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ID0815406900

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    Vokabeln: 8
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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 8/154 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 154. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 Inhalt: Begrüßung der Präsidentin des Senats von Kanada, Frau Renaude Lapointe . . . . 12266 B Bericht zur Lage der Nation Schmidt, Bundeskanzler . . . . . . . 12253 A Dr. Kohl CDU/CSU . . . . . . . . . 12266 C Mattick SPD . . . . . . . . . . 12279 C Hoppe FDP 12285 A Dr. Zimmermann CDU/CSU . . . . . 12289 B Friedrich (Würzburg) SPD . . . . . . 12296 C Dr. Wendig FDP 12301 C Franke, Bundesminister BMB . . . . . 12306 A Dr. Barzel CDU/CSU . . . . . . . . 12309 D Dr. Ehmke SPD 12315 D Dr. Abelein CDU/CSU 12322 D Ludewig FDP 12327 C Dr. Gruhl fraktionslos 12329 A Dr. Czaja CDU/CSU 12331 C Hofmann (Kronach) SPD . . . . . . 12335 C Graf Huyn CDU/CSU 12337 C Schulze (Berlin) SPD 12340 C Baron von Wrangel CDU/CSU . . . . . 12342 B Büchler (Hof) SPD . . . . . . . . . 12343 C Erklärungen nach § 35 GO Jäger (Wangen) CDU/CSU 12344 D Dr. Ehmke SPD 12345 B Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Umsatzsteuergesetzes (UStG 1979) — Drucksache 8/1779 — Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 8/2864 — Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses — Drucksache 8/2827 — Kühbacher SPD . . . 12345 D, 12347 B, 12353 C Di . Meyer zu Bentrup CDU/CSU . 12346 B, 12347 B Frau Matthäus-Maier FDP . . . . . . . 12347 C Dr. Kreile CDU/CSU 12348 B Frau Funcke FDP 12 357 B Matthöfer, Bundesminister BMF 12360 B II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Jenninger, Dr. Jobst, Röhner, Dr. George, Dr. Friedmann, Schröder (Lüneburg), Carstens (Emstek), Dr. von Wartenberg, Sauter (Epfendorf), Dr. Schulte (Schwäbisch Gmünd), Dr. Dregger, Kolb, Broll, Hanz, Spranger, Seiters, Glos, Susset, Dr. Waigel, Dr. Sprung, Dr. Warnke, Gerlach (Obernau), Dr. Miltner und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investitionszulagengesetzes — Drucksache 8/2780 — 12361 D Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung der Bundesnotarordnung — Drucksache 8/2782 — 12362 A Beratung der Sammelübersicht 45 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen mit Statistik über die beim Deutschen Bundestag in der Zeit vom 14. Dezember 1976 bis 31. März 1979 eingegangenen Petitionen — Drucksache 8/2786 — in Verbindung mit Beratung der Sammelübersicht 46 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen — Drucksache 8/2826 — 12362 A Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Steuerliche Behandlung der gemeinnützigen Sportvereine — Drucksache 8/2668 — Dr. Schäuble CDU/CSU 12362 C Schirmer SPD 12364 B Mischnick FDP 12365 D Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dollinger, Dr. Friedmann, Niegel, Dr. Sprung, Dr. Stavenhagen, Damm, Biehle, Dr. Schulte (Schwäbisch Gmünd) und der Fraktion der CDU/CSU Bessere Bedingungen für den CB-Funk — Drucksache 8/2727 —Dr. Friedmann CDU/CSU . . . . . . 13368 C Wuttke SPD 13370 A Hoffie FDP 12371 B Beratung der Ubersicht 9 des Rechtsausschusses über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht — Drucksache 8/2800 — 12373 A Nächste Sitzung 12373 C Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . . 12375*A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12253 154. Sitzung Bonn, den 17. Mai 1979 Beginn: 9.01 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete (r) entschuldigt bis einschließlich Adams *** 17. 5. Dr. van Aerssen *** 18.5. Dr. Ahrens ** 17. 5. Dr. Aigner *** 18. 5. Alber *** 18. 5. Dr. Bangemann *** 17. 5. Frau Benedix 18. 5. Dr. von Bismarck 18. 5. Dr. Böhme (Freiburg) 18.5. Frau von Bothmer ** 17. 5. Büchner (Speyer) * 18. 5. Dr. Dollinger 18. 5. Fellermaier *** 18. 5. Dr. Fuchs 18.5. Haberl 18. 5. Handlos * 18. 5. von Hassel 17. 5. Dr. Haussmann 18. 5. Frau Hürland 18. 5. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union *** für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete () entschuldigt bis einschließlich Katzer 18. 5. Dr. Klepsch *** 17. 5. Dr. h. c. Kiesinger 18. 5. Klinker 18.5. Kolb 13. 5. Frau Krone-Appuhn 17. 5. Lange** 13. 5. Lemp *** 18. 5. Dr. Lenz (Bergstraße) 17. 5. Lenzer *** 13.5. Lücker *** 18. 5. Müller (Bayreuth) 18. 5. Müller (Mülheim) *** 18. 5. Müller (Remscheid) 18. 5. Neumann (Bramsche) 17. 5. Offergeld 18.5. Rapp (Göppingen) 18. 5. Frau Dr. Riede (Oeffingen) 18. 5. Frau Schlei 18.5. Schreiber *** 18. 5. Dr. Schwörer'** 18. 5. Seefeld *** 18. 5. Dr. Starke (Franken) *** 18. 5. Frau Dr. Walz *** 17. 5. Wawrzik *** 18. 5. Weber (Heidelberg) 18. 5. Wohlrabe 18. 5. Würtz *** 17. 5. Zeitler 18. 5.
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    Rede von Dr. Herbert Gruhl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da mir nur 15 Minuten zur Verfügung stehen, kann ich nur einige Punkte des Berichts zur Lage der Nation aufgreifen, vor allen Dingen die Zukunftsaspekte. Auf diese wollte der Herr Bundeskanzler am Schluß seiner Rede zwar eingehen, aber ich habe dann nur wenig darüber gehört.
    Die Zukunftsfragen werden nicht von den hier vertretenen Parteien aufgegriffen, dafür um so entschiedener von Bürgern dieses Landes. Diese haben sich in vielen Bürgerinitiativen zusammengefunden, weil sie die wichtigsten Probleme von den drei Parteien seit langem ausgeklammert sehen. Der Herr Bundeskanzler muß sehr wenig von den Beweggründen der Bürger wissen, wenn er ihnen vor wenigen Tagen den Vorwurf machte, daß sie nur kurzsichtige, egoistische Interessen verträten. Diese besorgten Bürger vertreten am allerwenigsten ihre eigenen Interessen, sondern die Interessen der künftigen Generationen, die der Ungeborenen. Dafür opfern viele ihre Zeit und auch Geld. Dies ist ein echtes soziales Engagement, denn eine Politik kann nur dann sozial genannt werden, wenn sie in die Solidarität auch die künftigen Generationen mit einbezieht.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Das ist ja unbestritten!)

