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ID0815401500

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 8/154 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 154. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 Inhalt: Begrüßung der Präsidentin des Senats von Kanada, Frau Renaude Lapointe . . . . 12266 B Bericht zur Lage der Nation Schmidt, Bundeskanzler . . . . . . . 12253 A Dr. Kohl CDU/CSU . . . . . . . . . 12266 C Mattick SPD . . . . . . . . . . 12279 C Hoppe FDP 12285 A Dr. Zimmermann CDU/CSU . . . . . 12289 B Friedrich (Würzburg) SPD . . . . . . 12296 C Dr. Wendig FDP 12301 C Franke, Bundesminister BMB . . . . . 12306 A Dr. Barzel CDU/CSU . . . . . . . . 12309 D Dr. Ehmke SPD 12315 D Dr. Abelein CDU/CSU 12322 D Ludewig FDP 12327 C Dr. Gruhl fraktionslos 12329 A Dr. Czaja CDU/CSU 12331 C Hofmann (Kronach) SPD . . . . . . 12335 C Graf Huyn CDU/CSU 12337 C Schulze (Berlin) SPD 12340 C Baron von Wrangel CDU/CSU . . . . . 12342 B Büchler (Hof) SPD . . . . . . . . . 12343 C Erklärungen nach § 35 GO Jäger (Wangen) CDU/CSU 12344 D Dr. Ehmke SPD 12345 B Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Umsatzsteuergesetzes (UStG 1979) — Drucksache 8/1779 — Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung — Drucksache 8/2864 — Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses — Drucksache 8/2827 — Kühbacher SPD . . . 12345 D, 12347 B, 12353 C Di . Meyer zu Bentrup CDU/CSU . 12346 B, 12347 B Frau Matthäus-Maier FDP . . . . . . . 12347 C Dr. Kreile CDU/CSU 12348 B Frau Funcke FDP 12 357 B Matthöfer, Bundesminister BMF 12360 B II Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Jenninger, Dr. Jobst, Röhner, Dr. George, Dr. Friedmann, Schröder (Lüneburg), Carstens (Emstek), Dr. von Wartenberg, Sauter (Epfendorf), Dr. Schulte (Schwäbisch Gmünd), Dr. Dregger, Kolb, Broll, Hanz, Spranger, Seiters, Glos, Susset, Dr. Waigel, Dr. Sprung, Dr. Warnke, Gerlach (Obernau), Dr. Miltner und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Investitionszulagengesetzes — Drucksache 8/2780 — 12361 D Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung der Bundesnotarordnung — Drucksache 8/2782 — 12362 A Beratung der Sammelübersicht 45 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen mit Statistik über die beim Deutschen Bundestag in der Zeit vom 14. Dezember 1976 bis 31. März 1979 eingegangenen Petitionen — Drucksache 8/2786 — in Verbindung mit Beratung der Sammelübersicht 46 des Petitionsausschusses über Anträge zu Petitionen — Drucksache 8/2826 — 12362 A Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Steuerliche Behandlung der gemeinnützigen Sportvereine — Drucksache 8/2668 — Dr. Schäuble CDU/CSU 12362 C Schirmer SPD 12364 B Mischnick FDP 12365 D Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dollinger, Dr. Friedmann, Niegel, Dr. Sprung, Dr. Stavenhagen, Damm, Biehle, Dr. Schulte (Schwäbisch Gmünd) und der Fraktion der CDU/CSU Bessere Bedingungen für den CB-Funk — Drucksache 8/2727 —Dr. Friedmann CDU/CSU . . . . . . 13368 C Wuttke SPD 13370 A Hoffie FDP 12371 B Beratung der Ubersicht 9 des Rechtsausschusses über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht — Drucksache 8/2800 — 12373 A Nächste Sitzung 12373 C Anlage Liste der beurlaubten Abgeordneten . . . 12375*A Deutscher Bundestag — 8. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 17. Mai 1979 12253 154. Sitzung Bonn, den 17. Mai 1979 Beginn: 9.01 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete (r) entschuldigt bis einschließlich Adams *** 17. 5. Dr. van Aerssen *** 18.5. Dr. Ahrens ** 17. 5. Dr. Aigner *** 18. 5. Alber *** 18. 5. Dr. Bangemann *** 17. 5. Frau Benedix 18. 5. Dr. von Bismarck 18. 5. Dr. Böhme (Freiburg) 18.5. Frau von Bothmer ** 17. 5. Büchner (Speyer) * 18. 5. Dr. Dollinger 18. 5. Fellermaier *** 18. 5. Dr. Fuchs 18.5. Haberl 18. 5. Handlos * 18. 5. von Hassel 17. 5. Dr. Haussmann 18. 5. Frau Hürland 18. 5. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union *** für die Teilnahme an Sitzungen des Europäischen Parlaments Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete () entschuldigt bis einschließlich Katzer 18. 5. Dr. Klepsch *** 17. 5. Dr. h. c. Kiesinger 18. 5. Klinker 18.5. Kolb 13. 5. Frau Krone-Appuhn 17. 5. Lange** 13. 5. Lemp *** 18. 5. Dr. Lenz (Bergstraße) 17. 5. Lenzer *** 13.5. Lücker *** 18. 5. Müller (Bayreuth) 18. 5. Müller (Mülheim) *** 18. 5. Müller (Remscheid) 18. 5. Neumann (Bramsche) 17. 5. Offergeld 18.5. Rapp (Göppingen) 18. 5. Frau Dr. Riede (Oeffingen) 18. 5. Frau Schlei 18.5. Schreiber *** 18. 5. Dr. Schwörer'** 18. 5. Seefeld *** 18. 5. Dr. Starke (Franken) *** 18. 5. Frau Dr. Walz *** 17. 5. Wawrzik *** 18. 5. Weber (Heidelberg) 18. 5. Wohlrabe 18. 5. Würtz *** 17. 5. Zeitler 18. 5.
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    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Nein.

    (Zuruf des Abg. Dr. Mertes [Gerolstein] [CDU/CSU])

    Herr Kohl und Herr Zimmermann wissen, daß sich dieser kurze Satz „Brandt und Wehner betreiben Verfassungsbruch" — oder „Wortbruch" oder „Landesverrat" —, als Schlagzeile aus einer ihrer Reden entnommen, in irgendeiner Zeitung auf der ersten Seite publiziert, in viele Köpfe gedankenlos einschleicht und bei passender Gelegenheit, wo immer es möglich sein kann, mit dem Finger auf die beschimpften Personen gezeigt wird mit dem Ruf „Dies ist ein Landesverräter!".
    Herr Kohl, ich habe Sie jetzt angesprochen. (Dr. Kohl [CDU/CSU] : Ich höre zu!)

    — Nein, Sie haben nicht zugehört. Ich will es noch einmal sagen: Herr Kohl und Herr Zimmermann, wenn Sie die Behauptung „Brandt und Wehner betreiben Verfassungsbruch" — „Wortbruch" und „Landesverrat" heißt es an einer anderen Stelle —, so kurz ausdrücken,

    (Dr. Kohl [CDU/CSU] : Das hat niemand von uns gesagt! Herr Kollege, behaupten Sie das doch nicht!)

    und in der Zeitung steht am nächsten Tag „Brandt und Wehner sind Verfassungsbrecher," dann können Sie erleben, daß sich dieser Satz in leichte Gehirne einnistet. Die Leute wissen gar nicht, warum diese Personen „Verfassungsbrecher" sind.

