entschlossenheit daran fest. Kein Realist — und der Realist muß zugleich auch Patriot sein — wird diese Aufgabe als unerreichbar vom Horizont seines politischen Bewußtseins wischen.Doch er wird zugleich bedenken, daß das Verlangen nach der Einheit der Nation noch immer Mißtrauen und Vorbehalte auslöst; nicht nur in Osteuropa, auch in den westlichen Partnerländern, dort zwar nicht regierungsamtlich, aber doch in der öffentlichen Meinung. Ist dieses Mißtrauen unüberwindbar? Bundespräsident Walter Scheel gab darauf am 17. Juni vergangenen Jahres eine überzeugende Antwort: „Wenn dieser Staat beharrlich der Freiheit nach innen und außen dient, wenn er seine geistigen, politischen und wirtschaftlichen Mittel einsetzt, nicht um zu herrschen, sondern um zu helfen, wenn er konsequent auf der Seite der Gerechtigkeit gegen die Ungerechtigkeit steht, dann wird sich auch die Angst vor einem vereinigten Deutschland verlieren. Dann könnte es sein, daß eines Tages unsere Nachbarn ein vereinigtes Deutschland wünschen, weil es auch in ihrem Interesse sein größeres Gewicht auf die Waagschale des Friedens legen könnte."Macht es viel Sinn, heute über Modelle nachzudenken, wie die Deutschen zusammenfinden, unter welcher Dachkonstruktion dies zu guter Letzt sein könnte? Ich meine nicht. Hilfreicher und für die Politik allein erfolgversprechend ist die Fortsetzung einer bewußtseinsbildenden, Fakten schaffenden Politik der kleinen Schritte. Nützlich ist dabei auch die Klarstellung, daß unser Wille, das politische Europa zustande zu bringen, nicht im Widerspruch zu unserem nationalen Anliegen steht, das heute nur im Rahmen einer europäischen Lösung richtig aufgehoben ist.Konkret heißt das erstens: Eine Politik in Richtung auf eine gemeinsame deutsche Zukunft läßt sich nur fortsetzen, wenn wir weiter in einem engen, vertrauensvollen Verhältnis mit unseren westlichen Partnern leben.Zweitens: Wir wissen um die Wechselwirkung von Westintegration und nationaler Frage. Die in den 50er Jahren hier und da aufgebaute Frontstellung ist überwunden. Es gilt jetzt, das scheinbar Widersprüchliche kongruent zu machen. Eine auf eine gesamteuropäische Politik angelegte Entwicklung und eine wachsende enge Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten lassen sich sehr wohl miteinander vereinbaren.Drittens: Eine Annäherung kann nur stattfinden, wenn in Ost und West die Bereitschaft besteht, diese Politik zu tolerieren. Das setzt voraus, daß das Klima zwischen den Machtblöcken weiter verbessert wird und in Osteuropa selbst eine qualitativ wesentliche Veränderung zu mehr Freizügigkeit und Selbstsicherheit eintritt.Diese Chance erhalten wir nur, wenn ein Rückfall in die Zeiten der Konfrontation vermieden wird. Niemand in Europa wird unter Spannungen zwischen den Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung mehr zu leiden haben als die Deutschen. Keine Nation sonst ist zur Wahrung ihrer Einheit so sehr auf strikt vernunftorientiertes Handeln angewiesen wie wir.Dabei werden wir stets Berlin im Blick haben; denn die Zukunft dieser Stadt ist wie bei keinem zweiten Ort sonst in der Welt abhängig vom weiteren Fortgang der Entspannungspolitik. Vieles ist in den letzten Jahren geschehen, um die Lebensgrundlagen Berlins sicherer zu machen. Vom Viermächteabkommen bis zu den jüngsten Verkehrsvereinbarungen wurde ein Geflecht praktischer Verbesserungen erstellt, das auch die subjektive Lebenserfahrung in der geteilten Stadt erfreulich beeinflußt hat. Die Krisen und Bedrohungen, die Berlin in den 50er und 60er Jahren immer wieder heimgesucht haben, liegen nicht mehr wie drohende Schatten auf dem Bewußtsein der Bürger. Nicht der Wechsel von Beklemmung und Aufatmen prägt heute das Leben in Berlin; der Lebensrhythmus ist ruhiger geworden, von mehr Vertrauen getragen als in den früheren Jahren.Die Berliner wissen um die Zusammenhänge zwischen ihren Möglichkeiten und dem Stand der Ost-West-Beziehungen. So gibt die jeweilige Lage Berlins denn auch treffsicher Aufschluß über die Lage der Nation. Berlin in seiner zwar stabilisierten, aber doch widernatürlichen Lage ist nicht nur ein Barometer der Entspannungspolitik, sondern bleibt ein Symbol der ungelösten deutschen Frage. Allein das Schicksal Berlins muß uns dazu anhalten, den Gang der Geschichte nicht einfach hinzunehmen, sondern im Geiste guter Nachbarschaft, Toleranz und gelebter Freiheit gestaltend einzugreifen. Es wäre gut, wenn wir im Deutschen Bundestag beim Ringen um den richtigen Weg diese Eigenschaften überzeugend verkörperten.
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HoppeMeine Damen und Herren, die Lage der Nationist insgesamt nicht komfortabler geworden, aber allen offenen Fragen und allen Störmanövern zum Trotz überschaubarer und kalkulierbarer als in den vergangenen Jahrzehnten. Wir haben auf schwierigem Gelände Schienen gelegt, auf denen der Zug der deutsch-deutschen Entwicklung in die richtige Richtung rollt. Es ist kein Schnellzug, und die Strecke kann immer wieder durch neue Hindernisse blockiert werden. Dies wird aber keine Umkehr erzwingen, sondern nur Vorübergehendes halten. Wir werden uns deshalb weder von Bremsern und Bremsklötzen drüben noch hier von einer Opposition irremachen lassen, die in der Deutschlandpolitik die Schlachten von gestern schlägt und deren programmatische Aussagen zwischen Beliebigkeit und Belanglosigkeit angesiedelt sind.
Unermüdlich werden wir uns für weitere praktische Fortschritte in Deutschland einsetzen. Diese Arbeit wollen wir in Frieden und zur Bewahrung des Friedens leisten. Ich greife jetzt das Wort des Bundeskanzlers auf, in dem er festgestellt hat: „Nur in einem politisch und vertraglich organisierten Frieden ist es möglich, daß Europa wirtschaftlich, kulturell und menschlich wieder zusammenwächst. Nur nach langem Frieden ist Einheit denkbar."
Meine Damen und Herren, wir fahren um 14 Uhr mit der Beratung fort.
Ich unterbreche die Sitzung.
Meine
Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Wir fahren in der Aussprache zu Punkt 2 der Tagesordnung, Bericht zur Lage der Nation, fort.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Zimmermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zuerst auf einige innenpolitische Sentenzen oder Sottisen — man könnte auch sagen: Idylle —, die der Herr Bundeskanzler hier in die Debatte eingeführt hat, eingehen.Es war wirklich hübsch, wie er die Betonsilos den Bergarbeiterhäuschen gegenüberstellte, wobei man natürlich an dieser Passage wirklich gezwungen wird, zu fragen: Wer hat denn eigentlich diese Bergarbeiterhäuschen gebaut? Waren das nicht die Ruhrbarone, um im kommunistischen Sprachgebbrauch zu sprechen? Oder waren das die schon Ende des letzten und in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts ganz vernünftigen, sozial eingestellten, menschlichen Bergassessoren? Gehört es nicht zur guten Tradition an der Ruhr, daß man sich heute noch mit Stolz als „Kruppianer" bezeichnet, wie ich selbst x-mal vor Ort gehört habe? Zeigt das nicht auch, daß die sozialen Formen von früher und von heute einen unglaublichen Gegensatz bilden? Es ist nicht nur Nostalgie, wenn sich die Bergarbeiter an ihre Häuschen gewöhnt haben und auch dort gerne ebenerdig aus dem Fenster schauen, sondern es ist gleichzeitig eine schreckliche Anklage gegen das, was in den letzten Jahrzehnten städtebaulich überall geschehen ist, aber doch so, daß ich es am besten mit dem Gegensatz zwischen Fuggerei und Neuer Heimat bezeichne.
Der Bundeskanzler hat geglaubt, sagen zu müssen, daß doch eigentlich gar keine Unterschiede seien zwischen dem Leben im konservativen Bayern, wie er sich auszudrücken beliebte, und dem Leben in anderen mittel- und nordeuropäischen Staaten. Nun, ein gewisser Unterschied muß da offenbar doch wohl sein. Was hätte denn sonst Astrid Lindgren und Ingmar Bergman veranlassen können, aus dem sozialistischen Schweden nach München zu flüchten?
Ein anderes Kapitel war dem Parteiensystem gewidmet. Es wäre wohl ganz unerklärlich, wenn ausgerechnet ich mich dazu verschweigen wollte. Ich meine seit langem, daß das Parteiensystem in der Bundesrepublik Deutschland zementiert worden ist, als man die stärkste politische Kraft, die sich am Mittwoch der nächsten Woche in der Bundesversammlung, als Unionsparteien mit der absoluten Mehrheit aus Bund und Ländern ausgestattet, darstellen und einen Bundespräsidenten ihrer Wahl — das ist ihr gutes politisches, ja, verpflichtendes Recht — wählen wird, ausgeschaltet hat. Dies geschah in einer Zeit, als die stärkste und die zweitstärkste politische Kraft über einige Jahre zusammen regierten. Damals hat man uns in Sachen des verabredeten Mehrheitswahlrechts hinters Licht geführt. Das ist der Grund.
Das ist der Grund, warum das Parteiensystem in diese Frustration und Zementierung hineingekommen ist, warum es heute — gleich, von wem angesprochen und durch wen aufgebrochen — in seinen Fugen knirscht und ächzt. Wir wollen an die historische Verantwortung — das ist schon Historie —, in dieser Sache die stärkste politische Kraft auszuschalten und sie durch die Kombination von Minderheiten zu überspielen, auch hier, wenn der Bundeskanzler das schon angeschnitten hat, einmal erinnern.
Zu einem dritten Komplex hat sich der Bundeskanzler geäußert, zum Kabelfernsehen, zum Privatfunk, wie er es, bewußt abwertend, nannte, als ob — und die Wortwahl war bezeichnend — der Be-
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Dr. Zimmermanngriff „privat" etwas Schlechtes, etwas Miserables sei.
Was ist hier die technische und die politische Wahrheit? Der Bundeskanzler hat gesagt, es sei ein Alptraum von Vorstellung, wenn der Fernsehapparat beim Kabelfernsehen 24 Stunden lang laufe — die totale Berieselung des Bürgers! Aber nein: Ich habe das Glück, in einem Bundesland der Bundesrepublik Deutschland zu wohnen, in dem man die ARD, das ZDF, das Programm Bayern, ein voller werdendes Drittes Programm, und zwei österreichische Programme, ORF I und II, empfangen kann. Das heißt, ich habe die Auswahl unter fünf Programmen. Diese Auswahl habe ich noch nie als lästig oder störend empfunden, im Gegenteil: Ich habe sie meiner eigenen Entscheidung, was ich nun hören und sehen will, zugrunde gelegt und gefunden, daß sie mir ein Mehr an Auswahlmöglichkeiten gibt. Ich bin ein mündiger Burger, der auch ORF I und II sehen kann. Ich habe nicht um eine halbe Stunde mehr ferngesehen, weil ich nicht nur die Auswahl zwischen zwei, sondern zwischen fünf Programmen hatte. Und darum geht es doch.Denen, die geglaubt haben, das öffentlich-rechtliche Fernsehen sei ein Götze, hat das Bundesverfassungsgericht übrigens schon im Jahre 1961 — das ist immerhin schon 18 Jahre her — in einer ganz anderen fernsehtechnischen Landschaft gezeigt, wo die Grenzen liegen. Denn das Urteil von damals basierte auf der Möglichkeit der Zuteilung von Kanälen, auf der technischen Verwirklichbarkeit. Damals hat das Verfassungsgericht gesagt: Solange nicht mehr Kanäle zur Verfügung stehen, bleibt es wie bisher. Aber dann hat es — das Gericht hat das sehr wohl erörtert — der Pluralität die Tür aufgemacht, sobald sie möglich ist.Der Herr Bundeskanzler muß natürlich wissen und weiß es auch, daß dies, auch wenn er hier ein Verdikt gegen öffentlich-rechtliche Konkurrenz sozusagen par ordre du mufti, erlassen hat, nicht in die „Jurisdiktion" der Bundesregierung fällt, sondern — gottlob! — ein Raum ist, den die Bundesländer auszufüllen haben und in dem die Bundespost nichts anderes als technische Hilfe zu leisten hat und nicht etwa als Monopolist auftreten darf.
Das heißt: Diese Landschaft wird in Zukunft nicht mehr allein durch das öffentlich-rechtliche Monopol a là NDR — Mißwirtschaft, Verschwendung, Schulden, rote Zahlen — dargestellt werden können, sondern es wird hier in Zukunft einen Markt geben. Wenn der Herr Bundeskanzler die Bekenntnisse zur Marktwirtschaft, die er heute abgegeben hat, ernst nimmt, dann müßte er eine gegenteilige Aussage treffen, .sich nämlich für den Markt erklären. Denn: Private zuzulassen heißt zwar, daß ein öffentlich-rechtliches Dach unverzichtbar ist, daß öffentlich-rechtliche Institutionen installiert werden. Aber an diese werden auch Anbieter auf dem Markt und nicht nur das öffentlich-rechtlich beglaubigte und zementierte Monopol etwas zu verkaufen haben. So differenziert möchten wir in dieser wichtigen Frage bitte verstanden werden. Wie neuralgisch sie für bestimmte Teile der Bundesregierung und wohl auch der Koalitionsfraktionen ist, haben wir an den kurzen, aber verletzenden Anmerkungen des Bundeskanzlers zu diesem Punkt gesehen.Die Verpflichtung der Bundesregierung, jährlich einen Bericht zur Lage der Nation abzugeben, hat Tradition. Es muß bei diesen Gelegenheiten auch immer wieder festgestellt werden, ob es noch gemeinsame Grundpositionen — Helmut Kohl hat das in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt — der im Bundestag vertretenen Parteien gibt. Ich hoffe — ich muß das nach der Diskussion der vergangenen Wochen und Monate bereits so einschränkend formulieren —, es gibt sie noch. Ich hoffe, wir sind uns noch einig im Bekenntnis zur einen, unteilbaren deutschen Nation.
Ich hoffe, wir sind uns einig — Herr Wehner verlangte das Zitat —, gemäß dem Willen des Grundgesetzes darauf hinzuarbeiten, die Einheit Deutschlands zu vollenden. So ist der Text. Ich hoffe, wir sind uns weiterhin einig, diese Einheit im Rahmen einer europäischen Lösung anzustreben.
Herr Abgeordneter, lassen Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Glos zu?
Herr Kollege Dr. Zimmermann, ich möchte Sie fragen, wie Sie' die Tatsache beurteilen, daß bei diesem wichtigen Thema weder der Bundeskanzler noch ein Minister noch einer der zahlreichen Parlamentarischen Staatssekretäre anwesend ist.
Herr Kollege Glos, vielleicht zeigt das die Einschätzung, die man der Opposition in dieser Frage zuteil werden läßt, und vielleicht belegt dies auch die Einschränkung, die ich gerade in dem Katalog der drei Punkte machen mußte, als ich sagte, ich hoffte, wir seien hier noch einig. Es ist nicht höflich vom Bundeskanzler, wenn er eine 39-seitige Rede in einer Stunde und 40 Minuten abliest und sich dann dem Nachmittagsteil der Debatte, die ja für den ganzen Tag angesetzt ist, entzieht.
— Die FDP ist bereits beim Nullwachstum angekommen.
Die drei Feststellungen, die ich vorher getroffen habe, sind wie ich glaube, auch für Zuschauer und
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Dr. ZimmermannZuhörer aus der DDR, die diese Debatten im allgemeinen intensiver verfolgen als wir, wichtig.Die Bundesregierungen unter Adenauer, Erhard und Kiesinger haben sich in ihrer Deutschland-und Ostpolitik stets an der politischen Großwetterlage und am westlichen Bündnis orientiert. Spektakuläre Alleingänge sind vermieden worden. Est die Brandt-Regierung von 1969 wich von diesem Grundsatz ab. Das Ergebnis ist bekannt. Der Begriff „Ostpolitik" ging in den internationalen Sprachgebrauch ein und wirkt heute eher als ein abschrekkendes Beispiel denn als Losungswort erfolgreicher Politik.
Die sogenannte neue Ostpolitik hat sich spätestens zu dem Zeitpunkt überlebt, als erkennbar wurde, daß die östlichen Vertragspartner die Verträge einseitig zu ihren Gunsten interpretierten. Von den Leerformeln jener Zeit, vom Frieden, der angeblich sicherer geworden sei, oder von der Entspannung, die wir alle zu erwarten hätten, ist wenig geblieben. Im Gegenteil muß jeder auch heute wissen: Unsere Sicherheit beruht nicht auf diesen Verträgen, sondern allein auf dem westlichen Bündnis.
Die Sowjetunion hat stärker denn je aufgerüstet, und die DDR kämpft verbissen gegen jede Art von menschlichen Erleichterungen. An der Unversöhnlichkeit der kommunistischen Ideologie, an der Aggressivität des Potentials des sowjetischen Imperialismus hat sich nichts geändert.Im Verhältnis zur DDR ist eine viel und oft genannte Spekulation nicht aufgegangen, nämlich daß man der DDR zu mehr Selbstbewußtsein verhelfen müsse, und dann würde sie westlichen Wünschen gegenüber zugänglicher sein. Der Fehlschlag ist unübersehbar. Der Grund dafür ist, daß mit jedem Zugeständnis der Appetit auf mehr westliche Leistungen, mehr Geld und mehr Statusverbesserung wuchs.
Einer der wesentlichsten Kritikpunkte bei den Verträgen mit der DDR war die Unausgewogenheit von Leistung und Gegenleistung. Ich glaube, die CDU/CSU hat mit ihren Warnungen recht behalten. Was wir zu bieten hatten, wurde von der DDR kassiert, umgekehrt hat die DDR ihre Zugeständnisse abgebaut. Von mehr Freiheit bei Information und Meinung ist keine Rede mehr, mißliebige Journalisten aus dem Westen werden behindert oder gleich ausgewiesen, und der Bundesregierung fällt daraufhin nichts anderes ein, als mit einem Angebot von neuen Leistungen zu antworten. Zu irgendwelchen Gegenmaßnahmen sieht sie keinen Anlaß, die Entspannung soll nicht gestört werden, und gleichzeitig wird an unsere Adresse, an die Mahner und Warner, hinzugefügt, zur Entspannung gebe es keine Alternative. Das heißt für die DDR im Klartext: Wir können tun und lassen, was wir wollen; von der Bundesregierung haben wir höchstens eine Ermahnung, aber keine Konsequenzen zu erwarten. So verhält sich konsequenterweise auch die DDR.Der Bundesregierung scheint nicht klar zu sein, daß die SED-Führung immer so reagieren wird, weil sie nicht in der Lage ist, das von manchen Politikern gewünschte Selbstbewußtsein zu erreichen. Den kommunistischen Führungskadern fehlt die nationale Identität, wie sie in anderen Ostblockstaaten teilweise vorhanden ist. Ein Pole hat seine Heimat. Wenn er auch mit der kommunistischen Regierung nicht übereinstimmt, so sieht er in ihr wenigstens eine polnische Regierung, und das ist die einzige amtierende polnische Regierung.
Herr Abgeordneter Zimmermann, ich möchte Ihre Rede für einen Augenblick unterbrechen. Der Herr Bundeskanzler hat mir soeben noch einmal mitteilen lassen, daß der Abschiedsbesuch des Generals Blanchard, des Oberkommandierenden Europa Mitte, in der Mittagspause stattgefunden und sich noch etwas hinausgezögert hat. Er hofft, dann schnell hier zu sein.
Herr Präsident, ich bedanke mich für diese Mitteilung; aber ich möchte die Frage stellen, warum auch die übrige Kabinettsbank leer ist.
Als einziger sowjetischer Satellitenstaat hat die DDR ein freiheitliches, nationales und weitaus größeres Gegenstück, nämlich die Bundesrepublik Deutschland. Von dieser Bundesrepublik Deutschland geht eine erhebliche Sogwirkung aus. Das Leitbild der Freiheit, die größere Bevölkerungszahl, die wirtschaftliche Stärke und nicht zuletzt die verwandtschaftlichen Bindungen machen den Sog aus. Überdies hat die Führung der DDR das Trauma des 17. Juni 1953 niemals überwunden. Damals wurde das Regime allein durch die sowjetischen Panzer an der Macht gehalten. Die roten Gardetruppen der Sowjetunion sind auch heute noch der wichtigste innenpolitische Machtpfeiler in der DDR, und deswegen sind auch die führenden Funktionäre der SED Moskaus treueste Bündnisgenossen. Sie müßten ohne die 22 sowjetischen Divisionen wirklich um ihre Positionen, um ihre Macht fürchten.Der häufigste Vorwurf von unserer Seite an die Führung der DDR, ihre Schikanen gegen die Menschen seien Ausdruck der Schwäche, ist sicher richtig. Nur gehört diese Schwäche zum System. Es wäre eine Illusion, zu glauben, daran lasse sich von uns aus etwas ändern. Ein Ausfluß der Schwäche ist der Ausbau der Demarkationslinie zu einem immer perfekteren System tötender Maschinen. Mit deutscher Perfektion ist hier ein System geschaffen worden, für dessen Anlagen die nationalsozialistischen Konzentrationslager Pate gestanden haben könnten. Die Zonengrenze und die Mauer sind Bauwerke kommunistischen Selbstverständnisses. Eine
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Dr. ZimmermannRegierung, die solche Mauern und Zäune, Minenfelder und Selbstschußanlagen braucht, .um die Bevölkerung an der Flucht zu hindern, kann keine Souveränität ausstrahlen. Wie sollte sie!
Trotz der beinahe totalen Abschottung gelingt jährlich noch Hunderten auf abenteuerliche Weise und unter Lebensgefahr die Flucht. Manche kommen zu Tode. Es sollte uns und vor allem denen, die im sozialistischen Dasein ein erstrebenswertes Ziel erblicken, zu denken geben, warum jährlich so viele dieser sozialistischen Gegenwart der DDR entfliehen wollen.Die Debatten der Vergangenheit über die Lage der Nation und die Diskussion über innerdeutsche Fragen überhaupt waren und sind von zweierlei geprägt: zum ersten von einer gewissen Frustation, über Dinge zu sprechen, deren grundsätzliche Änderung derzeit nicht in unserer Macht liegt, und zweitens von dem vielfältigen Bemühen, einen originellen Gedanken zu finden, den vorher noch niemand hatte und der den Eindruck von Bewegung vermittelt. Auch das ist menschlich und natürlich.Am beliebtesten ist die Forderung nach einer Anerkennung der Realitäten oder das Jonglieren mit neuen Formulierungen. Die Diskussion um „Wiedervereinigung" oder „Neuvereinigung" gehört hierher.
Aber gerade diese Formulierungen sind geeignet, neue Rivalitäten zu schaffen und die deutsche Position zu untergraben. Die jetzt aufgebrochene Diskussion um den Begriff Wiedervereinigung ist ein gutes Beispiel dafür, wie durch Worte Statusfragen verändert werden. Das Wort von der Wiedervereinigung ist als Begriff für ein ganzes Programm in den Sprachgebrauch eingegangen.
In dem Wort Wiedervereinigung wird ausgedrückt, daß die deutsche Nation untrennbar ist, daß sie in der Vergangenheit zusammengehört hat und in Zukunft zusammengehören wird. Es umschreibt auch die Dynamik, die auf die Wiedervereinigung hinweist.
Wenn Worte zur Waffe werden, meine Damen und Herren, dann ist dieses Programm der Wiedervereinigung eine Waffe, die auch in der Wortwahl nicht verändert werden darf, weil das mehr als die Änderung eines Begriffs ist.
Die Wortwahl, der Begriff zwingt die SED-Führung in die Defensive. Aber sie ist letztlich hilflos, weil mit der Formulierung Wiedervereinigung auch ein historischer Prozeß angesprochen ist.Es ist aufschlußreich, wenn in diesem Zusammenhang die Kollegen Brandt, Wehner und Borm von diesem Begriff abrücken und in der SPD neuerdings von dem „Schlagwort der Wiedervereinigung" gesprochen wird. Als Wortschöpfung wird die „Neuvereinigung" angeboten. Natürlich fehlt auch eine blauäugige Erklärung dazu nicht: Die deutsche Teilung dauere schon so lange, daß das Wort „Wieder" fehl am Platz sei; dagegen drücke das Wort „Neuvereinigung" die Offenheit für neue Modelle aus.Es geht jedoch nicht um Worte. Es geht um andere Politik, die hier dahintersteht. Im Gegensatz zum festen Begriff „Wiedervereinigung" sollen durch das Wort „Neuvereinigung" deutsche Rechtspositionen ausgehöhlt werden.Das Abrücken von der Wiedervereinigung ist ein Verstoß gegen das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes. Wer das tut, der klammert die bisher von allen Bundesregierungen offengehaltene Frage aus. Das ist nach dem Räumen deutscher Rechts- und Wertpositionen durch die Ostverträge ein erneuter Versuch, das Grundgesetz mindestens zu umgehen. Nicht grundlos wird im Zusammenhang mit dieser Prägung „Neuvereinigung" auch die einheitliche deutsche Staatsbürgerschaft in Frage gestellt.Die ganze Diskussion erinnert mich, Herr Kollege Barzel, an die Umbenennung des Gesamtdeutschen Ministeriums in ein Ministerium für innerdeutsche Fragen.
Auch das war eine Aushöhlung der Zielprojektion, obwohl es damals anders interpretiert wurde.
Wir wären dankbar, wenn die Bundesregierung zu den Vorstößen der von mir genannten Koalitionspolitiker heute klipp und klar Stellung beziehen würde. Es reicht nicht, sich mit dem Hinweis auf Aussagen des Kollegen Kiesinger oder gar Konrad Adenauers aus der Affäre ziehen zu wollen.
— Und noch falsch zitiert! — Denn in dieser Zeit waren Regierung, Opposition und Bundesverfassungsgericht einig und hatten keinen Anlaß, die Politik der Bundesregierung kritisch unter die Lupe zu nehmen.
Auch Sie, Herr Kollege Wehner, haben in der Zeit der Großen Koalition am 5. April 1968 in Ihrer Amtszeit als Gesamtdeutscher Minister völlig anders als heute formuliert. Sie haben sich damals gegenüber dem damaligen Oppositionsführer Walter Scheel in ganz anderer Weise als gegenüber dem heutigen Bundespräsidenten eingelassen, zu dessen Ausführungen Sie eine sehr eigenwillige Interpretation gegeben haben. Sie haben damals zur Wiedervereinigung gesagt:Die Behörden oder die Parteispitzen der DDR werden den Lauf der Ströme nicht umkehren können, weder den der Elbe noch den des Geistes. Wir bleiben Angehörige des einen deutschen Volkes und bleiben in der Verpflich-
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Dr. Zimmermanntung, die Einheit unserer Nation mit friedlichen Mitteln zu erringen.Das Bundestagsprotokoll verzeichnet an dieser Stelle „Beifall bei allen Fraktionen".
Das scheint mir heute nicht mehr so zu sein. Auch das ist beachtenswert.Bundespräsident Scheel hat 1978 zur 25. Wiederkehr des Volksaufstands in der DDR ein Bekenntnis zur einen deutschen Nation abgelegt. Ich zitiere einige Kernsätze. Er sagte:Unser Streben nach Einheit ist ein Streben nach Freiheit für das ganze deutsche Volk. Die Einheit ist ein in die Zukunft gerichtetes europäisches Friedensziel. Der Nationalstaat alter Prägung ist nicht das Ziel unseres Einheitsstrebens. Die Einheit Deutschlands wird das Ergebnis eines langen historischen Prozesses sein. Der friedliche Wunsch eines großen Volkes, in Einheit und Freiheit zusammenzuleben, ist eine große geschichtsbildende Macht.Diese Worte zu zitieren, Herr Wehner, haben Sie vergessen, als Sie den Bundespräsidenten in Ihre politischen Winkelzüge einzubeziehen suchten. Der Bundespräsident kann hier nicht als Kronzeuge herhalten,
auch nicht Kurt Georg Kiesinger, der am 17. Juni 1967 sagte, daß Europa nicht verzichten kann, eine seine politische Spaltung überwindende zukünftige Friedensordnung zu entwerfen, in welcher auch die deutsche Frage ihre gerechte Lösung finden kann. Und Franz Josef Strauß sagte. vor wenigen Wochen, am 25. April 1979:Ich glaube nicht an eine Wiedervereinigung im Sinne der Wiederherstellung des alten Deutschen Reiches. Das wiedervereinigte Deutschland muß eingebettet werden in eine Architektur der europäischen Einigung und kann nicht mit Gewalt hergestellt werden.Ich , glaube, dem braucht man nichts hinzuzufügen.
Als vor eineinhalb Jahren ein deutsches Nachrichtenmagazin ein Papier einer angeblichen Oppositionsgruppe in der SED veröffentlichte und die wütende Führung der DDR aus Rache das Ost-Berliner Büro dieses Nachrichtenmagazins schloß, war dies in der Bundesrepublik eine Sensation. Unabhängig davon, ob es dieses Papier wirklich gab oder ob es nur eine Zusammenfassung von Einzelaussagen war, eines wurde deutlich: Der Wiedervereinigungsgedanke lebt, und er lebt in der DDR notwendigerweise stärker als bei uns.
Das genannte Papier wurde in späteren Einzelaussagen vielfach bestätigt, und auch die panischenReaktionen der DDR sprachen für seinen Wahrheitsgehalt.Die CSU hat die zum Teil widersprüchlichen Thesen aufgearbeitet und zur Klarstellung der Positionen ein eigenes deutschlandpolitisches Grundsatzpapier verabschiedet. Wir beschäftigen uns in einer Kernaussage mit dem Prozeß der Wiedervereinigung. Wir gehen davon aus, daß es einen historischen zwangsläufigen. Prozeß der Wiedervereinigung gibt und daß keine Politik der Welt diesen Prozeß aufhalten kann.
Die Politik hat lediglich die Möglichkeit, den Prozeß zu beschleunigen oder zu verlangsamen, und die jetzige Regierung tut das letztere.Auch nach marxistischer und leninistischer Lehre ist die Einheit der Nation historisch notwendig. Die These der DDR-Kommunisten von der Herausbildung zweier deutscher Nationen, einer bürgerlichen und einer sozialistischen, steht daher nicht einmal mit der eigenen Ideologie im Einklang, geschweige denn mit der Wirklichkeit. Interessanterweise haben sich die deutschen Kommunisten gegenüber diesem CSU-Papier merkwürdig zurückgehalten, obwohl sie sonst wegen jeder Äußerung ein großes Geschrei erheben. Der Grund ist in der ideologischen Schwäche der eigenen Position zu suchen.Eine Lösung der deutschen Frage ist, meine Damen und Herren, nur im Zusammenhang mit einer Veränderung der sowjetischen Haltung vorstellbar. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder die innenpolitischen Verhältnisse in der Sowjetunion ändern sich so, daß dies Auswirkungen auf das Machtimperium hat, oder die Sowjetunion gerät in eine Situation, in der die Einheit Deutschlands für sie wünschenswert ist. Beide Entwicklungen sind möglich.Es gibt allerdings auch Überlegungen in der Bundesrepublik, die von einem dritten Weg träumen. Es gibt Tendenzen, die meinen, die Wiedervereinigung sei über eine Neutralisierung der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen. Das ist ein gefährlicher Irrweg. Für Deutschland gibt es weder eine finnische noch eine österreichische Lösung.
Herr Kollege Mattick glaubte uns heute einen in der politischen Diskussion' in der Bundesrepublik Deutschland mehr und mehr gebrauchten Begriff, den der Finnlandisierung, vorhalten zu müssen und beklagte wortreich, beinahe tränenreich, wie fahrlässig, ja wie gemein wir mit diesem Begriff gegenüber der Republik Finnland umgingen.
Nun, hier darf ich für Sie Professor Richard Löwenthal, Berater von Willy Brandt, Mitglied der SPD, aus einem Interview mit dem amerikanischen Nachrichtenmagazin „Time" vom 30. Dezember 1974 wörtlich zitieren. Richard Löwenthal sagte:
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12294 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. ZimmermannIch denke, daß die Russen einen Kontinent nach dem Modell Finnlands wollen, und den würden sie gestalten, wenn die NATO auseinanderbrechen und die amerikanischen Truppen aus Europa abgezogen werden sollten.Wörtlich hieß es weiter:Ich glaube — sagt Richard Löwenthal — den Begriff „Finnlandisierung" geprägt zu haben, als 1966 in der Bukarester Konferenz des Warschauer Paktes erstmals die Auflösung der Militärblöcke vorgeschlagen wurde.
Hier, Herr Mattick, haben Sie Ihren Urheber und Ihren Kronzeugen — alles in einem.
Für Deutschland — ich wiederhole — gibt es weder eine , finnische noch eine österreichische Lösung.Auch hier hat Kurt Georg Kiesinger 1967 — dazu bedurfte es nicht der Worte in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers von heute — gesagt:Deutschland ist zu groß, um in der Balance der Kräfte keine Rolle zu spielen, und zu klein, um die Kräfte um sich herum selbst im Gleichgewicht zu halten. Eine Lösung ist für uns nur im europäischen Rahmen denkbar.Also, meine Damen und Herren und auch meine Herren von der Bundesregierung: In dieser Sache liegt das Erstgeburtsrecht in bezug auf das Abschwören von nationalstaatlichen, reichsstaatlichen Lösungen, für das Hinführen der Wiedervereinigung in den europäischen Gedanken bei uns und nicht bei Ihnen. Das sollten Sie endlich einmal zugeben.
Natürlich ist die deutsche Wiedervereinigung keine Frage des Heute oder Morgen. Sie ist eine langfristige Perspektive, die wir aber schon heute mit Entschiedenheit vertreten müssen, damit sie einmal Wirklichkeit wird.
Die Wiedervereinigung ist das Ende eines Prozesses, nicht sein Anfang. Das Ergebnis kann, ja wird vielleicht anders aussehen, als wir es uns heute überhaupt vorzustellen vermögen. Gerade weil die deutsche Wiedervereinigung ein historisch zwangsläufiger Prozeß ist, darf sie den demokratischen Kräften nicht aus der Hand gleiten. Es wäre eine verhängnisvolle Entwicklung, wenn die deutschen Demokraten die Identifikation mit der nationalen Idee aufgäben, weil das entstehende Vakuum geradezu eine Einladung an nationalistische Kräfte wäre, sich dieser Frage anzunehmen.
Der nationale Gedanke, Herr Kollege Mertes, istauch in der kommunistischen Ideologie zu Hause.Die DDR-Führung würde sofort die nationale Führungsrolle übernehmen, wenn wir sie aufgäben.
Drüben legt man großen Wert darauf, sich als Hüter deutscher Tradition darzustellen. Friedrich der Große, Bismarck, erst recht nicht Freiherr vom Stein, Scharnhorst, Gneisenau, keiner von denen ist in der DDR eine „Unperson". Durch eine Preisgabe des nationalen Gedankens durch den Westen erhielte die DDR-Führung die einmalige Chance, die im deutschen Volk zutiefst abgelehnte kommunistische Ideologie mit der nationalen Idee zu verbinden und damit erst hoffähig zu machen.
Es würde der SED nicht die geringsten Schwierigkeiten machen, den alten Kurs der 50er Jahre wieder einzuschlagen — ganz im Gegenteil. Es wäre für sie eine Erleichterung, das theoretische Kunstgebilde von den zwei Nationen fallenlassen zu können, um hier die nationale Führungsposition zu übernehmen.
Schon deshalb, meine Damen und Herren, wird die CDU/CSU den Gedanken der deutschen Wiedervereinigung lebendig halten. Er entspricht der Tradition der Union und steht im Einklang mit den historischen Notwendigkeiten.Das Grundgesetz ist in der Frage der deutschen Wiedervereinigung eindeutig und läßt keinen Raum für Absetzungsmanöver. Das ist gut so.
Als die Bundesregierung mit den Ostverträgen, mit dem Grundvertrag zu einem Kurswechsel ansetzte, hat das Bundesverfassungsgericht die Aussagen des Grundgesetzes noch einmal interpretiert. Das wäre nicht möglich gewesen ohne die Klage der bayerischen Staatsregierung und ohne die Initiative des Mannes, der heute bayerischer Ministerpräsident ist. Das möchte ich hier auch einmal sagen dürfen.
Deswegen — es tut mir leid, daß er nicht da ist — muß ich den Bundeskanzler jetzt ganz direkt ansprechen. Er hat nach einer dpa-Meldung — Nummer 318 vom 15. Mai — vor der SPD-Fraktion gesagt, wenn Franz Josef Strauß im Falle des Regierungswechsels Bundeskanzler würde, dann gäbe das schwere Spannungen im Ost-West-Verhältnis, und in der Deutschlandpolitik würde das die Rückführung in den Kalten Krieg bewirken.
Nun, in Finnland war es Moskau, das die Konservativen dort diffamiert hat, in Deutschland macht es der Regierungschef selbst. Das ist der Unterschied. Wenn er schon glaubt, als Pflichtübung und Hausaufgabe vor der SPD-Fraktion Entlastungsangriffe dieser Art starten zu müssen — so miserabler Art, weil er sonst bei den Linken in der eigenen Frak-
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Dr. Zimmermanntion gar keine Mehrheit mehr hat —, dann sollte er, der heute zu uns an das Pult kam, um sich über manche Entgleisung zu beschweren, wo er sagen wollte, daß er immer mit einer Zunge spricht, selber einmal von diesem Tisch aus sagen, daß diese Verdächtigungen infam, unhaltbar sind und daß er selbst es weiß, daß sie unhaltbar sind.
Man mag über diesen Franz Josef Strauß denken, wie man will, eines ist sicher: Auch in den zehn Jahren ohne Amt war er als Ratgeber weltweit gesucht. Niemand, der in die Bundesrepublik kam, hat versäumt, mit ihm zu reden. Ergebnisse, Ablauf und Erscheinungsbild des Breschnew-Strauß-Gespräches lassen mich sagen: Herr Bundeskanzler, da fällt jeder Vergleich mit ihrem Verhalten beschälend aus, für Sie beschämend.
Bezüglich des Ost-West-Verhältnisses habe ich mit dem Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Fraktion, dem Kollegen Jahn, neulich eine öffentlich ausgetragene Kontroverse gehabt. Es war am 20. April. Herr Kollege Jahn wollte micht in einen Gegensatz zu Franz Josef Strauß bringen — Wiedervereinigung und Europa —, und er hat bei dieser Gelegenheit — Kollege Mattick hat das heute bereits zitiert — Franz Josef Strauß geradezu als Muster eines konstruktiven Deutschlandpolitikers herausgestellt. Dies verträgt sich eigentlich schlecht mit jener miserablen Polemik.Wenn sich der Bundeskanzler heute über Polemik beklagte, dann muß ich sagen: Wie steht es eigentlich mit der Polemik um das Amt des Staatsoberhauptes und den Kandidaten, den die stärkste Fraktion der Bundesversammlung einstimmig präsentiert hat? Wo ist der Gegenkandidat? — wenn Sie hier schon die Frage stellen, wen wir für die Bundestagswahl 1980 nominieren.
Noch eines ist sonderbar, das gehört allerdings in den Bereich des Lächelns und der Ironie. Ein paar Wochen ist es her, da hat der Herr Bundeskanzler gesagt, der Vorsitzende der CSU sei sein Traumgegenkandidat. Nun hat ihn Herbert Wehner vielleicht in seiner berühmten Pressekonferenz eines besseren belehrt. Oder was ist der Grund überhaupt für das Umschwenken in dieser Frage? Hier ist also viel Widersprüchliches, hier ist viel Polemik.
Eine miserable Wortwahl ist das vor der SPD-Fraktion gewesen. Der Bundeskanzler, der selber immer wieder einen so hohen Maßstab an die Wortwahl in diesem Hause anlegt, sollte sich davon heute und hier distanzieren.Das Bundesverfassungsgericht läßt keine Manipulationen an der einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft zu. Sonst kämen Politiker wie Herr Borm in die Versuchung, eine zweite Staatsbürgerschaft zu postulieren. Das ist nicht erlaubt. Ich hätte eigentlich erwartet, daß der Kollege Hoppe auch ein Wort zu William Borm gesagt hätte. Denn das ist schon wichtig, wie er sich hier eingelassen hat.Die Bundesregierung hat der DDR gegeben, was sich rückschauend nach dem Urteil des Verfassungsgerichtes gerade noch als vereinbar mit dem Grundgesetz erwiesen hat. Jetzt hat sie nur mehr die Möglichkeit, ihre Finanzkraft einzusetzen. Es war der Fehler der Bundesregierung, die Beziehungen zur DDR auf jeder Ebene isoliert zu betrachten. Man muß sie als Ganzes sehen.Es ist kein Geheimnis, daß es in der DDR wirtschaftlich nicht gut geht, daß der DDR-Führung an finanzieller Hilfe, wirtschaftlicher Kooperation und an Forschungsförderung gelegen ist. Ihre immensen Spionagebemühungen gehen ja bekanntlich auch in diese Richtung.Wir sind an den menschlichen Beziehungen, am Austausch von Informationen interessiert, wie es KSZE und innerdeutsche Abmachungen vorschreiben. Beide sind durch das verletzt worden, was in den letzten Wochen geschehen ist. Die Bundesregierung hat nur mit sanften Mahnungen und Hoffnungen reagiert.Statt auf die DDR einzuwirken, haben Bundesregierung und Koalition ihre Angriffe auf die CDU/CSU-Fraktion gerichtet, die es gewagt hat, diese ständigen Vertragsverletzungen beim Namen zu nennen. Unsere Forderungen wurden mit der alten Leier beantwortet, erstens gäbe es keine Alternative zur Entspannung, und zweitens solle die Opposition sagen, was zu tun sei. Wer es ablehnt, über Gegenmaßnahmen auch nur nachzudenken, der provoziert die weiteren Vertragsverletzungen von selbst.
Die CDU/CSU würde eine Politik der Bundesregierung unterstützen, die geeignet ist, die DDR-Führung zu einer Einhaltung der geschlossenen Verträge zu veranlassen. Zu einem Gespräch stehen wir jederzeit zur Verfügung. Wir sind nur noch nie zu einem Gespräch darüber gebeten worden.Ein weiterer Vorwand der Bundesregierung ist der Hinweis auf die Bevölkerung in der DDR, die man nicht mit Gegenmaßnahmen treffen wolle. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, Kontakt mit den Menschen in der DDR haben, dann werden Sie wissen, daß dort eine andere Meinung vorherrscht. Von den Millionen Markzahlungen an die DDR spürt der Bürger herzlich wenig.
Höchstens sieht er, daß die Grenzbefestigungen noch perfekter geworden sind.Und es muß die Menschen in der DDR eigentlich seltsam berühren, wenn im Westen die neue Autobahn Berlin–Hamburg mit dem Hinweis auf eine nach Minuten zählende Fahrverkürzung begründet worden ist.
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12296 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. ZimmermannWie muß sich angesichts dieser Begründung jemand fühlen, für den stundenlanges Anstehen vor Geschäften zum täglichen Alltag gehört? Und wie fühlt sich jemand, der den Westen von Entspannung und Millionenzahlungen reden hört, dem aber der Intershop in Zukunft verwehrt ist?
Ich glaube, wir denken manchmal zuviel — so sagen die es drüben — an Vorteil und Bequemlichkeit. Hier schwingt in den Äußerungen der Bürger von drüben auch ein Maß an Verbitterung mit, das leicht zur Entfremdung führen kann. Die SED-Spitze tut ein übriges, der Bevölkerung zu suggerieren, sie sei vom Westen aufgegeben, um sie wenigstens auf diesem Weg zu einem Arrangieren mit dem Kommunismus zu bringen.Für uns, die CDU/CSU, bleibt es das Ziel deutscher Politik, über den Weg der Selbstbestimmung des deutschen Volkes die Einheit der Nation wiederherzustellen. Um diesem Ziel näher zu kommen, sind wir auch zu einer Zusammenarbeit mit der heutigen Führung der DDR bereit. Natürlich wissen wir, daß die Sowjetunion dabei eine beherrschende Rolle spielt. Wir werden keine Kompromisse eingehen, die der Erreichung dieses Ziels entgegenstehen. Mit der totalitären kommunistischen Ideologie kann es keinen Ausgleich geben. Kommunismus ist mit freiheitlicher Demokratie unvereinbar.Wenn ich zu Beginn feststelle, daß die deutsche Frage im europäischen Rahmen zu lösen ist, so ist das auch im Zusammenhang mit den ersten Direktwahlen zum Europaparlament zu sehen. Wir werden die ungelöste deutsche Frage dort zur Sprache bringen.Wir müssen unsere westeuropäischen Partner davon überzeugen, daß ein wiedervereinigtes Deutschland nicht eine Gefahr bedeutet, sondern im Gegenteil einen Spannungsherd beseitigt. Gerade bei Vertretern traditionsreicher Nationalstaaten habe ich stets Verständnis für diese Position gefunden. Für einen Franzosen oder Polen wäre die Teilung seines Landes ein unerträglicher Gedanke. Deutsche, die sich nicht zur nationalen Einheit bekennen, werden in diesen Ländern nicht mit Freude, sondern mit einer Mischung aus Mißtrauen und Verachtung behandelt.
In diesem Zusammenhang sehe ich die europäische Direktwahl als eine Chance für uns an, unseren Nachbarn zu zeigen, daß wir es ernst meinen mit der europäischen Integration und daß wir gewillt sind, ein geeintes Deutschland als integrativen Bestandteil Europas zu verstehen. Das entspricht, wie ich meine, dem Willen des deutschen Volkes und den Zielen des Grundgesetzes.Herr Wehner, die CDU/CSU steht zu beidem!
Das
Wort hat der Herr Abgeordnete Friedrich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Zimmermann hat das hübsch genannt, als er mit einer gewissen Sozialnostalgie für Zechenherren begonnen hat. Kollege Zimmermann, ich wundere mich nur, warum im Ruhrgebiet dann die Arbeiter so stark sozialdemokratisch und Zentrum gewählt haben.Ich erinnere mich an einen Satz von Zille: Man kann einen Menschen mit einer Wohnung genauso erschlagen wie mit einer Axt. Ich halte es für gut, daß der Bundeskanzler heute im Bericht zur Lage der Nation gegenüber einem Volk, das große Aufbauleistungen hat erbringen müssen, darauf hingewiesen hat, daß wir heute in einer Situation sind, in der wir eben nicht nur an das Produktionswachstum, sondern auch an die Lebensqualität denken können, und das ist gut.Etwas mehr jonglieren mußten Sie schon, Kollege Zimmermann, als es um die Fragen ging, die Herr Stoiber mit Herrn Geißler besprochen hat. Ich würde ein Parteiensystem in einem Land, das die Weimarer Republik erlebt hat, das ein stabiles Parteiensystem ist, nicht ein „zementiertes Parteiensystem" nennen. Viele Länder Europas beneiden uns um die Stabilität unseres Parteiensystems.
Leider haben Sie bei diesem Parteiensystem einige Veränderungen erreicht. In den 60er Jahren konnten wir — und zwar auf beiden Seiten des Hauses — davon ausgehen, daß große Parteien in den Positionen der Mitte austauschfähig sein müssen. Sie haben nach dem Regierungswechsel diesen Konsens der großen Volksparteien im annähernd vorhandenen Zweiparteiensystem nicht durchgehalten. Wenn Sie heute eine Strategie suchen, dann doch deshalb, weil Sie keine politische Antwort gefunden haben. Das ist Ihr Problem.
Der Herr Bundeskanzler hätte es ja heute morgen leicht gehabt, wenn er den Wirtschaftssprecher und früheren Generalsekretär der Union zitiert hätte. In der „Welt" vom 16. Januar schrieb dieser:Die wirtschaftliche Entwicklung im Inneren hat sich entspannt. Die Wirtschaft beginnt wieder zu investieren.In der Tat: Die „Süddeutsche Zeitung" berichtete am letzten Samstag, daß die Investitionen in der Maschinenbauindustrie im März 41 % höher lagen als vor einem Jahr.Dann sagt Herr Biedenkopf:Die Arbeitslosigkeit hat ihre singuläre Bedeutung als Bedrohung verloren. Die Rentenfinanzierung stabilisiert sich.Weiter sagt Herr Biedenkopf:Die europa- und außenpolitische Lage scheintrelativ stabil. Im ostpolitischen Bereich sind in
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12297
Friedrich
absehbarer Zeit keine nachhaltigen Irritationen zu erwarten.Er kommt schließlich zu dem Ergebnis: Die Bevölkerung selbst ist zufrieden. Er schreibt:Die Zufriedenheit der Bevölkerung mit ihren gegenwärtigen Lebensbedingungen spiegelt sich wider in der Bewertung der Bundesregierung und des Bundeskanzlers: Mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden und sehr zufrieden sind fast 60 % der Wahlbevölkerung.Wenn Sie den Konsens der Volkspartei durchgehalten hätten, dann wären Sie auch fähig, in Ihrer Politik von der Einschätzung unserer Lage durch die Bevölkerung auszugehen. Das ist Ihre Sache.Herr Kollege Kohl — der Herr Kollege Barzel ist leider nicht hier —, wenn man das in den letzten Tagen so verfolgt — der Herr Zimmermann spricht hier für einen, der Sie beerben möchte, weil Sie, wie die „Welt" heute schreibt, zu schade für eine neue Niederlage seien —, so muß man sagen, sicher wäre der Herr Kollege Barzel von Herrn Zimmermann und Herrn Strauß genauso behämmert worden, wie Sie behämmert worden sind, wenn er 1973 den Versuch durchgeführt hätte, über den Eintritt in die UNO eine Annäherung an die Außenpolitik der Bundesregierung zu erreichen. Das ist das, was Kurt Mattick heute morgen in einer sehr kühlen Rede angesprochen hat und was nach sechs Jahren dennoch nicht geschehen ist.Ich bin sehr froh, daß der Kollege Hoppe heute morgen einen Ansatz eingebracht hat, der uns wichtig erscheint, weil die Bundesrepublik nicht nach dem Schema einer schwarzweißgemalten Schablonenlandschaft beschrieben werden kann, wie Sie sie hier ausrollen.
— Daran hat sich in der Tat nichts geändert.Ich denke an einen anderen Satz von Stefan Heym: „Die Sünden der Väter waren nicht getilgt, und der biblische Fluch galt noch." Können wir van der Bundesrepublik aus der DDR und dem Schriftsteller Heym im Jahr von Holocaust zurufen, wir hätten die Sünden der Väter getilgt? Ich denke daran, mit welch kühler, nüchterner Machtpragmatik man die deutsch-polnischen Schulbuchvereinbarungen in einigen Bundesländern aus dem Schulunterricht systematisch herauszudrängen versucht.
Ich denke daran, was ein Mann wie Hans Mayer heute in der „Zeit" schreibt, wie dieses Land mit seinen Emigranten umgegangen ist. Ich denke daran, wie Frankreich mit de Gaulle umgegangen ist, weil er für das bessere Frankreich stand, wie Italien Nenni ehrt, weil er für das bessere Italien stand, aber wie ungeheuerlich durch die CDU/CSU von 1960 bis heute Emigranten wie Willy Brandt und
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12298 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Friedrich
Herbert Wehner, die das bessere Deutschland vertreten haben, bezichtigt und beleidigt werden.
Dies ist der Unterschied zwischen uns und Europa.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte diese Passage weiterführen.Ich denke weiter an die Kritik der Europäer an uns. Es geht ja nicht nur darum, daß wir bei dieser Europawahl sagen: „Deutsche, sagt ja zu Europa!", sondern nach der Geschichte dieses Jahrhunderts geht es auch darum zu sagen: „Europäer, sagt ja zu den Deutschen." Da ist doch spürbar, daß man uns in unserem Wohlstand bewundert, daß man aber ein Toleranzdefizit im inneren Umgang feststellt. Ich weiß nicht, ob jener Stefan Heym, der da genannt wird, würde er ausgewiesen, in einigen Ländern, z. B. in Bayern, im 30. Jahr der Bundesrepublik Deutschland als Kommunist eine Professur erhielte,
etwas, was man in Spanien drei Jahre nach Francos Diktatur anders löst als bei uns.
Wir sind entschlossen, der Politik der Aussöhnung einen prägenden Rang zu geben.Wenn ich mich frage, warum denn ein Stefan Heym, warum ein Havemann in der DDR bleiben will, dann deshalb, weil sie in der Solidarität derer existieren wollen, die von der Geschichte in den Raum der DDR verwiesen wurden. Sie wollen in der Solidarität derer bleiben, .die nicht weggehen können.Die entscheidende Frage der Deutschlandpolitik ist nicht allein das, was in der Präambel des Grundgesetzes steht, das unsere Ordnung sichert, das die verfassungsmäßige Ordnung mitbestimmt. Die Frage ist vielmehr auch — und sie muß diesen Bundestag umtreiben, ihn quälen —: Wie kann der Deutsche Bundestag den 17 Millionen Menschen helfen, die nicht weglaufen können und für die die erreichten kleinen Freiheiten der innerdeutschen Freizügigkeit bereits ihre große Freiheit sind, auch wenn es bequem ist, darüber vielleicht zu spotten, wie klein diese Freiheiten sind?Und Sie, die Sie Gegenmaßnahmen und Vergeltungsmaßnahmen fordern,
wenn etwa ein Journalist ausgewiesen wird, müssen wir fragen: Welche Maßnahmen sollen das sein? Was glaubt die CDU damit erreichen zu können? Diese Frage, die hier schon mehrmals gestellt worden ist, haben Sie bis heute noch nicht beantwortet.Die SPD-Fraktion sieht allein in der Politik der Entspannung, ihrer konsequenten Fortsetzung die Möglichkeit, die Chance, schmale Pfade der Menschlichkeit zu finden, aus denen eines Tages vielleicht Wege und Straßen werden. Wer dies bezweifelt, muß sich dann doch fragen lassen, wieso er an Worte wie Wiedervereinigung glaubt, wenn er nicht einmal an schmale Wege der Menschlichkeit glaubt.
Die Präambel des Grundgesetzes kann, wenn wir zu uns selbst ehrlich sind, nicht darüber hinwegtäuschen, daß 30 Jahre Grundgesetz eben auch 30 Jahre staatliche Trennung der Deutschen bedeuten. Denen, die als Deutsche von der Geschichte den schlimmeren Teil der Trennung zugewiesen erhielten, ist mit feierlichen Jubiläen wenig geholfen. Denn für die ist es eine schmerzliche Erinnerung. Wenn ich hier über Stefan Heym gesprochen habe, dann deshalb, weil es eines Tages nicht heißen soll, dieser Deutsche Bundestag sei nicht in der Lage gewesen, in der Not dieses Schriftstellers die Not der Deutschen selbst zu erkennen.
Es wird plötzlich von manchen das Wort „Wiedervereinigung" im Munde geführt, so als hätten sie eine Patentlösung,
die man aber, Herr Kollege Mertes, so unter Verschluß hält, als müsse man sie aus Gründen des Datenschutzes geheimhalten. Wenn Sie eine solche Patentlösung haben, dann sprechen Sie hier doch einmal darüber.Von den gleichen Politikern wird zunehmend von der „Befreiung der osteuropäischen Völker" gesprochen. Zunehmend stellen wir fest, daß Europa im Selbstverständnis vieler CDU-Politiker plötzlich an der russischen Grenze endet. — Herr Kollege Windelen, Sie schütteln den Kopf. Lesen Sie doch einmal nach, was der Herr Kollege Alfred Dregger gestern übernommen hat. Dies — Europa ohne Rußland — ist ja auch die Meinung, die ausdrückliche Meinung eines der Spitzenkandidaten der bayerischen CSU, der damit von Versammlung zu Versammlung zieht und von der „Befreiung" und „Entkolonialisierung der osteuropäischen Staaten" spricht.Es gibt zwei deutsche Erbfehler, die an unserem Elend schuld sind. Das eine ist Maßlosigkeit, das andere ist Realitätsdefizit: Maßlosigkeit in der Einschätzung der eigenen Kraft und Realitätsdefizit bei der Einschätzung der eigenen Lage. Wenn schon von Wiedervereinigung gesprochen wird, dann ist es notwendig, eine so nüchtern abwägende Stimme wie die „Zürcher Weltwoche" zu beachten, die am 2. Mai dieses Jahres schrieb -- ich darf, Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung zitieren —:... daß die deutsche Wieder- bzw. Neuvereinigung, obwohl zur Zeit so heftig debattiert, noch nie so wenig zur Debatte stand wie heute, weil selbst die geringste Veränderung des Kräfteverhältnisses in Mitteleuropa das teuer genug erkaufte Gleichgewicht zerstören würde
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Friedrich
und weil es hinsichtlich der deutschen Frage nur im Rahmen gesamteuropäischer, um nicht zu sagen, gesamtatlantischer Normalisierungsbestrebungen überhaupt einen Hoffnungsschimmer gibt.Die Ordnung der Nation steht auf dem Boden des Grundgesetzes, aber die Lage der Nation wird von den Gewichten der Weltpolitik bestimmt.