    — Aber davon weiß der Herr Bundeskanzler nichts, wohl auch deshalb, weil er noch nie in seiner Amtszeit Frauen und Männer der Bürgerinitiativen empfangen und gesprochen hat. Die Personen und Vertreter von Verbänden, mit denen er täglich spricht und verkehrt, vertreten in der Tat Interessen kurzfristiger Art, vor allen Dingen wirtschaftliche. Diese Art von Interessenvertretung hält der Bundeskanzler offensichtlich für legitim. Aber der Einsatz für Kinder und Enkel wird mißachtet oder auch heute noch nicht zur Kenntnis genommen. Diese Bürger müssen sich sogar Beschimpfungen gefallen lassen, während andere gesellschaftliche Gruppen in unserem Lande heute vom Bundeskanzler ausdrücklich gelobt worden sind.
    Die Mitbestimmung wurde heute von ihm als ein wertvoller Bestandteil unserer Gesellschaft hervorgehoben. Warum sollen Bürger nicht mitbestimmen, wo eine Straße, ein Flugplatz oder ein Atomkraftwerk gebaut werden soll?
    Die Bürgerinitiativen sind eine übergreifende gesellschaftliche Gruppe, die in allen Teilen des Volkes verwurzelt ist.

    (Hasinger [CDU/CSU] : Was heißt übergreifend?)

    — Darin sind alle anderen Interessengruppen durch Personen vertreten. Im anderen Teil Deutschlands gibt es keine Bürgerinitiativen, weil es dort die Freiheit der öffentlichen Meinung nicht gibt.

    (Hasinger [CDU/CSU]: Richtig!)

    Nur weil die Parteien auch hier die Zukunftsfragen vernachlässigt haben, ist diese Bewegung entstanden und zu einer — auch politischen — Macht geworden. Warum hat der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht den Bau der Wiederaufbereitungsanlage zurückgestellt? Aus politischen Gründen, wie er selbst sagt. Nachdem in Österreich und in der Schweiz eine knappe Mehrheit für bzw. gegen die Kernenergie zustande gekommen ist, würde eine Abstimmung in Deutschland zur Zeit mit großer Mehrheit zu einer Ablehnung führen — und dies nicht etwa auf Grund von Emotionen, wie oft behauptet wird, sondern infolge langjähriger Aufklärungsarbeit besorgter Bürger. Diese hatten Erfolg, obgleich Millionen Deutsche Mark sowohl von der Bundesregierung als auch von der Atomindustrie ausgegeben worden sind und unnötigerweise noch weiter ausgegeben werden sollen. Diese Bürger haben auch Erfolg, weil die Logik auf ihrer Seite steht.
    Alle drei Parteien und besonders der Bundeskanzler gingen bisher von der Prämisse aus, auf Kernenergie könne nicht verzichtet werden. Danach kamen dann diverse Erklärungen, daß man weitere Atomkraftwerke nur bauen würde, wenn die Sicherheit voll gewährleistet sei. Wenn man aber davon ausgeht, daß Atomenergie unabdingbar sei, wie ein. anderer dieser absoluten Ausdrücke lautet, so kann dies doch nur heißen, daß eben der Ausbau auch dann weitergehen müsse, wenn sich die Sicherheit als unvollkommen erweise.
    Ehrliche Wissenschaftler und Techniker haben schon immer gewußt, daß es in keiner Technik eine 100%ige Sicherheit gibt. Die Vertreter der Atomindustrie haben dies in der Vergangenheit aber nie zugeben wollen. Harrisburg hat nun ein drastisches Beispiel dafür geliefert, daß nicht nur Unfälle eintreten können, sondern gerade auch solche, an die man vorher nie gedacht hat.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Das ist es eben!)

    — Eben. Man ist aber in den Berechnungen immer davon ausgegangen, daß bei den Planungen alle Möglichkeiten erfaßt worden seien, Herr Mertes. Nun stellt sich heraus, daß das nie der Fall sein kann und auch nie der Fall war.

    (Dr. Mertes [CDU/CSU] : Das habe ich nie so gesehen!)