    (Zuruf des Abg. Kittelmann [CDU/CSU])

    Aber diese Methode ist nicht neu. Ihre verheerenden Auswirkungen hat meine Generation aus der Weimarer Republik noch in bitterster Erinnerung. Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen aus diesem Grunde aus dem Nachlaß von Julius Leber seine Mahnung in Erinnerung rufe:
    Wir sprechen es frei aus: Die wahren Schuldigen, die wahren Verantwortlichen für diese Taten wohnen in den Straßen aller deutschen Städte, von wo aus Hetzpresse unverantwortliche Lüge und Verleumdung auf jeden politischen Gegner ausspritzt. Der Mord an Erzberger hat wie mit Blitzlicht die politische Lage in



    Mattick
    Deutschland aufgehellt. Viele, zu viele haben die ehrabschneidenden Lügen gegen den württembergischen Volksmann Erzberger geglaubt. Die Ermordung ist die Folge. Die Schuld fällt auf die Hetzer. Das Opfer war ein christlicher Zentrumspolitiker. Das nächste Opfer war Walter Rathenau.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich warne davor: Ich unterstelle Herrn Kohl und Herrn Zimmermann bisher nicht die Absicht, den von mir angezeigten Weg selber gehen zu wollen. Aber ich sage Ihnen: Macht das Schule, werden bald die Gegner in diesem Hause in feindliche Lager getrennt sein, und dann ist ein Parlament nicht mehr fähig, seine Aufgabe zu erfüllen. Hier gilt die Lehre: Beim ersten Schritt ist man noch frei, beim zweiten ist man der Getriebene. Setzen Sie diese Art der Beschimpfung fort, dann sammeln sich hinter Ihnen die Kräfte, Herr Kohl, die Sie, so hoffe ich, selbst nicht rufen wollten.

    (Seiters [CDU/CSU] : Denken Sie mal an Herrn Carstens!)

    Das heutige Thema lautet „Die Lage der Nation". Im Mittelpunkt der Nation befindet sich Berlin im geteilten Land, die geteilte ehemalige Hauptstadt. Der 30. Jahrestag der Blockade ist für uns Anlaß zum Rückblick. Das Ringen um Berlin begann am ersten Tag der Besetzung Berlins durch alle vier Mächte. Die Sowjetunion hat in ihrer Beziehung die Potsdamer Beschlüsse als eine kurze Übergangszeit betrachtet, in der Vorstellung, daß die Westmächte sehr bald genug haben von dem ewigen Gerangel um Berlin.
    In der Vorstellung der Sowjetrussen hieß es: Wer Berlin hat, hat Deutschland. Dem Volke Berlins ist damit von der Geschichte ein entscheidender nationaler Auftrag aufgeladen worden. Die sowjetische Besatzungsmacht hat drei entscheidende Versuche gemacht, um ganz Berlin unter ihre Macht zu bringen. Dies begann mit der Order an Pieck und Ulbricht, den Zusammenschluß von Kommunistischer Partei und Sozialdemokratischer Partei zu erzwingen. Dies gelang in der sowjetisch besetzten Zone in keiner Weise auf freiwilliger Basis, sondern durch brutalen physischen Druck, durch Verhaftungen und durch Entziehung aller Werbemittel für die sozialdemokratische Gegenposition. Vor den Toren Berlins wurde diese Zwangsvereinigung von den Sozialdemokraten blockiert. Nachdem die sowjetische Besatzungsmacht eine geheime Urabstimmung aller Sozialdemokraten im sowjetischen Bereich verboten hatte, konnten nur die Berliner in ihrem Bereich ein Zeichen setzen. Die Vorbereitung für die Urabstimmung im sowjetischen Sektor von Berlin wurde dann von der sowjetischen Besatzungsmacht am Tage vor der Abstimmung verboten; das Material in den Wahllokalen wurde beschlagnahmt. Deshalb konnte nur in den drei westlichen Sektoren Berlins die Urabstimmung erfolgen. Allerdings gelang es uns, einen großen Teil der sozialdemokratischen Mitglieder des Ostsektors in die Wahllokale der Westsektoren Berlins zu bringen. Das Votum gegen die Vereinigung mit der KPD war eindeutig. Die Schlußfolgerung ist berechtigt, daß dieses Ergebnis in der gesamten sowjetischen Zone das gleiche gewesen wäre.
    Diese Urabstimmung im März 1946 hatte noch einen anderen Aspekt. Obwohl die Viermächteverwaltung der Stadt durch die vier Siegermächte nach den Bestimmungen von Potsdam als einheitliches Ganzes wahrgenommen werden sollte, haben die Westmächte darauf verzichtet, sich im Ostsektor für die Aufrechterhaltung der Wahlvorbereitungen einzuschalten.
    Meine Schlußfolgerung für die damalige Zeit ist die, daß hier noch einmal deutlich geworden ist: Die Westmächte und die Sowjetunion haben sich von Anfang an gegenseitig in ihre Besatzungsgebiete nicht reinreden lassen. Das war ein stillschweigendes Übereinkommen. Dies war der erste Versuch der sowjetischen Besatzungsmacht, ganz Berlin in die sowjetisch besetzte Zone einzuordnen.
    Der zweite weit schwerer wiegende Versuch geschah im Zuge der Währungsreform, als die sowjetische Besatzungsmacht verhindern wollte, daß West-Berlin in das Währungsgebiet Westdeutschlands einbezogen wurde. Die Sowjets verhängten die Blockade in West-Berlin in der sicheren Überzeugung, daß ein verhungertes Berlin den kürzesten Atem haben würde. Die Willenskraft der Berliner Bevölkerung unter Führung von Ernst Reuter war die Voraussetzung für die Entschlossenheit des Generals Clay, die Zustimmung seiner Regierung und der westlichen Alliierten zum Aufbau einer Versorgungsluftbrücke zu erreichen. So behielt die Berliner Bevölkerung den längeren Atem. Auch dieser zweite Versuch der Sowjetunion, Berlin zu erobern, ist zum Scheitern gebracht worden.
    Meine Damen und Herren, jeder wird verstehen, wenn ich am 30. Jahrestag des Endes dieser Blokkade als Berliner auf diese Entwicklung mit einem gewissen Stolz hinweise.

    (Beifall bei der SPD)

    Wenn man sich die Position Berlins von Anfang an noch vor Augen hält, versteht man besser die nationale Aufgabe, die sich ergab, und man versteht auch das Ringen um die se Stadt im Rahmen der gesamtdeutschen Politik.
    Zwischendurch kam dann 1953 in der sowjetisch besetzten Zone — damals war es schon die DDR — der Aufstand gegen die Ausbeutung. Auch dort wurde deutlich, daß die Westmächte im Grunde die Viermächteaufgabe für ganz Deutschland nicht wahrgenommen haben, sondern vielmehr die Vereinbarung zwischen der Sowjetunion und den Westmächten galt: Jeder bleibt in seinem Bereich. 1953 gab es ansonsten eine andere Gelegenheit, die ich geschichtlich nicht noch einmal ausmalen möchte.
    Der dritte Versuch war dann 1958 das Chruschtschow-Ultimatum an die Westmächte und die Bundesregierung, den Rückzug aus Berlin anzutreten, um Berlin in eine freie Stadt umzuwandeln. Wa-