Herr Kollege Zimmermann, wenn Sie hier vom Räumen der rechtlichen Positionen sprechen, muß man daran erinnern, daß damals in einer Sondersitzung der bayerischen Staatsregierung, an der der CSU- Vorsitzende und heutige Ministerpräsident teilnahm, von Ihnen beschlossen wurde, den Antrag zu stellen, den Grundlagenvertrag für verfassungswidrig zu erklären. Dies ist vom Bundesverfassungsgericht abgelehnt worden. Der Grundlagenvertrag ist für verfassungskonform erklärt worden. Nun versuchen Sie, die Politik zu diskreditieren, die sich aus einem Vertrag ergibt, der mit dem Grundgesetz übereinstimmt.
Herr Abgeordneter Friedrich, gestatten Sie eine ' Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mertes?
Ja, bitte.
Herr Kollege Friedrich, können Sie bestätigen, daß das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit des innerdeutschen Grundvertrages mit dem Grundgesetz unter bestimmten Bedingungen erklärt hat, vor allen Dingen unter der Bedingung, daß alle Verfassungsorgane unseres Staates verpflichtet sind, in ihrer Politik auf die Erreichung des Zieles der Wiedervereinigung hinzuwirken und den Wiedervereinigungsanspruch im Innern wachzuhalten und nach außen beharrlich zu vertreten?
Lieber Kollege Mertes, ich habe nicht die Begründung des Bundesverfassungsgerichts angezweifelt. Sie können mit dieser Interpretation und diesem Einschub aber doch nicht einfach wegdiskutieren, daß die bayerische Staatsregierung den Antrag gestellt hat, den Grundlagenvertrag für verfassungswidrig zu erklären.
Ich möchte hinzufügen, daß es in der Begründung, die Sie jetzt zitiert haben, heißt, daß die innerdeutsche Grenze eine Grenze ähnlich den Ländergrenzen in der Bundesrepublik sei. Wenn sie diesem Urteil gerecht werden wollen, wäre es eigentlich doch die Pflicht der Ministerpräsidenten Stoltenberg, Albrecht und Strauß, dafür zu sorgen, daß diese Grenze so begehbar wie eine innerdeutsche Grenze ist. Dem entspricht das Verhalten dieser Ministerpräsidenten nicht.Es gibt Definitionen, über die wir im Hearing vor dem innerdeutschen Ausschuß gesprochen haben. Ich erinnere mich noch genau, wie der von der CSU benannte Rechtssachverständige, Professor Kimminich, diese Dinge als sehr bedenklich und noch härter bezeichnet hat. Es gibt also Definitionen des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht, die man in der Praxis nicht vollziehen kann.Sie werfen uns vor, wir weigerten uns im Rahmen unserer Politik, etwas zu vollziehen, was seit Kurt Schumacher der erklärte Wille der deutschen Sozialdemokratie ist, nämlich jede Möglichkeit des Zusammengehens der Deutschen zu nutzen. Das Bundesverfassungsgericht hat eben im Grundlagenvertrag eine solche Möglichkeit erkannt, und darauf sollten Sie sich allmählich einstellen.
Sicher ist Ihr Versuch, europäische Politik ohne und gegen die Sowjetunion zu definieren und gleichzeitig von Wiedervereinigung zu sprechen, für eine Politik der Entspannung und des Zusammenfindens der Deutschen nicht hilfreich. Dieser Versuch ist ein erschreckendes Zeichen für außenpolitischen Realitätsverlust.
Mir ist aufgefallen, daß in den Reden der Opposition zwei Begriffe ausgespart werden. Wenn dies nur zufällig der Fall ist, könnten ja Ihre nachfolgenden Redner dazu Stellung nehmen. Wer vom Frieden spricht, darf das Wort „Gewaltverzicht" nicht aussparen. Ich habe es heute von Ihnen noch nicht gehört.
— Wenn ich es überhört haben sollte, korrigiere ich mich.Europäisches Gleichgewicht — dies füge ich hinzu, Kollege Zimmermann — heißt nun einmal Europa plus USA und Europa plus Sowjetunion. Wer versuchen will, die Sowjetunion hier hinauszudrängen, wie es bei Ihnen immer wieder geschieht, wird nicht zu einer realistischen Politik finden. Wenn man einen solchen Versuch unternähme, bedeutete das z. B., die Sowjetunion aus der KSZE-Schlußakte hinauszudrängen. Der Fortschritt der KSZE-Schlußakte ist es gewesen, daß die Sowjetunion durch ihre Unterschrift in Helsinki zugestimmt hat, daß die Vereinigten Staaten ein Teil Europas sind, und insoweit kann man seit dem nicht mehr den Vorwurf aufrechterhalten, die Sowjetunion wolle die Vereinigten Staaten aus ihrer europäischen Verantwortung hinausdrängen. Wir sehen darin einen wichtigen Fortschritt, der sich dann auch in SALT I und SALT II fortgesetzt hat.Rußland ist historisch ein Teil Europas. In der Zeit, die nicht so lange zurückliegt, als die Zaren mit den Habsburgern die Demokratie und die Befreiung der Völker Osteuropas verhinderten, waren sie Europäer, und heute sollen sie etwas anderes sein.
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Friedrich
Wer vom Archipel Gulag spricht, muß sich auch an Dostojewskis „Erinnerungen aus einem Totenhause" erinnern. Das heißt, wir, die wir zum erstenmal 30 Jahre Demokratie in einem geschlossenen Zeitabschnitt begehen können, dürfen gegenüber anderen Völkern und anderen Ländern nicht so überheblich sein, die aus ihren historischen Bedingungen heraus einen schlechten Zugang zur Demokratie hatten.Wir sind in unserem Verständnis ganz anders als die Sowjetunion; aber ich halte es für wichtig festzustellen: Bei allem, was uns vom kommunistischen System trennt, gibt es einen. Unterschied zwischen Stalin, dem Chruschtschow des 20. Parteitages und dem Schritt vom 20. Parteitag der KPdSU zur Unterzeichnung der Schlußakte von Helsinki durch Leonid Breschnew. Das letzte ist ein qualitativer Schritt in eine Richtung, die alle begrüßen müssen.
Wenn wir also hören, wir hätten eine Aggression der Sowjetunion gegenüber Westeuropa zu erwarten — —
— Sie müssen einmal die gestrige Presseerklärung Ihres stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, des Kollegen Dregger, lesen. Ich habe sie gelesen, Herr Kollege Mertes. Der Kollege Dregger begibt sich neuerdings in die Außenpolitik. Da Sie in Ihrer Fraktion dabei eine Rolle spielen, wäre es gut, wenn wir über die Erklärungen des Kollegen Dregger hier diskutieren könnten.Es gibt keine Ursachen dafür, eine Aggression der Sowjetunion aus ideologischen Gründen zu erwarten. Das leninistische Modell ist keine Exportware für Europa. Die europäischen Völker werden einem osteuropäischen Kommunismus keine Chance geben. Insoweit ist der Kommunismus ideologisch in der Defensive.
Eine zweite Sache ist es, daß es nicht erst seit der Oktoberrevolution 1917 russische Großmachtinteressen in Europa gibt. Das wird klar, wenn man sich die europäische Landkarte vor 1914 ansieht. Wenn man also fragt, aus welcher Situation heraus, ähnlich wie im August 1914 — das ist allen anschaulich -- ein Konflikt entstehen könnte, so wäre das dann der Fall, wenn die Sowjetunion befürchten müßte, daß ein Versuch unternommen wird, den ihr vorgelagerten Gürtel von Staaten in ihrem Einflußbereich aufzubrechen. Wer hier im Zusammenhang mit diesen Staaten sehr leichtfertig Begriffe braucht, als wolle er Situationen vorbereiten, die dazu führen könnten, die Regierungen in diesen Staaten zu stürzen, der spielt in der Tat mit dem Frieden in der Welt. George F. Kennan hat recht, wenn er sagt, es gehe nicht darum, diese Regierungen zu stürzen, sondern darum, Mittel und Wege des Zusammenlebens und des gegenseitigen Umgangs zu finden, die eher zur Verringerung als zur Vergrößerung der Gefahren beitragen, die uns alle drohen.Deshalb ist eben Entspannungspolitik die einzige Garantie der Friedenssicherung. Denn eine Aggression der Sowjetunion aus ökonomischen Gründen hat Westeuropa nicht zu erwarten. Die Sowjetunion ist dabei, den euroasiatischen Raum zu entwickeln. Sie sieht in einem hochindustrialisierten Westeuropa eher einen Partner als in einem zerstörten.
— Dieses Lachen zeigt mir, daß es in diesem Hause jenseits der Schablonen, die man sich seit neun Jahren gegenseitig vorlegt, nicht mehr möglich ist, über die konkreten Bedingungen der Außenpolitik, wie sie nun einmal herrschen, zu diskutieren.
Was wir Ihnen vorwerfen müssen, ist, daß Sie in der Fortsetzung der Politik der fünfziger Jahre — ich lasse das Wort „Kalter Krieg" jetzt einmal weg — 'das Verhältnis zur Sowjetunion nach wie vor nur ideologisch sehen, während unser Bündnispartner, die Vereinigten Staaten, das Verhältnis vorrangig in den machtpolitischen Größenordnungen zu bestimmen sucht und daraus eine beständige Friedensregelung ableiten will.Wir werden diese SALT-II-Verhandlungen — wir hoffen, daß der Vertrag ratifiziert wird — in Europa als eine Ermunterung aufnehmen, auch in den Fragen, die seit Helsinki hängengeblieben sind, wieder initiativ zu werden. Wer Entspannung will, darf sie nicht auf das Militärische beschränken.Ich erinnere an die Reihenfolge der Körbe in der Schlußakte: Korb I betraf den Gewaltverzicht, Korb II die ökonomische und wissenschaftliche Zusammenarbeit und Korb III die Menschenrechte. Wer die Verhältnisse kannte, wußte, daß die osteuropäischen Staaten und die Sowjetunion Korb III als Äquivalent zu Korb II, der vorher ausgehandelt worden war, verstanden haben. Wenn es eine neue dynamische Bewegung geben soll, dann wäre es gut, wenn wir vor der Folgekonferenz in Madrid die Frage gesamteuropäischer Konferenzen ernsthaft diskutierten.Wir sehen Bündnis und Entspannung nicht als Gegensätze an. Darin stimmen wir mit unseren Verbündeten überein.Es wäre gut, wenn man dem, was mein Kollege Kurt Mattick heute bezüglich der elf Punkte des Abgeordneten Guttenberg und als Antwort darauf vorgetragen hat, anfügt, wo denn die Opposition dieses Hauses seit 1969 eine Identität mit der Außenpolitik nicht nur dieser Regierung, sondern auch unserer Verbündeten erreicht hat.Sie haben nicht nur die Vertragspolitik abgelehnt. Sie haben nicht nur als einzige große Partei Europas hier dazu aufgefordert, die Schlußakte von Helsinki
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12301
Friedrich
nicht zu unterzeichnen. Sie sind ja auch gegen das, was z. B. im März dieses Jahres als Europäische Politische Zusammenarbeit in Sachen Südafrika von den neun Staaten gemeinsam beschlossen worden ist.Herr Kollege Dregger hat gestern in seiner Presseerklärung die Papstwahl zitiert. Es sollte Sie doch nachdenklich stimmen, was polnische Katholiken in Gesprächen über die Christdemokraten der Bundesrepublik schmerzlich berichten. Der Kollege Kohl hat — er ist hier schon öfter darauf angesprochen worden — im Oktober 1975 erklärt, er habe die Absicht, nach Polen zu reisen. Dann gab es einen Brief des CSU-Vorsitzenden Strauß an Unionsabgeordnete, der, sicher gezielt, im „Bayernkurier" veröffentlicht worden ist, und dann unterblieb die Reise nach Polen. Und immer noch wartet das katholische Polen
auf einen Besuch des CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl.
— Herr Kollege Czaja: Jawohl, die Volksrepublik Polen plant mit der katholischen Kirche Polens den Besuch eines polnischen Papstes in einem kommunistischen Land. Wir sehen darin auch eine Ermutigung für unsere Entspannungspolitik.
Es ist endlich an der Zeit, daß die CDU wenigstens einen konstruktiven Beitrag zur Aussöhnung mit Polen leistet.
Herr Abgeordneter Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Czaja?
Nein, ich möchte jetzt zum Schluß kommen. Im übrigen habe ich auf den Zwischenruf des Kollegen Czaja geantwortet.
Der Kollege Kohl hat heute eine Vision des Bundeskanzlers vermißt. Die kann man fordern. Aber, Kollege Kohl, kein Volk Europas hat in den letzten hundert Jahren so zu politischen Träumen aufgeschaut, und zwar ehrlicherweise aufgeschaut, wie das deutsche Volk, und kein Volk ist so tief gestürzt. Was die europäischen Völker von den Deutschen erwarten und was man in der Welt von uns erwartet, ist, daß die deutsche Politik kalkulierbar und berechenbar ist
und daß man nicht den Eindruck hat: Hier gibt es ein Land, das sehr stark geworden ist und das nur auf eine historische Gelegenheit wartet, um die Geschichte zu korrigieren. Das geht nur, wenn man den Gewaltverzicht sehr ernst nimmt.
Wenn man sich in Europa umschaut, dann stellt man fest, daß die Europäer den Beitrag begrüßen, den die Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt und die Außenminister Walter Scheel und
Hans-Dietrich Genscher für die Stabilität des Friedens in Europa geleistet haben. Die Europäer sagen ja zu dieser Regierung, die in diesem Haus den Bericht zur Lage der Nation gegeben hat.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Wendig.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Bericht des Herrn Bundeskanzlers heute morgen war, wie ich meine, eine umfassende und nüchterne Darstellung der gegenwärtigen Situation in beiden Teilen Deutschlands und in allen wichtigen Bereichen.Leider kann der bisherige Verlauf der Debatte nicht überall an diesem von hoher Sachlichkeit geprägten Bericht gemessen werden. Es wurde für mich wieder einmal deutlich: Es gibt wohl kein Gebiet unserer Politik, das stärker im Zwielicht der Verdrehungen und der Unterstellungen steht als die Politik der deutschen Frage.Sie wird von seiten der Opposition zudem in einer Art und Weise behandelt, die auch für ein an harte Debatten gewöhntes Ohr manchmal wenig erträglich ist. Ich meine damit nicht alle Beiträge der Union. Aber ich frage mich immer wieder, wie dieser Debattenstil, und zwar gerade zu dieser Frage, auf einen Außenstehenden wirken muß, der in unserem Land dann nicht mehr erkennen kann, daß die eine Seite des Hauses der anderen bei unterschiedlichen Auffassungen über den Weg wenigstens die gute Absicht zugestehen mag. Das ist doch unsere Situation in diesem Bereich schon seit Jahren.
(Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Tutniemand!)Meine Damen und Herren, Sie haben das sehr lange getan, und Sie tun es zu einem großen Teil auch heute noch. Im Grunde genommen aber kennen Sie die Voraussetzungen, unter denen wir Deutschlandpolitik betreiben können, ganz genauso wie wir.Wenn die Bedingungen in den 30 Jahren, in denen die Bundesrepublik Deutschland besteht, nicht besser, sondern, wie ich meine, schlechter gewor-
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12302 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. Wendigden sind, so liegt dies — ich will das mit allem Vorbehalt sagen —, soweit überhaupt das Verhalten deutscher Nachkriegsregierungen ursächlich gewesen sein sollte, an der Politik, die die Union vor allem in den 50er Jahren betrieben hat, als sie Regierungsverantwortung für dieses Land trug.
— Wir haben dann ja auch die Konsequenzen gezogen.Meine Damen und Herren, ich will hier keineswegs in alten Geschichten rühren, über die vermutlich erst spätere Historiker zuverlässig werden urteilen können. Aber auch heute in dieser Debatte gibt die Opposition wieder eine Darstellung, die einer historischen Legende gleicht, der man in diesem Lande entgegentreten muß. Die deutsche Offentlichkeit muß nämlich wissen, daß die Union in den 50er und in den 60er Jahren die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Deutschlandpolitik zumindest gröblich verkannt hat; und das ist eine noch sehr milde Auslegung. Man kann die Frage nämlich auch anders stellen und dann zu dem Vorwurf kommen, daß die damalige Bundesregierung und die Union der deutschen Bevölkerung die zwangsläufigen Konsequenzen der Westintegration für die deutsche Frage nie offen vor Augen gestellt haben.
Ich will hier nicht mißverstanden werden;
den Eintritt der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Verteidigungsbündnis und die Europapolitik will ich mit diesem Satz überhaupt nicht — weder für damals noch für heute — in Frage stellen.
— Bitte warten Sie doch ab! — Der deutschen Bevölkerung wurde aber — damit gehe ich auf diese Zeit zurück — vom damaligen Bundeskanzler und von anderen Unionspolitikern jahrelang mit aller Überzeugungskraft dargestellt, allein die Westintegration und — das kommt jetzt hinzu — die Politik der Stärke seien der Weg, auf dem man die Wiedervereinigung erlangen könne, und zwar sogar innerhalb sehr kurzer Frist. Das war doch die damalige Situation.
Lassen Sie mich die Widersprüchlichkeit und die Realitätsferne an einigen wenigen Beispielen aufzeigen. Es gab in den 50er Jahren eine Vierteljahresschrift mit dem schönen Namen „Neues Abendland", deren Geisteshaltung einige damals bedeutende Unionspolitiker nicht fernstanden. So schrieb im Jahre 1957 ein Herr Falk unter der Überschrift „Deutsches Geschichtsbild und deutsche Politik" u. a. — ich zitiere —:Das „Wirtschaftswunder" und die wachsendeMacht der Bundesrepublik lassen AdenauersPolitik als erfolgreich und darum richtig erscheinen; der Zug des Herzens aber folgt einem Geschichtsbild, das in einem völlig entgegengesetzten Felde des Koordinatensystems steht und durch Gefühlspunkte wie Tauroggen, Alter Fritz, Potsdam, Sedan-Feier und last not least Reichskanzlei einerseits, durch Paulskirche, Kulturkampf, Antimilitarismus und Spartakusromantik andererseits fixiert werden kann. Darum muß jeder Schritt, der tiefer in die Gemeinsamkeit der westlichen Völker führt, damit begründet werden, daß er „eigentlich" auf die „Wiedervereinigung" ziele. Darum muß der ganze deutsche Staat als Provisorium behandelt werden. Darum ist es eine Todsünde gegen die Nation, wenn man Berlin nicht als die einzige und ewige „Reichshauptstadt" anspricht, obwohl es mit dem wirklichen Reich nie etwas zu tun hatte.Ich will dies keineswegs als eine offizielle Auffassung der damaligen CDU bezeichnen. Immerhin wurde aber diese Schrift mit aus Bundesmitteln finanziert, und die von mir zitierte Ausgabe erschien mit einem Vorwort des damaligen Bundeskanzlers.Sicher gab es auch andere Auffassungen in der Union. Zur sogenannten Wiedervereinigungsnote der Sowjetunion von 1952 erklärte z. B. der Evangelische Arbeitskreis der Union u. a. — ich zitiere wieder —:Wir sehen in der Note der Sowjetunion vom 10. März 1952 einen Erfolg der Politik der Bundesregierung, da damit ein Gespräch zwischen den Mächten veranlaßt wird, auf denen die Verantwortung für die Teilung Deutschlands beruht. Wir bitten die Bundesregierung, bei ihren Beratungen mit den Westmächten sich dafür einzusetzen, daß auch diese nichts unversucht lassen, das von ihnen gleichfalls bejahte Ziel der deutschen Wiedervereinigung zu verwirklichen.Die Führung der CDU sah die Dinge politisch anders, und die Empfehlungen des Evangelischen Arbeitskreises verschwanden vermutlich in den Parteiarchiven.
— Ich habe Ihnen ja gesagt, welche Konsequenzen das später hatte.Gleichwohl will ich ohne jede Schärfe, Herr Kollege Mertes, jedem deutschen Politiker zubilligen, daß er sich in einer so schwierigen Situation in der Beurteilung der Lage irren konnte. Nur darf man nicht so tun, als wäre mit der Ost- und Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition eine jahrzehntelange, beständige und erfolgreiche Wiedervereinigungspolitik der Union jäh unterbrochen worden. So stellen Sie es doch immer wieder hin.
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Dr. WendigDie Ergebnisse zeigen im Grunde genommen genau das andere.
Dabei wurde spätestens seit Ende der 50er Jahre die Deutschlandpolitik der Union ziel- und. richtungslos, als sich nämlich herausstellte, daß sich die voreilig verkündeten Wiedervereinigungsversprechen — und da könnte ich eine Fülle von Zitaten anführen — nun doch nicht verwirklichen ließen. Die sehr zurückhaltende Äußerung des Bundeskanzlers Adenauer nach dem Mauerbau in Berlin vom 13. August 1961 ist bekannt. Sie war vernünftig, weil sie Sinn für die Realitäten aufwies. Auch schon auf einer Pressekonferenz vorher, am 13. Juli 1961 erklärte der damalige Bundeskanzler zur Frage von Bundestagssitzungen in Berlin u. a. — ich darf wieder zitieren —:Wir müssen uns doch darüber im klaren sein, daß die Atmosphäre gespannt ist und daß es nicht gut ist, diese Spannung in der Atmosphäre noch. zu vergrößern, wenn man es vermeiden kann. Es liegen so wichtige Dinge vor, die Zukunft Berlins, die Zukunft Deutschlands, daß es nun wirklich keine Rolle spielt, ob der Bundestag oder der Bundesrat gerade im Sommer einmal hiergewesen sind.Das hätte mal ein anderer sagen sollen, meine Damen und Herren.
Schließlich wurde noch Ende der 50er Jahre der Plan entwickelt und der Sowjetunion nahegebracht, für die DDR eine Österreich-Lösung vorzusehen, d. h., einen selbständigen, freien und durch Neutralität gebundenen zweiten deutschen Staat zu schaffen. Das war eine Sache — ich wage es beinahe nicht zu sagen —, über die man hätte reden können. Ich frage mich nur, welche Protestschreie von seiten der Union zu erleben gewesen wären, hätte dies ein Vertreter der anderen Seite, der sozialliberalen Koalition, verkündet, wäre doch mit einem solchen Modell die Zwei-Staaten-Theorie auf die Dauer festgeschrieben. Was würde man wohl zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag gesagt haben, wenn es diesen damals schon gegeben hätte, meine Damen und Herren? Diese Fragen drängen sich doch auf.Die beginnende Erkenntnis in die wahre Situation Deutschlands war allerdings auch in den früheren Jahren durch Äußerungen geprägt, die sich weitab jeglicher Realität bewegten. So erklärte Konrad Adenauer am 29. Oktober 1956 auf die Frage eines israelischen Journalisten nach der Tauglichkeit wirtschaftlicher Mittel zur Erreichung der deutschen Einheit u. a.:Es war möglich; es ist noch immer möglich. Die Lage Rußlands ist nicht beneidenswert. Früher haben ihnen die Amerikaner Weizen verkauft, ohne Bedingungen zu stellen. Ich hätte die bestehenden Gelegenheiten wahrgenommen. Man beginnt mit kleinen Forderungen und erhöht diese Forderungen im Laufe der Zeit.So leicht ist das offenbar.Zu Gesprächen deutscher Wirtschaftsdirektoren auf der Leipziger Messe vor dem Presseclub am 12. April 1960:
Es gebe Vertreter der Wirtschaft, die so wenig nationales Selbstgefühl hätten, daß es bedauerlich sei. Sie seien sich bei ihren Verhandlungen mit sowjetzonalen Politikern ihrer Pflicht nicht bewußt gewesen, die auch Führer der Wirtschaft in nationaler Hinsicht hätten.Ich wiederhole, meine Damen und Herren: Ich habe diese Zitate nicht gebracht, um unnötig in der Vergangenheit herumzurühren. Allerdings meine ich, daß man über die 30jährige Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, wenn man über Deutschlandpolitik spricht, nicht reden kann, ohne auch darzulegen, wie die Behandlung der deutschen Frage von denen gesehen worden ist, die in den entscheidenden Jahren Verantwortung in der Bundesrepublik getragen haben. Meine Damen und Herren, ich sage dies bei aller Zurückhaltung — und ich bin wirklich zurückhaltend, glaube ich —, um der Darstellung der Union entgegenzutreten, sie allein habe zu allen Zeiten konsequent die richtige Politik in der deutschen Frage vertreten, sie sei sozusagen die Wiedervereinigungspartei par excellence.
Die sozialliberale Koalition hat 1969 die wahre Lage klar erkannt. Sie hat auf Grund der vorgegebenen Situation im Zuge der allgemeinen Entspannungs- und Friedenspolitik durch ihre Verträge von Moskau und Warschau auch den anderen deutschen Staat in ihre Konzeption einbezogen, wohlwissend, daß eine Verdichtung und Normalisierung der Beziehungen zur DDR die immer stärker gewordene Mauer schrittweise durchlässig machen könne, wenn auch zunächst nur von einer Seite her.Gewiß, meine Damen und Herren, ist die schreckliche Mauer, die unser Land trennt, noch nicht beseitigt. Wer konnte dies angesichts der Macht- und Interessenlage in Mitteleuropa so leicht erwarten? Wer wußte aber auch wirksame Mittel aufzuzeigen, mit denen man diesen Zustand in absehbarer Zeit hätte beseitigen können? Die Opposition ganz gewiß nicht.
— Ich komme langsam heran, Herr Kollege.Im Zusammenhang mit den vertraglichen Vereinbarungen ist unser Anspruch auf Vollendung der staatlichen Einheit aller Deutschen schriftlich festgehalten und auch im internationalen Rahmen immer wieder geltend gemacht worden. Ich erinnere — mein letzter Hinweis — an die Erklärung von
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12304 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. WendigBundesaußenminister Genscher vor der UNO-Vollversammlung, wo er klar und unmißverständlich gesagt hat: Es bleibt das erklärte Ziel, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.
— Ja, wiedererlangt.
Gewiß, immer wieder versucht die DDR, sich von einigen Verpflichtungen des Grundvertrages abzusetzen. Die Beschränkung der Tätigkeit westdeutscher Journalisten ist ein besonders aktuelles und böses Beispiel. Wir verurteilen diese Maßnahmen auf das schärfste. Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie nichts unversucht läßt, die DDR immer wieder an ihre Verpflichtungen aus dem Grundlagenvertrag und aus der Schlußakte von Helsinki zurückzuführen. Wirtschaftliche Sanktionen etwa in dem Sinne, in dem Herr Kollege Barzel am 26. April in der Aktuellen Stunde sehr eloquent sein Konzept von Tranchen und Gegenleistungen entwickelt hat, sind zumindest in den Wirkungen fragwürdig. Ich erinnere an das vorhin genannte Zitat Konrad Adenauers, in dem er meinte, durch wirtschaftliche Repressionen die DDR gewissermaßen freikaufen zu können. Wer aber meint, es nütze dann eben nichts, mit der DDR Verträge zu schließen, führt uns zurück zum Punkt Null, d. h. in eine Situation, in der wie im Kalten Krieg zwischen den beiden Teilen Deutschlands nichts mehr läuft,
Herr Kollege Barzel hat am 26. April in einem allerdings recht gehabt: Wir sind nicht ohnmächtig. Wir reden uns das aber auch nicht ein. Leider vergessen viele bei uns immer wieder, daß sich die DDR als Ergebnis unserer Vertragspolitik und durch den Eintritt in die UNO nunmehr als Mitglied der" Völkerrechtsgemeinschaft der uneingeschränkten Kritik der Weltöffentlichkeit stellen muß. Die Abkapselung früherer Jahre ist ihr in dem internationalen Spektrum nicht mehr möglich. Im übrigen: Vereinbarungen wie z. B. Verkehrsbeziehungen sind für die DDR sicher leichter einzuhalten als Vereinbarungen, die den Bereich der Pressefreiheit berühren. Dies ist zu bedauern. Das ist jetzt keine Wertung, die ich abgebe. Die Tatsache, daß sich hier Welten gegenüberstehen, wird von niemand wegzudiskutieren sein. Hier zeigt sich aber die Schwäche der DDR, weil sie vor der Weltöffentlichkeit die freie Presse, die freie Berichterstattung scheuen muß. Auf lange Sicht gesehen ist deshalb unsere Position die stärkere.Die Opposition meint weiterhin, als Ergebnis der Vertragspolitik die erwarteten menschlichen Erleichterungen vermissen zu müssen. Nun, auch wir wünschten uns mehr Erleichterungen, und nicht nur überwiegend in der Richtung von West nach Ost. Die Tatsache aber, daß heute jährlich Millionen westdeutsche und Berliner Bürger in die DDR reisen können, ist schon ein ganz entscheidenderErfolg, der von der Opposition leider immer wieder heruntergespielt wird.
Uns unterscheidet von den Gründerjahren der Bundesrepublik Deutschland ein ganz wesentlicher Umstand: Den Bürgern in beiden deutschen Staaten war vor 30 Jahren, noch vor 20 Jahren die staatliche Einheit der Deutschen eine bewußt gelebte Vergangenheit, die noch nicht lange zurücklag. Dies ist heute bei der Mehrzahl unserer Bürger infolge des Wechsels der Generationen nicht mehr der Fall. Das ist der entscheidende Punkt. Jedes politische Offenhalten der deutschen Frage, aber auch jeder noch so gute Unterricht an den Schulen bleiben blasse Theorie, wenn nicht die Möglichkeiten persönlicher Begegnungen bestehen und genutzt werden.
Politisch kommt es für uns Deutsche in der Bundesrepublik Deutschland also auf zwei zentrale Punkte an. Erstens ist das Bewußtsein der deutschen Einheit wachzuhalten und zu entwickeln. Dazu gehört, daß wir den anderen Teil Deutschlands kennen, daß wir seine Menschen kennen und die Entwicklungen, die sich politisch, geistig und kulturell dort vollzogen haben. Zweitens. Solange eine politische Lösung für die deutsche Einheit wie zur Zeit nicht möglich erscheint, muß nach Formen für ein geregeltes Nebeneinander der beiden Staaten in Deutschland gesucht werden. Auch dabei kommt es darauf an, den politischen, rechtlichen und humanitären Anspruch der Deutschen auf freie Selbstbestimmung langfristig wachzuhalten.Beiden Voraussetzungen — das betone ich — wird die Deutschlandpolitik der Bundesregierung und der sozialliberalen Koalition voll gerecht.' Es gibt keinen Anlaß, hier irgendwelche Zweifel zu haben. Allerdings kann der Staat allein nicht alles tun. Auch der Unterricht an den Schulen kann allein das Deutschlandbild der jungen Menschen nicht entscheidend prägen. Presse, Funk, Fernsehen, kultureller, aber auch sportlicher Austausch, wirtschaftliche Beziehungen müssen hinzutreten. Dies kann aber den persönlichen Austausch von Meinungen und Gedanken nicht ersetzen, so dünn die Rinnsale auch sein mögen, die zur Zeit in beiden Richtungen fließen.Die Empfehlungen der ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder zur Behandlung der deutschen Frage im Unterricht sind eine hervorragende Leistung. Sie stehen voll auf dem Boden der gegebenen Tatsachen und führen den jungen Menschen sachlich in die Problematik der deutschen Frage ein. Sie stehen auch in keinem Widerspruch zur Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition. Im Gegenteil: Sie umschreiben sie in einer sehr klaren Diktion. Sie legen nicht zuletzt auch dem jungen Schüler dar, daß das europäische Einigungsstreben — damit komme ich zu einer weiteren, zur letzten Frage — nicht im Gegensatz
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Dr. Wendigzur Wiedervereinigung Deutschlands zu stehen braucht.Trotz Ihrer verbalen Erklärungen in diesem Bereich muß man sich bei manchen Aussagen der Union zur Deutschlandpolitik fragen, wie Sie den Widerspruch auflösen wollen, der bei einigen Ihrer Redner zwangsläufig entstehen muß. Daß Wiedervereinigung nicht im Sinne eines Anschlusses, aber auch nicht im Sinne eines deutschen Nationalstaats alter Prägung möglich ist, steht, und zwar für alle, nicht erst seit heute fest. Einsichtige Unionspolitiker haben das ebenfalls längst erkannt. Während aber auf der einen Seite — durchaus konsequent — die Zusammenfassung aller Deutschen unter einem staatlichen Dach gerade in einer Verwirklichung der Europäischen Gemeinschaft als die auf längere Sicht einzig mögliche Lösung angesehen wird, sprechen andere von Ihnen von Verfassungsbruch und von Landesverrat, wenn erklärt wird, daß man die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands unter den heutigen Umständen neu formulieren müsse, möglicherweise mit Wendungen, die rein verbal nicht den Begriff der Wiedervereinigung alter Art enthalten. Das ist, Herr Kollege Zimmermann, keine Statusfrage und hat mit Rechtsposition überhaupt nichts zu tun.
Ich muß auch, weil sich ein bestimmter Punkt gegen meine Partei und Fraktion richtet, ganz deutlich erklären: Für uns stehen in dieser Frage Rechtsgrundsätze nicht zur Disposition. Das gilt auch für die Frage der Staatsangehörigkeit. Herr Kollege Hoppe, der vorhin von Herrn Zimmermann angesprochen worden ist, hat darauf schon in der Aktuellen Stunde ganz klar und eindeutig geantwortet, so daß das heute wirklich nicht mehr erforderlich war.
— Ich spreche für meine Fraktion. Aber, ich glaube — —(Kittelmann [CDU/CSU] : Das reichtschon!)— Nein, durchaus nicht. Ich habe davon gesprochen, daß in einer verbal anderen Umschreibung noch keine Veränderung der Rechtspositionen liegt.Der Herr Bundeskanzler hat in seinem Bericht die politischen, wirtschaftlichen und geistigen Entwicklungen im freien Teil Deutschlands und in der DDR sehr umfassend geschildert. Gegensätzliches und Gemeinsames treten hier zutage. Hat aber — ich glaube, wir müssen jetzt auch einige Fragen an uns richten — nicht bei uns eine in Klischees erstarrte Diskussion, wie sie leider seit Jahren betrieben wird, dazu beigetragen, daß viele Bürger nur schwer die notwendige Klarheit über die wahre Lage der deutschen Nation haben gewinnen können? Hat diese Vernebelung, die, wie ich aufgezeigt habe, eine lange Geschichte hat, nicht schließlich auch bewirkt, daß viele bei uns die nationale Zukunft der Deutschen nicht mehr als eine brennende Frage ansehen? Ich stelle diese Frage.Ich fürchte, daß in den letzten 30 Jahren vieles von dem verschüttet worden ist, was uns noch bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland bewegt hat. Auf der anderen Seite wird sich bei vielen Bürgern der DDR ein besonderes sozialistisches Staatsbewußtsein am Ende sicherlich nicht herausbilden können — davon bin ich felsenfest überzeugt -, fehlt es doch dort an der Freiheit, auf die jeder Weg nach staatlicher Einheit der Deutschen ausgerichtet sein muß.Nach dem Frieden von Lunéville 1801 — ich wende meinen Blick also wieder einmal zurück — schrieb Friedrich Schiller angesichts der napoleonischen Bedrohung in einem fragmentarischen Gedicht über die Deutschen u. a.:Die Majestät der Deutschen ruhte nie auf dem Haupt seiner Fürsten. Abgesondert von den Politikern hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium unterging, so blieb die deutsche Würde unangefochten. Sie ist eine sittliche Größe; sie wohnt in der Kultur und in dem Charakter der Nation, der von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist.Ich sehe einmal davon ab, daß Schiller mit diesen Sätzen von einem politischen Begriff der Nation Abschied nahm, um sich um so deutlicher der Kulturnation zuzuwenden. Es war dies eine Entwicklung, die für die politische Bildung des Bewußtseins des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert nicht unbedingt von Vorteil gewesen ist. Trotzdem sollten wir in unserer konkreten Situation an dem Verbindenden der gemeinsamen deutschen Kultur festhalten, das auch durch unterschiedliche Gesellschaftssysteme so leicht nicht zu zerstören ist. Auf diesem Gebiet ist zur Zeit sehr viel mehr in Bewegung, als manch einer meinen mag. Der Herr Kollege Hoppe hat vorhin auf einige dieser Probleme hingewiesen.Zur Würde der Deutschen wie zur Würde aller Menschen gehört an allererster Stelle die Freiheit. Für die Freiheit der Deutschen in der DDR können wir heute nicht viel tun.Kommen wir aber zu uns: Materieller Wohlstand und soziale Sicherung dürfen bei dem Bürger unserer Republik nicht den Blick auf die Tatsachen verstellen, daß seine Freiheit zugleich sein höchster Besitz ist. Nur wenn wir stärker als in der Vergangenheit uns dieser geistigen Kraft bewußt sind, wirken wir vorbildlich auch auf diejenigen, denen die Freiheit bisher versagt ist. Nicht mit großen Worten und nicht mit verbalen Gesten bewegen wir die Geschicke unserer Nation.Was soll ich von den Worten des Herrn Kollegen Zimmermann halten, wenn er vorhin pathetisch gesagt hat — so in etwa —, keine Macht in der Welt könne den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands versperren.
Erstens ist diese Aussage falsch; zweitens erreicht das einen Grad von
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12306 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. WendigZumutung, der eigentlich für viele schwer erträglich ist. Es bedeutet eigentlich immer noch einen Realitätsverlust gegenüber den Möglichkeiten, in denen sich eine verantwortliche deutsche Politik bewegen kann.Nicht mit großen Worten bewegen wir die Geschicke der Nation; nur wenn wir nüchtern die Realität erkennen, sie beschreiben und danach handeln, wirken wir überzeugend nach innen und außen. Nur wenn wir überzeugend wirken, begründen wir aber für unsere Politik, die einen langen Atem braucht, die einzige Chance zum Erfolg.
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundesminister Franke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir zunächst einige Vorbemerkungen. Der Abgeordnete Dr. Barzel hat in der Aktuellen Stunde am 26. April hier die Bundesregierung aufgefordert, den Bericht zur Lage der Nation, „wie es Vorschrift ist", schriftlich vorzulegen.Hier liegt offensichtlich ein Mißverständnis vor. Seit 1968 haben alle Bundeskanzler den Bericht zur Lage der Nation von dieser Stelle aus stets mündlich vorgetragen. Das ist zu allen Zeiten so gewesen.Anders steht es mit den Materialien und Dokumenten. In Ergänzung zum Bericht zur Lage der Nation hat die Bundesregierung seit Beginn der 70er Jahre ohne Beschluß des Parlaments, also ohne Auflagen, zur Ergänzung des Berichts solche Dokumentationen und Materialien vorgelegt, wenn es sinnvoll erschien und auch zustande zu bringen war, aus dem Thema, aus der ganzen Situation heraus. Das war natürlich immer schriftlich. Ich bitte Sie, doch wenigstens in dieser Frage zu versuchen, mit uns übereinzustimmen, daß wir bemüht waren, neben dem Vortrag auch Dokumente, und zwar sehr dicke, in Fortschreibung durch wissenschaftliche Kommissionen erstellt, zur Verfügung zu stellen. Sie mögen es glauben oder nicht: Diese Materialien wurden von der interessierten Öffentlichkeit in einem solch hohen Maße angefordert, daß wir mehrere Auflagen nachdrucken lassen mußten.Dies war in der Tat eine großartige Sache. Wir werden auch bemüht sein, das wieder zustande zu bringen. In diesem Jahr wird es keine Dokumentation geben. Aber ich darf sagen, daß das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen zum nächsten Jahr bereits eine Fortschreibung dieser Dokumentation vorbereitet.Aber bitte: Es ist keine zwingende Verpflichtung gewesen, daß der Bericht zur Lage der Nation mit Dokumenten belegt hier erstattet wird. Aber es ist in das Ermessen der Regierung gestellt, und diese Absicht besteht.
— Wir strengen uns doch an, weil wir gemeinsam daran interessiert sind, das Mögliche zu tun, um die Debatte zu diesem ernsten Thema so sachlich und fundiert, wie es nur geht, zu führen und — für jeden nachprüfbar — auch mit Materialien anzureichern.
Eine zweite Vorbemerkung. Herr Dr. Kohl, Sie meinten heute morgen, die Bundesregierung mahnen zu müssen, mehr für die Verbreitung nationalen Bewußtseins und Wissens in den Schulen zu tun.
— Lassen Sie mich doch dazu antworten. Ich habe das ja aufgegriffen.
Dazu muß ich sagen: Wir tun das, wozu wir einmal kompetenzmäßig in der Lage sind, Ich darf Sie an die Konflikte erinnern, die wir hatten, als es um flankierende Dinge ging. Da gab es beachtliche Proteste der Länderminister.
Zum anderen geht es dabei um Dinge, zu denen wir finanziell in der Lage sind. Wir machen das im engsten Zusammenwirken mit der Ständigen Kultusministerkonferenz und sind bemüht, dabei ein Höchstmaß zu erreichen. Die Nachfrage nach diesem Material ist beachtlich gestiegen.Es besteht immer nur die Schwierigkeit: Sie fordern, daß wir mehr tun sollen. Wenn es aber bei den Haushaltsplanberatungen darum geht, für die Finanzierung zu sorgen, dann beantragen Sie gerade hierfür die Kürzung der Mittel. Ich weiß nicht, wie ich das miteinander vereinbaren soll. Bisher haben wir jedenfalls immer noch eine einigermaßen optimale Möglichkeit gefunden. Ich würde mich freuen, wenn Sie bei den nächsten Haushaltsberatungen zu diesem Titel initiativ würden und sagten: Dafür müssen wir den Mittelansatz im Etat des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen verstärken.
Damit würden Sie einer guten Sache helfen. Hier geht das aber, wie Sie es mal so, mal so für richtig halten.Nach diesen Vorbemerkungen möchte ich noch einige Anmerkungen zu anderen Themen machen, die in Verbindung mit dem Bericht zur Lage der Nation eine Rolle spielen. Lassen Sie mich dabei zunächst einmal zu dem kommen, was in den letzten Wochen auch eine Rolle spielte, nämlich dem Streit, der um den Begriff der Wiedervereinigung entbrannt ist. Ich möchte dazu ganz offen sagen: Diejenigen, die sich unterstanden — —
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Bundesminister Franke— Sie können das deuten, wie Sie wollen. Per Saldo kommt es auf dasselbe heraus: vom Zaun gebrochen entbrannt,was soll's.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns doch versuchen, beim Wesentlichen zu bleiben. Ich habe den Eindruck, daß hier durch erheiternde Zwischenbemerkungen zur Auflockerung der Diskussion beigetragen wird. Ich glaube aber, die werden dem Thema nicht ganz gerecht. Wir sollten ruhig versuchen, ein bißchen bei der Sache zu bleiben. Lassen Sie uns doch einmal versuchen, diesem Thema in aller Sachlichkeit beizukommen. Ich weiß, daß ich nicht bei jedem Gehör finde. Das wäre auch anmaßend. Ihnen geht es ja nicht anders. Ich muß mich eben damit abfinden.Diejenigen, die sich unterstanden, die politische Wirklichkeit oder Wahrscheinlichkeit dieses Wortes unter die Lupe zu nehmen und dabei zu einem eher negativen Befund gelangten, wurden als nationale Defätisten oder gar Verräter behandelt. Diejenigen aber, die sich sehr impulsiv ohne viel nachzudenken entrüsteten, taten so, als seien sie die wahren, die echten, die treuen Patrioten. Oft war dann auch wohlfeiles, im Brustton der Überzeugung vorgetragenes Bekenntnis von der Art zu hören, wie wir es auch heute hier wieder vernommen haben. Dazu meine ich aber: Wohlfeile Bekenntnisse, Bekenntnisse, die nichts kosten, sind auch nichts wert. Die kann man schnell von der Zunge bringen. Hier geht es um praktische Aufgaben, die sogar Courage erfordern, um sich gegenüber eingefahrenen Begriffen und Vorstellungen durchsetzen zu können.Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen: wenn sie auch nichts wert sind, so schaden sie auch nichts. Dies ist ein Irrtum. Wer in der politischen Realität des Jahres 1979 Raum und Platz für den gedanklichen Entwurf der Wiederherstellung des Deutschen Reiches, wie es einmal war, findet, der ist entweder ein politischer Phantast oder ein Zyniker. Auf jeden Fall hindert er sich und andere daran, das der heutigen Realität Gemäße und Mögliche zu erkennen und dann auch zu tun.Deswegen sage ich: Solche tönenden Bekenntnisse in stumpfen Denk- und Sprachfiguren sind nicht nur nichts wert, sie schaden vielmehr auch, und zwar am meisten den Menschen, die gegenwärtig in dem anderen deutschen Staat, der Deutschen Demokratischen Republik, leben und arbeiten.Ich sage Ihnen offen: Letztlich ist es mir egal, in welchen Worten und Begriffen einer seine patriotischen Gefühle zum Ausdruck bringt, wenn es nur in einer Weise geschieht, daß dabei die Interessen und Wünsche der heute in der DDR lebenden Deutschen mitbedacht werden.
Was nämlich wirklich zählt, ist, ob wir bereit undfähig sind, den nötigen Anstand und die nötige Solidarität gegenüber den heute in der DDR lebendenDeutschen aufzubringen, und zwar in der DDR, so wie sie heute ist und sich uns darstellt. Manche, die ungerührt und leichthin das Wort „Wiedervereinigung" im Munde führen, glauben vielleicht, das Problem auf diese Weise bequem in eine weite nebulöse Zukunft abzuschieben und es auf diese Weise jedenfalls für die Gegenwart loszuwerden. Das wären dann die Zyniker, von denen ich vorhin sprach: Wiedervereinigungsrhetorik als Nebelwand, um dahinter eine ausschließlich an westdeutschen Interessen orientierte Politik zu verfolgen!Es könnte ja sein, daß einer so viel hellseherische oder auch analytische Fähigkeiten besitzt, daß er voraussieht: die Deutschen haben mit dem angestifteten und verlorenen Zweiten Weltkrieg die Einheit endgültig auf Jahrhunderte verspielt, oder sie werden sie schließlich nicht mehr entbehren, oder sie verzichten am Ende aus freien Stücken darauf. Wie gesagt, es kann sein, daß jemand diese Einsicht heute schon hat und weiß, daß es so kommen wird. Aber ich behaupte, selbst dieser Jemand hätte moralisch nicht das Recht, die Erwartungen, Hoffnungen und Interessen der Menschen in der DDR zu enttäuschen und für die Bundesrepublik heute eine Politik zu empfehlen oder zu führen, welche die Erwartungen, Hoffnungen und jetzigen Interessen der Deutschen in der DDR nicht mitberücksichtigt.Wir anderen, die wir solche Fähigkeiten des Hellsehens nicht haben und demzufolge das künftige Schicksal der Deutschen nicht kennen, wir haben erst recht keinen vertretbaren Grund dazu. Anstand und Solidarität gegenüber den Deutschen in der DDR verpflichten uns zu einer Politik der Zusammenarbeit mit dem Staat DDR, verpflichten uns, die uns zur Verfügung stehenden Mittel und Wege zu nutzen, um die Folgen der Teilung für die Menschen unseres Volkes zu mildern. Hier an diesem Punkt scheiden sich in Wahrheit die Geister und nicht an der Häufigkeit oder der oft gedankenlosen Beständigkeit, mit welcher einer seine patriotischen Bekenntnisse ablegt.
Für das heutige und künftige Schicksal der Deutschen viel wichtiger ist, ob wir heute das uns Mögliche zu tun bereit sind und auch die Courage dazu aufbringen.
Wir, die Koalition, sagen, die Politik der Entspannung in den innerdeutschen Beziehungen, die wir vor knapp zehn Jahren begonnen haben, ist ohne reale oder vernünftige Alternative. Dies wird uns zuweilen als unpolitische, zumindest als taktisch unkluge Äußerung vorgehalten. Was wir damit meinen, ist dies: Zu dieser Politik treibt uns nicht allein die moralische Verpflichtung, die wir als Deutsche für die Deutschen in der DDR fühlen, es treiben uns dazu auch eigene Interessen. Eben diese Kombination aus moralischer Verpflichtung und Interesse läßt in unseren Augen diese unsere Poli-
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12308 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Bundesminister Franketik ohne Alternative sein — so alternativlos übrigens, daß wir allen Grund haben zu der Annahme, daß die Opposition am Ende doch auch bei dieser Politik landet. Um einem Mißverständnis vorzubeugen: dazu müßte die heutige Opposition natürlich noch einen großen Lernprozeß durchmachen.Um wieder zu den Interessen zurückzukehren, die uns neben einer moralischen Verpflichtung zu der Politik der Entspannung und Zusammenarbeit gegenüber der DDR veranlassen: welche Interessen sind das? Im wesentlichen zwei. Da ist zunächst unser Interesse an der Lebensfähigkeit und an der Stabilität der Lebensverhältnisse für WestBerlin. Und West-Berlin liegt nun einmal mitten in der DDR. Die Rolle und Verantwortung, die uns hier obliegt, könne uns die drei Westalliierten nicht abnehmen; sie haben sie uns ja mit unserer eigenen Zustimmung sogar ausdrücklich übertragen.Die Vereinbarungen vom November vergangenen Jahres sind ein hervorragendes Beispiel für die Verbindung zwischen unserer Politik gegenüber der DDR und unserer Politik für Berlin. Im Ernst wird niemand leugnen, daß es angesichts der „Unterschiede in den Rechtsauffassungen" — wie es im Viermächteabkommen heißt — ein Politikum ersten Ranges darstellt, wenn wir mit der DDR einen Ausbau der Zugangswege nach Berlin vereinbaren, ein Politikum und eine Leistung, die auch einen Preis wert ist. Die Bundesregierung jedenfalls hat so gedacht, als sie über das Verhandlungsergebnis zu befinden hatte. Sowohl hier vor dem Bundestag als auch vor der Offentlichkeit haben wir unsere Kriterien dargelegt. Wir bleiben auch nach den Beratungen in den Ausschüssen des Bundestages bei der Beurteilung, daß die vereinbarten Verbesserungen und ihre politische Bedeutung den finanziellen Aufwand lohnen. Aus unserer Sicht rangieren die Interessen Berlins dabei an erster Stelle.Wir unterschätzen aber auch nicht den Wert dieser Vereinbarungen für die Stabilisierung unserer Beziehungen zur DDR. Statt daran herumzumäkeln, sollten wir die Verschränkung unserer Deutschlandpolitik mit unserer Berlin-Politik begrüßen. Wir sollten es begrüßen, daß Investitionen für die Zukunft West-Berlins zugleich unseren Arbeits- und Kooperationskontakt mit der DDR fundieren und weiterbringen.Manche Kritiker vermissen anscheinend direkte Vorteile aus den erheblichen finanziellen Aufwendungen für die Menschen in der DDR. Manche kritisieren an den Aufwendungen, die Bundesrepublik subventioniere das Wirtschaftssystem der DDR. Ich finde das reichlich kurzsichtig. Schließlich sind die Menschen von dem gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang, unter dem sie arbeiten, wirtschaften und konsumieren, nicht zu trennen. Außerdem — darauf hat ein Journalist bei uns mit Recht hingewiesen — tut die neue Autobahn auch vielen Urlaubern recht wohl, die aus dem Süden der DDR an deren westliche Ostseeküste zur Erholung reisen, eine Vorstellung, die mir nicht unsympathisch ist, und ein Gesichtspunkt, der zugegebenermaßen nur am Rande zählen darf, aber doch nicht ganz unbeachtet bleiben sollte.Bei dem ganzen Verhandlungskomplex, der letzten November abgeschlossen wurde, ging es wieder darum, verschiedene, unterschiedliche Interessen gegeneinander aufzuwiegen und in einem für beide Seiten tragbaren Kompromiß zu verschnüren. Das ist etwas anderes, als wenn zwei Partner mit der grundsätzlich selben Zielsetzung bei variierenden Interessen versuchen, zu einem Ergebnis zu kommen. Wir müssen immer von der Prämisse ausgehen: Grundlegende Meinungsverschiedenheiten und Gegensätze, gerade in den elementaren Fragen, mit denen wir es zu tun haben, bringen nur einen Kompromiß und nicht das ideal Gewünschte zustande.Hier im Verhältnis zur DDR ist es so, daß grundsätzliche Unterschiede, ja Gegensätze, weit auseinanderliegende Interessen ohne gemeinsamen Grundnenner hervorbringen. Solche Interessen ohne gemeinsamen Grundnenner müssen wir dann in einem Kompromiß gegeneinander aufwiegen. Das Schwierige dabei ist, daß so Interessen miteinander in Beziehung gebracht werden — gebracht werden müssen —, die von Hause aus nichts miteinander zu tun haben.Meine Damen und Herren, unser zweites starkes Interesse, das unserer Politik gegenüber der DDR zugrunde liegt, ist unser Interesse am Frieden. Zu diesem Interesse haben wir aus unserer jüngsten Geschichte sowie aus unserer politisch-territorialen Situation heraus die allergrößte und zugleich die konkreteste Veranlassung, die sich denken läßt. Hier in Mitteleuropa, auf dem Territorium der beiden deutschen Staaten, stehen sich die Bündnisse Warschauer Pakt und Nordatlantikpakt hochkonzentriert gegenüber, unter Aufbietung — auf beiden Seiten — enormer Potentiale von Waffen und Menschen.Fast möchte man zweifeln, daß mit den Mitteln der innerdeutschen Politik die Gefahr, die von dieser militärischen Konfrontation ausgeht, nennenswert gemindert werden könnte. Auf der anderen Seite wird nicht zu Unrecht gerade von Oppositionskollegen darauf verwiesen, die militärische Konfrontation sei nicht das Primäre, primär sei die politische Konfrontation, die in der militärischen zum Ausdruck komme. Wenn das richtig ist, dann kann normalisierungsförderliche, spannungsabbauende innerdeutsche Politik in der Tat zur Entschärfung der Konfrontation — auch der militärischen — zwischen den Bündnissen beitragen. Daß das geschieht, daran müssen wir allein aus der militärisch-geographischen Lage heraus das größte Interesse haben.Wenn wir uns so unsere Interessen und moralischen Verpflichtungen zu einer Politik der Entspannung und Zusammenarbeit gegenüber der DDR klarmachen, dann verhilft uns das, so meine ich, zu mehr Nüchternheit und Beständigkeit im Urteil über die Vertragspolitik, ihre Bedingungen, ihren Ertrag und ihre Gefährdungen. Das verhilft auch
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Bundesminister Frankedazu, vor allem in Fragen der Menschenrechte auf die Effektivität des Verhaltens und Handelns von Regierungsseite zu sehen.In diesem Zusammenhang muß ich in aller Form das Verhalten des CDU-Abgeordneten Dr. Mende beanstanden. Herr Dr. Mende zieht seit einiger Zeit hier in der Bundesrepublik, aber auch vor der internationalen Offentlichkeit im Europarat zu Straßburg mit Begriffen wie „Menschen- oder Sklavenhandel" über die besonderen Bemühungen der Bundesregierung um die Freilassung von Häftlingen her. Es geht mir dabei gar nicht um die Bundesregierung. Deren Verhalten ist ohnehin verantwortungsethisch voll gerechtfertigt. Das Schlimme ist -- darum erwähne ich es überhaupt —: Mit seinen Diffamierungen und Disqualifizierungen trifft Dr. Mende gleichsam direkt das Schicksal der Menschen, die in der DDR im Gefängnis sitzen und auf unsere Hilfe warten. Mehr ist dazu überhaupt nicht zu sagen. Ein Menschenrechtseinsatz von dieser Qualifikation richtet sich selbst. Ich weiß nicht, wie ich aus folgendem Widerspruch herauskommen soll. Entweder man unternimmt verstärkte Anstrengungen — auch auf Ihr Drängen hin — in Richtung auf Freilassung dieser Menschen. Sie wissen ja selber, wie notwendig es ist, das menschliche Leid zu lindern. Wenn man dies will, kann man aber diese Bemühungen in der Offentlichkeit nicht so disqualifizieren, daß die beteiligten weiterhin mit einem schlechten Gewissen bei der Sache wären.
Es lohnt sich, einmal darüber nachzudenken. Sie sollten einmal den Widerspruch zwischen Ihren Forderungen nach mehr Menschlichkeit und praktischer Wirksamkeit durchdenken.Es ist glatte Illusion, zu erwarten, die DDR könne durch das Mittel zwischenstaatlicher Vereinbarungen dazu gezwungen werden, bei sich selbst Zustände einzuführen, wie sie in freiheitlichrechtsstaatlichen Demokratien gang und gäbe sind. Als Beispiel nenne ich die journalistische Berichterstattung aus der DDR. Ich stehe nicht an, die jüngste Durchführungsbestimmung samt ihrer Anwendung gegen den ZDF-Korrespondenten nicht nur für einen Rückschlag, sondern für einen tatsächlichen Rückschritt zu halten.Die DDR hat 1972/73 mit uns eine Vereinbarung auf Gegenseitigkeit über die freie Information und Berichterstattung der Korrespondenten beschlossen. Aus Gründen, die sie selbst zu vertreten hat, sieht sie sich nunmehr offenbar außerstande, die auf Grund dieser Vereinbarung inzwischen gewachsene mehrjährige Praxis ungeschmälert weiter fortzuführen. Darum die Verschärfung bzw. Ausdehnung der Bestimmungen über die Genehmigungspflichtigkeit von Vorhaben und Reisen, darum die provinzielle Sturheit in der Durchsetzung.Es ist nicht schwer auszumachen, welche Gründe es sind, die die DDR zu diesem Verhalten veranlassen: Der herrschenden Partei bleibt das Informationsmonopol unantastbar.Es hat nicht im entferntesten etwas mit Billigung oder Zustimmung zu tun, wenn man sich dies nüchtern vor Augen führt und dann fragt, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Sollen die westlichen Journalisten auf Berichterstattung aus der DDR nun vollends verzichten? Dies wäre ja wohl die Konsequenz, wenn man dem Urteil von Oppositionsseite folgte, der Vorgang beweise ein weiteres Mal das Scheitern der Vertragspolitik.
