Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.
Vor Eintritt in die Tagesordnung habe ich eine Ordnungsmaßnahme nach § 40 der Geschäftsordnung zu ergreifen. Aus dem stenographischen Protokoll der gestrigen Sitzung ist ersichtlich, was ich von dieser Stelle aus nicht gehört habe, daß der Abgeordnete Rasner während der Rede des Abgeordneten Erler zweimal die Worte „frecher Unsinn" gerufen hat. Ich rufe ihn zur Ordnung.
Eine amtliche Mitteilung wird ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht aufgenommen:
Der Herr Bundesminister des Innern hat unter dem 19. März 1958 auf Grund des § 3 des Bundeswahlgesetzes die Mitglieder der Wahlkommission bekanntgegeben. Sein Schreiben wird als Drucksache 294 verteilt.
Meine Damen und Herren, gemäß gestrigem Beschluß haben wir den
Schriftlichen Bericht des Außenhandelsausschusses über den Entwurf einer Zweiten Verordnung zur Änderung des Deutschen Zolltarifs 1958
auf die Tagesordnung gesetzt. Ich schlage vor, diesen Punkt sofort zu behandeln. — Damit besteht Einverständnis.
Es liegt ein Schriftlicher Bericht vor; ich brauche dem Herrn Berichterstatter nicht das Wort zu geben. Ich darf ihm danken. — Das Wort wird nicht gewünscht. Wer dem Bericht des Ausschusses zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? — Keine Enthaltungen; einstimmig angenommen.
Wir fahren in der Tagesordnung fort.
Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU betreffend die deutsche Frage auf künftigen internationalen Konferenzen ;
Große Anfrage der Fraktion der FDP betreffend Gipfelkonferenz und atomwaffenfreie Zone .
Wir setzen die Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Schneider .
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mit einem Wort aus dem britischen Weißbuch beginnen, in dem zu Anfang geschrieben steht: „Die heutige Welt schwebt zwischen der Hoffnung auf einen Weltfrieden und der Furcht vor einem Weltkriege". Das ist die nüchterne Realität, wie sie sich uns im Jahre 1958 darbietet.Vielleicht sollte man einmal einen Blick zurückwerfen und sich daran erinnern, daß wir kaum aus den Trümmern des letzten Krieges herausgekrochen — im wahrsten Sinne des Wortes — waren, als wir zwar feststellten, daß die Sonne wieder schien, als wir aber auch feststellten, daß sich die Siegermächte im Rausche ihres Sieges über Deutschland in den Armen lagen, daß wir nichts Gutes zu gewärtigen hatten und daß es recht trostlos um unsere Position in Ost- und Westdeutschland aussah.Wenn wir dann betrachten, wo wir heute wieder stehen, dann können wir zwar, was den materiellen Wohlstand und unser Wohlergehen betrifft, feststellen, daß wir durch gemeinsames Anpacken wieder allerhand erreicht haben. Der deutsche Bürger fühlt sich im allgemeinen wohl. Er sonnt sich in dem, was er sich wieder angeschafft hat.Aber diese Welt in ihrer Gesamtheit hat es doch nicht weit gebracht seit dem letzten Male. Nach 13 Jahren müssen wir feststellen, daß die ganze Welt ein brodelnder Hexenkessel ist; eine Tat- sache, die wir vor 13 Jahren wahrscheinlich nicht hätten wahrhaben wollen. Wir sind auch schon wieder so weit, daß man die Achseln zuckt, wenn es in irgendeinem Winkel der Welt wetterleuchtet oder wenn gar die Waffen sprechen.In dieser Situation, die für uns besonders schwierig ist, weil wir in einem geteilten Land leben, gilt es mehr denn je, gerade für das deutsche Volk, die Nerven zu behalten und die Lage nüchtern zu beurteilen. Der liebe Gott hat uns einen Verstand gegeben, und den sollten wir gebrauchen bei der Beurteilung der Lage, wie sie sich heute in der Welt darstellt.
Die Völker sind verwirrt. Hier sprechen die Waffen, dort werden Pläne und Vorschläge diskutiert. Einer steht offenbar gegen den andern. Ich habe schon bei der letzten Debatte von diesem Platz
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aus gesagt, man habe manchmal den Eindruck, daß die Verantwortlichen der Welt von allen guten Geistern verlassen seien. Man ist versucht, das zwar etwas primitive, aber trotzdem in etwa gültige Wort aufzunehmen, daß es meist die Regierungen sind, die Schwierigkeiten machen, und daß es, wenn man die Völker der Welt fragte, sehr viel weniger Schwierigkeiten unter den Völkern geben würde. Ich weiß, daß dies ein Wunschtraum ist, ich weiß, daß dies nicht den Realitäten dieser Welt entspricht. Aber gerade deswegen sollte man es ruhig auch einmal sagen, weil es die ganze Tragik unserer Situation beleuchtet. Wir müssen weiter feststellen, daß in einem Augenblick, da wir schon so weit sind, künstliche Monde um die Erde rasen zu lassen, die führenden Männer dieser Welt offenbar nicht imstande sind, das Primitivste, nämlich das Zusammenleben der Völker, so zu ordnen, wie wir es selber haben wollen, und so, wie es uns von Gott auch vorgeschrieben ist.Gerade diese Lage verpflichtet uns als die verantwortlichen gewählten Vertreter des Volkes, mit der Beurteilung der Dinge nicht hinter dem Berge zu halten und den Mut zu haben, der Bevölkerung im Lande die Lage zu schildern, ihr auch die Konsequenzen zu schildern, mögen sie noch so unbequem sein. Es ist nun einmal immer, oder jedenfalls sehr häufig, in der Politik so, daß die Wunschträume, nun, sagen wir, des Mannes auf der Straße mit den harten politischen Realitäten und Notwendigkeiten nicht übereinstimmen.
Wir waren in den letzten Jahren oftmals geneigt, bei der Wiedererringung unseres materiellen Wohlstandes Großmut und Großzügigkeit walten zu lassen. Ich mache mich hier als Sprecher der Deutschen Partei erneut, wie in der letzten außenpolitischen Debatte, auch zum Sprecher dafür, daß wir den Mut haben müssen — jetzt oder nie den Mut haben müssen —, der Bevölkerung einmal mit aller Eindeutigkeit und Klarheit vor Augen zu stellen, daß die derzeitige Lage materielle und auch andere Opfer von uns verlangt.
Was will der Mann auf der Straße? Was will der Bürger unseres Staates? Er will, nicht zuletzt angetrieben durch das, was wir selber ihm manchmal versprochen haben, Ruhe und Frieden, er will seiner Arbeit nachgehen, er will, nun, sagen wir, seinen Kohl bauen, und er will möglichst nicht in den Säckel greifen, um Dinge zu bezahlen, die nicht unmittelbar und sichtbar sein persönliches Wohl fördern oder betreffen. — Will er das wirklich, meine Damen und Herren? Ich glaube, wenn wir uns daranmachten, ihm klarzumachen, daß diese Dinge auf die Dauer allein keinen Bestand haben werden, würden wir auch in unserem Volke Verständnis dafür finden, daß es noch andere harte Notwendigkeiten gibt.Und dann: Die Freiheit — das Wort ist fast banal geworden, weil es täglich, gerade hier in unserem Lande, wo wir auch frei miteinander reden unddiskutieren können, gebraucht wird — die Freiheitkostet heute so viel, wie sie noch nie gekostet hat.
Der Präsident Eisenhower hat recht, wenn er sagt, daß es keinen Frieden zu herabgesetzten Preisen gibt. Aber eines müssen wir unserem Volke auch mit aller Deutlichkeit vorstellen: daß diese Freiheit, die wir so mühselig errungen haben — die Sprecher der Regierungskoalition haben es gestern von diesem Platze aus schon mit Nachdruck herausgestellt —, genauso schnell verlieren können und daß wir sie dann niemals wiederbekommen würden.
Sehen wir uns doch die vielfältige Unfreiheit in der Welt an! Stellen nicht diejenigen Politiker, die heute der deutschen Öffentlichkeit weismachen wollen, wir wollten uns nur bewaffnen, um eventuell an einem Kriege, den wir gar nicht heiß genug erwarten könnten, teilzunehmen, oder wir wollten gar selber als Aggressoren auftreten, die Dinge bewußt und teilweise aus parteipolitischen Gründen einfach auf den Kopf?
Tatsache ist doch, und das kann auch kein Sozialdemokrat leugnen, daß die Unfreiheit in der Welt in so vielfältigen und in so niederträchtigen Formen regiert, daß wir alle Veranlassung haben, wachsam und bereit zu sein, damit wir das, was wir so mühselig aus Blut und Trümmern eines Krieges und aus dem Erleben einer Nachkriegszeit, die furchtbar für alle Deutschen war, errungen haben, nicht leichtfertig wieder drangeben.
Meine Damen und Herren, daß diese Freiheit auf dem Gleichgewicht des Schreckens, wie es so schön oder so schaurig heißt, gegründet ist, daß diese Freiheit darauf gegründet ist, daß sie auf den Bajonetten — nein, das langt nicht —, auf den Spitzen der Hund Atombomben ruht, ist furchtbar, ist furchtbar im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert, das sich als eins der aufgeklärtesten unserer ganzen Zeitrechnung bezeichnet. Aber es ist eine politische Realität, die auch jene nicht beseitigen können, die im Gewande des „Billigen Jakob" heute durch die Lande reisen und den Leuten sagen: Ihr braucht nur auf alle Unbequemlichkeiten zu verzichten, und der Friede der Welt wird gerettet sein.
Aber noch etwas anderes. Wir unterhalten uns über die Frage, ob wir diese oder jene Waffen haben sollen und haben werden oder nicht. Wir vergessen dabei, daß es nicht nur das politische Gespräch und nicht nur das Gespräch über diese oder jene Waffen ist, sondern daß es noch eines Mehr bedarf, um ein Volk dafür zu rüsten, daß es in der Turbulenz der Zeit in dem Welttheater zu bestehen vermag. Wir vergessen, daß die geistigen Dinge
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auch nicht zu kurz kommen dürfen, und auch hier muß ich erneut, wie in der letzten außenpolitischen Debatte, als Sprecher der Deutschen Partei auftreten und sagen, daß gerade die verantwortlichen Fraktionen der Regierungsparteien die Verantwortung dafür tragen, daß unser Volk auch psychologisch und geistig so ins Bild gesetzt wird bzw. — —
— Herr Wehner, wenn ich gesagt hätte „geschult" wird, dann hätte ich das Theater auf Ihrer Seite hören mögen.
Aber wenn Sie es wünschen, Herr Wehner, dann werde ich das sagen, wobei ich „Schulen" nicht in dem herkömmlichen Sinne aus der verflossenen Ara zu verstehen bitte. Aber jeder hier im Raume weiß, was gemeint ist, nämlich, daß wir uns geistig wappnen müssen. Nicht nur das Materielle, sondern auch das Geistige muß mit zu unserem Rüstzeug gehören
und ein Hauptanliegen all der Parteien sein, die die Verantwortung in diesem Staate tragen. Wir sehen im Augenblick bei der Verwirrung, die in der deutschen Öffentlichkeit entstanden ist und die wir uns jetzt zu bereinigen anschicken, daß wir mit bestimmten Wahlparolen, mit denen wir nur die materiellen Dinge angesprochen haben, genau das Gegenteil von dem erreicht haben, was wir an sich erreichen wollen und auch erreichen müssen. Wir haben nämlich erreicht, daß allenthalben im Lande schon eine gewisse Knieerweichung Platz greift. Und das darf nicht sein, gerade nicht in dieser Auseinandersetzung, in der wir zur Zeit stehen.Aber wennschon über Waffen geredet wird, muß von dieser Stelle auch noch einmal mit aller Eindeutigkeit gesagt werden, daß über Krieg oder Frieden nicht die Bundesrepublik Deutschland, ja nicht einmal Großbritannien oder Frankreich oder sonst jemand, sondern ausschließlich die Vereinigten Staaten von Amerika oder die Sowjetunion entscheiden und daß damit die Argumente der Opposition, die sie in sehr geschickter Weise der deutschen Öffentlichkeit darzulegen versucht, in sich zusammenfallen, die Argumente, die indirekt darauf zielen, den Leuten weiszumachen, daß es bei einer Bewaffnung dieser oder jener Art für die deutschen Streitkräfte eine erhöhte Gefahr für die Zukunft geben könne, eine erhöhte Gefahr des Ausbruchs eines Konflikts. Und, meine Damen und Herren, ich kann nur sagen, daß bei dieser Auseinandersetzung, bei der es um Lebensfragen unseres Volkes geht, das Abkochen parteipolitischer Suppen nichts zu suchen hat,
und SPD und FDP sollten aufhören, der deutschen Öffentlichkeit ein Zerrbild der politischen Wirklichkeit aufzutischen.
Andererseits, wer wollte es der Bundesregierung, die mit einer so breiten Mehrheit regiert, verwehren, das zu tun, was noch immer oberstes Gebot aller Staatsführungen in den verflossenen Jahrhunderten und -tausenden gewesen ist, nämlich für die Sicherheit der Nation Sorge zu tragen!
In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, muß auch von dieser Stelle aus vor aller Öffentlichkeit — und ich sage es Ihnen ganz besonders — eindeutig festgestellt werden
— eindeutig, Herr Eschmann, falls Sie es auch noch nicht begriffen haben sollten —,
daß es nur die Alternative gibt: Mit dem Westen und damit für die Freiheit oder mit dem Bolschewismus und damit für die Unfreiheit.
Ich will es mir versagen, nähere Ausführungen über die NATO zu machen. Mögen diejenigen, die draußen glauben, daß „NATO" ein Waschpulver sei, ruhig weiter daran glauben. Es ist bedauerlich — auch hier müßten wir als verantwortliche Politiker den Hebel mit ansetzen —, daß es solche Auffassungen im Lande überhaupt noch geben kann. Denn es muß doch einmal in Erinnerung gerufen werden, welche realen Gründe dazu geführt haben, daß wir uns der NATO überhaupt angeschlossen haben. Wenn nach der letzten Bundestagsdebatte gewisse Fragen offengeblieben sind, dessentwegen wir nicht zuletzt heute hier stehen, um vor der deutschen Öffentlichkeit die Dinge wieder einmal geradezurücken, dann darf nicht vergessen werden: Korea!
Oder haben Sie es schon vergessen, daß während des Korea-Konflikts nicht nur die Volkspolizei, sondern auch andere bewaffnete Einheiten drüben auf dem Sprung standen, um auch uns die Unfreiheit zu bringen?
Das muß Ihnen anscheinend mit allem Nachdruck wieder in die Erinnerung zurückgerufen werden.Und was sagen Sie denn zur Machtpolitik der Russen seit 1945? Was sagen Sie denn zu dem Satellitengürtel, mit dem Rußland sich umgeben hat, weil es nicht gut ist, daß der russische Bär sich seinen Pelz an westlichen Staatengebilden scheuert, weil sonst die Flöhe rebellisch werden?
Was sagen Sie zu diesem Satellitengürtel? Und was sagen Sie dazu, daß man die Welt vom Baltikum bis zum Balkan herunter versklavt hat? Ist es erlaubt, das noch einmal in die Erinnerung zurück-
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zurufen? Ist es erlaubt, daran zu erinnern, daß wir noch ein Kommunistisches Manifest haben, das nach wie vor die Weltrevolution fordert?
Ist es nicht mehr bekannt, und muß es deswegen nicht vor der gesamten deutschen Öffentlichkeit in Erinnerung gerufen werden, daß alles, aber auch alles von Herrn Chruschtschow beispielsweise widerrufen worden ist, daß aber das Kommunistische Manifest mit seinen Welteroberungszielen bis zur Stunde nicht widerrufen ist?