    Mattick
    ren die ersten beiden Versuche der sowjetischen Besatzungsmacht offensive Positionen, so war dieses Ultimatum mehr aus der defensiven Position der sowjetischen Besatzungsmacht in der DDR zu sehen. Das soziale Gefälle zwischen den beiden Teilen Deutschlands und damit den beiden Teilen Berlins mit der gleichzeitigen politischen Zuspitzung zu einer harten Diktatur brachte die Gefahr der Ausblutung für die DDR mit sich. Die Bürger wanderten in Scharen aus dem sowjetischen Teil Deutschlands und Ost-Berlin.
    Ich will mir eine eingehende Schilderung dieser Vorgänge ersparen. Ich will nur daran erinnern, daß dieses Ultimatum in den Reihen der Unternehmer in Berlin eine Schockwirkung auslöste. Einige Betriebe sind nie zurückgekehrt.
    In diesem Abschnitt hing der Frieden — meine Damen und Herren, das wissen nicht viele — nur noch an einem sehr dünnen Faden. Aber ich halte es für richtig, daß wir uns heute erinnern, mit welcher Härte und Ausdauer Präsident Kennedy den Krieg sowie die Kapitulation verhinderte.
    Meine Damen und Herren, diese Erinnerungen sind notwendig, um einigermaßen zu wissen, was der Kampf um Berlin seit dem Zusammenbruch für die Berliner bedeutet hat. Ich will jetzt nicht von der tiefen Sorge der Regierungschefs Otto Suhr und Willy Brandt reden, die Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Bundesregierungen zu führen hatten, um die ausreichende materielle Hilfe für Berlin sicherzustellen. Wir haben der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion unter Führung von Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer dabei viel zu danken.
    Wenn auch das Ultimatum durch Kennedy quasi blockiert wurde, dauerten die Spannungen mit wechselnder Stärke unentwegt an, denn der Flüchtlingsstrom aus der DDR nahm zu. Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion spürte damals, daß es kaum noch eine Chance gab, die Spannungen durch eine solide Entwicklung abzubauen. In diesem Sinne hielt Herbert Wehner am 30. Juni 1960 die geschichtliche Rede mit dem Grundthema, gemeinsam zu retten, was noch zu retten ist. Die damaligen Regierungsparteien glaubten auf die Rede von Herbert Wehner nicht eingehen zu müssen. Sie schlitterten auf den, 13. August 1961, auf den Bau der Mauer, zu — initiativlos und hilflos zugleich.
    Wiederum war die Berliner Bevölkerung an einem Wendepunkt, der sie vor die Frage stellte: Hat es noch einen Sinn, in dieser Stadt zu bleiben? Es dauerte dann noch zehn Jahre, bevor — durch die Große Koalition vorbereitet — die erste sozialliberale Koalition gegen den Willen der Opposition eine Neuorientierung des Verhältnisses zur DDR und zur Sowjetunion eingeleitet hat, die nicht nur realistischer, sondern auch tragfähiger war.
    Nachdem die westlichen Verbündeten im Rahmen der NATO und bei anderen Gelegenheiten ihre Gesprächsbereitschaft und Entspannungsbereitschaft verdeutlicht hatten, formulierten, die Staaten des Warschauer Pakts am 17. März 1969 jenen Budapester Appell, der bemerkenswerte Veränderungen der östlichen Deutschlandpolitik signalisierte.
    Eine der Hauptvoraussetzungen für die Gewährleistung der europäischen Sicherheit ist die Unantastbarkeit der in Europa bestehenden Grenzen,
    — so heißt es in diesem Budapester Appell —
    darunter der Oder-Neiße-Linie sowie der Grenze zwischen der DDR und der westdeutschen Bundesrepublik, die Anerkennung der Existenz der DDR und der westdeutschen Bundesrepublik, der Verzicht der westdeutschen Bundesrepublik auf ihren Anspruch, das ganze deutsche Volk zu vertreten, und ihr Verzicht auf Verfügungsgewalt über Kernwaffen in jeder Form.
    West-Berlin hat da einen besonderen Status und gehört nicht zu Westdeutschland. Von der zuvor geforderten besonderen politischen Einheit Berlins steht nichts mehr darin; von der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR wird auch nichts mehr erwähnt. Kein Wort mehr von der revanchistischen militärischen Bundesrepublik. . Die Erfüllung der Forderungen ist auch nicht mehr die Voraussetzung für die Aufnahme der Verhandlungen. Es ist das historische Verdienst des damaligen Bundesaußenministers Willy Brandt, daß er bereits am 19. März 1969 positiv reagierte. Er hat den Gedanken der KSZE begrüßt und damit deutlich gemacht, daß die Bundesrepublik von sich aus bereit sei, einen aktiven Beitrag zur Entspannung zu leisten.
    Die Bildung der sozialliberalen Regierung Brandt/Scheel eröffnete dann im Herbst 1969 die Möglichkeit, die neue Ostpolitik zum Regierungsprogramm zu machen. Die neue Opposition, meine Damen und Herren, sah in diesem Schritt riesengroße Gefahren auf die Bundesrepublik Deutschland zukommen. Viele in diesem Hause erinnern sich sicher noch jener eindrucksvollen letzten Rede des Abgeordneten Freiherr von und zu Guttenberg, in der dieser am 27. Mai 1970 — seiner tiefen Überzeugung Ausdruck gebend — beschwörend eine Reihe von Befürchtungen darlegte, die aus der Sicht der CDU eine notwendige Folge del Ostpolitik sein müßten. Diese Befürchtungen lauteten, kurz gefaßt, wie folgt:
    Erstens. Die deutsche Frage werde nicht mehr offengehalten. Das war die erste Formel des Freiherrn von und zu Guttenberg, ausgesprochen im Auftrag seiner Fraktion. — Die Tatsache daß heute noch drüben diskutiert wird, bezeugt das Gegenteil: Die deutsche Frage ist offengehalten, Beziehungen zwischen beiden Teilen Deutschlands sind entstanden.
    Die zweite Bemerkung des Freiherrn von und zu Guttenberg lautete: Die Bindungen zu Berlin würden gelöst, eine Feststellung der Fraktion der CDU angesichts dessen, was wir vorhatten und durchgeführt haben. — Die Bindungen, meine Damen und Herren, wurden nicht gelöst, sondern sie wurden vielmehr gestärkt und international abgesichert.



    Mattick
    Die dritte Bemerkung des Freiherrn von und zu Guttenberg war die: Die Berlin-Frage könne nur vor dem Abschluß des deutsch-sowjetischen Vertrages gelöst werden. — Das Viermächteabkommen wurde nach Abschluß des deutsch-sowjetischen Vertrages erfolgreich abgeschlossen. Gelöst werden kann die Berlin-Frage nur im Rahmen der Lösung der Deutschlandfrage, sage ich.
    Vierte Behauptung des Freiherrn von und zu Guttenberg: Normalisierung der Beziehungen bedeute für die Sowjetunion die Unterwerfung der Bundesrepublik unter den sowjetischen Machtwillen. — Wir haben keinen Schritt zur Unterwerfung unter den sowjetischen Machtwillen getan.
    Fünftens: Die Sowjetunion wolle keinen wirksamen Gewaltverzicht aussprechen. — Die Sowjetunion hat den Gewaltverzicht ausgesprochen.
    Sechstens: Der Schutz der NATO werde zerbrökkeln, und die Sowjetunion könne dann die Vorherrschaft über Europa antreten. — Der Schutz der NATO ist nicht zerbröckelt. Die NATO ist fester und stabiler geworden.
    Siebtens: Das Deutschlandkonzept des Westens werde aufgegeben und in jenes der Sowjetunion eingehen. — Das sowjetische Deutschlandkonzept wurde nicht übernommen.
    Achtens: In Amerika würden viele fragen: Wozu noch amerikanische Truppen in Europa? — Die Parole„Weg von Europa!" ist in Amerika nie laut geworden. Das Gegenteil ist eingetreten: Der Zusammenhalt ist besser, sicherer geworden. Diese Vorhersage der CDU-Fraktion wie auch alle anderen bisher von mir verlesenen Voraussagen treffen auf Grund falscher Einschätzung nicht zu.
    Die neunte Feststellung der CDU-Fraktion lautete: Der Wind werde sich in Europa zugunsten der Sowjetunion drehen. — Der Wind bläst nicht zugunsten der Sowjetunion.
    Zehnte Voraussage: Die Friedensstörer, deren letztes Opfer die Tschechoslowakei war, würden in ihrer Politik bestärkt. — Dies ist nicht eingetreten.
    Elftens: In der Bundesrepublik werde im Bewußtsein des Volkes eine geistig-moralische Verwirrung gestiftet und die Grenze zwischen demokratischer Rechtsstaatlichkeit und totalitärem Verbrecherregime verwischt. — Das Gespür für die Erhaltung des Rechtsstaates ist eher gestärkt worden.
    Das waren elf Behauptungen, die Herr von Guttenberg im Namen der CDU/CSU-Fraktion vor zehn Jahren hier im Bundestag aufgestellt hat. Ist es nicht an der Zeit, meine Damen und Herren von der CDU und der CSU, zu diesen Behauptungen aus heutiger Sicht Stellung zu nehmen und einmal zu überprüfen, wie sich eine so große Fraktion — vielleicht nur aus dem Grunde, weil sie sich in der Opposition befand und nicht selbst handeln konnte? —, die mit uns auf dem gleichen demokratischen Boden stehen will, in der Einschätzung der Auswirkungen der Politik, die von der sozialliberalen Koalition betrieben worden ist, so verschätzen kann? Ich bitte darum, daß uns auf diese Frage eine Antwort gegeben wird.