    Dr. Gruhl
    — Es geht um die Fachleute, um die sogenannten Experten. Eine Katastrophe, an der man dort gerade noch mit knapper Not vorbeigekommen ist, hätte zur Evakuierung eines großen Gebietes geführt. Man muß sich einmal vorstellen, .was dies in unserem kleinen und dicht besiedelten Land bedeutet hätte. Ganze Landstriche müßten auf unbestimmte Zeit geräumt werden. In den übrigen Landesteilen müßte die Bevölkerung zusammenrücken und Einschränkungen in einem Ausmaß hinnehmen, im Vergleich zu dem ein vorsorglicher sparsamer Umgang mit Energie eine Lappalie wäre.
    Der Herr Bundeskanzler hat davon gesprochen, daß der Fortschritt im menschlichen Rahmen erfolgen solle; aber die Kernenergie hat viele Aspekte der Unmenschlichkeit. Ein unmenschlicher Aspekt ist es, daß wir künftigen Generationen den atomaren Müll, also die Nachteile vererben wollen, während wir die Vorteile der Energie heute bei einem ständig höheren Verbrauch — und damit auch unter Verschwendung — für uns in Anspruch nehmen.
    Ein weiterer unmenschlicher Aspekt ist die weitere totale Industrialisierung unseres Landes. Denn wer soll die zusätzliche Energie verbrauchen wenn nicht neue riesige Fabriken, die ihrerseits unsere Umwelt wieder weiter großflächig zerstören?
    Der Bundeskanzler hat eindringlich davon gesprochen, daß das Leben in unserem Lande immer inhumaner wird und daß es keine Räume für die Kinder mehr gebe. Das ist so, weil ständig neue Fabriken, Straßen, Wohnsilos und vor allem Autos gebaut werden. Man nennt das dann zukunftsträchtige Investitionen. Aber gerade dabei wird das Land immer unmenschlicher.
    Die Wachstumstheorie sieht eine Verdoppelung der derzeitigen materiellen Quantitäten spätestens bis zum Jahr 2000 vor. Auf diesem Weg können die Straßen gar nicht „leerer" werden, wie der Bundeskanzler meinte. Ich bin in der Tat der Meinung, daß leerere Straßen menschenwürdiger wären, daß Kinder die Straßen dann wieder kreuzen könnten und daß es nicht 15 000 Tote jährlich geben müßte.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Was hat er eigentlich gegen die Lehrer?)

    — Herr Mertes, warum ärgern Sie mich heute so? Sie sind doch sonst so nett.
    Aber weil die Politik aller drei Parteien vor allem eine weitere ständige Betonierung unseres Landes zum Ziel hat, glaubt ein großer Teil der Bevölkerung nicht mehr an die lebenswerte Zukunft. Besonders viele Frauen glauben wohl nicht mehr daran; sie möchten ihre Kinder nicht einem derart urigewissen Schicksal überlassen, und darum kam auch in der Debatte heute wieder die Verminderung der Bevölkerungszahl zur Sprache.
    Die Zukunft hängt angeblich davon ab, daß wir möglichst viele Kernkraftwerke bauen, und Herr Kohl verlangte heute wieder 16 000 Megawatt bis 1985. Wenn eine solche Frage zur „nationalen Schicksalsfrage" hochstilisiert wird, dann ist das die Art von Zukunft, an die viele nicht mehr glauben. Herr Kohl sollte einmal den niedersächsischen Minister Professor Pestel fragen, was dieser von den hochgerechneten Energieprognosen hält. Er ist vor einem Jahr in die CDU eingetreten, während ich austrat. Dort müßte wohl eine Auskunft zu bekommen sein.
    Es wird selbst dann zu keiner Energielücke kommen, wenn wir kein einziges Kernkraftwerk mehr bauen; denn nirgendwo ist überzeugend dargelegt worden, an welchen Stellen der deutschen Wirtschaft ständig mehr Energie eingesetzt werden könnte. Der Erdölmangel wird sich nicht durch Atomenergie beseitigen lassen, weil Elektrizität z. B. keine Autos antreibt. Schienenfahrzeuge könnte man allerdings mit ihr antreiben; aber das Strekkennetz der Deutschen Bundesbahn wird ständig weiter verkleinert.
    Der Bundeskanzler hat sich gegen die „allgemeine Verdammung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts" gewandt. Wir verdammen diesen Fortschritt nicht. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt muß künftig aber ganz neue Wege beschreiten: auf der Grundlage des sparsamen Umgangs mit Energie und Rohstoffen.

    (Hasinger [CDU/CSU] : Aber konkret tragen Sie dazu wenig bei!)

    — Sie müssen mir eine Stunde Redezeit geben, dann sage ich Ihnen all das Konkrete.

    (Dr. Hennig [CDU/CSU] : Das ist hier eine innerdeutsche Debatte, Herr Gruhl!)

    — Ja, es ist eine Debatte zur Lage der Nation. Nicht ich habe die Kernenergie eingeführt, sondern die großen Herren Vorredner. Deshalb darf auch ich etwas darüber sagen.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Die Deutschlandfrage als grünes Problem!)

    Darum müssen neue Technologien' entwickelt werden, die auf eine Produktion langlebiger Güter und deren Wiederverwendung hinauslaufen. Ein weiteres Ziel dieser neuen Technologien muß die umweltschonende und dezentralisierte Produktion sein. Nur ein solches qualitatives Wachstum können wir als Fortschritt in menschlichen Bahnen ansehen.
    Die derzeitige quantitative Gigantomanie, die in der Politik aller hier vertretenen drei Parteien zum Ausdruck kommt,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Na, na!)

    hat ihren sichtbaren Höhepunkt in dem Atomprogramm. Darum kann man an diesem Programm so gut darstellen, was hier vor sich geht. Darüber sagt der als Richter tätige Helmut Ostermeyer, einer unserer Kandidaten für das Europäische Parlament:
    Das Industriesystem geht an seiner Überproduktion zugrunde. Die Kernkrafttechnologie ist der letzte verzweifelte Ausweg des systemimmanenten Wachstumszwangs. Sie ist die letzte Wachstums- und Exportbranche. Die Deutschen sind vom Großmachttraum umgestiegen auf den Nimbus der führenden Industrienation. Am Größenwahn hat sich dabei nichts geändert und auch nichts an der Gleichgültigkeit gegen den