Ich meine, so leichtsinnig und pauschal kann nur denken und urteilen, wer diese Politik für irgendeine konjunkturelle Erscheinung hält und nicht für eine moralisch und interessenmäßig fundierte Notwendigkeit, die nur auf Langfristigkeit angelegt Erfolg bringen kann
und nicht beliebig unterbrochen werden kann, um dann bei passender Gelegenheit wieder aufgegriffen zu werden. Nichtsdestoweniger wird der Vorgang auf unsere künftige Verhandlungsführung selbstverständlich seine Auswirkungen haben. Dieses Thema ist für uns keineswegs beendet.Aufs Ganze gesehen wird sich die Bundesregierung nicht davon abbringen lassen, die innerdeutschen Fragen mit Umsicht, Beharrlichkeit und Augenmaß zu handhaben und weiter zu verfolgen. Wer — wie wir — von Anfang an von der Notwendigkeit und Richtigkeit dieser Politik überzeugt ist, wird auch nicht gleich schwankend und unsicher, wenn sich herausstellt, daß die DDR mit der Vertragspolitik ebensowenig zu missionieren ist wie wir selbst.Wir, die Bundesregierung, agieren und reagieren mit dem Blick auf unsere moralische Verpflichtung und die Interessen dieses Landes.
Ich fand, es war äußerst interessant, als heute der Beitrag von unserem Kollegen Mattick hier vorgetragen wurde, um einmal aufzuzeigen, was aus Ihren Prognosen in der Zeit der praktischen Politik geworden ist.
Von Anfang an haben Sie den Untergang Deutschlands und das Scheitern dieser Politik prophezeit, und inzwischen bedienen Sie sich der Ergebnisse und Erfolge. So soll es auch sein. Die Menschen drüben haben wieder mehr Zuversicht und Hoffnung gefaßt. Lassen Sie uns diese Politik gemeinsam und sachlich fortführen!
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Barzel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Franke, haben
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12310 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. BarzelSie sich am Schluß versprochen, oder haben Sie das gemeint? Eines Ihrer letzten Worte hieß „gemeinsam".
— Dann setzen Sie das einmal beim Kanzler und beim Herrn Wehner durch, Herr Kollege Franke!
Früher gab es vor den Berichten zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland, Herr Kollege Wehner, noch interne Gespräche zwischen Regierung und Opposition. Das war nicht nur eine Anhörung, sondern eine Möglichkeit des Einwirkens auf Vorhaben, auf Texte und auf Erklärungen. Vielleicht ist das gemeint; dann sollten wir das vielleicht an anderem Orte fortsetzen.Im übrigen fand ich Ihre Rede, Herr Kollege Franke — verzeihen Sie —, eine traurige Offenbarung. Sie haben nämlich unsere Interessen an innerdeutscher Entspannungspolitik definiert und auf zwei Punkte beschränkt. Dies finde ich eine ungeheure Einengung. Sie haben unsere Zustimmung, wenn Sie das Interesse an Berlin nennen und wenn Sie das Interesse am Frieden nennen. Sie haben nicht unsere Zustimmung, wenn das das Ganze ist. Denn ich meine, diese Politik soll Deutschland dienen, der Wiederherstellung von Menschenwürde in Deutschland; denn Frieden ist eine Sache der Menschenrechte. Der wirkliche Streit zwischen uns ist es, daß Sie versuchen, eine Friedenspolitik zu machen, ohne die Menschenrechte wirklich in den Mittelpunkt zu stellen.
Dies ist der Ansatz, bei dem wir auseinandergehen.Heute war viel von Historie die Rede, und der Kanzler hat auch von der Kriegsgeneration gesprochen. Wir haben erfahren, wie Krieg begann und wie er möglich wurde, nicht nur in den inneren Verhältnissen und in dem Anwenden von Gewalt unter innenpolitischen Gegnern und Verleumdungen. Davon war die Rede, Herr Mattick. Er wurde nur möglich, weil wir eingesperrt wurden: Grenzen zu, kein Jugendaustausch, kein Buch von draußen, kein Sender von draußen, nicht einmal die Musik aus England. Daraus haben wir gelernt: Frieden ist dort sicher, wo es Freizügigkeit für Menschen, Informationen und Meinungen gibt.
Dies kann man auf dem Papier, aber nicht in der Wirklichkeit trennen.Dieser Tag belebt natürlich in vielen von uns die Erinnerung an die geschichtliche Entscheidung über die Ostverträge heute vor sieben Jahren. Dies sollte uns allen ein Anlaß sein, wie ich glaube, nach vorn zu gucken; denn nur das nützt Deutschland, von dem hier zu reden ist. Herr Bundeskanzler, Deutschland ist mehr als die Beschreibung des Zustands der Beziehungen zwischen zwei Staaten in Deutschland. Deutschland ist kein Erinnerungsposten, sondern eine Realität, eine Aufgabe, eine Pflicht. Wer glaubt,dies alles sei leicht, ist kein Realist; aber wer deshalb aufgibt, ist kein Patriot.Wir haben damals nicht nur für den damaligen Bundestag, sondern völkerrechtlich wirksam für unseren Staat, für Deutschland beschlossen und notifiziert — ich zitiere —: „Die Politik der Bundesrepublik Deutschland strebt eine friedliche Wiederherstellung der nationalen Einheit an." Für uns gilt dieses Wort. Wie ist es bei Ihnen allen da drüben? Gilt dies?Das ist damals nicht „draufgesattelt" worden, Herr Kollege Wehner, sondern dies war die Geschäftsgrundlage
für alles andere, für die Wirksamkeit, für das Inkrafttreten und für die Geltung der Ostverträge; und Moskau hat dem vor der Ratifikation nicht widersprochen. Will auf dieser Seite irgend jemand das jetzt etwa wegnehmen? Das ist meine zweite Frage an diese Seite des Hauses.„Die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland" heißt der Auftrag, den dieses Haus beschlossen hatte. Wenn man das nicht mehr sagen will, soll man das begründen. Die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland beschneidet der Kanzler, er streicht sie auf Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zusammen, die der Kanzler heute zu „zwischenstaatlichen" Beziehungen befördert hat. Ich würde gern den Herrn Vizekanzler fragen, ob das mit seinem Einverständnis geschehen ist. Denn da war doch immer von besonderen, von innerdeutschen Beziehungen fern der Sphäre des Völkerrechts, der Zwischenstaatlichkeit die Rede. Ist hier eine Veränderung der Politik mit dem Einverständnis des Außenministers passiert? Oder können solche Worte jetzt einfach par ordre du moufti gemacht werden? Wenn dies so geht, stellt sich wieder die Frage: Wo bleibt Deutschland? Und wo bleibt, wenn sich das festsetzt, Berlin?Einen „Rückschlag" nannte der Kanzler heute, ohne die Dinge beim Namen zu nennen, z. B. die Ausweisung des ZDF und den Maulkorberlaß. Mit Verlaub, Herr Bundeskanzler: Der klare Wortlaut des Vertrages ist hier verletzt. Ich habe es am 26. April hier vorgetragen. Hier ist ein Rechtsbruch passiert. Warum nennen Sie das nur „Rückschlag"?
Das muß doch einen Sinn haben, meine Damen und meine Herren.Die Bundesregierung hat heute durch den Kanzler der DDR einige positive Punkte zuerkannt, z. B. ihre Wirtschaftskraft. Herr Bundeskanzler, warum verschweigen Sie — das gehört doch in den Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland —, daß die DDR sozial und wirtschaftlich weiter gegen uns abfällt, obwohl die DDR den früher industrialisierten, reicheren und wirtschaftskräftigeren Teil des alten Deutschen Reiches darstellt?
Ein anderes Lob, das Sie der DDR haben zuteil werden lassen, macht mich stutzig, Herr Bundeskanzler. Sie sagten, man sei sich einig — so habe
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Dr. Barzelich das notiert —, auch zwischen den Politikern beider Staaten, daß „von deutschem Boden kein Krieg ausgehen dürfe". Ich bin da hinsichtlich der hier attestierten Friedfertigkeit der DDR nicht so sicher; denn ich habe den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei nicht vergessen.
Ich habe dies noch im Kopf. Das war Aggression und Gewalt und Nutzen militärischer Stärke, nicht nur Drohung mit Stärke, sondern Anwendung von militärischer Kraft. Das war nicht Friedfertigkeit. Ich habe in Erinnerung, daß es damals unwidersprochen hieß, die Anregung, die Planung, ja, die Forderung zu dieser Aktion sei weitgehend von Ost-Berlin ausgegangen. Dies war wohl kein Beweis von Friedfertigkeit.In Bulgarien, Herr Bundeskanzler, haben Sie, unlängst etwas gesagt — ich will es gleich zitieren —, was mich in diesem Zusammenhang mehr als stutzig macht. Vielleicht ergibt das Ganze ein Bild: Der Bundeskanzler hat Sie, Herr Kollege Wehner, mit dieser „defensiven" Sowjetunion — „defensiv" von Afrika bis Berlin, im Fernen Osten, in Vietnam und überall — eigentlich zum Chorknaben degradiert. Denn er hat dort etwas viel Umfassenderes, viel Weittragenderes gesagt. Ich zitiere nach der Niederschrift eines Interviews des Bundeskanzlers mit dem Westdeutschen und dem Norddeutschen Rundfunk, ausgesendet am 4. Mai 1979, 18.30 Uhr. Es handelt sich um den Text des Bundespresseamts. Danach sagt der Kanzler auf eine Frage:Ich glaube nicht, daß man überhaupt von Problemen zwischen uns und Bulgarien reden könnte. Es ist dies ein sehr problemfreier Meinungsaustausch gewesen. Sie haben recht: Wir gehören unterschiedlichen Verteidigungsbündnissen an.
Zwei unterschiedliche Verteidigungsbündnisse stehen sich, so der Kanzler, nun in Berlin' und Mitteleuropa gegenüber. Da wird der Aggressor zum Verteidiger ernannt. Die NATO ist aber doch eine Antwort auf die Herausforderung, nicht nur theoretisch. Aber nun wird der Warschauer Pakt zum Verteidigungsbündnis ernannt.
Herr Bundeskanzler, das kann man sicher in Ordnung bringen; sonst wird das noch eine große Rolle spielen, viel mehr als die Defensivität bei Herrn Kollegen Wehner.Man kann diese Pakte nicht gleichsetzen. Ich fürchte — ich sage das ganz vorsichtig —, daß Sie eigentlich dabei sind, die beiden Staaten in Deutschland zunehmend zu wenig nach ihrer Qualität zu unterscheiden.
Dies ist eine sehr höfliche und vorsichtige Formulierung, weil ich hoffe, daß all das, was ich hier aus dem „Tag", nicht aus irgendwelchen obskuren Quellen, zusammengetragen habe, noch in dieser Debatte klargestellt werden kann. Wir werden dann sofortzufrieden sein und sagen: Jawohl; wir kommen darauf nicht mehr zurück. Vielleicht haben Sie sich versprochen. Das kann auch dem Bundeskanzler passieren.Sollte es nicht so sein, dann stelle ich hier die Frage: Wo kommen wir hin, wenn dies alles so weitergeht, mit den Worten, die wir 1968 beschlossen und unterschrieben, die wir 1972 beschlossen und unterschrieben — und die heute nicht mehr gelten sollen?Demokratie ist nach einem berühmten Wort, Herr Kollege Wehner, Höflichkeit, Kompromißbereitschaft und Vertrauen. Vertrauen auch hier zueinander in das Wort, das man sich gegeben hat. Und das sollte auch in der Frage der Wiedervereinigung gelten.
— Herr Kollege Wehner, wer die Sensibilität für diese Frage hat, wird auch feststellen, daß die Anzeichen der letzten Wochen nicht nur dafür sprechen, daß vielleicht die Führung drüben Schwierigkeiten hat, daß sie schwach ist. Wer weiß? Vielleicht gilt das, was Dean Rusk uns einmal sagte, kurz bevor die Tschechoslowakei zum zweitenmal durch die Kommunisten besetzt wurde: Offensichtlich halten die die Koexistenz nicht aus.Sollte das so sein, dann ist das ein ernster Punkt, der weit über die deutsche Frage hinausginge. Wir müssen auf jeden Fall feststellen: Sie verbieten das Wort — das sich nicht verbieten läßt —; sie suchen Ideen einzumauern — man kann aber nicht auf sie schießen —; sie verordnen den Maulkorb. Und zugleich kommt das bei der Bundesregierung alles nicht vor.Wer einen Weg nach vorn sucht, muß wissen, auf welchem Fundament er das tut. In unserem Antrag ist eine Ziffer — ich mache dies ganz kurz —, auf die ich Ihre besondere Aufmerksamkeit lenken möchte. Sie sagt: Wir sollten uns zu eigen machen, was die Kultusminister der deutschen Länder einstimmig in die Hand der Lehrer und Schüler für den Unterricht in dieser Frage gegeben haben.
Ich kann darauf verzichten, jetzt noch einmal die Basis zu formulieren: Geltende Westverträge mit Art. 7 — Wiedervereinigung —; geltende Ostverträge, Urteil, Entschließung und all das. Ich kann darauf verzichten, das jetzt hier festzuhalten. Ich hoffe, daß Sie dem zustimmen werden. Oder ist da jemand, der dieses Instrument den Lehrern und Schülern etwa aus der Hand nehmen will? Das ist die verbindliche Festlegung, das für jeden ver- bindliche Fundament der Deutschlandpolitik jeder Regierung und jeder Opposition.Und wer immer hier regiert, Herr Kollege Wehner, und wer immer gerade opponiert — in diesen. Fragen gilt: Anders, als Sie, Herr Kollege Wehner, es damals sagten, braucht jeder, der hier regiert, die Opposition, bevor er zu Fortschritten in dieser
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Dr. BarzelFrage die Freunde draußen und die Moskauer braucht.
Ich erkläre noch einmal: Die Ostverträge sind geltendes Recht wie die Westverträge, eingeschlossen den Deutschlandvertrag.Diesen Maßstäben wird Ihre Politik, Herr Bundeskanzler, nicht gerecht. Sie haben, wie ich glaube, den pflichtmäßigen Bericht zur Lage der Nation— und das meint die ganze Nation im gespaltenen Deutschland — nicht erstattet. Warum eigentlich— so sind Sie doch zu fragen — erklären Sie amtlich nach Abschluß der letzten innerdeutschen Vereinbarung, es sei die Politik der Bundesregierung, die beiden deutschen Staaten zu „stabilisieren"?
Wir haben doch ein anderes Ziel. Wir wollen sie beide zugunsten der Freiheit und Einheit aller Deutschen überwinden und nicht stabilisieren. Die deutsche Nation ist gespalten. Sie lebt in zwei Staaten in Deutschland, nicht in zwei deutschen Staaten. Wo kommt das bei Ihnen vor, Herr Bundeskanzler? Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht die deutsche Nation. Ihre Probleme, wie wichtig auch immer, sind nicht die alleinigen Probleme der deutschen Nation. .Die Bundesrepublik Deutschland ist der Vorort der Freiheit aller Deutschen — das ist richtig —, nicht weniger und nicht mehr.
Warum, Herr Bundeskanzler und die Bundesregierung, schweigen Sie über so viele Dinge, z. B. von Häftlingen? Man hört, wenn Sie welche freigekauft haben, und ich bin da — das wissen Sie sehr gut — Ihrer Meinung, Herr Franke. Aber warum hört man nichts vom Schicksal politischer Gefangener während der Haft, in der Zeit, in der sie da sitzen? Und warum redet dann, wenn die Regiegierung vielleicht schweigen muß — das wissen wir alle —, nicht die sozialdemokratische oder die liberale Fraktion? Verehrte Damen und Herren, warum schweigen Sie? Warum lassen Sie soviel schweigen? Durch dieses Schweigen produzieren Sie doch Fragezeichen in aller Welt, Fragezeichen gegen Deutschland, Fragezeichen an unserer Aufrichtigkeit. Denn niemand in der Welt glaubt, wir hätten Deutschland aufgegeben. Indem Sie aber schweigen und schweigen lassen, entstehen Gerüchte, Mißtrauen, Verdächtigungen.Sozialismus sei Humanität, meinen viele in der Welt. Warum verschweigen Sie dann Unrecht und Unmenschlichkeit in der DDR? Die „Humanita" in Rom hat die letzte Erklärung von Havemann abgedruckt. Wo ist sie im „Vorwärts"?Meine Damen und Herren, wer in der Welt soll sich einen Reim darauf machen: laute Kritik an Chile und an Südafrika, nicht aber an der DDR? Die humanitären Fragen erlauben es nicht immer, zu reden; ich weiß das, und ich habe das praktiziert. Aber sie erlauben natürlich auch nicht, immer zu schweigen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung übt sich aber im Schweigen und im Verschweigen.Glaubt hier irgend jemand ernsthaft, die hätten den Hausarrest gegen Havemann beendet ohne den lautstarken Protest aus aller Welt?
Glaubt hier jemand, die Dissidenten aus Moskau wären unlängst in New York angekommen ohne den weltweiten Protest in diesen Fragen?
Glaubt hier jemand, die Auswanderung von Juden aus der Sowjetunion hätte so zugenommen ohne die lautstarke Forderung in aller Welt? Wenn wir diese Erfahrungen machen, warum schweigt die Regierung gleichwohl?Diese Strategie des Verschweigens an Stelle der der Regierung doch besonders gegebenen Möglichkeit, die Alternative des Einwirkens als Strategie zu wählen, produziert zusätzliche Fragezeichen. Die Regierungspropaganda behauptet, ihre Politik sei ohne Alternative; wir haben dies eben wieder von Herrn Franke gehört. Wahr ist dies: Diese Politik ist keine verantwortbare Alternative zu dem, was Vernunft und Augenmaß, was Menschlichkeit und Einsicht heute tatsächlich möglich machen.
Indem Sie nur schweigen -- statt zu reden, wo es nottut, und zu schweigen, wo es geboten ist — humpeln Sie eigentlich wie ein Einäugiger auf der Straße.Zur wirklichen Lage der deutschen Nation im gespaltenen Deutschland gehört das erzwungene Schweigen unserer Landsleute drüben, aber leider auch das freiwillige Schweigen mancher Politiker über die wahre Lage der deutschen Nation.
Meine Damen, meine Herren, wir sind doch hier frei gewählte Abgeordnete. Wie sollen wir dazu schweigen können? Wie sollen wir hinnehmen, daß gesagt wird, die deutsche Frage sei eine „Erfindung" ? Herr Kollege Wehner, Sie haben mir neulich zugerufen, dies sei nicht wahr. Ich habe es nachgelesen und habe das hier; natürlich haben Sie das gesagt. Und von Wiedervereinigung sollten wir nicht mehr reden. Sind das Beschlüsse Ihrer Bundestagsfraktion, oder sind das Befehle von vorne, zu denen Sie, verehrte Damen und Herren, wiederum schweigen?
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es wäre natürlich angemessen gewesen, nach 30 Jahren Bundesrepublik Deutschland einen besonders guten Bericht aus Ihrem Hause über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland zu haben,
denn auch hier gibt es doch eine 30jährige Bilanz. Sie haben sie wieder unterlassen.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12313
Dr. BarzelWenn man das alles sieht, diese Wortwahl und dieses Verschweigen und dieses Unterlassen, fragt man sich eigentlich, warum. Ob das bloß Leisetreterei ist oder verschlagene Sprachlosigkeit?!
Meine Damen und Herren, dieses große Schweigen und dieses Verschweigen, das hier passiert, können wir nicht hinnehmen. Das ist kein wirklicher Bericht über die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland, statt dessen sich selbst wegen der Politik hier auf die Schulter klopfen, weiße Blätter bezüglich des Schicksals derer drüben — dies ist kein Bericht, den dieses Haus zu akzeptieren imstande wäre.
Meine Damen und Herren, da der Bundeskanzler die wirtschaftlichen Dinge drüben positiv gewertet hat, ganz wenige Zahlen: Im Jahre 1977 betrugen die monatlichen durchschnittlichen Bruttoarbeitseinkommen hier 1 976 DM, drüben 830 Mark. Der durchschnittliche Nettostundenlohn des Arbeitnehmers betrug hier 10,05 DM, drüben 4,65 Mark. Das durchschnittliche Rentnereinkommen betrug hier 1 223 DM, drüben 290 Mark und so fort.Meine Damen und Herren, etwas anderes, vielleicht mit dem Blick auf die junge Generation hier, der man das nicht verschweigen darf: Für Entwicklungshilfe leistet die Bundesrepublik Deutschland allein mehr als der gesamte Ostblock, die DDR weniger als z. B. Rumänien. Dafür wendet die DDR für Verteidigung 6 % ihres Bruttosozialprodukts auf, während wir 3,6 °/o aufwenden. Drüben sind 1,2 % der Bevölkerung bei den bewaffneten Kräften, hier sind es 0,8 %. Das sind doch Tatsachen, die man wieder ins Bewußtsein bringen muß.
Man muß auch wieder einmal ins Bewußtsein bringen: Wir hier dürfen reisen, reden, schreiben, streiten. Die drüben sitzen da. Da kann nicht einmal der kunststudierte Studienrat gewiß sein, einmal in seinem Leben vielleicht Florenz besuchen zu dürfen. Das ist die Realität. Aber alles das kommt im Bericht der Bundesregierung nicht vor.
— Ich könnte von den Berufsverboten, von den Verfolgungen der jungen Christen sprechen. Ich komme noch auf einige der Punkte. Ich möchte Sie fragen, warum Sie eigentlich den weiten Weg in dem Jahrzehnt, in dem Sie diese Berichte vorlegen, und bald auch nach einem Jahrzehnt Regierungsverantwortung zurückgelegt haben?Wie gesagt: Willy Brandt erstattete am 14. Januar 1970 — und das nach ausführlicher interner Beratung mit der Opposition — den Bericht zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland — 1970 natürlich noch mit der korrekten Bezeichnung. Da war noch die Rede vom „Streben nach nationaler Einheit und Freiheit". Das habe ich heute nicht mehr gehört. Damals hieß es noch — ich zitiere —Welches Ausmaß an Not und Leid durch Verhinderung menschlicher Beziehungen, durch behördliche Schikanen, Zwangsmaßnahmen und Gewaltanwendungen den einzelnen Menschen auferlegt wird, kann keine Statistik erfassen.Das kommt heute in diesem Bericht der Bundesregierung nicht mehr vor.Vor zehn Jahren sprachen die NATO-Kommuniqués noch von den Problemen des ganzen Deutschland, von der deutschen Frage. Sie machten „Fortschritte für Deutschland als Ganzes" zum Maßstab der Entspannung. Heute finden Sie dort einen Hinweis auf Berlin — weil die Bundesregierung dies so will.
Wo kommen wir hin, wenn das etwa noch zehn Jahre so weitergeht? Wo kommt Deutschland dann hin, Herr Bundeskanzler?Hierher gehört: Vor zehn Jahren forderte der damalige Bundeskanzler noch die politische Einigung Europas. Jetzt spricht der Kanzler — ich verweise auf unsere Januar-Debatte —, wir dürften auf keinen Fall zum „Schrittmacher Europas" werden, weil wir eine „Brückenfunktion" zwischen Ost und West hätten. Herr Bundeskanzler, lesen Sie einmal in dem Beitrag Kurt Schumachers von diesem Platz in der Debatte über die erste Regierungserklärung Konrad Adenauers nach, was er damals über Brükkentheorie gesagt hat.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Für diese Brücke wären Sie mir als Brückenmännchen zu klein und zu schade; denn eine solche Brücke gibt es nicht. Es ist eine Illusion, unser Volk in eine solche Lage führen zu wollen.
Meine Damen, meine Herren, der Herr Bundeskanzler hat sich heute eines Gewinnpostens — ich leugne es nicht — der Vertragspolitik gerühmt. Er hat gesagt, der Reiseverkehr halte an. Nun weiß jeder von uns, Herr Bundeskanzler, aus anderem Zusammenhang, daß man Monats- und Vierteljahreszahlen natürlich mit Vorsicht genießen muß. Herr Franke und sein Haus sollten Ihnen doch die Zahlen vorgelegt haben, die so viele in diesem Hause auch kennen, die alle in den ersten drei Monaten dieses Jahres, und zwar erheblich, rückläufig waren. Der Rückgang machte bis zu 20, 30, 40 % aus.
Meine Damen und Herren, womit hat das zu tun? Wenn Sie sich hier einer Sache beloben, warum unterschlagen Sie die andere? Es ist doch eine Tendenz, daß die drüben das alles wieder erschweren, auch die Besuche in dringenden Familienangelegenheiten. Alles das wird hier vorenthalten.
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12314 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. BarzelSo fragen wir uns wieder: wir zahlen, und die DDR mauert die Leute wieder mehr ein. Leistung ja, Gegenleistung vielleicht? Vielleicht auch nicht? Das ist die Realität dieser Vertragspolitik. Klima für eine Milliarde, Kasse gegen Hoffnung. Eine unzureichende Bilanz.Ich möchte mich noch einmal an diese Seite der Kollegen wenden, weil hier kürzlich, ich glaube, parteiamtlich in Ihrem „Vorwärts" — behauptet wurde — ich zitiere —:Die CDU/CSU hat bisher weder vermocht, sich in Wort und Tat zur Deutschlandpolitik der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung zu bekennen, noch eine konstruktive Alternative zu entwickeln.Ende des Zitats. Wie unerhört, daß wir es wagen, eigene Gedanken zu haben.
— Darauf kommen wir jetzt. Ich ahnte es, der vorschnelle Kollege Ehmke gibt mir die Möglichkeit, hier gleich weiterzukommen. Dieses Zitat entspricht nicht der Wahrheit.Es war auch eine Ausflucht, Herr Kollege Wehner, als Sie auf meine vier konkreten Punkte in der Debatte vom 26. April einfach antworteten, wir hätten ja nicht für die Verträge gestimmt.Sehen Sie, ich möchte das vom Tisch bekommen. Haben Sie je von mir oder von sonst jemandem von uns gehört, wenn Sie etwas in den letzten Jahren zu deutschen Soldaten, zu Europa oder zur NATO gesagt haben, daß wir das einfach vom Tisch gefegt haben und gesagt haben: Nun reden Sie mal darüber gar nicht, Sie haben ja nicht für diese Westverträge gestimmt. Sie haben damals gegen diese westlichen Verträge gekämpft. Sie haben gegen sie gestimmt. Dann traten sie in Kraft. Dann galten sie für und gegen uns alle. Und dann haben Sie sie zu Instrumenten Ihrer Politik gemacht. Das ist der normale parlamentarische, demokratische Vorgang.
Warum, Herr Wehner, verweigern Sie uns, was Sie selber in Anspruch nehmen? Wer nach vorne will, muß hier dies Stück nach hinten klar Schiff haben, und dann bitte keinen Popanz! Die Verträge gelten. Einem davon haben wir sogar zugestimmt, nämlich dem innerdeutschen Verkehrsvertrag.Niemand zweifelt an unserem Ja zu Ausgleich, Frieden und Sicherheit, an unserem Ja zu Geld für mehr Menschlichkeit. Zugleich zweifelt niemand an unserem Ja zu Deutschland und zu Menschenrechten in Deutschland. Ja, wir wollen aus den Gründen, die ich zu Beginn sagte, in Deutschland mehr Freizügigkeit, mehr Freiheit und dann mehr Selbstbestimmung und mehr Einheit. Wir wollen Entspannung in Europa, in Deutschland auch, durch diese Freizügigkeit. Ich sage betont: Der DDR muß zugemutet werden, der Realität der Einheit unseres Volkes in dem Maße Rechnung zu tragen, in dem wir der Realität ins Auge sehen, daß die staatlicheEinheit Deutschlands zur Zeit nicht verwirklicht werden kann.Der Kollege Strauß hat am 11. Mai 1978 nach dem Breschnew-Besuch von hier aus erklärt — und das war für uns alle, und ich zitiere aus dieser Rede —:Pacta sunt servanda ... Die Zehn-Punkte-Entschließung vom 17. Mai 1972, die bekräftigt, daß der Moskauer Vertrag eine friedensvertragliche Regelung nicht vorwegnimmt und keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen schafft, muß genauso Bestandteil einer von Regierung und Opposition gemeinsam zu tragenden Ostpolitik sein.Wenn Rußland endlich begreifen würde, daß eine gerecht behandelte freie deutsche Nation ein dankbarer, gerechter, freundschaftlich verbundener Partner sein wird.So wiederhole ich, nachdem man hier nicht in der Hetze der fünf Minuten der Aktuellen Stunde ist, was die Koalition am 26. April zu überhören geruhte. Wir sind — ich wiederhole es — nicht ohnmächtig in den innerdeutschen Dingen. Erstens: Wenn wir in diesen Sachen zu einer gemeinsamen deutschen Politik fänden, wären wir stärker. Zweitens: Wenn wir alle mehr an die Macht des Geistes und des Wortes glaubten als an die Schläue des Verschweigens, wären wir stärker. Drittens Wenn wir alle die Leistungen an die DDR in Stufenplänen mit konkreten, nachprüfbar erbrachten Gegenleistungen verabredeten, wären wir stärker. Viertens: Wenn die Bundesregierung nicht die eine Milliarde D-Mark an die DDR verschenkt hätte, sondern in Tranchen aufgeteilt und für fühlbares Entgegenkommen als Gegenleistungen für Leistungen erbringen würde, wären wir alle stärker.
Wir wissen, daß unsere Probleme in größere Zusammenhänge eingebettet sind. Wir wissen zugleich, daß die Ost-West-Bilanz einen klaren Gewinn für die Sache der Freiheit ausweist. Das sollte manch Kleinmütigen veranlassen, etwas gelassener an die Dinge herangezogen. Es gilt ja, nicht nur Zahlen von Panzern und von Flugzeugen zu addieren und zu vergleichen. Hier ist doch die Qualität einzurechnen und auch die Qualität der Ordnungen zu berücksichtigen — vor allem die geistige und politische Kraft, die Sozialordnung und die Wirtschaftskraft. Das gilt, wie ich glaube, auch für die Lage in Deutschland.Unser Grundgesetz erhebt die Menschenwürde zum obersten Wert. Also haben wir die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland nach dem Maß der Menschenwürde zu beurteilen, die real gegeben ist.Herr Bundeskanzler, man hört, daß Sie wieder nach Rom fahren wollen, und Sie berichten ja auch gerne über solche Besuche. Darf ich Ihnen dazu noch zwei Sätze des gegenwärtigen Papstes, von dem hier auch schon die Rede war, mit auf den Weg geben? Erstens. Am Karfreitag erinnerte der Papst an die Würde des Menschen, verurteilte die
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12315
Dr. BarzelVerfolgung und Entrechtung als den „zivilen Tod" der Menschen, da man ihnen das Recht verweigere, nach ihrem eigenen Glauben und nach ihren eigenen Überzeugungen zu leben. Warum verschweigen Sie an diesem Tage, daß drüben das die vorherrschende Wirklichkeit ist?Der andere Satz: „Dieses tiefe Staunen über den Wert und die Würde des Menschen nennt sich Evangelium, Frohe Botschaft." Wer dieses tiefe Staunen teilt und empfindet, der darf doch nicht schweigen. Der Verschweiger veranwortet dann doch, wenn nach einer repräsentativen Umfrage 67 % unserer jungen Menschen hier Kommunismus für „passabel" halten. Das ist ein ernster Punkt.Ich glaube also, daß wir mehr nach vorne gukken sollten. Wir wissen: Wir können, wir dürfen, wir müssen weiter von Deutschland sprechen, weiter seine Einheit erstreben. Das ist nicht Vertragsbruch und kann nicht in den Geruch davon kommen. Das war eines der Ergebnisse heute vor sieben Jahren.Nutzen wir das also für mehr Menschlichkeit, zu dem Ziel, jenen angestrebten Zustand des Friedens in Europa zu erreichen, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Freiheit findet! Nur durch Schweigen und Verschweigen wird das nicht gehen.Wenn wir so von der Menschenwürde ausgehen, die, glaube ich, der Gewählte zu bewahren hat, wo es sie gibt; zu entfalten hat, wo es geht; zu verteidigen hat, zu erstreiten hat, wo sie nicht gilt; durch soziale Gerechtigkeit möglich zu machen für jedermann; da möchte ich sagen: Das wiederherzustellen, Würde und Freiheit des Menschen, ist für mich Sinn deutscher Friedens- und Deutschlandpolitik; denn das beides gehört zusammen. Frieden ist eine Sache der Menschenrechte.
Wir sind Zeugen objektiver Verletzungen eines Vertrages und der Menschenrechte. Das geht uns alle an. Frieden und Menschenrechte gehen Hand in Hand. Wer Frieden sucht, dabei aber Menschenrechte übersieht, betreibt nur zum Schein Friedenspolitik.
Da sagt ein deutscher Kommunist, der die DDR für den besseren deutschen Staat hält, er fühle sich dort Zitat — „wie ein Fremder im eigenen Haus". In Leipzig werden einige verfolgt, weil sie mit dem Blick auf ihre Wirklichkeit vom „Menschen im Einweckglas" sprechen. Da kann doch nur der schweigen, den das nicht rührt. Da sagt eine Unbekannte drüben in die Kamera — und sie ist sich der Folgen bewußt —: „Ich fühle mich entmündigt." Da gibt es Hilferufe von Wehrdienstgegnern aus den Gefängnissen der DDR. Da legen Lehrer drüben gezwungenermaßen Geheimlisten über ihre Schüler an. Da beklagen Studenten die Bespitzelung bei der Arbeit und beim Wohnen. Das alles sind Nachrichten nur aus diesen letzten Tagen — aber bei der Bundesregierung kommt das alles nicht vor!Da faßt sich drüben einer ein Herz und schreibt an Honecker von der „kulturellen Verödung", von der „Verdrossenheit", vom „Ersterben jeglicher Schaffensfreude" ; Bewußtsein werde nicht geweckt, sondern zerstört; alles gehe nach dem Motto: „Du mußt nicht, aber wenn du nicht willst, hast du die Folgen selbst zu tragen." Bei der Bundesregierung kommt das nicht vor.Herr Kollege Brandt hat hier einmal feierlich — und ich fand: auch wirkungsvoll — erklärt, er werde sich oftmals auf die Akte von Helsinki berufen, wenn sie gegen das Recht und die Menschen verletzt werde. Ich möchte ihn fragen — vielleicht findet er eine Gelegenheit, das zu beantworten —, warum er dann schweigt, warum er das dann nicht tut. Man würde ihn dort doch hören!Meine Damen, meine Herren, die Lage der Nation im gespaltenen Deutschland ist leider nach wie vor so: Den Deutschen ist es durch fremde Gewalt verwehrt -- nicht durch Entscheidung des deutschen Souveräns, Herr Bundeskanzler —, so zu leben, wie sie es wollen. Deshalb gibt es d i e deutsche Frage; nicht eine von vielen Fragen, sondern d i e deutsche Frage. Das ist die Frage nach der Freiheit und der Selbstbestimmung aller Deutschen wie die nach der Einheit des Vaterlands.Wäre dies eine „Erfindung", so könnte man sich dem entziehen. Dies ist aber eine Realität, und die bleibt, selbst wenn man sie leugnet. Diese Leugnung wäre eine Unaufrichtigkeit, mit der keiner zu leben vermöchte, denn sie hieße, den Nachbarn, den Landsmann, den Nächsten dort drüben im Leid sitzenlassen.Manchmal haben wir hier nichts als das Wort, und manchmal können wir nicht einmal das Wort gebrauchen. Aber nur zu schweigen, ist sicher keine deutsche Politik.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Barzel hat die Frage gestellt, ob denn die Aufforderung, miteinander zu reden, in dem Sinne gemeint sei, daß man halt nur so miteinander redet, oder ob man wirklich miteinander sprechen will. Herbert Wehner hat mich dabei an das Jahr 1972 erinnert, auf das auch Sie Bezug genommen haben, Herr Kollege Barzel. Da war es auch so, daß ein paar Berlin- und deutschlandpolitische Fragen in einem sehr schlechten Zustand waren. Herbert Wehner bot Ihnen an, darüber zu reden. Es wurde auch ein Termin abgemacht. Dann hat Herbert Wehner noch eine Rückfrage gehalten, ob es nicht gut wäre, auch den Fraktionsvorsitzenden der FDP, Herrn Mischnick, hinzuzuziehen. Er bekam dann von Ihnen einen Brief, daß Sie den Termin absagen müßten, weil Sie vorn Fraktionsvorsitz zurückträten. Seitdem haben wir ein Gesprächsangebot nicht wieder bekommen.
Ich darf aber sagen, Herr Kollege Barzel und Herr Kollege Kohl, daß bei uns diese Gesprächsbereit-
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12316 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. Ebmkeschaft besteht. Ich kann nur hoffen, Herr Kollege Kohl, daß wir nicht in Kürze einen ähnlichen Brief von Ihnen bekommen.
— Es ist natürlich schlecht mit einem zu sprechen, der dann sagt, er dürfe gar nicht mehr, Herr Kollge Kohl.Bezüglich der gemeinsamen Politik möchte ich an das erinnern, was in großer Ruhe Herr Kollege Mattick heute hier vorgetragen hat; ich glaube, in großer Ruhe und so unpolemisch, daß ich es so gar nicht könnte, wie ich gerne zugebe. Ein großer Teil Ihrer Kollegen hat in den letzten Wochen Deutschlandpolitik in der Form einer Diffamierung von Äußerungen von Herbert Wehner und Willy Brandt betrieben. Ich glaube, Sie sollten darüber nachdenken, ob nicht in der Art, so miteinander umzugehen, ein nationale Würdelosigkeit steckt, deren wir uns eigentlich alle schämen müssen.
Wir haben neulich eine Diskussion über die Verjährung geführt, mit großer Würde, mit Respekt voreinander, obgleich die Meinungen sehr auseinandergehen. Ich bin der Meinung, man sollte die Frage der geteilten Nation nicht anders behandeln. Außerdem hängen ja auch beide Fragen historisch zusammen; denn es war nicht Konrad Adenauer, es war nicht Willy Brandt, die Deutschland geteilt haben, sondern es war Adolf Hitler. Diesen gemeinsamen Ausgangspunkt wollen wir doch nicht vergessen.
— Ich weiß, Herr Jäger, daß Sie gerne Hitler in der Reihe auslassen.
— Wenn Sie vielleicht Herrn Jäger zur Ordnung rufen würden.
— Wenn ich sage, es sei gemeinsame Überzeugung, daß weder Adenauer noch Brandt
Deutschland geteilt haben, sondern Hitler, dann hat Herr Jäger nicht „Stalin" dazwischenzurufen. Bringen Sie das in Ihren eigenen Reihen in Ordnung!
Ich gehe davon aus, daß in diesem Hause — Herrn Jäger offenbar ausgenommen — Übereinstimmung besteht — ich wiederhole meinen Satz —, daß weder Adenauer noch Willy Brandt, sondern Adolf Hitler die Teilung Deutschlands verschuldet hat.
Ich bin der Meinung, wir sollten nicht nur dies nicht vergessen,
wir sollten auch nicht vergessen, daß nach dem Krieg alle Parteien, die heute im Bundestag vertreten sind, gemeinsam gehofft haben, die Spaltung Deutschlands noch verhindern, die Aufspaltung Deutschlands in Besatzungszonen rückgängig machen zu können.
Das Grundgesetz, Herr Zimmermann, das Ihre Freunde übrigens abgelehnt haben, spricht nirgends von „Wiedervereinigung". Herr Kollege Kohl, darum ging es heute morgen bei dem Zwischenruf von Herrn Kollegen Wehner. Das Grundgesetz gebraucht weder an irgendeiner Stelle das Wort „Wiedervereinigung", noch spricht es irgendwo von der Wiederherstellung des Deutschen Reiches von 1871.
Das Grundgesetz spricht in seiner Präambel von dem Willen der Deutschen in der Bundesrepublik, die nationale und staatliche Einheit zu wahren. Das wird von niemandem bestritten. Für dieses Ziel hat sich dann in der Tat --- lassen Sie uns das doch in völliger Ruhe überlegen — der Terminus „Wiedervereinigung" eingebürgert. Herr Kohl, die Auseinandersetzung um die Politik Adenauers wurde von Sozialdemokraten, Freien Demokraten und Männern wie Gustav Heinemann, die deswegen aus der CDU austraten, gerade mit dem Argument geführt, daß diese Politik die Wiedervereinigung nicht bringe. Zweifellos hat es doch keinen Zweck, Herr Kollege Kohl, uns heute vorzuwerfen, dort wären wir „nationalstaatlich" befangen gewesen.
Sie haben heute gesagt, Sie seien viel schneller vom Nationalstaat weggewesen als wir. Dann wollen wir doch wirklich einmal prüfen, was in dem Wort „Wiedervereinigung" steckt, gemeinsam prüfen. Ich sage, das erste Ziel der Adenauerschen Politik war in so starkem Maße die Westintegration, daß man das Friedensangebot der Sowjetunion von 1952 nicht einmal geprüft hat.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12317
Dr. EhmkeIm Rahmen einer Politik der Stärke, die sich inzwischen als illusorisch erwiesen hat, hat z. B. Ihr Kollege von Merkatz zur Wiedervereinigung formuliert, es gehe bei ihr „um die Befreiung der besetzten deutschen Gebiete". Dies war am 19. März 1953 hier im Bundestag. Das würde doch heute von Ihnen keiner mehr unterschreiben.
Es liegt also auf der Hand, daß die Politik derStärke gescheitert ist. Es liegt auch auf der Hand— und ich sage das jetzt nicht zur Aufrechnung; wir waren damals einer Meinung, daß es noch möglich sei, die Teilung rückgängig zu machen —,
daß die Adenauersche Politik nicht nur nicht zur Wiedervereinigung geführt hat, sondern daß diese 20 Jahre Deutschlandpolitik der CDU die weitere Spaltung und Verfestigung der Spaltung Deutschlands nicht im geringsten behindert haben. Das bedauern wir alle. Man kann aber von dieser Tatsache nicht absehen, man muß sie zum Ausgangspunkt machen.Herr Kollege Barzel, Sie haben neulich in der Aktuellen Stunde von der Ohnmacht der Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition gesprochen.
— So hatte ich das verstanden, das sei Ohnmacht; wir seien aber nicht ohnmächtig.
— Herr Kollege Barzel, „Ohnmacht" wäre für die Deutschlandpolitik der CDU/CSU ein sehr freundliches Wort,
denn es ist nichts bewegt worden. Ich sage das nicht als Vorwurf, sondern als Feststellung. Wir waren ja damals über weite Strecken der gleichen Meinung.Jetzt sprechen Sie von Menschenrechten. Herr Kollege Barzel, ich habe es immer als eines Ihrer großen Verdienste angesehen, im geteilten Deutschland mit dem Gefangenenfreikauf begonnen zu haben, weil es dort um Menschenrechte, um Rechte konkreter Menschen ging.
— Sehen Sie, Sie sagen jetzt „ohne so viel Geschwätz wie heute". Herr Barzel meinte gerade, wir sollten eigentlich mehr darüber reden.
— Also gut, dann sind wir uns doch einig; es gibt Dinge, über die man reden kann, andere, über die man nicht reden kann. Ich sage, Herr Barzel hat dort in Sachen der Menschenrechte etwas begonnen, was wir heute fortführen. Aber wenn wir jetzt fragen, oh für die Menschen in der DDR allgemein in Sachen Menschenrechte etwas erreicht wurde, dann ist esdoch so, daß an all den Bedrückungen, die Sie geschildert haben, die jeder kennt und an denen überhaupt nichts abzustreichen ist — ich komme noch darauf zurück —, von Ihnen eben nichts geändert worden ist.Unsere Auseinandersetzung ist doch nicht die, daß Sie für die Menschenrechte sind und wir nicht, sondern daß man fragt, wie man praktisch etwas tun kann, um der dort lebenden Generation zu mehr Menschenrechten zu verhelfen. Dann kommt eine Frage, auf die ich jetzt genau eingehen werde: was nämlich das primäre Ziel sein soll? Den Menschen drüben mehr Freiheit zu schaffen, selbst auf Kosten der staatlichen Teilung, wenn es nicht anders geht, oder aber die „Wiedervereinigung"? Diesen Streit können wir doch nicht einfach beiseite lassen. Wir können doch nicht sagen, Adenauer habe sich entschieden: Freiheit vor Einheit, und dann Vorwürfe machen, wenn man heute, nachdem die Teilung festgeschrieben worden ist, diesen Vorgang nicht zurückentwickeln kann.Tatsache ist — das könnte doch eine gemeinsame Feststellung sein, Herr Mertes —: Am Ende der Regierungszeit der CDU war bei einer gutgemeinten Politik, da sie nicht funktioniert hat, ein Zustand erreicht, daß sich in Deutschland zwei Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung gegenüberstanden, beide eingebunden in antagonistische Bündnissysteme. Der Kontakt zwischen den Deutschen in diesen beiden Staaten war fast gleich Null, u. a. deshalb, weil die Unionsparteien sich weigerten, die von ihnen mit herbeigeführten Zustände oder, vielleicht richtiger formuliert, von ihnen jedenfalls nicht verhinderten Zustände nun zum Ausgangspunkt eines Neuansatzes zu machen, um wenigstens den Zusammenhalt der Nation zu wahren. Dieser Versuch, der ja in der Großen Koalition unternommen worden ist, Herr Marx, ist dort am Widerstand des rechten Flügels Ihrer Partei gescheitert, so daß dann 1969 die sozialliberale Koalition den Versuch gemacht hat, einen Neuansatz in der Deutschlandpolitik zu finden.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege Ehmke, haben Sie nicht den Eindruck, daß Sie wiederum versuchen, die sehr differenzierte und schwierige jüngste Geschichte allzusehr zu vereinfachen und eine Legende darzustellen, die mit der geschichtlichen Wirklichkeit nun wirklich nichts zu tun hat?
Wenn Sie das noch etwas konkreter fassen würden, könnte ich Ihnen konkret antworten.
Dann würde ich gern fragen: Haben Sie z. B. die Bemühungen von Bundeskanzler
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12318 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. MarxKiesinger, seine Diskussion mit dem sowjetischen Botschafter Zarapkin vergessen? Und wie kommen Sie dazu, zu sagen, daß ein Teil meiner Fraktion dies sabotiert hätte? Das hat doch mit der geschichtlichen Wirklichkeit nichts zu tun!
Also, Herr Kollege Marx, wenn Sie fragen, warum die Große Koalition gescheitert ist und es zur kleinen Koalition kam
— doch, das ist die Frage —, dann sage ich Ihnen — ich war in der Großen Koalition Kabinettsmitglied —: weil es in dieser Frage nicht möglich war, zusammen voranzugehen. Und ich füge hinzu, es wäre mit Herrn Kiesinger sehr viel eher möglich gewesen als mit anderen. Aber Ihr ganzer Verein war nicht mitzubekommen. Daran ist die Koalition gescheitert.Eines muß ich abschließend sagen: Herr Barzel beschwört gerne die „Sensibilität". Wenn das, was ich geschildert habe, das Ergebnis von 20 Jahren CDU-Politik war — ich werfe das nicht vor, ich stelle das fest —, dann müssen Sie verstehen, daß es uns als scheinheilig erscheinen muß, daß Sie uns für un- . sere damalige Kritik, Adenauer schaffe die Wiedervereinigung nicht, das Etikett „nationalstaatlich" anzukleben suchen, um dann anschließend zu sagen: heute verratet ihr die Wiedervereinigung. So kann man nicht miteinander umgehen.
In der Entspannungspolitik haben wir bei allen Rückschritten, die sie erlitten hat und auch in Zukunft erleiden wird — das ist ganz klar; es ist ja nicht so, daß die andere Seite diese Politik wollte; es ist auch klar, daß diese Politik sie viel mehr belastet als uns —, einen Zustand erreicht, bei dem Millionen Deutsche wieder zusammenkommen können. Ich glaube, daß wir für die Lage der Nation — wir sprechen ja heute über die Lage der Nation und nicht über die juristische Lage des Deutschen Reiches von 1871; dazu komme ich aber gleich noch — tatsächlich viel erreicht haben. Die Entspannungspolitik macht den Menschen in den beiden deutschen Staaten das Leben erträglicher. Sie hebt die Teilung unseres Volkes nicht auf, aber sie kann Voraussetzungen für den Zusammenhalt der Nation schaffen.Ich glaube, wir dürfen uns den Blick für das, was die Politik der Bundesrepublik für den Zusammenhalt der Nation leisten kann, nicht durch ein falsches Verständnis von „Wiedervereinigung" verstellen. Darum geht es in den Äußerungen von Herbert Wehner und Willy Brandt, weil wir in zahlreichen Äußerungen ein falsches Verständnis von Wiedervereinigung feststellen können.
Zunächst kann es — das hat auch Herr Kohl heute gesagt, das brauche ich nicht noch einmal zu betonen — nicht um die Wiederherstellung des Deutschen Reiches von 1871 gehen. Das hat auch HerrStrauß oft gesagt — ich habe ihm dafür vor sieben Jahren in der Ostdebatte meinen Respekt gezollt. Das hat auch Herr Scheel gesagt. Wenn das nun Herr Kollege Wehner sagt und für diese Feststellung, in der wir doch offenbar übereinstimmen, mit Beschimpfungen bedacht wird, so spricht das nicht gegen Herbert Wehner, sondern gegen die Leute, die meinen, selbst aus dieser schwierigen Lage der Nation noch ein bißchen parteipolitischen Honig saugen zu müssen.
— Herr Kollege Mertes, lassen Sie mich jetzt bitte fortfahren.Ich möchte jetzt kurz auf einen Streitpunkt eingehen, nämlich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, auf das sich andere berufen und das von uns in der Tat unterschiedlich beurteilt wird.
— Ich werde Ihnen, wenn Sie mich in Ruhe reden lassen, erklären, was ich von dem Urteil halte. Ich habe das zwar schon oft getan, aber ich wiederhole es gern: Der Zweite Senat hat in diesem Urteil den Grundlagenvertrag für verfassungsgemäß erklärt.
Dann hat er leider — ich habe das in einem Streitgespräch mit Herrn Geiger, Bundesverfassungsrichter a. D., neulich im einzelnen dargestellt — eine große Anzahl von obiter dicta — bis hin zum Inhalt von Fernsehsendungen — angehängt, die überhaupt nicht auf dem Tisch des Gerichts lagen. Dann hat er zum Schluß noch erklärt, das sei alles bindend.
Ich will hier die Polemik gegen das Gericht — ich kann da nur polemisch sein, wenn ich ein solches Urteil sehe — nicht wiederholen, da sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Mitbestimmungsurteil inzwischen insoweit selbst korrigiert hat.Aber es bleibt ja noch die Sachfrage. Man hat das Urteil dafür kritisiert — etwa ein konservativer Staatsrechtler wie Herr Thomas Oppermann —, daß das Gericht der Bundesregierung und dem Bundestag unter Inanspruchnahme einer Art Richtlinienkompetenz ein „ewiges Wiedervereinigungsstreben" verordnet hat.
— Nein, Herr Kollege Czaja, lassen Sie mich dies jetzt bitte zu Ende bringen. —
— In Art. 146 steht, daß das ganze deutsche Volk aufgefordert bleibt, die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12319
Dr. EhmkeDas ist auch in Ordnung, daran wird es auch keine Abstriche geben.
Nur, nirgends steht, daß es um die Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1871 geht. Das war zwar eine juristische Theorie, die damals über den Fortbestand des Deutschen Reiches vertreten wurde, aber im Grundgesetz steht das nicht.
— Herr Kollege Gradl: des 1871 gegründeten Deutschen Reiches.
— Na gut, Sie haben die ganzen Theorien vom Fortbestehen des Deutschen Reiches offenbar nicht erlebt, Herr Gradl. Ich habe Sie erlebt.
— Dann sagen Sie: in den Grenzen von 1937. Aber der Staat wurde als identisch behandelt mit dem von 1871.
— Na schön, Herr Hupka kennt die Jurisprudenz besser als ich. Ich gebe mich geschlagen. — Aber einen praktischen Test kann man doch machen. Herr Barzel, jetzt komme ich auf Sie zurück, der Sie ja sagen, Menschenrechte seien wichtiger und die Freiheit rangiere noch vor der Einheit.
— Gut. Wenn uns heute eine Österreich-Lösung angeboten würde — ich halte das für ganz hypothetisch, aber ich gehe jetzt einmal davon aus —, also Freiheit für die Menschen in der DDR, dafür aber Aufrechterhaltung der staatlichen Teilung Deutschlands, dann wären die Verfassungsorgane dieses Staates nach dem Bundesverfassungsgericht rechtlich nicht in der Lage, das Angebot anzunehmen. Da kann ich mit dem verstorbenen finnischen Staatspräsidenten Paasikivi nur 'sagen: „Die Weltgeschichte ist kein Amtsgericht."
Die offenen Fragen der Rechtslage in Deutschland sind durchaus von politischer Bedeutung. Ich glaube, es war Herr Kollege Kohl, der die zwei wichtigsten genannt hat. Das eine ist die Frage der deutschen Staatsbürgerschaft,
an der ich überhaupt nichts ändern will,
weil davon die Behandlung der Menschen in der DDR unter unserem Recht abhängt. Die zweite zentrale Frage ist die Rechtsposition Berlins.
Ich bin auch der Meinung, Herr Kollege Kohl, Herr Kollege Barzel, daß wir — dazu brauche ich kein Verfassungsgericht — politisch die Hoffnung und den Willen nicht aufgeben dürfen, daß die deutsche Nation, d. h. die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR, eines Tages auch staatlich wieder enger zusammenrückt. Das muß unser Ziel bleiben.Ich komme dabei aber auf eine Frage zu sprechen, in der, wie ich glaube, Mißverständnisse oder Meinungsunterschiede zwischen uns bestehen. Wir müssen uns einmal über das Verhältnis der Frage nach der Einheit der Nation und der Frage nach dem Fortbestehen des alten deutschen Staates klar werden. In dieseln Bereich gibt es, wie ich glaube, eine Menge Irrtümer. Herr Barzel, es ist unbestritten — ich bin gern bereit, dies hier noch einmal zu bestätigen —, daß alle Verträge, die die Bundesrepublik geschlossen hat — unter welcher Regierung auch immer —, die rechtliche Möglichkeit, die nationale Einheit anzustreben, offenhalten. Zum Festhalten am Fortbestehen des Deutschen Reiches ist jedoch folgendes anzumerken. — Wenn Sie fragen, wer davon spreche, muß ich auf Herrn Kollegen Zimmermann verweisen, der das sog. deutschlandpolitische Papier der CSU-Landesgruppe vom Juli 1978 zitiert hat. Herr Kollege Barzel und Herr Kollege Kohl, in dem deutschlandpolitischen Papier der CSU werden „Reichsteile außerhalb der Grenzen von 1937" beschworen. Ich habe nicht gehört, Herr Gradl, Herr Kohl oder Herr Mertes, daß von der CDU gegen diese Auffassung Widerspruch erhoben worden ist. Der geneigte Leser — vor allem derjenige im Ausland — fragt, was dort eigentlich in Anspruch genommen wird — Elsaß-Lothringen oder Danzig oder was?
-- Wenn Sie solche Redensarten zulassen, dürfen Sie sich nicht über Mißverständnisse draußen wundern.
Ich sage Ihnen: Wer meint — das ist der entscheidende Punkt; wenn wir uns über ihn einig würden, wäre ich glücklicher als jeder andere —, die Frage der nationalen Einheit — ich gebrauche diesen Begriff jetzt, um den unterschiedlich gedeuteten Begriff „Wiedervereinigung" im Augenblick herauszulassen —, wer glaubt, die deutsche Frage sei eine Frage territorialer Forderungen, der steht den Interessen der deutschen Nation, der Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR entgegen.
Darüber müssen wir uns einmal unterhalten. Dasist von Ihnen heute nicht zitiert worden. Aber wenn
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Dr. Ehmkees um die Juristerei geht, hören wir von Ihnen immer etwas ganz anderes. Das war auch im letzten Jahr bei der Denkschrift der CSU der Fall.
: Die
Wiedervereinigungsfrage war nie eine Gebietsfrage!)— Wenn ich festhalten kann, daß das, was wir mit „Wiedervereinigung" bezeichnen, für Sie keine Gebietsfrage ist, sind wir ein ganzes Stück weiter.
Dann können wir bitte aber auch das „deutschlandpolitische Papier" der CSU in die Schublade, oder, noch besser, in den Papierkorb tun.
Wir sind uns darüber einig, daß die deutsche Teilung nicht im Rahmen einer nationalen, sondern nur im Rahmen einer europäischen Lösung abgebaut werden kann, also nur in dem Maße, in dem die Teilung Europas abgebaut werden kann. Wir dürfen dabei die Augen nicht vor der Tatsache verschließen — dies möchte ich Herrn Zimmermann sagen —, daß die Völker in West- wie in Osteuropa die deutsche Teilung mit anderen Augen sehen als wir.
— Nein, sicher nicht. Im vergangenen Jahrhundert hat man in Europa das in drei Kriegen gegen Dänemark, Osterreich und Frankreich geschaffene Deutsche Reich in West- wie in Osteuropa als Störenfried und die Flottenpolitik Wilhelms II. als Aggression empfunden. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Hitlerschen Besetzung ist in den Völkern Ost- und Westeuropas die Überzeugung gewachsen, die deutsche Teilung habe eine europäische Friedensfunktion. Weil das so ist und man sich diesbezüglich nichts vormachen sollte, stimme ich Ihnen zu: Nur in einer gesamteuropäischen Ordnung ist die Teilung Deutschlands aufzuheben. Das heißt dann aber in bezug auf die territorialen Forderungen: nur unter Anerkennung der heute in Europa bestehenden Grenzen. Dies müssen wir einmal ausdiskutieren. Dies müssen Sie auch einmal mit Herrn Czaja ausdiskutieren.