    (Beifall bei der SPD)

    Willy Brandt hat damals kurz darauf geantwortet, und zwar wie folgt. Erstens: Ergänzung des Schutzes der NATO durch Politik der aktiven Koexistenz. Zweitens: Keine kurzfristige Lösung der Probleme. Drittens: Wir bemühen uns um einen Zuwachs an Sicherheit und an Möglichkeiten der friedlichen Zusammenarbeit. Viertens: Positive Auswirkung auf Berlin. Fünftens: Das Gleichgewicht in Europa wird nicht gestört.
    Was Willy Brandt vorausgesagt hat, ist eingetreten. Ich bitte noch einmal: Es ist an der Zeit, daß die CDU/CSU an diese Auseinandersetzung damals hier im Hause, als Ihr von uns hochgeschätzter Kollege von Guttenberg die letzte Rede gehalten hat, anknüpft. Von dem Kollegen von Guttenberg aus war das ein Vermächtnis. Sie hätten die Pflicht gehabt, irgendwann darauf zurückzukommen. Sie hätten den Vorwurf gegenüber der sozialliberalen Koalition nicht im Raume stehen lassen dürfen, der da lautet: Ihr betreibt eine Politik, die die deutsche Bundesrepublik im Grunde genommen an den Rand des Abgrunds bringt. — Ich habe die elf Punkte hier aufgeführt. Nun stehen Sie hier Rede und Antwort, ob eine der elf Behauptungen sich als richtig erwiesen hat und ob es der Bundesrepublik heute schlechter geht als 1970! Darauf möchten wir eine Antwort haben.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Wo bleiben die Initiativen der CDU/CSU? Für Sie sind die KSZE-Dokumente, gegen deren Verabschiedung Sie sich auch ausgesprochen haben, nur ein Vehikel für Forderungen an die östliche Seite, die in Ihr ostpolitisches Konzept passen. Wo bleiben die Ideen der CDU/CSU zur Vertiefung der Zusammenarbeit? Ist, der Grund dafür, daß wir von Ihnen nichts hören, der, daß Ihnen nach wie vor die ganze Richtung nicht paßt, weil nicht Sie für die Politik die Verantwortung trugen, sondern die sozialliberale Koalition in den letzten zehn Jahren der Bundesrepublik eine völlig neue internationale Position gegeben hat? Das Verhältnis zu den Ostblockländern hat sich in einer Weise entwickelt, die wir nur begrüßen können. Damit ist für Europa eine völlig neue Entwicklung eingeleitet worden. Können Sie das nicht einsehen? Können nicht auch Sie einmal Ihren 30. Juni 1960 ansteuern und prüfen, ob es nicht an der Zeit ist, zu sagen: Wir haben uns geirrt; als wir Ihre Politik Anfang der 70er Jahre blockieren wollten, haben wir uns geirrt? Sie könnten sagen: Unsere Einschätzung war falsch; das veranlaßt uns zur Gemeinsamkeit.
    Herr Kohl hat hier heute nun viel von Gemeinsamkeit gesprochen. Wenn ich mir seine Rede noch einmal vor Augen halte, stelle ich allerdings fest, daß er sich im Kreise gedreht hat. Er hat im Grunde genommen uns anklagen wollen und dabei vergessen, wer damit in der Berlin- und Deutschlandfrage zugleich mit angeklagt ist. Diese Ankla-



    Mattick
    ge galt dann zumindest auch Herrn Strauß und einigen, die sich gleichermaßen geäußert haben.
    Es wird Zeit, daß die CDU/CSU zur Besinnung kommt. Ich komme noch einmal auf meine letzte einleitende Bemerkung zurück. Wenn diese Art der Auseinandersetzung auf der Basis von Ausdrücken wie „Landesverräter" und „Verfassungsbrecher", wenn solche Formulierungen in den Sprachgebrauch der Politiker untereinander Eingang finden, dann wird dieses Parlament bald nicht mehr von einer gemeinsamen Grundhaltung ausgehen. Da ich die Entwicklung der Weimarer Republik miterlebt habe, warne ich davor. Ich bitte darum, das so ohne Polemik ernst zu nehmen; Sie haben heute bei meinen Bemerkungen noch kein polemisches Wort gefunden.
    In Helsinki hat kein osteuropäischer Staat versprochen — auch dies möchte ich deutlich machen —, von nun an den westlichen Idealen von Freiheit und Menschlichkeit nachzueifern. Das muß uns auch in der Zukunft klar bleiben. Vieles, was geschrieben steht, sind Absichtserklärungen — ich setze hinzu — mit Zeitzünder. Aber in Helsinki haben sich alle bereit erklärt, nicht nur auf der Ebene der Regierungen die Zusammenarbeit zu suchen, sondern in allen Dingen für die Bürger in den beteiligten Ländern den Freiraum zu schaffen, der zur Voraussetzung der Menschenwürde gehört.
    Hier begegnen osteuropäische Staaten inneren Problemen. Ich bitte, Verständnis dafür zu haben, daß ich versuche, etwas zu erklären. Dies ist keine Pro- oder Kontraposition. Aber uns bedrückt und erfüllt mit Sorge der Umgang mit dem politisch Andersdenkenden. Jeder Europäer wird verstehen, daß uns in diesem Zusammenhang besonders das Schicksal der Deutschen nahegeht, die von uns getrennt in einem anderen Staat leben. Dieses Solidaritätsgefühl wird uns keine Macht in dieser Welt rauben können.
    Es ist daher verständlich, daß die deutsche Offentlichkeit protestiert, wenn sie hört, wie die Regierung der DDR auf eine Fernseherklärung von Stefan Heym reagiert und den Korrespondenten des ZDF zur sofortigen Ausreise zwingt. Meine Vermutung ist es, daß die besagte Erklärung Heyms die DDR-Führung in einer besonders kritischen Situation und an einer besonders kritischen Stelle getroffen hat. Nun ist es uns allen klar, daß das System in der DDR nicht auf einem soliden Boden steht. Dennoch muß auch die Regierung der DDR einmal zur Kenntnis nehmen, daß die Tendenz zu zivilisiertem Umgang mit dem Andersdenkenden auf die Dauer auch nicht an ihr vorübergehen kann. Bei diesen Leuten handelt es sich nicht um Gegner, die die herrschende Grundordnung stürzen wollen, und doch reagiert man in Ost-Berlin so empfindlich. Wie schwach muß sich eine Regierung fühlen, wenn sie nicht einmal überzeugte Kommunisten, wie Stefan Heym und Robert Have-mann, ertragen kann, die sich kritisch äußern und damit zum Ausdruck bringen, daß sich die Erwartungen, die sie selbst gegenüber dem Staat hatten, nicht erfüllt haben?
    Die Regierung der DDR muß wissen, daß sie mit solcher Haltung in der deutschen Offentlichkeit — ich sage: in der deutschen Offentlichkeit — die Bereitschaft zur Zusammenarbeit nicht fördert. Ich meine, was auch immer geschieht, so muß es immer unser Bemühen sein, die Zusammenarbeit zu fördern; denn nur mit der Förderung dieser Zusammenarbeit kann auch in der DDR unter Umständen die Solidität zunehmen. Die Regierung der DDR muß wissen, daß sie damit die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten belastet.
    In unserem Staat ist die Presse frei. Die Bundesregierung hat keine Handhabe, Journalisten vorzuschreiben, was sie publizieren, und wir wollen dies auch nicht.
    Lassen Sie mich zum Schluß noch einige Bemerkungen zu der Position der Kommunisten in unserem Land anfügen. Es war für mich immer ein erstaunlicher Vorgang, daß die heutigen Oppositionsparteien schon früher immer so taten, als ob das deutsche Volk so anfällig für kommunistische Ideologien sei, daß wir ständig in der Gefahr der kommunistischen Unterwanderung leben.