— Sie werden eines Tages im Keller sitzen und „Hu" machen!
— Meine Damen und Herren, ist es vielleicht vergessen, daß die Kommunistische Internationale in ihren Entschließungen der letzten Zeit eindeutig und glasklar die Forderung aufgestellt hat, daß das kommunistische Regime gegebenenfalls mit allen Mitteln über die Welt zu verbreiten sei? Ich glaube, daß alle diese Herausforderungen an die Welt wahrhaftigen Gottes kein Anlaß für eine Partei in diesem Hause bieten sollten, darüber zu lachen!
Meine Damen und Herren, ich bitte nicht mit Lauten zu reagieren, die in diesem Hause eigentlich ungewöhnlich sind.
Das können die Herren nicht wissen. — Aber, meine Damen und Herren, mich bringen Sie bekanntlich nicht aus dem Konzept,
denn mit den Vertretern der Sozialdemokratie habe ich schon seit über zehn Jahren Sträuße ausgefochten. Ich kenne Ihre Argumente, ich kenne Ihre Methoden, aber ich sage Ihnen: Nicht Sie werden mit mir, sondern ich werde mit Ihnen Schlitten fahren!
Meine Damen und Herren! Ich darf doch bitten, etwas ruhiger zu werden. An sich ist es nicht die Aufgabe der verschiedenen Redner dieses Hauses, mit ihren Kollegen Schlitten zu fahren,
sondern sie sollten sich gegenseitig durch Argumente überzeugen. Man soll aber auch einen Redner in seiner Überzeugungskraft nicht durch Zwischenrufe zu hindern suchen.
Abgesehen davon, daß eine Schlittenfahrt auch ganz munter sein kann, Herr Präsident.
Meine Damen und Herren! Ich sage noch einmal: Die Herausforderungen in der ganzen Welt rechtfertigen es, all das in die Erinnerung zurückzurufen. Wenn es jemanden in Deutschland gibt, der sich anmaßt oder der glaubt, daß bei der Darstellung beispielsweise der Tatsachen übertrieben werde, daß in den letzten Jahren, seitdem unsere Brüder und Schwestern in Unfreiheit in der Zone zu leben gezwungen sind, Hunderte und Tausende einfach von der Bildfläche verschwunden sind, nachdem es morgens an der Tür klopfte, dann haben ich und meine Freunde von der DP hierfür kein Verständnis mehr.Wir haben auch kein Verständnis dafür, daß der Kollege Arndt gestern von dieser Stelle aus wieder das alberne, ich kann nur sagen: das alberne Wort von der Politik der Stärke gesprochen hat.
Wie oft ist in diesem Hause bereits von verantwortlicher Seite festgestellt worden, daß es sich ausschließlich um eine Politik der Selbstbehauptung und des Selbstbehauptungswillens handelt, die wir in den letzten Jahren betrieben haben.
Ich habe nicht die Aufgabe, hier den Bundesminister Strauß zu verteidigen. Er wird sicher selbst noch zu den Dingen Stellung nehmen, die es wert sind, erwähnt zu werden. Aber die Kritik, die der Kollege Maier von der FDP gestern an seine Ausführungen bzw. an seine Person gelegt hat, indem er davon sprach, daß hier ein Kriegsminister gesprochen habe, und die Tatsache, daß hier ein führender Mann der FDP-Fraktion sagte, das sei eine kriegslüsterne Rede gewesen, sind bedauerlich
und bringen Sie in die Nähe des Jargons der sowjetzonalen Presse.
Ich darf dieses Haus wohl darauf hinweisen, daß auch die Freien Demokraten die Politik der vergangenen Jahre mitverantwortlich getragen haben und daß sie heute nicht gut daran tun, den Kopf aus der Schlinge ziehen
bzw. sich der Verantwortung entziehen zu wollen,
die Sie in der Tat auf sich genommen haben.Ich stelle fest, meine Damen und Herren, daß es Herr D r. Dehler war, der laut Radio Frankfurt am 27. Januar 1957 gesagt hat: Es ist nicht wahr, daß die deutsche Bewaffnung, diese selbstverständliche Verpflichtung jedes Volkes, das sich nicht selbst zum Untergang bestimmt, die deutsche Wiedervereinigung ausschlösse. Es ist eine weitere Tatsache — man kann natürlich aus der Vielzahl
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des Materials nur weniges zitieren —, daß in der „Weltwoche" auf die Frage in einem Interview: „Halten Sie die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte nach wie vor für notwendig?" Herr Dr. Dehler eindeutig mit Ja geantwortet hat.
Aber, meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen auch sagen, was Herr D r. Schumacher, der hochverehrte sozialdemokratische Oppositionschef, zu dieser Frage einmal gesagt hat.
Dr. Schumacher meinte, die Diskussion über einen deutschen militärischen — —
— Ich kann mir vorstellen, daß Sie nicht gern an das erinnert werden, was Ihr verstorbener Parteivorsitzender gesagt hat.
Herr Abgeordneter Schneider, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wehner?
Meine Damen und Herren, nachdem die Sozialdemokraten mich hier nicht frei und in Ruhe sprechen lassen, denke ich nicht daran, eine Zwischenfrage zuzulassen.
Dr. Schumacher meinte, die Diskussion über einen deutschen militärischen Beitrag kranke entscheidend daran, daß sie ohne die Fixierung absolut fester Voraussetzungen und ohne die Rücksicht auf die möglichen Gefahren für das deutsche Volk geführt werde. Es soll nicht wieder an das Wort Schumachers vom So-stark-Machen des Westens, daß er die erste Schlacht an der Weichsel schlagen könnte, erinnert werden. Ab und zu ist das Temperament einmal mit ihm durchgegangen.
Aber immerhin, fest steht, daß diese Äußerungen getan sind, auch wenn es noch so unpopulär ist, über diese Dinge zu sprechen.Wir sind froh, daß wir durch die Politik, die wir getrieben haben, in Freiheit leben und auch in Freiheit sprechen können.
Ich sage Ihnen für die Deutsche Partei: Sie mögen über die NATO denken, wie Sie wollen, — solange es nichts Besseres gibt, bleiben wir drin.
Ich habe gestern gehört, daß ein Sprecher der Sozialdemokraten gesagt hat, man müsse in der NATO eine bessere Politik zur Debatte stellen. Meine Damen und Herren, damit sind wir grundsätzlich einverstanden. Diese bessere Politik sollte man nicht nur in der NATO, sondern allenthalben in der Welt zur Debatte stellen. Ich glaube, daß die Art und Weise, in der der deutsche Regierungschef auf der Pariser NATO-Konferenz seine Ausführungen gemacht hat, ein Beweis dafür gewesen ist, wie man einem solchen Instrument, das unter ganz anderen Aspekten zustande gekommen ist, auch einen ausgesprochen politischen Akzent geben kann, — worüber wir alle sehr glücklich waren.
Aber wir wehren uns dagegen, daß von bestimmter politischer Seite die Tatsachen verdreht und die Dinge so hingestellt werden
— ich habe vorsichtshalber nur gesagt „von bestimmter" —,
als ob wir uns diesem Bündnis angeschlossen hätten, weil wir gar nichts Besseres zu tun haben, als unser Geld auszugeben und Unbequemlichkeiten freiwillig auf uns zu nehmen. Ich glaube, daß ich hierüber schon deutlich genug gesprochen habe.So sehr Sie teilweise dagegen sein mögen, meine Damen und Herren: wir werden jedenfalls nicht locker lassen, jeden Bürger unseres Staates aufzurütteln und immer wieder aufzurütteln und ihn daran zu erinnern, daß wir heute in Freiheit leben und sprechen können, daß wir Wert darauf legen, es weiter tun zu können, und daß wir nicht daran denken, der Unruhe des deutschen Herzens nachzugeben, das offenbar schon wieder irgend etwas anderes haben muß, weil dieser Zustand bereits wieder zu lange dauert und weil es schon wieder so selbstverständlich geworden ist, daß wir das alles haben. Hinfort mit der Trägheit aus dem westdeutschen Volk!Durch Gelübde und Gebete allein ist noch kein Krieg verhindert worden. Ich erinnere Sie daran, wie Hitler 1939 marschierte, weil er annehmen konnte oder annehmen mußte, daß der Westen den Polen nicht zu Hilfe eilen würde. Das ist nur ein , aber ein sehr markantes Beispiel für das, was sich in den letzten Jahrzehnten zugetragen hat, wenn eine Nation nicht wachsam und bereit war. Sie emotionieren sich so darüber, daß auch wir an der Politik der sogenannten Abschreckung zur Erhaltung nicht etwa des militärischen Gleichgewichts, sondern zur Erhaltung des Friedens schlechthin teilnehmen. Vielleicht haben Sie auch schon einmal darüber nachgedacht, daß man eine solche Politik der Abschreckung auch als ein Faustpfand in der Hand bei Verhandlungen betrachten kann.Wir sind uns mit Ihnen allen darüber einig, und es wird von niemandem bestritten, daß die Abrüstung und Entspannung — und zwar eine kontrollierte Abrüstung und Entspannung — die Grundvoraus-
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setzung für die Lösung aller Probleme und aller strittigen Fragen in der Welt und speziell auch Deutschlands sind. Aber man muß sich dabei im klaren sein, daß wir keine Entspannung und auch keinen Frieden — und der ist das letzte und wichtigste oder, wenn Sie wollen, das erste und wichtigste — bekommen werden, wenn nicht gewisse Politiker des Auslands einsehen, daß es mit einem geteilten Deutschland im Herzen Europas eine Entspannung und einen Frieden niemals geben kann.
Ich glaube, daß die deutschen Parteien — die größeren Parteien — vielleicht etwas aneinander vorbeireden, wenn die einen sagen: Ihr dürft nicht diese Bewaffnung nehmen — und dabei nur an das Gewissen appellieren --, und die anderen sagen: Wir müssen sie aber nehmen, weil die Lage so schrecklich ist, und dabei natürlich auch an ihr Gewissen denken. Nein, wir müssen beides tun, meine Damen und Herren. Wir müssen wachsam und bereit sein. Wir müssen leider, leider, leider die materiellen Opfer dafür auf uns nehmen. Aber wir müssen auch bereit sein, diese Wachsamkeit und Bereitschaft und diese Sicherheitsvorkehrungen gegebenenfalls zum Verhandlungsobjekt zu machen — natürlich nur in einem Umfang, der uns selbst unsere Sicherheit weiterhin garantiert und der auch den anderen, unseren Verhandlungspartnern, ein entsprechendes Maß an Sicherheit gewährleistet. Hier, glaube ich, sollten die Fronten etwas in Fluß gebracht werden. Das eine tun und das andere nicht lassen!
Wir sollten den Russen sehr eindringlich vorstellen, daß wir mit den Vorschlägen, die sie bisher in bezug auf die deutsche Wiedervereinigung gemacht haben, oder mit den Ablehnungen, die Herr Chruschtschow und andere Sowjetführer ausgesprochen haben, weder Frieden noch Entspannung noch Freundschaft miteinander gewinnen werden.Aber fir sollten auch nicht nachlassen, dem Westei, immer wieder zu sagen, daß wir seine Unterstützung bei der Lösung der Frage der deutschen Wiedervereinigung erwarten; denn der Westen muß sich auch darüber im klaren sein, daß es sein legitimes Interesse ist, daß dieses unruhige Gebilde im Herzen Europas verschwindet. — „Unruhig" bitte ich nicht falsch zu verstehen, ich meine einfach die Unruhe, die davon ausgeht, daß hier ein Land geteilt ist. Wenn dieser Zustand nicht verschwindet, könnte eines Tages unter Umständen die Gefahr bestehen, daß sich die Deutschen anderweitig orientieren. Das ist eine Gefahr, in die wir niemals kommen dürfen. Bei der Abwendung dieser Gefahr können und müssen uns unsere Freunde zur Seite stehen, damit wir wenigstens diesen Teil unseres Vaterlandes als freiheitlichen Teil behalten können.Es muß auch gesagt werden, daß es heute eine deutsch-russische Entspannung überhaupt nur bedingt geben kann, weil die Frage der Entspannung heute so in das Weltkonzert eingebettet ist und die Probleme so kompliziert sind, daß es eben nicht nur damit getan ist, ein freundliches Wort mit demBotschafter dieser oder jener Macht zu wechseln. Allerdings wünschte ich manchmal, daß wir mit gewissen Botschaftern öfter freundliche Worte wechselten.Das alleine bedeutet nicht Freundschaft oder gute Nachbarschaft, daß man einmal lose miteinander spricht. Aber ich darf vielleicht darauf verweisen, daß wir mit die ersten waren, die gefordert haben, kein Tabu in einem Gespräch mit den Russen oder gar auch mit gewissen Ostblockstaaten zu sehen. Diese Forderung, die mein Freund von Merkatz schon vor Jahren in Lüneburg aufgestellt hat, möchte ich wieder aufgreifen.Es ist manchmal etwas schwierig, die Tabus in der Bundesrepublik zu beseitigen. Deswegen muß man sie mutig anpacken und mutig darüber sprechen, wie man nachher auch den Mut haben soll, mit anderen zu sprechen. Wir sind jedenfalls überzeugt, daß auch den Russen daran gelegen sein muß, von einem Gürtel freundschaftlich verbundener Nationen und nicht von einem Gürtel potentieller Gegner umgeben zu sein.Allerdings muß den Russen — das erfordert ihre Mentalität — auch mit aller Deutlichkeit klargemacht werden, daß auch sie sich hinsichtlich ihrer Forderungen und daß sie ihrem übertriebenen Propagandabedürfnis Beschränkungen auferlegen müssen. Wir müssen ihnen klarmachen, immer wieder klarmachen — auch das ist schon zu sehr in Vergessenheit geraten —, daß sie es waren, die in San Franzisko mit die UN-Charta unterschrieben haben, daß es ohne das Selbstbestimmungsrecht der Völker — und zwar für alle — auch keinen Frieden und keine Entspannung geben kann. Ich glaube, daß dies ein Punkt ist, in dem sich das ganze Haus einig ist. Dieses Selbstbestimmungsrecht muß für unser Volk immer und immer wieder gefordert werden.
Wir können den Sowjetführern nicht oft und nachdrücklich genug klarmachen, daß sie eines Tages dieses Selbstbestimmungsrecht hergeben müssen. Wir müssen das insonderheit in einem Moment klarmachen, wo es auf eine sogenannte Gipfelkonferenz zuzugehen scheint. Scheint, meine Damen und Herren! Denn noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Aber gleich, wie die Tagesordnung aussehen oder wie der Streit um die Tagesordnung dieser Konferenz ausgehen mag, eines steht fest: die Lösung der verworrenen weltpolitischen Probleme wird nicht nur diese eine Konferenz, sondern nach unserer Auffassung eine Serie großer Konferenzen erfordern. Wir wären zufrieden und glücklich, wenn auf der ersten wenigstens schon technische Probleme weitgehend eine Lösung finden könnten.Wir sind uns darüber im klaren, daß die Probleme, die uns und die anderen betreffen, mit einer Gipfelkonferenz nicht etwa aus der Welt geschafft sind. Wir müssen unserer Bevölkerung mit aller Deutlichkeit sagen, daß es jahrelanger, zäher Verhandlungen bedarf; denn wir haben es mit einem zähen Gegner zu tun. Wir müssen ihr auch sagen, daß der Friede und die Freiheit nicht von heute auf morgen gewonnen sind. Wir sind jedenfalls bereit, diese
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jahrelangen Verhandlungen in Kauf zu nehmen; denn es ist eine alte Weisheit, daß, solange geredet oder verhandelt wird, nicht geschossen wird.Bis dahin, bis zu einer sich wenigstens in etwa abzeichnenden Lösung für Entspannung und Frieden müssen wir, wie ich schon sagte, Wachsamkeit und Bereitschaft üben. Wir werden demnächst in diesem Hause Gelegenheit haben, eine Große Anfrage der sozialdemokratischen Fraktion, die sich mit den Verteidigungslasten unseres Bundeshaushalts befaßt, zu behandeln. Meine Damen und Herren, ich sagte vorhin schon, die Freiheit kostet Geld, und wenn sie keines mehr kostet, dann sind wir in der Unfreiheit.