    Dr. Gruhl
    Untergang. Mit dem Großmachttraum haben die Deutschen in zwei Weltkriegen die Hälfte ihres Landes verspielt.
    — Das war auch Gegenstand der heutigen Debatte. —
    Mit dem Industriewahn schicken sie sich an, die
    verbliebene Hälfte unbewohnbar zu machen.
    Durch den Verkauf von Atomkraftwerken und Wiederaufbereitungsanlagen werden auch Atombombenproduktionen in vielen Ländern möglich,

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : In Deutschland nicht!)

    so z. B. Brasilien. Die Unsicherheit in aller Welt erhöht sich, wie der amerikanische Präsident Carter längst erkannt hat. Wir müssen uns auch gegen die Eskalation der atomaren Waffen wenden, weil auch diese unsere Zukunft bedroht. Dies ist keine geeignete Entwicklungshilfe.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Der Bundeskanzler hat heute morgen mit Befriedigung festgestellt: Wir haben Freunde in der ganzen Welt gewonnen. Die Freundschaft mit unseren östlichen Nachbarn scheint aber, wie man fast täglich wieder hört, nicht sehr groß zu sein. Überhaupt ist dieser Punkt in dem Bericht zur Lage der Nation zu kurz gekommen. Ich habe aber nicht so viel Redezeit, daß es mir möglich wäre, darauf einzugehen.
    Ich glaube auch nicht, daß wir in den Entwicklungsländern neue Freunde gewonnen haben, wenn ich die Politik betrachte, die gerade der Bundeskanzler gegenüber diesen Ländern verfolgt. Das beweist die gegenwärtige fünfte UNCTAD-Konferenz in Manila. Obwohl die Bundesrepublik Deutschland eines der reichsten Länder der Erde ist, sieht sie sich zu einer Entwicklungshilfe von nur 0,3 % des Bruttosozialprodukts veranlaßt, also dem dreihundertsten Teil. Das bedeutet, daß auch von jeder Steigerung des Bruttosozialprodukts bisher nur ein Dreihundertstel für die Entwicklungshilfe abgezweigt wurde, während wir 299 Teile für uns beanspruchen. Damit begründet man dann auch noch die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Wachstums bei uns, um den betreffenden Völkern angeblich helfen zu können.
    Diese Politik wird zu neuen Spannungen führen, ja, in Zukunft vielleicht sogar verheerende Folgen haben. Denn das sind einmal die Partner, die wir immer brauchen werden, auch für unsere künftige Wirtschaft und Industrie, selbst dann, wenn sie nicht weiter steigert.
    Einen Fortschritt in menschlichen Bahnen wollen auch die Bürgerinitiativen, die ökologisch Denkenden in unserem Land. Das wollen wir auch in einer neuen politischen Partei. Wir stehen nicht rechts und nicht links, sondern vorn, dort, wo unweigerlich unsere Zukunft liegt, deren Probleme wir heute erkennen und anpacken müssen. Leider ist hier heute wieder viel Vergangenheitsbewältigung betrieben worden, ohne daß man auch darin einen Schritt weitergekommen ist. Wir müssen uns in viel stärkerem Maße mit der Zukunft befassen, und zwar längerfristig.

    (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Czaja.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Herbert Czaja


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der französische Außenminister François-Poncet hat vor wenigen Tagen in der französischen Nationalversammlung den aktuellen Willen der Deutschen zur Wiedervereinigung als „nicht anomal" bezeichnet. Er forderte aber vor der Wiedervereinigung Deutschlands Sicherheiten — wie er sich ausdrückte — für die Gleichgewichtsgegebenheiten in Europa.
    Der Bundeskanzler dagegen hat im „France Soir" vor einiger Zeit die Wiedervereinigung in das dritte Jahrtausend gerückt und — was ich gar nicht sehr glücklich fand — im „Institut für internationale Beziehungen" der Polnischen Kommunistischen Arbeiterpartei in Warschau gesagt, daß man doch wegen ' der deutschen Wiedervereinigung keine Angst haben solle. Gegen das habe ich noch nichts zu sagen. Aber er klärte dann nicht mit Argumenten auf, warum man keine Angst haben solle, sondern er sagte, diese deutsche Wiedervereinigung sei auf unabsehbare Zeit nicht zu erfüllen. Dagegen habe ich Bedenken. Denn er entspricht nicht der Pflicht, in jeder politischen Situation die zentrale Frage der Deutschen, ihr freies Zusammenleben, wach zu erhalten und nach außen beharrlich zu vertreten. Das Umgekehrte ist die Pflicht eines Bundeskanzlers,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    besonders in einer Zeit, von der Herr Bahr behauptet, die Deutschen hätten durch die Ostverträge mehr politischen Bewegungsraum als früher gewonnen. Wenn man angesichts des Schweigens zur Debatte in der westlichen Welt zur Wiedervereinigung warten will — was man vielleicht als konstruktiv betrachtet —, bis der Westen die Karten auf den Tisch legt, dann nimmt man sich und dann nimmt man dem Parlament die Möglichkeit, in dieser fundamentalen Frage abwägend mitzugestalten;

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Richtig!)

    und wir sind ja eine parlamentarische Demokratie,
    auch in den Schicksalsfragen der deutschen Nation.
    Sollte aber die Absicht bestehen, so wie einmal mit der kommunistischen Partei Italiens, jetzt in Budapest oder in Warschau diese Dinge zu erörtern, so müssen wir bitten, daß man hier im Bundestag zumindest in den Grundzügen sagt, worüber und in welcher Richtung man dort verhandelt hat. Wenn man das nicht tut, dann müssen wir uns einer solchen Methode entgegenstellen, hinter dem Rücken der deutschen Öffentlichkeit über diese Fragen zu verhandeln.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Ehmke [SPD] : Aber wer hat denn über welche Fragen mit wem verhandelt?)