    (Dr. Kohl [CDU/CSU] : Das hat gar kein Mensch gesagt! Das stimmt doch gar nicht!)

    — Das kann ich Ihnen auch belegen, Herr Kohl. Die Unterwanderungsdebatte ist doch eine ständige Debatte von Ihnen aus gewesen. In Wirklichkeit befinden sich die Kommunisten in unserem Land sowie in dem größten Teil des europäischen Nordens und Westens in der ideologischen Defensive. Überall, wo starke sozialdemokratische Parteien die Politik des jeweiligen Landes mitgestalten, auch wenn das nach parlamentarischem Brauch mit Unterbrechungen geschieht, haben die Kommunisten keine Chance mehr, ihre Basis zu erweitern und zu einer ideologischen Gefahr zu werden.

    (Beifall bei der SPD)

    Entscheidend für diesen Prozeß war die Tatsache, daß die kommunistischen Regierungen nicht in der Lage waren, nach dem Zweiten Weltkrieg im sozialen Wettbewerb den Demokratien in Europa standzuhalten. Das wiederum hätte aber nicht diese Auswirkungen gehabt, wenn es die moderne Information über Fernsehen und Rundfunk den kommunistischen Regierungen heute nicht weit, weit schwerer machte als zu der Zeit, da Völker wie das russische Volk noch informationsisoliert waren und nicht wußten, wie es in der übrigen Welt aussieht.
    Für mich ist es eine nicht mehr erklärbare Tatsache, daß die Regierung der DDR noch nicht begriffen hat, wie wenig es heute möglich ist, das eigene Volk von internationalen Informationen fernzuhalten. Denn wie anders ist es zu verstehen, wenn die DDR glaubt, mit ihren Maßnahmen gegen die westdeutschen und anderen Korrespondenten ihr eigenes Volk vor der Wahrheit und Wirklichkeit schützen zu müssen? Die Kommunisten in Europa müssen sich darüber im klaren sein, daß das System auf die Dauer nicht funktionieren kann, wenn



    Mattick
    die Information im eigenen Land und die Wirklichkeit im Weltbild so weit auseinanderklaffen, wie es im Augenblick in den kommunistischen Staaten der Fall ist.
    Meine Damen und Herren, unser Bemühen muß dem Ziel dienen, durch internationale Entwicklung den Frieden zur Grundlage für das Leben der Völker im Innern wie im Äußeren zu erreichen. Dem dient unsere Politik.

    (Beifall bei der SPD)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Meine Damen und Herren, obwohl wir mit dem nächsten Redner etwas in die Mittagspause hineinkommen, erteile ich Herrn Abgeordneten Hoppe das Wort.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Hans-Günter Hoppe


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bericht des Bundeskanzlers zur Lage der Nation war eine nüchterne, kritische und auch selbstkritische Gesamtschau der deutschen Situation. Der Bericht hat die notwendigen Orientierungsdaten für das Ringen um die richtigen Entscheidungen der in Deutschland anstehenden Tagesfragen geliefert. Wir danken deshalb für diesen Bericht, der keinen nationalen und internationalen Aspekt vernachlässigt hat. Er hat auch zutreffend gezeigt, wie eng unser Handlungsspielraum in den elementaren nationalen Fragen tatsächlich ist. Diese Erkenntnis, so will mir scheinen, möchte die Opposition einfach nicht akzeptieren. Meine Damen und Herren, aber Pathos hilft hier nicht weiter. Deshalb hat sich die Rede des Bundeskanzlers so wohltuend vom Auftritt des Oppositionsführers unterschieden.

    (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/CSU — Seiters [CDU/CSU] : Die Liberalen können Ihnen leider nicht Beifall klatschen!)

    Helmut Kohl gerät das Thema doch immer wieder zu einer dramatischen Polit-Arie. Dann, meine Damen und Herren, habe ich schon lieber eine Feierstunde! Die schwierigen Fragen der deutschen Politik verlangen gezügelte Emotionen und einen klaren Kopf.
    Nun ist in dem Disput zwischen dem Bundeskanzler und dem Oppostionsführer — jedenfalls Noch-Oppostitionsführer —

    (Seiters [CDU/CSU] : Jetzt kommt der erste von der FDP!)

    die Energiepolitik zu einem wichtigen Aspekt geworden. Ich darf zu dem Gebiet allerdings sagen, daß nach meiner Beurteilung bislang allein die Bundesregierung auf einem klaren Kurs geblieben ist, und das, wie mir scheint, in eindrucksvoller Geschlossenheit. Dagegen hat die Opposition zunächst forsch agiert. Jetzt schwenkt sie auf Besinnlich um. Nun will auch sie diese Politik mit dem Bürger und nicht gegen den Bürger durchsetzen.
    Ein Wort an Sie, Herr Kohl: Wenn Sie in diesem Zusammenhang wieder das Attribut „erbärmlich" benutzen, dann ist es in diesem Augenblick auf Sie selbst zurückgefallen.

    (Mattick [SPD] : Sehr wahr!)

    Denn Hans-Dietrich Genscher in dieser Frage ins Zwielicht ziehen zu wollen ist einfach mies. Seine Haltung war klar und hat keinen Anlaß zu Zweifeln geboten. Gerade die harte, aber demokratisch geführte Auseinandersetzung in der Freien Demokratischen Partei und in unserer Fraktion hat das, wie mir scheint, für jeden, der es sehen wollte, in eindrucksvoller Weise demonstriert. Und im Wahlkampf in Schleswig-Holstein konnte sich Hans-Dietrich Genscher wegen einer Erkrankung leider nicht zu Wort melden. Wir haben das bitter zu spüren bekommen, und Herr Stoltenberg hat es sicher als Erleichterung empfunden. Aber diesen Mann dann dafür zu schmähen, Herr Kohl, ist ein böser Mißgriff.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Und, meine Damen und Herren von der Opposition, Graf Lambsdorff brauchen Sie die Energie-Nische als politisches Betätigungsfeld wahrlich nicht zuzuweisen. Der läßt sich wie Sie genau wissen, bestimmt nicht einsperren und auch ganz bestimmt nicht den Mund verbieten.