Was sind das für Politiker, die aus berechtigtem Oppositionsbedürfnis der Regierung und der Öffentlichkeit zwar vorrechnen wollen, wie tief wir in den Säckel greifen müssen, die es aber nicht unterlassen können, gleichzeitig auch parteipolitische Interessen bei der Erörterung eines solchen Themas zu fördern! Das ist keine verantwortliche Politik. Die Wünsche der Völker bezüglich der Bequemlichkeiten und der Unbequemlichkeiten, die man tragen oder nicht tragen will, die Wünsche der Völker bezüglich des Tempos, in dem sich der Lauf der Welt bzw. der Lauf der Politik entwickelt, sind nun einmal mit den realen Gegebenheiten nicht immer in Einklang zu bringen. Soweit, glaube ich, die überwiegende militärisch-politische Realität.Ich darf nun zur Politik kommen. Da trage ich fast Eulen nach Athen, wenn ich sage, daß das deutsche Volk aus der Erkenntnis dessen, was im Lande war und was mit den anderen war, und aus der Wertung dessen, was wir nach dem Kriege erlebt haben, wie kein anderes Volk berufen ist, für den Frieden, für eine Politik des Friedens, der Freundschaft und der Verständigung mit allen Völkern, auch mit dem russischen Volke, zu stehen.
Wir sollten es nicht unterlassen, der Öffentlichkeit immer wieder klarzumachen, daß wir eine Politik fest im Grundsatz betreiben. Wir sollten unseren politischen Gegnern nicht das Feld lassen, zu behaupten, daß wir nicht geschmeidig genug in der Methode oder in der Taktik seien. Nicht nur wir, sondern der ganze Westen muß sich auch etwas mehr der Taktik der Russen anpassen, wenn er zum Erfolge kommen will.Meine Damen und Herren, ich befinde mich hier in der angenehmen Gesellschaft führender Männer der Koalition, wenn ich sage, daß wir ruhig sogar im Westen insgesamt etwas aktiver werden sollten und daß wir Masurka auflegen sollten, wenn Herr Chruschtschow Krakowiak tanzen will.
— Die Hauptsache, es wird überhaupt getanzt, Herr Kollege Eschmann.Ich glaube, daß in diesem Zusammenhang ein Wort zur Arbeit des Auswärtigen Ausschusses auch aus den Reihen der Regierungsfraktion selbst gestattet ist. Wir wünschen, daß der Auswärtige Ausschuß in Zukunft aktiver wird als in der Vergangenheit. Die vielen Noten, Vorschläge, Diskussionsgrundlagen, Pläne, Briefe, und was an derlei Dingen heute ins Haus kommt, machen es einfach erforderlich, daß wir alle gemeinsam von links bis rechts im stillen Kämmerlein diese Dinge miteinander besprechen und nach Ansätzen für eine gemeinsame Politik suchen, wobei ich gern das Wort eines bekannten Parlamentariers dieses Hauses wiederhole, daß es weniger auf die Gemeinsamkeit als auf die Richtigkeit der Politik, auch einer solchen gemeinsamen Politik ankomme.Aber auch an die Regierung möchte ich ein Wort richten. Meine politischen Freunde haben gestern mit Erstaunen vernommen — sie hatten es vorher allerdings auch schon in der Zeitung gelesen —, daß der Herr russische Botschafter über Themen, die er mit dem Regierungschef bzw. dem verantwortlichen Minister erörtert hat, auch mit Mitgliedern dieses Hauses gesprochen hat.
Nun sind wir die allerletzten, die etwa das Licht des Parlaments unter den Scheffel stellen wollten, aber ich möchte doch feststellen, daß diese Prozedur ungewöhnlich ist, und die Bundesregierung namens der Deutschen Partei bitten, daß sie den Botschafter der UdSSR
— und gegebenenfalls auch andere —
nicht in Gefahr bringt, die herkömmlichen Spielregeln der Diplomatie zu verletzen.
(Lachen bei der SPD. — Abg. Wienand:„Benutzen"!)Wir sollten auch unseren eigenen Botschafter in Moskau — —
— Wenn ich Ihnen einmal vorrechnen wollte, wieoft Sie sich schon versprochen haben, Herr Wienand, so würde das überhaupt kein Ende finden.Ich glaube, wir sollten alle Mittel benutzen, um ins Gespräch zu kommen. Ein Gespräch ist immer geeignet, Mißverständnisse und Spannungen zu beseitigen. In diesem Zusammenhang begrüßen meine Freunde von der Deutschen Partei im Gegensatz zu einigen Regierungsmitgliedern auch — das sei von dieser Stelle aus ehrlich gesagt —, daß der Herr Professor Carlo Schmid eine Reise nach Warschau unternommen und dort menschlich und persönlich Kontakte geknüpft hat. Auch dieses Tabu muß mutig angefaßt werden. Wir können nicht setun, als ob dort ein weißer Fleck auf der Landkarte
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sei. Die Polen sind nun einmal unsere Nachbarn, und man muß auch den Mut haben, mit unbequemen Nachbarn ein Gespräch zu führen. Allerdings gefällt es meinen Freunden nicht so sehr, daß Herr Professor Carlo Schmid dort vielleicht in etwas übertriebener Weise der Selbstbezichtigung gehuldigt hat.
Eins steht jedenfalls fest.
— Kommen Sie doch herauf und halten Sie nachher selbst eine Rede! — Ich will Ihnen das präzisieren. Es steht fest, daß unser Schild — Gott sei es geklagt — nicht rein ist. Aber ich sage Ihnen: kein Brite, kein Franzose und kein Amerikaner würde so weit gehen, wie Herr Schmid in Warschau gegangen ist.
Es gibt auch noch eine nationale Würde. Fehler haben alle Nationen begangen, und schuld am letzten Krieg ist nicht allein Deutschland gewesen.
Mit Bezug auf die Gipfelkonferenz ist in der Öffentlichkeit verschiedentlich das böse Wort „Störenfried" aufgetaucht, als seien die Deutschen die Störenfriede, die unter Umständen ein Zustandekommen dieser Konferenz überhaupt torpedieren würden, weil sie bestimmte Forderungen hinsichtlich der Tagesordnung vorzubringen hätten. Meine Freunde und ich glauben, daß genau das Gegenteil der Fall ist. Wir glauben, daß wir im Augenblick allenfalls als Störenfried erscheinen könnten, daß aber die Störenfriede diejenigen sind, die uns heute vorwerfen, daß wir es seien, nämlich jene, die den Status quo aufrechterhalten wollen, und daß sich diese Störenfriede daran schuldig machen werden, daß es nicht zu einer Entspannung und zu einer wirklichen Freundschaft unter den Völkern kommen kann. Ich sage also: jene, die auf dem Status quo beharren, machen sich auf lange Sicht als Störenfriede schuldig.Herr Kollege Mende hat — um dies hier einmal einzuschalten — in bezug auf die Wiedervereinigungspolitik der Regierung die altbekannten Sätze— so will ich vorsichtshalber sagen — vorgebracht. Er hat praktisch der Regierung wieder vorgeworfen, daß sie nie eine Initiative in der Frage der Wiedervereinigung entwickelt habe. Ich frage sowohl den Kollegen Mende wie auch die Sozialdemokraten, wo ihr Patentrezept für die Wiedervereinigung ist.
Ich darf darauf hinweisen, daß es mein Freund von Merk a tz gewesen ist, der schon vor Jahren einen Mehr-Phasen-Plan aufgestellt und später dann durch seine Lüneburger Vorschläge einen mutigen Vorstoß in dieser Frage gemacht hat.Aber ganz besonders interessant war doch, was Herr Mende hinsichtlich seines Gespräches mit Herrn Smirnow hier gesagt hat. Ich glaube, die Dinge sind immer noch nicht aufgeklärt, meine Damen und Herren.
Herr Mende hat hier seine Interpretation bezüglich des Friedensvertrags vorgetragen. Ich bin mit meinen Freunden recht unglücklich über die Äußerungen, die Herr Chruschtschow in seiner Rede in Minsk und in anderen Reden über die Deutschlandfrage von sich gegeben hat. Es sei mir gestattet, Herr Präsident, einige Sätze aus dem Aide-memoire zu verlesen; ich weiß nicht, ob es inzwischen veröffentlicht ist.
— Ich bin ja nicht der Regierungschef, aber ich darf mir trotzdem die Freiheit nehmen. Wenn Sie es noch nicht kennen, dann hören Sie gut zu! Hören Sie die Hauptstelle aus diesem bekannten Aide-memoire:Manche offiziellen Persönlichkeiten der Bundesrepublik scheuen sich nicht, den Sinn des sowjetischen Vorschlages zu entstellen, indem sie z. B. behaupten, die sowjetische Regierung trete angeblich für den Abschluß zweier Friedensverträge mit jedem deutschen Staat für sich ein. Damit weitere falsche Auslegungen vermieden werden,— ich betone ausdrücklich, daß ich dieses Material nicht aus den Händen der Regierung habe —
hält die Sowjetregierung es für notwendig, nochmals zu erklären, daß sie eine Anhängerin des Abschlusses eines Friedensvertrages mit Gesamtdeutschland ist.— Wir auch. —Der Vorschlag der Regierung der DDR über die Bildung der deutschen Konföderation eröffnet die realsten Möglichkeiten dafür.Das ist nämlich ein entscheidender Satz, meineDamen und Herren. Hier ist doch der Pferdefuß.Warum streiten wir uns in erster Linie darüber — —
— Ich lese weiter! Warten Sie, Herr Kollege Menzel, ich lese Ihnen alles vor, und Ihnen lese ich besonders gern alles vor.Wir streiten uns darüber, ob man einen oder mehrere Friedensverträge abschließen will, und übersehen dabei diesen wichtigen Passus; jedenfalls hat der Sprecher der Freien Demokraten ihn offenbar übersehen. Aber die Sowjetregierung ist weit davon entfernt, jemandem jene oder andere Rezepte für die Lösung der Deutschlandfrage aufzuzwingen. Im Gegenteil, sie würde den Entschluß über die entsprechende Vertretung Deutschlands bei der Unterzeichnung des Friedensvertrages als selbstverständlich annehmen, der als Ergebnis einerDeutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19, Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 925Schneider
Vereinbarung zwischen beiden deutschen Staaten ausgearbeitet werden wird. Wir suchen ja auch nach einem Weg, nach einer Möglichkeit der Vereinbarung zwischen beiden deutschen Staaten. Bisher ist, Gott sei es geklagt, noch kein brauchbarer Weg gefunden worden, — es sei denn, man betrachtet die von Grotewohl und Ulbricht vorgetragene Konzeption der Konföderation als einen solchen Weg. Ich werde darauf auch noch zu sprechen kommen, denn maßgebliche sozialdemokratische Politiker haben zu dieser Frage Ausführungen gemacht, die zumindest wert sind, hier vor aller Öffentlichkeit festgehalten zu werden.Im Aide-memoire heißt es weiter:Was die Heranziehung der entsprechend bevollmächtigten deutschen Vertreter zu den Verhandlungen über die Vorbereitung des Friedensvertrages in den Anfangsstadien anlangt, so handelt es sich natürlich nicht darum, daß die Bundesrepublik die DDR oder die DDR die Bundesrepublik anerkennt, sondern darum, daß die Interessen beider deutschen Staaten auch auf dieser Etappe in gebührender Weise berücksichtigt werden.Jawohl, meine Damen und Herren, das ist ein grundsätzliches Statement; das können wir unterschreiben. Nur müssen wir nach dem Weg suchen, wie wir zu einer gebührenden Berücksichtigung — und was in diesem Zusammenhang „gebührend" heißt, wissen wir alle in diesem Hause kommen können.Dies war also das, was zum Aide-memoire zu sagen war. Auch hier kann ich nicht fortfahren, ohne noch einmal darauf hinzuweisen, daß auch in diesem Zusammenhang den Russen immer und immer wieder vorgestellt werden muß, daß wir nicht nur die Wiedervereinigung wollen, sondern daß wir das wollen, was international statuiert und von allen Nationen unterschrieben ist, nämlich das Selbstbestimmungsrecht für unser Volk.Ich wage von diesem Platze aus den Vorschlag: wie wäre es, wenn die Bundesregierung Herrn Bulganin und Herrn Chruschtschow einmal in diese provisorische Hauptstadt Bonn einlüde, um an Ort und Stelle die Probleme mit ihnen zu erörtern, die zwischen uns und den Russen stehen?Der Kollege Erler hat gestern gesagt, daß eine Gipfelkonferenz ohne die deutsche Frage auf der Tagesordnung überhaupt nicht in Frage käme. Ich freue mich über diesen Gesinnungswandel um so mehr, als Professor Schmid ausweislich der Basler Nachrichten — das Datum ist leider nicht zu lesen — gesagt hat, nun sei es an der Zeit, daß Moskau und Washington, die beiden übrigbleibenden wirklichen Großmächte, in direkte Verhandlungen miteinander eintreten, und man müsse es sogar hinnehmen, daß diese Verhandlungen über unsere Köpfe hinweg geführt werden.
Das ist genau das, wohin es nicht kommen darf. Es darf nicht über die Köpfe der Deutschen hinweg verhandelt werden.
Wir sind uns darüber einig, daß nicht ein lautes Propagandatheater, sondern eine sachliche und stille Vorbereitung dieser Konferenz der Sache sehr viel nützlicher wäre. Ich bin überzeugt, daß der Westen diesen Weg viel lieber wählen würde, wenn auch die Sowjets diesem Gedanken aufgeschlossener gegenüberstünden.
Zurück zur Geheimdiplomatie! So sagte es auch der Herr Bundespräsident in seiner Neujahrsansprache. Dies ist ein Punkt, den die Bundesregierung für sich selbst und den auch unsere westlichen Partner nicht nur bei der Vorbereitung der Gipfelkonferenz, sondern auch bei allen Gesprächen, die uns betreffen, schlechthin mehr beherzigen sollten. Wie mir ein maßgeblicher Mann neulich sagte, soll es seit Bismarck aber keine wirklichen Diplomaten mehr gegeben haben.Nun zur Frage der Konföderation! Herr Ulbricht hat vor einiger Zeit geäußert, daß man uns bei einer Konföderation ja gar nicht die kommunistische Ideologie aufzwingen wolle, sondern man bescheide sich selbstverständlich damit — bescheiden, wie Ulbricht ist —, uns die sozialen Errungenschaften der Zone zu bringen. Meine Damen und Herren, das ist doch ein trojanisches Pferd! Jedes Kind draußen im Lande weiß heute, was damit gemeint ist: daß wir auf kaltem Umwege schlechthin Kommunisten werden sollen.