    — Ich komme gleich darauf zurück. — Gerade wenn wir mehr Bewegungsraum hätten, gilt es, zu den fundamentalen Fragen der deutschen Wiedervereinigung und der nationalen Frage gerade jetzt die lautere Wahrheit zu sagen.

    (Friedrich [Würzburg] [SPD]: Die lautere!)




    Dr. Czaja
    — Ja, die lautere. Ich zitiere, Herr Friedrich, hier genau Adenauer.
    Die Westverträge stützten uns, als wir gefährdet und schwach waren. Auch wenn die SPD damals die Entscheidung bekämpfte, auch 1979, sollte die Entscheidung von 1952 nicht bestritten oder teilweise zurückgedreht werden. Im gefestigten Bewegungsraum der deutschen Außenpolitik sollten wir uns gerade jetzt deutlich zu einer Deutschlandpolitik im engsten Einvernehmen mit den westlichen Verbündeten bekennen. Der Bundeskanzler hat das 1976 in der Rede zur Lage der Nation getan. Heute fehlte diese Feststellung. Aber ich würde mich freuen, wenn wir in dieser Frage einig sind: Deutschlandpolitik im engsten Einvernehmen mit den westlichen Verbündeten.
    Deshalb, Herr Ehmke — und vielleicht können wir uns darüber ein bißchen unterhalten —, sollten wir uns zur vollen Rechtsverpflichtung des Deutschlandvertrages, ja, zur Renaissance des Deutschlandvertrages im Bewußtsein der Völker und unseres Volkes bekennen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Denn zu Recht nennt Grewe den Deutschlandvertrag einen von Adenauers bleibenden geschichtlichen Erfolgen. Herr Ehmke — ich will Ihnen nicht nahetreten —, ich glaube, über uns alle, auch über Sie, wird man nicht mehr sprechen, doch über die bleibenden Leistungen von Konrad Adenauer — auch beim Deutschlandvertrag — wird man noch in zukünftigen Generationen sprechen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wenn es zutrifft, was Sie, Herr Ehmke, in der Haushaltsdebatte meinten — was ich gar nicht ganz bestreiten will —, daß nämlich der Vertrag von der Bevölkerung der verbündeten Staaten zu wenig ernst genommen werde, ist es — und ich wäre froh, wenn wir uns hier treffen würden — unser aller Aufgabe, das zu tun, was der Botschafter der USA im vorigen Jahr in einer Diskussion hier in Bonn öffentlich verlangt hat, nämlich uns gemeinsam mit den verbündeten Regierungen ununterbrochen um die Verankerung der Verpflichtungen des Deutschlandvertrages im Wissen und Wollen der verbündeten Völker und unseres Volkes zu bemühen,

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    uns zu bemühen, Herr Ehmke — und darauf kommt es jetzt entscheidend an —, um die Vertragstreue zu den fortbestehenden vertraglichen Verpflichtungen im Sinne eines schrittweisen, konstanten Strebens nach einem freien Zusammenleben der Deutschen, aber integriert in einer freien Gemeinschaft der Europäer und, wie es in Art. 7 Abs. 1 heißt — das wissen Sie ebensogut wie ich —, ohne endgültige Grenzregelung vor einem frei vereinbarten Friedensvertrag.
    Das ist sogar Vertragspflicht der Verbündeten, und deshalb, Herr Ehmke: Sicherlich gibt der Deutschlandvertrag keine Grenzgarantien für Deutschland als Ganzes, aber er gibt die Bestandsgarantie bis zu einem frei vereinbarten Friedensvertrag. Herr Ehmke, bis zu einem frei vereinbarten Friedensvertrag: Das können wir nach dem Grundgesetz — ohne dessen Änderung mit Zweidrittelmehrheit bzw. Änderung des ersten Satzes der Präambel, auf den Sie sich ja berufen haben, oder in Anwendung des Art. 146 — nicht ändern.
    Es gehört aber in den Bereich der Utopie, Herr Ehmke, wenn Sie meinen, wir könnten nicht an einem frei vereinbarten Friedensvertrag mitwirken. Das ist möglich, allerdings mit der nötigen Geschlossenheit des Volkes und unter Auswertung auch der internationalen, inzwischen Völkerrecht gewordenen Norm des Selbstbestimmungsrechts; ich erinnere nur an die Menschenrechtspakte. Auch an Art. 146 oder an eine Zweidrittelmehrheit zur Abänderung der Präambel wäre hier zu denken.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Völlig korrekt!)

    Meine Damen und Herren, in den Ostverträgen hat der Ostblock — und ich hoffe, Herr Ehmke, Sie werden nicht weitergehen — die Wirksamkeit des Deutschlandvertrages ausdrücklich anerkannt, und zwar in Art. IV des Warschauer, in Art. 4 des Moskauer und in Art. 9 des Grundlagenvertrages. Zu der konstanten Aktualität dieser Aufgabe, die Frage bis zu einem frei vereinbarten Friedensvertrag offenzuhalten und Ansatzpunkte für eine europäische Lösung anzudeuten, hörten wir von der Regierung wenig.
    Natürlich brauchen wir dazu auch Moskau, aber wir können mit Moskau — das ist meine tiefe Überzeugung — darüber nur auf dem gefestigten Fundament des freiheitlichen Bündnisses in Abstimmung mit den Verbündeten reden, sonst landen wir in der Unfreiheit. Dort landeten die anderen, die den Dialog aus der Position der Schwäche, der Isolation und des Anpassungswillens geführt haben, und diesen Dialog möchte ich so nicht führen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, die Regierung schweigt zur aktuellen westlichen Wiedervereinigungsdiskussion. Da geht es nicht nur um konservative, bestellte Artikel. Ich nenne z. B. André Fontaine, FrançoisHenri Barbé — Pseudonym für einen hohen Beamten Frankreichs —, den Sozialisten Gaston-George Delor in „Le Monde", ich nenne Guilleme-Brulon im „Figaro", ich nenne den Gaullisten Sanguinetti; Übereinstimmung bei ihnen: Die Wiedervereinigung ist unausweichlich.