-- Die Westgrenze Polens hat die Bundesrepublik in ihrer juristischen Kompetenz, die keinen Alleinvertretungsanspruch umschließt, anerkannt. Mehr können wir als Bundesrepublik nicht tun.
— In der Begrenzung, die der Bundesrepublik juristisch eigen ist, nachdem wir die falsche Idee des Alleinvertretungsanspruchs aufgegeben haben. Herr Czaja, ich sage Ihnen aber eines: Wer die Frage der Einheit der deutschen Nation, des Zusammenlebens der Deutschen, mit der Frage der Änderungder heutigen Westgrenze Polens kombinieren will, wird weder das eine noch das andere bekommen. Das muß man sich einmal klarmachen. Sonst wird man unglaubwürdig, und zwar nach Osten wie nach Westen.
Vielleicht darf ich die Herren der CDU bitten, darauf zu antworten: Stimmen Sie mir darin zu, daß wir unter dem Wort „Wiedervereinigung", wenn wir es nicht mißverstehen, das Ziel zu verstehen haben, die heute staatlich, politisch, sozial in zwei Teile getrennte deutsche Nation — nur um diese Menschen geht es — sozial, politisch und, wenn es geht, eines Tages staatlich wieder zusammenzuführen, und daß wir wegen dieses Zieles, das nur gesamteuropäisch erreicht werden kann, endlich aufhören müssen, vor allen Dingen auch gegenüber Polen, über territoriale deutsche Forderungen in Europa zu sprechen?
Das ist der Kernpunkt unserer Auseinandersetzungen, und dort müssen Sie selbst Klarheit schaffen.
Herr Abgeordneter Ehmke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mertes?
Nein, Herr Kollege Mertes; die Zeit läuft.
Herr Abgeordneter Ehmke, gilt das generell für Zwischenfragen?
Ja.
Wie für Millionen meiner Landsleute aus dem deutschen Osten gehört für mich der deutsche Osten, genau wie für den Kollegen Barzel und andere hier in diesem Raum, zu meinem Vaterland als meiner geistigen Heimat. Aber politisch ist der deutsche Osten von Hitler verspielt worden. Darum ist meine Heimatstadt Danzig heute polnisch,
und gerade wir, die wir unsere engere Heimat durch den Hitlerkrieg verloren haben, haben, glaube ich, alle gelernt, daß Friedensliebe der Boden der Heimatliebe sein muß.
Die auf dem heutigen Wohngebiet der deutschen Nation bestehenden beiden deutschen Staaten — um diesen Punkt geht es — können weder gegeneinander noch gegenüber ihren Nachbarn im We-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12321
Dr. Ehmkesten und Osten territoriale Ansprüche erheben. Wenn wir diese Territorialfrage und die juristischen Fragen des Fortbestandes des Reiches, die sehr interessant sind, aus dem Begriff der „Wiedervereinigung" herausnehmen, dann bin ich der erste, der sich hier zusammen mit Ihnen dazu bekennt, daß Wiedervereinigung ein unaufgebbares Anliegen unserer Nation sein muß. Aber Sie dürfen nicht dauernd die politische Frage der Einheit der Nation mit territorialen und juristischen Fragen durcheinanderbringen. Sonst machen Sie sich selbst etwas vor und säen im Osten wie im Westen Mißtrauen.
Das ist das zentrale Problem.Es hat daher auch keinen Zweck, in den Vordergrund unserer Debatte heute die Frage zu stellen, welche staatenbündische oder bundesstaatliche Lösung am Ende unseres deutschlandpolitischen Weges stehen könnte. Solche Lösungen sind wohlfeil zu konstruieren, aber ohne jede politische Bedeutung. Es würde mich freuen, wenn wir nach dem, was wir heute von Herrn Barzel und Herrn Kohl gehört haben — wenn ich das richtig interpretiert habe —, in der Frage übereinstimmen: Welche äußeren und inneren Bedingungen müssen geschaffen werden, damit unser geteiltes Volk im Rahmen einer Entspannungspolitik, die die Teilung Europas aufhebt, jedenfalls enger zusammenleben kann als es heute der Fall ist? Dabei kann heute keiner von uns sagen, bis zu welchen Formen das gehen wird. Der Bundeskanzler hat richtig gesagt: Es werden viele Jahre des Friedens notwendig sein, um zur Einheit zu kommen.Lassen Sie mich zunächst etwas zu den äußeren Bedingungen sagen. Erstens: Sollten wir nicht glauben — das ist mir schon zugerufen worden, und ich bestätige das als auch meine Überzeugung —, daß irgend jemand in Ost oder West oder in Fernost an dieser Frage mehr als wir selbst interessiert ist. Zweitens: Wenn richtig ist, was alle Parteien hier zum Zusammenhang von Friedenspolitik und deutscher Einheit gesagt haben, dann gilt es, die Entspannungspolitik geduldig fortzusetzen und auch jeden kleinen Schritt aus dieser Perspektive zu sehen. Ich glaube, es ist eine unserer großen Aufgaben, diese Entspannungspolitik heute durch eine aktive Rüstungskontrollpolitik zu ergänzen.Es geht schließlich darum, die Europapolitik, die Sie angefangen haben, fortzusetzen. Eine Politik, die die Nationalstaaten überwindet, die aber zugleich — ich glaube, auch darin sind wir uns einig — für die Überwindung der Teilung Europas offenbleibt. Es ist — z. B. vom Kollegen Ralf Dahrendorf in dem Hearing des Innerdeutschen Ausschusses — der Einwand erhoben worden, daß im Grunde unser Ziel der westeuropäischen Einigung nicht mit dem Ziel vereinbar sei, die deutsche Frage offenzuhalten. Ich möchte Ihnen sagen, daß ich diese Frage schon aus einem Grund nicht so dramatisch sehe. Ich glaube nicht, daß die Formen der Supranationalität — das sage ich für meine Person —, die für das Europa der Sechs entworfen worden waren, in der EG sehr schnell Wirklichkeit werden können. Wir haben seit dem Beitritt Englands erlebt, daß sie im Grunde nicht vorangekommen sind. Die Direktwahl des Europäischen Parlaments ist jetzt allerdings ein „unitarischer" Akt. Aber ich bin sicher: wenn jetzt Griechenland, Portugal und Spanien, drei Entwicklungsländer mit völlig anderem Lebensniveau und Wirtschaftsniveau, in die Europäische Gemeinschaft kommen, werden noch lange, lange Jahre nicht Formen der Supranationalität, sondern Formen der engen Kooperation für die westeuropäische Entwicklung bestimmend bleiben. Und darum wird sich auch der Widerspruch zur deutschen Frage nicht so darstellen, wie ihn etwa der Kolleg Dahrendorf gesehen hat.
Fragt man jetzt nach den i n n e r en Voraussetzungen von Fortschritten in der deutschen Frage, so verweise ich zunächst auf das, was der Bundeskanzler heute zur Entwicklung der Bundesrepublik in den letzten dreißig Jahren gesagt hat. Ich glaube, wir müssen uns darüber klar sein, daß wir uns, wenn wit einmal die Polemik weglassen, nach dem, was heute gesagt worden ist, über die äußeren Bedingungen relativ schnell einigen könnten. Ich bin ja schon ganz milde; wenn Herr Jäger mich am Anfang nicht geärgert hätte, wäre ich auch gleich milde geblieben.
— Zuerst sollte er sich einmal für seinen Zwischenruf entschuldigen.
— Ich weiß, Herr Kohl, Sie schreiben vor, wer sich zu entschuldigen hat.
Jetzt bin ich bei den inneren Bedingungen.
Ich bin der Meinung, wir müssen miteinander darüber diskutieren, daß die Frage eines engeren Zusammenkommens der geteilten Nation auch eine innere Dimension hat. Das ist in der „Politik der Stärke" durch die Idee verdrängt worden, „Wiedervereinigung" wäre ein „Anschluß" der DDR an die Bundesrepublik. Ein solcher wird nicht stattfinden. Ich meine, über das Spannungsverhältnis der beiden Gesellschaftsordnungen und über das, was wir in der ideologischen Auseinandersetzung, die ja durch die Entspannungspolitik nicht abgeschafft, sondern noch verschärft worden ist, tun müssen, müssen wir im einzelnen reden. Wir tun das viel zuwenig.Ich will jetzt nicht im einzelnen ausführen, wie sich diese Frage in der DDR und in der Bundesre-12322 Deutscher Bundestag —.8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979Dr. Ehmkepublik entwickelt hat, einfach weil ich Ihre Zeit nicht übermäßig in Anspruch nehmen möchte.
Aber: Was ist die innere Dimension der deutschen Frage? Welche Veränderungen im Verhältnis der beiden Gesellschaftsordnungen oder der beiden Ideologien müßten eintreten, wenn man überhaupt von nationaler Einheit reden und sie nicht nur als Wort benutzen will?
— Nein, das kann man natürlich nicht wertneutral sehen. Sie können nicht glauben, zwei politische Ordnungen „wertneutral" zusammenbringen zu können. Das eigentliche Problem ist doch, daß die Teilung Deutschlands uns zugleich in zwei ideologische Blöcke teilt.Nun hat der Kollege Barzel darauf hingewiesen, daß die Frage, ob man die Regimes in Osteuropa „stabilisieren" solle, problematisch sei. Ich teile Ihre Meinung. Wir haben uns das angewöhnt, übrigens alle zusammen, nicht nur die Union. Ich bin aber der Ansicht, daß wir die Frage, wie unser Verhältnis zu den kommunistischen Regimes sein sollte, nicht in der Terminologie behandeln dürfen, ob wir sie „destabilisieren" oder „stabilisieren" sollten. Ich halte das für eine falsche Terminologie. Sie zu „destabilisieren" in der Absicht, sie zu stürzen, wäre — abgesehen von der Frage, ob man das überhaupt könnte — gar nicht zu verantworten, denn die Alternative wäre das Chaos. Der Westen ist sich auch einig: Krieg wäre selbst dann keine Alternative, wenn einmal sowjetische Panzer zur nächsten Scheinstabilisierung im Ostblock rollen sollten, was keiner ausschließen kann.
Ich sage also: Wir sind nicht daran interessiert, dort Chaos zu schaffen, selbst wenn wir es könnten. Aber ich halte, weil ich die Regimes so beurteile wie Sie, auch den Umkehrschluß, wir seien an ihrer „Stabilisierung" interessiert, mindestens für-sehr mißverständlich. Wir wollen dort jemanden haben, mit dem wir Entspannungspolitik machen können, aber wir wollen nicht ein Regime aufrechterhalten, das unseren eigenen Überzeugungen und denen unserer Landsleute in der Frage der Einheit und in der Frage der Freiheit widerspricht.Eines muß sich die DDR nun einmal sagen lassen: Man kann mit großer Objektivität den antifaschistischen Ansatz betrachten, der dort nach dem Krieg gefunden worden ist. Die Literatur in der DDR — Kollegen von allen Parteien sind heute auf sie eingegangen — stellt zum Teil große deutsche Literatur dar. Diese Literatur zeigt, daß es einen genuinen antifaschistischen Ansatz gegeben hat. Nur, davon ist in dem Bindestrichdogmatismus des Marxismus-Leninismus nicht viel übriggeblieben. Ich könnte verschiedene Namen zu dieser Frage noch einmal zitieren. Daß man heute drüben eine solche Schwäche zeigt, daß man nicht einmal mehr die Journalisten das schreiben läßt, was sie schreiben wollen, zeigt — das muß klar gesagt werden und wird von uns gesagt; es wird nicht aggressiv gesagt, aber noch festgestellt Dieses Regime war nicht in der Lage, eine Ordnung zu schaffen, die für unsere Landsleute drüben innerlich akzeptabel ist.Darum kann in diesem Sinne auch nicht ein Interesse unsererseits bestehen, es zu „stabilisieren". So wie die äußere Dimension der deutschen Frage Entspannung heißt, heißt die innere Dimension Reform. Wir müssen alles tun, soweit wir überhaupt etwas tun können, dort eine Entwicklung einzuleiten — sonst gibt es nämlich nie eine deutsche Einheit —, die das, was uns im Kern trennt, abbaut. Das sind nicht Fragen des Privateigentums an Produktionsmitteln; das sind Freiheitsfragen. Ich glaube, auch darin stimmen wir überein. Daher müssen zwischen den beiden deutschen Staaten auch diese Fragen diskutiert werden. Das ist auch das Selbstverständlichste in der Welt, denn die DDR hat wie alle Unterzeichnerstaaten in der Schlußakte von Helsinki ja unterschrieben, daß wir nicht nur ein Europa mit einem Verhältnis guter Nachbarschaft haben wollen, sondern auch ein Europa, in dem Menschenrechte gelten.Ich glaube, in diesen beiden Dimensionen liegt das Wesentliche. Im Äußeren: Entspannungspolitik, Europapolitik, die in einem Abbau der Teilung Europas die Teilung Deutschlands überwinden will. Und im Innern eine Auseinandersetzung, wie wir Sozialdemokraten sie vom Boden des freiheitlichen Sozialismus intensiver führen als jeder andere gegenüber dem Kommunismus. Das ist auch der Grund, warum wir uns mit dem Eurokommunismus beschäftigen, mit dem, was dort im Bereich des Kommunismus vorgeht, und mit dem Prager Frühling. Diese Auseinandersetzung muß mit dem Ziele einer Reform fortgeführt werden, die Menschenrechte auch im anderen Teil Europas möglich macht.Nun mag man aber sagen: es ist ganz unwahrscheinlich, daß das klappt. Und sicher wird es nicht automatisch gehen, wie Herr Zimmermann gemeint hat. Aber ich sehe keine Alternative. Auch Sie haben keine genannt. Es hat auch keinen Zweck, hinter großen Worten so zu tun, als ob Sie oder ich etwas in der Tasche hätten, was die Lösung bringen könne. Es wird ein langer, geduldiger Versuch mit der Gefahr des Scheiterns sein. Wir müssen ihn trotzdem unternehmen, weil nur eine solche Deutschlandpolitik in der Lage sein wird, der deutschen Geschichte nach der Katastrophe einen Sinn zu geben, einen Menschensinn.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Abelein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe schon eine Weile darüber nachgedacht, wieso eigentlich der Herr Bundeskanzler nicht mehr da ist, da es sich doch
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Dr. Abeleinum eine Debatte über die Regierungserklärung, über seine Erklärung handelt. In der Zwischenzeit ist mir klargeworden, besonders noch durch die Ausführungen des Kollegen Ehmke: die Debatte hat mit den Ausführungen des Bundeskanzlers überhaupt nichts mehr zu tun. Das, was er sagte, wird hier gar nicht mehr debattiert, schon stundenlang nicht mehr. Das scheint mir symptomatisch für die Regierungskoalition überhaupt zu sein. Da ist auf der einen Seite der große Alleingänger Helmut Schmidt. Auf der anderen Seite sind all die anderen. Die Frage, die sich hier stellt, ist nur: Wer redet eigentlich für Sie? Ich habe den Eindruck — nicht erst heute —, daß es sich um ein reichlich doppelbödiges Spiel handelt, das hier gespielt wird.
-- Wenn Sie von Gemeinsamkeit reden, Herr Ehmke, hat das einen komischen Klang, zumal noch im Hinblick auf Ihren Nebensitzer; aber ich bin gerne bereit, auch darauf einzugehen.
Eine Bilanz, egal zu welchem Thema, auch über die Deutschlandpolitik, hat natürlich Plus und Minus aufzuweisen. Davon sind wir eigentlich immer ausgegangen. Wenn man sich so anstrengt, wie Sie das getan haben — Sie haben das zweifellos —, wenn man derart viele politische Positionen riskiert, aufgibt, so viel Geld investiert in ein solches Unternehmen „neue Deutschlandpolitik", muß ja wohl auch auf der positiven Seite irgend etwas vorhanden sein. Worauf es hier ankommt, ist, in einer Gegenüberstellung festzustellen, wie diese Bilanz aussieht. Die sieht nicht gut aus; das wissen Sie genauso wie wir. Natürlich brauchen Sie das hier nicht zuzugeben. Wir sind politisch genug, um einzusehen und zu akzeptieren, daß Sie gar nicht in der Lage sind, jetzt hier eine offene und klare Bilanz aufzustellen. Es genügt auch — mehr wird von Ihnen gar nicht erwartet —, wenn Sie vielleicht die positiven Dinge aufweisen. Deren gibt es einige. Aber es gibt natürlich eine ganze Reihe von anderen Positionen.Die entscheidende Zielsetzung ist nicht erreicht worden. Sie wollten doch nicht nur den Reiseverkehr verbessern; Sie wollten doch nicht nur, daß man mehr telefonieren kann; Sie wollten doch nicht nur, daß man von der einen Seite in die andere reisen kann. Die Zielsetzungen waren doch sehr viel anspruchsvoller. Ich erinnere Sie nur an die vielen Formeln, die Sie gebraucht haben. Sie wollten doch vom Gegeneinander über das Nebeneinander zum Miteinander kommen. Sie haben doch vorher gesagt, diese Politik sei der Anfang des Endes beispielsweise vom Schießen. Sie wollten die beiden deutschen Staaten einander näherbringen. Wenn Sie den gegenwärtigen Zustand damit vergleichen, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, daß alle diese Zielsetzungen nicht erreicht worden sind. Was wir haben, ist nicht eine Politik der Gemeinsamkeit, sondern eine Politik der forcierten Abgrenzung auf der anderen Seite. Wir haben nicht ein Miteinander, noch nicht einmal ein Nebeneinander, wir haben ein aggressiveres Gegeneinander als je zuvor. Das kennzeichnet doch die Situation bis in die letzten Tage: Journalistenverordnung. Selbst das, was Sie an Abreden, Vereinbarungen, Briefwechseln und Protokollnotizen alles zu Papier "gebracht haben, ist doch, wie Sie selber sagen, in der Zwischenzeit durchlöchert. Das sind Zitate von Ihnen.Jetzt kommt noch eine Ausweisung eines Journalisten hinzu, gar nicht die erste. Das ist ja nur ein Punkt in der Entwicklung dieser Abgrenzungspolitik.Meine Damen und Herren, Sie sind hier in einer schwierigen Position. Das hat ja einer Ihrer Minister in einer der letzten Debatten hier zugegeben, als er sagte, rechtlich sei die Sache durchaus dubios. Was wir Ihnen vorgeworfen haben, ist gerade, daß Sie Verträge und Abkommen abgeschlossen haben, die rechtlich dubios sind. Sie sind auf dieser Ebene in einer ganz schwachen Position. Ich erinnere Sie daran, daß in diesen Abkommen, genauer gesagt in diesen Briefwechseln — Abkommen ist eine Bezeichnung, die gar nicht so zutrifft —, steht, daß das Ganze natürlich nur im Rahmen der Rechtsordnung der DDR geschehen könne. Wir haben Ihnen damals schon gesagt, daß damit Tür und Tor für jede weitere Entwicklung geöffnet ist, unter anderem für die Entwicklung, die wir jetzt auf dem Gebiet der Eingrenzung der Arbeitsmöglichkeiten der Journalisten vor uns haben. Dies war immer klar. Dennoch müssen Sie sich natürlich die Frage stellen lassen, was Sie tun wollen, damit es nicht mehr so weitergeht. Sie können sich diese Politik der Durchlöcherung von Vereinbarungen, die Sie mit der DDR getroffen haben, und diese dauernden Unfreundlichkeiten nicht ständig bieten lassen. Das ist doch auch noch eine Frage der Selbstachtung, die sich Ihnen offensichtlich überhaupt nicht stellt.
Meine Damen und Herren, im übrigen sind wir nicht so hilflos, wie Sie das darstellen. Dies hat der Kollege Barzel das letztemal gesagt, und das haben wir Ihnen im Laufe der Jahre immer wieder gesagt. Wir sind, um nur auf diesen einen Punkt hinzuweisen, der Meinung, daß man die wirtschaftlichen Beziehungen mit der DDR sehr wohl pflegen sollte. Wir sind hier auch für finanzielle Leistungen. Das haben wir praktiziert, ehe Sie dazu die Gelegenheit hatten, allerdings maßvoller, politisch mehr im Gleichgewicht stehend und mehr auf der Basis der Gegenseitigkeit. Ich finde aber, daß Sie das gar nicht so spektakulär zu machen brauchen. Wir sind gar nicht dafür, daß Sie groß mit der Peitsche knallen. Sie könnten aber bei den Gesprächen, die Sie mit der DDR führen, beispielsweise darauf hinweisen, daß die Kreditierung, genannt Swing, die im Jahre 1981 zu verlängern oder neu abzuschließen ist — Sie werden 1980 darüber sprechen —, in dem bisherigen Umfang schwerlich aufrechterhalten werden kann, wenn die DDR sich nicht umstellt und sich ein anderes Verhalten gegenüber der Bundesrepublik Deutschland zulegt,
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Dr. AbeleinDas ist doch keine Zumutung! Wenn Sie von vornherein sagen, all das gehe nicht, dann stellen Sie der DDR einen Freibrief aus, alles zu tun, was sie will.
Es ist bekannt und auch natürlich, daß es in allen menschlichen Gruppierungen verschiedene Charaktere gibt. Es gibt härtere und weichere, es gibt konzessionsbereitere und solche, die nicht zur Verständigung bereit sind. Sie entziehen doch denen in der DDR, die im ökonomischen Bereich tätig sind, den Boden ihrer Argumentation gegenüber den Harten, den „Falken", wenn Sie nicht auf die Risiken einer derartigen Politik der Abgrenzung und Unfreundlichkeit gegenüber der Bundesrepublik Deutschland hinweisen. Hier gibt es ein Feld der Gemeinsamkeit. Das haben wir Ihnen doch schon einmal angeboten. Es ist doch keine Politik, unbegrenzt für eine Politik der DDR zu bezahlen, die, wie Sie selber sagen, die mit Ihnen getroffenen Abmachungen durchlöchert.Meine Damen und Herren, lassen Sie mich wenigstens andeutungsweise noch einiges zur Bilanz der Deutschlandpolitik sagen; denn Sie, Herr Bundesminister — und der Herr Bundeskanzler schon gar nicht —, haben diese Bilanz natürlich aufgestellt. Sie haben nur die eine Spalte dargestellt.Gehen wir doch nur einmal vom Grundlagenvertrag aus: Der Grundlagenvertrag sieht doch vor, daß die Leistungen unsererseits, an denen die DDR interessiert war, sofort zu erbringen waren, während die Gegenleistungen in Inaussichtstellungen in diesem Katalog des Artikels 7 bestehen. Was ist denn davon realisiert worden? Die Bilanz der Gegenleistungen entsprechend dem Artikel 7 ist doch mehr als kläglich. Es gibt ein Gesundheitsabkommen, ein Postabkommen. Wir sind für alle diese Dinge. Aber die Vorteile liegen nicht nur auf unserer Seite. Denken Sie beim Postabkommen etwa an die Gebühreneinnahmen für den Telefonverkehr. Die DDR wird sich doch diese enorme Devisenquelle — noch dazu bei Gebühren, die mir reichlich überhöht erscheinen — nicht entgehen lassen. Dann haben Sie noch ein Transferabkommen abgeschlossen, in dem Unterhaltszahlungen, also nicht kommerzieller Zahlungsverkehr, geregelt sind und das nach eineinhalb Jahren bereits nicht mehr funktioniert hat. Jetzt stellen Sie es als große Leistung heraus, daß 200 Millionen DM an uns gezahlt werden, die wir jedoch vorher in die Kassen der DDR bezahlt haben. Das ist doch kein Vorgang, der das Prädikat Politik verdient.Ich nenne ferner die Sportbeziehungen. Das läuft doch nicht gut! Ersparen Sie mir, Einzelheiten zu schildern.Was gegenwärtig über dieser Politik geschrieben steht, ist doch folgendes: Diese Politik hat die entscheidenden Zielsetzungen grundsätzlich nicht erreicht. Sie haben sie in der Zwischenzeit auch aufgegeben. Bei einzelnen technischen Fragen, beispielsweise im Verkehrsbereich, wird die eine oder andere Regelung gegen Zahlung enormer Summen erreicht.Meine Damen und Herren, ich möchte auf den Häftlingsaustausch deshalb eingehen, weil Sie, Herr Minister, das vorhin geschildert haben. Wir haben bisher eigentlich immer die Übung gehabt, dieses Thema in diesem Hause nicht öffentlich anzusprechen. Ich habe mich daran bisher immer gehalten; Sie haben jedoch immer Erfolge vermeldet. Ich möchte darüber überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten aufkommen lassen. Bei uns ist mit dem Austausch unter dem Kollegen Barzel begonnen worden, und unter seinen Nachfolgern ist er fortgesetzt worden. Wir meinen sehr wohl, daß man den armen betroffenen Menschen, wenn man ihnen helfen kann, auch künftig wird helfen müssen.
Wir haben darüber nie Unklarheiten aufkommen lassen. Das ist aber kein Erfolg einer Politik. Wir sind alle in einer merkwürdigen Situation, weil unsere Bereitschaft, Menschlichkeit zu praktizieren, von der anderen Seite zum Gegenstand einer finanziellen Erpressung gemacht wird.
Ich meine, darauf wird man doch wohl noch hinweisen dürfen. Nie ist etwas anderes gemeint gewesen, wenn sich einer unserer Kollegen dazu geäußert hat.Lassen Sie mich auf einiges von dem eingehen, was Herr Kollege Ehmke hier angesprochen hat. Bei den Überlegungen, was man bei dieser Debatte vorbringen könnte, stellte sich mir unter anderem die Frage: Was wird eigentlich die junge Generation zu einer solchen Debatte sagen? Denn diese Frage wird auch die junge Generation demnächst wieder stärker beschäftigen. Teilweise wird behauptet, die junge Generation interessiere sich für die Wiedervereinigung gar nicht mehr so sehr. Ich glaube, im äußeren Erscheinungsbild der jungen Generation, in ihrem Lebensstil wird manches überdeckt, was in den tieferen Bewußtseinsschichten sehr wohl vorhanden ist. Aber junge Menschen kommen nie um die Frage herum: Welches ist denn eigentlich unser Standort, welches ist unsere historische Herkunft, der Ausgangspunkt der Bedingungen für die gegenwärtige Situation? Sie werden fragen: Wie ist denn das alles in Deutschland gekommen, worauf ist es zurückzuführen, daß wir gespalten sind, daß für 17 Millionen Deutsche der Nationalsozialismus nahtlos in den SED-Sozialismus überging?Halten wir uns doch einmal vor Augen: Ein Mensch, der 1933 in Leipzig geboren wurde, ist heute 46 Jahre alt und hat die Freiheit nie gesehen. Das ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt für die Beantwortung dieser Frage.Es gibt eine ganze Reihe von Überlegungen, die man hier anstellen muß und denen wir uns nicht leicht entziehen können, etwa die Frage: Sind wir Deutsche denn in unserer Geschichte so angelegt, daß wir für historische Irrtümer, für nationalistische Übertreibungen, für Gewalttätigkeit, für Aggressivität viel anfälliger als die anderen sind? Mit anderen Worten: Ist die Spaltung nicht eigentlich eine Konsequenz unserer eigenen Geschichte? Bezahlen
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Dr. Abeleinwir in der deutschen Spaltung nicht eine Strafe für eine schwere politische Schuld in der Vergangenheit? Herr Ehmke ist ja darauf zurückgekommen. Zweifellos haben wir Schuld auf uns geladen. Aber die Antwort, die Sie hier gegeben haben, Herr Ehmke, die ist entschieden zu einfach,
und weil sie zu einfach ist, ist sie letztlich falsch. Die These von der absoluten und totalen Mono-Kausalität, von der Schuld der Deutschen für das ganze Unheil in dieser Welt und hier in Mitteleuropa, die stimmt schlicht nicht.
Ich bin zwar auch der Meinung — man muß es der Objektivität wegen sein —, daß die Spaltung Deutschlands im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus gesehen werden muß. Aber der Nationalsozialismus seinerseits ist auch nicht im luftleeren Raum entstanden. Da gibt es eine ganze Reihe von Umständen und Zusammenhänge, die man dann mit behandeln muß.Wir waren bei der Beurteilung der Geschichte der letzten drei Generationen in Deutschland sehr befangen. Ich muß gestehen: Ich bin es nicht. Das ist der Vorteil, einer Generation anzugehören, die mit den Vorgängen zwischen 1933 und 1945 nichts mehr zu tun hatte. Ich freue mich auch sehr, daß sich in der neueren Geschichtsschreibung jetzt zunehmend Ansätze für eine objektivere Behandlung dieser Entwicklung der letzten Generation zeigen.Nun komme ich wieder zu dem Beispiel zurück, das ich gebracht habe, zu dem Leipziger von 46 Jahren, der die Freiheit nie gesehen hat; er wird nie verstehen können, daß just er zu denjenigen gehört, die in alle Ewigkeit die Zeche für die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zu bezahlen haben.
Herr Ehmke, Sie müssen Hitler an erster Stelle nennen. Aber es sind andere Kräfte, die die Spaltung, und zwar rechtswidrig und gegen jegliche Regel der Humanität, heute noch aufrechterhalten. Die müssen Sie auch nennen.
Die Frage, die sich der jungen Generation stellt, hat damit zu tun. Es ist die Frage nach Deutschland. Wir werden uns ihr nicht entziehen können. Ich bin der festen Überzeugung, die Fragen, die wir heute behandeln, werden in Zukunft noch eine sehr große Rolle spielen.Bundesrepublik Deutschland und DDR oder, wie heute in weiten Kreisen üblich, BRD und DDR — ist das Deutschland? Das gehört zweifellos zu Deutschland. Das sind Teile Deutschlands. Es sind noch nicht einmal alle Teile. Wenn wir von Deutschland und den Deutschen sprechen, meinen wir alle Deutschen auf dieser Welt, gleichgültig, an welchem Ort sie leben.
— Herr Ehmke, es ist völlig aussichtslos, mich in Ihre Formeln, die Sie hochgespielt haben, einordnen zu wollen. Darauf lasse ich mich nicht ein. Ich werde Ihnen einmal sagen, worum es hier geht.Wir wollen die deutsche Einheit wieder. Die junge Generation muß sehr mißtrauisch werden, wenn von maßgeblichen Regierungspolitikern der Begriff der Wiedervereinigung relativiert wird. Sie haben dazu ja einiges erklärt. Aber die Art der Formulierungen macht uns sehr mißtrauisch — die Personen, die sie geäußert haben, im übrigen auch; ich gestehe das ganz offen.Wenn beispielsweise — ich kann es nicht anders bezeichnen — in diesem Jargon die Wiedervereinigung — so etwa sinngemäß — zur vorgestrigen Hostie erklärt wird, die man nicht ständig vor sich hertragen könne, macht uns das mißtrauisch.
Ich frage: Was werden denn junge Menschen dazu sagen? Bei denen richten Sie eine komplette Konfusion an.
— Herr Ehmke, ich bin dabei, das jetzt im einzelnen auszuführen.Ich sage Ihnen: Hier drängt sich uns der dringende Verdacht auf, daß Sie sich nach der Erfolglosigkeit der sogenannten neuen Deutschlandpolitik jetzt anschicken, eine noch neuere Deutschlandpolitik mit der Aufgabe des Strebens nach der Einheit der Deutschen einzuleiten. Hinter dem Wortgeplänkel und den Deklamationen der großen Schauspieler der Koalition sind bereits die Kulissenschieber im Hintergrund am Werk, die die Bühne der Deutschlandpolitik gründlich verändern wollen.
Es ist unsere Aufgabe, hier sehr aufzupassen; denn wir sind mit Blick auf Sie gebrannte Kinder.
Lassen Sie mich noch eines sagen. Die deutsche Geschichte besteht nicht nur aus Adolf Hitler. Er ist ein Teil der deutschen Geschichte.
— Aber Sie akzentuieren mit Vorliebe diesen Teil. Damit übernehmen Sie von interessierter Seite eine Argumentation, mit der versucht wird — und das ist eine historische Geschichtsklitterung —, die deutsche Spaltung moralisch zusätzlich zu untermauern.
Ich halte das nicht für human.
Ich versuche jetzt einmal, darzutun, worum es uns bei der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands geht. Wir wollen, daß die Menschen in Deutschland selbst darüber bestimmen können, in welcher Gesellschafts- und Staatsform sie leben wollen. Sie
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Dr. Abeleinsollen selbst darüber bestimmen und nicht irgendeine auswärtige Macht.
Jetzt komme ich zu einem ganz entscheidenden Punkt: Wenn die Deutschen — hauptsächlich die betroffenen 17 Millionen Deutschen — ganz frei und ohne Druck darüber entschieden haben, daß sie in einem Staat leben wollen, der so aussieht wie die DDR, dann ist für uns dieses Problem erledigt. Solange sie das nicht können, ist dieses Problem für uns nicht erledigt.Ich finde, das entspricht den Menschenrechten. Das ist das Selbstbestimmungsrecht, das wir heute von Ihnen etwas prononcierter gehört haben. Das ist letztlich der Kern der Wiedervereinigung. Deswegen wollen wir sie haben. Wir wollen nicht aus historischen Reminiszenzen heraus zu einem Reich Bismarcks zurück; denn Bismarck können wir nicht mehr zum Leben erwecken, und das Bismarck-Reich, wie es damals historisch war, werden wir nicht mehr bekommen können, selbst wenn wir wollten. Aber wir wollen es gar nicht.Aber wir wollen die Einheit der Deutschen wieder, d. h., wir wollen, daß die darüber bestimmen können, ob sie diese Einheit wollen oder nicht.
Meine Antwort darauf lautet: Ich bin mir sicher, daß sie es wollen. Weil diejenigen, die mitunter vom Selbstbestimmungsrecht reden, auch wissen, daß die 17 Millionen drüben in der Zone das ebenfalls wollen und so stimmen würden, deswegen dürfen die 17 Millionen nicht abstimmen. Ich halte es für inhuman, wenn wir diese Dinge hier nicht so zur Sprache bringen würden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Ehmke?
Ja.
Herr Kollege Abelein, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß bezüglich dessen, was Sie eben gesagt haben, keinerlei Meinungsverschiedenheiten zwischen uns bestehen? Könnten wir uns dann auch darüber einigen, daß es eben doch problematisch ist — darin haben Strauß, Wehner und Scheel recht —, diese Forderung, daß die Menschen drüben selbst bestimmen können, mit dem Terminus „Wiedervereinigung" zu versehen, weil das ein anderer Vorgang ist? Hier können wir vielleicht eine Menge Mißverständnisse ausräumen, wenn wir sagen: Eine recht verstandene Wiedervereinigung ist unumstritten, man darf nur nicht meinen, daß damit etwas anderes als das gemeint ist, was ich in meinen Worten gesagt habe und Sie in Ihren Worten gesagt haben. Dann sind eben keine territorialen Fragen damit verbunden und keine juristischen Fragen des Fortbestands des Deutschen Reichs. Wenn wir uns darüber einigen könnten, wären wir sehr viel weiter in der Deutschlandpolitik. Dr. Abelein : Herr Ehmke, die Regierungskoalition hat die Übung praktiziert, die Begriffe nach Belieben wie eine Wasserkanne mit verschiedenen Inhalten zu füllen. Wir sind gern dazu bereit, wenigstens die Klarheit der Nomenklatur herbeizuführen. Wenn diese Debatte ein Ansatzpunkt dafür sein sollte, wäre das bereits ein gutes Ergebnis.
Lassen Sie mich jetzt etwas außerhalb des Zusammenhangs in Kürze noch auf einige Dinge eingehen. Die Zeit ist zu kurz, um das, was Sie über die Politik Adenauers gesagt haben, hier noch anzusprechen. Nur: Es ist falsch, was Sie gesagt haben. Beispielsweise das, was Sie über den Notenwechsel 1952 gesagt haben, ist schlicht falsch. Ich will jetzt nicht auf die Behauptung eingehen, Adenauer habe die Noten gar nicht gelesen.
Wenn Sie das so sagen, Herr Ehmke, dann frage ich mich — ich will hier gar nicht polemisch werden —, ob Sie sie denn gelesen haben, diese acht Noten.
— Man hätte sie gar nicht zur Kenntnis genommen. Daß damals, so wie Sie es sagten, die Wiedervereinigung Deutschlands angeboten worden sei, ist schlicht falsch, und zwar wegen der Simplizität dieser Behauptung.Damals ging es doch um eine ganz andere Frage. Ich bin auch der Meinung: Die Wiedervereinigung Deutschlands unter ganz bestimmten Konditionen, so wie die Sowjetunion sich das vorstellt, können wir wahrscheinlich rasch haben. Es gibt zwar auch darüber verschiedene Ansichten, aber wieso sollte eigentlich die Sowjetunion das nicht machen? Wenn die DDR dann die Bundesrepublik Deutschland mit umfassen würde — eine solche Wiedervereinigung wäre wohl möglich.Damals, 1952, ging es um den Punkt, ob die Voraussetzung für dieses wiedervereinigte Deutschland freie Wahlen sein sollen. Dazu hat die Sowjetunion gepaßt, das hat sie nicht zugestanden. Das ist doch der entscheidende Punkt. Wenn wir uns darüber auch einig sind, wären wir einen zweiten Schritt weiter.Meine Damen und Herren, ich möchte noch kurz auf die These eingehen, die europäische Integration und die Politik der Wiedervereinigung seien miteinander unvereinbar. Das ist ja ganz neu. Sie haben das schon einmal vorgebracht, allerdings jetzt mit einer komplett veränderten Frontstellung. Sie haben uns in den 50er Jahren vorgeworfen, mit unserer Europapolitik würden wir die Wiedervereinigung stören. Jetzt ist es genau umgekehrt.Meine Damen und Herren, ich vermag überhaupt nicht einzusehen, daß e i n Deutschland weniger
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Dr. Abeleinzuverlässig und weniger friedliebend in diesem Europa sein sollte als Italien, Frankreich, Niederlande und England und wie die anderen Staaten heißen.Herr Ehmke, ich darf Sie noch einmal ansprechen. Sie haben das letzte Mal eine sehr gefährliche These vertreten, indem Sie sagten, andere Staaten, andere Mächte in West und Ost würden die deutsche Spaltung als eine Garantie ihrer Sicherheit ansehen.
Ich halte das für völlig falsch. Es stimmt gar nicht. Kennen Sie denn die Meinungsumfrage nicht, die Emnid vor einigen Monaten veranstaltet und die dieses Aufsehen erregt hat, woraus sich ergab, daß die weit überwiegenden Teile der Bevölkerung fast aller Staaten des Westens die Wiedervereinigung unterstützen, der Meinung sind, die Wiedervereinigung Deutschlands solle kommen? Ich muß gestehen, ich war auch davon überrascht. Ich war etwas skeptisch darüber. Es wäre für mich nicht der letztlich entscheidende Maßstab gewesen. Aber wir befinden uns hier doch noch zusätzlich im Konsens mit der öffentlichen Meinung der internationalen Welt. Daß Sie das nicht sehen wollen! Seien Sie doch froh, daß es so ist, Herr Ehmke!
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Eigentlich nur ungern, sonst wird mir das Wort abgeschnitten. — Meinetwegen, es tut mir nur der Kollege Ludewig leid.
Die Verhandlungen gehen dann schon über mich. — Bitte schön!
Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß wir hier genau wieder an dem Punkt sind, wo Sie Wiedervereinigung anders auslegen, als wir sie beide vorhin verstanden haben? Ich glaube, man kann in Europa, in Ost wie in West, die Völker dafür gewinnen — ich frage Sie, ob das nicht auch Ihre Meinung ist —, daß die Deutschen eines Tages nach einem langen Prozeß wieder zusammenleben. Ich sage gleichzeitig, man kann sie nicht dafür gewinnen, die Westgrenze Polens im Sinne einer Wiederherstellung des alten Reiches zu ändern. Das ist die Frage, die Sie beantworten müssen. Dort muß Klarheit geschaffen werden. Für die Wiedervereinigung, wie wir sie definiert haben, ja, für die andere Definition nein.
Ich glaube, daß ich hier die Wiedervereinigung sehr klar definiert habe, und zwar in der Form der, Realisierung des Selbstbestimmungsrechts. Klarer geht es überhaupt nicht mehr. Aber wir können uns darüber sehr gerne noch weiter unterhalten.
Ich hätte noch vieles zu sagen, aber ich will zum Schluß kommen. Wenn Sie immer nur von den Verträgen, den Ostverträgen und dem Grundlagenvertrag, reden und einige andere. Dinge zur Seite wischen, dann ist es im Hinblick auf den Grundsatz „Pacta sunt servanda" ein schlechter Appell. Wenn die einen Verträge gelten, müssen die anderen auch gelten. Das ist zweifellos für einige unangenehm. In Art. 7 des Deutschlandvertrages steht, daß die Grenzen nicht endgültig geregelt sind. Im Potsdamer Abkommen steht, daß die Grenzen endgütig in einem Friedensvertrag geregelt werden sollen. Wir machen uns keine Illusionen darüber, daß dieser Friedensvertrag nicht nur Angenehmes für uns bringen wird. Wir bestehen aber auf den geschlossenen Verträgen genauso wie die andere Seite. Es gibt überhaupt keine Veranlassung, davon abzuweichen.
Das sind sehr wichtige Grundlagen für die Deutschlandpolitik. Wenn es möglich sein sollte, auf diesen Grundlagen zu mehr Gemeinsamkeit in den Positionen zu kommen, als es bisher der Fall war: Wir sind dafür offen.
Das Wort hat der Abgeordnete Ludewig.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Deutschlandpolitik befindet sich wieder einmal in einem Wechselbad. Westdeutsche Korrespondenten werden behindert. Vor einigen Tagen ist wieder einer ausgewiesen worden. Was macht die DDR damit? Sie signalisiert zwanghafte Abgrenzungsmechanik und zeigt sich als verunsichertes System. Die Führung der DDR glaubt offenbar, die Risiken bei der Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten anders nicht beherrschen zu können.Ist aber deshalb die bisherige Deutschlandpolitik gescheitert? Nein, meine Damen und Herren, sie ist nicht gescheitert. Gerade für uns kann dieser Vorgang kein Anlaß sein, die Vertragspolitik insgesamt zu verdammen. Schließlich ist bisher viel erreicht worden, wenn auch noch nicht genug auf allen Gebieten. Wir können uns noch nicht zur Ruhe setzen.Aber entscheidend hat unsere Vertragspolitik mitgeholfen, das drohende Auseinanderleben der Deutschen zu stoppen, das Zusammengehörigkeitsgefühl durch vielfältige menschliche Begegnungen zu stärken. Die Gräben der Spaltung haben sich nicht vertieft. Der Zusammenhalt der Deutschen seit ihrer Teilung war niemals so stark wie heute.Die Lebensbedingungen in der DDR haben sich ohne Zweifel verbessert. Mit Recht hat der Bundeskanzler darauf hingewiesen, welch hohe Aufbauleistung unsere deutschen Landsleute in der DDR vollbracht haben. Der Preis, den die Bevölkerung der DDR dafür zahlen muß, und zwar mit totaler Einsatzbereitschaft, ist hoch. Nach der Sprachregelung der DDR werden „Reserven mobilisiert". In der DDR geht wieder der Geist Adolf Henneckes
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12328 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Ludewigum. Kein Wunder, daß sich keine Begeisterung für dieses System breitmacht.Bei uns fordert nun die CDU immer wieder Sanktionen. Wo können Sanktionen sein? Insbesondere im wirtschaftlichen Bereich, im Warenaustausch, aber auch bei Zuwendungen für Autobahnbenutzung, für Autobahnbau, für die Benutzung der Wasserstraßen usw. Liebe Kollegen, wen sollen die Sanktionen denn treffen? Sanktionen sind kein wirksames Mittel. Sie treffen immer die Falschen, die Bevölkerung, deren Lebensverhältnisse wir verbessern wollen und die sich im Zuge der ständig steigenden Wirtschaftsbeziehungen, auch durch den innerdeutschen Handel, stark angehoben haben.An dieser Stelle noch ein Wort zu dem immer wieder erhobenen Vorwurf, unsere Zahlungen insgesamt seien zu hoch. Setzen wir den Gesamtbetrag aller unserer Zahlungen an die DDR doch einmal in Bezug zu unserem Bundeshaushalt. Wollen Sie das mal nachrechnen? Es sind 0,04 % des Bundeshaushalts.
Herr Kohl, Sie monieren, daß der Bundeskanzler über die Behandlung der deutsch-deutschen Frage hinaus noch viele weitere Bereiche der Politik und Lebensbereiche angesprochen hat. Ich fand das gut. Sie selbst sind ja auf fast alle Bereiche eingegangen. Ich tue das auch. Man kann z. B. überhaupt nicht genug wiederholen, daß die Bundesrepublik Deutschland schon länger besteht als die Weimarer Republik und das sogenannte tausendjährige Reich zusammengenommen.Es lohnt sich, darüber zu sprechen, wer sich auch der jüngsten deutschen Geschichte gestellt hat und wer nicht. Für mich war es der Durchbruch eines Gedankens, als das Kuratorium Unteilbares Deutschland 1967 in Berlin eine große Jahrestagung unter das Motto „Geschichtsbewußtsein in Deutschland" gestellt hat. Es war sehr beeindruckend, was damals schon zu diesem Thema gesagt wurde. Es ist eine Forderung, die gar nicht oft genug und laut genug wiederholt werden kann, daß wir ein verstärktes Geschichtsbewußtsein brauchen. Wir und insbesondere die Jugend kann die Zukunft nicht gestalten, wenn sie von der Vergangenheit nichts weiß.Der Beschluß der Kultusministerkonferenz zur Behandlung der deutschen Frage im Unterricht ist deshalb zu begrüßen. Das wurde hier auch getan. Es ist nur zu hoffen, daß die entstandene Lücke bald geschlossen wird und daß nicht nur Schüler, sondern auch Lehrer wieder lernen, sich mit der deutschen Geschichte zu beschäftigen. Das gleiche gilt nebenbei auch für Fragen der Sicherheit und Verteidigung, die auf der Kultusministerkonferenz ebenfalls behandelt worden sind, aber bei weitem noch nicht ausreichend in den Unterricht sämtlicher Schulen und Hochschulen eingegangen sind.Selbstzufriedenheit ist in weiten Bereichen wahrlich nicht am Platz, aber auch keine gegenseitigen Vorwürfe. Ich denke, hier haben Lernprozesse an allen Ecken und Enden eingesetzt, nicht zuletzt auch in allen Parteien.
Die Gewerkschaften werden zu Recht für ihre maßvolle Lohnpolitik gelobt. Niemand hat dem Bundeskanzler widersprochen. Wir sollten auch den Unternehmern für ihre Aufbauleistung und ihren Wagemut danken.Zu Recht hat der Bundeskanzler auf den verhältnismäßig großen Arbeitsfrieden in Deutschland hingewiesen. Ich würde es aber dem Begriff der Waffengleichheit zurechnen, wenn ich den Gewerkschaften das Streikrecht und den Unternehmern das Recht auf Aussperrung einräume.
Aber immer dort, wo von diesen beiden Gruppen gesprochen wird, einerseits von den Gewerkschaften und andererseits von den Unternehmern, werde ich nicht müde, Ihnen eine dritte Gruppe zu nennen, von der heute noch nicht die Rede war, und das ist der Mittelstand. Alles das, was hier lobend gesagt worden ist, trifft auch auf den Mittelstand zu, und zwar in nicht unerheblichem Ausmaß. Unser Sozialprodukt wird zu großen Teilen vom Mittelstand erwirtschaftet, die große Mehrheit der Arbeitnehmer arbeitet in mittelständischen Betrieben.
Daß unsere Umwelt längst nicht mehr kinderfreundlich ist und daß wir überhaupt ein Jahr des Kindes veranstalten müssen, zeigt eine Misere auf, die in unseren Häusern und in den Stadtvierteln anfängt.Jugendprobleme sind Erwachsenenprobleme — ein gutes und sehr wahres Wort. Wir können in den Kreis dieser Probleme auch getrost den Schulsport einbeziehen, der in vielen Grundschulen und in unserem ach so fortschrittlichen Land in fast allen Gewerbeschulen fast völlig ausfällt und der immer noch nicht die Mindestzahl von drei Wochenstunden erreicht hat, geschweige denn die von vielen für richtig gehaltene Stunde pro Tag.Alle — auch heute hier in der Debatte — distanzieren sich von den Neu- und Hochbauten in den deutschen Städten. Ich frage mich nur: Wer hat denn diese Städte gebaut? Wo sind wir denn alle gewesen? Ist es denn richtig, nun das zu verteufeln, was wir jahrelang als das Symbol des Fortschritts gesehen haben? Hat jemand Grund dazu, einzelne Menschen oder Parteien? Wir alle haben doch diese Städte abwechselnd regiert und die Baupläne genehmigt! Ich glaube, daß wir alle zusammen jetzt auch gelernt haben.Ich will eine Schlußbemerkung machen: Wir sprechen heute von den beiden deutschen Staaten, wir sprechen vom Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12329
Ludewig— Davon haben andere auch schon gesprochen, Herr Hennig, von zwei Staaten auf deutschem Boden. Auch ich füge das gern noch hinzu. — Die nächste Wahl in Deutschland ist zwar eine Europawahl, aber es besteht hier kein Gegensatz: Unser Eintreten für Europa bringt uns die Unterstützung unserer westlichen Nachbarvölker und ihr Verständnis für unser Anliegen. Unterstützung des Westens brauchen wir für die Wiedervereinigung ebenso wie die Toleranz unserer östlichen Nachbarn. Das eine geht nicht ohne das andere. Wir wissen, daß dies ein langwieriger Prozeß ist, ein langer Weg, den wir mit Beharrlichkeit gehen wollen, ja gehen müssen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Gruhl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da mir nur 15 Minuten zur Verfügung stehen, kann ich nur einige Punkte des Berichts zur Lage der Nation aufgreifen, vor allen Dingen die Zukunftsaspekte. Auf diese wollte der Herr Bundeskanzler am Schluß seiner Rede zwar eingehen, aber ich habe dann nur wenig darüber gehört.Die Zukunftsfragen werden nicht von den hier vertretenen Parteien aufgegriffen, dafür um so entschiedener von Bürgern dieses Landes. Diese haben sich in vielen Bürgerinitiativen zusammengefunden, weil sie die wichtigsten Probleme von den drei Parteien seit langem ausgeklammert sehen. Der Herr Bundeskanzler muß sehr wenig von den Beweggründen der Bürger wissen, wenn er ihnen vor wenigen Tagen den Vorwurf machte, daß sie nur kurzsichtige, egoistische Interessen verträten. Diese besorgten Bürger vertreten am allerwenigsten ihre eigenen Interessen, sondern die Interessen der künftigen Generationen, die der Ungeborenen. Dafür opfern viele ihre Zeit und auch Geld. Dies ist ein echtes soziales Engagement, denn eine Politik kann nur dann sozial genannt werden, wenn sie in die Solidarität auch die künftigen Generationen mit einbezieht.
— Aber davon weiß der Herr Bundeskanzler nichts, wohl auch deshalb, weil er noch nie in seiner Amtszeit Frauen und Männer der Bürgerinitiativen empfangen und gesprochen hat. Die Personen und Vertreter von Verbänden, mit denen er täglich spricht und verkehrt, vertreten in der Tat Interessen kurzfristiger Art, vor allen Dingen wirtschaftliche. Diese Art von Interessenvertretung hält der Bundeskanzler offensichtlich für legitim. Aber der Einsatz für Kinder und Enkel wird mißachtet oder auch heute noch nicht zur Kenntnis genommen. Diese Bürger müssen sich sogar Beschimpfungen gefallen lassen, während andere gesellschaftliche Gruppen in unserem Lande heute vom Bundeskanzler ausdrücklich gelobt worden sind.Die Mitbestimmung wurde heute von ihm als ein wertvoller Bestandteil unserer Gesellschaft hervorgehoben. Warum sollen Bürger nicht mitbestimmen, wo eine Straße, ein Flugplatz oder ein Atomkraftwerk gebaut werden soll?Die Bürgerinitiativen sind eine übergreifende gesellschaftliche Gruppe, die in allen Teilen des Volkes verwurzelt ist.
— Darin sind alle anderen Interessengruppen durch Personen vertreten. Im anderen Teil Deutschlands gibt es keine Bürgerinitiativen, weil es dort die Freiheit der öffentlichen Meinung nicht gibt.
Nur weil die Parteien auch hier die Zukunftsfragen vernachlässigt haben, ist diese Bewegung entstanden und zu einer — auch politischen — Macht geworden. Warum hat der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht den Bau der Wiederaufbereitungsanlage zurückgestellt? Aus politischen Gründen, wie er selbst sagt. Nachdem in Österreich und in der Schweiz eine knappe Mehrheit für bzw. gegen die Kernenergie zustande gekommen ist, würde eine Abstimmung in Deutschland zur Zeit mit großer Mehrheit zu einer Ablehnung führen — und dies nicht etwa auf Grund von Emotionen, wie oft behauptet wird, sondern infolge langjähriger Aufklärungsarbeit besorgter Bürger. Diese hatten Erfolg, obgleich Millionen Deutsche Mark sowohl von der Bundesregierung als auch von der Atomindustrie ausgegeben worden sind und unnötigerweise noch weiter ausgegeben werden sollen. Diese Bürger haben auch Erfolg, weil die Logik auf ihrer Seite steht.Alle drei Parteien und besonders der Bundeskanzler gingen bisher von der Prämisse aus, auf Kernenergie könne nicht verzichtet werden. Danach kamen dann diverse Erklärungen, daß man weitere Atomkraftwerke nur bauen würde, wenn die Sicherheit voll gewährleistet sei. Wenn man aber davon ausgeht, daß Atomenergie unabdingbar sei, wie ein. anderer dieser absoluten Ausdrücke lautet, so kann dies doch nur heißen, daß eben der Ausbau auch dann weitergehen müsse, wenn sich die Sicherheit als unvollkommen erweise.Ehrliche Wissenschaftler und Techniker haben schon immer gewußt, daß es in keiner Technik eine 100%ige Sicherheit gibt. Die Vertreter der Atomindustrie haben dies in der Vergangenheit aber nie zugeben wollen. Harrisburg hat nun ein drastisches Beispiel dafür geliefert, daß nicht nur Unfälle eintreten können, sondern gerade auch solche, an die man vorher nie gedacht hat.
— Eben. Man ist aber in den Berechnungen immer davon ausgegangen, daß bei den Planungen alle Möglichkeiten erfaßt worden seien, Herr Mertes. Nun stellt sich heraus, daß das nie der Fall sein kann und auch nie der Fall war.
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12330 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. Gruhl— Es geht um die Fachleute, um die sogenannten Experten. Eine Katastrophe, an der man dort gerade noch mit knapper Not vorbeigekommen ist, hätte zur Evakuierung eines großen Gebietes geführt. Man muß sich einmal vorstellen, .was dies in unserem kleinen und dicht besiedelten Land bedeutet hätte. Ganze Landstriche müßten auf unbestimmte Zeit geräumt werden. In den übrigen Landesteilen müßte die Bevölkerung zusammenrücken und Einschränkungen in einem Ausmaß hinnehmen, im Vergleich zu dem ein vorsorglicher sparsamer Umgang mit Energie eine Lappalie wäre.Der Herr Bundeskanzler hat davon gesprochen, daß der Fortschritt im menschlichen Rahmen erfolgen solle; aber die Kernenergie hat viele Aspekte der Unmenschlichkeit. Ein unmenschlicher Aspekt ist es, daß wir künftigen Generationen den atomaren Müll, also die Nachteile vererben wollen, während wir die Vorteile der Energie heute bei einem ständig höheren Verbrauch — und damit auch unter Verschwendung — für uns in Anspruch nehmen.Ein weiterer unmenschlicher Aspekt ist die weitere totale Industrialisierung unseres Landes. Denn wer soll die zusätzliche Energie verbrauchen wenn nicht neue riesige Fabriken, die ihrerseits unsere Umwelt wieder weiter großflächig zerstören?Der Bundeskanzler hat eindringlich davon gesprochen, daß das Leben in unserem Lande immer inhumaner wird und daß es keine Räume für die Kinder mehr gebe. Das ist so, weil ständig neue Fabriken, Straßen, Wohnsilos und vor allem Autos gebaut werden. Man nennt das dann zukunftsträchtige Investitionen. Aber gerade dabei wird das Land immer unmenschlicher.Die Wachstumstheorie sieht eine Verdoppelung der derzeitigen materiellen Quantitäten spätestens bis zum Jahr 2000 vor. Auf diesem Weg können die Straßen gar nicht „leerer" werden, wie der Bundeskanzler meinte. Ich bin in der Tat der Meinung, daß leerere Straßen menschenwürdiger wären, daß Kinder die Straßen dann wieder kreuzen könnten und daß es nicht 15 000 Tote jährlich geben müßte.