Auf diese Aussicht pfeifen meine politischen Freunde allerdings.Ich erinnere daran, daß es Herr Grotewohl war — der einmal aus Ihren Reihen kam, was ich nicht als Vorwurf zu werten bitte —, der in einer humanitären Anwandlung und in Verfolg eines Ideals, das er sich gesteckt hatte, etwas für die Einheit der Arbeiterklasse tun wollte. Das ist schiefgegangen; aus SPD und KPD ist die SED mit a11 dem geworden, was wir heute drüben haben. Meine Damen und Herren, sollte uns das nicht Veranlassung sein, vorsichtig und wachsam zu sein?Was die Konföderation betrifft, die von meinen politischen Freunden rundweg abgelehnt wird, weil wir dadurch auf kaltem Wege bolschewisiert werden sollen, so erklärte der Kollege Wehner im SPD-Pressedienst vom 3. September 1955:Ich halte es z. B. für ein Unding, daß wir im westlichen Teil Deutschlands die Verfassung der DDR und die Statuten dortiger Organisationen — nehmen Sie Gewerkschaften, nehmen Sie andere — sozusagen einfach deswegen in Bausch und Bogen verdammen, weil sie nicht möglichst demokratisch zustande gekommen sind.Meine Damen und Herren, das ist ein hartes Wort. In der westdeutschen „Neuen Presse" vom 16. April 1952 warnte der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche Fragen, Herbert Wehner, im Zusammenhang mit der zweiten sowjetischen Deutschlandnote davor, sich schon vor Eintritt in Verhandlungen über gesamtdeutsche Wahlen auf eine bestimmte Kontrollmöglichkeit zu versteifen.
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Meine Damen und Herren, auch das ist ein gravierendes Wort. Und der „Kölner Stadtanzeiger" schreibt, daß Herr Wehner am 12. Mai 1956 äußerte: da der direkte Weg zur Wiedervereinigung über freie Wahlen zur Zeit verbaut sei, könne als Zwischenstufe der Umweg über eine Föderation notwendig sein, in welche die Bundesrepublik mit ihrem nach Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft und Organisationsleistung überlegenen Potential bei einem Wettbewerb mit der Sowjetzone eintreten könne. Herr Wehner gibt sich hier der Täuschung hin, daß es genüge, dieses sogenannte Potential einzubringen, da sich dann alles zum Guten entwickeln werde. Er vergißt dabei, daß es kommunistische Minderheiten waren, welche demokratische Mehrheiten in allen möglichen Staaten Europas aus dem Sattel hoben.
Aber ich habe noch mehr dazu. Herr Dr. Schumacher hat gesagt: Die SPD ist sich von Anfang darüber im klaren gewesen, daß es das Ziel der Sowjetunion ist, ganz Deutschland unter kommunistische Herrschaft zu bringen. Der bolschewistische Totalitarismus versucht, den Kontinent zu erobern.Meine Damen und Herren, auch das ist ein Wort, das man nicht einfach übergehen kann. Und es sei erlaubt, in dem Zusammenhang noch folgendes von Dr. Schumacher zu zitieren. Er sagte am 15. Oktober 1949 in einer Stellungnahme zur Ausrufung der sowjetzonalen „Deutschen Demokratischen Republik", daß die Etablierung dieses Oststaates eine Erschwerung der deutschen Einheit darstelle. Wörtlich erklärte er: Der Protest der Sowjets gegen die Deutsche Bundesrepublik im Westen ist ein selbstverständlich gewordenes Begleitgeräusch. In Deutschland entrüstet sich niemand mehr über die Verdrehung der Tatsachen und die Lügenhaftigkeit dieser Argumentation. Selbst die herzzerreißende Einfältigkeit in Dingen der politischen Psychologie wird kaum noch zur Kenntnis genommen. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Etablierung dieses sogenannten Oststaates eine Erschwerung der deutschen Einheit ist. Die Verhinderung dieser Einheit aber kann dieses Provisorium im Osten nicht bedeuten, weil das deutsche Volk und besonders die Bevölkerung der Ostzone Gebilde russischer Machtpolitik auf deutschem Boden ablehnt.Er sagt weiter: Der ostdeutsche Außenminister Dertinger habe diese Art der Politik als die Gelegenheit bezeichnet, von innen heraus all die Dinge, die sich im Westen abspielen, zu beobachten und den Ereignissen im Osten nutzbar zu machen.Aber, meine Damen und Herren, ich kann noch mit mehr von Herrn Kurt Schumacher aufwarten. Er hat am 22. Mai 1950 auf dem Hamburger Parteitag der SPD gesagt: Die kleinste Konzession gegenüber östlichen Ansprüchen könnte leicht die Gefahr einer Aufgabe der Demokratie für ganz Deutschland bedeuten.Dem ist nichts hinzuzufügen. Herr Dr. Schumacher hat ferner in der „Rheinischen Zeitung" vom 30. Dezember 1950 gesagt: Man muß sich das Ziel jeder russischen Deutschlandpolitik vergegenwärtigen:ein einheitliches Deutschland soll es nur geben, wenn es ein russisches Deutschland, d. h. ein von Deutschen bewohntes Stück Rußlands ist.
Meine Damen und Herren, wenn das heute vielleicht teilweise cum grano salis gilt, so gilt es letzten Endes doch im Grundsatz unverrückt, und wir sollten allen Bestrebungen in den Anfängen wehren, die von politischer Seite kommen und uns weismachen wollen, daß inzwischen alles halb so schlimm geworden sei, weil man im Gegensatz zu früher, als man die Nagaika schwang und die Leute in die Konzentrationslager sperrte, heute im offenen Wagen und im Sommeranzug durch die Hauptstädte Europas reist und dort schöne Ansprachen hält und sich von den Kindern Blumen zuwerfen läßt. Der Kommunismus ist in seinem Innern nicht geläutert, nur die Methoden und die Taktik sind geläutert. Wenn Sie das nur begreifen wollten, meine Damen und Herren!
Uns ist es klar, daß die Wiederherstellung der Einheit unseres Vaterlandes trotzdem Konzessionen von beiden Seiten erfordern wird. Der Kollege Erler hat hier gestern wieder die alte Behauptung ausgesprochen, daß die Politik der Stärke die Wiedervereinigung verhindert habe. Das muß ich mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Diese Politik der Stärke, oder besser gesagt, diese Politik der Selbstbehauptung hat vielmehr bewirkt, daß sich der Kollege Erler hier hinstellen und seine Reden so halten kann, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.
Diese Politik der Selbstbehauptung hat bewirkt, daß wenigstens ein Teil Deutschlands in Freiheit und Frieden erhalten geblieben ist.
— Meine Damen und Herren, wir sind nicht ausgezogen, sondern wir sind angezogen.Ich möchte im übrigen bezweifeln, ob die Kritiker der Bundesregierung, die ihr Mütchen an der Wiedervereinigungspolitik wie an aller anderen Politik zu kühlen pflegen, dann, wenn sie als Regierungsparteien die Verantwortung zu tragen hätten, bereit wären, diejenigen Risiken gegenüber dem deutschen Volk einzugehen, die sie uns heute zumuten wollen; ich glaube, sie wären es nicht.
Und es sei allen gesagt: das Trojanische Pferd ist sehr schnell in die Festung gezogen. Aber dann, meine Damen und Herren, pflegt es sehr schnell zu gehen. Ich glaube, in dieser Stunde, da wir uns über die deutsche Außenpolitik und auch über die Bewaffnung der Bundeswehr zu unterhalten haben, haben unsere Frauen und Mütter draußen ein Anrecht auf ein tröstendes und vor allen Dingen ein
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klärendes Wort; denn meine Freunde haben den Eindruck, daß gerade diese, wie ja auch schon im Bundeswahlkampf geschehen, zu parteipolitischen Zwecken mißbraucht werden sollen.
Eigentlich sollte das Ergebnis dieser Parteipropaganda, das Ergebnis, das am 15. September herauskam, zu denken gegeben haben. Sie zäumen dieses Pferd nun zum zweiten Mal auf. Das ist Ihr gutes Recht. Aber ich gebe Ihnen Brief und Siegel: es wird seinen Reiter abwerfen.
Jedenfalls sollten diejenigen, die Angst vor der eigenen Courage haben, uns einmal sagen, wie man sein Volk schützen kann. Daß man es nicht nur mit papierenen Reden und Verträgen schützen kann, das wissen wir alle; denn davor macht kein Panzer halt.
Wir sind — ich glaube, es ist niemand in diesem Hause, der dem anderen das bestreiten möchte — genau derselben Gewissensentscheidung wie Sie unterworfen. Und glauben Sie nur: wir haben allesamt, die wir auf der Rechten und in der Mitte des Hauses sitzen, nicht mit fliegenden Fahnen unsere Entscheidung getroffen, sondern sicherlich mit Fahnen, an die auch ein Trauerflor geheftet war. Aber wir sehen die politische Notwendigkeit, wir sehen die Realitäten in der Welt, jagen nicht Utopien und Phantomen nach. Da ist es leider so, daß wir — um es der Bevölkerung so deutlich zu sagen, wie der Herr Bundeskanzler das ja auch immer in so netter Weise sagt — unsere Soldaten einfach nicht mit Dreschflegeln marschieren lassen können, während die anderen mit Atombomben operieren. Wenn wir das wollten, würden wir verantwortungslos handeln. Wenn wir das wollten, sollten wir auch auch freimütig bekennen, daß wir da keine Landesverteidigung brauchen, und sollten unsere Soldaten nach Hause schicken.
Auch hier ist die Elle der Kritik gerade von den Freien Demokraten angelegt worden. Ich darf vielleicht auf das verweisen — „Lübecker Nachrichten" vom 18. Dezember 1952 —, was Herr Dehler auf einer Versammlung in Schleswig gesagt hat — ja, wir haben uns gut vorbereitet —:
Für die Bundeswehr forderte Dr. Dehler im Gegensatz zum Kanzler eine Umstellung auf Atomwaffen. Dieser zwangsmäßigen Entwicklung müsse auch die Bundesrepublik Rechnungtragen; denn die Kriegsgefahr vergrößere sich überall dort, wo atomare Waffen fehlen.Meine Damen und Herren, glauben Sie ja nicht, wenn ich dies hier zitiere, daß ich selbst etwa mit einer leichten Handbewegung einer Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Waffen, die gegebenenfalls kommen muß, zustimmen würde
— Gerade weil Sie den Eindruck haben und weil Sie dazu neigen, andere Leute zu verdächtigen, deswegen sage ich das, Herr Kollege Eschmann.
Da muß ich Ihnen noch einmal sagen: Ich glaube, es gibt hier niemanden im Hause — wenn es jemanden gibt, möge er aufstehen und zuerst den Stein auf einen anderen werfen —, der in dieser Frage nicht seit langem, langem sein Gewissen eingehend prüft.Gestern wurde der Vergleich von der Armbrust und der Atombombe gebraucht; ich hatte mir das Stichwort „Zündnadelgewehr" aufgeschrieben. Natürlich, wir sind mit Ihnen einig, am schönsten wäre es, wenn es überhaupt keine Gewehre, Granaten und Bomben mehr gäbe in der Welt. Wir sind auch bereit, daran mitzuwirken, daß sie abgeschafft werden. Aber es ist doch eine Realität, daß wir hier nicht in einer Oase des Friedens leben und daß wir deswegen das primitive Recht des Staatsbürgers und des Staates in Anspruch nehmen müssen, uns eine ausreichende Verteidigung zu schaffen. Auch meine Freunde und ich wünschten uns noch eine weitere Galgenfrist für diese schwere Entscheidung. Aber wir wissen, meine Damen und Herren, wir werden den Mut zur Entscheidung haben, weil Sie den Mut nicht haben.
Es muß einmal gesagt werden: Es ist nicht so in Deutschland, wie es die Sozialdemokraten mit ihrer Bewegung gegen den Atomtod der Bevölkerung weiszumachen versuchen, daß die einen für und die anderen gegen den Atomtod sind.
— Meine Damen und Herren, wenn Sie das behaupten, verschlägt es mir allerdings die Sprache.
Ich sage Ihnen: wenn wir uns nicht einmal im Grundsatz einigen können — über die Methode mögen wir uns streiten — und da wir uns darüber streiten müssen, will ich Ihnen sagen, daß wir — leider ist es so; wir wünschten, es wäre anders — die Realitiät sehen, daß der Friede dieser letzten Jahre auf dem Gleichgewicht der militärischen Kräfte beruht hat und daß er wahrscheinlich, Gott sei's geklagt, auch noch einige Jahre darauf ruhen wird.
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Und solange diese Realität da ist, werden wir ihr Rechnung tragen und den Mut zur Verantwortung vor unserem Volke haben.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wenn ich sage,
daß wir die Atomwaffen grundsätzlich nicht wollen, wenn sie uns die russische Politik nicht in die Hand drückt, dann habe ich das wohl richtig ausgedrückt.Ich muß mich aber entschieden gegen das wehren, was der Herr Kollege Erler hier gestern mit Emphase von sich gegeben hat, als er sagte, daß eine ausreichende Bewaffnung womit die Atombewaffnung der Bundeswehr gemeint war — einen Selbstmord darstelle.
Ich verkenne gar nicht, daß Sie sich von Gewissensgründen leiten lassen. Ich will dieses Ihr Gewissen gar nicht schmälern. Aber ich wehre mich dagegen, daß Sie ein parteipolitisches Geschäft aus der Sache zu machen versuchen.
— Das ist die Tatsache. Gerade weil wir gegen den Selbstmord sind, meine Damen und Herren, werden wir für Wachsamkeit und Bereitschaft in ausreichendem Maße sorgen
und werden dafür deshalb sorgen, weil der Kollege Erler von der Sozialdemokratischen Partei gestern selber hier gesagt hat, daß der Schutz der Sinn der Waffen sei.
Eine sinnvolle Verteidigung muß das Leben erhalten. Jawohl! Deswegen werden wir diesen Schritt gehen, weil nur eine sinnvolle Verteidigung das Leben erhalten kann. Und wenn Herr Kollege Erler dann hier weiter gesagt hat, man darf das nicht tun, man muß auf die anderen einreden, dann erinnere ich dieses Haus und die gesamte Öffentlichkeit an Ungarn. Wie hat die ganze Welt auf die Sowjets eingeredet, als Ungarn vor sich ging; und was hat das geholfen?
Und was soll das Zureden erst helfen, meine Damen und Herren, wenn es sich um einen Konflikt ganz anderen Ausmaßes handelt, wie er unter Umständen — Gott verhüte es — einmal auf uns zukommt.
— Meine Damen und Herren: Gott verhüte es! Hoffentlich vermögen Sie an diesen Gott zu glauben, der es verhüten soll.
Herr Abgeordneter in der ersten Reihe, Sie haben „Unverschämter Lümmel!" gerufen. Wie ist bitte Ihr Name?
— Herr Abgeordneter Corterier, ich rufe Sie zur Ordnung!
Meine Damen und Herren, ich bitte um Ruhe. — Der rechte Nebenmann soll auch „Unverschämter Lümmel!" gerufen haben. Ist das richtig?
— Herr Abgeordneter Schütz , ich rufe auch Sie zur Ordnung!
— Meine Damen und Herren, so geht das hier nicht weiter!
— Meine Damen und Herren, so geht das hier nicht weiter!
Wir haben uns alle an die parlamentarische Ordnung zu halten.
Ich habe nicht das Recht, zum Inhalt einer Rede Stellung zu nehmen. Aber ich muß dafür sorgen, daß gewisse Formen gewahrt werden. Und wenn beleidigende Zurufe von hier oder dort erfolgen, werden sie gerügt.
Machen Sie bitte diese Zurufe außerhalb des Hohen Hauses, da unterstehen Sie nicht meiner Ordnungsgewalt.
— Dafür liegt kein Anlaß vor, weil er sich formal nicht beleidigend vergangen hat, genauso wenig wie Herr Abgeordneter Erler, als er seinen Goebbels-Vergleich machte. Er hat kein anwesendes Mitglied damit verglichen.
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Vizepräsident Dr. JaegerIn beiden Fällen sind Bemerkungen erfolgt, die der Gegenseite sehr unangenehm waren, aber in beiden Fällen Bemerkungen, die keine Beleidigung dargestellt haben. Schließlich muß ich hier gleichmäßig und unparteiisch sein.
Bitte, Herr Redner, fahren Sie fort.