    (Jäger [Wangen] [CDU/CSU] : Nicht einmal durch die Koalition!)

    Denn er ist nun einmal kein Schmalspurpolitiker. Er hat sich ja denn auch — und Sie, Herr Kohl, mußten das hier bestätigen — in Schleswig-Holstein für die Partei unmißverständlich zu Wort gemeldet.

    (Kittelmann [CDU/CSU] : Nicht für die Parteimehrheit!)

    Lassen Sie deshalb doch diese Anrempeleien!
    Energiepolitik wird uns Tag für Tag und Woche für Woche beschäftigen. Dieses Thema läßt uns nicht mehr los. Ich kann nur hoffen, daß wir diese Aufgabe mit Anstand bewältigen.
    Heute möchte ich meine Energien gern bevorzugt für die Auseinandersetzung mit den deutschlandpolitischen Problemen im engeren Sinn einsetzen. Die deutsche Frage ist, meine ich, in jüngster Zeit zunehmend aktuell, ja virulent geworden. Ich denke dabei nicht so sehr an die etwas zwirnsfädige Diskussion über das Wort Wiedervereinigung. Der praktische Nutzen dieser Diskussion ist gleich Null.
    Nein; weit, interessanter ist da schon zu sehen, wie dieses Thema von Künstlern, besonders Schriftstellern, in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland angepackt wird. Wo in den 50er und 60er Jahren eher ein Auseinanderdriften zu bemerken war — der Herr Bundeskanzler hat in seinem Bericht davon gesprochen —, damals besorgt als Erscheinung zweier deutscher Literaturen beschrieben, hat sich in den letzten Jahren eine geradezu sensationelle Umkehrung vollzogen. Oder ist diese Entscheidung vielleicht doch gar nicht so sensationell? Es gibt — um Professor Hans Maier zu zitieren — hier eine neue Konvergenz. Hier wie dort




    Hoppe
    wird das sensibilisierte Ich gepflegt, hat die Auseinandersetzung mit Dogmen und Ismen eingesetzt; das Individuum wird gegen das Kollektiv gestellt, und die subjektiven Empfindungen von der deutschen Gegenwart gewinnen allmählich politische Dimension.
    Niemand wird behaupten, daß solche Geistesströmungen nicht weiter wichtig zu nehmen wären. Sie sind es, wie mir scheint, sehr wohl, und sie sind um so wirkungsvoller, je stärker sie das Bewußtsein und das Gefühl der Deutschen in Ost und West ansprechen. Es ist ja kein Zufall, daß wir besonders in den letzten Jahren eine so allergische Abwehrreaktion der DDR-Führung gegen diese neuen Tendenzen erleben. Gerade in autoritären und totalitären Staaten wird rigoros jede Regung erstickt, die von den Herrschenden als bedrohlich empfunden wird. Insofern zieht sich ein roter Faden von Heine und Börne bis Havemann, Biermann und Bahro; und diese drei Letztgenannten stehen stellvertretend für viele, auch für viele Namenlose, in der DDR. Nun nenne ich noch Stefan Heym, der „des ewigen Rundlaufs um den heißen Brei müde" ist und offen -von dem „erstickenden Ring" redet, den die Vergangenheit der DDR um die Gegenwart spannt.
    Es reicht nicht, über solche mutigen Worte zu frohlocken. Was von den Literaten hierzulande zur deutschen Gegenwart angemerkt wird, muß uns genauso nachdenklich machen. Auch in diesem Teil Deutschlands dominiert nach dem Enthusiasmus der späten 60er Jahre nun der Zungenschlag der Resignation. Es wird viel von Ängsten geschrieben, von den Gefühlen der Beziehungslosigkeit und des Kommunikationsmangels; Irritation ist die Antwort auf die Folgen sogenannter technischer und wirtschaftlicher Zwänge.
    Diese vielfältig dargebotene Momentaufnahme eines Lebensgefühls geht uns Politiker doch wohl auch sehr an. Man muß fragen: Hat sich die Politik etwa zu weit entfernt von den alltäglichen Sorgen, Freuden und Fragen der Bürger, gerade von jenen der heranwachsenden Generation? Machen wir uns überhaupt noch richtig verständlich? Und vor allem: Sind wir wach und aufgeschlossen für allmählich aufkeimende Probleme in der Gesellschaft, für Neues, für Gärendes und auch für Bedrückendes?
    Hierfür ein Beispiel: Wie konnte es eigentlich zu dem „Klima der Ressentiments" kommen, von dem Max Frisch einmal gesprochen hat, und was haben wir — auch wir hier im Parlament — getan, um den Zustand zu überwinden, um diese Zustandsbeschreibung als falsch darzutun? Mir scheint, verteifelt wenig. Nicht auf Abbau von Ressentiments, sondern eher auf ihre weitere Verstärkung schienen häufig unsere Aktionen gerichtet. Immer weniger wird um das gesicherte Urteil gerungen; vielmehr bestimmen die grobklotzigen Vorurteile unsere Debatten. Die familienpolitische Aussprache am vergangene Donnerstag steht hier für eine große Zahl ähnlicher Fehlleistungen. Sie alle zeugen eher von der Absicht, Andersdenkende zu verteufeln, als von dem Bemühen, vernünftige Lösungen im Disput miteinander zu finden.
    Das gleiche gilt für die Auseinandersetzungen in der Deutschlandpolitik. In Wahrheit sind die Gegensätze gar nicht so abgrundtief, wie das laute Geschrei und die harten Vorwürfe vermuten lassen. Verlangen denn die eingeschliffenen Mechanismen wirklich danach, um so mehr zu schimpfen und zu verunglimpfen, je geringer die tatsächlichen Alternativen und Hand lungsspielräume in unserer Politik sind? Es wäre gut — gewiß nicht zu unserem Schaden, aber auch bestimmt nicht zum Schaden der Oppostion —, wenn die jüngste Äußerung ihres Parteifreundes Rommel zu Herzen genommen würde. Er kommt nämlich zu dem Schluß, daß der Bürger dieses übersteigerte parteipolitische Gegeneinander satt habe und daß um so mehr wieder liberale Positionen gefragt seien.

    (Jäger [Wangen] [CDU/CSU]: Sie meinen Wehner?)

    — Halten wir uns also an Fakten und Sie sich, verehrter Herr Jäger, ganz eng an Herrn Rommel.
    Wir stellen fest: In den 50er und 60er Jahren wurde die Deutschlandpolitik von dem politischen Standpunkt des Alles-oder-Nichts bestimmt — mit dem Ergebnis, daß der Graben der Teilung tiefer und tiefer wurde. Ich will die Einzelheiten dieses Prozesses nicht nachzeichnen, aber jeder sollte sie in Erinnerung haben, wenn er vergleichen will — und er muß vergleichen, wenn er den jetzigen Zustand und Sinn und Erfolg der Politik werten will.
    Meine Damen und Herren, der Prozeß der Spaltung wurde damals von den Kommunisten in Ost-Berlin forciert. Wir hatten uns aus der Auseinandersetzung um die Zukunft der Nation fast abgemeldet. Das rufe ich besonders jenen in Erinnerung, die heutzutage so schnell mit dem Wort Gegenmaßnahmen zur Hand sind, wenn im deutsch-deutschen Verhältnis Störungen und Belastungen auftreten.
    Jedermann weiß, daß wir zu den Verstößen gegen die Verträge nicht schweigen. Wenn jetzt in Ost-Berlin auf dem Weg zu gutnachbarlichen Beziehungen eine Übungsstunde für Abgrenzungsartisten an der Eskaladierwand eingelegt werden soll, dann können dabei schnell jene Prinzipien über Bord gehen, die Erich Honecker für die Fortsetzung einer auf Ausgleich gerichteten Politik der Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten anläßlich der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED noch einmal bekräftigt hat. Die DDR muß wissen, daß sie drauf und dran ist, sich um jeden Kredit zu bringen, .und ich meine das im ökonomischen wie im politischen Sinne.
    Wir werden der DDR-Führung weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene das erbärmliche Doppelspiel durchgehen lassen. Wie werden den Widerspruch anprangern, einerseits den westlichen Journalisten in Ost-Berlin die Arbeitsmöglichkeiten zu beschneiden und andererseits lauthals zu verkünden — so Honecker Ende April —: „Wir bauen die sozialistische Gesellschaftsordnung unter