— Herr Mertes, warum ärgern Sie mich heute so? Sie sind doch sonst so nett.Aber weil die Politik aller drei Parteien vor allem eine weitere ständige Betonierung unseres Landes zum Ziel hat, glaubt ein großer Teil der Bevölkerung nicht mehr an die lebenswerte Zukunft. Besonders viele Frauen glauben wohl nicht mehr daran; sie möchten ihre Kinder nicht einem derart urigewissen Schicksal überlassen, und darum kam auch in der Debatte heute wieder die Verminderung der Bevölkerungszahl zur Sprache.Die Zukunft hängt angeblich davon ab, daß wir möglichst viele Kernkraftwerke bauen, und Herr Kohl verlangte heute wieder 16 000 Megawatt bis 1985. Wenn eine solche Frage zur „nationalen Schicksalsfrage" hochstilisiert wird, dann ist das die Art von Zukunft, an die viele nicht mehr glauben. Herr Kohl sollte einmal den niedersächsischen Minister Professor Pestel fragen, was dieser von den hochgerechneten Energieprognosen hält. Er ist vor einem Jahr in die CDU eingetreten, während ich austrat. Dort müßte wohl eine Auskunft zu bekommen sein.Es wird selbst dann zu keiner Energielücke kommen, wenn wir kein einziges Kernkraftwerk mehr bauen; denn nirgendwo ist überzeugend dargelegt worden, an welchen Stellen der deutschen Wirtschaft ständig mehr Energie eingesetzt werden könnte. Der Erdölmangel wird sich nicht durch Atomenergie beseitigen lassen, weil Elektrizität z. B. keine Autos antreibt. Schienenfahrzeuge könnte man allerdings mit ihr antreiben; aber das Strekkennetz der Deutschen Bundesbahn wird ständig weiter verkleinert.Der Bundeskanzler hat sich gegen die „allgemeine Verdammung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts" gewandt. Wir verdammen diesen Fortschritt nicht. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt muß künftig aber ganz neue Wege beschreiten: auf der Grundlage des sparsamen Umgangs mit Energie und Rohstoffen.
— Sie müssen mir eine Stunde Redezeit geben, dann sage ich Ihnen all das Konkrete.
— Ja, es ist eine Debatte zur Lage der Nation. Nicht ich habe die Kernenergie eingeführt, sondern die großen Herren Vorredner. Deshalb darf auch ich etwas darüber sagen.
Darum müssen neue Technologien' entwickelt werden, die auf eine Produktion langlebiger Güter und deren Wiederverwendung hinauslaufen. Ein weiteres Ziel dieser neuen Technologien muß die umweltschonende und dezentralisierte Produktion sein. Nur ein solches qualitatives Wachstum können wir als Fortschritt in menschlichen Bahnen ansehen.Die derzeitige quantitative Gigantomanie, die in der Politik aller hier vertretenen drei Parteien zum Ausdruck kommt,
hat ihren sichtbaren Höhepunkt in dem Atomprogramm. Darum kann man an diesem Programm so gut darstellen, was hier vor sich geht. Darüber sagt der als Richter tätige Helmut Ostermeyer, einer unserer Kandidaten für das Europäische Parlament:Das Industriesystem geht an seiner Überproduktion zugrunde. Die Kernkrafttechnologie ist der letzte verzweifelte Ausweg des systemimmanenten Wachstumszwangs. Sie ist die letzte Wachstums- und Exportbranche. Die Deutschen sind vom Großmachttraum umgestiegen auf den Nimbus der führenden Industrienation. Am Größenwahn hat sich dabei nichts geändert und auch nichts an der Gleichgültigkeit gegen den
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12331
Dr. GruhlUntergang. Mit dem Großmachttraum haben die Deutschen in zwei Weltkriegen die Hälfte ihres Landes verspielt.— Das war auch Gegenstand der heutigen Debatte. —Mit dem Industriewahn schicken sie sich an, dieverbliebene Hälfte unbewohnbar zu machen.Durch den Verkauf von Atomkraftwerken und Wiederaufbereitungsanlagen werden auch Atombombenproduktionen in vielen Ländern möglich,
so z. B. Brasilien. Die Unsicherheit in aller Welt erhöht sich, wie der amerikanische Präsident Carter längst erkannt hat. Wir müssen uns auch gegen die Eskalation der atomaren Waffen wenden, weil auch diese unsere Zukunft bedroht. Dies ist keine geeignete Entwicklungshilfe.
Der Bundeskanzler hat heute morgen mit Befriedigung festgestellt: Wir haben Freunde in der ganzen Welt gewonnen. Die Freundschaft mit unseren östlichen Nachbarn scheint aber, wie man fast täglich wieder hört, nicht sehr groß zu sein. Überhaupt ist dieser Punkt in dem Bericht zur Lage der Nation zu kurz gekommen. Ich habe aber nicht so viel Redezeit, daß es mir möglich wäre, darauf einzugehen.Ich glaube auch nicht, daß wir in den Entwicklungsländern neue Freunde gewonnen haben, wenn ich die Politik betrachte, die gerade der Bundeskanzler gegenüber diesen Ländern verfolgt. Das beweist die gegenwärtige fünfte UNCTAD-Konferenz in Manila. Obwohl die Bundesrepublik Deutschland eines der reichsten Länder der Erde ist, sieht sie sich zu einer Entwicklungshilfe von nur 0,3 % des Bruttosozialprodukts veranlaßt, also dem dreihundertsten Teil. Das bedeutet, daß auch von jeder Steigerung des Bruttosozialprodukts bisher nur ein Dreihundertstel für die Entwicklungshilfe abgezweigt wurde, während wir 299 Teile für uns beanspruchen. Damit begründet man dann auch noch die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Wachstums bei uns, um den betreffenden Völkern angeblich helfen zu können.Diese Politik wird zu neuen Spannungen führen, ja, in Zukunft vielleicht sogar verheerende Folgen haben. Denn das sind einmal die Partner, die wir immer brauchen werden, auch für unsere künftige Wirtschaft und Industrie, selbst dann, wenn sie nicht weiter steigert.Einen Fortschritt in menschlichen Bahnen wollen auch die Bürgerinitiativen, die ökologisch Denkenden in unserem Land. Das wollen wir auch in einer neuen politischen Partei. Wir stehen nicht rechts und nicht links, sondern vorn, dort, wo unweigerlich unsere Zukunft liegt, deren Probleme wir heute erkennen und anpacken müssen. Leider ist hier heute wieder viel Vergangenheitsbewältigung betrieben worden, ohne daß man auch darin einen Schritt weitergekommen ist. Wir müssen uns in viel stärkerem Maße mit der Zukunft befassen, und zwar längerfristig.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Czaja.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der französische Außenminister François-Poncet hat vor wenigen Tagen in der französischen Nationalversammlung den aktuellen Willen der Deutschen zur Wiedervereinigung als „nicht anomal" bezeichnet. Er forderte aber vor der Wiedervereinigung Deutschlands Sicherheiten — wie er sich ausdrückte — für die Gleichgewichtsgegebenheiten in Europa.Der Bundeskanzler dagegen hat im „France Soir" vor einiger Zeit die Wiedervereinigung in das dritte Jahrtausend gerückt und — was ich gar nicht sehr glücklich fand — im „Institut für internationale Beziehungen" der Polnischen Kommunistischen Arbeiterpartei in Warschau gesagt, daß man doch wegen ' der deutschen Wiedervereinigung keine Angst haben solle. Gegen das habe ich noch nichts zu sagen. Aber er klärte dann nicht mit Argumenten auf, warum man keine Angst haben solle, sondern er sagte, diese deutsche Wiedervereinigung sei auf unabsehbare Zeit nicht zu erfüllen. Dagegen habe ich Bedenken. Denn er entspricht nicht der Pflicht, in jeder politischen Situation die zentrale Frage der Deutschen, ihr freies Zusammenleben, wach zu erhalten und nach außen beharrlich zu vertreten. Das Umgekehrte ist die Pflicht eines Bundeskanzlers,
besonders in einer Zeit, von der Herr Bahr behauptet, die Deutschen hätten durch die Ostverträge mehr politischen Bewegungsraum als früher gewonnen. Wenn man angesichts des Schweigens zur Debatte in der westlichen Welt zur Wiedervereinigung warten will — was man vielleicht als konstruktiv betrachtet —, bis der Westen die Karten auf den Tisch legt, dann nimmt man sich und dann nimmt man dem Parlament die Möglichkeit, in dieser fundamentalen Frage abwägend mitzugestalten;
und wir sind ja eine parlamentarische Demokratie,auch in den Schicksalsfragen der deutschen Nation.Sollte aber die Absicht bestehen, so wie einmal mit der kommunistischen Partei Italiens, jetzt in Budapest oder in Warschau diese Dinge zu erörtern, so müssen wir bitten, daß man hier im Bundestag zumindest in den Grundzügen sagt, worüber und in welcher Richtung man dort verhandelt hat. Wenn man das nicht tut, dann müssen wir uns einer solchen Methode entgegenstellen, hinter dem Rücken der deutschen Öffentlichkeit über diese Fragen zu verhandeln.
— Ich komme gleich darauf zurück. — Gerade wenn wir mehr Bewegungsraum hätten, gilt es, zu den fundamentalen Fragen der deutschen Wiedervereinigung und der nationalen Frage gerade jetzt die lautere Wahrheit zu sagen.
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12332 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. Czaja— Ja, die lautere. Ich zitiere, Herr Friedrich, hier genau Adenauer.Die Westverträge stützten uns, als wir gefährdet und schwach waren. Auch wenn die SPD damals die Entscheidung bekämpfte, auch 1979, sollte die Entscheidung von 1952 nicht bestritten oder teilweise zurückgedreht werden. Im gefestigten Bewegungsraum der deutschen Außenpolitik sollten wir uns gerade jetzt deutlich zu einer Deutschlandpolitik im engsten Einvernehmen mit den westlichen Verbündeten bekennen. Der Bundeskanzler hat das 1976 in der Rede zur Lage der Nation getan. Heute fehlte diese Feststellung. Aber ich würde mich freuen, wenn wir in dieser Frage einig sind: Deutschlandpolitik im engsten Einvernehmen mit den westlichen Verbündeten.Deshalb, Herr Ehmke — und vielleicht können wir uns darüber ein bißchen unterhalten —, sollten wir uns zur vollen Rechtsverpflichtung des Deutschlandvertrages, ja, zur Renaissance des Deutschlandvertrages im Bewußtsein der Völker und unseres Volkes bekennen.
Denn zu Recht nennt Grewe den Deutschlandvertrag einen von Adenauers bleibenden geschichtlichen Erfolgen. Herr Ehmke — ich will Ihnen nicht nahetreten —, ich glaube, über uns alle, auch über Sie, wird man nicht mehr sprechen, doch über die bleibenden Leistungen von Konrad Adenauer — auch beim Deutschlandvertrag — wird man noch in zukünftigen Generationen sprechen.
Wenn es zutrifft, was Sie, Herr Ehmke, in der Haushaltsdebatte meinten — was ich gar nicht ganz bestreiten will —, daß nämlich der Vertrag von der Bevölkerung der verbündeten Staaten zu wenig ernst genommen werde, ist es — und ich wäre froh, wenn wir uns hier treffen würden — unser aller Aufgabe, das zu tun, was der Botschafter der USA im vorigen Jahr in einer Diskussion hier in Bonn öffentlich verlangt hat, nämlich uns gemeinsam mit den verbündeten Regierungen ununterbrochen um die Verankerung der Verpflichtungen des Deutschlandvertrages im Wissen und Wollen der verbündeten Völker und unseres Volkes zu bemühen,
uns zu bemühen, Herr Ehmke — und darauf kommt es jetzt entscheidend an —, um die Vertragstreue zu den fortbestehenden vertraglichen Verpflichtungen im Sinne eines schrittweisen, konstanten Strebens nach einem freien Zusammenleben der Deutschen, aber integriert in einer freien Gemeinschaft der Europäer und, wie es in Art. 7 Abs. 1 heißt — das wissen Sie ebensogut wie ich —, ohne endgültige Grenzregelung vor einem frei vereinbarten Friedensvertrag.Das ist sogar Vertragspflicht der Verbündeten, und deshalb, Herr Ehmke: Sicherlich gibt der Deutschlandvertrag keine Grenzgarantien für Deutschland als Ganzes, aber er gibt die Bestandsgarantie bis zu einem frei vereinbarten Friedensvertrag. Herr Ehmke, bis zu einem frei vereinbarten Friedensvertrag: Das können wir nach dem Grundgesetz — ohne dessen Änderung mit Zweidrittelmehrheit bzw. Änderung des ersten Satzes der Präambel, auf den Sie sich ja berufen haben, oder in Anwendung des Art. 146 — nicht ändern.Es gehört aber in den Bereich der Utopie, Herr Ehmke, wenn Sie meinen, wir könnten nicht an einem frei vereinbarten Friedensvertrag mitwirken. Das ist möglich, allerdings mit der nötigen Geschlossenheit des Volkes und unter Auswertung auch der internationalen, inzwischen Völkerrecht gewordenen Norm des Selbstbestimmungsrechts; ich erinnere nur an die Menschenrechtspakte. Auch an Art. 146 oder an eine Zweidrittelmehrheit zur Abänderung der Präambel wäre hier zu denken.
Meine Damen und Herren, in den Ostverträgen hat der Ostblock — und ich hoffe, Herr Ehmke, Sie werden nicht weitergehen — die Wirksamkeit des Deutschlandvertrages ausdrücklich anerkannt, und zwar in Art. IV des Warschauer, in Art. 4 des Moskauer und in Art. 9 des Grundlagenvertrages. Zu der konstanten Aktualität dieser Aufgabe, die Frage bis zu einem frei vereinbarten Friedensvertrag offenzuhalten und Ansatzpunkte für eine europäische Lösung anzudeuten, hörten wir von der Regierung wenig.Natürlich brauchen wir dazu auch Moskau, aber wir können mit Moskau — das ist meine tiefe Überzeugung — darüber nur auf dem gefestigten Fundament des freiheitlichen Bündnisses in Abstimmung mit den Verbündeten reden, sonst landen wir in der Unfreiheit. Dort landeten die anderen, die den Dialog aus der Position der Schwäche, der Isolation und des Anpassungswillens geführt haben, und diesen Dialog möchte ich so nicht führen.
Meine Damen und Herren, die Regierung schweigt zur aktuellen westlichen Wiedervereinigungsdiskussion. Da geht es nicht nur um konservative, bestellte Artikel. Ich nenne z. B. André Fontaine, FrançoisHenri Barbé — Pseudonym für einen hohen Beamten Frankreichs —, den Sozialisten Gaston-George Delor in „Le Monde", ich nenne Guilleme-Brulon im „Figaro", ich nenne den Gaullisten Sanguinetti; Übereinstimmung bei ihnen: Die Wiedervereinigung ist unausweichlich.
André Fontaine schreibt dazu: „Dabei schützt uns nur die europäische Integration vor deutschem Übergewicht." Henri Barbé: „Das Streben der Deutschen nach Neutralisierung wäre gefährlicher als ihr Drang zur nationalen Gemeinschaft."
Schon de Gaulle habe gesagt: „Einem gesunden Volk kann man eben das Rückgrat nicht brechen." Der Sozialist Gaston-George Delor — erschrecken Sie nicht; ich zitiere ihn nur — spricht sogar von
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12333
Dr. Czajaeiner Wiedervereinigung in den Weimarer Grenzen. O'Brian im „Observer" und mehrere amerikanische Zeitungen verlangen, daß sich der Westen jetzt positiv und entschieden zur Wiedervereinigungsfrage stellt.Wenn andererseits die obersten Spitzen der Machtgruppen in der Sowjetunion in einem der seltenen gemeinsamen Kommuniques Anfang Mai vorigen Jahres die „neue Bonner Atmosphäre" vor einem Jahr lobten, wenn Breschnew in Minsk und Prag die Bundesrepublik als „stabilisierenden Faktor in Europa" lobte und — wie weiland 1926 — von einer „neuen Qualität der Beziehungen" sprach, allerdings auch die Vertretung seiner militärischen Ziele durch uns in der NATO forderte, hat dann eigentlich der Bundeskanzler folgendes unterstrichen: Die „neue Qualität der Beziehungen" beginnt mit mehr, wenigstens mit etwas mehr Menschenrechten und mehr Selbstbestimmung der Nationen? Das wäre die „neue Qualität der Beziehungen".
Von der Bundesregierung hörten wir aber kaum etwas zum Ausgangspunkt europäischer Lösungen und zum Gebot des Grundgesetzes, die nationale und staatliche Einheit Deutschlands zu wahren — erster Satz, Sie haben das aufgegriffen — und es wiederzuvereinigen — letzter Satz der Präambel.
— Aber es geht aus von der Wahrung der nationalen und staatlichen Einheit. So beginnt es — das unterliegt überhaupt keinem Zweifel —, und es endet mit dem Gebot, diese Einheit zu vollenden. Das ist — entschuldigen Sie, Herr Rechtslehrer — nach der verbindlichen Aussage des Bundesverfassungsgerichts auch in den Leitsätzen das Wiedervereinigungsgebot, und ich habe es mir gestattet, diese Vokabel hier zu benutzen.Herr Ehmke — ich sage das jetzt nicht böse, sondern ich bitte Sie, das wirklich zu durchdenken —, was würden Männer wie Schumacher, wie Wels, wie Breitscheid, wie Goerdeler oder Generaloberst Beck zu Ihrer Aussage in der Haushaltsdebatte: „Deutschland, ein juristisches Schattenreich" und zu Ihrer Forderung heute sagen,
einer Forderung, die ziemlich deutlich war, völkerrechtlich das nachzuholen, zumindest bezüglich der Gebiete östlich von Oder und Neiße, was nach allgemeiner, selbst nach polnischer Auffassung in den Ostverträgen noch nicht endgültig verankert ist?
Schauen Sie, es ist nicht Restauration, was ich hier angesprochen habe. Das waren Männer — es waren zum Teil auch unsere politischen Gegner —,
die für ein freiheitlich-demokratisches, aber ganzes Deutschland in Folter und Tod gegangen sind. Sie haben sich dazu in äußerster Isolation, in äußerster Bedrückung bekannt. Können wir, die Generation in einer Wohlstandsgesellschaft, das nur als „Restauration" bezeichnen? Sie haben sich das — in den Reden von Goerdeler und Beck kann man das ja nachlesen — nicht in Formen der Restauration, sondern in Formen zeitgemäßer Strukturen vorgestellt, die nach den Gesetzen des Lebens und nach freier Selbstbestimmung in eine europäische Gemeinsamkeit führen. Was würden diese Leute sagen, wenn sie in einem Buch über den Eurokommunismus läsen, daß man dort vom Zusammenschluß der gesamten Arbeiterbewegung auch mit marxistisch-leninistisch geführten, nein, unterdrückten Organisationen schwärmt?Hier müßte allerdings auch gesagt werden, worüber man nun in Budapest und in Warschau debattiert hat, worüber, wie es in der amtlichen polnischen Presse heißt, „gemeinsame Empfehlungen" ausgearbeitet worden sind.Deshalb müssen einige Fragen nach der Beachtung des Gebots gestellt werden, die Rechte Deutschlands bis zu einem Friedensvertrag nicht zu mindern. Wie wird man sich, so frage ich, zu den permanenten polnischen Forderungen zur Ausdehnung der Tragweite des Warschauer Vertrages stellen? Die Volksrepublik Polen weiß — das zeigen ihre Bemühungen —, daß die Gebiete östlich von Oder und Neiße, wie es das Bundesverfassungsgericht wörtlich sagt, aus der Zugehörigkeit zu Deutschland in den Ostverträgen nicht endgültig entlassen und nach gemeinsamem Vertragswillen — ich erinnere an Art. IV — fremder Souveränität noch nicht unterstellt sind. Der Unterschied zwischen nicht erfolgter Anerkennung der territorialen Souveränität in den Ostverträgen — das ist wichtig für Sie — und der faktischen Gebietshoheit wird öffentlich verwischt. Warum sagt man nicht auch nach außen — wie bei den Vertragsverhandlungen, wie in Karlsruhe, wie auch hier in verborgenen Fragestunden —, daß Art. IV des Warschauer Vertrages zusammen mit dem Friedensvertragsvorbehalt der Alliierten, der sich bekannterweise auf den Fortbestand des Londoner Abkommens von 1944 und der Berliner Erklärung von 1945 beruft und der — auch das muß man sehen; ich wußte das gar nicht; das hat hier die Frau Staatsminister Hamm-Brücher unlängst gesagt — vorher in allen Einzelheiten mit Polen abgesprochen und von Polen akzeptiert worden ist und mit den deutschen Vertragserklärungen in allen die Souveränität betreffenden Fragen den Vorrang hat, auch den Vorrang vor Art. I, und damit die ganze deutsche Frage offenhält?
— Zu denen komme ich gleich. Es fehlt aber — und genau das steht hier in meinem Manuskript — vor allem die konstruktive politische Aussage. Da muß ich auch einige Fragen stellen. Gilt noch das Wort des gewesenen Außenministers Brandt vom 2. Juli 1967, wiederholt und ausdrücklich bestätigt in der Unionsfraktion im Frühjahr 1969, also bereits nachDr. Czajaitalienischen Gesprächen glaube ich —, daß in den Gebieten östlich von Oder und Neiße nicht alles so bleiben könne, wie es der Zweite Weltkrieg hinterlassen habe? Grenzen — ich zitiere hier — seien einzuebnen und neue Formen der Zusammenarbeit auf der Grundlage sowohl der Menschenrechte als eines europäischen Volksgruppenrechts zu realisieren. Vor wenigen Wochen hat hier Herr Brandt noch einmal an diese Volksgruppenrechte erinnert, allerdings im Zusammenhang mit seinem Besuch in Jugoslawien. — Noch ein Satz, Herr Ehmke! Jetzt muß ich fragen — ich bitte, das nicht mit Erregung zu überdecken —: Herr Wehner, haben Sie in Warschau die Aussage, die Sie am 28. August 1966 im Deutschlandfunk gemacht und nachher immer wiederholt haben, wenigstens angesprochen, daß es auf allen Ebenen gelte, ein europäisches Volksgruppenrecht in Angriff zu nehmen, weil die Utopie von heute die Wirklichkeit von morgen sei? Sie haben ja immer gesagt: Wir haben das in das Godesberger Programm hereingebracht. Haben Sie dies auch den Zweiflern — ich sage das bewußt —, den Zweiflern im Auswärtigen Amt immer wieder so in Erinnerung gerufen, und haben Sie das auch dem polnischen Gesprächspartner gesagt?Hat man — auch das darf ich doch fragen, und Sie, Herr Ehmke, haben sich Gott sei Dank dazu bekannt — die eine deutsche Staatsangehörigkeit in Warschau verteidigt, mindestens so wie der frühere Labour-Premierminister Callaghan nach Zusage an den Bundesaußenminister und Herrn Carstens hier vor Jahren bei einem Besuch als Außenminister, indem er sich in einer Note im Zusammenhang mit dem Konsularvertrag mit der DDR 1976 ausdrücklich — ausdrücklich, Herr Ehmke — zur Wahrung der einen deutschen Staatsangehörigkeit unter Berufung auf Art. 116 des Grundgesetzes seitens Großbritanniens bekannt hat? Diese Note, die hier lange verborgen war, ist in englischer Sprache sinnvollerweise im Hansard am 17. Juni 1976 veröffentlicht worden.Meine Damen und Herren, jetzt komme ich zu einem anderen Problem. Seit Jahren — etwa seit 1971 — werden die Vertriebenen und die Ostdeutschen im Bericht zur Lage der Nation nicht mehr angesprochen. Auch hier muß ich sagen: Hätten wir eine intakte Regierung eines intakten Volkes, so könnte es nicht passieren, daß man in diesen Fragen den schwächsten Teil der Nation nicht anspricht. Ich will dazu nicht das Wort „erbärmlich" benutzen, ich will nur die Frage stellen. Bekennt sich die Bundesregierung, haben sich die Sonderdelegationen zum Erhalten und Entfalten der geschichtlichen Erfahrungen der Ostdeutschen bekannt, die das Fühlen, Denken und Wollen unserer östlichen Nachbarn kennen? Ein echter Ausgleich ohne sie ist doch kaum möglich! Wird man mit dem, so meine ich, verfassungswidrigen Spiel weitermachen und in amtlichen Informationen, Karten und Atlanten die Grenzen des bis zu einem Friedensvertrag fortbestehenden Deutschlands und die deutschen Ortsnamen vor der Jugend verbergen?
Die Bereinigung gegensätzlicher Geschichtsdarstellung — Herr Friedrich, jawohl! — erfordert langwierige Arbeit, Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit.Ich habe diese Arbeiten schon in den Jahren 1936 bis 1938 gekannt, wo tapfere polnische Professoren sich nicht dem Druck damals nationalsozialistisch gelenkter Professoren in einer solchen Form gebeugt haben, wie es der Bundeskanzler auf einer öffentlichen Tagung bezüglich der Historiker von deutscher Seite oder einiger Soziologen neuerdings kennzeichnen mußte. Ja, Bereinigung in Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, aber nicht Zwang zu oberflächlichen, fruchtbare geschichtliche Begegnungen verbergenden Einseitigkeiten — ich erinnere nur an das 14. und 15. Jahrhundert und an die sächsischen Könige — und auch nicht Zwang zu verschleierten marxistisch-leninistischen Geschichtsthesen und auch nicht Zwang zu verfassungswidrigen Aussagen über die Gegenwart in umstrittenen Schulbuchempfehlungen!Wird man die schöpferischen, künstlerischen, geistigen und wissenschaftlichen Kräfte Ostdeutscher und all jener, die sich damit befassen, besser fördern oder wird man die ostdeutsche Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart nur den Westinstituten kommunistischer Prägung drüben überlassen? Wie steht es mit der Darstellung von Kultur und Geschichte von Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Nieder- und Oberschlesien und der Sudetendeutschen in der auswärtigen Kulturpolitik?Der Bundeskanzler hat heute gesagt, wir sollten uns den Blick nach dem Osten öffnen. Wo hat die Bundesrepublik, hat die Bundesregierung das Johann-Gottfried-Herder-Jahr international so angesprochen,
wie es—das muß ich leider sagen, weil wir es nicht taten — die DDR getan hat? Was tut man eigentlich mit den Sprach- und Sachkenntnissen der Aussiedler, die zu uns kommen? Jugendaustausch ja, aber nicht als Einbahnstraße. Sollen mit öffentlichen Geldern kommunistische Zwangsjugendorganisationen des Ostblocks in unserem freien Land gemeinsame Resolutionen für den Austritt aus der NATO und für die Beseitigung der Vertriebenenverbände propagieren, so daß die Junge Union aus dem ersten Forum ausziehen mußte? Sollen kommunale Rahmenvereinbarungen nur die sogenannten Prinzipien des Warschauer Vertrages in polnischer Auslegung an der Basis verbreiten und den noch verfassungskonformen Wortlaut des Vertrades von hochpolitischer Natur mit den begleitenden Dokumenten verdrängen und freie Verbände an der Aussage zum Offensein der ganzen deutschen Frage hindern?Wie steht es um die Erfüllung der Zusagen im Bundesrat zur Durchsetzung der Individual- und Gruppenrechte der Deutschen unter fremder Herrschaft? Dies hat doch die Bundesregierung zugesagt. Wird man Polens Rechtsverpflichtung aus den Artikeln 25 bis 27 — Herr Ehmke, Sie sprachen die Menschenrechte an — des Politischen Menschenrechtspaktes der Vereinten Nationen zur Sicherung
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Dr. Czajader kulturellen Eigenart der Deutschen ebenso einfordern wie die Regel der zeitlich und zahlenmäßig unbeschränkten Ausreisefreiheit nach Artikel 12 des Menschenrechtspaktes?Wird man den angekündigten Druckversuchen gegen das Offenhalten der Ausreise Deutscher nach dem Vierjahreskontingent eben die klare Erklärung, die man uns früher einmal in Aussicht stellte, entgegensetzen, daß ein solches Beseitigen der Offenhaltungsklausel an die gesamten Vertragsgrundlagen rührt und zusätzliche finanzielle Hilfen und Bürgschaften unmöglich machen würde?Meine Damen und Herren, wir waren und sind für einen gerechten und tragbaren Ausgleich mit Polen. Trotz des französischen Hinweises auf den Rückgang der deutschen Bevölkerung bleibt die Begegnungsaufgabe in einer freiheitlichen und föderalen Ordnung der europäischen Staaten, Völker und Volksgruppen bestehen. Auch in umstrittenen Gebieten könnten sich — dazu haben Sie sich früher bekannt — in der Vielfalt föderaler Strukturen Grundlagen für eine konstruktive Zusammenarbeit und eine schrittweise Überwindung der Gegensätze von gestern ergeben.Ausgangspunkt bleibt die Rechtslage Deutschlands, ebenso — dazu bekenne ich mich auch — die freie Existenz und die Würde unserer Nachbarvölker..
Meine Damen und Herren, zur Friedens- und Sicherheitspartnerschaft, auf die sich der Herr Bundeskanzler vorher gegenüber diesen Völkern berufen hat, füge ich die Partnerschaft in der Menschenrechtsfrage und die Partnerschaft in der freien Selbstbestimmung mit diesen Völkern hinzu. Diese Völker aber sollten nicht auf die dauernde Teilung eines noch intakten Volkes setzen, sondern auf einen Ausgleich in freier Selbstbestimmung — auch in freier Selbstbestimmung unseres Volkes und der Nachbarn —, in Sicherheit gegen Hegemonie und Haß. Darauf sollten sie setzen. Bei einer Festigung des freiheitlichen Bündnisses und bei der in Fluß geratenen Weltpolitik ist es nicht ausgeschlossen, die Sowjetunion schrittweise davon zu überzeugen, daß mehr Menschenrechte und mehr nationale Rechte für die Völker an ihrer europäischen Flanke, bei Gewährleistung der Stabilität der Staaten in rechtmäßigen Grenzen geeignet sind, ja sehr geeignet sind, die wirklich tiefen Ursachen des Mißtrauens an der europäischen Flanke der Sowjetunion zu mindern, wenn nicht zu beseitigen.Es wurde heute schon hervorgehoben: Zwischen der Wahrung berechtigter Interessen der Deutschen und der politischen Einigung der europäischen Völker in Freiheit, unter Wahrung der nationalen Eigenart, besteht gar kein Gegensatz. Was — damit lassen Sie mich schließen — die europäischen Völker aber brauchen, das ist die Hoffnung auf die freie Heimat im freien Europa für alle Völker und Volksgruppen. Dieses Bekenntnis für uns und für die unfreien Völker in die Debatte zur Lage der Nation einzuführen, war mir Anliegen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hofmann .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die Debatte nach soviel Stunden zusammenraffen soll, kommt man erstens zu dem Ergebnis, daß die Opposition nicht zur Kenntnis nehmen will, was im deutschlandpolitischen Bereich erreicht, welcher Erfolg erzielt wurde. Zweitens kommt man zu dem Ergebnis, daß die Opposition heute so redet, als sei sie nie in der Regierungsverantwortung gewesen.Zu dem ersten Punkt: Erfolge in der Deutschlandpolitik wollen Sie nicht sehen,
weil Sie damit vergleichen müßten, was Sie uns an deutschlandpolitischer Hypothek hinterlassen haben.
Sie haben nicht den Vergleich angestellt — Sie haben das Thema wohl angesprochen —, wieviel Telefonleitungen es damals zwischen der Bundesrepublik und der DDR gegeben hat. Sie haben nicht gesagt, daß wir eine telefonlose Zeit zwischen Berlin und der DDR hatten, daß es stundenlange Wartezeiten an den Übergängen zur DDR gab. Sie müssen endlich sagen: Wollen Sie zurück hinter das Viermächteabkommen, hinter das Transitabkommen, hinter den Verkehrsvertrag? Wollen Sie wieder zurück zu den geringen Besuchszahlen, die innerhalb Ihrer Regierungszeit beobachtet wurden?
Sie nehmen nichts zur Kenntnis.Es ist heute kritisiert worden, daß sich der Kanzler nicht zu dem Thema der Einheit Deutschlands geäußert habe. Der Kanzler hat am 26. April hier betont, Ziel seiner Politik sei es, auf einen Zustand in Europa hinzuwirken, der die Einheit Deutschlands möglich mache.Sie nehmen es nicht zur Kenntnis, machen uns aber den Vorwurf, daß wir diese Problematik überhörten. — Nein, S i e überhören diese Themen.Zum zweiten Punkt: Sie reden, als seien Sie nie in der Regierungsverantwortung gewesen. 30 Jahre Bundesrepublik sollten uns einmal die Möglichkeit geben, nachzuschauen, welche Modelle oder Vorstellungen die CDU/CSU zur Deutschlandpolitik hat. Es begann damals schon mit der Politik der Stärke. Adenauer sagte am 6. März 1952:Erst wenn der Westen stark ist, ergibt sich ein wirklicher Ausgangspunkt für friedliche Verhandlungen mit dem Ziel, nicht nur die Sowjetzone, sondern das ganze versklavte Europa östlich des Eisernen Vorhangs zu befreien.Es ist vorhin von den jungen Menschen gesprochen worden, sehr viel sogar. Ich frage mich, ob Sie
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Hofmann
mit dieser Politik heute noch junge Menschen begeistern könnten.
— Das Zitat ist entnommen aus dem Bulletin Nr. 27 vom 6. März 1952.
— Ja, natürlich. Ich sagte doch, ich will einmal Ihre deutschlandpolitischen Modelle und Vorstellungen Revue passieren lassen.
— Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen uns von Ihnen viel anhören. Sie hören sich 'nun einmal das an, was Sie innerhalb dieser 30 Jahre von sich gegeben haben.Da heißt es dann in der „Newsweek" vom 30. August 1954 — da kommt der große Wendeschlag —:Vergessen Sie bitte nicht, daß ich der einzige deutsche Kanzler bin, der die Einheit Europas der Einheit seines eigenen Vaterlandes vorzieht.Wenn das ein Sozialdemokrat gesagt hätte, dann wäre gekommen: Verrat, Verfassungsbruch usw. usw.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, Herr Präsident, ich will meine zehn Minuten — —
— Ich komme noch deutlicher zu diesen Punkten, die Sie anscheinend sehr erregen.Hatten Sie denn ein deutschlandpolitisches Konzept? Ihr damaliger Minister, Herr Krone, hat zu den Aufgaben der Deutschland- und Ostpolitik am 5. April 1955 ausgeführt:In der hohen Politik läuft es auf eine Viererkonferenz hinaus. Man drängt auf Koexistenz, Koexistenz auf der Basis des geteilten Deutschlands. Haben wir eine Konzeption der Wiedervereinigung? Ich wüßte nicht.
— Ich weiß, Sie wollen mich stören, Sie wollen mich hindern. Hören Sie es sich ruhig an. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Wir kommen noch zu dem Ergebnis.
Wir kommen zum Bau der Mauer 1961.
Wenn heute, so vertragsbrüchig dies ist, ein deutscher Journalist von der DDR ausgewiesen wird, verlangen Sie Sanktionen. Ich frage Sie: Was hat denn Adenauer damals getan, was haben Sie damals als Regierungspartei beim Bau der Mauer an Sanktionen eingesetzt?
Es hieß damals:Der Bundeskanzler versicherte, daß er alles vom Botschafter Vorgetragene sorgfältig prüfen wird, und wies seinerseits darauf hin, daß die Bundesregierung keine Schritte unternimmt, welche die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR erschweren und die internationale Lage verschlechtern.Das war beim Besuch des Botschafters Smirnow.Heute verlangen Sie etwas ganz anderes bei wesentlich geringeren Vorkommnissen, die ich verurteile und ablehne.
1965 kommt Herr Gerhard Schröder auf dem Parteitag zu folgender Erkenntnis:Im Zeichen des Kalten Krieges war die Wiedervereinigungspolitik eingebettet in das umfassende Anliegen der freien Welt, die Einflußsphäre des Kommunismus in Europa zurückzudrängen. Heute hat sich in der Welt das beherrschende und allgemeine Interesse der Friedenserhaltung vor das Teilinteresse der Wiedervereinigung Deutschlands geschoben.Sehen Sie, bei Ihnen ist das abgedrängt worden. Der Begriff war nicht mehr das Wichtige.Strauß wird 1966 deutlicher in seinem Buch „Entwurf für Europa" :Ich will es mit schonungsloser Offenheit aussprechen: Ich glaube nicht an die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates, auch nicht innerhalb der Grenzen der vier Besatzungszonen. Ich kann mir unter den gegebenen und vorausschaubaren Umständen und den möglichen Entwicklungen und Entwicklungslinien nicht vorstellen, daß ein gesamtdeutscher Nationalstaat wieder entsteht.Noch deutlicher wird Strauß 1968 in seinem Buch „Herausforderung und Antwort — Ein Programm für Europa" :Wen wir so weitermachen wie bisher mit schönklingenden Deutschlanderklärungen und Wiedervereinigungsmodellen, gegebenenfalls auch alle paar Jahre eine Konferenz über die deutsche Frage, dann ist jede Mühe umsonst. Wir
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müssen die immer noch zu unser aller Schaden herumgeisternden, falsch verstandenen deutschnationalen Leitbilder von vorgestern zum alten Eisen werfen.Auch Herr Kiesinger hatte diese Erkenntnis und formulierte das in einer Rede zum 17. Juni 1967 so:Dies ist der Kern unserer Wiedervereinigungspolitik, dies ist darum auch das Kernstück unserer Auseinandersetzung mit den Verantwortlichen im anderen Teil Deutschlands, aber auch mit allen, die jene Verantwortlichen stützen oder lenken. Das ist keine Anmaßung, wie man uns vorwirft, das ist unsere Gewissenspflicht.Wenn dem so ist, wenn die politischen Positionen sich so hart gegenüberstehen, so müssen wir uns ehrlich fragen,— bitte, hören Sie zu —ob Bemühungen um eine friedliche Lösung überhaupt einen Sinn haben, ob wir nicht, statt trügerische Hoffnungen zu wecken, warten müssen, bis der Geschichte etwas Rettendes einfällt, und uns bis dahin darauf beschränken, das zu bewahren, was uns geblieben ist: unsere eigene Freiheit ...Bei dem Warten ist es, glaube ich, auch geblieben, selbst später bei den Verträgen: so nicht, jetzt nicht liegenlassen! Es ist beim Warten in der Deutschlandpolitik, in der Ostpolitik geblieben.Kommen wir in die jüngere Zeit. 1975 vor dem Deutschlandpolitischen Kongreß in Ingolstadt führte Strauß aus: „Die Wiederbelebung eines deutschen Nationalstaates im Herzen Europas kommt für uns nicht in Betracht. Wir stehen nicht für die Wiederbelebung einer europäischen Staatengewalt mit einem Deutschen Reich in der Mitte."
Der CSU-Abgeordnete Aigner rief bei derselben Gelegenheit aus: „Das nationalstaatliche Erlebnis ist auf die Ebene eines geschichtlichen Elements herabgesunken." Meine Damen und Herren, wenn das einer von der SPD gesagt hätte, den hätten Sie zerrissen, wie es .nur möglich gewesen wäre. Der Abgeordnete Marx führte damals dazu aus: „Für die CDU ist Europa und der Westen das erste Wort der deutschen Politik, unser oberstes Interesse ist es, Europa zu bauen." Wiedervereinigung ist nicht mehr vorrangig gewesen.
Herr Strauß führte dann weiter in dem deutschlandpolitischen Grundsatzprogramm der CSU aus: „Der Schlüssel zur staatlichen Wiedervereinigung liegt daher weder in Moskau noch in Washington noch in Paris; man hat ihn in stillschweigender Übereinkunft verschwinden lassen."Das ist das Ergebnis Ihrer Deutschlandpolitik in 30 Jahren. Sie erregen sich, wenn Sie mit Ihren eigenen Worten getroffen werden. Aber Sie sollten sich etwas zu eigen machen, was einer der Ihren zu dem Thema gesagt hat: „Wir haben nur eine echte Alternative, diese echte Alternative heißt: das Mögliche oder nichts." Sie haben bisher immer gefordert: alles oder nichts und sind beim Nichts in der Deutschlandpolitik geblieben.
Wir sollten es uns nicht leicht machen, das Mögliche zu erkennen, das Mögliche auszuschöpfen. Wir sollten aber auch an dieser Grenze stehenbleiben, weil wir darüber hinaus unwillkürlich lächerlich wirken. Das tun Sie. Sie werden uns nicht davon abhalten, für Deutschland eine Politik zu betreiben, die den Deutschen in beiden Teilen zugute kommt.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Huyn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dies soll die Debatte zur Lage der Nation im gespaltenen Deutschland sein. Was wir als Bericht des Herrn Bundeskanzlers hier gehört haben, war nahezu eine Umfunktionierung dessen, was wir eigentlich hier kraft seines Amtes zu erwarten haben. Der Bericht soll zu Beginn des Jahres gegeben werden. Er ist in die Nähe des Tages gerückt, den einige in diesem Hause nur allzu gern an die Stelle des nationalen Gedenktages, nämlich des 17. Juni, gerückt sehen. Der Bundeskanzler hat im größten Teil seines Berichtes nur über die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland gesprochen. Er hat gesagt, daß 30 Jahre Bundesrepublik — so wörtlich — „der beste Teil der deutschen Geschichte" sei. Ich meine, man kann sagen, daß die Bundesrepublik Deutschland ganz sicher der beste Staat in der deutschen Geschichte ist. Aber man kann nicht verschweigen, daß es schon deswegen nicht der beste Teil der deutschen Geschichte sein kann, weil Deutschland geteilt ist. Der Bundeskanzler hat wiederum von der DDR als deutschem Staat gesprochen. Ich möchte daran erinnern, daß in der Anhörung, die wir im Rahmen des Innerdeutschen Ausschusses vor einigen Monaten in diesem Hause hatten, sich die Wissenschaftler darüber einig waren, daß man über den Status Mitteldeutschlands am besten sagen könne, es sei ein sowjetisches Protektorat. In der Tat. Wenn hier von Herrn Ehmke apostrophiert worden ist, ob es denn nicht — dies habe man in den 50er Jahren gesagt — um die Befreiung besetzter Gebiete gehe: Herr Ehmke, ist es denn nicht so, daß es den Menschen dort um die Freiheit geht? Gibt es denn irgend jemanden, der drüben gefragt worden wäre, ob er dort eine sowjetische Besatzungsmacht haben will? Es ist doch eine Besetzung wider den Willen der Menschen, wider den Willen der Menschen dort in Mitteldeutschland und wider den Willen der Menschen in ganz Deutschland.
Tatsächlich ist es so, daß es im wesentlichen um die Freiheit der Menschen dort geht. Auch das haben wir beim Herrn • Bundeskanzler vermißt, der
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Graf Huyndem Frieden die erste Priorität eingeräumt, aber die Freiheit völlig vergessen hat. Wir haben im Bericht zur Lage der Nation auch ein Wort dazu vermißt, daß es hier um alle Deutschen geht — um alle Deutschen! Das heißt natürlich auch: um die Deutschen, die östlich von Oder und Neiße leben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir hätten auch gern ein Wort über die Menschen gehört, die unter der Unfreiheit drüben ganz besonders leiden müssen, über die, die widerrechtlich in Gefängnissen und in Zuchthäusern sitzen, z. B. — um einen Namen zu nennen — ein Wort zu Nico Hübner.
Der Herr Bundeskanzler hat weiter wörtlich erklärt, es komme auf die verläßliche Friedlichkeit der Partner auf der anderen Seite an, darauf, daß man auf diese vertrauen könne. Es ist mir wirklich unverständlich, wie man so etwas in einem Moment sagen kann, in dem doch alles Vertrauen durch eine Salamitaktik hinsichtlich der Beschränkung der Freiheit, durch eine offensive Politik der Sowjetunion in allen Teilen der Welt und durch Vertragsbrüche zerstört worden ist, wie sie von Ost-Berlin begangen worden sind.
Die Abgrenzungspolitik Ost-Berlins, die Perfektionierung des Todesstreifens, die verschärften Devisenbestimmungen, der Maulkorberlaß für Journalisten, die Knebelung geistig Schaffender, die Ausweisung von Journalisten — van Loyen ist nach Mettke und Lothar Loewe nun schon der dritte — müßten Bundeskanzler und Bundesregierung eigentlich dazu bringen, zuzugeben, daß ihre Deutschland- und Ostpolitik gescheitert ist.
Aber offenbar hat die Bundesregierung, Herr Minister Franke, nicht einmal den Mut, dieses Zugeständnis zu machen. Offenbar hat jener hohe SED-Funktionär recht, der vor kurzem in Gegenwart von Erich Honecker und Paul Verner erklärt hat: Die müssen stillhalten, weil sie fürchten, es komme zur Bankrotterklärung ihrer Ostpolitik.
— Nein, Herr Ehmke, aber fragen Sie einmal einige Herren, die das besser wissen. — Es ist doch höchste Zeit für die Bundesregierung, gegenüber Ost-Berlin zu handeln, statt mit hohlen Phrasen zu protestieren, die von niemandem — am wenigsten von Ost-Berlin — ernst genommen werden.Sie haben den kommunistischen Machthabern in Ost-Berlin gegeben, was sie wollten: staatliche Anerkennung, internationale Aufwertung, Aufnahme in die Vereinten Nationen und darüber hinaus noch Gelder und Kredite. Sie haben mit Ihrer Politik einseitiger Leistungen und Vorleistungen viele der Hebel aus der Hand gegeben, mit denen man vielleicht etwas für die Menschen im geteilten Deutschland hätte erreichen können.
— Sie sicher nicht.
Sie haben ein goldenes Füllhorn von Unterstützungen und Subventionen,
von Krediten und Zahlungen nicht über die Menschen, sondern über den Unterdrücker der Menschen, über die Machthaber in Ost-Berlin ausgegossen. Es ist geradezu naiv, wenn Sie sich heute die Augen reiben und die Wahrheit nicht hören wollen, wenn Sie heute protestieren und sich wundern, daß alle diese Leistungen und Zahlungen nicht, wie Herr Brandt sagte, der Humanisierung der Lebenswirklichkeit der Deutschen, sondern der Aufrüstung des Warschauer Paktes und der Zementierung der kommunistischen Unterdrückung in Mitteldeutschland dienen.
Ich wiederhole heute: Obwohl diese Bundesregierung und die sie tragende Koalition die wichtigsten Hebel aus der Hand gegeben hat, heißt die Alternative für ihre verfehlte Politik nach wie vor Reziprozität, Gegenseitigkeit. Meine Damen und Herren, natürlich werden wir nicht fordern, im Gegenzug zur Ausweisung Peter van Loyens etwa einen der Ost-Berliner Korrespondenten nach Hause zu schicken, wie das aus Ihren Reihen zunächst einmal geschehen ist. Es gibt aber sehr wohl Möglichkeiten, auf die Vertragsbrüche Ost-Berlins zu antworten.
— Sie werden jetzt einige Beispiele hören. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sie sich notieren würden, Herr Franke. Ich verlange nicht — und niemand von meinen politischen Freunden tut dies —, daß Sie all diese Möglichkeiten nun etwa auf dem offenen Markte diskutieren. Wir verlangen auch nicht, daß Sie sie alle anwenden. Wohl aber erwarten wir, daß Sie sie wenigstens einmal im Rahmen Ihrer Kabinettsberatungen überdenken und gegebenenfalls auch anwenden, also handeln. Ich nenne nun ein paar Maßnahmen, die keine wirtschaftlichen oder finanziellen Maßnahmen sind.Erstens. Wenn wir auch gewiß keine Deutschen aus Deutschland ausweisen wollen — selbst wenn dies linientreue und weisungsgebundene Korrespondenten aus Ost-Berlin sind —, so kann doch geprüft werden, ihnen die Akkreditierung als Jour-
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Graf Huynnalisten in Bonn zu entziehen und sie nicht mehr zur Bundespressekonferenz und zu Gesprächen einzuladen.Zweitens. Unsere Rundfunk- und Fernsehanstalten sollten ihre Berichterstattung über die Verhältnisse in Mitteldeutschland verstärken, um sicherzustellen, daß sie noch mehr als bisher von den Menschen drüben gehört werden.Drittens. Es sollte geprüft werden, gegebenenfalls die Ballonaktionen mit Nachrichten aus dem freien Deutschland für die Menschen in Mitteldeutschland wieder aufzunehmen.
Viertens. Das Bundespresseamt sollte genauestens im Ost-Berliner Rundfunk und Fernsehen sowie in der Presse der sowjetisch besetzten Zone die Berichte aus dem freien Deutschland. verfolgen und die hier akkreditierten Ost-Berliner Korrespondenten regelmäßig und mit Nachdruck auf alle Fälle von Falschberichterstattung hinweisen und dies veröffentlichen.
Fünftens. Alle nachweislichen Fälle von Falschberichterstattung in den dortigen Medien über die Bundesrepublik Deutschland, die ja hier genau nachkontrolliert werden können, sollten von unseren Rundfunk- und Fernsehanstalten unter Hinweis auf die unwahren Berichte richtiggestellt werden.Das sind nur einige der Möglichkeiten, die in angemessener Weise in Reaktion auf den Maulkorberlaß und die Ausweisung von Korrespondenten angewandt werden können. Darüber hinaus gibt es noch eine ganze Reihe anderer Maßnahmen. So könnte die Bundesregierung sechstens in internationalen Gremien, insbesondere in den Vereinten Nationen, offensiv — und dies sollte sie tun — eine freiheitliche Deutschlandpolitik betreiben.Siebtens. Die Bundesregierung sollte eine zentrale Beschwerdestelle einrichten, wie wir dies schon lange gefordert haben, an die sich alle Deutschen wenden können, die Ost-Berliner Schikanen zu erdulden haben, sei es bei Hilferufen von drüben oder sei es bei Beschwerden aus dem Westen.Achtens. Die Funktionäre des SED-Regimes, die sich Verbrechen und Vergehen zuschulden kommen lassen, müssen registriert werden. Die zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter bedarf hierzu der vollen Unterstützung der Bundesregierung. SED-Funktionäre, die in den freien Teil Deutschlands kommen, um an Veranstaltungen ihrer Gesinnungsgenossen teilzunehmen — oder zu welchem Zweck auch immer —, sind jedenfalls nicht außer Strafe zu stellen. Sie müssen wissen, daß sie sich hier vor Gerichten im freien Teil Deutschlands zu verantworten haben, wenn sie sich etwas haben zuschulden kommen lassen. Dies gilt natürlich auch für die, die für Schießbefehl und ähnliches verantwortlich sind.
Neuntens. Die Verwendung von Ostgeldern für subversive Zwecke in der Bundesrepublik Deutschland und die damit im Zusammenhang stehende Tätigkeit von sowjetzonalen Scheinfirmen bei uns kann genauestens untersucht werden.Zehntens. Schließlich fordere ich die Bundesregierung auf, in ihrer Berlinpolitik nicht nur Festigkeit zu wahren—hierzu waren die kürzlichen Außerungen des Bundeskanzlers zu Bonn als Hauptstadt, ohne Berlin überhaupt zu erwähnen, ein grober Verstoß gegen das deutsche Selbstverständnis —,
sondern darüber hinaus die Bindungen Berlins an die übrige Bundesrepublik Deutschland zu verstärken und die seit längerem versprochene Begründung der deutschen Nationalstiftung in Berlin voranzutreiben.Dies sind bereits zehn Punkte, die nicht den innerdeutschen Handel und die nicht wirtschaftliche und finanzielle Fragen betreffen. Aber auch hierzu gibt es konkrete Punkte; denn Ost-Berlin erhält von uns handelspolitische Vergünstigungen, von denen Entwicklungsländer nur träumen können.
Elftens. Der im nächsten Jahr neu auszuhandelnde Swing, der bisher von Ost-Berlin stets einseitig genutzte Kredit im innerdeutschen Handel, kann erstens abgebaut werden — dies ist von meinem Kollegen Abelein schon gesagt worden —, aber zweitens kann auch überlegt werden, auf eine Verzinsung des Swings zu drängen, durch den die OstBerliner Machthaber bisher jährlich in den Genuß von etwa 50 Millionen DM allein an Zinsersparnis gekommen sind.Zwölftens. Die Agrarexporte der Europäischen Gemeinschaft in die DDR werden zumindest zum Teil im Rahmen der EG-Regelungen subventioniert, weil die DDR in dieser Beziehung als Drittland behandelt wird.
— Nein, aber es sind Überlegungen anzustellen, und es geht nicht an, daß Ost-Berlin Agrarprodukte zu Lasten unserer Steuergelder subventioniert zu Niedrigpreisen erhält und sie dann in einzelnen Fällen womöglich dann noch an die Bundesrepublik Deutschland zu den hohen EG-Agrarmarktpreisen zurückverkauft.
Dreizehntens. Das mit Bekanntmachung vom 28. September 1970 eingeführte Preisprüfungsverfahren für Lieferungen aus der DDR kann verschärft werden.Vierzehntens. Einfuhren von Waren aus Mitteldeutschland, etwa Textilien, können stärker als bisher kontingentiert werden; auch an die Anwendung von Antidumpingbestimmungen kann gedacht werden.
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12340 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Graf HuynFünfzehntens. Die Umsatzsteuersonderregelung, die zu einer spezifischen Begünstigung von DDR- Waren führt, könnte beseitigt werden. Die allein bedeutet eine Summe von 390 Millionen DM pro Jahr.
Sechzehntens. Es ist nicht einzusehen, daß Ost-Berlin von uns Straßenbenutzungsgebühren fordert, daß die Bundesregierung aber immer noch keine Kraftfahrzeugsteuer für DDR-Lastwagen erhebt.
Siebzehntens. Der kumulierte Passivsaldo Ost-Berlins im innerdeutschen Handel, der Ende letzten Jahres allein 3,7 Milliarden DM Verrechnungseinheiten betragen hat, könnte durch die Einbehaltung fälliger Transitgebühren verringert werden.Achtzehntens. Gelder für die einzelnen Bauabschnitte der Autobahn Hamburg-Berlin sollten erst dann bewilligt werden, wenn Ost-Berlin wenigstens die minimalsten vertraglichen Verpflichtungen einhält, die es im Grundvertrag, in den Menschenrechtspakten und in anderen Vereinbarungen eingegangen ist.
Neunzehntens. Die zahlreichen finanziellen Leistungen im Rahmen von Post, Güterfernverkehr, Bahn usw. sollten überprüft werden, Herr Franke, und die Verwendung der überwiesenen Gelder sollte im Hinblick auf ihre Zweckbindung kontrolliert werden. Überleistungen sind abzubauen. Im übrigen könnte zumindest ein Teil unserer Leistungen an Ost-Berlin auf diesen Gebieten an Sachlieferungen aus der Bundesrepublik Deutschland gebunden werden, um damit auch unserer Wirtschaft zu nutzen.Zwanzigstens und letztens sollte das Verbot von Kompensationsgeschäften gemäß dem Berlin-Abkommen vom 16. August 1960 schärfer als bisher angewandt werden.Sie sehen, dies ist ein Katalog von zehn wirtschaftlichen und zehn nichtwirtschaftlichen Punkten, den Sie untersuchen sollten, um nicht der Aussage des Ost-Berliner Funktionärs zu folgen, daß diese Regierung, solange sie noch im Amt ist, es nicht wagen wird, irgendwelche Schritte zu ergreifen.Vor wenigen Tagen hat Stefan Heym in seinem Hilferuf über das ZDF aus bitterer Erfahrung über die Entwicklung drüben ausgesagt — ich zitiere wörtlich —: Es wird schrittweise immer schlimmer werden. — In diesem Wort liegt mehr Wahrheit über die Lage der Nation als in dem ganzen Bericht, den wir heute vom Bundeskanzler hier gehört haben.Es ist höchste Zeit, daß die Bundesregierung nicht nur verbale Proteste von sich gibt, sondern konkrete Maßnahmen prüft, um auf die Machthaber des sozialistischen Unrechtsregimes in Ost-Berlin einzuwirken. Handeln Sie endlich! Betreiben Sie eine Politik im Interesse der Menschen drüben und nicht eine Gefälligkeitspolitik zugunsten ihrer Unterdrücker!
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schulze
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist in der Tat, wie ein Kollege von der CDU bemerkte, hier eine sehr gespenstische Debatte. Nachdem ich mir den Katalog des Kollegen Graf Huyn hier angehört habe, kann ich nur sagen: Das klingt nach Wiederaufleben vom Kalten Krieg. Er hat ja auch die Balonaktion wieder vorgeschlagen. Berliner wissen, was das heißt. Herr Kollege Graf Huyn, ich weiß gar nicht, warum Sie nicht vorgeschlagen haben, daß wir die „Tarantel" wieder aufleben lassen sollten; das wäre doch auch noch ein schöner Vorgang. — Ja, wenn Sie das nicht kennen, dann machen Sie sich bei Ihren Berliner Kollegen sachkundig!Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich finde, daß sich die CDU mit Recht darüber geärgert fühlt, was der Bundeskanzler hier zur Lage der Nation gesagt hat.
Wenn ich noch einmal in Erinnerung rufen darf, hat er festgestellt — und das ärgert Sie —, daß die Wirtschaft in diesem Land in Ordnung ist, daß in einem hohen Maße Geldwertstabilität vorhanden ist, daß wir internationale Anerkennung haben und daß wir im Grunde genommen in Mitteleuropa ganz langsam einen Schritt nach dem anderen gehen,
um die beiden deutschen Staaten ein Stück näherzubringen. Dies ist sehr deutlich geworden. Ich kann verstehen, daß Sie sich darüber geärgert fühlen.