— Herr Abgeordneter Eschmann, ich bitte Sie, sich auf Ihren Platz zu setzen, es sei denn, Sie wollten eine Zwischenfrage stellen; dann bitte ich Sie, ans Mikrophon zu treten. — Bitte, fahren Sie fort, Herr Abgeordneter.
Herr Kollege Eschmann, da der Herr Präsident Sie nicht zur Ordnung ruft, möchte ich das tun.
Ich kann nur wegen der Zwischenrufe zur Ordnung rufen, die ich selber höre. Ich werde das Protokoll nachprüfen, und wo noch Ordnungsrufe fällig sind, werden sie anschließend erfolgen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich fahre fort. Sie sehen wieder einmal die mimosenhafte Empfindlichkeit der Sozialdemokraten. Gestern wurde von dem Kollegen Erler nicht nur, sagen wir ruhig, eine Beleidigung des Herrn Bundeskanzlers und Regierungschefs, sondern praktisch auch der Regierung ausgesprochen; heute wird ihnen einmal die Wahrheit gesagt, und da können sie sie nicht vertragen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um Ruhe. Herr Redner, ich bitte Sie, fortzufahren und bei dieser Frage nicht mehr zu verweilen.
Meine Damen und Herren! Die Angst unserer Zeit beruht auf der Ungewißheit. Daher müssen die Verantwortlichen den Mut aufbringen, das zu sagen und zu tun, was notwendig ist. Wir sind jedenfalls nicht bereit, wie es die Oppositionsparteien in diesem Hause offenbar sind, unüberschaubare Risiken einzugehen. Bei aller Verhandlungsbereitschaft, der ich für meine Partei hier Ausdruck gegeben habe, gibt es doch keinen Zweifel darüber, daß es eine Politik der Vorleistungen, trotz aller hämischen Worte der oppositionellen Linken, nicht geben kann; wir jedenfalls lehnen es ab, mit leeren Händen an den Verhandlungstisch zu kommen. Die Sowjets und ihre Trabanten können ja geradezu darauf warten,
daß ihnen der Apfel in den Schoß fällt, wenn sie die vielfältigen Äußerungen aus dem westdeutschen Lager hören, die ihnen alles mögliche anbieten, ohne daß von ihnen auch nur ein Heller als Gegenleistung verlangt wird.
Wir werden wirkliche Konzessionen von unseren
Gegnern nur aushandeln, wenn wir selbst auch ein
Faustpfand mit an den Verhandlungstisch bringen.
Deswegen wiederhole ich mit Nachdruck die Auffassung meiner Fraktion, daß wir das eine tun und das andere nicht lassen wollen, daß wir dafür sorgen sollen, auch wenn es materielle Opfer kostet, den Grad von Sicherheit und Bereitschaft zu schaffen, der für unser Volk nötig ist, seinen Bestand und den Bestand des Landes zu sichern. Auf der anderen Seite sollten wir bereit sein, zu verhandeln, zu verhandeln und noch einmal zu verhandeln und dabei gegebenenfalls auch Konzessionen in dieser unserer zur Stunde nur geäußerten Bereitschaft und später in der Effektuierung unserer Sicherheit zu machen.
Ich glaube, meine Damen und Herren, wenn wir so verfahren, dann können wir als Deutsche auch für die nächsten Jahre getrost unser Herz in die Hand nehmen, wenn wir alle wieder wissen, woran wir sind, wenn die deutsche Öffentlichkeit gesagt bekommt, daß wir nicht einfach im Wohlstand leben können, weil wir inmitten einer kriegerischen Welt nicht auf einer Insel sind, auf die niemals ein Schuß oder eine Bombe fallen könnte. Wir müssen den Mut haben, unserer Bevölkerung zu sagen, daß wir zur Stunde so wie noch nie in die Verantwortung für unser eigenes Schicksal hineingestellt sind. Es gab einmal eine Zeit, da diese Verantwortung uns andere abnahmen, die regierten. Es war eine bequeme und gleichzeitig eine unbequeme Zeit. Von Jahr zu Jahr ist unsere eigene Verantwortung gestiegen. Mir ist nicht bange, daß das deutsche Volk, wenn es mutig und stark von der Regierung geführt wird, seinen Weg gehen wird und daß es in vorderster Front der Nationen stehen wird, die für den Frieden eintreten.
Das Wort hat der Abgeordnete Wehner.
— Ich bitte um Entschuldigung, ich habe es übersehen. Der Herr Bundeskanzler hatte sich zum Wort gemeldet; es war schon vorgemerkt.
Herr Präsident! Meine Damen und meine Herren! Ich habe nur zwei sachliche Feststellungen zu machen, und es ist vielleicht ganz gut, daß ich bei der erregten Temperatur des Hauses diese Feststellungen in der Zwischenzeit mache.Die eine Feststellung ist die folgende. Als Herr Botschafter Smirnow mir dieses Aide-memoire
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Bundeskanzler Dr. Adenauerübergab, haben wir abgemacht, daß es nicht veröffentlicht werden soll. Infolgedessen war ich nicht in der Lage, Ihnen in meinen gestrigen Ausführungen von dem Inhalt dieses Aide-memoire Kenntnis zu geben. Trotz dieser Abmachung ist das Aide-memoire im Laufe der gestrigen Abendsitzung in Moskau veröffentlicht worden.
Die zweite Feststellung. Herr Kollege Ollenhauer und Herr Kollege Mende haben mir von der Unterredung, die sie mit Botschafter Smirnow über die Frage „ein Friedensvertrag — zwei Friedensverträge" hatten, Mitteilung gemacht.
Herr Abgeordneter Wehner!
— Ich darf um Ruhe für den Redner bitten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin nicht der Interpret des Herrn Bundeskanzlers, das stünde mir wohl seltsam an. Aber während dieser letzte Satz vor allen Dingen auf der Seite meiner Freunde einige Fragen hervorgerufen hat, glaube ich ihn recht dahin verstanden zu haben, daß damit das, was der Herr Abgeordnete Schneider hier über Gespräche von Abgeordneten mit ausländischen diplomatischen Vertretern gesagt hat, in die richtige Reihe zurückversetzt worden ist.
Aber ich wollte mich mit Herrn Schneider nicht auseinandersetzen. Es tut mir leid, Herr Abgeordneter Schneider, ich hätte auch mit Ihnen sachlich diskutieren wollen. Sie haben in Ihrer Rede, in der Sie recht oft die Begriffe „Würde", „Ehre" und dazugehörige in den Saal geschleudert haben, Herrn Kurt Schumacher zitiert. Als ich mich zu einer Frage meldete, weil es mir schrecklich erschien, — —
— Ja bitte, ich habe ja gemerkt, wie sehr Sie Ihren Untermieter in Schutz nahmen durch Beifall!
Als Sie Herrn Dr. Kurt Schumacher zitierten, da meldete ich mich zu einer Frage, die Sie verweigerten. Sie hätten Herrn Dr. Kurt Schumacher nicht zitieren sollen.
— Nein. Denn wissen Sie, Herr Abgeordneter Schneider, wie Herr Dr. Schumacher Sie stets genannt hat? Muß ich das sagen, nachdem Sie ihn hier mehrfach und unter so falschen Tönen zitiert haben? Er nannte Sie nur „Ehrabschneider "!
Das tut mir leid, aufrichtig gesagt. Aber wissen Sie, woran es liegt — —
Herr Abgeordneter Wehner, ein solches Wort darf auch dann nicht verwendet werden, wenn es ein Zitat gewesen sein sollte.
Wenn es gilt, die Ehre eines Toten zu verteidigen, darf es auch nicht verwendet werden?
Die Ehre eines verstorbenen Kollegen, zumal wenn es sich um eine so bedeutsame Persönlichkeit handelt, ist hoffentlich uns allen miteinander heilig.
Sie ist aber formal hier nicht angegriffen worden, während Sie formal Herrn Schneider soeben beleidigt und damit die Würde dieses Hauses verletzt haben. Herr Abgeordneter Wehner, ich rufe Sie zur Ordnung.
— Meine Damen und Herren, die Ordnungsmaßnahmen des Präsidenten erfolgen nicht aus politischen, sondern aus rechtlichen Gesichtspunkten. Sie dürfen weder durch Beifall noch durch Mißfallenskundgebungen begleitet werden.
Meine Damen und Herren! Der Herr Abgeordnete Dr. Kurt Schumacher hatte eine Verleumdungsklage gegen den Abgeordneten Schneider , der damals nicht dem Bundestag, sondern der Bürgerschaft angehörte, wegen so, ich sage es, ungeheuerlicher Verleumdungen angestrengt, daß Sie meine Erregung, daß ausgerechnet er hier meinen Freund Kurt Schumacher zitiert hat, verstehen sollten, auch wenn Sie meinen, der Präsident hätte recht, mich der Form wegen zu rügen.
— Nein.
Ich muß mich noch einer Pflicht unterziehen,
die wegen dem, was gestern in der Debatte hier gesagt wurde, unvermeidlich ist. Das Ganze ist eine Debatte, die nicht zuletzt unter dem Zeichen einer Mystifikation, der Mystifikation von Äußerungen über den Friedensvertrag — was wollen die Beteiligten, was meinen sie eigentlich damit? — steht. Aber es wird ja auch sozusagen im engeren Bereich dieses Hauses mit Mystifikation gearbeitet. Gestern ist hier meinem Freund Fritz Erler nachgesagt worden, er habe versucht, dem Herrn Bundeskanz-
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Wehnerler etwas zu unterstellen, das heißt, eine Äußerung des Herrn Bundeskanzlers falsch wiederzugeben. Ich muß beide Äußerungen so, wie sie im Protokoll festgestellt worden sind, hier wiedergeben.Fritz Erler stellte fest, daß der Bundeskanzler am 25. Februar des Jahres 1955 erklärt habe: „Solange wir nicht zur NATO gehören, sind wir im Falle eines heißen Krieges zwischen Sowjetrußland und den Vereinigten Staaten das europäische Schlachtfeld, und wenn wir in der Atlantikpaktorganisation sind, dann sind wir dieses Schlachtfeld nicht mehr." So am 25. Februar 1955. Und gestern, am 20. März 1958, sagte der Herr Bundeskanzler — und das war es, was Fritz Erler zitierte und weshalb er gerügt wurde: „Wenn — was Gott verhüten möge, und wir werden uns mit ganzer Kraft in den Dienst der Verhütung stellen, und ich glaube auch nicht daran, daß das kommen wird —, aber wenn eine Weltkatastrophe käme, dann würde Deutschland in sie hineingerissen werden, gleichgültig, ob es bewaffnet ist oder ob es nicht bewaffnet ist." So der Herr Bundeskanzler am 20. März 1958.Meine Damen und Herren! Was bleibt denn in dieser Debatte, in der wir wahrscheinlich noch allerlei zu ringen haben, von den realen Bemühungen um die Wiedervereinigung Deutschlands in gesicherter Freiheit? Wird diese Debatte nicht mehr erbringen als die Bekräftigung der Entschlossenheit der CDU/CSU, den vor uns liegenden Abschnitt deutscher Politik von der Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomsprengkörpern bestimmen zu lassen? Wird es sich im übrigen für die CDU darum handeln, im nachhinein den Nachweis zu erbringen, es sei zu keiner Zeit möglich gewesen, den Russen ein Zugeständnis zugunsten der Wiedervereinigung Deutschlands abzuringen?Als Herr Dr. Gradl gestern morgen mit der Begründung der Großen Anfrage der CDU/CSU an die Regierung die Debatte eröffnete, sagte er, es sei der Sinn dieser Debatte, den deutschen Standpunkt in das Bewußtsein der Öffentlichkeit zu bringen; ich nehme an, den deutschen Standpunkt vor einer Konferenz von beträchtlicher Bedeutung. Auch der Herr Dr. Gradl hat gestern — und er folgte damit der Art, in der gestern und in der letzten Zeit seitens des Herrn Bundesministers des Auswärtigen, seitens des Herrn Kiesinger und anderer etwas geringschätzig über Projekte und Plänemacher gesprochen wurde — beteuert, ihm — und natürlich seiner Fraktion — komme es nicht darauf an, von der Regierung Pläne vorgetragen zu bekommen, aber doch darauf, ein Bild der Vorstellungen der Bundesregierung zu erhalten.Der Herr Bundeskanzler hat in der Debatte gesagt, alle Fragen gipfelten in der einen Frage: Sollen wir in der NATO bleiben oder nicht? Nun, was bedeutet dann dieses ganze Aufgebot von Fragen vor einer Gipfelkonferenz, von den Fragen der Partei, die die Mehrheit in diesem Hause hat und die Regierung trägt, wenn es so einfach ist: „Alle Fragen gipfeln in der einen Frage: Sollen wir in der NATO bleiben oder nicht?" Entschuldigen Sie! Ich halte das für eine der berühmten Vereinfachungen des Herrn Bundeskanzlers. Denn in Wahrheit ist die Frage, selbst die, auf die sich der Herr Bundeskanzler hier bezieht, doch eine ganz andere, nämlich: Was können wir Deutschen tun, um unsere Vertragspartner in der Atlantikpakt-Organisation davon zu überzeugen, daß es möglich und mit der europäischen Sicherheit vereinbar ist, im Interesse der militärischen Entspannung und damit auch im Interesse der Förderung der Wiedervereinigung Deutschlands Schritte zu einem Auseinanderrücken der heute in unserem Land stehenden Truppen der Großmächte zustande zu bringen? Das ist die Frage, auf die es heute ankommt,
nicht die Frage, ob wir in der NATO bleiben oder nicht.Wird sich nun aber der Eindruck noch ändern können, den man bisher von dieser Debatte haben mußte, der Eindruck nämlich, daß die Bundesregierung offenbar meint, der deutsche Standpunkt — Herr Gradl sagte ja, hier solle der Standpunkt für die deutsche Öffentlichkeit klargemacht werden — sei eben: Atomsprengkörper?
— Die ich mir hier erlaube und auf die ich noch erläuternd eingehen werde, Herr Kiesinger. Mir scheint, Ihnen sind ja auch einige Fragen durcheinandergekommen.
Der Herr Kiesinger hat gestern einige Fragen entwickelt, darunter einige recht interessante. Der Herr Bundesminister Strauß hat sich sogar auf das, ich möchte mit Verlaub sagen, schlüpfrige Gelände von Fragen begeben, mit denen das sowieso komplizierte Problem der deutschen Wiedervereinigung in eine Beziehung zum Verhältnis zwischen Deutschland und Osterreich gebracht worden ist.
Vielleicht können wir es im korrigierten Protokoll anders nachlesen, als wir es im unkorrigierten Ohr hatten.
Aber ich habe das mit großem Interesse verfolgt, und der Herr Minister hat ja gesagt, es sei eine persönliche Auffassung, die er da vortrug.Aber für den Bundeskanzler gipfeln nichtsdestoweniger angesichts der Gipfelkonferenz alle Fragen in der einen Frage: Sollen wir in der NATO bleiben oder nicht? Damit meint er offenbar: Raketen und nukleare Sprengkörper sollen auch im geteilten Deutschland sein. Es ist doch wohl keine Vereinfachung, die ich an dieses Wort knüpfe, und das ist eben die Frage: Welch eine Entwicklung liegt doch in dieser Feststellung, die NATO, von der man uns einmal gesagt hat, sie werde die Wiedervereinigung Deutschlands herbeiführen — —
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Wehner— Jetzt sagen Sie nein; aber man hat uns einmal gesagt, sie werde die Wiedervereinigung Deutschlands herbeiführen.