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Das war auch de Gaulles Auffassung!)

    André Fontaine schreibt dazu: „Dabei schützt uns nur die europäische Integration vor deutschem Übergewicht." Henri Barbé: „Das Streben der Deutschen nach Neutralisierung wäre gefährlicher als ihr Drang zur nationalen Gemeinschaft."

    (Jäger [Wangen] [CDU/CSU] : Hört! Hört!)

    Schon de Gaulle habe gesagt: „Einem gesunden Volk kann man eben das Rückgrat nicht brechen." Der Sozialist Gaston-George Delor — erschrecken Sie nicht; ich zitiere ihn nur — spricht sogar von



    Dr. Czaja
    einer Wiedervereinigung in den Weimarer Grenzen. O'Brian im „Observer" und mehrere amerikanische Zeitungen verlangen, daß sich der Westen jetzt positiv und entschieden zur Wiedervereinigungsfrage stellt.
    Wenn andererseits die obersten Spitzen der Machtgruppen in der Sowjetunion in einem der seltenen gemeinsamen Kommuniques Anfang Mai vorigen Jahres die „neue Bonner Atmosphäre" vor einem Jahr lobten, wenn Breschnew in Minsk und Prag die Bundesrepublik als „stabilisierenden Faktor in Europa" lobte und — wie weiland 1926 — von einer „neuen Qualität der Beziehungen" sprach, allerdings auch die Vertretung seiner militärischen Ziele durch uns in der NATO forderte, hat dann eigentlich der Bundeskanzler folgendes unterstrichen: Die „neue Qualität der Beziehungen" beginnt mit mehr, wenigstens mit etwas mehr Menschenrechten und mehr Selbstbestimmung der Nationen? Das wäre die „neue Qualität der Beziehungen".

    (Dr. Hennig [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Von der Bundesregierung hörten wir aber kaum etwas zum Ausgangspunkt europäischer Lösungen und zum Gebot des Grundgesetzes, die nationale und staatliche Einheit Deutschlands zu wahren — erster Satz, Sie haben das aufgegriffen — und es wiederzuvereinigen — letzter Satz der Präambel.

    (Dr. Ehmke [SPD] : Das Wort „Wiedervereinigung" gibt es im Grundgesetz nicht! „Zu vollenden" heißt es!)

    — Aber es geht aus von der Wahrung der nationalen und staatlichen Einheit. So beginnt es — das unterliegt überhaupt keinem Zweifel —, und es endet mit dem Gebot, diese Einheit zu vollenden. Das ist — entschuldigen Sie, Herr Rechtslehrer — nach der verbindlichen Aussage des Bundesverfassungsgerichts auch in den Leitsätzen das Wiedervereinigungsgebot, und ich habe es mir gestattet, diese Vokabel hier zu benutzen.
    Herr Ehmke — ich sage das jetzt nicht böse, sondern ich bitte Sie, das wirklich zu durchdenken —, was würden Männer wie Schumacher, wie Wels, wie Breitscheid, wie Goerdeler oder Generaloberst Beck zu Ihrer Aussage in der Haushaltsdebatte: „Deutschland, ein juristisches Schattenreich" und zu Ihrer Forderung heute sagen,

    (Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU] : Ein sehr unglückliches Wort!)

    einer Forderung, die ziemlich deutlich war, völkerrechtlich das nachzuholen, zumindest bezüglich der Gebiete östlich von Oder und Neiße, was nach allgemeiner, selbst nach polnischer Auffassung in den Ostverträgen noch nicht endgültig verankert ist?

    (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU] : Paul Löbe würde sich im Grabe herumdrehen!)

    Schauen Sie, es ist nicht Restauration, was ich hier angesprochen habe. Das waren Männer — es waren zum Teil auch unsere politischen Gegner —,

    (Zuruf des Abg. Dr. Ehmke [SPD])

    die für ein freiheitlich-demokratisches, aber ganzes Deutschland in Folter und Tod gegangen sind. Sie haben sich dazu in äußerster Isolation, in äußerster Bedrückung bekannt. Können wir, die Generation in einer Wohlstandsgesellschaft, das nur als „Restauration" bezeichnen? Sie haben sich das — in den Reden von Goerdeler und Beck kann man das ja nachlesen — nicht in Formen der Restauration, sondern in Formen zeitgemäßer Strukturen vorgestellt, die nach den Gesetzen des Lebens und nach freier Selbstbestimmung in eine europäische Gemeinsamkeit führen. Was würden diese Leute sagen, wenn sie in einem Buch über den Eurokommunismus läsen, daß man dort vom Zusammenschluß der gesamten Arbeiterbewegung auch mit marxistisch-leninistisch geführten, nein, unterdrückten Organisationen schwärmt?
    Hier müßte allerdings auch gesagt werden, worüber man nun in Budapest und in Warschau debattiert hat, worüber, wie es in der amtlichen polnischen Presse heißt, „gemeinsame Empfehlungen" ausgearbeitet worden sind.
    Deshalb müssen einige Fragen nach der Beachtung des Gebots gestellt werden, die Rechte Deutschlands bis zu einem Friedensvertrag nicht zu mindern. Wie wird man sich, so frage ich, zu den permanenten polnischen Forderungen zur Ausdehnung der Tragweite des Warschauer Vertrages stellen? Die Volksrepublik Polen weiß — das zeigen ihre Bemühungen —, daß die Gebiete östlich von Oder und Neiße, wie es das Bundesverfassungsgericht wörtlich sagt, aus der Zugehörigkeit zu Deutschland in den Ostverträgen nicht endgültig entlassen und nach gemeinsamem Vertragswillen — ich erinnere an Art. IV — fremder Souveränität noch nicht unterstellt sind. Der Unterschied zwischen nicht erfolgter Anerkennung der territorialen Souveränität in den Ostverträgen — das ist wichtig für Sie — und der faktischen Gebietshoheit wird öffentlich verwischt. Warum sagt man nicht auch nach außen — wie bei den Vertragsverhandlungen, wie in Karlsruhe, wie auch hier in verborgenen Fragestunden —, daß Art. IV des Warschauer Vertrages zusammen mit dem Friedensvertragsvorbehalt der Alliierten, der sich bekannterweise auf den Fortbestand des Londoner Abkommens von 1944 und der Berliner Erklärung von 1945 beruft und der — auch das muß man sehen; ich wußte das gar nicht; das hat hier die Frau Staatsminister Hamm-Brücher unlängst gesagt — vorher in allen Einzelheiten mit Polen abgesprochen und von Polen akzeptiert worden ist und mit den deutschen Vertragserklärungen in allen die Souveränität betreffenden Fragen den Vorrang hat, auch den Vorrang vor Art. I, und damit die ganze deutsche Frage offenhält?