Ich möchte Ihnen folgendes sagen. Ich bin als 15jähriger nach Berlin gekommen und habe die Stadt und zu einem Stück auch das Land erlebt, mit allen Trümmern, die uns die Naziherrschaft hinterlassen hat. Wir haben versucht, alles wiederaufzubauen. Dabei gab es sehr viele gemeinsame Leistungen. Dann hat es ab 1949 die Politik der Westintegration gegeben. Diese Politik hat u. a. die Integration von rund 10 Millionen Flüchtlingen bewirkt — das ist alles richtig — und auch bewirkt, daß die Wirtschaft in diesem Lande mit fremder Hilfe, mit Hilfe unserer Westmächte, aufgebaut werden konnte. Aber sie hat auch bewirkt, daß dieses Land in den Strudel des Kalten Krieges einbezogen worden ist und keine Chance hatte, sich daraus von allein zu befreien.Das heißt: Wir haben die totale Blockade in Richtung Osten akzeptiert. Die sozialliberale Bundesregierung hat diese totale Blockade, dieses Gegeneinanderrennen zweier deutscher Staaten, gesehen. Im Grunde gnommen ist die Grenze dazwischen ja die Grenze zweier Weltmächte. Daher ist es eine Illusion, wenn Sie hier einfach von Wiedervereinigung reden. Die Grenze durch dieses Europa ist
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Schulze
eine waffenstarrende Grenze. Sie ist nicht so aufzulösen, wie hier im Grunde genommen philosophiert wird, als wären wir in der Lage, sofort und ohne zu denken und zu kalkulieren, was unsere befreundeten Mächte zu einer Wiedervereinigung Deutschlands sagen, und ohne zu kalkulieren, was die Staaten im osteuropäischen Bereich sagen, und ohne zu kalkulieren, daß man notfalls Sicherheiten, und zwar Grenzsicherheiten, bieten muß, etwas zu erreichen.
Sie zielen hier auf ein abgehobenes, ich will mal sagen, Forum ab, das man sicher irgendwo abhalten kann; aber das kann man doch nicht im Bundestag machen.
Was wir mit unserer Politik erreicht haben,
ist, daß wir im humanitären Bereich ein hohes Maß an Menschlichkeit haben — wir können uns noch sehr viel mehr denken —. Was wir erreicht haben, ist, daß Berlin sicher geworden ist.
Was wir erreicht haben, ist, daß die Transitstraßenschnell befahrbahr sind — und noch einiges mehr.Und dies haben wir durch die Verträge erreicht, die die Bundesregierung geschlossen hat, und zwar die heutige Bundesregierung, die sozialliberale Bundesregierung, nämlich durch den Vertrag mit Moskau, durch den Vertrag mit Warschau, durch den Grundlagenvertrag, durch das Viermächteabkommen, das mitgetragen und mitinitiiert worden ist und das nur möglich war, da es die vorhergehenden Verträge gabe.Und die CDU/CSU? Die hat — ich will gar nicht nachforschen, bei wie vielen Abstimmungen; das ist ja schon mal gesagt worden — entweder gespalten oder mit Nein oder mit Enthaltung gestimmt, selbst zur KSZE-Schlußakte. Nur, die CDU/ CSU muß irgendwann zu sich selber finden. Sie kann die gespenstische Debatte, die sie ja schon zehn Jahre lang führt, hier nicht fortsetzen.
Ich finde, Sie sollten mal über sich selber nachdenken.Statt dessen lassen Sie Vokabeln ab, wie es der Kollege Abelein getan hat: Wir geben der DDR einen Freibrief, oder wir bezahlen unbegrenzt. Und dann kommt noch so ein Punkt: Er redet hier über Telefongebühren. Herr Kollege Abelein — er ist wohl nicht mehr da —, ich habe den Eindruck, daß Sie Berlin nie erlebt haben und daß Sie nie begriffen haben, daß 1952 die Telefonleitungen gekappt worden sind. Bis zum Mauerbau konnten die Berliner noch telefonieren, wenn sie in den Ostteil der Stadt gingen. Aber danach ging's nur noch per Ferngespräch über Frankfurt. Dies war die einzige Möglichkeit. Und da stellt sich hier der Kollege hin und sagt, dies sei alles schlimm, und da werde sicher viel zuviel bezahlt, ohne überhaupt den konkreten Nachweis zu bringen.Da wird weiter über die Sportvereinbarung geredet. Dabei wird völlig außer acht gelassen, daß es nach dem Mauerbau im Grunde genommen fast nichts mehr an sportlichen Begegnungen gab.
— Mindestens 70 im Jahr. Nehmen Sie das doch mal zur Kenntnis. Na gut, 300, 500 sind wünschenswert. Da sind wir uns sicher einig. Nur, Sie nehmen da noch nicht mal die 70 zur Kenntnis. Sie sagen, das sei einfach alles zuwenig, obwohl Sie vorher nichts, überhaupt nichts geschafft haben.
Sie haben Berlin bei entscheidenden Verträgen draußen gelassen. Diese Bundesregierung hat Berlin immer einbezogen. Und was haben Sie gemacht? Denken Sie mal darüber nach! Ich finde, es ist lohnenswert, die Frage zu diskutieren, was aus Berlin geworden wäre, wenn Sie Ihre Politik fortgesetzt hätten.Und dies will ich Ihnen sagen: Der Kollege Mattick hat heute morgen sehr ruhig noch mal die Position Berlins aufgezeigt. Ich habe in Berlin ununterbrochen gelebt. Ich habe die Blockade miterlebt. Ich habe den 17. Juni 1953 miterlebt und danach natürlich die Ballons, die der Kollege Graf Huyn jetzt wieder einführen will.
Ich habe miterlebt, wie das Chruschtschow-Ultimaturn auf Berlin gewirkt hat. Da ist ja aus Berlin nicht nur die Industrie hinausgegangen, sondern da sind viele Menschen mit hinausgegangen. Dieses Chruschtschow-Ultimatum und der Mauerbau waren in der Regierungszeit der CDU/CSU.
Und was haben Sie da an der Stelle getan? Ein Nichts haben Sie da getan.
Und ich habe den 13. August miterlebt, und ich habe die Abschnürung miterlebt. Ich kann Ihnen nur sagen: Ich war am 13. August am Checkpoint Charly, viele Male, und ich habe erlebt, wie die amerikanischen Panzer und die sowjetischen Panzer, getrennt durch einen weißen Strich, einander gegenüberstanden. In den Häusern waren auf beiden Seiten Heckenschützen,
und wenn nur einem dieser jungen Leute — denn darunter waren sehr viele junge Leute — die Nerven durchgegangen wären, hätten wir die totale Konfrontation in der Stadt gehabt. Nur, all dies wol-
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12342 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Schulze
len Sie gar nicht mehr wahrhaben. Mit Ihrer Politik kommen wir genau wieder in diese Konfrontation, und diese Konfrontation hilft der Stadt überhaupt nicht. Was der Stadt geholfen hat, ist das Viermächteabkommen, ist die Entspannungspolitik, und nur so wird die Stadt weiterleben können.
Ich kann die Kollegen von der CDU/CSU nur darum bitten, wenigstens einmal an dieser Stelle — Sie sind ja sehr häufig in Berlin — darüber nachzudenken. Denn, wenn Sie Konfrontation wollen
— Sie wollen das doch, Herr Kollege Jäger —,
müssen Sie dies so klar sehen.Lassen Sie mich ein letztes sagen, und zwar zur Frage der Wiedervereinigung — oder wie auch immer man dazu sagen will.
Ich finde, wir können sie erst seit dem Zeitpunkt denken, seit dem es die Entspannungspolitik der sozialliberalen Bundesregierung gibt; seit diesem Zeitpunkt können wir sie realistisch überhaupt erst wieder denken. Wann sie stattfinden wird? Dies wird —da bin ich mit Ihnen allen einig — noch ein langer Weg sein. Nur, ich kenne doch Ihre These von der Wiedervereinigung. Die war doch die ganze Zeit: Die DDR hat freundlicherweise anzutanzen und hat sich mit uns wiederzuvereinigen. Diese Politik können Sie nicht fortsetzen, und das sollten Sie langsam einmal begreifen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete von Wrangel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde es schade, daß am Ende dieser Debatte hier unkritische Jubelreden gehalten werden,
denn mit solchen unkritischen Jubelreden wird man die bedauerlichen Tatsachen, die gegenwärtig in der DDR gegeben sind, nicht überdecken können.
Ich finde es auch schade, daß Sie, meine Damen und Herren, hier Eigensinn an den Tag legen und sich weigern, Ihre Politik zu 'überdenken.
Denn wenn Sie sie nicht überdenken, werden Siedamit die finanzielle Begehrlichkeit der Kommunisten nur noch wecken. Auch dies müssen wir am Schluß der Debatte festhalten.
Herr Kollege Franke — der Sie dankenswerterweise noch hier sind — und Herr Kreutzmann, ich finde es sehr bedauerlich, daß eine Fülle von sehr ernst zu nehmenden Fragen, die Kollegen meiner Fraktion hier gestellt haben, von der Bundesregierung nicht beantwortet worden sind.
Ich hatte zeitweise das Gefühl, wir kämen miteinander wenigstens in einen Dialog. Aber was kam dann? Wieder ein hohes Maß an Selbstgefälligkeit. Meine Damen und Herren, ich frage mich: Womit wird diese Arroganz gerechtfertigt, die Sie an den Tag legen?
Ich glaube, mit Recht sagen zu können, sie ist durch gar nichts gerechtfertigt, und Sie haben allen Grund, Ihre Politik sehr genau zu überdenken und diesem Hause Rechenschaft abzulegen.
Ich möchte ausdrücklich sagen, daß wir die Entspannung ernst nehmen. Aber Entspannung kann doch nicht zur Makulatur degradiert werden. Ich meine auch, daß niemand den Begriff der Entspannungspolitik sozusagen als Alibi gebrauchen darf, um danach in der Deutschlandpolitik gar nichts mehr zu tun. Meine Damen und Herren, oder ist dies, angefangen bei der Regierungserklärung des Bundeskanzlers, die aus unserer Sicht kein Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland, sondern mehr eine Gefälligkeitsregierungserklärung war, bereits der Ausdruck einer tiefgehenden Resignation in der Deutschlandpolitik? Auch darauf müßten wir von Ihnen eine Antwort bekommen.
Hier ist auch in weiten Passagen über die rechtlichen Positionen diskutiert worden. Meine Damen und Herren, wer weitmaschige Verträge schließt, der darf sich doch nicht darüber wundern, daß die Rechtspositionen von der anderen Seite manipuliert werden.
Wir müssen auch immer wieder die Frage an Sie richten, ob Sie dies alles nur sagen, um damit z. B. innenpolitische Effekte — zu Lasten der deutschlandpolitischen Entwicklung — zu erzielen.
Dies wollte ich voranschicken.
Wir haben Ihnen heute einen Entschließungsantrag vorgelegt. Es handelt sich um den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 8/2860. Wir gehen davon aus, daß diese Ent-
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12343
Baron von WrangelSchließung eine hervorragende Grundlage für den Neubeginn einer ernsthaften deutschlandpolitischen Diskussion sein kann.Die deutschlandpolitischen Positionen und Ziele — und vieles ist hier gesagt worden — müssen wir immer wieder festhalten, festschreiben und bekräftigen; denn wenn wir es nicht tun, können wir doch nicht erwarten, daß es andere für uns tun werden.Viele meiner Vorredner aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben in diesem Zusammenhang sehr zu Recht auf den Deutschland-Vertrag hingewiesen. Bisweilen haben wir den Eindruck, als wollten Sie dieses wichtige Instrument Deutschland-Vertrag lieber in der Mottenkiste versenken, als es wirklich zu unserem Gunsten anzuwenden.
Herr Kollege Ehmke, da ich mich an einige Gespräche in den Jahren 1971 und 1972 mit Ihnen erinnere, möchte ich Sie hier noch einmal ansprechen: Es kann doch überhaupt kein Zweifel darüber bestehen, daß in der Entschließung von 1972, der Sie zugestimmt haben, der Friedensvertragsvorbehalt und die Offenhaltung der deutschen Frage eine essentielle Rolle gespielt haben. Wenn man heute sagt, dies gelte nicht mehr,
dann müssen wir die Frage stellen: Was hat sich eigentlich seitdem verändert?
— Wenn Sie sagen, daß das noch gelte, Herr Kollege Ehmke, so nehme ich dies natürlich gerne zur Kenntnis. Wir können dann über die weiteren Fragen diskutieren.Meine Damen und Herren, ich möchte Sie nachdrücklich bitten, im Interesse einer heranwachsenden Generation wenigstens dem zuzustimmen, was, wie Sie wissen, die Kultusministerkonferenz im November 1978 einstimmig verabschiedet hat. Wenn Sie unseren Entschließungsantrag zur Hand nehmen, werden Sie feststellen, daß im Abschnitt III eine Reihe von Bitten an die Bundesregierung gerichtet werden.Ich glaube, es gibt auch eine Anzahl von wichtigen Verhandlungen, die jetzt geführt werden müssen. Ich bin z. B. der Meinung, daß es auf die Dauer für uns alle unerträglich sein muß, wenn man nicht über Interpretationen der Verträge neu verhandelt.Schließlich glaube ich auch — hier hat der Kollege Graf Huyn einiges genannt —, es muß doch wohl möglich sein, Herr Kollege Franke, einen Mechanismus einzuleiten und Instrumente einzusetzen, die der Bundesregierung im Falle von Vertragsverletzungen einen größeren Handlungsspielraum einräumen. Sie sehen, ich drücke mich hier mit der gebotenen Vorsicht aus. Wir haben an dieser Stelle bei vielen Gelegenheiten auch erklärt, daß wir gar nicht verlangen, daß die Bundesregierung in der Offentlichkeit alles nennt, was sie an Instrumenten imFalle von Vertragsverletzungen der anderen Seite anwenden würde.Auch möchte ich noch einmal auf die Notwendigkeit hinweisen, im internationalen Bereich tätig zu sein.Wir nehmen in unserer Entschließung ausdrücklich auf die Solidarität Bezug, die wir als frei gewähltes Parlament zu allen Deutschen haben, gleichgültig wo immer sie leben mögen. Dies ist ein wichtiger Punkt. Ich bin der Meinung, daß 30 Jahre Bundesrepublik Deutschland uns eine besondere Sorgepflicht auferlegen, für diejenigen Deutschen mit zu handeln, die dies nicht können und die in Unfreiheit leben müssen. Wir tragen eine Bürde als geteilte Nation. Ich meine, es wäre nicht im Interesse der deutschen Nation, wenn wir auch nur den Anschein erweckten, wir wollten uns dieser Bürde entledigen.Die CDU/CSU wird ungeachtet der Kontroverse, die auch heute hier zum Ausdruck gekommen ist, den Versuch machen, ein deutschlandpolitisches Gespräch zwischen den Fraktionen in Gang zu setzen. Dies ist der Grund, warum wir der Entschließung Texte zugrunde gelegt haben, die entweder rechtsverbindlich sind oder Formulierungen enthalten, die von Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Koalition, in der letzten Zeit in Reden oder in Artikeln selber geäußert worden sind. Wenn Sie unserer Entschließung zustimmten, dann könnte vielleicht die Stimme der freiheitlichen Bundesrepublik Deutschland mehr Gewicht erhalten. Darum haben wir diese Entschließung eingebracht.Ich möchte Sie im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auffordern, die Entschließung dem Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen — federführend — und zur Mitberatung dem Auswärtigen Ausschuß zu überweisen.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Büchler.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Einen Satz zu Herrn Abelein muß ich noch sagen. Ich weiß nicht, ob er noch im Saale ist. Er hat versucht, die SPD-Bundestagsfraktion und den Bundeskanzler auseinanderzudividieren. Ich glaube, er macht es sich doch ein bißchen billig. Er sollte seine eigenen Fraktionsprobleme nicht auf unsere Fraktion übertragen.
Ansonsten glaube ich nach den vielen Reden, daß Ansatzpunkte vorhanden sind, über die wir in Zukunft reden können. Aber das gilt natürlich nicht für alle Reden, um das ganz deutlich zu sagen.
— Ich werde nicht lange sprechen. Sie brauchen keine Bedenken zu haben.
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12344 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Büchler
Wie gesagt, für alle Reden gilt das ganz bestimmt nicht. Das macht eben auch die Schwierigkeit bei der Diskussion mit Ihnen aus: daß sehr viele sehr Unterschiedliches sagen. Karl Hoffmann hat das durch seine Zitate sehr deutlich gemacht. Ist etwa das, was Graf Huyn von sich gegeben hat, nun die CDU/CSU-Linie in der Deutschlandpolitik? Diese Frage muß doch erlaubt sein. Wäre es so, dann wäre es, glaube ich, schlimm bestellt.Herr von Wrangel, weil Sie uns zum Überdenken aufgefordert haben: Wir denken über die Deutschlandpolitik nach und sind, glaube ich, zu dem richtigen Schluß gekommen.
Das Überdenken muß bei Ihnen einsetzen. Das ist das Problem.
Vor allem müssen wir endlich einmal wissen, welche Linie eigentlich gilt und wie wir im, Interesse des deutschen Volkes miteinander diskutieren können.Die Fraktion der SPD und der FDP bringen aus Anlaß des vom Herrn Bundeskanzler gegebenen Berichtes zur Lage der Nation den Ihnen vorliegenden Entschließungsantrag auf Drucksache 8/2867 ein.Wir begrüßen die auf der Grundlage des Vertrages über die Grundlagen der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 21. Dezember 1972 erzielten Ergebnisse. Trotz aller immer wieder auftauchenden Probleme, Schwierigkeiten und ernsthaften Belastungen haben sich die nun vor zehn Jahren begonnenen Deutschland-, Berlin-und Entspannungspolitik und ihre vertraglichen Resultate bewährt. Sie haben entscheidend dazu beigetragen,
zu erhalten. Wir stimmen daher mit der Bundesregierung überein, daß das Gesamturteil positiv ist.
Wir verurteilen die vertragswidrigen Maßnahmen der DDR-Behörden, die die Freiheit der Berichterstattung und des Informationsaustausches einschränken. Wir verurteilen die damit verbundene Verletzung der Schlußakte der Konferenz für. Sicherheit und Zusammenarbeit in Helsinki vom 1. August 1975, mit deren Unterzeichnung sich die Deutsche Demokratische Republik verpflichtet hat, Journalisten aus den Teilnehmerstaaten großzügig Zugang zu den Informationsquellen zu gestatten.
Wir fordern die DDR auf, diese Maßnahmen zurückzunehmen.
— Dann müssen Sie unserem Antrag zustimmen.Die DDR-Regierung muß sich der besonderen Verantwortung bewußt sein, die beide deutsche Staaten für die Vertiefung des Entspannungsprozesses in der Mitte Europas haben. Das schließt ein, daß die DDR die Grund- und Menschenrechte beachtet und sie nicht einschränkt und verletzt.Wir stellen fest, daß sich auch das Viermächteabkommen besonders bewährt hat und die Lebensfähigkeit der Stadt Berlin auf seiner Grundlage gestärkt wurde. Die Aufrechterhaltung einer ungestörten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lage in Berlin ist eines der wichtigsten Elemente der Entspannung überhaupt.Wir bekräftigen und unterstützen den Willen der Bundesregierung, in einem geeinten Europa dem Frieden zu dienen und auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.Namens der Koalitionsfraktionen beantrage ich die Überweisung des Antrages an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen und — mitberatend — an den Auswärtigen Ausschuß.
Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. — Ich schließe die allgemeine Aussprache.
Uns liegen zwei Entschließungsanträge vor, und zwar einer von der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 8/2860 und einer der Fraktionen der SPD und der FDP auf Drucksache 8/2867. Wird dazu noch das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, beide Entschließungen an den Innerdeutschen Ausschuß und — mitberatend — an den Auswärtigen Ausschuß zu überweisen. Können wir über beide gemeinsam abstimmen? — Ich höre keinen Widerspruch. Wer der Überweisung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Es ist so beschlossen.
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung nach § 35 der Geschäftsordnung hat nun Herr Abgeordnter Jäger .
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! In der Debatte am heutigen Nachmittag hat der Kollege Dr. Ehmke im Rahmen seiner Ausführungen erklärt, Schuld an der Teilung Deutschlands trage nicht Konrad Adenauer und nicht Willy Brandt, sondern Adolf Hitler.An dieser Stelle seiner Ausführungen habe ich — ich füge hinzu, nicht ich allein,
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12345
Jäger
sondern eine Reihe von Kollegen aus unserer Fraktion — den Zuruf gemacht: „Auch Stalin!"Auf diesen meinen Zuruf hin erklärte der Kollege Dr. Ehmke — ich darf aus dem Protokoll zitieren —:Ich weiß, Herr Jäger, daß Sie gern Hitler in der Reihe auslassen.
Herr Dr. Ehmke fügte einige Sätze später hinzu:Ich gehe davon aus, daß in diesem Hause — Herrn Jäger offenbar ausgenommen — Übereinstimmung darüber besteht — ich wiederhole meinen Satz —, daß weder Adenauer noch Willy Brandt, sondern Adolf Hitler die Teilung Deutschlands verschuldet hat.Mit diesen Ausführungen wird mir unterstellt, daß ich den Schuldanteil Hitlers und seiner verbrecherischen Politik an der Teilung Deutschlands nicht wahrhaben, sondern unterschlagen wolle. Diese Unterstellung, Herr Kollege Dr. Ehmke, ist unzutreffend. Ich habe durch keine Äußerung, die ich jemals irgendwo, sei es in diesem Hause oder außerhalb dieses Hauses, zu diesem Fragenkomplex getan habe, zu dieser Ihrer Unterstellung auch nur den geringsten Anlaß geboten. Ich habe jederzeit die Auffassung vertreten und vertrete sie auch heute, daß nicht nur die verbrecherische Politik Stalins und der Kommunisten, sondern auch die verbrecherische Politik Adolf Hitlers und der Nationalsozialisten Schuld an der Spaltung unseres deutschen Vaterlandes trägt.Weil dies so ist, Herr Kollege Dr. Ehmke, weise ich Ihre unzutreffende und kränkende Unterstellung mit Entschiedenheit zurück.
Meine Damen und Herren, zu einer persönlichen Erklärung ist keine Aussprache vorgesehen. Aber wenn Herr Ehmke eine persönliche Erklärung abgeben will, so ist dazu jetzt Gelegenheit.
Frau Präsident! Meine sehr verehrtern Damen und Herren! Ich darf zu dem Vorfall, den Herr Kollege Jäger geschildert hat, meinerseits folgendes erklären. Es lag mir völlig fern, Herrn Kollegen Jäger zu kränken oder ihm das zu unterstellen, was er gesagt hat. Aber es gibt in der Tat einen Nuancenunterschied in der Beurteilung der Geschichte. Ich habe von deutschen Staatsmännern gesprochen: Adenauer, Brandt und Hitler. Ich bin der Meinung, der Hinweis auf das, was Stalin getan hat, kann weder darüber hinwegtäuschen, wo die Schuld in der deutschen Geschichte lag, noch darüber, daß Stalin ohne die Politik Hitlers gar nicht in diese Position gekommen wäre.
Ich halte diese Beurteilung des Hinweises auf Stalin keineswegs für eine Unterstellung gegenüber Herrn Jäger.
Ich halte vielmehr den Hinweis auf Stalin für eine unzulässige Abschwächung des Zusammenhangs, den ich in der deutschen Geschichte sehe.
Hierüber mag eine Verschiedenheit in der Beurteilung bestehen. Aber ich möchte noch einmal betonen: Es lag mir völlig fern, Herrn Kollegen Jäger persönlich oder politisch zu kränken.
Meine Damen und Herren, ich rufe jetzt Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Umsatzsteuergesetzes
— Drucksache 8/1779 —
a) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
— Drucksache 8/2864 — Berichterstatter: Abgeordneter Löffler
b) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses
— Drucksache 8/2827 —
Berichterstatter: Abgeordneter Kühbacher, Dr. Meyer zu Bentrup
Das Wort zur Berichterstattung hat der Abgeordnete Kühbacher.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Zur abschließenden Beratung des Umsatzsteuergesetzes in zweiter und dritter Lesung möchte ich Ihnen als Berichterstatter nicht noch einmal den auf 18 Seiten — von Seite 63 bis 81 der Drucksache — im einzelnen aufgeführten Verhandlungsgang im Finanzausschuß schildern, sondern nur einige persönliche Bemerkungen zu dem Umfang der Arbeit machen. Ich glaube, ich bin es als Berichterstatter den Beamten des Finanzministeriums schuldig, uns dafür zu bedanken, daß sie es durch teilweise intensivste Arbeit gemeinsam mit uns fertiggebracht haben, daß wir nunmehr zum Abschluß der Beratungen kommen können.
Ich möchte in diesen Dank noch einen persönlichen Dank an eine Reihe von Kollegen einflechten, die zum Gelingen der Einzelberatungen nachhaltig beigetragen haben.
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12346 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Ich glaube, wir sollten erst einmal Ruhe herstellen; die Berichterstattung ist ja wichtig.
Meine Damen und Herren, darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen und eventuelle Gespräche außerhalb des Raumes zu führen.
Bitte schön, Herr Kühbacher.
Die Beratung im Ausschuß war dadurch gekennzeichnet, daß wir versucht haben, in vielen Punkten ins einzelne zu gehen. Durch die hilfreichen Hinweise der Ausschußvorsitzenden Frau Funcke und meines Kollegen Baack aus der früheren Behandlung des Mehrwertsteuergesetzes ist uns eine Reihe von Aufschlüssen gegeben worden. Mein Dank richtet sich aber ganz persönlich an Herrn Dr. Kreile. Er hat durch seine umfassenden Kenntnisse im Bereich des Umsatzsteuergesetzes dazu beigetragen, daß uns die Ziselierungen und Verästelungen des Umsatzsteuerrechtes ganz besonders klar geworden sind. Eine Reihe von Änderungen des Regierungsentwurfs tragen, Herr Dr. Kreile, Ihre Handschrift. Dafür sei Ihnen ganz herzlich gedankt.
Ich glaube, man wird später vor dem „Umsatzsteuergesetz der Bundesregierung " sprechen können. Ich darf für die harmonische Zusammenarbeit im Ausschuß recht herzlich danken.
Als zweiter Berichterstatter hat das Wort Herr Abgeordneter Dr. Meyer zu Bentrup.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich darf als Berichterstatter zunächst meinen Dank sagen, natürlich auch meinem Kollegen Dr. Kreile, der nachher für unsere Fraktion begründen wird, warum wir das Gesetz ablehnen.
Als Berichterstatter möchte ich mit Rücksicht auf die vorgerückte Zeit nur ganz kurz auf die Änderungsanträge eingehen, die meine Fraktion zu dem Gesetzentwurf gestellt hat und die im Finanzausschuß keine Mehrheit gefunden haben.
Das ist erstens der Änderungsantrag zum Inlandsbegriff. Hier hat die Mehrheit von SPD und FDP u. a. nicht die verfassungsrechtlichen Bedenken gesehen, die wir zu § 1 Abs. 2 geltend gemacht haben.
Der zweite Antrag galt der Absicht, die Psychotherapeuten in die Umsatzsteuerbefreiung der Heilberufe einzubeziehen. Wir konnten die Umsatzsteuerbefreiung gegenwärtig nicht gesetzlich regeln. Es wird darauf ankommen, dies in der nächsten Zukunft nachzuvollziehen. Zunächst ist zugesagt worden, das im Verwaltungswege durch eine Erlaßregelung zu klären.
Der dritte Antrag, der von unserer Fraktion gestellt wurde und keine Mehrheit fand, bezog sich auf die Gestellung von Betriebshelfern und Haushaltshilfen für landwirtschaftliche Sozialversicherungsträger. Wir konnten eine Steuerbefreiung nicht erreichen. SPD und FDP haben den Antrag abgelehnt, der auf eine Gleichbehandlung mit anderen Bereichen der sozialen Dienstleistungen in § 4 Nr. 27 abzielte.
Ein vierter Antrag zielte auf die Halbierung der Mehrwertsteuersätze für Speisen in Gaststätten ab, ein Antrag, auf den nachher mein Kollege Dr. Kreile noch ausführlich eingehen wird. Die Ausschußmehrheit von SPD und FDP war nicht bereit, diesem Antrag zu entsprechen, einmal aus steuersystematischen Gründen, zum anderen aber aus haushaltspolitischen Gründen auf Grund des hohen Steuerausfalls.
Ein fünfter Antrag der CDU/CSU, der keine Mehrheit fand, bezweckte die Steuerermäßigung für Dienstleistungen von Kooperationen in der Landwirtschaft. Hier ist zugleich das einstimmige Votum des Ernährungsausschusses überstimmt worden. Die Ausschußmehrheit von SPD und FDP hat ihre Ablehnung damit begründet, daß es sonst u. a. zu Sonderfällen in der steuerlichen Behandlung von Dienstleistungen kommen könne.
— Wir werden nachher, Herr Kollege Kiechle, bei
der Stellung unserer Anträge noch darauf eingehen.
Ein sechster Antrag, der von der CDU/CSU gestellt, aber abgelehnt worden ist, ist der Antrag gewesen, Bergbahnen, Drahtseilbahnen und sonstige mechanische Aufstiegshilfen aller Art in den für Personennahverkehr geltenden ermäßigten Steuersatz einzubeziehen. Das entsprach auch einem Votum des Bundesrates. Von der Mehrheit des Ausschusses, von SPD und FDP, ist dieser Antrag mit der Begründung abgelehnt worden, es seien keine Wettbewerbsnachteile für die Betriebe in grenznahen Gebieten zu erwarten.
Ein siebenter Antrag war der Antrag der Opposition, die beschlossene Mehrwertsteuererhöhung zum 1. Juli 1979 auszusetzen. Die Opposition hat diesen Antrag gestellt, um im gegenwärtigen Zeitpunkt der preis- und konjunkturpolitischen Situation zusätzliche Belastungen zu vermeiden. Dieser Antrag ist von SPD und FDP abgelehnt worden mit der Begründung, die Steuererhöhung sei die Geschäftsgrundlage für die Steuerentlastungen im Bereich der Einkommen- und Gewerbesteuer.
So weit mein kurzer Bericht!
Wenn ich richtig unterrichtet bin, ist vereinbart, daß wir ohne Generalaussprache in die zweite Lesung eintreten und daß erst in der dritten Lesung die allgemeine Aussprache stattfindet.Wir kommen somit zur Einzelabstimmung in zweiter Beratung.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12347
Vizepräsident Frau FunckeWer den §§ 1 bis 3 a die Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe!
— Ich bitte, die Abstimmung zu wiederholen. Wer den §§ 1 bis 3 a seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Meine Damen und Herren, es besteht Unklarheit über die Mehrheiten. Wir müssen auszählen.Sind noch Kollegen außerhalb des Saales?Meine Damen und Herren, ich frage noch einmal: Sind noch Kollegen außerhalb des Saales?
Dann bitte ich die Schriftführer, die Türen zu schließen und hierherzukommen.
Ich bitte, Platz zu nehmen. Ich gebe das Ergebnis der Abstimmung bekannt. Es ging um die §§ 1 bis 3 a der Vorlage in zweiter Beratung.Insgesamt haben 270 Abgeordnete die Stimme abgegeben. Mit Ja haben 146 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 124; Enthaltungen gab es keine.
Damit sind die aufgerufenen Bestimmungen angenommen.
Ich bitte Sie, sich darauf einzurichten, daß wir weitere Abstimmungen haben werden.Ich rufe § 4 auf. Hierzu liegt der Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf der Drucksache 8/2871 unter Ziffer 1 vor. Das Wort dazu hat der Herr Abgeordnete Dr. Meyer zu Bentrup.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stellen erneut den auf der Drucksache 8/2871 wiedergegebenen Änderungsantrag, eine Steuerermäßigung für bestimmte Dienstleistungen der Land und Forstwirtschaft zu erreichen. Wir stellen den Antrag, weil der mitberatende Ernährungsausschuß einstimmig, also mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP, diesem Antrag zugestimmt hat, während die Mehrheit im Finanzausschuß, also SPD und FDP, dieses wichtige, seit langem vertretene agrarpolitische Anliegen abgelehnt hat.
Ich bitte um Ihre Zustimmung.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kühbacher.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Umsatzsteuergesetz ist ein
Gesetz, das für viele Steuerpflichtige gleichmäßig gilt. Da wir als Gesetzgeber die Gleichmäßigkeit der Besteuerung der verschiedenen Wirtschaftsgruppen beachten müssen, können wir, auch wenn es aus dem Bereich der Landwirtschaft noch so sehr gewünscht wird, nicht ein Pünktchen mehr Entgegenkommen und Steuererleichterungen im Bereich der Landwirtschaft geben, wenn wir es in anderen Bereichen, z. B. im Bereich des Gesundheitswesens, ablehnen müssen. Steuergerechtigkeit bedeutet, alle unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Vermögen, Steuern zu zahlen, zu besteuern. Dieser Staat bekennt sich zur Steuergerechtigkeit. Aus diesem Grund sind wir nicht in der Lage, für eine bestimmte Gruppe hier mehr Vorteile zu bringen, so wie Sie es wünschen. Wir lehnen diesen Änderungsantrag ab.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Matthäus-Maier.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Für die FDP-Fraktion erkläre ich, daß wir die Änderungsanträge ablehnen. Wir halten sowohl aus steuersystematischen Gründen als auch aus Vereinfachungsgründen Ihren Vorschlag nicht für akzeptabel. Sie wissen, daß § 24 a ein pauschaliertes Mehrwertsteuersystem für Landwirte vorsieht. Damit ist eine Regelung, wie Sie sie vorschlagen, nicht vereinbar.
Auch aus Steuervereinfachungsgründen können wir dem Vorschlag nicht folgen, da er zu einem größeren Verwaltungsaufwand führen würde. Das wäre das erste Mal im Mehrwertsteuersystem, daß man die Höhe des Steuersatzes auf den Empfänger abstellt und nicht auf die Leistung selber. Aus diesem Grund lehnen wir diesen Änderungsantrag ab.
Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungsantrag auf der Drucksache 8/2871 unter Ziffer 1. Wer diesem Änderungsantrag zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe!
Enthaltungen? — Dieser Änderungsantrag ist abgelehnt.Wir kommen zur Abstimmung über § 4 in der Ausschußfassung. Wer zuzustimmen wünscht, den
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12348 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Vizepräsident Frau Funckebitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! —Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun die §§ 4 a bis 11 auf. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.Zu § 12 liegt auf der eben aufgerufenen Drucksache 8/2871, unter Ziffer 2 ein Änderungsantrag vor. Eine Begründung wird nicht gewünscht. Wer diesem Änderungsantrag zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.Wir kommen damit zur Abstimmung über § 12 in der Ausschußfassung. Wer zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Mit Mehrheit angenommen.Ich rufe die §§ 13 bis 30, das Zweite und das Dritte Kapitel, Einleitung und Überschrift auf. Wer zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Das erste war die Mehrheit; angenommen.Damit beenden wir die zweite Beratung und treten in diedritte Beratungein.Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Kreile.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 17. Mai 1977 hat der Rat der Europäischen Gemeinschaften die 6. Richtlinie zur Harmonisierung der Umsatzsteuern erlassen. Heute, auf den Tag genau zwei Jahre später, soll das deutsche Parlament das auf Grund dieser Richtlinie harmonisierte und neugestaltete deutsche Umsatzsteuergesetz verabschieden. Es steht zu erwarten und zu befürchten, daß die Bundesregierung und die SPD /FDP-Koalition dieses Umsatzsteuergesetz als ein europäisches Gesetz, als einen weiteren Schritt zu einem vereinten Europa feiern will und feiern wird. Wer aber solches gerade bei diesem Gesetz versucht, das eine beklemmende Mixtur aus europäischer Superbürokratie, kleinlichem Anpassungszwang, perfektionistischer Kasuistik und Überbelastung des Steuerbürgers darstellt, tut Europa, der europäischen Idee und ihrer Umsetzung in die staatliche Wirklichkeit bitter unrecht und erweist Europa einen schlechten Dienst. Dies, meine Damen und Herren, ist kein Gesetz, das man preisen kann, es ist nicht einmal ein Gesetz, das man, nimmt man es mit der Erfüllung der gesetzgeberischen Aufgabe ernst, noch hinnehmen kann. Verehrter Herr Kollege Kühbacher, die Handschrift von Steuer- bzw. Umsatzsteuerkennern trägt dieses Gesetz nicht.
Ich bin mir durchaus darüber im klaren, daß sich ein Teil dieser Kritik an dem neuen Umsatzsteuergesetz gegen die 6. EG-Richtlinie richtet, im Grunde sogar gegen die gesamte Richtlinienpraxis der EG-Kommission und des EG-Ministerrates, also gegen die überbordenden Ansprüche der EG-Exekutive. Gerade das aber ist nun in der Tat einer der Hauptvorwürfe, welcher der Bundesregierung, welcher dem Bundesfinanzminister — wenn ich auch einräume, Herr Matthöfer, nicht Ihnen persönlich, sondern Ihrem Vorgänger im Amt — gemacht werden muß: daß eine solche Richtlinie ausgehandelt wurde, daß einer solchen Richtlinie zugestimmt worden ist.Dabei ist der Grundgedanke der 6. Richtlinie zur Umsatzsteuerharmonisierung richtig und zu begrüßen. Um der Europäischen Gemeinschaft eigene Einnahmen zu ermöglichen, um sie von den bisherigen Finanzbeiträgen der Mitgliedstaaten unabhängig zu machen, sollte und mußte die Bemessungsgrundlage der einzelnen Umsatzsteuergesetze so vereinheitlicht werden, daß — unabhängig vom Steuersatz — überall dieselbe Belastung des letzten Verbrauchs herbeigeführt wird. Wie dieser Grundgedanke aber in die Tat umgesetzt wurde, ist für jedes Parlament der Europäischen Gemeinschaft erschreckend. Diese 6. Umsatzsteuerrichtlinie hat bei ihrer Umsetzung in die nationalen Rechte den europäischen Parlamenten wieder einmal — und diesmal mit besonderer Deutlichkeit — gezeigt, daß ihnen fast jegliche Gestaltungsmöglichkeit genommen worden ist, daß an die Stelle der parlamentarischen Gesetzgebung eine unkontrollierbare bürokratische Normensetzung getreten ist, daß das nationale Parlament zum Bestätigungsorgan ausgehandelter Regierungskompromisse geworden ist. Es war nur zu verständlich, daß deswegen die Französische Nationalversammlung in ihrer Sitzung vom 30. November 1978 das französische Anpassungsgesetz zur Harmonisierung der Umsatzsteuer mit beachtlicher Mehrheit abgelehnt hat.
Daß dann im Dezember eine Zustimmung erfolgte, die, wie die französische Presse so zutreffend schrieb, auf einem parlamentarischen Trick beruhte, nimmt dieser Ablehnung nichts von ihrer Bedeutung.Gerade kurz vor den Wahlen zum Europäischen Parlament erscheint es mir bedeutsam, die beachtlichen Gründe, die in der Französischen Nationalversammlung zu dieser Ablehnung geführt haben, auch hier in die Debatte einzuführen. Der Vorsitzende des Rechtsausschusses der Französischen Nationalversammlung, Jean Foyer, warf die Frage auf, wie weit die Befugnisse eines Parlaments gegenüber den vom EG-Ministerrat ausgehandelten Richtlinien noch gehen, wenn solche Richtlinien, einmal in Brüssel beschlossen, die Staaten der EG binden. Unter Zustimmung der Französischen Nationalversammlung gab er folgende Antwort — ich darf sie zitieren —:Wir stehen— sagte er im französischen Parlament —einem unheilvollen, ja sogar entarteten Mechanismus gegenüber. Wenn sich diese Praxis der Richtliniengesetzgebung fortsetzt, so wird bei allen Harmonisierungsmaßnahmen der Gesetzgeber so eingeschränkt, wie dies gegenwärtig
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12349
Dr. Kreilebei der Ratifizierung von Verträgen der Fall ist, wo man nur mehr ja oder nein sagen kann. Dies ist eine Usurpation der gesetzgeberischen Befugnisse der Mitgliedsländer durch Exekutivorgane.Meine Damen und Herren, mir liegt daran, hier und heute klarzustellen, daß wir, ebenso wie die Französische Nationalversammlung, nicht gewillt sind, es hinzunehmen, daß bei Harmonisierungsgesetzen die Regierung bei jedem Beratungspunkt erklärt, hier sei kein Beratungsspielraum mehr gegeben, hier sei der Deutsche Bundestag gebunden, nur weil sie sich zu früh und ohne rechtzeitige weitere und endgültige Abstimmung mit den parlamentarischen Körperschaften der Bundesrepublik Deutschland bei ' den Verhandlungen in Brüssel gebunden hat.Gewiß, ein vereintes Europa, zu dem wir uns bekennen und das wir wollen, kann nur entstehen, wenn die nationalen Parlamente bereit sind, auf einen Teil ihrer Souveränität zugunsten einer übernationalen Organisation zu verzichten. Ein solcher Verzicht kann aber nicht auf die Dauer zugunsten eines Exekutivorgans erfolgen, sondern nur zugunsten eines Gremiums, das parlamentarischen Charakter hat, in welchem die frei gewählten Vertreter der europäischen Völker sitzen.Bis dahin aber kann der Bundesregierung für die künftige Richtlinienpraxis nicht nachdrücklich genug gesagt werden — und wir wissen doch jetzt schon, daß dieser 6. Richtlinie die 7., die 8., die 9., die 10., die 11. Richtlinie nachfolgen werden —, daß die Regierung durch ihre Erklärungen ein Parlament nicht bis in die geringsten und kleinsten Teilaspekte binden kann und darf. Man möge seitens der Bundesregierung einmal einen Blick über den Zaun werfen und sich die Praxis anderer Parlamente und anderer Regierungen der Europäischen Gemeinschaften ansehen. Dort wird während der Beratungen in Brüssel das Parlament konsultiert. Manche Länder gehen so weit, daß ihre Parlamente den Regierungen eine eng begrenzte Marschroute für die Verhandlungen in Brüssel mitgeben.Die hier vorgetragene Grundsatzkritik an der Richtlinienpraxis wäre nicht so deutlich ausgefallen, wenn nicht das Ergebnis dieser Richtlinie im Umsatzsteuerbereich so beklagenswert wäre. Ich habe mich manchmal gefragt, welche Überlegungen - sachgemäße können es nicht gewesen sein — der Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland wohl angestellt haben mag, als er beispielsweise einen Richtlinien-Artikel akzeptierte, der dann in der transformierten deutschen Fassung zum § 3 a dieses Entwurfs eines Umsatzsteuergesetzes geführt hat. Hier muß nun das deutsche Parlament bei der bevorstehenden Abstimmung beispielsweise definieren, was als der „Ort der sonstigen Leistung" zu verstehen ist. Ich fürchte, daß die Steuerpflichtigen nur schwer zu bewegen sein werden, Verständnis für diesen Wust an Definitionen, Begriffsbestimmungen und Begriffsverwirrungen aufzubringen. Ich könnte mir das Vergnügen machen — hoffentlich auch diesem Parlament —, hier den zwei Druckspalten in der amtlichen Drucksache umfassenden neuen § 3 a vorzulesen. Als Kostprobe mag der Hinweis auf dessen Absatz 3 genügen. In diesem Absatz 3 wird erklärt, daß dann, wenn der Empfänger eine in Absatz 4 bezeichnete Leistung erhält, alles abweichend von Absatz 1 beurteilt wird und daß selbstverständlich Absatz 2 unberührt bleibt.
Der Steuerpflichtige, der von so viel Gesetzestechnik erschreckt sein wird, wird mit Sicherheit das Lesen bei § 3 a aufgeben — und würde am liebsten auch das Steuerzahlen hier aufgeben.Nun kann sich der Bundesfinanzminister nicht damit herausreden, dies sei bei der Annahme der 6. Richtlinie für ihn noch nicht vorhersehbar gewesen. Der Bundesminister der Finanzen verfügt über höchst sachkundige, hervorragende Beamte, die natürlich auf die, unlösbaren Transformationsschwierigkeiten nicht genügend ausdiskutierter Richtlinen hingewiesen haben müssen. Zu dem hier in Frage stehenden und von mir zitierten Dienstleistungsartikel bemerkt beispielsweise der Richter am Bundesfinanzhof Wachweger in seinem Kommentar zur 6. EG-Richtlinie, dies sei eine Lösung, die auf politischer Ebene im Kompromißwege gefunden worden sei, und stellt dann, unterkühlt im Ton, aber deutlich in der Zielrichtung, fest — ich zitiere wörtlich —: „Nur so ist manche fachlich nicht mehr voll verständliche Lösung erklärbar."Aber das deutsche Parlament soll nun durchaus wissen, daß es, wenn es heute diesen Paragraphen im Umsatzsteuergesetz beschließen sollte — zunächst ist ja die Beschlußfassung hier nahezu schiefgegangen —, eine Vorschrift beschließt, die noch vor ihrem Inkrafttreten am 1. Januar 1980 von diesem Parlament wieder geändert werden muß. Denn zwischenzeitlich liegt ein Vorschlag für eine 10. Richtlinie zur Umsatzsteuer-Harmonisierung vor, in welcher in schöner Offenheit gesagt wird, daß in diesem Bereich die Mitgliedstaaten „Schwierigkeiten vermelden" und daß deswegen Art. 9 der 6. Richtlinie geändert werden muß, was dann eine Änderung des § 3 a unseres neuen Umsatzsteuergesetzes nach sich ziehen wird. Das nennt man den Bürokratiestaat, der die Staatsverdrossenheit unserer Bürger hervorruft.
Die Bundesregierung und dieses Parlament einschließlich der Opposition sind aufgerufen, alles zu. vermeiden, was zu einer Staatsverdrossenheit oder gar zu einer Europa-Verdrossenheit führt.
— Ja, darum sage ich es ja hier. Auch Selbsterkenntnis hat einen Zweck.Dieses Umsatzsteuergesetz bringt nahezu nichts für die Vereinfachung des Steuerrechts. Der Bundesminister der Finanzen hat zwar in seinem Haus ein neues Referat für die Steuervereinfachung eingeführt. Ein Beitrag zur Vereinfachung des Umsatzsteuerrechts ist aber weder von diesem Referat noch von anderer Seite geleistet worden.
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12350 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. KreileWar es beispielsweise, wenn man schon stets von Steuervereinfachung und von sozialer Gestaltung des Steuerrechts redet, unabdingbar notwendig, im Umsatzsteuergesetz 1979 jetzt ausdrücklich festzuschreiben, daß Sachzuwendungen an Arbeitnehmer, für die diese kein besonderes Entgelt aufwenden, der Umsatzsteuer unterliegen? Hier handelt es sich doch meist um Sozialleistungen, die vom Unternehmer freiwillig gewährt werden, die große Bedeutung für das Betriebsklima haben, die die Verbundenheit der Arbeitnehmer mit dem Betrieb fördern sollen. Diese Sachzuwendungen sind meistens von einer Größenordnung, daß sie weder vom Arbeitnehmer noch vom Arbeitgeber als Teil des Entgelts für die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers betrachtet werden. Warum also muß, was doch ohnehin der Lohnsteuer unterliegt, auch noch der Umsatzsteuer unterworfen werden?Der Handwerker beispielsweise, der seinen Gesellen den Firmenwagen für die abendliche Nachhausefahrt zur Verfügung stellt und dafür künftig, wie wenn er ein Autoverleihunternehmer wäre, Umsatzsteuer bezahlen muß, wird das nicht verstehen. Und der Hinweis darauf, daß wir, das deutsche Parlament, von Brüssel, von der EG dazu gezwungen worden seien, wird ihm bei der nächsten Urlaubsreise nur die Frage aufdrängen, ob beispielsweise der neapolitanische Handwerksmeister für die Fahrt seines Gesellen zum Meer auch Umsatzsteuer zahlen muß.Ich habe mir, wie alle Mitglieder des Finanzausschusses, die Umsetzung dieser 6. Richtlinie in die Umsatzsteuergesetze unserer EG-Partnerstaaten angesehen. In keinem ist der einzelstaatliche Perfektionismus so weit wie bei uns getrieben worden. Die verbissene Entschlossenheit, mit der wir Deutsche unsere Grundsätze bis aufs i-Tüpfelchen in die Praxis und damit in die Gesetzgebung umsetzen, ist einer der Gründe, warum unser Steuersystem so unübersichtlich, so perfektionistisch und so bürgerfremd geworden ist.
Daß die Umsetzung der 6. EG-Richtlinie in das deutsche Umsatzsteuergesetz die perfektionistische Handschrift ebenfalls trägt, ist nun gewiß nicht die Schuld der Beamten des Bundesfinanzministeriums oder der Länderfinanzministerien, denen ich ebenso wie den beteiligten Damen und Herren des Sekretariats des Finanzausschusses für ihre Mühen und ihren Einsatz besonderen Dank aussprechen möchte. Dem Dank, den mein verehrter Kollege Kühbacher vorhin generell ausgesprochen hat, schließe ich mich sehr gerne an. Sie versuchen sicherlich, im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Gesetze und Verordnungen so einfach wie möglich zu gestalten. Doch der Anstoß für die Vereinfachung muß von der politischen Spitze des Ministeriums und auch von diesem Hause ausgehen. Er darf sich nicht in Verbalismen erschöpfen.
Der der Fraktion der CDU/CSU angehörende Berichterstatter zu diesem Gesetz, mein verehrter Freund und Kollege Dr. Meyer zu Bentrup, hat in der zweiten Lesung die Änderungsanträge aufgeführt, welche die CDU/CSU-Fraktion im Finanzausschuß gestellt hat und die von der SPD/ FDP-Koalition zurückgewiesen worden sind. Ich habe angesichts der Geschlossenheit dieser Zurückweisung SPD und FDP als Blockparteien bezeichnet.
Da die FDP diese Bezeichnung für undemokratisch, für unparlamentarisch, ja geradezu für ehrenrührig hält — meine Damen und Herren von der SPD, Sie müssen sich vorstellen, daß man es für ehrenrührig hält, mit Ihnen eine Blockpartei zu sein —, muß ich an einem besonderen Beispiel nochmals auf die Funktion und die Arbeitsweise der Blockparteien SPD und FDP eingehen.
Seit der Einführung des Umsatzsteuergesetzes sind sich nahezu alle Sachkenner darin einig, daß die unterschiedliche Behandlung von Speiseumsätzen in Gaststätten über den Ladentisch steuersystematisch schwer erträglich und nur aus der besonderen Haushaltslage bei der Einführung des Mehrwertsteuergesetzes im Jahre 1968 zu rechtfertigen war. In den vergangenen Jahren wurde immer deutlicher, daß durch die volle Belastung der Speiseumsätze in der Gastronomie die deutsche Gastronomie einen erheblichen Wettbewerbsnachteil gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten erleidet. Deswegen haben nahezu alle Politiker, die sich mit Steuerfragen befassen, in den vergangenen Jahren darauf hingewiesen, daß bei der Neugestaltung des Umsatzsteuerrechts dieses Problem überdacht werden müsse. Insbesondere die FDP konnte sich gar nicht genug tun, darauf hinzuweisen, sie habe sich schon immer, vor allem bei der Einführung der Mehrwertsteuer, dafür ausgesprochen, diese Speisen- und Getränkeumsätze im Gaststättengewerbe nur mit dem halben Steuersatz zu erfassen.
Der Fraktionsvorsitzende der FDP, unser verehrter Kollege Wolfgang Mischnick, hat noch im April 1978 erklärt, daß die Forderung nach Streichung der Ausnahmebestimmung des § 12 des Umsatzsteuergesetzes im Rahmen der anstehenden Beratung des Umsatzsteuergesetzes unterstützt werde.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kühbacher?
Ich würde gern diesen Teil meiner Ausführungen zu Ende bringen, denn dann kann Herr Kühbacher sicherlich die Zwischenfrage noch sachkundiger stellen.Die CDU/CSU-Fraktion hat in der Sitzung des Finanzausschusses vom 22. April 1979 diesen Antrag gestellt. Entgegen allen anderslautenden Erklärungen vorher hat die FDP die Unterstützung dieses Antrags verweigert.
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Dr. KreileDies mußte um so mehr überraschen, als der Parteivorsitzende der FDP, Herr Bundesaußenminister Genscher, noch am 1. Juli 1978 in einem vielfach veröffentlichten Schreiben die Unterstützung der FDP für diesen Herabsetzungsantrag angekündigt hat.
Ich möchte wenigstens einige Zeilen dieses bemerkenswerten Schreibens von Herrn Genscher an den Deutschen Hotel- und Gaststättenverband zitieren. Der FDP-Parteivorsitzende wiederholt zunächst, die FDP habe sich schon bei der Einführung der Mehrwertsteuer dafür eingesetzt, die Umsatzsteuer für Speisen und Getränke im Gastgewerbe nur mit dem halben Steuersatz zu belegen, was heute den Satz von 6 % bedeuten würde.Er fährt dann wörtlich fort:An der Meinung meiner Partei hat sich in dieser Frage nichts geändert. Aus diesem Grunde werden wir auch Ihre Forderungen nach Streichung der Ausnahmebestimmung des § 12 Abs. 2 Ziffer 1 Satz 2 des Umsatzsteuergesetzes im Rahmen der anstehenden Beratung des Umsatzsteuergesetzes 1939 unterstützen.
Herr Genscher weist dann darauf hin, daß angesichts der Steuermindereinnahmen von 1,5 Milliarden DM allerdings der Bundesfinanzminister glaubt, auf die bisherige Besteuerung nicht verzichten zu können.
Er schließt mit dem Satz:Es ist daher fraglich, ob sich für Ihr Anliegen eine Mehrheit finden wird.
Nachdem im Finanzausschuß nicht mehr fraglich war, ob sich eine Mehrheit für diesen Antrag findet, sondern feststand, daß diese Mehrheit durch die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion mit denen der FDP möglich wäre, stimmte die FDP entgegen den Ankündigungen ihres Fraktionsvorsitzenden Mischnick und ihres Parteivorsitzenden Genscher gegen den von ihr vorher befürworteten Antrag.
Ich erlaube mir, ein solches Verhalten das Verhalten von Blockparteien zu nennen.
Besonders erschreckend an diesem Vorgang ist die Unbekümmertheit, mit der Ankündigungen in die Welt gesetzt wurden. Die Erklärung des Fraktionsvorsitzenden Mischnick vom 13. April 1979 kann noch damit entschuldigt werden, daß der Beschluß des Bundeskabinetts vom 5. Mai, es bei der hohen Besteuerung zu belassen, für ihn nicht vorhersehbar war. Es ist auch schwierig für einen Fraktionsvorsitzenden einer Regierungspartei, zu wissen, was das Kabinett drei Wochen später beschließen wird.
Aber als der FDP-Vorsitzende, Herr Bundesminister Genscher, seinen Brief vom 1. Juli 1978 mit der Zusage, sich für den halben Mehrwertsteuersatz einzusetzen, absandte, war der auch von ihm getragene Kabinettsbeschluß am 5. Mai 1978 längst gefallen. Er hat also der Offentlichkeit in seinem Schreiben vom 1. Juli 1978 lediglich vorgespiegelt, er und seine Partei würden, wenn sie eine Mehrheit fänden, für die Herabsetzung der Mehrwertsteuer sein. Dieser Spiegel, der ihm jetzt vorgehalten werden müßte, ist zerbrochen.
Ist schon vieles an diesem neuen Umsatzsteuergesetz schwer verständlich, völlig unverständlich ist es, daß die Bundesregierung und die SPD /FDP-Koalition nicht die Chance genutzt haben, es bei dem in der Regierungsvorlage enthaltenen Umsatzsteuersatz von 12 % zu belassen, sondern auch dieses Umsatzsteuergesetz genutzt haben, um die im Steueränderungsgesetz 1979 schon damals nicht unbestrittene Mehrwertsteuererhöhung zu wiederholen und zu bekräftigen. Die Erhöhung des Umsatzsteuersatzes von 12 % auf 13 % ist weder unter europäischen Gesichtspunkten noch unter konjunkturellen Gesichtspunkten zu rechtfertigen.Der Hinweis darauf, in anderen europäischen Staaten sei der Umsatzsteuersatz höher, rechtfertigt keine Umsatzsteuererhöhung in Deutschland. Erst eine kommende Harmonisierung des Umsatzsteuersatzes wird die Europäischen Gemeinschaften zu einem einheitlichen Binnenmarkt gestalten. Bis dahin kann und muß es bei unterschiedlichen Umsatzsteuersätzen bleiben, die sich nach dem jeweiligen Verhältnis zwischen direkten und indirekten Steuern in den einzelnen Staaten richten.Vorrangig ist aber, daß sich die Anhebung des Umsatzsteuersatzes auf 13 % und gerade auch die Anhebung des aus sozialen Gründen halbierten Steuersatzes von 6 % auf 6,5 % konjunkturpolitisch jetzt in keiner Weise mehr rechtfertigen lassen.
Natürlich spricht er.Die Beibehaltung und Fortführung der Pläne zur Erhöhung der Umsatzsteuer von 12 % auf 13 % ist unnötig, weil die durch das Steueränderungsgesetz 1939 vorgesehenen Umsatzsteuererleichterungen bei weitem nicht die Haushaltsauswirkungen haben, die geschätzt worden sind. Auf Grund der neuen Steuerschätzungen sind allein für 1979 Steuermehreinnahmen von 5,3 Milliarden DM zu erwarten.
Dies bedeutet, daß damit nicht nur die 3,5 Milliarden DM, die man im Steueränderungsgesetz 1979 an
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Dr. KreileMehreinnahmen aus der Steuersatzerhöhung angesetzt hat, gedeckt sind, sondern daß bei einem Verzicht auf die Erhöhung noch ein Steuermehraufkommen von 1,8 Milliarden DM bleibt. Sowohl haushalts- wie finanzpolitisch besteht deswegen keine Veranlassung mehr, aber auch keine Rechtfertigung für diese Umsatzsteuererhöhung.Die Erhöhung wäre aber und wird, fürchte ich, preistreibend sein und ist deswegen konjunkturpolitisch falsch. Es gehört doch zum kleinen Einmaleins der Steuerpolitik, daß Steuererhöhungen, die so unmittelbar auf die Preise eingehen wie Mehrwertsteuererhöhungen, allenfalls in einer Phase abflachender oder stetiger Konjunktur vorgenommen werden dürfen. Im Zeichen einer wieder in Bewegung kommenden Preisspirale ist eine Mehrwertsteuererhöhung Gift.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Herr Huonker.