Die NATO sollte jetzt, meine Damen und Herren —das ist es doch, was einem so beklemmend erscheint —, abhängig sein von ausgerechnet dem Mitgliedsstaat, der politisch und militärisch am behutsamsten behandelt werden müßte, weil er nur ein Teil eines ganzen Deutschland ist, dessen anderer Teil um so fester in den Militärblock der anderen Seite eingespannt wird, je mehr wir in die NATO militärisch integriert werden! Das ist die Frage.Wenn wir uns — so sagt aber der Herr Bundeskanzler — heute weigern — was heißt „weigern"?; wir sind ja in der Atlantikpaktorganisation —, die Bestückung des geteilten Deutschland mit nuklearen Sprengkörpern für richtig, für sinnvoll zu halten, wenn wir dennoch, obwohl der Bundesverteidigungsminister einmal gesagt hat, schwere Artillerie stelle man doch nicht in den Schützengraben, in die vordere Linie
— ja, das gehört auch dazu —,
wenn wir uns also, wie der Bundeskanzler meint, nicht weigern dürften, sondern im geteilten Deutschland nukleare Sprengkörper haben müssen, scheiden wir, sagt der Bundeskanzler, aus der NATO aus.Sagt das der Herr Bundeskanzler? Oder haben es die NATO-Partner gesagt? Unter diesen Partnern gibt es doch recht interessante Meinungsunterschiede hinsichtlich der Behandlung der einzelnen Länder je nach ihrer Lage in bestimmter Hinsicht. Dänemark hat da seine besonderen Rechte und Abmachungen, und Norwegen ist in ähnlicher Lage. Ich frage also: Wenn es die NATO-Partner gesagt haben sollten, was hat dann der Herr Bundeskanzler gesagt, um sie dafür zu gewinnen, der besonderen Lage des geteilten Deutschlands Rechnung zu tragen? Das ist doch eine wichtige Frage, wenn man den deutschen Standpunkt bei einer solchen Debatte auch der Öffentlichkeit vortragen will.Der Bundeskanzler hat hier nachzuweisen versucht, daß die Sowjetunion immer dann versucht habe, deutsche Einheitsangebote zu lancieren, wenn sie dadurch erhoffen konnte, die Einbeziehung der Bundesrepublik in die Nordatlantikpaktorganisation oder, wie jetzt, entscheidende militärtechnische Veränderungen, von denen der Bundeskanzler als bevorstehend spricht, stoppen zu können.Nun, wenn der Herr Bundeskanzler sagt, nur dann sei die Sowjetunion mit Einheitsvorschlägen gekommen, dann soll doch wohl die Darstellung, die Sie gaben, umgekehrt auch so gedeutet werden können, daß der Herr Bundeskanzler um keinen Preis, sogar sogar nicht um den Preis von Wiedervereinigungsverhandlungen, auf die einseitige militärische Festlegung des geteilten Deutschlands verzichten wollte und will, wofür er Gründe hat, aber vor deren schrecklichen Konsequenzen wir heute stehen, Konsequenzen, die immer weitergehen werden, eine Schraube ohne Ende.
Genau diese Entscheidung des Bundeskanzlers hat ja in den Jahren, in denen noch vor der militärischen Festlegung Noten zwischen den Großmächten über die deutsche Frage gewechselt wurden, zur Folge gehabt, daß keines der sowjetischen Angebote wirklich bis zum Ende und bis in seine äußerste Konsequenz am Verhandlungstisch geprüft worden ist, worauf es angekommen wäre. Unser Streit in den Jahren des Notenwechsels, vom Jahre 1952 bis zum Januar 1955, ging doch immer darum, daß wir Sozialdemokraten der Auffassung waren, Grund zu haben, Ihnen vorwerfen zu müssen, daß Sie nicht die äußersten Anstrengungen gemacht haben, am Verhandlungstisch prüfen zu lassen, was es mit den jeweiligen russischen Vorschlägen und Angeboten oder Zugeständnissen oder Zurückziehern wirklich auf sich habe. Sie sind immer in die Analyse des Wesens des Bolschewismus und des Charakters des russischen Staates und all solcher Dinge ausgewichen.
Gestern sagte nun der Herr Bundeskanzler, man müsse sich zusammenfinden in der Parole: Kontrollierte Abrüstung in der ganzen Welt. Meine Damen und Herren, wenn man bedenkt, daß der Herr Bundeskanzler vor knapp einem Jahr in einem Interview, das er gab, selbst gesagt hat, die Chancen für eine kontrollierte Abrüstung der Atomwaffen müßten schwinden, wenn die atomare Rüstung um sich greife, so kann man im Licht der Entscheidung, die jetzt politisch-moralisch gefällt wird, doch nicht einfach das Wort des Herrn Bundeskanzlers von gestern schlucken, daß sich alle um die Parole „kontrollierte Abrüstung in der ganzen Welt" scharen müßten. Natürlich wollen wir die kontrollierte Abrüstung in der ganzen Welt. Aber die allgemeine und international kontrollierte Abrüstung in der Welt kann doch wohl nur dann erreicht werden, wenn man bereit ist, Schritte zu tun, durch die man dieser allgemeinen Abrüstung näherkommt. Da setzen nun die Differenzen ein. Um solche Schritte geht es heute, bei der Gipfelkonferenz und auch in den internationalen Diskussionen.
Herr Abgeordneter Dr. Kliesing zu einer Zwischenfrage!
Herr Kollege Wehner, darf ich Ihre Ausführungen so verstehen, daß Sie bereit wären, die Frage der atomaren Abrüstung von der Frage der konventionellen Abrüstung zu trennen, bzw. daß Sie Schritte auf eine atomare Abrüstung hin auch dann bejahen würden, wenn sie ohne Auswirkung auf das jetzige Verhältnis der konventionellen Stärke in Ost und West bleiben würde?
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 933
Besten Dank für die Frage, Herr Dr. Kliesing. Sie sind beinahe ein Gedankenleser. Ich werde nämlich sowieso gleich auf diesen Punkt kommen, wenn ich mich mit einer Äußerung des Herrn Bundesministers des Auswärtigen auseinandersetze; denn ich denke keineswegs daran, daß man, wenn es um allgemeine, international kontrollierte Abrüstung geht, von der hier die Rede war, die Abrüstung der konventionellen Waffen und der Atomsprengkörper voneinander trennen kann. Sie müssen, werden und sollen in einem Verhältnis zueinander stehen.
— Sie haben diese Frage gestellt. Ich sagte schon, daß ich mich noch im einzelnen damit befassen werde, falls Ihnen meine Antwort nicht genügen sollte.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
das Bild, das die Regierung in dieser Beziehung bietet und von dem der Herr Fragesteller und Begründer der Großen Anfrage, Dr. Gradl, gestern gesagt hat, es solle das Bild vom deutschen Standpunkt sein, scheint mir so unbeweglich, daß man zu dem deprimierenden Ergebnis kommt, die Regierung will in der Frage der Abrüstung offenbar entweder alles oder gar nichts, entweder die ganze Abrüstung oder die totale Rüstung.
Das scheint mir eine gefährliche Sache zu sein, der man da entgegengeht. Dann sind die allfälligen Bebilderungen zur Hand. Um weiteren Fragen zu entgehen, bemüht man sich, den Opponenten oder den, wie es heute heißt, Projektemachern und Plänemachern — bei Ihnen, Herr Kiesinger, entschuldigen Sie diesen direkten Anfall, hat ja eigentlich nur derjenige Ruhm, der nie in die Versuchung und den Verdacht kam, mit irgendeinem politischen Plan in Verbindung gebracht zu werden.
Hier geht es Ihnen dann darum, den Opponenten und den Projektemachern anzuhängen, sie gäben sich sozusagen träumerischen Illusionen hin oder sie huldigten der Neigung, sich einem gewalttätigen Gegner zu unterwerfen. Mangels eines deutschen sozialdemokratischen Beispiels griffen Sie gestern großzügig nach dem Strohhalm von Herrn Stephen King-Hall. Ich nehme Ihnen das nicht übel, möchte Ihnen nur sagen: damit haben wir aber wahrlich nichts zu tun; denn dessen Auffassung ist unserer ganzen Grundauffassung, der Grundauffassung einer kämpferischen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung sehr stark entgegengesetzt.
Wir sind nicht für das Unterwerfen. Sie werden auch noch spüren, daß wir gar nicht für das Unterwerfen sind, unter keine Macht,
unter keine Gewalt, möge sie auftreten, wie sie wolle.
Sie haben gestern einen europäischen Verzichtsorden
Verzweiflungsorden an die Wand gemalt. Ich habe natürlich gemerkt, daß Sie bestrebt waren, nicht auf meinen Zwischenruf zu reagieren, daß das offenbar das morbide Gegenstück zu dem Deutschen Ritterorden sei, der ja in diesen Tagen wieder einmal in kurzsichtiger Weise politisch aktuell gemacht worden ist.
Aber was hat das mit unserer Haltung zu tun?
Ich möchte noch einmal auf die Frage zurückkommen, die Sie, Herr Kollege Dr. Kliesing, mir gestellt haben. Wir hatten in der Debatte am 23. Januar, die wiederholt zitiert worden ist, einen Antrag eingebracht, in dem wir uns mit Forderungen an das Haus und an die Regierung wandten, die alle erdenklichen Schritte zur militärischen Entspannung zusammenfassen. Wir wollten das der Regierung auf den Weg zu Verhandlungen mitgeben. Wir haben die Forderung gestellt, die Bundesregierung möge Verhandlungen fördern, durch die alle fremden Truppen aus dem zu schaffenden atomwaffenfreien Raum — Sie wissen, wir sind dafür — Zug um Zug und ohne Benachteiligung der einen oder der anderen Seite abgezogen und für die Truppen der am atomwaffenfreien Raum beteiligten Staaten und Gebiete Höchststärken festgesetzt werden und der Raum einer wirkungsvollen Kontrolle unterworfen wird. Das, meinen wir, bedeutet eine konsequente Weiterentwicklung des Vorschlags des polnischen Außenministers und ist im Interesse der Entspannung besonders für Deutschland wichtig. Wir meinen das um so mehr, als man bei den Großmächten schon während der so schwierigen Londoner Abrüstungsverhandlungen sich in der Frage der Höchststärken der Truppen sehr nahegekommen war. Wir wollen den Streit nicht wieder von vorn beginnen, wer wohl eigentlich Schuld daran hat, daß, als die eine Seite sich endlich dazu bequemte, den Vorstellungen der anderen Seite näherzukommen, die eigenen Vorstellungen von vorgestern plötzlich fallengelassen wurden. Das ist eine ganz tragische Entwicklung bei diesen Abrüstungsveranstaltungen und -verhandlungen.
— Aber, meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten! Warum stören Sie mich in der Rede, während meiner sachlichen Ausführungen? Ich bin ja nicht der geschäftsführende — —
Herr Abgeordneter Wehner, wollen Sie eine Frage des Abgeordneten Stoltenberg zulassen?
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934 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Wenn jemand eine Frage stellen will, soll er sie stellen. Ich bin doch hier nicht der Hausherr. Aber ich bitte Sie dann doch, mich wenigstens reden zu lassen und nicht durch lärmende Kundgebungen, die ich nicht verstehe, zu unterbrechen.
Herr Abgeordneter Wehner, Sie haben hier einen Kernpunkt berührt, die Frage, ob die deutsche Sozialdemokratie in bestimmten Gruppen den Auffassungen des Commanders Stephen King-Hall entspreche. Sie haben diese Auffassung auf das entschiedenste verneint. Ist Ihnen bekannt, daß in der von Ihren Fraktionskollegen Herrn Dr. Heinemann und Herrn Metzger herausgegebenen „Stimme der Gemeinde" in einer der letzten Nummern ein mit Namen gezeichneter Artikel als zentraler Beitrag erschienen ist, in dem der Verfasser in aller Klarheit aussprach, er teile die Auffassung des Commanders Stephen King-Hall, eine bedingungslose Kapitulation sei einer Verteidigung mit Atomwaffen vorzuziehen?
Das ist mir nicht bekannt. Aber ich muß Ihnen sagen, daß die Tatsache, daß in irgendeinem Blatt—und sei es auch in dem geschätzten Blatt „Stimme der Gemeinde" — ein Diskussionsartikel erscheint, noch lange kein Grund ist, eine politische Partei dafür oder dagegen festzulegen. Ich bin der Meinung: es muß diskutiert werden, solche Dinge müssen ausgestanden werden. Sie können ja wohl nicht schon von vornherein mit der Gleichschaltung anfangen!
Wie oft haben wir es in diesem Hause schon erleben müssen, wenn wir vor so schwerwiegenden militärischen Entscheidungen standen, wie es offenbar auch heute der Fall ist, daß uns hier ein erschreckliches Gemälde der unmittelbar drohenden Gefahren in den grellsten Farben dargeboten wurde!
Wie oft hat andererseits derselbe Bundeskanzler, der ja in dieser Beziehung kräftige Farben verfügbar hat, schon angekündigt, eine Wende stehe unmittelbar bevor. Knapp vor einem Jahr hatte er untrügbare Anzeichen dafür, daß in absehbarer Zeit eine Wende eintreten werde, und er hat von einer Entwicklung zum Guten gesprochen, die bereits begonnen habe. Er hat das besonders den Menschen in der sowjetisch besetzten Zone und in Berlin — auf der damaligen Veranstaltung zur Grünen Woche — gesagt. Man fragte sich: Was meint der Bundeskanzler? Und dann geht es wieder unter in jenen Schreckgespensten, daß die Situation noch nie so schlimm gewesen sei wie jetzt. Nun ist die Situation wieder da. Das veranlaßt einen zu der Frage: Wie schlimm steht es um ein frei gewähltes Parlament, wenn es nicht die Möglichkeit hat, über die Tatbestände, die den Ansichten des Bundeskanzlers, der die Richtlinien der Politik bestimmt, zugrunde zu liegen scheinen, wirklich erschöpfend aufgeklärt zu werden, und auch nicht die Gelegenheit des Disputs darüber hat? Das ist kein Gegenstand, der in offener Feldschlacht des Plenums von Woche zu Woche behandelt werden kann. Aber das gehört zu den entscheidenden Grundfragen der demokratischen Praxis in einer Republik. Ich finde, das ist einer der wundesten Punkte.Dies heute zu sagen, können Sie mir nicht übelnehmen, nach dem, was ich so gelegentlich lese und höre vom Bundeskanzler und seinen unmittelbaren Getreuen, Herr Kiesinger, würde ich sagen. Nach Ihrer gestrigen Manifestation kann nur dieses Wort gebraucht werden.
Das ist doch keine Schande.
Sehen Sie, ist es uns dann zu verdenken, wenn wir den Eindruck haben, daß Ihnen im Gegensatz zu den von Ihnen als suspekt angesehenen Plänemachern, Projekteschmieden, Schwachmüden, wie Sie sie gestern bezeichnet haben, ein Mann so von dem Typ gefällt, der Ihnen gewissermaßen zu verstehen gibt: Ich weiß doch, wie das bei den Sowjets durcheinandergeht, und wie bald die dort mit einer offenen Krise zu tun haben werden.