    (Dr. Ehmke [SPD] : Ich habe über etwas ganz anderes geredet; ich habe von den politischen Möglichkeiten gesprochen, nicht von den juristischen!)

    — Zu denen komme ich gleich. Es fehlt aber — und genau das steht hier in meinem Manuskript — vor allem die konstruktive politische Aussage. Da muß ich auch einige Fragen stellen. Gilt noch das Wort des gewesenen Außenministers Brandt vom 2. Juli 1967, wiederholt und ausdrücklich bestätigt in der Unionsfraktion im Frühjahr 1969, also bereits nach

    Dr. Czaja
    italienischen Gesprächen glaube ich —, daß in den Gebieten östlich von Oder und Neiße nicht alles so bleiben könne, wie es der Zweite Weltkrieg hinterlassen habe? Grenzen — ich zitiere hier — seien einzuebnen und neue Formen der Zusammenarbeit auf der Grundlage sowohl der Menschenrechte als eines europäischen Volksgruppenrechts zu realisieren. Vor wenigen Wochen hat hier Herr Brandt noch einmal an diese Volksgruppenrechte erinnert, allerdings im Zusammenhang mit seinem Besuch in Jugoslawien. — Noch ein Satz, Herr Ehmke! Jetzt muß ich fragen — ich bitte, das nicht mit Erregung zu überdecken —: Herr Wehner, haben Sie in Warschau die Aussage, die Sie am 28. August 1966 im Deutschlandfunk gemacht und nachher immer wiederholt haben, wenigstens angesprochen, daß es auf allen Ebenen gelte, ein europäisches Volksgruppenrecht in Angriff zu nehmen, weil die Utopie von heute die Wirklichkeit von morgen sei? Sie haben ja immer gesagt: Wir haben das in das Godesberger Programm hereingebracht. Haben Sie dies auch den Zweiflern — ich sage das bewußt —, den Zweiflern im Auswärtigen Amt immer wieder so in Erinnerung gerufen, und haben Sie das auch dem polnischen Gesprächspartner gesagt?
    Hat man — auch das darf ich doch fragen, und Sie, Herr Ehmke, haben sich Gott sei Dank dazu bekannt — die eine deutsche Staatsangehörigkeit in Warschau verteidigt, mindestens so wie der frühere Labour-Premierminister Callaghan nach Zusage an den Bundesaußenminister und Herrn Carstens hier vor Jahren bei einem Besuch als Außenminister, indem er sich in einer Note im Zusammenhang mit dem Konsularvertrag mit der DDR 1976 ausdrücklich — ausdrücklich, Herr Ehmke — zur Wahrung der einen deutschen Staatsangehörigkeit unter Berufung auf Art. 116 des Grundgesetzes seitens Großbritanniens bekannt hat? Diese Note, die hier lange verborgen war, ist in englischer Sprache sinnvollerweise im Hansard am 17. Juni 1976 veröffentlicht worden.
    Meine Damen und Herren, jetzt komme ich zu einem anderen Problem. Seit Jahren — etwa seit 1971 — werden die Vertriebenen und die Ostdeutschen im Bericht zur Lage der Nation nicht mehr angesprochen. Auch hier muß ich sagen: Hätten wir eine intakte Regierung eines intakten Volkes, so könnte es nicht passieren, daß man in diesen Fragen den schwächsten Teil der Nation nicht anspricht. Ich will dazu nicht das Wort „erbärmlich" benutzen, ich will nur die Frage stellen. Bekennt sich die Bundesregierung, haben sich die Sonderdelegationen zum Erhalten und Entfalten der geschichtlichen Erfahrungen der Ostdeutschen bekannt, die das Fühlen, Denken und Wollen unserer östlichen Nachbarn kennen? Ein echter Ausgleich ohne sie ist doch kaum möglich! Wird man mit dem, so meine ich, verfassungswidrigen Spiel weitermachen und in amtlichen Informationen, Karten und Atlanten die Grenzen des bis zu einem Friedensvertrag fortbestehenden Deutschlands und die deutschen Ortsnamen vor der Jugend verbergen?

    (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU] : Herr Schmidt spricht von Kaliningrad!)