Herr Dr. Kreile, sind Sie, nachdem Sie jetzt so sinngemäß die Rede Ihres im Bundesrat unterlegenen Finanzministers von Bayern vorgelesen haben, bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das, was Sie hier vortragen, nicht einmal von der Mehrheit im Bundesrat, d. h. von den CDU-regierten Ländern, geteilt wird und sind Sie bereit, hier zu der Feststellung ja zu sagen, daß das, was Sie hier vortragen, am Freitag der vergangenen Woche keine Mehrheit im Bundesrat gefunden hat?
Ja, Herr Kollege Huonker, ich bin gerne bereit, Ihnen zuzugeben, daß richtige Gedankengänge sich manchmal erst schwer durchsetzen lassen.
Gleichwohl sind die Gedankengänge durchaus richtig. Ich meine, es steht uns allen gut an, sie nochmals, und zwar ohne Beharrung auf Justamentstandpunkten zu überdenken. Es muß doch einsichtig sein, Herr Kollege Huonker, daß, wenn die Preissteigerungsrate nicht mehr bei 3 % bleibt — was wir alle befürchten, auch Sie befürchten —, wenn, wie wir alle miteinander befürchten, möglicherweise eine Vier vor dem Komma steht oder, wie manche —nicht nur berufsmäßige Schwarzseher — befürchten, möglicherweise eine Fünf vor dem Komma steht, die Steuerpolitik gegenzusteuern hat.
Ich bin nicht bereit zuzugeben, daß man Steuerpolitik nur unter Haushaltsgesichtspunkten machen kann. Vor dieser Gefahr sind natürlich alle Landesfinanzminister nicht gefeit. Man muß die Konjunkturpolitik in unserer Wirtschaft als eigenes wichtiges Element betrachten. Wenn wir in unserem Land sozialen Frieden haben wollen, wenn wir keine Inflation haben wollen, müssen wir sinnvollerweise hier und jetzt das Feuer, das wir möglicherweise
mit einer Mehrwertsteuererhöhung anblasen, gemeinsam ersticken. Ich meine, wir sollten uns das gemeinsam überlegen und unsere Standpunkte jetzt nicht allzu festschreiben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Matthäus?
Gerne, gnädige Frau.
Herr Dr. Kreile, darf ich aus Ihren Äußerungen schließen, daß auch die Gedankengänge Ihrer Kollegen im Finanzausschuß recht langsam sind? Denn auch dort haben nicht alle dem Verschiebungsantrag zugestimmt.
Sehr verehrte gnädige Frau, die Überlegungen meiner verehrten Kollegen im Finanzausschuß sind manchmal, was der Sinn einer Debatte ist, noch diskursiv.
Auch dort geht es darum, richtige Gedankengänge durchzusetzen.Ich möchte ein treffendes Beispiel darstellen und sagen — ab und zu muß man ja auch mal die Bundesregierung loben —, auch die Bundesregierung hat — recht langsam — dazugelernt. Im vergangenen Frühjahr hat sie gesagt, sei es ganz unmöglich, jemals in dieser Legislaturperiode Steuersatzermäßigungen, Einkommensteuerermäßigungen vorzunehmen. Der Herr Bundesfinanzminister und seine Mannen sind durch die Lande gereist und haben gesagt: Niemals. Wenn wir gesagt haben: „Aber wenn Herr Carter hiergewesen sein wird, werden Sie doch wahrscheinlich anders denken", wurde das schlankweg abgelehnt. Ich muß sagen, ich fand es bemerkenswert für die Einsichtsfähigkeit dieser Bundesregierung, daß sie, mag der Anstoß auch von außen gekommen sein, sich aufgerafft hat, entgegen dem, was sie in der Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislaturperiode gesagt hat, weitere Steuersenkungen vorgeschlagen hat.Ich meine, wir müßten in unserer finanzpolitischen Debatte grundsätzlich so weit kommen, daß wir aufeinander hören, daß wir nicht alle Ihre Argumente a limine abweisen, daß aber auch unsere Argumente und unsere konjunkturpolitischen Befürchtungen miteinander diskursiv diskutiert werden und gesagt wird: Vielleicht hat er doch recht, vielleicht sollte man das machen.
Wenn Sie etwas machen — ich bedaure, daß ich das sagen muß, wo ich gerade in so versöhnlicher Stimmung bin —, machen Sie es doch immer viel zu spät. Deswegen sagen wir sehr früh, daß jetzt
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12353
Dr. KreileOrt und Stunde wäre, eine falsche Entscheidung zurückzunehmen.
— Herr Huonker, lassen Sie mich schnell noch einen Satz sagen. Es ist ja nicht so, daß man bei allem, was man im Vermittlungsausschuß vereinbart hat, bleiben muß. Wer sich heute auf Vermittlungsausschußergebnisse beruft, der ist ganz sicherlich der letzte, der dann in anderen Bereichen, wo man im Vermittlungsausschuß auch einen Beschluß gefaßt hat, sagen darf, hier müßte das Vermittlungsausschußergebnis geändert werden. Ich nehme damit gleich einen Diskussionsbeitrag, der nachher kommen wird, vorweg.
Herr
Kreile, lassen Sie eine Zusatzfrage zu?
Herr Kollege Kreile, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es in der Ihnen nahestehenden Zeitung „Bayern-Kurier" vom 19. Mai unter der Überschrift „Vertane Mehrwertsteuer- chance" wörtlich heißt — ich zitiere —: „Die CDU hat wieder einmal eine Chance vertan, politische Glaubwürdigkeit, kraftvolle Opposition und sachliche Kompetenz zu beweisen"? Es ist die Rede von der Erhöhung der Mehrwertsteuer. Würden Sie mir zustimmen, daß es ein relativ schwächlicher Versuch ist, die Niederlage der Opposition insgesamt im Bundesrat am vergangenen Freitag jetzt in einer Art Aufguß mit sehr lauwarmem Wasser zu später Stunde im Bundestag zu wiederholen?
Also, verehrter Herr Kollege, den Aufguß mit lauwarmem Wasser kann ich hier überhaupt nicht verspüren.
Ein konjunkturpolitisch richtiges Argument wird auch durch zufällige Mehrheitsentscheidungen noch nicht falsch.
Worum es mir hier geht, ist folgendes, und das ist, der Punkt, weswegen wir dieses Gesetz — um jetzt einmal im Klartext zu sprechen — heute ablehnen werden.
— Sie haben es in der zweiten Lesung überhaupt erst nach mühsamem Auszählen zu Beginn zustande bekommen.
— Es steht mir nicht zu, von dieser Stelle aus Kritik an der Amtsführung des Präsidenten zu üben.
Aber es steht mir sehr wohl zu, hier zu sagen: Das konjunkturpolitische Argument — das wissen Sie ganz genau —, das hier vorgetragen worden ist, ist richtig. Sie haben die gleiche Angst wie alle, die etwas von Konjunkturpolitik verstehen, daß diese Umsatzsteuererhöhung den Inflationshebel ansetzt, das Inflationsschwungrad schneller in Bewegung setzt. Wir sollten alle dazu beitragen, das Inflationsschwungrad wieder zu verlangsamen. Ich befürchte sehr, wenn Sie heute nicht dazu bereit sind, daß wir es später tun werden, aber daß es dann zu spät sein wird.
— Ihr Zwischenruf läuft wieder auf das gleiche hinaus.
— Ich bin dafür, daß wir hier konjunkturpolitische Argumente gemeinsam diskutieren. Sie werden noch sehen, wie richtig dieses konjunkturpolitische Argument war und wie verderblich es war, daß Sie diesen Gedanken heute nicht gefolgt sind.
Meine Damen und Herren, ,dieses neue Umsatzsteuergesetz ist alles in allem kein gutes Gesetz. In seinem Perfektionismus belastet es den deutschen Steuerbürger über Gebühr. Es widerspricht jeder notwendigen Vereinfachung des deutschen Steuerrechts und widerspricht der konjunkturpolitischen Vernunft. Es kann die Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion nicht finden.
Das Wort
hat der Herr Abgeordnete Kühbacher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben soeben eine Rede gehört, die — so möchte ich es bezeichnen — wider besseres Wissen, sicher aber wohl mit Gewissen gehalten wurde.
Denn, Herr Kollege Kreile, viele Passagen Ihrer Rede waren vom Geist des großen Zampano diktiert, dessen Befehl hier, wie man weiß, nur widerwillig angenommen wird, des großen Zampano aus dem Freistaat Bayern, der, nachdem man sich eigentlich darin einig war, das Umsatzsteuergesetz einvernehmlich zu beschließen, beschlossen hatte, hier dazwischenzufunken. Man merkte es ja auch Ihren Ausführungen an, daß Sie auch gern die umfängliche Beratung über die Sechste Richtlinie, Ihren großen Beitrag zu diesem Gesetz, hätten darstellen wollen. Sie durften nur nicht, weil ein anderer Befehl aus Bayern kam.
Auf die konjunkturelle Argumentation, Herr Kollege Kreile, gehe ich zum Schluß noch nicht einmal ein, weil ich hoffe, daß bis dahin Ihr Kollege Win-
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12354 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Kühbacherdelen, der verehrte Vorsitzende des Haushaltsausschusses, hier ist, dessen Unterschrift der Bericht des Haushaltsausschusses trägt. Darin steht ein bezeichnender Satz zur Frage des Steuerausfalls von 3,5 Milliarden DM. Dieser Gedanke würde Herrn Windelen, wenn man das zu Ende führte, etwas sagen. Hier wird deutlich: der große Zampano dort, Haushaltskonsolidierung durch Herrn Windelen an dieser Stelle, in diesem Hause, der Widerspruch und das Nein-sagen-Wollen zu einer vernünftigen Politik aus Gründen, die ganz woanders liegen.
Sie wollen eigentlich konstruktiv sein; aber Sie müssen Obstruktion üben, weil es Herr Franz Josef Strauß so beschlossen hat.
— Dies ist der Punkt.Meine Damen und Herren, das Umsatzsteuergesetz in der jetzigen Fassung hat eine lange Vorgeschichte. Die Sechste Richtlinie dient dazu — ich sage es einmal ganz einfach —, eine einheitliche, auf einem Bein stehende Finanzierungsgrundlage für die Europäische Gemeinschaft zu schaffen. Dieses einheitliche Recht ist notwendig, weil 1 % der Umsatzsteuereinnahmen in ganz Europa dazu dienen soll, den EG-Haushalt mit zu finanzieren. Aus diesem Grunde muß man überall in Europa einheitliches Recht haben. Es war ein schwieriger Prozeß, sich den Gedanken einer gleichmäßigen Besteuerung, einer gerechten Besteuerung in ganz Europa anzueignen, ein mühsamer Kompromiß, weil Besteuerungstatsachen von Sizilien bis Irland oder von Braunschweig bis in die Bretagne einheitlich gewürdigt werden müssen.
— Von Berlin, um noch weiter östlich zu gehen.Der Deutsche Bundestag hat in der vergangenen Legislaturperiode die Sechste Richtlinie hier zur Beschlußfassung gehabt und hat der Drucksache 7/913 eine umfangreiche Empfehlung hinzugefügt. Diese Empfehlung, verehrter Herr Dr. Kreile, ist im Finanzausschuß des damaligen Bundestages und hier im Plenum damals einvernehmlich mit bestimmten Auflagen an die Regierung verabschiedet worden.Ich darf mich nochmals für das Engagement des Finanzausschusses der letzten Legislaturperiode bedanken, an der Harmonisierungsrichtlinie — quer durch die Parteien — in der Absicht mitzuwirken, die Harmonisierung und Einheitlichkeit auf diesem Gebiet in Europa herzustellen. Diese Absicht stand immer dahinter. Aus diesem Grunde — das weiß ich — würden Sie ja gerne kurz vor den Europawahlen dieser Rechtsgrundlage heute zustimmen wollen; Sie dürfen nur nicht.Dieses Umsetzen ins nationale Recht, Herr Dr. Kreile, hat dann — ich erwähne das noch einmal — im Ausschuß Ihre besondere Mithilfe gefunden. Die Verästelungen und Ziselierungen, die Sie in der Ausschußberatung ja doch besonders auf denPunkt geführt haben, wurden auch aus Ihrer Rede hier noch einmal deutlich, so insbesondere, als Sie über den § 3 a, den Ort der Leistung — ich gebe zu, daß es auch für eingeweihte Mitglieder des Finanzausschusses nur sehr schwer verständlich ist —, hier noch einmal im einzelnen gesprochen und über die Verweisungen des Abs. 4 in Abs. 3 und Abs. 1 unter Aussparung des Abs. 2 berichtet haben. Es ist ein schwieriges Gesetz; aber ich bedanke mich noch einmal für die Mitarbeit. Ich weiß, Sie hätten im Herzen zustimmen wollen,
weil es Ihre Handschrift trägt. — Dies betone ich auch, Herr Dr. Langner, weil es seltsam ist, daß man, wenn man so intensiv an einem Gesetz mitgearbeitet hat, hier gegen das Gesetz aus übergeordneten strategischen Gesichtspunkten reden muß.
Das zeigt, daß der Sachverstand beiseite geschoben wird, wenn es der CDU/CSU in den Kram paßt. Das ist zu vermerken; es ist nicht zu beklagen. Sie müßten es eigentlich selbst bedauern.
Meine Damen und Herren, zu diesem Umsatzsteuergesetz sind vom Deutschen Bundestag 48 Verbände gehört worden. Wir haben darüber hinaus 90 Eingaben interessierter Kreise und Gruppierungen zu diesem Gesetz gehabt, die überall einen kleinen Punkt ansprachen und eine Änderung, eine Verbesserung wünschten. Wir haben versucht, dem Rechnung zu tragen. Wir haben abgewogen, ob wir dies tun könnten. Das hat das Gesetz in der Tat nicht vereinfacht. Aber man muß diesen Gesetzgebungsprozeß sehen: daß Verbände ihre Ansichten vortragen; es ist ja wohl ihr gutes Recht und wahrscheinlich ihre Aufgabe. Ich nenne einmal welche: der Deutsche Industrie- und Handelstag, der Bundesverband der Deutschen Industrie, die Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmer und so nach dem ABC weiterlaufend. Sie können das nachlesen. 48 Verbände haben sich geäußert. So ehrenwerte Einrichtungen wie der Bundesverband der Zeitungsverleger, der Bauernverband und das Kfz-Gewerbe haben Wünsche angemeldet und Änderungen gewünscht; wir mußten sie. mit beraten. Das hat natürlich zu Veränderungen in den einzelnen Punkten geführt. Das Gesetz wird nicht einfacher, wenn man alle Gegebenheiten des wirschaftlichen Ablaufs berücksichtigen will. Ich danke eigentlich allen, die uns auf bestimmte Punkte hingewiesen haben.Eine bestimmte Passage der Beratung im Ausschuß und der sich daran anschließenden Öffentlichkeitsarbeit will ich aber auch noch einmal würdigen. Wir mußten schon an anderer Stelle feststellen, daß es natürlich einfach ist, aus einer bestimmten Sicht heraus Gruppierungen, die an die Gesetzesberatung Erwartungen geknüpft hatten, Versprechungen zu machen. Ich habe an anderer Stelle gesagt, daß es, bildlich gesprochen, so war, daß man den Gastwirten Honig vors Maul geschmiert hat, damit sie darauffliegen, als man an-
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Kühbacherkündigte, man würde den Gastwirten 1,5 Milliarden DM Steuern nachlassen.
— Nein, ich meine die CDU, die den Eindruck erweckt hatte, sie wolle dies ernstlich. Wie ernstlich Sei es gewollt haben, meine Damen und Herren, sehen Sie daran, daß Sie hier nicht einmal einen Änderungsantrag stellen. Das nenne ich Honig vors Maul schmieren.
Dann stehen Sie nicht an und machen hier im Plenum des Deutschen Bundestages einen Änderungsantrag. Das nenne ich unredlich.
— Sehen Sie, Herr Dr. Schäuble, das ist genau das, was ich Ihnen vorwerfe. Sie stellen zum Schein Änderungsanträge, weil Sie wissen, daß sie doch abgelehnt werden. Das ist unredlich gegenüber der betroffenen Gruppe. Sie stellen solche Anträge und wissen, daß sie abgelehnt werden.
Ich werfe Ihnen das vor, weil es unredlich ist, Anträge in der Gewißheit zu stellen, sie würden hier abgelehnt. Und wenn er denn angenommen worden wäre, Herr Schäuble, was hätten Sie denn mit Herrn Leisler-Kiep, mit Herrn Gaddum angesichts der Ausfälle gemacht? Ich komme auf diesen Punkt zurück.
Herr Abgeordneter Kühbacher, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte diesen Gedanken zu Ende führen. — Ich komme auf den Bericht des Haushaltsausschusses noch zurück: „Die auf den Bundeshaushalt entfallenden Steuermindereinnahmen werden in der Finanzplanung entsprechend berücksichtigt werden. Der Gesetzentwurf wird aus übergeordneten Gründen als vereinbar mit der Haushaltslage erklärt." Bei 225 Millionen DM Steuerausfall beschließt der Haushaltsausschuß einstimmig: Aus übergeordneten Gesichtspunkten kann man diesen Haushaltsausfall hinnehmen. Sie wollten auf 1,5 Milliarden DM verzichten. Im Haushaltsausschuß wurde dies beklagt, und Sie sagen: Na, bitte schön, 1,5 Milliarden DM, dann nur zu. Ich werfe Ihnen dies vor, weil dies unredlich ist.
Herr Abgeordneter Kühbacher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schäuble?
Ja.
Herr Kollege Kühbacher, da Sie es so mit der Redlichkeit haben: Halten Sie es denn für redlich, daß der Vorsitzende einer im Bundestag vertretenen Partei einem Verband die
Unterstützung seiner Partei für diesen Antrag schriftlich zusagt und dann die Vertreter dieser Partei gegen diesen Antrag stimmen?
Herr Kollege Schäuble, ich stehe an, aus der Vergangenheit zu berichten, daß die FDP bei der Beratung des Verzehrs an Ort und Stelle ihre Position nie verändert hat.
— Nein, eben nicht.
— Nein. Während der Großen Koalition, Herr Kollege Schäuble, hat die FDP gegen die Stimmen der CDU und der SPD ihre Position — halber Steuersatz für Verzehr an Ort und Stelle — nicht durchsetzen können. Dies ist in der Großen Koalition beschlossen worden.
— Ja, sehen Sie, das wollen Sie jetzt nicht mehr hören, daß Sie dieses damals gegenüber den Gastwirten mit beschlossen haben. Sie wollen den Gastwirten einreden, sie wären die Besten.
Nunmehr hat Herr Genscher gesagt, der Sache nach
— lassen Sie mich bitte ausreden — würde er das sehr gern tun. Ich kann seine Auffassung nicht teilen, weil ich inhaltlich anderer Meinung bin. Er fügte an, daß er jedoch keine Mehrheit sehe, weil die Finanzierung der 1,5 Milliarden DM nicht gesichert sei.
Er hat gesagt: Dieser Antrag, dieses Begehren wird keine Mehrheit finden.
Der Antrag konnte natürlich keine Mehrheit finden — —
Herr Abgeordneter Kühbacher, wollen Sie noch eine Zusatzfrage des Abgeordneten Voss zulassen?
Sehr gern; ich würde nur gern den Satz zu Ende sprechen. Ansonsten lasse ich Zwischenfragen sehr gern zu.
Ich weise Sie nur auf den Ablauf der Redezeit hin.
Ja. — Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß ein Ausfall in Höhe von 1,5 Milliarden DM abgestimmt werden muß, auch wenn man in der Sache anderer Meinung ist. Diesen Abstimmungsprozeß haben wir durchgeführt. Diesen
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KühbacherAbstimmungsprozeß hat Herr Genscher eingeläutet, indem er darauf hingewiesen hat: Dafür wird es keine Mehrheit geben; bitte schön, bescheidet Euch. Das ist der Tatbestand.Ich kann doch niemandem aus einer anderen Partei vorwerfen, daß er sich in einer Koalition unter übergeordneten Gesichtspunkten einordnet. Wir sind für die Gesamtinteressen des Staates verantwortlich und nicht nur für Gruppeninteressen.
Herr Kollege, es stehen zwei Zusatzfragen an.
Gestatten Sie zunächst eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Voss?
Ich lasse beide Zwischenfragen nacheinander zu und beantworte sie gemeinsam.
Das geht nicht, Herr Kollege.
Herr Kollege Kühbacher, können Sie mir einen Antrag nennen, der von Ihnen im Finanzausschuß abgelehnt worden ist und der, nachdem er hier im Plenum erneut gestellt wurde, von Ihnen angenommen worden ist?
Herr Kollege Voss, ich sehe Ihre Argumentation nicht.
— Ich kritisiere, daß Sie Schauanträge stellen, um Gruppen einzufangen.
Wollen Sie jetzt noch die Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schäuble zulassen?
Wenn es Herrn Dr. Schäuble drängt, gern.
Herr Kollege Kühbacher, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß Sie den Herrn Bundesvorsitzenden der Freien Demokratischen Partei falsch zitiert haben?
Er hat nämlich geschrieben:
Aus' diesem Grunde werden wir auch Ihre Forderung nach Streichung der Ausnahmebestimmung
— ich lasse jetzt etwas aus —
im Rahmen der anstehenden Beratungen des Umsatzsteuergesetzes 1979 unterstützen.
Und dann schreibt er im letzten Satz lediglich:
Es ist allerdings fraglich, ob sich für Ihr Anliegen eine Mehrheit finden wird.
Aber er läßt keinen Zweifel daran, daß die FDP das Anliegen unterstützen wird.
Herr Kollege Schäuble, ich kann nicht über jede Koalitionsverhandlung sprechen, aber ich kann sagen, daß da gekämpft worden ist und daß wir, die SPD, gegengehalten haben. Dann haben wir einen Kompromiß gefunden.
— Dies ist Ihre Art der Darstellung. Wenn Sie mit Ihrer Interessenklüngelei nicht durchkommen, ist das „Umfall", wenn wir einen Koalitionskompromiß machen, zählt das für Sie nicht. Ich finde, es ist schon eine anständige Haltung, daß man sich in das Gesamtinteresse des Staates einordnet und nicht da, wo man gerade Wähler vermutet, etwas in der Hoffnung hinausbläst, es werde doch abgelehnt.
— Ja, das paßt Ihnen nicht, daß es hier gesamtstaatliche Interessen gibt. Diese gesamtstaatlichen Interessen, meine Damen und Herren, werden ja auch bei Ihnen nur in Teilen akzeptiert.Ich habe mich eigentlich gewundert, daß der Antrag mit 3,5 Milliarden DM Haushaltsausfall durch Rückgängigmachung der hier bereits gemeinschaftlich beschlossenen Mehrwertsteuererhöhung nicht erneut gestellt worden ist. Herr Dr. Kreile hat dazu einige Ausführungen in konjunktureller Sicht gemacht, die in der Tat zu überlegen sind. Nur müssen wir doch eines abwägen: ob man der konjunkturellen Bewertung ein solches Übergewicht gibt oder ob man sich überlegt, daß die Haushaltskonsolidierung ein wichtiger Gesichtspunkt ist.Ich freue mich, hier den Kollegen Haase aus dem Haushaltsausschuß zu sehen. Überall in diesem Land — ich glaube, auch noch am gestrigen Tage -hat der große Zampano gesagt, mit der Verschuldung müsse Schluß gemacht werden, wir müßten die Einnahmen steigern, um die Verschuldung zu mindern.
Nichts anderes wird in diesem Fall passieren. Sie sagen einfach: Wir verzichten à la longue auf 3,5 Milliarden DM. Dies nenne ich ein Spiel mit gezinkten Karten. Sie werfen der Regierung vor, sie treibe die Verschuldung hoch, aber gleichzeitig
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Kühbacherwollen Sie sie von den Einnahmen abnabeln, und zwar aus konjunkturellen Gründen. Das ist ein Spiel mit gezinkten Karten.
Nun noch ein Wort zur Frage der Steuervereinfachung, die durch dieses Gesetz geschaffen wird. Meine Damen und Herren, wir haben die Anregungen des Bundesrats sehr ernst genommen. Ich meine, es ist ein Erfolg für die Beratung im Finanzausschuß, daß wir es erreicht haben, daß bei den Finanzämtern künftig 3,5 Millionen Steuervorgänge wegfallen werden.
Das ist, wie ich zugebe, ein bescheidener Erfolg. Er kommt aber bei der Hälfte der Steuerpflichtigen an. Das kann nicht hoch genug bewertet werden, weil uns allen Steuervereinfachung und Entbürokratisierung am Herzen liegen.Sicherlich wird das Gesetz für den einzelnen Bürger schwer zu lesen sein. Aber da mit dem Umsatzsteuergesetz zum größten Teil nur Steuerberater zu tun haben, werden die Änderungen ohne weiteres bereitwillig aufgenommen. Wir haben mit dem halbjährlichen Vorlauf für die deutsche Wirtschaft — ich hoffe, der Bundesrat wird hier mitziehen -die nötige Einstellungszeit geschaffen.Mit diesem Gesetz erreichen wir zwar keinen großen politischen Erfolg — denn wir hatten europäische Kompromisse umzusetzen —, aber wir haben hier im Bundestag damit ein großes Stück Arbeit geleistet. Aus diesem Grunde bitte ich um Zustimmung zu diesem Gesetz.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Funcke.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Was wir heute abend zu beraten und abzuschließen haben, ist ein Schritt auf dem Weg, der vor mehr als zehn Jahren begonnen worden ist, nämlich die Umsatzsteuer im europäischen Bereich zu harmonisieren.
Es waren Etappen vorgegeben. Die erste Etappe war die grundsätzliche Einführung der Mehrwertsteuer in allen EG-Staaten, und zwar nach dem Prinzip des Vorsteuerabzugs. Das war in den ersten beiden Richtlinien festgelegt. Die zweite Etappe besteht in einer Harmonisierung der Modalitäten. Sie ist vom Ministerrat nach langen Beratungen mit der 6. Umsatzsteuerrichtlinie beschlossen worden und muß nun in das nationale Recht übernommen werden. Die dritte Etappe wird dann die Harmonisierung der Steuersätze sein, zunächst einmal in ihrer Anzahl und eines Tages auch in der absoluten Höhe oder in einer bestimmten Spannweite.
Diese etappenweise Einführung hat ihren guten Sinn. Ich bin etwas erstaunt, daß jetzt plötzlich seitens der Opposition diesem bisher allgemein übereinstimmenden Fortgang der Harmonisierung ein
Riegel vorgeschoben werden soll. Herr Kreile, es stimmt doch nicht, daß hier der Ministerrat ohne Rückkopplung mit den Parlamenten überhastet gehandelt hätte. Sie sind selber lange genug im Ausschuß, um zu wissen, daß wir die 6. Richtlinie gelegentlich beraten und unsere Regierung natürlich beauftragt oder gebeten haben, das nationale Recht, soweit wie irgend möglich, gegenüber den Vorstellungen anderer Länder sicherzustellen. Aber Sie sind doch auch lange genug ein erfahrener Politiker, um zu wissen: Wenn neun Partner miteinander verhandeln, kann sich nicht ein einziger total durchsetzen. Das gibt es nicht. Da gibt es natürlich, abweichend von sachlichen Erwägungen, nachher politische Lösungen. Aber wie anders glauben Sie von der Opposition denn, daß man Europa bauen kann, wenn man nicht bereit ist, im Konzert von neun gelegentlich auch Kompromisse zu schließen? Der Kompromiß ist die einzige Möglichkeit, Europa zu bauen.
Ich sehe mit Interesse, wie Sie am Vorabend einer europäischen Wahl eine Inszenierung veranstalten, in der eine Sache, die im Ausschuß weitgehend übereinstimmend behandelt worden ist, plötzlich zu einem absoluten Gegensatz hinaufstilisiert wird.
Ich habe mich die ganze Zeit Ihrer Rede, Herr Kreile, gewundert und mir gesagt: Das kann doch nicht wahr sein, daß jetzt eine totale Ablehnung von Ihrer Seite kommt.
Und ich habe mich gewundert, wie Sie das begründet haben. Aber der Zwischenruf von Herrn Kollegen Kühbacher hat das dankenswerterweise klargestellt. Auf den Zuruf nämlich: da spricht Franz Josef Strauß, haben Sie gesagt: Ja, natürlich. So wissen wir, wer hier die Regie führt und der große Meister ist. Das ist in der Sache etwas erstaunlich für uns, die wir über ein Jahr lang in vielfacher Übereinstimmung an diesem Gesetz gearbeitet haben und weithin gleicher Meinung gewesen sind.
Nun hat Herr Kollege Meyer zu Bentrup eine Berichterstattung abgegeben, bei der seltsamerweise zwar über alle CDU/CSU-Anträge und ihr Ergebnis sorgfältig berichtet wurde, aber die übrigen Anträge, die gestellt wurden und bei denen der „Gesamtblock" des Finanzausschusses, also einschließlich der CDU/CSU, einmütig, „blockmäßig" abgestimmt hat, nicht erwähnt wurden.
Dabei waren wir ein sehr schöner „Block", in vielen Anträgen. Ich finde es etwas verwunderlich, daß eine objektive Berichterstattung so einseitig nur einen Teil der Beratungen herausstellt.
FrauKollegin, lassen Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Kreile zu?
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Ja.
Gnädige Frau, ich darf davon ausgehen, daß Ihnen nicht bekannt ist, daß es eine Absprache unter den Parlamentarischen Geschäftsführern zur Abkürzung dieser abendlichen Runde gegeben hat, wonach der Berichterstatter von der CDU/CSU gebeten wurde, sich auf die Anträge der CDU/CSU zu beschränken und sonst nichts vorzutragen. Es war zunächst vorgesehen, einen umfangreichen Bericht zu bringen. Mit Einverständnis aller Parteien, auch der FDP, hat er sich der sehr undankbaren Aufgabe unterzogen, als Berichterstatter einen Eindruck zu erwecken, wie Sie ihn hier soeben dargestellt haben, den zu berichtigen ich aber bitte.
Es tut mir leid. Mir ist von dieser Vereinbarung nichts bekannt.
Ich finde, das entspricht eigentlich auch nicht der Form einer Berichterstattung. Mindestens hätte aber doch wohl auch über die Anträge, die gemeinsam angenommen worden sind, sinnvollerweise berichtet werden sollen.Aber wir wollen darüber nicht rechten. Wenn es so ist, nehme ich den Vorwurf zurück.In der Sache möchte ich nur noch einmal bestätigen, daß wir über sehr viele Anträge gemeinsam abgestimmt haben. Dem werden Sie zustimmen. Zum Beispiel ging es um die Frage der Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen, etwa dort, wo staatliche Instanzen im Wettbewerb mit Freiberuflern, wie Notaren oder Vermessungsingenieuren, stehen — da muß die gleiche Steuer bezahlt werden — oder wo Sozialversicherungsabgabestellen Brillen und ähnliches abgeben und sich im Wettbewerb mit Optikern befinden. Dafür haben wir gemeinsam Sorge getragen. Und so ging es auch bei einem sicher nicht ganz leichten Problem, nämlich dem, daß Krankenhäuser mit ihren handwerklichen oder gewerblichen Einrichtungen mit solchen in der freien Wirtschaft im Wettbewerb stehen. Auch hier soll nicht eine Bevorzugung eintreten, weil sonst eine Verdrängung mittelständischer Existenzen vom Markt die Folge wäre.Wir haben uns vor elf Jahren darum bemüht — alle Parteien miteinander; das Gesetz ist ja auch einstimmig angenommen worden —, eine möglichst systemgerechte Lösung zu finden. Der damalige Ausschußvorsitzende Dr. Schmidt von Ihrer Fraktion hat darauf sehr präzise bestanden; denn wir glaubten, mit diesem Gesetz etwas zu schaffen, was Maßstab auch für andere sein könnte. Und da hieß es sehr genau zu sein. Wenn uns heute daraus, daß wir präzise Gesetze machen, ein Vorwurf gemacht wird, widerspricht das der Tradition, in der bisher die Arbeit unseres Ausschusses und überhaupt unsere deutsche Gesetzgebung gestanden haben.
Herr Kreile, ich finde es nicht gut, wenn Sie hier mehr Schludrigkeit in der Gesetzgebung und in der Ausführung geradezu das Wort reden. Eine präzise Gesetzgebung oder wenn Sie so wollen, eine etwas pingelige, hat ihren Wert in der Gerechtigkeit. Denn sonst können diejenigen, die geschickt sind, sich durchwinden, während die anderen, die nicht so geschickt sind, benachteiligt werden.
Ich glaube nicht, daß das bei unserer deutschen Rechtstradition eine gute Sache wäre.Meine Damen und Herren, die Vorlage stellt keine Vereinfachung dar. Das bedauern wir alle. Aber das liegt nicht — das haben Sie ja auch gesagt, Herr Kreile — an dem Unvermögen etwa der Verwaltung, sondern daran, daß wir Bestimmungen übernehmen mußten, die wir bisher nicht hatten und die , deshalb naturgemäß zu zusätzlichen Paragraphen und auch mitunter zu Schwierigkeiten hinsichtlich der Abgrenzung und der Definition führten. Es ist nun einmal so, daß die Sonntagsreden von Gesetzesvereinfachungen in der Tagesarbeit nicht immer Bestand haben können, so sehr wir uns auch darum bemühen. Denn es ist nicht ohne weiteres möglich, bei absoluter Einfachheit gerechte Gesetze auf europäischer Ebene zu machen, und das sollte dann wohl auch nicht in Aussicht gestellt werden. Keiner kann dieses Versprechen voll erfüllen. Wir haben dennoch mit Ihrer freundlichen Hilfe einige Vereinfachungen durchgesetzt, und dies macht mindestens deutlich, daß wir für weitere Vorschläge dieser Art zweifellos offen sind.Meine Damen und Herren, wir haben uns gemeinsam nicht dazu verstehen können, die Optionsregelung abzuschaffen, die für den Mietwohnungsbau bisher geltendes Recht war. Hier gab es gutes Einvernehmen, weil wir meinen, daß die bestehende Regelung aufrechterhalten werden sollte.Es bleibt noch eine ganze Reihe von europäisch noch nicht harmonisierten Bestimmungen, und auch daran mögen Sie zunächst einmal erkennen, daß sich die Bundesregierung in den Verhandlungen nicht einfach widerspruchslos dem Drängen der anderen ergeben hat. Wir haben einige Vorbehalte gemacht und zugestanden bekommen, so daß wir manche Bestimmungen entgegen der Zielsetzung vorläufig im deutschen Recht behalten, z. B. beim Grunderwerb, wo es sonst — mindestens teilweise — Umsatzsteuerpflicht gäbe. Diese und manche andere bleiben bis 1983, und auch dann kann ihre Angleichung nur mit unserer Zustimmung erfolgen. Wir werden uns also weiterhin um Harmonisierung bemühen, aber die wesentlichsten Punkte, vor allem diejenigen, die eine übergreifende Konkurrenz betreffen, sollten hier doch geregelt sein.Meine Damen und Herren, wir hatten uns vorgenommen, die Gesetzgebung mindestens ein halbes Jahr vor dem Inkrafttreten der Bestimmungen abzuschließen. Diese Forderung wird vom Bundestag erfüllt; denn es sind jetzt noch 71/2 Monate bis zu dem Zeitpunkt, zu dem das Gesetz wirksam werden soll. Dies hängt allerdings davon ab, daß wir zu diesem Gesetz nicht noch eine längere Vermitt-
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Frau Funckelungstätigkeit aufnehmen. Das heutige Nein der Opposition läßt allerdings vermuten, daß noch neue Dinge in die Diskussion gebracht werden sollen.Allerdings hätten wir, meine Damen und Herren, gern gesehen, was das eigentlich sein soll.
Wir möchten wissen, wo denn — über den einen Antrag zur Landwirtschaft hinaus — Ihre besonderen Bedenken liegen.
Wir haben hier keinen weiteren Antrag vorliegen, der von Ihrer Seite, von Ihrer Fraktion ernsthaft eingebracht worden wäre, und wir fragen uns, warum das so ist, nachdem Sie, Herr Kreile, zur Begründung Ihrer Ablehnung laufend Forderungen vorgetragen haben. Warum stellen Sie keine konkreten Anträge?Natürlich müßte man dann, wenn Änderungsanträge gestellt würden, addieren, was das kostet. Das haben wir ja im Finanzausschuß auch getan. Sie haben dort an einem Tag Anträge gestellt, die fünf Milliarden DM Mindereinnahmen bringen, und das wollen Sie jetzt offensichtlich nicht so deutlich machen. Eine Verschiebung der Erhöhung der Umsatzsteuer würde über 3 Milliarden DM kosten. Dazu allein der DeHoGa-Antrag — von anderen, z. B. bezüglich Bergbahnen, will ich gar nicht sprechen; alles sehr schöne Dinge — würde eineinhalb bis zwei Milliarden DM kosten.
Zugleich reden Sie davon, daß die Verschuldung gesenkt werden soll. Sie sagen aber an keiner einzigen Stelle, wo etwas eingespart werden kann. Das hat keinen Zusammenhang. Wir aber nehmen die Verantwortung für den Haushalt genauso ernst wie unsere Wünsche, die wir aus steuerpolitischen Gründen haben mögen.
Frau Kollegin, Sie lassen die Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Voss zu?
Bitte schön.
Darf ich Sie fragen, wann Sie bereit sein werden, die Anträge, die von Ihnen bereits abgelehnt worden sind, nicht mehr in die Addition hineinzunehmen, wie Sie es gerade getan haben?
Aber, Herr Kollege Voss, ich sagte doch nur: Sie lehnen das Gesetz ab und begründen das damit, daß wir Anträge abgelehnt hätten, stellen diese Anträge aber nicht hier im Plenum. Das heißt, sie stehen dem hier vorgeschlagenen Entwurf nicht ernsthaft entgegen; denn was im Ausschuß gesagt oder gefordert wird, kann eine partielle Meinung sein, während das, was im Plenum von einer Fraktion eingebracht wird, erkennbar der Wunsch einer Fraktion ist.
Ich habe so ein bißchen den Eindruck, daß die im Ausschuß gestellten Anträge nicht voll von Ihrer Fraktion gewollt werden. Das hat sich ja auch im Bundesrat gezeigt, als es um die Anträge von Bayern und Baden-Württemberg zur Verhinderung ' oder Verschiebung der Anhebung der Umsatzsteuer ging. Deshalb bin ich auch nicht sicher, wie es sich mit dem DeHoGa-Antrag verhält, so wünschenswert das ist. Wer hat denn damals den vollen Steuersatz für das Gaststättengewerbe eingeführt? Doch wahrlich nicht die FDP. Das ist doch in der Großen Koalition mit den Stimmen Ihrer Fraktion eingeführt worden. Die Regierung unter Herrn Erhard hatte den halben Steuersatz beschlossen. Aber in der Großen Koalition unter Kiesinger haben Sie dann den vollen Steuersatz durchgesetzt. Das wollen Sie gern vergessen, aber so war doch die Geschichte.
Frau Kollegin, würden Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Dr. Voss zulassen?
Bitte, gern.
Entschuldigen Sie, Frau Funcke, das war nicht die Antwort auf die Frage, die ich eben gestellt hatte. Sie haben eben behauptet, wir hätten in einer Finanzausschußsitzung Anträge gestellt, die einen Steuerausfall in Höhe von 5 Milliarden DM zur Folge gehabt hätten. Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen, daß wir die Anträge nacheinander gestellt haben. Woher wollen Sie wissen, ob wir weitere Anträge gestellt hätten, wenn Sie einem Antrag vorher zugestimmt hätten?
Herr Voss, ich hätte das nicht gesagt, wenn diese Anträge nicht eben von Herrn Kreile als Begründung für die Ablehnung gebracht worden wären, und zwar nebeneinander und nicht alternativ. Wenn Sie sie als Begründung Ihrer Ablehnung nennen, müssen wir doch davon ausgehen, daß es weiterhin Ihr Wunsch ist, daß sie alle angenommen werden. Sonst hätte Herr Kreile den alternativen Charakter aufzeigen müssen. Das ist nicht geschehen.
Und nun zu Ihren Vorwürfen zu den Äußerungen zum Gaststättenantrag. Es reizt mich, an Hand einiger Zitate von Franz Josef Strauß zu zeigen, wie er sich widersprochen hat. Herr Schröder sitzt hier als einer, der weiß, wie es damals zugegangen ist. Das wissen leider Gottes nicht mehr so viele. Wie war es denn, meine Damen und Herren? Wir hatten im April 1967 gemeinsam einen Steuersatz von 10 % beschlossen. Der damalige Finanzminister, Herr Strauß, sagte, daß es beileibe nicht so sei, daß diese Reform eine fiskalische Wirkung haben
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Frau Funckesolle. Denn dann würde die Reform ihren Sinn verlieren. Deshalb müsse es beim Steuersatz von 10 % bleiben. Drei Monate später verfügte er eine Erhöhung des Steuersatzes auf 11 %. Darüber gab es hier im Bundestag gar keine lange Debatte. Auf einmal, mitten im Jahr, wurde dann der Steuersatz auf 11 % erhöht.
Meine Damen und Herren, darum erscheinen mir Herr Strauß oder sein Sprecher als die schlechtesten Anwälte, wenn es darum geht, über Abweichungen von früheren Auffassungen eine moralische Predigt zu halten.
Lassen Sie mich abschließen: Wir wissen, daß noch eine 7. Richtlinie und wahrscheinlich noch ein paar mehr kommen werden. Wir werden über diese Einzelfragen dann noch sprechen können. Altwagen und Altwaren hätten wir gern schon jetzt einer neuen Regelung unterworfen. Aber die Tatsache, daß die Kommission sich damit beschäftigt, verbietet uns im Augenblick, darüber zu entscheiden.Wir sind uns klar, daß unser Bekenntnis zu Europa nicht ein fröhliches Sonntagsbekenntnis sein kann, sondern daß es bedeutet, in mühevoller Arbeit mit viel Verzicht, viel Mühe, aber auch mit viel Hingabe an diese Aufgabe herangehen und uns mit unendlich vielen kleinen Details, in denen überall der Teufel sitzt, herumschlagen müssen. Das müssen wir wissen, wenn wir Europa wollen und wenn wir unseren Bürgern jetzt sagen wollen, sie müßten zur Wahl gehen und entscheiden. Europa zu bauen heißt, um mit Max Weber zu sprechen, das Bohren dicker Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß. Aber darin steckt dann zum guten Schluß auch das Ziel, das wir doch alle gemeinsam erreichen wollen.
Das Wort hat der Bundesfinanzminister Matthöfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Durch das Umsatzsteuergesetz, das heute verabschiedet werden soll, wird das deutsche Umsatzsteuerrecht an die 6. Richtlinie zur Harmonisierung der Umsatzsteuer in den Europäischen Gemeinschaften angepaßt. Mit diesem weiteren Harmonisierungsschritt bei der Umsatzsteuer sind wir dem Ziel, die innergemeinschaftlichen Steuergrenzen zu beseitigen, ein gutes Stück nähergekommen. Der Wegfall der Steuergrenzen innerhalb der Gemeinschaft, der insbesondere die Besteuerung der Einfuhren und die Steuerbefreiung der Ausfuhren entbehrlich macht, ist keine Utopie mehr.Dieser Erfolg sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine weitere und überaus schwierige Aufgabe noch vor uns steht — Frau Funcke hat bereits darauf hingewiesen —: die Angleichung derSteuersätze in den Mitgliedstaaten. Diese letzte Strecke auf dem Wege zur vollen Umsatzsteuerharmonisierung wird bei allen Mitgliedstaaten noch große Anstrengungen und Kompromißbereitschaft erfordern. Das Ausmaß der noch zu bewältigenden Steuersatzharmonisierung wird deutlich, wenn man bedenkt, daß in den neun Mitgliedstaaten gegenwärtig mehr als 20 verschiedene Steuersätze angewandt werden. Zur Steuersatzharmonisierung liegt eine Beschlußempfehlung des Finanzausschusses vor, in der die Bundesregierung aufgefordert wird, sich in den Europäischen Gemeinschaften dafür einzusetzen, daß die ermäßigt besteuerten Umsätze zunächst noch ohne Angleichung der Steuersätze vereinheitlicht werden. Ich begrüße diese Empfehlung, muß aber darauf aufmerksam machen, daß es große Schwierigkeiten bei diesem ersten Schritt in Richtung der Steuersatzharmonisierung geben wird. Die Vorstellungen darüber, welche Umsätze aus sozial-, struktur-, kulturpolitischen oder sonstigen Erwägungen dem ermäßigten Steuersatz unterworfen werden sollen, gehen in den Mitgliedstaaten weit auseinander. Dazu kommt, daß die Auswirkungen auf das Steueraufkommen, die mit einer solchen Maßnahme verbunden sind, in den einzelnen Staaten sehr unterschiedlich sein können. Das möge Ihnen zeigen, daß ein solcher Auftrag an die Bundesregierung, so sehr er von der Sache her berechtigt ist, sicher nicht von heute auf morgen wird erfüllt werden können.Die Ausschüsse, insbesondere der federführende Finanzausschuß, haben auf Grund einer sehr ausführlichen Beratung dieses umfangreiche Gesetz fertig gemacht. Ich darf Ihnen dafür namens der Bundesregierung danken und darf auch an dieser Stelle den beteiligten Beamten für die enorme Arbeit sehr herzlich danken, die sie hier investiert haben.
Ich hoffe, daß der Bundesrat noch vor der Sommerpause dem Gesetz zustimmen wird, zumal die überwiegende Zahl seiner Änderungsvorschläge in der vorliegenden Beschlußempfehlung des Finanzausschusses berücksichtigt ist. Nur dann haben Wirtschaft und Finanzverwaltung eine ausreichende Vorlaufzeit, um sich auf das geänderte Umsatzsteuerrecht einzustellen. Der Entwurf der Bundesregierung beschränkt sich wegen des erwähnten Zeitdrucks auf das Notwendigste. Er enthält die Anpassung unseres Umsatzsteuerrechts an die 6. Richtlinie. Er sieht Maßnahmen vor, die aus Gründen der Wettbewerbsneutralität geboten sind. Er übernimmt bereits praktizierte Vereinfachungen und Erleichterungen in das Gesetz.Die Bundesregierung dankt dem federführenden Finanzausschuß auch dafür, daß er dieser Konzeption mit der uns vorliegenden Beschlußempfehlung im wesentlichen gefolgt ist. Zahlreiche Wünsche nach Steuervergünstigungen im Zusammenhang mit dem Entwurf konnten leider nicht aufgegriffen werden. Sozial-, wirtschafts-, kultur- und agrarpolitische Gründe für Umsatzsteuervergünstigungen lassen sich sicher in Fülle anführen. Aber Zurückhaltung ist hier von der Sache her geboten. Umsatzsteuer, die als allgemeine Verbrauchsteuer den Letztverbrau-
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Bundesminister Matthöfercher belastet, ist für die Begünstigung bestimmter Wirtschaftszweige grundsätzlich kein geeignetes Instrument. Außerdem sollte bedacht werden, daß fast jede Steuervergünstigung unserem Ziel zuwiderläuft, Wirtschaft, steuerberatende Berufe und Steuerverwaltungen nicht mit neuen Komplizierungen zu belasten.Die Beschlußempfehlung des Finanzausschusses weicht in verschiedenen Einzelfragen von der Regierungsvorlage ab. Ich nenne die vorgesehene Erweiterung der Steuerbefreiung der Altenheime, die Gewährung des ermäßigten Steuersatzes für Betriebshelfergestellung an die Sozialversicherungsträger, die großzügigere Kleinunternehmerregelung sowie die Erweiterung des Kreises der Vierteljahreszahler durch Anhebung der maßgeblichen Umsatzsteuergrenze von 2 400 auf 6 000 DM. Damit sind zwar Steuerausfälle verbunden; sie halten sich haushaltsmäßig aber gerade noch im vertretbaren Rahmen. Vor allem will ich betonen, daß das durch die Harmonisierung komplizierter gewordene Umsatzsteuerrecht mit den genannten Maßnahmen wenigstens teilweise wieder vereinfacht wird. Das kommt meinem Anliegen entgegen, soweit wie möglich auf vereinfachende steuerliche Regelungen hinzuwirken.Allerdings zwingt auch das Umsatzsteuergesetz dazu, die Forderungen und Wünsche nach Steuervereinfachung an der Realität wirtschaftlichen Handelns zu messen. In der Praxis werden mehr als 80 % der Fälle ohne Komplikationen gehandhabt. Mit etlichen, notwendigerweise nicht leicht verständlichen Regelungen müssen schwierige und atypische Sachverhalte erfaßt werden, die im Bereich einzelner Unternehmenszweige bei besonderer Gestaltung der Umsätze auftreten. Darüber hinaus müssen auch hier Ausnahmen von der Regelbesteuerung im Interesse etwa der Wirtschaftsförderung und im sozialen Interesse berücksichtigt werden. Schließlich ist eine Abgrenzung von in der Lebenswirklichkeit dicht beieinander liegenden Bereichen und Tätigkeiten unternehmerischer und nichtunternehmerischer Natur notwendig.Dieser Gesetzentwurf wurde im Finanzausschuß auf Vereinfachungsmöglichkeiten abgeklopft. Ich erwähnte schon die Erhöhung der Vorjahressteuergrenze für Vierteljahreszahler. Dadurch wird — ich glaube, der Abgeordnete Kühbacher hat schon darauf hingewiesen — die Zahl der zu bearbeitenden Voranmeldungen um jährlich 3,2 Millionen vermindert. Dafür nehmen wir im Jahr der Einführung eine einmalige Minderung des Umsatzsteueraufkommens von 300 Millionen DM in Kauf. Die Anhebung der Umsatzfreigrenze für Kleinbetriebe von 18 000 auf 20 000 DM wird eine ganze Reihe weiterer Kleinunternehmer umsatzsteuerlich freistellen und Arbeitsaufwand sowohl bei diesem Personenkreis als auch bei der Verwaltung einsparen.Mehr Klarheit für die Beteiligten bringt die Einbeziehung der kleinen Unternehmen in die normale Besteuerung auf Grund des Vorjahresumsatzes anstatt des Umsatzes des laufenden Jahres. Schließlich sollen von der Genehmigung der Istversteuerung Geschäftsveräußerungen ausgenommen werden. Dadurch entsteht bei einer Geschäftsveräußerung ge-gen Rente oder längerfristige Raten die Umsatzsteuer sofort. Eine jahrelange Überwachung durch die Finanzverwaltung wird vermieden. Ebenso entfällt für die Steuerpflichtigen die Abgabe von Steuererklärungen.Die Umsetzung der 6. Richtlinie ins nationale Recht gibt nur Anschauungsunterricht für die These, daß die EG-Harmonisierung neben unbestreitbaren Vorzügen leider auch Komplizierungen mit sich bringt. Jede Änderung eines bestehenden Steuergesetzes bürdet Wirtschaft, steuerlichen Beratern und den Finanzbehörden für eine Übergangszeit selbstverständlich zusätzliche Arbeit auf. Auch das Umsatzsteuergesetz 1980 wird Zweifelsfragen aufwerfen. Ich kann Ihnen versichern, daß ich mich — zusammen mit meinen Kollegen aus den Ländern — bemühen werde, bei auftretenden Unklarheiten in der ,Auslegung des neuen Gesetzes durch Übergangsregelungen im Verwaltungswege so rasch wie möglich zu helfen.Ich bedanke mich für die geleistete Arbeit und bitte Sie um Zustimmung.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. — Ich schließe die Aussprache.Wer dem Gesetz in dritter Beratung zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Das Gesetz ist mit den Stimmen von SPD und FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.Meine Damen und Herren, ich darf noch darauf hinweisen, daß der Ausschuß auf der Drucksache 8/2827 zwei Beschlußempfehlungen vorgelegt hat, nämlich eine Entschließung und die Bitte, die eingegangenen Petitionen für erledigt zu erklären. Kann ich gemeinsam über diese beiden Vorschläge abstimmen lassen? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Wer den Beschlußempfehlungen zustimmt, gebe bitte das Zeichen. — Ich danke Ihnen. Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Es ist einstimmig so beschlossen.Ich rufe nunmehr die Punkte 4 und 5 der Tagesordnung auf:Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Jenninger, Dr. Jobst, Röhner, Dr. George, Dr. Friedmann, Schröder , Carstens (Emstek), Dr. von Wartenberg, Sauter (Epfendorf), Dr. Schulte (Schwäbisch Gmünd), Dr. Dregger, Kolb, Broll, Hanz, Spranger, Seiters, Glos, Susset, Dr. Waigel, Dr. Sprung, Dr. Warnke, Gerlach (Obernau), Dr. Miltner und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investitionszulagengesetzes— Drucksache 8/2780 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:Finanzausschuß
Ausschuß für WirtschaftAusschuß für innerdeutsche Beziehungen Haushaltsausschuß gemäß I 96 GO
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12362 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Vizepräsident Dr. Schmitt-VockenhausenErste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung der Bundesnotarordnung— Drucksache 8/2782 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: RechtsausschußIch frage, ob dazu das Wort gewünscht wird. — Das ist nicht der Fall. Die Überweisungsvorschläge des Ältestenrates liegen Ihnen vor: zu Tagesordnungspunkt 4 an den Finanzausschuß als den federführenden Ausschuß, an den Ausschuß für Wirtschaft und an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen sowie an den Haushaltsausschuß gemäß § 96 der Geschäftsordnung; zu Punkt 5 der Tagesordnung an den Rechtsausschuß. Ich frage, ob andere Vorschläge gemacht werden. — Das ist nicht der Fall. Ich sehe und höre keinen Widerspruch gegen die Überweisungsvorschläge des Ältestenrats. Damit ist die Überweisung beschlossen.Ich rufe Punkt 6 der Tagesordnung auf:a) Beratung der Sammelübersicht 45 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen mit Statistik über die beim Deutschen Bundestag in der Zeit vom 14. Dezember 1976 bis 31. März 1979 eingegangenen Petitionen— Drucksache 8/2786 —b) Beratung der Sammelübersicht 46 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen— Drucksache 8/2826 —Der Frau Berichterstatterin danke ich für den Bericht. Eine Ergänzung des Berichts wird nicht gewünscht.Meine Damen und Herren, ich frage, ob Bedenken bestehen, daß wir gemeinsam über die Punkte 6 a und b abstimmen. — Das ist offensichtlich nicht der Fall. Wer den Vorschlägen zu den Tagesordnungspunkten 6 a und b zuzustimmen wünscht, gebe bitte das Zeichen. — Gegenprobe! — Stimmenthaltungen? — Einstimmig so gebilligt.Ich rufe nunmehr den Punkt 7 der Tagesordnung auf:Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSUSteuerliche Behandlung der gemeinnützigen Sportvereine— Drucksache 8/2668 —Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
sportausschußHaushaltsausschußIm Ältestenrat ist eine Aussprache mit Kurzbeiträgen vereinbart worden. Ich gehe davon aus, daß das Haus das ausdrücklich billigt. Zur Begründung des Antrags und in der Aussprache hat der Abgeordnete Schäuble das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema der steuerlichen Behandlung der gemeinnützigen Sportvereine ist nicht neu. Seit den Beschlüssen der Deutschen Sportkonferenz vom 18. Juni 1971 in Kiel hat die Fraktion der CDU/CSU immer wieder versucht, jene damals einstimmig gefaßten Beschlüsse für steuerliche Erleichterungen für Sportvereine in diesem Hause einer Realisierung zuzuführen.Es sind in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt durch unser ständiges Drängen, schrittweise Verbesserungen erreicht worden.
Gleichwohl mehren sich die Klagen von Sportvereinen über steuerliche Belastungen.
Dies erklärt sich aus den gewaltig gestiegenen Aufgaben der Sportvereine und Sportverbände, die auf das erfreulich wachsende Bedürfnis von immer mehr Menschen nach sportlicher Betätigung zurückzuführen sind.Es kommt hinzu, daß die Kontrollen der Sportvereine durch die Steuerverwaltung offenbar zugenommen haben.Dies bestätigt, daß wir mit unseren seit Jahren gestellten Anträgen recht haben und daß wir insbesondere auch darin recht hatten und recht haben, daß die Abgabenordnung 1977 in der von der Mehrheit von SPD und FDP gegen unseren Antrag damals durchgesetzten Fassung für die Belange der gemeinnützigen Sportvereine unzureichend ist.
Wir freuen uns, daß auch die Bundesländer diese Probleme zunehmend in der gleichen Weise wie wir sehen, wie das nicht nur aus den Beschlüssen der dritten Sportministerkonferenz, sondern auch — was in diesem Zusammenhang noch wichtiger ist — aus den Beschlüssen der Finanzministerkonferenz von Anfang dieses Monats sichtbar wird. Dies sind Fortschritte, die wir — jedenfalls zum Teil — als Erfolg unserer jahrelangen Bemühungen werten.Unser Antrag auf der Drucksache 8/2668 stimmt in der Zielsetzung mit der Initiative der Regierung des Landes Baden-Württemberg überein. Die Initiative des Landes Baden-Württemberg erstrebt steuerliche Erleichterungen für alle gemeinnützigen Vereine. Ich möchte hier ausdrücklich für die Fraktion der CDU/CSU erklären, daß wir diese Ausweitung begrüßen; denn die Probleme der Sportvereine stellen sich in der Tat für viele kulturelle Vereine ganz vergleichbar.
Wir treten mit derselben Entschiedenheit für steuerliche Erleichterungen auch für andere gemeinnützige Vereine ein.