Ich meine, dieser Gedankengang liegt nahe. Ich finde, es ist ein trügerischer Gedankengang, meine Damen und Herren.Wenn der Herr Bundeskanzler, was ich nicht wissen kann, ein Gefangener von Vorstellungen sein sollte — ich meine: ein geistig Gefangener; das verstehen Sie wohl —, aus denen er hoffen zu dürfen glaubt, im sowjetischen Bereich sei eine Entwicklung im Gange, die über kurz oder lang zu offenen Krisenerscheinungen und Eruptionen führen müsse, und deshalb könne die deutsche Politik nichts Besseres tun als das, was er zu tun und durchzusetzen empfehle, so hat ein solches Denken auf Ihrer Seite, fürchte ich, einen nicht zu unterschätzenden Einfluß; und dieses Denken wird uns in die Irre führen.Einen, wie ich glaube, nicht weniger starken Einfluß auf Ihr Denken hat Ihr Bemühen, ständig nachzuweisen, daß die Sowjetunion wohl aus ihrer eigenen Kraft heraus sowieso nicht die Wiedervereinigung Deutschlands gewähren könne oder gar gewähren wolle.Meine Damen und Herren, hier muß ich noch einmal auf eine Bemerkung in der gestrigen Debatte eingehen. Selbst wenn bei Ihnen diese Auffassung vorherrschen sollte, wäre es auch in Ihrem Sinne besser gehandelt, wenn Sie alles dazu tun würden, jede sowjetische Erklärung auf die Probe zu stellen,
und zwar so, daß dann darüber nicht gedeutelt werden kann, statt zu sagen, Sie hätten es von vornherein gewußt und man sähe es denen ja an der Nasenspitze an, was sie damit eigentlich meinen.Damit kommen wir zu dem Streit, von dem ich selber freimütig sage: manches daran mutet mich gespenstisch an. Es ist der Streit darum, was in den
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 935
Wehnerzurückliegenden Jahren richtig und was weniger richtig oder falsch gemacht wurde.
— Nein, nein, wir kommen dazu, habe ich gesagt. Ich darf ja wohl auch meinen bescheidenen Beitrag dazu liefern. Ich wollte Ihnen das gerade sagen, Herr Kiesinger, weil Sie mich gestern sozusagen darauf festnagelten, ich solle nun einmal hier heute Rede und Antwort stehen, wie das eigentlich mit den Auffassungen der SPD und des Herrn Heinemann sei.Ich muß Ihnen da etwas sagen, was Sie wahrscheinlich seltsam finden. Ich habe Respekt vor dem Herrn Dr. Gustav Heinemann schon zu einer Zeit gehabt, als er noch in der Christlich-Demokratischen Union war.
— Entschuldigen Sie bitte: Es ist unanständig, eine Frage, bei der es um Würde und um das Verhältnis zur Würde von Menschen geht, in dieser Art behandeln zu wollen; aber das bleibt Ihnen überlassen.
Für mich hat der Respekt, den ich Herrn Heinemann gegenüber bezeige, nicht erst begonnen, als er seinen mutigen Schritt tat, aus der Regierung zu gehen, weil er in Gewissenskonflikt und nicht gewillt war, den Schritt des Bundeskanzlers, dessen Angebot zu einem Beitrag zu einer westlichen Verteidigungsgemeinschaft, auch politisch zu decken. Ich wollte sagen: auch als das noch nicht sichtbar war, hatte ich Respekt. So was gibt es.
Das kommt heute mehr und mehr aus der Mode, daß man Respekt und sogar menschliche Zuneigung zu jemandem haben kann, mit dem einen sonst nicht viel verbindet als die Vorstellung von der Sauberkeit, von der Integrität der Person,
auch wenn man noch so verschiedene Auffassungen in innenpolitischen Fragen haben mag. Und ich muß sagen, ich habe sehr unterschiedliche Auffassungen in einigen Fragen auch in der Zeit gehabt, in der Herr Dr. Heinemann den Versuch machte, mit seiner Gesamtdeutschen Volkspartei das zu tun, was er im Interesse der Bewahrung des Friedens und der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedlichen Lösung dieser deutschen Frage für richtig und notwendig hielt.
— Herr Kiesinger, darum geht es immer im Grunde und am Anfang. Sicher, Sie schütteln den Kopf, es geht Ihnen vielleicht nicht darum. Ich wollte Ihnen nur altmodisch sagen: mir geht es darum auch in der Politik und nicht irgendwo an einer letzten Stelle.
Nun möchte ich Ihnen sagen: Herr Heinemann hat hier niemals für die Sozialdemokratische Partei oder für sich persönlich erklärt, der Fehler der CDU/CSU und der Fehler der von ihr getragenen Regierung im Jahre 1952 und in dem, was sich daraufhin anschloß, habe darin bestanden, daß Sie damals nicht die sowjetische Note annahmen, sondern er hat doch — völlig in Übereinstimmung mit unserer sonstigen sozialdemokratischen Kritik — sagen wollen und gesagt, der entscheidende, der kardinale politische Fehler, der damals begangen wurde, habe darin bestanden, daß man die Note vom 10. März 1952 nicht zum Gegenstand wirklicher, nicht abreißender und die Dinge ergründender Verhandlungen gemacht hat.
Sie haben, Herr Kiesinger, gestern versucht, die Sache damit in ein schiefes Licht zu bringen, daß Sie sagten: hätte man damals den russischen Friedensvertragsvorschlag angenommen, so wäre das und das die Folgerung daraus gewesen. Aber Sie sollten Ihren Hörern in diesem Hause und außerhalb dieses Hauses nicht verschweigen, daß der russische Vorschlag zusammen mit dem Begleitschreiben Alternativvorschläge wünschte und geradezu herausforderte, wie es eben in einer wirklichen Verhandlungssituation notwendig ist.
Darum haben wir die ganze Zeit gekämpft und gestritten.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Wehner, eine Frage! Haben Sie vergessen, daß wir nach den Berliner Verhandlungen gemeinsam festgestellt haben, daß die Sowjetunion offenbar nicht willens sei, die Wiedervereinigung in Freiheit zu gewähren?
Das habe ich nicht vergessen. Ich bin sogar der Überzeugung, daß in diesem Satz etwas sehr Wichtiges steht, auch wenn Sie heute diesen Entschluß und andere Entschlüsse dazu benützen wollen, einer Weiterentwicklung der Wiedervereinigungspolitik einen Klotz auf den Weg zu rollen.
Die Sozialdemokratische Partei hat die Wiedervereinigung in gesicherter Freiheit immer als die vordringlichste politische Forderung angesehen. Das Wort hat manchem im Hause nicht gefallen.
Sie wollten eine Zwischenfrage stellen, Herr Abgeordneter von Merkatz?
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936 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Herr Kollege Wehner, Sie sprachen von der Situation bei Gelegenheit der sowjetrussischen Note von 1952. Erinnern Sie sich der Stellungnahme Ihrer Partei bei den gemeinsamen Beratungen des Auswärtigen Ausschusses und des Gesamtdeutschen Ausschusses, dessen Vorsitzender Sie damals waren, an die außerordentlich starre Haltung, die gerade Herr Kollege Ollenhauer in diesem Punkt gezeigt hat?
Sie wollten wissen, ob ich mich erinnere? Sehr erinnere ich mich dessen. Sie werden sich hoffentlich auch — falls ich mir diese Gegenfrage zu stellen erlauben darf — erinnern, daß ich jedenfalls bei dieser Politik keine ganz untergeordnete Rolle gespielt habe; falls Sie sich heute daran erinnern möchten.
Darf ich eine Zusatzfrage stellen, Herr Kollege. Wie aber verträgt sich dann Ihre jetzige Betrachtung der Note mit der damaligen von beiden Ausschüssen geteilten Auffassung?
Meine Damen und Herren, das ist, entschuldigen Sie, ein Versuch, in Rechnung zu stellen, daß ein beträchtlicher Teil der Abgeordneten dieses Hauses nicht mehr gegenwärtig hat, worum damals politisch gekämpft wurde.
— Das ist auch eine Antwort, von der mein Kollege Prof. Carlo Schmid sagen würde, sie gehört zu den Urlauten. — Wir haben damals festgestellt, daß wir Sie warnen müßten vor einer Politik, durch die die Türen zugeschlagen würden. Wir haben verlangt, daß über die Note verhandelt werde.
— Das war sofort, und wenn Sie wollen, werden wir Ihnen die Zitate hier am laufenden Band vorlesen, die Fraktionsbeschlüsse der SPD, die Parteivorstandsbeschlüsse der SPD, die Erklärungen einer Reihe von einzelnen sozialdemokratischen Politikern. Wir haben sofort Verhandlungen verlangt; und ich habe einen ganzen Band mit diesen Zitaten hier. Sie irren sich, Herr Kollege Kiesinger,
um das sehr ruhig zu sagen.
Wir hatten damals leider erhebliche Differenzen, weil Ihre Partei von Anfang an damit begann, zu sagen: In dieser ersten Note steht nichts über die freien Wahlen und die Prozedur, wie man zu ihnen kommt. Wir haben gesagt, gerade deshalb sollte die Note zum Anlaß genommen werden, herauszuforschen, herauszupulen, wie man zu freien Wahlen kommen kann. Wir haben Verhandlungen verlangt, und wir haben sie auch in Anträgen hier verlangt. Sie können heute der Meinung sein, es sei bequemer, einen Sozialdemokraten dafür in die Mangel zu nehmen. Dann lesen Sie aber bitte vorher nach, falls Sie auch einem Sozialdemokraten gegenüber Gesetze des Anstands für in gewissen Grenzen verpflichtend halten.
Kurt Schumacher hatte damals erklärt, daß für uns die Wiedervereinigung das Nahziel und nicht ein Fernziel sei. In den Jahren — um auch das gleich klarzustellen —, in denen die Sowjetregierung selbst schwieg, in denen sie Grotewohl, Pieck, Ulbricht reden und schreiben ließ, haben wir darauf gepocht, die Sowjetregierung selbst solle reden, sie solle mit ihren Vorschlägen kommen. Wir haben, glaube ich, wesentlich mit dazu beigetragen, daß es dazu kam, Herr Kollege, in einer Zeit, in der — ich sage das ohne Anmaßung — einige von unserer großen Widersacherin in der westdeutschen Politik, von der CDU, durchaus der Meinung waren, man könnte mit Grotowohl-Gesprächen anfangen. Damals gab es darüber Meinungsverschiedenheiten. Einige der Beteiligten werden sich ihrer noch entsinnen.
Mich interessiert jetzt nur der historische Ablauf und was damals unsere Beweggründe waren: daß es uns darauf ankam, die Russen selbst sollten mit Vorschlägen kommen und sollten in die Verhandlung hinein. Dann kamen sie mit jener Note, von der heute so viel gesprochen wird. Und dann ließ man die Gelegenheit vorbei
und hat nicht über diese Note und hat nicht über das, was daraus folgte, wirklich verhandelt.
— Immer Noten gewechselt. Und Sie werden, obwohl Sie zugeben, daß es ein mühseliges Handwerk ist, wenn Sie sich schon noch für den Notenwechsel interessieren, dann auch feststellen müssen, daß zu jeder dieser Noten, die hin- und hergingen, die Sozialdemokraten gewisse Vorschläge gemacht haben, in denen sie zum Ausdruck bringen wollten, wie man es versuchen müßte, es doch noch aus einer verfahrenen Situation, aus einem kalten Notenkrieg, zu wirklichen Verhandlungen über die Wiedervereinigung zu bringen.Unserer Meinung nach ist eben der große Fehler, den der Bundeskanzler aus politischen Erwägungen damals begangen und den er zu verantworten hat, der, in dieser Zeit nicht wirklich und nicht unablässig auf Wiedervereinigungsverhandlungen gedrängt zu haben,
wegen des Vorrangs der Verträge über die militärische Eingliederung. Schließlich sind sogar die drohenden Ankündigungen der Sowjetregierung, wenn die Pariser Verträge ratifiziert und in Gang gesetzt würden, dann gebe es keine Viermächteverhandlungen über die Wiedervereinigung mehr, in den Wind geschlagen worden. Hier sogar, von dieser Stelle aus, hat man uns gesagt, das sei ja nur einer der üblichen sowjetischen Bluffs.
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 937
WehnerWir haben Sie gewarnt und haben Sie gebeten: Glauben Sie nicht, daß das Bluffs sind. Nehmen Sie es jedenfalls als das Wort einer großen und sehr mächtigen Macht und versuchen Sie, vorher in Ordnung zu bringen, was man in Ordnung bringen kann.Selbst dann, meine Damen und Herren, wenn es im Bundestag Entschließungen gegeben hat, denen alle zustimmten, hat ja die Bundesregierung ihre Politik des Vorranges der militärischen Integration Westdeutschlands durchgeführt.Jetzt sagt der Bundeskanzler es so: die Russen hätten ja auch immer erst dann und nur dann etwas geboten, wenn militärische Schritte bevorgestanden hätten, und nur, um diese zu verhindern. — Ja, warum ist denn aber nicht gerade solche Situation ausgenützt worden, um in der Wiedervereinigungsfrage wenigstens einen Schritt weiterzukommen? War das deshalb, weil die militärischmachtpolitische Integration des geteilten Deutschland doch der eigentliche Zweck der Politik war,
weil Sie eben der Meinung waren, dies müsse in seiner ganzen Ausdehnung und in seinem ganzen Gewicht zustande gebracht werden? Es ist doch kennzeichnend, wenn Sie heute so den Eindruck erwecken wollen oder, vielleicht ohne es zu wollen, manche es praktisch tun, es ist doch eigentümlich, daß damals in der Zeit, von der man heute sagt, die Sozialdemokraten hätten allen Beschlüssen über die Wiedervereinigung zugestimmt, z. B. im April 1952, demselben April, von dem hier die Rede ist, jenem kritischen April, folgender sozialdemokratische Antrag abgelehnt wurde — während der erste Absatz angenommen wurde —, unsere Forderung abgelehnt wurde:... nur solche Abkommen zu unterzeichnen, die der Bundesrepublik rechtlich und tatsächlich die Möglichkeit sichern, jederzeit und von sich aus auf die Einleitung von Verhandlungen der vier Besatzungsmächte über die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands hinzuwirken.Genau das wurde damals von Ihnen abgelehnt.Da war eben wohl eine entscheidende Differenz.Warum, meine Damen und Herren, hat denn die Bundesregierung die sogar von den Westmächten im Jahre 1953 einmal erklärte Bereitschaft der Westmächte, mit der Sowjetunion auch über den militärischen Status eines wiedervereinigten Deutschlands verhandeln zu wollen, wieder rückgängig gemacht, bevor es zur nächsten wirklichen Konferenz kam? Dazu ist manches zu sagen. Wir haben lange Zeit um die Formel gerungen, die Bundesregierung solle bei den Westmächten, ihren späteren Vertragspartnern, durchsetzen, daß sie mit der Sowjetunion vor allem über den Status, d. h. vor allem über den militärischen Status Deutschlands, vor der vollzogenen Wiedervereinigung sprechen. Und obwohl schon in einem sehr frühen Stadium klar war, daß man bei der Aufrechterhaltung dieser Weigerung, nicht über den Status verhandeln zu wollen, eben auch nicht zurWiedervereinigung kommen würde, ist man dabei geblieben. Müssen wir sagen: weil man eben in Wirklichkeit der Aufrüstung den Vorrang vor der Wiedervereinigung gegeben hat? Wir sagen es, es bleibt uns keine andere Schlußfolgerung. Denn man hatte sich festgelegt:Finden die freien Wahlen nach dem Inkrafttreten der EVG statt, so ist es wichtig, daß keine Unterbrechung der Kontinuität der zwischenstaatlichen Verpflichtungen Deutschlands eintritt. Finden die freien Wahlen v o r dem Inkrafttreten der EVG statt, so ist es wichtig, daß eine Lösung gefunden Wird, die dieses Inkrafttreten bezüglich Deutschlands erleichtert.Obwohl man damals wußte, daß das Festhalten an der deutschen Beteiligung an der EVG und jeder anderen gleichgearteten Organisation während des in Betracht gezogenen Zeitabschnitts der Wiedervereinigung schwierige Probleme aufwerfen würde, hat man genau aus dieser Festlegung das Dogma gemacht — —
— Die Bundesregierung
und die Westmächte.
— Wir nicht. Denn ich habe Ihnen, Herr Dr. Bucerius — und ich halte Sie für so fair, das auch in der Hitze einer Debatte zuzugeben —, soeben erklärt, daß wir hier beantragt haben, Sie sollten Verträge eingehen, die der Bundesrepublik nicht die volle Freiheit ließen, zu jeder Zeit und in von ihr für richtig gehaltener Weise darauf zu drängen, daß Wiedervereinigungsverhandlungen stattfinden. Genau das wurde ja von Ihnen abgelehnt.