    Die Bereinigung gegensätzlicher Geschichtsdarstellung — Herr Friedrich, jawohl! — erfordert langwierige Arbeit, Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit.
    Ich habe diese Arbeiten schon in den Jahren 1936 bis 1938 gekannt, wo tapfere polnische Professoren sich nicht dem Druck damals nationalsozialistisch gelenkter Professoren in einer solchen Form gebeugt haben, wie es der Bundeskanzler auf einer öffentlichen Tagung bezüglich der Historiker von deutscher Seite oder einiger Soziologen neuerdings kennzeichnen mußte. Ja, Bereinigung in Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit, aber nicht Zwang zu oberflächlichen, fruchtbare geschichtliche Begegnungen verbergenden Einseitigkeiten — ich erinnere nur an das 14. und 15. Jahrhundert und an die sächsischen Könige — und auch nicht Zwang zu verschleierten marxistisch-leninistischen Geschichtsthesen und auch nicht Zwang zu verfassungswidrigen Aussagen über die Gegenwart in umstrittenen Schulbuchempfehlungen!
    Wird man die schöpferischen, künstlerischen, geistigen und wissenschaftlichen Kräfte Ostdeutscher und all jener, die sich damit befassen, besser fördern oder wird man die ostdeutsche Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart nur den Westinstituten kommunistischer Prägung drüben überlassen? Wie steht es mit der Darstellung von Kultur und Geschichte von Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Nieder- und Oberschlesien und der Sudetendeutschen in der auswärtigen Kulturpolitik?
    Der Bundeskanzler hat heute gesagt, wir sollten uns den Blick nach dem Osten öffnen. Wo hat die Bundesrepublik, hat die Bundesregierung das Johann-Gottfried-Herder-Jahr international so angesprochen,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Eine gute Frage!)

    wie es—das muß ich leider sagen, weil wir es nicht taten — die DDR getan hat? Was tut man eigentlich mit den Sprach- und Sachkenntnissen der Aussiedler, die zu uns kommen? Jugendaustausch ja, aber nicht als Einbahnstraße. Sollen mit öffentlichen Geldern kommunistische Zwangsjugendorganisationen des Ostblocks in unserem freien Land gemeinsame Resolutionen für den Austritt aus der NATO und für die Beseitigung der Vertriebenenverbände propagieren, so daß die Junge Union aus dem ersten Forum ausziehen mußte? Sollen kommunale Rahmenvereinbarungen nur die sogenannten Prinzipien des Warschauer Vertrages in polnischer Auslegung an der Basis verbreiten und den noch verfassungskonformen Wortlaut des Vertrades von hochpolitischer Natur mit den begleitenden Dokumenten verdrängen und freie Verbände an der Aussage zum Offensein der ganzen deutschen Frage hindern?
    Wie steht es um die Erfüllung der Zusagen im Bundesrat zur Durchsetzung der Individual- und Gruppenrechte der Deutschen unter fremder Herrschaft? Dies hat doch die Bundesregierung zugesagt. Wird man Polens Rechtsverpflichtung aus den Artikeln 25 bis 27 — Herr Ehmke, Sie sprachen die Menschenrechte an — des Politischen Menschenrechtspaktes der Vereinten Nationen zur Sicherung



    Dr. Czaja
    der kulturellen Eigenart der Deutschen ebenso einfordern wie die Regel der zeitlich und zahlenmäßig unbeschränkten Ausreisefreiheit nach Artikel 12 des Menschenrechtspaktes?
    Wird man den angekündigten Druckversuchen gegen das Offenhalten der Ausreise Deutscher nach dem Vierjahreskontingent eben die klare Erklärung, die man uns früher einmal in Aussicht stellte, entgegensetzen, daß ein solches Beseitigen der Offenhaltungsklausel an die gesamten Vertragsgrundlagen rührt und zusätzliche finanzielle Hilfen und Bürgschaften unmöglich machen würde?
    Meine Damen und Herren, wir waren und sind für einen gerechten und tragbaren Ausgleich mit Polen. Trotz des französischen Hinweises auf den Rückgang der deutschen Bevölkerung bleibt die Begegnungsaufgabe in einer freiheitlichen und föderalen Ordnung der europäischen Staaten, Völker und Volksgruppen bestehen. Auch in umstrittenen Gebieten könnten sich — dazu haben Sie sich früher bekannt — in der Vielfalt föderaler Strukturen Grundlagen für eine konstruktive Zusammenarbeit und eine schrittweise Überwindung der Gegensätze von gestern ergeben.
    Ausgangspunkt bleibt die Rechtslage Deutschlands, ebenso — dazu bekenne ich mich auch — die freie Existenz und die Würde unserer Nachbarvölker.
    .(Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, zur Friedens- und Sicherheitspartnerschaft, auf die sich der Herr Bundeskanzler vorher gegenüber diesen Völkern berufen hat, füge ich die Partnerschaft in der Menschenrechtsfrage und die Partnerschaft in der freien Selbstbestimmung mit diesen Völkern hinzu. Diese Völker aber sollten nicht auf die dauernde Teilung eines noch intakten Volkes setzen, sondern auf einen Ausgleich in freier Selbstbestimmung — auch in freier Selbstbestimmung unseres Volkes und der Nachbarn —, in Sicherheit gegen Hegemonie und Haß. Darauf sollten sie setzen.
    Bei einer Festigung des freiheitlichen Bündnisses und bei der in Fluß geratenen Weltpolitik ist es nicht ausgeschlossen, die Sowjetunion schrittweise davon zu überzeugen, daß mehr Menschenrechte und mehr nationale Rechte für die Völker an ihrer europäischen Flanke, bei Gewährleistung der Stabilität der Staaten in rechtmäßigen Grenzen geeignet sind, ja sehr geeignet sind, die wirklich tiefen Ursachen des Mißtrauens an der europäischen Flanke der Sowjetunion zu mindern, wenn nicht zu beseitigen.
    Es wurde heute schon hervorgehoben: Zwischen der Wahrung berechtigter Interessen der Deutschen und der politischen Einigung der europäischen Völker in Freiheit, unter Wahrung der nationalen Eigenart, besteht gar kein Gegensatz. Was — damit lassen Sie mich schließen — die europäischen Völker aber brauchen, das ist die Hoffnung auf die freie Heimat im freien Europa für alle Völker und Volksgruppen. Dieses Bekenntnis für uns und für die unfreien Völker in die Debatte zur Lage der Nation einzuführen, war mir Anliegen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)