Die Steuerpolitik der CDU/CSU in bezug auf die Sportvereine ist von dem Gedanken geleitet, daß Sportförderung wegen der großen Bedeutung des
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12363
Dr. SchäubleSports für alle Menschen eine öffentliche Aufgabe ist. Nach unserem Verständnis soll sich die Sportförderung nach dem Subsidiaritätsprinzip auf die Förderung, nicht auf die Bevormundung der Sportvereine und Verbände konzentrieren. Sie soll für die Sportvereine mehr Freiräume durch weniger Steuerbelastung schaffen. Es ist ein Widerspruch, wenn der Staat, Bund, Länder und Gemeinden zusammengenommen, auf der einen Seite über 2 Milliarden DM an öffentlichen Mitteln jährlich für die Sportförderung gibt und auf der anderen Seite über die Besteuerung die Möglichkeiten der Sportvereine, sich durch Eigeninitiative und ehrenamtliches Engagement selbst Mittel zu beschaffen, wesentlich beschneidet. Der Staat nimmt so mit der einen Hand, was er mit der anderen Hand gibt. Dieser Widerspruch muß vor allem auch deshalb aufgelöst werden, weil die zunehmende bürokratische Gängelung des Sports die Bereitschaft der Menschen, idealistisch für den Sport und damit für die Allgemeinheit tätig zu sein, behindert. Wir von der CDU/CSU aber wollen das ehrenamtliche Engagement, ohne das eine freie Gesellschaft nicht lebensfähig ist.
Deshalb beantragen wir, daß für Auf wandsentschädigungen für ehrenamtliche Übungs-, Organisations-und Jugendleiter ein Steuerfreibetrag von 3 600 DM jährlich eingeführt wird. Die heutige Regelung mit der Werbekostenpauschale von 25 °/o hat sich als unzureichend herausgestellt, weil sie eben nicht verhindert, daß der Sportverein für seine Übungsleiter auch bei geringfügigen Bezügen entweder Lohnsteuer abführen muß und dafür gegebenenfalls in Haftung genommen wird oder der ehrenamtlich Tätige selbst wegen Einkünften aus selbständiger Tätigkeit eine Einkommensteuererklärung fertigen muß.Wir haben im übrigen in unserem Einkommensteuergesetz Aufwandsentschädigungen für die ehrenamtliche Tätigkeit etwa in einem Kommunalparlament bis zu den vergleichbaren Obergrenzen von der Besteuerung freigestellt. Die CDU/CSU ist der Auffassung, daß das ehrenamtliche Engagement in einem gemeinnützigen Verein so wichtig ist wie in der kommunalen Selbstverwaltung.Um die Abgrenzung der steuerunschädlichen Zweckbetriebe haben wir ja schon im Rahmen der Verabschiedung der AO '77 miteinander gerungen. SPD und FDP haben damals unseren Antrag abgelehnt, Einkünfte, die gemeinnützige Sportvereine durch Nebenleistungen im Rahmen von sportlichen Maßnahmen und sportlichen Veranstaltungen erzielen, als Zweckbetriebe im § 668 Abgabenordnung von der Besteuerung zu befreien. Wir haben zwar damals durch unseren Antrag als Ergebnis erreicht, daß die Freigrenze für solche Einkünfte auf 12 000 DM jährlich angehoben ist, aber unsere damalige Warnung, daß eine solche Freigrenze die Probleme nicht befriedigend lösen werde, hat sich mittlerweile bestätigt. Dabei haben wir die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen immer sehr ernst genommen.Ich bin auch heute noch der Auffassung, daß die Formulierung unseres Antrags bei der Verabschiedung der AO '77, über den wir am 27. November 1975 diskutiert haben, solche Wettbewerbsverzerrungen ausschließen würde.Wir haben in unserem heute zu beratenden Antrag unter Ziffer 2 eine Formulierung aus dem Steuermemorandum des Deutschen Sportbundes übernommen. Wir gehen davon aus, daß in den Ausschußberatungen bei gutem Willen aller Beteiligten eine Gesetzesformulierung zu finden sein wird, die den Sportvereinen hilft und gleichwohl Wettbewerbsverzerrungen vermeidet.Wir wollen drittens, daß der Ersatz von Ausbildungskosten bis zu einer Obergrenze von 20 000 DM, die einem anderen gemeinnützigen Verein für Sportler erstattet werden, nicht zum Verlust der Gemeinnützigkeit für den erstattenden Verein führen. Diese Klarstellung ist notwendig, weil wir im Zuge der Talentförderung und der Leistungskonzentration immer wieder Fälle haben, in denen jungen nachwachsenden Talenten der Vereinswechsel wegen besserer Trainingsbedingungen oder auch im Zuge der beruflichen oder schulischen Ausbildung empfohlen werden muß. Damit durch einen solchen Vereinswechsel dem abgebenden Verein, häufig genug ländlichen Vereinen, die Früchte jahrelanger Arbeit nicht verlorengehen, muß ein gewisser Kostenersatz der Ausbildungskosten möglich sein.Die Finanzverwaltung hat sich, um zu unserem vierten Punkt zu kommen, bis heute auf den Standpunkt gestellt, daß Schach- und Modellflugsport nicht unter dem Begriff Sport im Sinne der Abgabenordnung fallen würden. Nach meiner eigenen Erinnerung entspricht die Finanzverwaltung damit nicht dem Willen, den wir damals im Finanzausschuß bei der Formulierung des § 52 gemeinsam gehabt haben. Denn wir wollten ja durch die Einfügung des Begriffes „Sport" ohne weitere Zusätze gerade eine einschränkende Definition des Sports in den Gemeinnützigkeitsbestimmungen vermeiden. In der Sache selbst, daß nämlich Schach- und Modellflugsport als gemeinnützig anerkannt werden sollen, zeichnet sich offenbar zunehmend Einigkeit ab, so daß wir auf eine Annahme unseres Antrages auch in diesem Punkt hoffen und im übrigen gemeinsam darüber nachdenken können, ob wir wirklich § 52 der Abgabenordnung entsprechend ändern müssen. Ich selbst würde dies nur dann tun wollen, wenn wir tatsächlich nicht im Wege der Interpretation des Begriffes „Sport" das Problem lösen können. Denn ich fürchte, daß wir über eine neue ergänzende Bestimmung wieder die Tür für neue und dann auch einschränkende Definition dessen, was Sport ist, in der Abgabenordnung öffnen.Wir wollen schließlich fünftens den gemeinnützigen Sportvereinen die Spendenbescheinigungskompetenz bis zu einer Obergrenze von 600 DM je Spender jährlich gewähren. Wir greifen damit einen Antrag auf, den wir bereits 1974 im Bundestag gestellt haben und den — Frau Kollegin Funcke sehe ich im Augenblick nicht, aber Frau Matthäus-Maier — ja auch die FDP in ihr Sportprogramm 1974 schon übernommen hat.
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12364 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
Dr. SchäubleIch bitte um Entschuldigung, Frau Präsidentin, ich habe hinten keine Augen.Das Argument, die Sportvereine könnten ja auch heute steuerlich abzugsfähige Spenden bekommen, wenn diese ihnen über eine öffentlich-rechtliche Körperschaft zugeleitet werden, ist theoretisch natürlich richtig. Es übersieht aber, daß die Möglichkeit der Vereine, Spenden zu sammeln, in der Praxis sehr erschwert wird, wenn diese Spenden vom Spender erst der jeweiligen Gemeindeverwaltung zugeleitet werden müssen. Im übrigen finden wir, daß das Mißtrauen gegenüber den Sportvereinen unangebracht ist, die Sportvereine würden eine ordnungsgemäße Abwicklung des Spendenbescheinigungsverfahrens nicht gewährleisten können. Meine Damen und Herren, wir trauen den politischen Parteien die ordnungsgemäße Abwicklung zu. Warum sollen wir den Sportvereinen nicht ebensoviel Vertrauen entgegenbringen? Wann immer man über die Sportförderung spricht, sollte man von seiten der Politiker den Sportverbänden und -vereinen, vor allem ihren vielen ehrenamtlichen Helfern, Dank sagen. Sie alle erbringen eine ungeheuer große Leistung für den freien Sport und damit für unsere freiheitliche Lebensform.
Mit dem Grundsatz, daß wir die gemeinnützigen Sportvereine möglichst von der Besteuerung freihalten wollen, entsprechen wir dieser Dankespflicht und ermuntern im übrigen eben diese Bereitschaft zum uneigennützigen Einsatz für die Allgemeinheit.Unser Antrag dient diesem Ziel. Er bietet die Chance, frühere Entscheidungen zu korrigieren. Er bietet insbesondere den Kollegen der Koalitionsfraktionen die Chance, ihre sportfreundlichen Erklärungen außerhalb dieses Hauses durch ein entsprechendes Abstimmungsverhalten in diesem Hause zu realisieren.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schirmer.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach diesem weitgehend steuerpolitischen Beitrag des Kollegen Dr. Schäuble bleibt es dennoch dabei, daß es hier um den Sport und um seine öffentliche Förderung und nicht entscheidend um Steuerpolitik geht. Lassen Sie uns diesen Schwerpunkt also richtig sehen und setzen.Die Qualität und die Höhe der Sportförderung in der Bundesrepublik Deutschland sind weltweit anerkannt. Seit 1969 wurden die Fördermittel des Bundes vervierfacht und betragen heute etwa 250 Millionen DM. Zu den Zuständigkeiten in der Sportförderung gehören auch die im Steuerrecht zu treffenden Maßnahmen, die in den vergangenen Jahren wesentlich verbessert worden sind. Ich erinnere an die umfassende Formulierung für Sport in der Abgabenordnung und die daraus abzuleitende breitere Gemeinnützigkeit für den Amateursport. Ich erinnere auch an die seit 1974 geltende steuerliche Begünstigung für Übungsleiter in den Sportorganisationen. Da sich die Zahl der sportlich aktiven Bürger erfreulich und ständig stark erhöht hat, sind nun weiterführende Maßnahmen auf diesem Felde geboten. Konkrete Anregungen dazu hat uns zuletzt das Präsidium des Deutschen Sportbundes am 24. April 1979 hier in Bonn vor der SPD-Bundestagsfraktion gegeben. Inzwischen wurden die Beratungen auf der Grundlage dieser Wünsche mit der Bundesregierung geführt, deren Ergebnisse vorliegen. Wir begrüßen die Bereitschaft des Bundesfinanzministers, besonders die in den Bereichen des Breiten- und Freizeitsports tätigen Vereine durch weitere steuerliche Vergünstigungen zu unterstützen, wie das in seinem an uns gerichteten und inzwischen ja auch veröffentlichten Schreiben deutlich geworden ist. Dabei gehen wir von dem Grundsatz aus, daß die sportliche, kulturelle und gesellige Tätigkeit der Amateursportvereine grundsätzlich und dauerhaft abgabenfrei sein muß.Diese Auffassung hat sich auch in dem jetzt vorliegenden Bericht zum Umsatzsteuergesetz 1979 niedergeschlagen, in dem das gemeinnützige Wirken der Sportvereine besonders anerkannt und durch großzügige Befreiungsregelungen unterstützt wird. Durch die Vorlage eines Gesetzentwurfes werden wir alsbald weitere Verbesserungen für den Amateursport anstreben und — ich bin dessen sicher — auch erreichen. Dabei gehen wir davon aus, daß dazu eine Verbindung mit dem hier zu behandelnden Antrag erreichbar sein sollte. Zu diesem Antrag haben die Ergebnisse der Finanzministerkonferenz vom 4. Mai 1979, also vor wenigen Tagen, einmal mehr deutlich gemacht, daß die der CDU/CSU angehörenden Minister der Länder ihren antragsfreudigen Kollegen in Bonn nicht folgen.
Das ist nicht neu. So hat die CDU/CSU in der 6. Legislaturperiode einen Antrag eingebracht, der durch Halbierung des Mehrwertsteuersatzes für Professionale Fußballbundesligaclubs Steuervergünstigungen forderte.
— Herr Kollege Dr. Schäuble, daß Ihnen die Erinnerung daran nicht gut gefällt, kann ich mir sehr gut vorstellen.
Dennoch ist diese Erinnerung dringend geboten, weil der Zusammenhang mit dem, was hier zur Beratung ansteht, unmittelbar ist.
Lassen Sie mich also an diese damaligen Anträge erinnern, die von Ihnen offenbar nicht mehr so gern gehört werden.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12365
SchirmerBis heute haben Sie darüber kein Wort mehr gesagt. Solche kurzatmigen, dem Amateursport nicht dienenden, sondern vordergründig auf Effekthascherei angelegten Anträge nutzen dem Sport nicht, meine Damen und Herren.
Geboten sind vielmehr kontinuierliche und sachkundige Fördermaßnahmen.
Das gilt besonders für die steuerliche Behandlung der Entgelte für Übungsleiter. Wir wünschen — zusammen mit dem Bundesfinanzminister —, daß die jetzt fünf Jahre alte Regelung verbessert wird. Dabei kommt es darauf an, eine wirksame, unbürokratische, praxisnahe, der konkreten Wirklichkeit in den Vereinen entsprechende und auch in ihrer Summe zu erhöhende Regelung für die Übungsleiter zu erreichen. Solche fortwährende und auszubauende Sportförderung darf uns jedoch nicht zu einseitigen Fehlentscheidungen veranlassen, die gesamtpolitisch unvertretbar wären.
Es kann nicht ernsthaft erwogen werden, meine Damen und Herren, daß Sportvereine in keinem Fall Steuern zahlen sollen, wenn sie wirtschaftliche Geschäftsbetriebe unterhalten, sofern die Gewinne den Vereinszwecken zugeführt werden. Dadurch würde eine Wettbewerbsverzerrung gegenüber den Klein- und Mittelbetrieben, z. B. den Einzelhandelsgeschäften und den Gastwirtschaften, herbeigeführt, die unvertretbar und wohl auch rechtlich unhaltbar wäre.
In der Begründung zu diesem Antrag sagt die CDU/CSU — Herr Dr. Schäuble hat dies heute noch einmal zu begründen versucht —, daß die Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung nicht gegeben sei. Zu einem gleichen, jedoch weniger weitgehenden Antrag des Landes Baden-Württemberg hat die CSU-Regierung des Freistaates Bayern vor ganz kurzer Zeit erklärt, daß dieser Vorschlag die Interessen der konkurrierenden Wirtschaftsbetriebe nichtgemeinnütziger Steuerpflichtiger nicht in angemessener Weise berücksichtige. Hier bringt die bayerische Landesregierung genau die Bedenken, die auch wir haben, zum Ausdruck. Deshalb, so fährt die Bayerische Staatsregierung fort, könne sie nur zustimmen, wenn ein Freibetrag dort entsprechend gekürzt werde. Die CDU-Opposition im Bundestag steht also mit dieser Forderung allein da. Die Unhaltbarkeit dieses Antrages ist nun vor wenigen Tagen von Ihren eigenen Parteifreunden bescheinigt worden. Wir werden uns dagegen zu überlegen haben, ob ein bestimmter Teil der durch sportliche Veranstaltungen entstehenden Kosten mit den Werbeeinnahmen verrechnet und so deren Besteuerung vermindert werden kann.Nach Ziffer 3 des CDU/CSU-Antrages soll der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordern, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß der Ersatz von Ausbildungskosten bis zu einer Obergrenze von 20 000 DM, die einem gemeinnützigen Verein für einen Sportler erstattet werden, nicht zum Verlust der Gemeinnützigkeit führt. Der Sprecher der CDU/CSU hat dies noch einmal ausgeführt. Im Klartext muß das doch wohl heißen, daß das leider in einigen Sparten des Amateursports geübte Verfahren, Ablösesummen für den Vereinswechsel von Sportlern zu zahlen, nun staatlich begünstigt werden soll. Damit würden wir dazu beitragen, daß der persönliche Wille des Amateursportlers nebensächlich und die finanziellen Erwägungen von Vereinsvorständen entscheidend würden.
Ich darf in aller Deutlichkeit sagen: die SPD wird solche Bestrebungen nicht verfolgen, weil wir das, was wir im Berufssport im höchsten Maße als unerfreulich und oftmals inhuman betrachten und was oft und öffentlich als „Spielerverkauf", manchmal gar als „Menschenhandel" bezeichnet wird, nicht auch noch durch unsere staatlichen Entscheidungen fördern wollen.
Die CDU/CSU mag einen solchen Beitrag zur Kommerzialisierung des Amateursports für wünschenswert halten. Wir werden diesen Antrag ablehnen.Meine Damen und Herren, der Bundesfinanzminister und die SPD-Bundestagsfraktion sind sich einig, daß das Schachspiel als gemeinnützig anerkannt werden soll. Wir werden bei den bevorstehenden Gesetzesberatungen intensiv und wohlwollend prüfen, ob dies auch für den Modellflugsport gelten soll.Die Forderung nach Spendenbescheinigungskompetenz für Sportvereine wurde erst kürzlich erneut einstimmig von der Länderfinanzministerkonferenz abgelehnt, also auch mit den Stimmen der Finanzminister von CDU und CSU.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion wird weiterhin alles tun, um den berechtigten Belangen des Amateursports auch in der Steuergesetzgebung Rechnung zu tragen. Der Sport muß wissen, daß wir ein verläßlicher Partner für ihn bleiben. Mit Anträgen der CDU/CSU-Opposition, die nach einhelliger Meinung der Sachkundigen zumeist nicht realisierbar sind, ist niemandem gedient. Wir stimmen dem Überweisungsvorschlag zu.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Mischnick.
Frau Präsidentin! Meine Damen men und Herren! Herr Kollege Schäuble, Sie haben zu Beginn davon gesprochen, daß es gemeinsame
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12366 Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979
MischnickBeschlüsse der Deutschen Sportkonferenz gebe, die teilweise noch nicht durchgeführt seien, und daß Sie mit diesem Antrag dazu verhelfen wollten, daß solche Beschlüsse durchgeführt würden. Wer das so hört, der muß den Eindruck gewinnen, als seien einmal Beschlüsse gefaßt worden, und dann sei nie wieder darüber gesprochen worden.
Ich kann mir nicht gut vorstellen, daß Ihr Kollege Evers, der in der Arbeitsgruppe sitzt, die von der Deutschen Sportkonferenz eingesetzt wurde, um genau die Punkte, die hier in Ihrem Antrag aufgeführt sind, zu prüfen, Sie nicht davon unterrichtet hat, daß wir bereits eine Besprechung hinter uns haben und eine zweite terminiert ist. Hier muß doch der Eindruck entstehen, daß Sie mitten in den Beratungen dieser Arbeitsgruppe der Deutschen Sportkonferenz, die aus Vertretern aller vier Parteien zusammengesetzt ist, in der die Länder vertreten sind und in der wir uns gemeinsam darum bemühen, Lösungen zu finden, die sowohl für den Bund als auch für die Länder tragbar sind, den vorliegenden Antrag stellen, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, daß diese Beratungen noch nicht abgeschlossen sind.
Dies läßt den Antrag in einem merkwürdigen Licht erscheinen. In dieser Arbeitsgruppe wird das gemeinsame Vorgehen gepredigt. Hier aber wird versucht, mit dem Antrag vorweg ein paar Lorbeeren zu ernten. Dies steckt doch hinter dem Antrag, sonst gar nichts.
Die Begeisterung im Deutschen Sportbund und bei den Betroffenen, die wissen, wie die Beratungen laufen, ist deshalb nicht sehr groß gewesen, weil sie nun natürlich mit Recht die Sorge haben, daß manche Dinge, die vielleicht in der gemeinsamen Arbeitsgruppe auch zwischen Bund und Ländern gelöst werden können, nicht erleichtert, sondern erschwert werden, wenn sie ausschließlich auf die parteipolitische Schiene geschoben werden. Das bedauere ich.
Bisher ist es uns gelungen, diese Dinge gemeinsam zu behandeln.Nun komme ich zu den Sachfragen, zu denen Herr Kollege Schirmer schon eine Reihe von Punkten genannt hat, die ich nicht wiederholen möchte, soweit wir übereinstimmen. Ich möchte nur einige ergänzende Bemerkungen machen. Natürlich kann man darüber streiten, ob es richtig ist, heute den Betrag von 1 200 DM, der fünf Jahre alt ist, beizubehalten. Mir fällt auf, daß in Ihrem Antrag, dem Antrag der CDU, von einem Steuerfreibetrag die Rede ist, während in dem Antrag von Baden-Württemberg von einer Steuerfreigrenze die Rede ist. Es würde mich wundern, wenn der Unterschied zwischenSteuerfreibetrag und Steuerfreigrenze einem so engagierten Finanzpolitiker wie Ihnen, Herr Dr. Schäuble, völlig unbekannt sein sollte.
Das heißt, auch in diesem Punkt können Sie nicht einmal damit rechnen, mit der einzigen Landesregierung übereinzustimmen, die überhaupt in etwa so etwas befürwortet, sondern hier sind Sie mit dieser auch noch auseinander.
Somit steht von vornherein fest, daß auch in diesem Bereich zwischen Ihnen und Ihren eigenen Landesregierungen eine unterschiedliche Meinung besteht. Das wollte ich feststellen, damit das nicht ganz untergeht.
Nun komme ich zu der Frage, welchen Betrag man wählen soll. Darüber wird man miteinander zu sprechen haben. Nur ist es dabei klar, daß wir bei allen Diskussionen über diese Freigrenze nie aus den Augen verlieren dürfen, wieweit hier für andere Verbände und Organisationen Punkte geschaffen werden, die sie dazu bringen könnten, dem Gleichheitsgrundsatz entsprechend gleiche Rechte zu verlangen. Es könnte allerdings auch geschehen, daß für den Sport dabei weniger herauskommt, als wir bisher für ihn erreicht haben. Dies müssen wir in aller Nüchternheit prüfen, und das muß Ihr und unser gemeinsames Interesse sein.
Nun haben Sie wieder davon gesprochen, daß über die wirtschaftlichen Überschüsse geredet werden müsse. Sie haben gesagt, die 12 000 DM hätten Sie durchgesetzt. Das ist ein gemeinsamer Beschluß gewesen. Ich weiß noch sehr genau, wie ich gerade mit unseren Finanzpolitikern über die Frage diskutiert habe, ob das 10 000, 12 000 oder 15 000 DM sein sollten.
— Nein, in der Fraktion haben wir nicht 8 000 DM festgelegt; das ist völlig falsch. Sie werden wohl auch nicht besser als ich über meine Fraktionssitzung Bescheid wissen.
Bei uns in der Fraktion haben wir diese Fragen miteinander behandelt, und wir haben uns dann gemeinsam auf die 12 000 DM verständigt.
— Aber Herr Schäuble, wenn nur Sie es gewollt hätten, stände das nicht im Gesetz. Sie wissen doch, daß Sie in diesem Haus nicht allein die Mehrheit haben. Also kann es nur ein gemeinsamer Beschluß gewesen sein.Wir haben die Verrechnung hinsichtlich des Dreijahreszeitraums mit einbezogen, und ich habe bei
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Mischnickden Diskussionen mit den meisten Sportvereinen festgestellt, daß dies eine ganz erhebliche und für sie entscheidende Verbesserung ist, die sie hoch anerkennen. Aber es hat sich auch herausgestellt, daß eine sehr große Erhöhung dieses Betrages für die Masse der kleinen Sportvereine gar nichts bringt, da diese gar nicht so viele Überschüsse in einem Jahr oder innerhalb von drei Jahren haben.
Dies würde nur für einige wenige größere Institutionen einen Vorteil bedeuten, und das hätte die nachteiligen Wirkungen, daß Wettbewerbsverzerrungen eintreten, die wir nicht in Kauf nehmen können und wollen. Fragen Sie einmal Ihren Arbeitskreis Mittelstand, was er zu diesen Dingen sagt! Er wird dazu ganz anderer Meinung als Sie sein.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Kollege Mischnick, darf ich Sie fragen, ob Ihnen die liberalen Leitlinien zur Sportpolitik der FDP wirklich geläufig sind, in denen folgendes geschrieben steht:
Deshalb fordert die FDP die Steuerbegünstigung für Einkünfte aus wirtschaftlichen Geschäftsbetrieben eines gemeinnützigen Sportvereins, wenn diese Einkünfte uneingeschränkt gemeinnützigen Zwecken des Vereins zugeführt werden.
Das ist genau unser Antrag.
Sehen Sie, jetzt machen Sie einen Fehler, indem Sie diesen Gesichtspunkt nicht im Zusammenhang mit den Überlegungen sehen, die der Kollege Schirmer soeben vorgebracht hat, als er sagte: Wir müssen bei den Einzelberatungen einmal feststellen, wieweit Ausgaben unmittelbar für sportliche Zwecke im Rahmen dieser Behandlung stärker berücksichtigt werden können als bisher. So wie Sie es formuliert haben, geht das weit über den Rahmen hinaus, der uns in diesen Diskussionen machbar erscheint. Hier könnten Sie nämlich alles mögliche mit absetzen, was wir dabei auf keinen Fall berücksichtigt wissen wollen.
Wir können darüber diskutieren, wenn eine größere Sportveranstaltung stattfindet und dabei entsprechende Einnahmen erzielt werden, aber die Ausgaben für diese Sportveranstaltung eine so hohe Summe ausmachen, daß ein Teil der wirtschaftlichen Einnahmen gebraucht wird, um sie zu finanzieren. Wenn es hier bessere Abgrenzungsmöglichkeiten gibt, sind wir gern bereit, darüber zu diskutieren. Wir sind aber nicht bereit, eine solche Pauschalgenehmigung zu erteilen.
Ich will zu den anderen Punkten nicht im Detail Stellung nehmen, sondern zum Schluß nur eine Anmerkung zu einer Frage machen. Hier teile ich die Auffassung, die Kollege Schirmer vertreten hat.
Wenn wir beispielsweise bei den Ausbildungskos sten eine generelle Ermächtigung vorsehen, wie halten Sie es dann eigentlich bei den Abteilungen in Sportvereinen, die Profisport oder Teilprofisport treiben? Sollen deren Ausbildungskosten, wenn sie mit einem anderen Amateurverein Sportler austauschen, absetzungsfähig oder nicht absetzungsfähig sein? Welchen Weg wollen Sie hier gehen? Das alles sind Fragen, die sich automatisch stellen und über die wir zu reden haben werden. Deshalb sollte man das nicht so pauschal anpacken, sondern es eher etwas detaillierter sehen.
Darüber, daß es hier Punkte gibt, die zusammen mit den Überlegungen, die im Sportbericht der Bundesregierung stehen, durchaus diskutiert werden müssen, sind wir uns einig, nur nicht in der pauschalen Form, wie Sie es vorsehen.
Über Schach ist bereits gesprochen worden. Als wir den Begriff „Sport" in die Abgabenordnung hineinbrachten, wollten wir ihn umfassend und nicht eingeschränkt sehen. Deshalb sind wir froh, daß bei Schach die Entscheidung bereits gefallen ist.
— Die Entscheidung ist insoweit gefallen, als bei dem gemeinsamen Gespräch deutlich geworden ist: das zweite soll folgen, damit wir einen Schritt weiterkommen.
Noch ein Wort zum letzten Punkt. Sie reden wieder von der Spendenbescheinigung. Das klingt ganz hervorragend. Aber wenn Sie wie ich sowohl mit Sportkreisen als auch mit Sportvereinen über die Spendenbescheinigung sprechen, werden Sie es immer wieder erleben, daß bei den Betroffenen die Meinung darüber, ob sie selbst die Ermächtigung zum Ausstellen von Spendenbescheinigungen bekommen sollen oder nicht, unterschiedlich ist. Warum? Weil dies natürlich bedeutet, daß jeder kleine Sportverein dann auch im Hinblick darauf geprüft werden muß, ob er mit diesen Bescheinigungen entsprechend dem Gesetz umgegangen ist. Das bedeutet für ihn Verwaltungsaufwand, den er heute nicht hat, der heute über kommunale Einrichtungen oder wen sonst noch — abgewickelt wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Augenblick! Ich will erst den Gedanken zu Ende bringen.Deshalb ist das ein Punkt, den man zwar durchaus offen diskutieren soll, der aber vom Sport selber aus der praktischen Erfahrung heraus unterschiedlich beurteilt wird. Wenn man aber daran ginge, die Obergrenze so oder so festzulegen, würde das wiederum bedeuten, daß hier zweierlei Recht geschaffen würde. Das würde ich nicht für richtig halten. Deshalb sollte man diese Frage grundsätzlich prüfen, wobei ich froh wäre, wenn die Landesfinanzminister ihre Zustimmung dazu gäben, daß mehr über die Sportverbände selbst oder über Sport-
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Mischnickkreise abgewickelt werden kann. Auch das haben sie bis zur Stunde leider abgelehnt.Wenn ich noch Zeit habe, bin ich gern bereit, auf eine Frage zu antworten.
Ja, bitte schön, Herr Kollege.
Herr Kollege Mischnick, gestatten Sie mir, daß ich Sie noch einmal mit den liberalen Leitlinien zur Sportpolitik konfrontiere. Ich darf zitieren:
Deshalb fordert die FDP die Möglichkeit der Erteilung von Spendenbescheinigungen durch die Sportvereine.
„Möglichkeit" heißt, daß hier geprüft werden soll — das ist unser Grundsatz —, ob das der Sportverband oder der Sportkreis machen soll oder ob wir es über die kommunalen Institutionen machen.
—. Doch! Der kleine Sportverein — das haben die Gespräche in der Zwischenzeit ergeben — ist meistens technisch gar nicht in der Lage, das sachlich durchzuführen. Das sollten wir bei den Beratungen berücksichtigen. Sie können Ihre Gesichtspunkte gern einbringen. Wir werden sie unter dem Gesichtspunkt prüfen, was uns die Sportvereine selbst zu diesen Überlegungen inzwischen gesagt haben.
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor.
Der Ältestenrat empfiehlt Überweisung an den Finanzausschuß — federführend — sowie an den Sportausschuß und den Haushaltsausschuß als mitberatende Ausschüsse. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 8 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dollinger, Dr. Friedmann, Niegel, Dr. Sprung. Dr. Stavenhagen, Damm, Biehle, Dr. Schulte und der Fraktion der CDU/CSU)
Bessere Bedingungen für den CB-Funk
— Drucksache 8/2727 —
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates
Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen
Es ist eine Kurzdebatte vereinbart. Bestehen dagegen Bedenken? — Das ist nicht der Fall; es ist so beschlossen. Ich gehe davon aus, daß der erste Beitrag zugleich die Begründung ist. — Das ist der Fall. Dann hat das Wort Herr Abgeordneter Dr. Friedmann.
Frau Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Es tut mit leid, daß wir uns zu so später Stunde noch mit einem Thema beschäftigen müssen,
das vielleicht etwas langweilig sein könnte. Aber, Herr Kollege Wehner, es ist ein Thema, das aus der Mitte des Lebens genommen ist, weil sich hier Hobby, Hilfsbereitschaft und Kommunikationswesen miteinander verbinden.Ich darf vorweg sagen, um was es überhaupt geht. Die Abkürzung CB steht für Citizen Band und bedeutet auf deutsch „Jedermann-Funk". Wir reden also über die sogenannten Hobbyfunker.
— Das hat mit dem Zwischenruf etwas zu tun gehabt, der Ihnen wahrscheinlich entgangen ist. — Wir reden also über die Hobbyfunker, von denen es in Deutschland einige hunderttausend, möglicherweise bis zu zwei Millionen gibt. Es handelt sich um kleine Funkgeräte, die man in der Hand mit sich trägt oder die in Kraftfahrzeugen eingebaut sind, oder es sind feste Stationen, d. h., die mobilen Geräte sind miteinander oder mit einer festen Station in Verbindung. Die Deutsche Bundespost, die die Funkhoheit hat, hat zu diesem Zweck auf Elf-Meter-Wellenband im 27-Megahertz-Bereich 12 Kanäle zur Verfügung gestellt.„Auch bei Frauen piept s", so war vorgestern im „Expreß" zu lesen. Gemeint war damit, daß auch unter den Frauen Funkerinnen sind, die von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen.
Die CB-Funker frönen nicht nur einem Hobby, sondern es sind auch viele Hilfsmöglichkeiten gegeben. Ich darf nur daran erinnern, daß bei der letzten Schneekatastrophe in Schleswig-Holstein 30 Pkw-Fahrer einen Tag und eine Nacht eingeschneit waren, bis ein Lkw mit CB-Funk dazukam, der über eine Feststation die Polizei anrief, die dann zwei Bergungspanzer zur Rettung schickte. Wir erleben es auch immer wieder, wie Kinder, die daheim davongelaufen sind, mit Hilfe von CB-Funkern gefunden und nach Hause gebracht werden. Es kommt immer wieder vor, daß Lebensmüde auf diese Art und Weise von CB-Funkern aufgedeckt und am Leben gehalten werden. Es kommt auch immer wieder vor, daß ältere Menschen, die Kontaktschwierigkeiten haben, mit Hilfe des CB-Funks in ihrer Stadt Kontakte zu anderen Menschen finden. Mit anderen Worten, der CB-Funk ermöglicht nicht nur das Betreiben eines Hobbys, sondern ermöglicht zugleich gewisse Hilfen.Allerdings — und hier beginnt nun das Problem — haben diese Funker nur 12 Kanäle zur Verfügung. Darauf tummeln sich, wie gesagt, Hunderttausende solcher Funker. Das führt zu einer Situation, wie wir sie abends beim Mondscheintarif haben, wo viele ran wollen; aber es reicht nicht.
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Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12369
Dr. FriedmannDeshalb verlangen die CB-Funker mehr Kanäle. Die Bundespost argumentiert, das sei nicht notwendig, weil die vielen Funker räumlich über ganz Deutschland verteilt seien, außerdem wollten nicht alle gleichzeitig funken. Nun, diese Funker sind aber Menschen, die irgendwo in Arbeit stehen und deshalb nur nach der Arbeit am Feierabend funken können. Dann kann es eben zu diesen Störungen kommen.Die Bundespost ist der Meinung, daß sie keine weiteren Känale zur Verfügung hat, was aber tatsächlich nicht stimmt. Denn nach den internationalen Vereinbarungen hat sie einen Spielraum für zehn weitere Kanäle, was aber nicht heißt, daß diese völlig frei wären. Darauf sind vor allem die privaten Hilfsorganisationen tätig. Jedoch besteht eine Aussicht, bei der internationalen Funkverteilungskonferenz Ende dieses Jahres, international einige Zusagen zu bekommen, so daß dann den Funkhobbyisten geholfen werden kann.Hier ist der erste Ansatzpunkt unseres Antrags. Wir wollen erreichen, daß der Bundespostminister bei der Funkverteilungskonferenz im Herbst dafür sorgt, daß mehr Frequenzen zugewiesen werden, um damit die berechtigten Wünsche dieser Funker zu erfüllen.
Unser zweites Anliegen ist die Gebührensenkung. Heute müssen diese Funker 15 DM im Monat für eine Feststation bezahlen. In Amerika zahlt man nur 11 DM — verteilt auf fünf Jahre —, also wesentlich weniger. Wenn man einmal überschlägt, zu welchen Einnahmen die Abgaben der CB-Funker führen, dann geht es um etliche Millionenbeträge, die die Bundespost hier ohne wesentliche Gegenleistungen entgegennimmt.Vor ein paar Tagen sprachen wir im Haushaltsausschuß den Staatssekretär im Bundespostministerium, Elias, wegen der Senkung der Fernmeldegebühren an, die wir ja beantragt haben. Er war frei genug zu sagen, daß diese Senkung der Fernmeldegebühren kommt, aber erst im nächsten Jahr, nämlich als Wahlgeschenk.
— Doch, das hat er gesagt. — Um das Ganze noch zu ergänzen: Am letzten Freitag sagte mir die Spitze der Personalabteilung des Bundespostministeriums, daß man im nächsten Jahr auch bei Personalbeförderungen großzügiger vorgehen werde. Als ich fragte, ob dies mit der Wahl zusammenhänge, antwortete man mir, so sei nun einmal die Welt.
Ich bin der Meinung, wenn es möglich ist, aus dem Füllhorn der reichlich fließenden Fernmeldegebühren bei der Bundespost solche Wahlgeschenke aus Einnahmen zu zahlen, zu denen die Betroffenen vorher selbst beigetragen haben, dann sollte es auch möglich sein, in diesem Fall bei den Gebühren von 15 DM auf 10 DM pro Monat herunterzugehen.
Ein dritter Punkt liegt uns in Verbindung mit den CB-Funkern am Herzen. In Deutschland dürfen diese Hobbyfunker nur mit einer Sendeleistung von 0,5 Watt senden. In Amerika sind 4 Watt zugelassen, d. h., man hat dort eine größere Reichweite. In Deutschland kommen die Hobbyfunker je nach topographischen Verhältnissen nur 3 bis 6 km weit. Die Bundespost meint, die höhere Sendeleistung würde zu mehr Störungen führen. Das muß aber nicht so sein, wenn sich die Hobbyfunker an die Vorschriften halten. Deshalb bleiben wir bei der Forderung nach höherer Sendeleistung. Allerdings regen wir bei dieser Gelegenheit an, möglicherweise eine vereinfachte Prüfung einzuführen, bei der die Hobbyfunker nachzuweisen haben, daß sie über Mindestkenntnisse auf diesem Gebiet verfügen.In Verbindung damit, meinen wir, sollte man einen Notkanal zur Verfügung stellen. International ist dies der Kanal 9. Dieser Kanal ist nicht frei von Störungen, weil vor allen Dingen der medizinische und industrielle Funkverkehr immer wieder durchschlägt.Dennoch meinen wir: Wenigstens so viel wäre besser als gar nichts. Alles in allem wollen wir darauf hinwirken, daß sich das Bundespostministerium, bei dem die Funkhoheit liegt, endlich einmal mit den Verbänden der CB-Funker zusammensetzt und all dies bespricht, was hier ansteht.
Es geht z. B. auch um Richtantennen. Es geht auch um Rufkennzeichen, weil die Leute bisher ja nicht lizenziert und daher nicht feststellbar sind. Über all dies sollte man mit diesen Leuten endlich einmal reden.Ich bedaure, daß der Minister als politische Spitze des Bundespostministeriums heute abend nicht hier ist. Die hier anwesenden Herren sind als sehr qualifiziert in ihrem Hause bekannt. Möglicherweise hängt die Abwesenheit des Bundespostministers auch damit zusammen, daß er es nicht gerne sieht, wenn wir hier über postalische Probleme sprechen. Er möchte das lieber im Verwaltungsrat hinter verschlossener Tür tun, von wo eben nur lizenzierte Pressemeldungen herauskommen.
Bei einem Unternehmen, bei dem es um solche Dimensionen geht, muß aber hier vor der Offentlichkeit politisch gesprochen und politisch argumentiert werden.
Wir möchten deshalb den Bundespostminister bitten, sich bei den anstehenden Verhandlungen auf internationaler Ebene für diesen Personenkreis einzusetzen, vor allem für die Zuteilung neuer Frequenzen. Hier liegt in der Tat eine Möglichkeit, ohne Geld, ohne Steuermittel, für mehr Kommunikation unter Menschen zu sorgen, die dieses Be-
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Dr. Friedmanndürfnis haben, Behinderte, Kranke, Kinder. Diese Möglichkeit muß in dieser so anonym und seelenlos gewordenen Gesellschaft genutzt werden.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wuttke.
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bedaure, daß ich dem Fachvortrag von Herrn Friedmann noch etwas hinzufügen muß.Ich muß feststellen, daß sich dieser Antrag der CDU/CSU-Fraktion in jeder Hinsicht würdig in die Reihe der bisher schon behandelten Anträge der Opposition einreiht. Da werden zu einem Thema, das publizitätswirksam zu sein verspricht, alle jemals von welchen Interessenverbänden auch immer erhobenen Forderungen gesammelt, aufgelistet und der Bundesregierung dann als eigene Vorschläge vorgetragen. Auf inneren sachlogischen Zusammenhang kommt es dabei wohl absolut nicht an.Wie kann man es sich sonst anders erklären, daß in einem Antrag, der der Verbesserung der Bedingungen für den CB-Funk dienen soll, ausgerechnet die Erhöhung der zulässigen Sendeleistung gefordert wird? Die Erhöhung der zulässigen Sendeleistung würde nicht nur die Nutzreichweiten der Funkanlagen, sondern in gleicher Weise auch die Störreichweiten — wegen der Funkanlagendichte — vergrößern. Dabei würde die Zahl der Funkanlagen zunehmen, die, weil sie an verschiedenen Orten die gleiche Frequenz benutzen, sich gegenseitig stören. Die Folge davon wäre, daß die heute mögliche Mehrfachnutzung der Frequenzen entsprechend der Steigerung der Sendeleistung schwieriger würde. Das wäre genau dasselbe, wie wenn Sie im Straßenverkehr dem jeweils größeren Wagen den Vorrang einräumen würden.Das Problem der Belegungsdichte würde über das heute schon von Benutzern als kritsch empfundene Maß hinaus anwachsen. Sie würden damit in Kauf nehmen, daß noch mehr Radiogeräte und Stereo-Anlagen durch den CB-Funk gestört würden, als das heute schon der Fall ist — und das, wo die Störungsmeßdienste der Deutschen Bundespost schon heute alle Hände voll zu tun haben.So „verbessern" Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, die Bedingungen für den CB-Funk. Ein einziges Gespräch mit einem Fachmann hätte Sie vor einer ganzen Reihe dieser „Rohrkrepierer" bewahren können.
Die Hilfe von CB-Funkern in Notfällen wird von uns dankbar anerkannt. Sie wird anerkannt wie jede andere selbstlose Hilfe, die in Notsituationen ohne besonderes Aufheben geleistet wird. Jedoch dürfen daraus keine Forderungen im Sinne der technischen Vorschläge des Oppositionsantrages abgeleitet werden, deren Realisierung die Rechte anderer auf ungestörten Empfang von Radio- und Fernsehsendungen beschneiden würde.Es ist richtig, daß sich der CB-Funk-Verkehr zu einem liebenswerten Hobby entwickelt hat, wobei durch die Technik neue Möglichkeiten des Kontakts zwischen Menschen geschaffen worden sind. Nach den Unterlagen der Deutschen Bundespost und ihren neuesten Verkehrsmessungen reichen die gegenwärtig dem CB-Funk zugeteilten Frequenzen grundsätzlich aus, wenn alle Beteiligten ein gewisses Maß an Fairneß und Disziplin wahren. Das schließt nicht aus, daß zu bestimmten Zeiten in bestimmten Räumen eine Überbelastung der CB- requenzen auftreten kann. In unserer durchrationalisierten und technisierten Welt ist das OB-Funken aber seit langer Zeit wieder einmal eine neue Möglichkeit, Kontakte zwischen Menschen herzustellen. Deshalb wird dieses Funken noch viele Liebhaber finden. Insoweit sieht auch die SPD-Fraktion die Notwendigkeit, für die Zukunft vorzusorgen und die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Bürger unseres Landes ihr Steckenpferd reiten können.Ehe man nun naßforsch Forderungen stellt, muß man sich natürlich darüber klarwerden, in welchen Gesamtrahmen dieses Problem zu stellen ist. Welches ist denn das Ziel? Wir alle wollen doch zufriedene Bürger. Zufrieden sein sollen alle Bürger, nicht nur diejenigen, die Freude am Funken haben, sondern auch diejenigen
— die kommen dann auch zu Ihnen —, denen ein ungestörter Rundfunkempfang und ein ungestörter Genuß ihrer Stereoanlage über alles geht. Das heißt, erstens muß eine möglichst freizügige Regelung für die Benutzung von CB-Anlagen gefunden werden, zweitens eine Regelung, die möglichst wenig Störprobleme aufwirft.Im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, bin ich zum ersten der Auffassung, daß es ideal wäre, eine solche Lösung bei möglichst geringem Verwaltungsaufwand zu finden. Die Einführung neuer Lizenzen bedeutet neue Verwaltungsaufgaben, bedeutet mehr Bürokratie und steht dem eigentlichen Sinn des CB-Funks als Hobby völlig entgegen. Da lobe ich mir eben im Augenblick die geltende liberale Praxis.Zum zweiten wird die Antwort schwieriger, weil Randbedingungen zu beachten sein werden, die schwerer beeinflußbar sind. Einerseits bekommen immer mehr Bürger, die CB-Anlagen im Auto haben, Ärger, wenn sie die Grenzen ins Ausland überschreiten wollen. Andererseits führen die unterschiedlichen nationalen Regelungen für den CB-Funk dazu, daß Geräte, die in einem Land verkauft und betrieben werden dürfen, im Nachbarland verboten sind. Hier hilft also nur internationale Abstimmung.Die Deutsche Bundespost hat sich in dieser Erkenntnis mit ihren Regelungen schon bisher im Rahmen einer Richtlinie der Europäischen Konfe-
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Wuttkerenz der Post- und Fernmeldeverwaltungen gehalten, um ein Minimum an internationaler Übereinstimmung wenigstens im europäischen Bereich anzusteuern. Einen Ansatz zur Lösung des Problems könnte die weltweite Funkverwaltungskonferenz bringen — da gehe ich mit Herrn Friedmann einig —, die im Herbst nun beginnt. Auf ihr sollen auch dem öffentlichen beweglichen Landfunk neue Frequenzbereiche zugewiesen werden. Danach müßte zwischen den europäischen Verwaltungen, insbesondere wegen der Grenzüberschreitungen, und zwischen den größeren Industrienationen wegen des Im- und Exports von Geräten abgestimmt werden, welche dieser Frequenzbereiche dem CB-Funk zugewiesen werden sollen.Eine solche Lösung wäre ideal. Der CB-Funk könnte dann ungestört expandieren. Die Störungen durch den CB-Funk gäbe es nicht mehr. Die importierten Geräte entsprächen auch den deutschen Regelungen.Bei einem solchen Ziel lohnt es sich, ein bißchen Geduld zu haben. Sollte das Ziel nicht erreichbar sein, müßte eine technisch unbefriedigende Minimallösung im 27-Megahertz-Bereich gefunden werden, die bestimmt niemanden auf Dauer zufriedenstellen wird.Deshalb setzt sich die Fraktion der SPD dafür ein, daß der Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen zunächst die Realisierungschancen für die technisch bessere Lösung im Verlauf der weltweiten Funkverwaltungskonferenz prüft. Danach sollte er uns berichten, welche Vorschläge er angesichts der dann gegebenen Lage dem Verwaltungsrat der Deutschen Bundespost zu machen gedenkt.Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für die Geduld. Wir hätten uns diese Debatte mit einem derart fachbezogenen Hintergrund in erster Lesung sparen können.
Ich bin sicher, daß nur ganz wenige in diesem Hause die Problematik kennen und mit dem nötigen Fachwissen ausgestattet sind. Allein schon aus diesem Grunde hätte man der Beratung im Fachausschuß den Vorrang einräumen sollen. Aber der Kollege Friedmann hat mich in Zugzwang gebracht. Deshalb bitte ich um Entschuldigung, daß ich die wenigen Zuhörer noch habe langweilen müssen.
Das Wort hat der Abgeordnete Hoffie.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ohne Sie lange in Anspruch nehmen zu wollen, ist es doch erforderlich zwei Bemerkungen zurückzuweisen, Herr Kollege Friedmann, die mehr als polemisch waren und sich auf das bevorstehende Wahljahr bezogen.Sie sagten, Beförderungen stünden rechtzeitig als Wahlgeschenk an. Sie als einer derjenigen, die von der Post etwas mehr als die meisten, die jetzt noch anwesend sind, verstehen sollten, weil Sie mit ihr beruflich zu tun haben, sollten besser wissen, daß Beförderungen nach Stellenbewertungen erfolgen, daß Stellenbewertungen wiederum nach objektiven Kriterien vorgenommen werden, d. h. unabhängig von Wahljahren. Das zum ersten, Herr Kollege Friedmann.Zum zweiten: Sie sagen, solche Probleme würden lieber hinter verschlossenen Türen im Verwaltungsrat diskutiert. Sie haben bei der letzten Haushaltsdebatte ja ausreichend Gelegenheit genommen, die Bundesregierung zu beschimpfen und zu erklären, was man bei der Post alles anders und besser machen könnte. Sie wollten Probleme aufzeigen, wie Sie meinten. Nur, zu diesem Problem haben Sie nicht ein einziges Wort gesagt, so daß doch die Schlußfolgerung zumindest naheliegt, daß vieles, was jedes Wochenende in Leserbriefen zur Problematik des CB-Funks steht, jetzt, wirr zusammengeschrieben, zu einem Antrag aufbereitet und plötzlich zum großen Problem gemacht wird.Dennoch, die FDP begrüßt durchaus, daß man auch an dieser Stelle einmal über solche Probleme spricht; denn die Gemeinde derjenigen, die sich mit CB-Funk beschäftigen, wird ja nun wirklich von Monat zu Monat größer. Aber sicher ist es notwendig, daß wir die Diskussion, auch auf der Grundlage Ihres Antrags, sehr viel gründlicher führen; denn auf den ersten Blick kommen wir nicht an dem Eindruck vorbei, daß die Analyse der Bedingungen des sogenannten Jedermannfunks, die Sie angestellt haben, unvollständig ist, daß die Forderungen der Opposition insgesamt unausgewogen sind und einzelne Vorhaben der Union auch deshalb abgelehnt werden müssen, weil sie auf Grund der gegebenen Frequenzsituation dem Jedermannfunker überhaupt nicht dienen können.Ich will beispielhaft nur die Forderung nach Erhöhung der Sendeleistung nennen, die unter den gegebenen Umständen und Bedingungen zu noch größeren Störungen im 11-Meter-Band führen müßte, als sie ohnehin schon vorhanden sind.Lassen Sie mich aber, bevor ich auf einige wenige Einzelheiten des Antrags eingehen will, einige grundsätzliche Bemerkungen machen. Wir begrüßen es, daß sich der Jedermannfunk durch die Liberalisierung der Genehmigungsbedingungen für Funksprechanlagen kleiner Leistung im Jahr 1975 entfalten konnte. Die sprunghafte Entwicklung dieses Marktes zeigt, daß für den CB-Funk eine sehr beträchtliche Nachfrage und auch ein erhebliches Bedürfnis vorhanden war und ist. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß sehr viele Geräte nur selten benutzt werden, kann man sicherlich davon ausgehen, daß doch einige Hunderttausend Geräte mit einer gewissen Regelmäßigkeit benutzt werden. Das dürfte den Kreis der eigentlichen CB-Funker ausmachen.Die FDP hat insgesamt eine, wie Sie wissen, sehr positive Einstellung zu den Aktivitäten der CB- Funker. Dieser Funk befriedigt nämlich ein allgemeines Kommunikationsbedürfnis, das in vergleichbarer Weise durch andere Kommunikationsmög-
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Hoffielichkeiten nicht befriedigt werden kann. Ob es sich dabei um reine Hobby- und Freizeitbedürfnisse oder um neue Kommunikationsmöglichkeiten, z. B. für Behinderte, handelt — wir messen dem Jedermannfunk eine wirklich positive gesellschaftspolitische Funktion zu.Der CB-Funk hat sich zu einem billigen Nahinformationssystem entwickelt, für das die vorhandenen Mobilfunksysteme wie Autotelefon oder Eurosignal keine Alternativen darstellen, weil sie für die meisten Teilnehmer zu teuer sind oder eben nur einen Teil der Funktionen des CB-Funks erfüllen. Der Jedermannfunk hat sich in manchen Gebieten, in denen sich die Funker darum bemühen, zu einem wirklich wertvollen Instrument vor allem der Nachbarschaftshilfe entwickelt. Last not least: CB-Funker spielen zunehmend auch eine Rolle bei der Pannen- und Unfallhilfe im Straßenverkehr.Alle diese Initiativen, alle diese Tätigkeiten werden von der FDP nachdrücklich begrüßt. Man muß nicht hinzufügen, daß CB-Funker während der Schneekatastrophe, wie es ja auch in dem Antrag heißt, in der Tat • verdienstvolle Kommunikationshilfen gegeben haben, um zu verdeutlichen, daß diese CB-Funker eine politische Klärung ihrer Probleme und auch eine politische Unterstützung erwarten können.Eine befriedigende Lösung dieser Probleme wird indessen nicht schnell zu erreichen sein, denn der CB-Markt ist derzeit trotz der Liberalisierung von 1975 ein reglementierter Markt mit allen damit verbundenen Problemen. Es gibt keine wirksamen internationalen Absprachen über die Nutzung der von der CEPT vorgesehenen CB-Funkfrequenz.
— Herr Kollege Haase, wir haben vereinbart: zehn Minuten! Ich möchte wenige grundsätzliche Bernerkungen machen, damit wir uns die Ausschußberatungen erleichtern und an der richtigen Stelle ansetzen können. Ich bitte um Nachsicht; wenn am Ende Zeit ist, gerne.
Dieses hat zur Folge, daß einerseits z. B. in der Bundesrepublik zugelassene Geräte in den Nachbarländern überhaupt nicht verwendet werden können und andererseits viele Geräte in der Bundesrepublik vorhanden sind, die nicht zugelassene Ausgangsleistungen und nicht zugelassene Betriebsarten und zudem auch eine nicht zugelassene Anzahl von Kanälen haben.Das bedeutet insgesamt, daß ein schwarzer Markt existiert, mit allen problematischen Folgen für die Rechtssicherheit des einzelnen CB-Funkers, der gutgläubig derartige Geräte einsetzt. Auch die nationalen Regelungen sind, wie wir meinen, unbefriedigend. Es ist problematisch, daß in beträchtlichem Umfang in der Bundesrepublik Geräte zwar vertrieben, nicht aber benutzt werden dürfen. Das erhöht nicht nur die ohnehin vorhandene Rechtsunsicherheit für den gutgläubigen Käufer von Funkgeräten, sondern führt auch von seiten der Bundespost zu einem Kontrollaufwand, den wir uns in diesem Umfang eigentlich nicht wünschen können.Schließlich wissen wir, daß die im 11-Meter-Band für den CB-Funk bereitgestellten Frequenzen ein relativ schlechtes Angebot darstellen. Die physikalischen Bedingungen sind auf diesen Frequenzen ungünstig. Die betrieblichen Bedingungen sind ebenfalls ungünstig, weil auf den CB-Frequenzen gleichzeitig eine ganz beträchtliche Anzahl von Industriegeräten zugelassen sind, die teilweise mit wesentlich höheren Sendeleistungen arbeiten.Bei diesen Ausgangsvoraussetzungen halten wir es für wünschenswert, wenn bei der Weiterentwicklung der Bedingungen für den CB-Funk zumindest auf folgende Ziele hingearbeitet wird:Erstens. Harmonisierung der Zulassungsbedingungen für CB-Funkgeräte innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Wir begrüßen, daß der Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen dazu im Januar dieses Jahres die Initiative ergriffen hat.Zweitens. Harmonisierung der Bedingungen hinsichtlich der Bereitstellung von Frequenzen im 11-Meter-Band. Dies sollte mit der Absicht geschehen, die von der CEPT für den CB-Funk vorgesehenen Kanäle auch tatsächlich zur Verfügung zu stellen. Wir sind der Auffassung, daß eine nur restriktive Frequenzpolitik nicht geeignet ist, die vorhandenen und sich verschärfenden Probleme zu lösen.Drittens. Es stellt sich längerfristig die Aufgabe, den CB-Funk auf ein anderes Frequenzspektrum zu verlagern. Im Hinblick auf die nächste Funkverwaltungskonferenz im Herbst dieses Jahres sollte, wie wir meinen, angestrebt werden, dafür den 900Megahertz-Bereich vorzusehen, der physikalisch günstigere Voraussetzungen bietet. Auch die Diskussion in den USA legt ja, wie schon gesagt wurde, eine solche Politik nahe. Wir sehen, daß dazu Frequenzen, die heute dem Rundfunk zur Verfügung stehen, freigemacht werden müssen, halten dies aber im Zuge der technischen Entwicklung für möglich und für nötig. Wir sind bereit, das Bundespostministerium in dieser seiner Politik zu unterstützen.Unabhängig davon sollten wir im Ausschuß im einzelnen prüfen, welche der von der Opposition vorgeschlagenen Maßnahmen bereits kurzfristig verwirklicht werden könnten. Die Tatsache, daß sich die Zahl der Feststationen von rund 50 000 Ende 1977
auf nahezu 100 000 Ende 1978 verdoppelt hat, rechtfertigt natürlich Überlegungen, ob die monatliche Grundgebühr von derzeit 15 DM aufrechterhalten werden muß. Sicher läßt sich sagen, daß die Gebühr angesichts des Genehmigungsaufwandes nicht gerechtfertigt ist. Ebenso läßt sich sagen, daß die mit der Gebühr verbundene prohibitive Absicht nicht realisiert werden könnte.Es ist also Sache der Ausschußberatungen, zu einer weitergehenden Klärung zu gelangen. Wir
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Hoffiesollten die Beratungen gemeinsam mit dem Vorsatz führen, die Grauzonen der Illegalität im CB- Funk zu beseitigen und die Attraktivität des CB- Funks insgesamt noch stärker zu fördern.
Meine Damen und Herren, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. Der Ältestenrat empfiehlt Überweisung an den Ausschuß für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen. Ist das Haus damit einverstanden? — Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe als letzten Punkt für heute Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Beratung der Ubersicht 9 des Rechtsausschusses über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
— Drucksache 8/2800 —
Wünscht der Herr Berichterstatter das Wort? — Das ist nicht der Fall. Das Wort zur Aussprache wird auch nicht gewünscht.
Der Ausschuß empfiehlt, von Äußerungen oder einem Verfahrensbeitritt zu den aufgeführten Streitsachen abzusehen. Wer dem zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ist so beschlossen.
Damit sind wir am Ende unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe das Haus auf morgen, Freitag, den 18. Mai 1979, 8 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.