    Hoppe
    weltoffenen Bedingungen auf". Meine Damen und Herren, im nachhinein wirkt dieser Ausspruch wie eine satirische Kommentierung der Ausweisung des ZDF-Korrespondenten Peter van Loyen — hat er doch die Kühnheit besessen, eine Probe auf die Weltoffenheit der DDR-Führung dadurch zu wagen, daß er Stefan Heym nicht den Mund zuhielt, als dieser ein Statement zu der versuchten Kriminalisierung von DDR-Schriftstellern über das Devisengesetz abgab.
    Die Reaktion der DDR-Regierung zeigt, wie sehr sie das freie Wort fürchtet. Aber sie kann es auch durch die Verletzung der Grundsätze und Vereinbarungen, wie sie in Helsinki und im Zusammenhang mit dem Grundlagenvertrag getroffen wurden, nicht niederdrücken. Sie provoziert vielmehr den Widerspruch im eigenen Staat und reduziert ihr Ansehen im internationalen Bereich.
    Meine Damen und Herren, aber auch die Sowjetführung wird der DDR mit einer eher peinlich wirkenden Parallelaktion gegen das ZDF-Team kaum erfolgreichen Flankenschutz geben können.
    Die DDR jedenfalls muß bei jedem ihrer Schritte die Rückwirkung auf den eigenen Staat bedenken, denn die Rahmenbedingungen für die Politik haben sich nun einmal auf eine ganz entscheidende Weise geändert. Unsere Politik der vertraglichen Regelungen hat ja nicht nur die millionenfachen Begegnungen der Menschen über die Grenzen hinweg möglich gemacht und somit Unschätzbares zum Zusammenhalt der Nation beigetragen. Unsere Politik hat auch Ost-Berlin dazu gezwungen, auf dem internationalen Parkett Farbe zu bekennen. Die Zeiten sind vorbei, da sich mit — unfreiwilliger Hilfe der Hallstein-Doktrin — die Herrschaftsverhältnisse in der DDR in einer Art „splendid Isolation" konsolidieren konnten, unangefochten von internationalen Bindungen und Verpflichtungen. Heute muß sich die DDR-Führung bisweilen in einer für sie schmerzhaften Konkurrenzsituation darstellen und damit auseinandersetzen.
    Vor den Vereinten Nationen sah sie sich genötigt, zu unserer festen Haltung zur deutschen Frage Position zu beziehen. Ich nehme an, Sie haben den Vorgang auf der letzten Generalversammlung alle beobachtet. Der Bundesaußenminister, Hans-Dietrich Genscher, wiederholte dort unsere politische Maxime, wonach wir auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. DDR-Außenminister Oskar Fischer replizierte wie gewohnt, aber er wählte dabei eine Formulierung, die nicht nur wegen ihrer Lautmalerei aufhorchen ließ. Seine Antwort lautete:
    . Es bleibt das erklärte Ziel der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, auf einen Zustand in Europa hinzuwirken, in dem der Frieden auf der Grundlage der unumstößlichen Realitäten der Nachkriegsentwicklung dauerhaft gesichert, die friedliche Koexistenz Lebens- und Umgangsformen der Staaten unterschiedlicher sozialer Ordnung ist und das Volk der Deutschen Demokratischen Republik frei
    von äußerer Einmischung sein friedliches sozialistisches Aufbauwerk fortsetzen kann.
    Als sehr geglückt kann man diesen Versuch wahrlich nicht bezeichnen. Er drückt mehr die Unfähigkeit der DDR aus, mit der nationalen Frage fertig. zu werden.
    Die Flucht in die sozialistische Völkergemeinschaft war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Aus der Geschichte und in der sich stündlich lebendig erweisenden Nation kann man sich nicht mit einem ideologischen Kündigungsgrund abmelden. Es ist die Wirklichkeit, die der DDR zu schaffen macht. Hans-Dietrich Genscher hat sie vor der UNO treffend beschrieben:
    Den Gang der Geschichte kann niemand aufhalten. Er bewegt sich in Richtung auf Einheit und nicht 'Trennung, auf Fortschritt und nicht Abgrenzung.
    Das gilt übrigens um so mehr, je stärker das Abgrenzungsbedürfnis der Verantwortlichen in der DDR vorherrscht. Es entwickelt sich nicht nur international zu einem Bumerang, sondern hält in der DDR selbst kritisches Bewußtsein wach, provoziert gegenläufige Tendenzen, und das nicht nur bei Schriftstellern.
    Richtig ist deshalb auch die Betrachtung, daß unsere Politik der vertraglichen Abmachungen die Gründe geliefert hat, die dort jetzt diese Wirkungen zeigen. Deshalb ist es ganz besonders töricht, in diesem Zusammenhang über angeblich einseitige Leistungen zu klagen. Haben diejenigen, die da über die zweifellos beträchtlichen Summen für den Ausbau der Verkehrsverbindungen oder über die Antriebsmittel für den innerdeutschen Handel zetern, immer noch nicht begriffen, daß es sich hier um gesamtdeutsche Investitionen handelt? Es ist, wie mir scheint, eine krause Logik, von der Einheit und von einer gemeinsamen Zukunft der Deutschen zu reden und sich gleichzeitig den Weg dorthin selbst zu verbauen. Denn nichts anderes würde es bedeuten, wenn wir aus einer temporären Verärgerung oder Enttäuschung heraus die Finanzierung gemeinsamer Projekte in Frage stellten.
    Noch deutlicher: Die Milliarden, die wir im Laufe der Jahre in deutsch-deutsche Maßnahmen stecken, sind ja vor unseren Bürgern, sind ja vor den Steuerzahlern der Bundesrepublik Deutschland nur deshalb zu verantworten, weil sie Bausteine für den Zusammenhalt der Nation sind und mithelfen, die Chance zur Überwindung des staatlichen Nebeneinanders aufrechtzuerhalten.
    Auch den Bürgern in der DDR wollen und sollten wir bestätigen, daß ihr Gefühl der Zusammengehörigkeit mit uns nicht nostalgisch, sondern zukunftsorientiert ist. Ihr Wunsch nach Wiedervereinigung — in welcher Form auch immer — ist gleichbedeutend mit dem Verlangen nach Freiheit. Dieses Verlangen ist im übrigen so dominierend, daß es dem Wunsch nach spezifischem Staatsbewußtsein sichtbar entgegenwirkt — nicht zuletzt deshalb, weil die dort propagierte sozialistische Alternative zum Westen in wesentlichen Teilen nichts anderes als ein verformtes Plagiat ist.



    Hoppe
    Die Abgrenzungsstrategen in der DDR und die ewigen Neinsager hierzulande müssen doch wohl mehr Gemeinsamkeiten haben, als ihnen eigentlich lieb sein kann. Wie sonst ist es zu erklären, daß der „Rheinische Merkur" vor kurzem auf die Idee verfallen konnte, beide in einer Anzeige mit Balkenüberschrift „Zur Lage der Nation" in ein Boot zu setzen? In dieser Anzeige, in der für die Abnahme der Zeitung geworben wurde, heißt es dann so:
    Beginnen wir links, dann sehen wir nichts Neues: die alten Posen, die alte Verkrampfung, das alte Sektierertum. Und rechts? Auch der deutsche Konservatismus ist der Langeweile und Verbissenheit verdächtig: ewig nörgelnd, ewig defensiv und so mitreißend wie die Debatte zweier Ohrensessel vor dem Kamin.
    Wer sich von diesem Text der Anzeige getroffen fühlt, tut gut daran, über Korrekturen an seinem Image nachzudenken.
    Meine Damen und Herren, gefragt sind Ideen. Nicht Formelbeschwörung hält die deutsche Frage offen, sondern Kreativität und prinzipienfestes Handeln. Und wenn es auch schon hundertmal gesagt wurde: Wir brauchen für diese Politik einen langen Atem. Das ferne Ziel der Einheit aber bleibt für uns eine Realität. Wir halten in unbeugsamer Entschlossenheit daran fest. Kein Realist — und der Realist muß zugleich auch Patriot sein — wird diese Aufgabe als unerreichbar vom Horizont seines politischen Bewußtseins wischen.
    Doch er wird zugleich bedenken, daß das Verlangen nach der Einheit der Nation noch immer Mißtrauen und Vorbehalte auslöst; nicht nur in Osteuropa, auch in den westlichen Partnerländern, dort zwar nicht regierungsamtlich, aber doch in der öffentlichen Meinung. Ist dieses Mißtrauen unüberwindbar? Bundespräsident Walter Scheel gab darauf am 17. Juni vergangenen Jahres eine überzeugende Antwort: „Wenn dieser Staat beharrlich der Freiheit nach innen und außen dient, wenn er seine geistigen, politischen und wirtschaftlichen Mittel einsetzt, nicht um zu herrschen, sondern um zu helfen, wenn er konsequent auf der Seite der Gerechtigkeit gegen die Ungerechtigkeit steht, dann wird sich auch die Angst vor einem vereinigten Deutschland verlieren. Dann könnte es sein, daß eines Tages unsere Nachbarn ein vereinigtes Deutschland wünschen, weil es auch in ihrem Interesse sein größeres Gewicht auf die Waagschale des Friedens legen könnte."
    Macht es viel Sinn, heute über Modelle nachzudenken, wie die Deutschen zusammenfinden, unter welcher Dachkonstruktion dies zu guter Letzt sein könnte? Ich meine nicht. Hilfreicher und für die Politik allein erfolgversprechend ist die Fortsetzung einer bewußtseinsbildenden, Fakten schaffenden Politik der kleinen Schritte. Nützlich ist dabei auch die Klarstellung, daß unser Wille, das politische Europa zustande zu bringen, nicht im Widerspruch zu unserem nationalen Anliegen steht, das heute nur im Rahmen einer europäischen Lösung richtig aufgehoben ist.
    Konkret heißt das erstens: Eine Politik in Richtung auf eine gemeinsame deutsche Zukunft läßt sich nur fortsetzen, wenn wir weiter in einem engen, vertrauensvollen Verhältnis mit unseren westlichen Partnern leben.
    Zweitens: Wir wissen um die Wechselwirkung von Westintegration und nationaler Frage. Die in den 50er Jahren hier und da aufgebaute Frontstellung ist überwunden. Es gilt jetzt, das scheinbar Widersprüchliche kongruent zu machen. Eine auf eine gesamteuropäische Politik angelegte Entwicklung und eine wachsende enge Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten lassen sich sehr wohl miteinander vereinbaren.
    Drittens: Eine Annäherung kann nur stattfinden, wenn in Ost und West die Bereitschaft besteht, diese Politik zu tolerieren. Das setzt voraus, daß das Klima zwischen den Machtblöcken weiter verbessert wird und in Osteuropa selbst eine qualitativ wesentliche Veränderung zu mehr Freizügigkeit und Selbstsicherheit eintritt.
    Diese Chance erhalten wir nur, wenn ein Rückfall in die Zeiten der Konfrontation vermieden wird. Niemand in Europa wird unter Spannungen zwischen den Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung mehr zu leiden haben als die Deutschen. Keine Nation sonst ist zur Wahrung ihrer Einheit so sehr auf strikt vernunftorientiertes Handeln angewiesen wie wir.
    Dabei werden wir stets Berlin im Blick haben; denn die Zukunft dieser Stadt ist wie bei keinem zweiten Ort sonst in der Welt abhängig vom weiteren Fortgang der Entspannungspolitik. Vieles ist in den letzten Jahren geschehen, um die Lebensgrundlagen Berlins sicherer zu machen. Vom Viermächteabkommen bis zu den jüngsten Verkehrsvereinbarungen wurde ein Geflecht praktischer Verbesserungen erstellt, das auch die subjektive Lebenserfahrung in der geteilten Stadt erfreulich beeinflußt hat. Die Krisen und Bedrohungen, die Berlin in den 50er und 60er Jahren immer wieder heimgesucht haben, liegen nicht mehr wie drohende Schatten auf dem Bewußtsein der Bürger. Nicht der Wechsel von Beklemmung und Aufatmen prägt heute das Leben in Berlin; der Lebensrhythmus ist ruhiger geworden, von mehr Vertrauen getragen als in den früheren Jahren.
    Die Berliner wissen um die Zusammenhänge zwischen ihren Möglichkeiten und dem Stand der Ost-West-Beziehungen. So gibt die jeweilige Lage Berlins denn auch treffsicher Aufschluß über die Lage der Nation. Berlin in seiner zwar stabilisierten, aber doch widernatürlichen Lage ist nicht nur ein Barometer der Entspannungspolitik, sondern bleibt ein Symbol der ungelösten deutschen Frage. Allein das Schicksal Berlins muß uns dazu anhalten, den Gang der Geschichte nicht einfach hinzunehmen, sondern im Geiste guter Nachbarschaft, Toleranz und gelebter Freiheit gestaltend einzugreifen. Es wäre gut, wenn wir im Deutschen Bundestag beim Ringen um den richtigen Weg diese Eigenschaften überzeugend verkörperten.



    Hoppe
    Meine Damen und Herren, die Lage der Nation
    ist insgesamt nicht komfortabler geworden, aber allen offenen Fragen und allen Störmanövern zum Trotz überschaubarer und kalkulierbarer als in den vergangenen Jahrzehnten. Wir haben auf schwierigem Gelände Schienen gelegt, auf denen der Zug der deutsch-deutschen Entwicklung in die richtige Richtung rollt. Es ist kein Schnellzug, und die Strecke kann immer wieder durch neue Hindernisse blockiert werden. Dies wird aber keine Umkehr erzwingen, sondern nur Vorübergehendes halten. Wir werden uns deshalb weder von Bremsern und Bremsklötzen drüben noch hier von einer Opposition irremachen lassen, die in der Deutschlandpolitik die Schlachten von gestern schlägt und deren programmatische Aussagen zwischen Beliebigkeit und Belanglosigkeit angesiedelt sind.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Unermüdlich werden wir uns für weitere praktische Fortschritte in Deutschland einsetzen. Diese Arbeit wollen wir in Frieden und zur Bewahrung des Friedens leisten. Ich greife jetzt das Wort des Bundeskanzlers auf, in dem er festgestellt hat: „Nur in einem politisch und vertraglich organisierten Frieden ist es möglich, daß Europa wirtschaftlich, kulturell und menschlich wieder zusammenwächst. Nur nach langem Frieden ist Einheit denkbar."

    (Beifall bei der FDP und der SPD)