Herr Abgeordneter Wehner, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — Herr Abgeordneter Wehner läßt die Frage zu. Deshalb hat er ja in seiner Rede innegehalten. Bitte sprechen Sie, Herr Dr. Bucerius!
Herr Kollege Wehner, teilen Sie unsere Auffassung, daß Sie in der damaligen Zeit gemeinsam mit uns der Meinung waren, am Beginn des Wiedervereinigungsprozesses müßten die freien Wahlen stehen? Und ist das nicht der entscheidende Teil all der gemeinsam gefaßten Beschlüsse gewesen?
Der entscheidende Teil ist leider der gewesen, daß Sie es unmöglich gemacht haben,
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938 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Wehnerin eine Lage zu kommen, in der freie Wahlen wirklich festgesetzt werden konnten,
weil Sie die Militärverträge wollten.
Einen Augenblick! — Verzeihen Sie, ich will Sie nicht unnötig plagen. Aber jetzt muß ich doch eine Frage stellen. Herr Kollege Wehner, ist Ihnen bekannt, daß Paul Sethe, der doch wirklich ein Kritiker unserer Politik ist, sagt, daß das entscheidende Hindernis für erfolgreiche Wiedervereinigungsverhandlungen in jenen Jahren bis 1955 das Bestehen auf dem Vorrang der freien Wahlen und der Entscheidungsfreiheit einer gesamtdeutschen Regierung gewesen sei? Und da taten sie doch auch mit.
Ich stehe hier für die sozialdemokratische Politik, und ich wehre ab, daß Sie dieser sozialdemokratischen Politik unterstellen, wir hätten alle mitgetan. Sie haben die militärischen Festlegungen getroffen, und dadurch wurden die Möglichkeiten, über die Wiedervereinigung zu verhandeln, undurchführbar.
— Ich bin nicht Herr Paul Sethe, Herr Dr. Krone, ich bin das nicht. Gewöhnlich geruht er von meinen ) Ansichten wenig Notiz zu nehmen, daher brauche ich jetzt nicht seine Ansicht in diesem einen Punkt zu verteidigen, über die sehr viel zu reden wäre.
— Ich habe gesagt: damals wollte man nicht über den militärischen Status verhandeln, sondern es ging um die Einbeziehung Westdeutschlands in die militärischen Verpflichtungen der NATO auf dem Wege über die EVG, eine Einbeziehung, die endgültig sein sollte.Um dieses Zieles willen ist damals regierungsseitig sogar der Gedanke einer Art Konföderation zwischen den beiden Teilen Deutschlands für nicht völlig unmöglich gehalten worden.
— Denn, so hieß es im Kaufmann-Plan — Sie können sich das selbst beschaffen —:Die Vorteile des zeitweiligen Fortbestehens der Bundesregierung und der Sowjetzonenregierung neben einer gesamtdeutschen Regierung liegen darina) daß in den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik keine die Stabilisierung Westeuropas gefährdende Verschiebung eintritt,b) daß die Teilnahme der Bundesrepublik an den Organisationen der Europäischen Gemeinschaft gesichert bleibt,c) daß die Notwendigkeit entfällt, mit den Sowjets über die sehr umfangreichen Befugnisse einer Zentralregierung und ferner über die Vorbehalte der vier Regierungen bis zum Inkrafttreten eines Friedensvertrages zu verhandeln.Man erörterte damals ernstlich die Frage, ob nicht der Vorschlag eines Fortbestehens der Bundesregierung und der Sowjetzonenregierung verhandlungstechnisch die Möglichkeit eröffne, auf die Sowjets in der Frage der freien Wahlen Druck auszuüben. Ich schließe daraus: weil man eben nur einen ganz bestimmten Status wollte, von dem man annahm, es solle über ihn nichts zu verhandeln geben. Ich folge hier den amtlichen Auslassungen. In der Frage „Status einer gesamtdeutschen Regierung" werden die wesentlichen politischen Interessen der Westalliierten hervorgehoben, nämlich erstens das Interesse an einer unter allen Umständen durchzuführenden Integration Deutschlands in die Europäische Gemeinschaft, zweitens das Interesse an der Vermeidung einer österreichischen Situation, d. h. den Sowjets darf keine Handhabe gegeben werden, den Friedensvertrag hinauszuschieben.Da frage ich nun heute: Wie soll es denn verantwortet werden können, daß die Bundesregierung es ablehnte, in Gespräche und in Vorverhandlungen über den Status Gesamtdeutschlands einzutreten, aber durch einseitige Abmachungen versuchte, den Status von vornherein festzulegen, obwohl sie nicht im Zweifel sein konnte, daß dadurch die Wiedervereinigung unmöglich würde? Wie kann man sich, nachdem man selbst die eigenen und die Befugnisse der erst noch zu bildenden gesamtdeutschen Regierung — sehr schwerwiegend — festgelegt hat, darauf einlassen, in Verhandlungen zu gehen mit dem Grundsatz, der Schwerpunkt der Verhandlungen müsse auf der Erörterung der Frage der freien Wahlen und der Bildung einer vorläufigen Regierung liegen, nicht aber auf die Erörterung des Status dieser Regierung? Leider kreisten die Gedanken derer, die sich eigentlich mit den Wegen zur Wiedervereinigung hätten befassen sollen, jedenfalls vordringlichst befassen sollen, meist um die Frage, wie es am ehesten zu erreichen sei, die für Westdeutschland getroffenen militärischen Festlegungen auch durch die Kurven von Wiedervereinigungsverhandlungen als endgültig festzuhalten. Deshalb wohl auch die andere Erwägung, das schwierige Problem der Beibehaltung der Integrationspolitik im Übergangsstadium der Wiedervereinigung scheine leichter durch eine starke, nach Westen orientierte Zentralregierung gelöst werden zu können als in einem System, das der Zentralbehörde nur begrenzte Befugnisse gibt.Hier ist über diesen Fall der Auseinandersetzung über die Bindungsklauseln vor Monaten heftig gestritten worden. Ich will den Streit nicht wieder aufgreifen. Aber damals, als es um konkrete Viermächte-Verhandlungen ging, war man bei der Bundesregierung der Auffassung, angesichts der Wahlen in der Bundesrepublik sowie der Ereignisse in der Sowjetzone 1953 und in Berlin könne mit Recht
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 939
Wehnerangenommen werden, daß die Regierung eines wiedervereinigten Deutschlands eine der Bundesregierung sehr ähnliche Zusammensetzung haben würde. Diese Regierung könne ex hypotnesi erst gebildet werden, wenn die Bedingungen der Westmächte erfüllt seien, d. h. wenn Einigkeit darüber bestehe, . ihr volle Entscheidungsfreiheit zuzuerkennen. Nichts berechtige zu der Annahme, daß die von der Bundesregierung im Deutschlandvertrag über die Beibehaltung der Integrationspolitik nach Art. 7 § 3 des Generalvertrags übernommenen Verpflichtungen verleugnet würden. Das heißt aber — öffentlich sagte man das —, das Dogma der völligen Entscheidungsfreiheit einer gesamtdeutschen Regierung sei unverletzlich.Der Bundeskanzler hat es auf seine Weise dann nach der anderen Seite ausgelegt, indem er sagte, das sei eine reichlich akademische Frage; natürlich bliebe alles so, wie es einmal von der Bundesregierung eingeleitet sei. Juristisch sei zwar eine Entscheidungsfreiheit möglich. Es bestehe aber kein Zweifel daran, daß einem wiedervereinigten Deutschland politische Bindungen auferlegt würden. Das ist seine Ansicht, zu der ich auch hier schon einmal in einer Debatte zu jener Zeit gesprochen habe. Intern jedenfalls war die deutsche Politik auf die Beibehaltung der einseitigen Bindungen festgelegt.
Herr Abgeordneter, wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Bitte!
Ich möchte Sie um eine klare Antwort auf folgende Frage bitten. Ist nach Ihrer Auffassung die deutsche Wiedervereinigung gescheitert an der Absicht der Sowjetunion, ganz Deutschland zu bolschewisieren, oder an den Integrationsbemühungen der deutschen Bundesregierung in den freien Westen und ihrer Beteiligung an der westlichen Verteidigung? Das bitte ich zu beantworten.
Soweit dabei die deutsche Seite in Frage kommt, dürfte es wohl so sein, daß der von unserer Seite aus erforderliche Beitrag wegen der Festlegung auf die militärische machtpolitische Integrationspolitik nicht hat geleistet werden können. Die Sowjetregierung spreche ich keineswegs von dem frei, was ihre eigene Politik zur Genüge kennzeichnet. Hier geht es um das, was wir an dieser Stelle selbst zu tun imstande und verpflichtet sind.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter. — Meine Damen und Herren! Ich habe einen Zwischenruf aufgefangen. Der war sehr witzig. Er hieß: „Kleiner Moritz!" Ich frage nicht, wer ihn getan hat. Damit komme ich nicht in die Verlegenheit,' ihn mit einem Ordnungsruf bestrafen zu müssen. Aber, meine Damen und Herren, auch die alten parlamentarischen Hasen sind den neuen in diesem Parlament Respekt schuldig.
Nun bitte, fahren Sie fort!
Herr Kollege Kiesinger hat gestern mit einem Zitat bei mir eine sehr schmerzliche Erinnerung geweckt. Er hat hier daran erinnert, er hätte doch im Februar des Jahres 1955 noch zu einer damals sogar einstimmig angenommenen Entschließung gesprochen, und wir hätten eine solche Entschließung angenommen.
Das, was bei der Gelegenheit bei mir hochgekommen ist, das war die Erinnerung an die Abstimmung über eine Resolution, die der Auswärtige Ausschuß damals nach langwöchigen, ziemlich schwierigen und schmerzhaften Diskussionen zustande gebracht hat. Nachdem in diesem Saal die Entscheidung über die Annahme der Pariser Militärverträge und des Generalvertrags gefallen war, kam diese Resolution — die ich Ihnen verlesen könnte; das würde die Zeit über Gebühr in Anspruch nehmen — auf die Tagesordnung. Ihr stimmten wir zu, weil wir glaubten, daß hier vielleicht, vielleicht, Herr Kiesinger, noch ein Millimeterehen Möglichkeit wäre, aus Trümmern mit den Fingernägeln einen Ansatzpunkt für Wiedervereinigungsverhandlungen herauszukratzen. Dazu waren wir auch nach dieser ihrer deprimierenden Entscheidung bereit.
Herr Abgeordneter Wehner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
— Ja, er gestattet sie.
Herr Kollege Wehner, gut! Aber erinnern Sie sich, daß in jener Resolution, der Sie zugestimmt haben, die Statusfrage enthalten war, und zwar wiederum hinter der Forderung nach einer entscheidungsfreien gesamtdeutschen Regierung?
Jawohl! Es hat — das möchte ich Ihnen sogar vorlesen — unsererseits in den Jahren zuvor dauernd Kämpfe geben müssen, weil westlicherseits der Status einer gesamtdeutschen Regierung durch die Abmachungen mit der westdeutschen Regierung so festgelegt werden sollte, daß man sogar in dieser Richtung um ein Stück deutscher Entscheidungsfreiheit kämpfen mußte. Ich
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940 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Wehnerhabe mir gestern nacht einige solcher Gesichtspunkte aus diesen Auseinandersetzungen herausgeholt. und könnte Sie damit bedienen.Aber vor einem Jahr, am 31. Januar 1957, als ich mir erlaubte, an jene. Resolution zu erinnern
— ja sicher, ich gehöre nicht zur Regierungspartei —, habe ich mit dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen über die Existenz einer solchen Resolution einen langen Krieg am Mikrofon zu führen gehabt. Es ging um die Resolution mit dem Punkt — es war der Punkt, dessentwegen uns die Resolution noch etwas wertvoll erschien —, eine Kommission zu bilden aus Vertretern der" Mächte und der Bundesrepublik, um durch diese Kommission alle zur friedlichen Wiedervereinigung Deutschlands sich bietenden Gelegenheiten erörtern und Vorschläge zur Vorbereitung aussichtsreicher Verhandlungen ausarbeiten zu lassen. Diese Auseinandersetzung schloß noch mit einer persönlich verletzenden Bemerkung, weil der Minister immer recht haben muß und der Abgeordnete sich in der Regel zu irren hat.Die Sozialdemokratische Partei erinnert sich daran und erinnert auch Sie daran: Warum hat denn der Herr Bundeskanzler im Herbst 1954 nach dem Scheitern der EVG in der französischen Nationalversammlung nicht das eingehalten, was sogar zwei Kabinettsmitglieder, nämlich der verstorbene Kollege und Bundesminister Dr. Tillmanns und der von mir verehrte ehemalige Bundesminister Jakob Kaiser, als ein Versprechen des Kanzlers angesehen hatten, nämlich, falls die EVG in Paris scheitern sollte, dann auch mit der Opposition über die dadurch geschaffene völlig neue Lage am runden Tisch ausführlich, sachlich und gründlich zu sprechen, zu diskutieren, zu verhandeln und aus diesen Verhandlungen Schlußfolgerungen zu ziehen?! Er hat es nicht getan. Statt dessen wurden wir, Herr Kiesinger, in jene unwürdige Lage gebracht, in der Zeit der Pariser und der Londoner Verhandlungen jeden unserer Anträge nur noch in Geschäftsordnungsdebatten mit einigen Minuten Redezeit vorbringen und Sie darum ersuchen zu können, ihn doch wenigstens im Ausschuß zu behandeln. Und dann kam nach der Billigung der Pariser Verträge hier im Haus jenes Produkt einer Resolution zustande, von der soeben gesprochen worden ist.Die Sozialdemokratische Partei war immer — das mag man nun nehmen, wie man will — eine_ loyale Opposition. Derjenige, der loyal ist, nimmt in Kauf, bei nicht gleicher Auffassung des Partners allerlei einstecken zu müssen. Die Sozialdemokratische Partei war immer eine loyale Opposition und bereit, sehr weit zu gehen, damit das Provisorium Bundesrepublik seine gesamtdeutsche Aufgabe erfüllen könne. Aber der Bundeskanzler hat die Loyalität der Opposition mit der starren Entschlossenheit beantwortet, sich keinen Millimeter von seiner Politik des Vorrangs der militärischen und machtpolitischen Integration Westdeutschlands abbringen zu lassen. Jetzt soll obendrein noch die Glaubwürdigkeit der SPD bestritten und ihr Bemühen sozusagen mit Hohn übergossen werden!
wer denn die deutsche Spaltung verewige. Er beantwortete die Frage selbst: Doch wohl der, der Deutschland das Selbstbestimmungsrecht vorenthält. — Ja, Herr Minister, es ist sehr bitter, feststellen zu müssen, wieviele auch von denen, mit denen wir vertragliche Bindungen haben, die im Wort für das Selbstbestimmungsrecht der Völker sind, sehr kalte Rechner sind, wenn's zur Kreide kommt.
— Oh ja, das sind sehr bittere Erinnerungen an die Bindungen, die es eben nicht möglich gemacht haben, den deutschen Beitrag zur Wiedervereinigung in der Weise und mit dem Gewicht in die Waagschale zu legen, wie es historisch hätte geschehen müssen.
Das wollte ich sagen, weil der Herr Bundesminister das gestern nicht sagte. Aber es kam einem ja auf die Zunge, wie verschieden man doch die aus dem Selbstbestimmungsrecht stammenden Pflichten einschätzt. Die theoretisch völlige Entscheidungsfreiheit einer frei gewählten gesamtdeutschen Regierung als Postulat für das Selbstbestimmungsrecht ist eine Sache, und die Wirklichkeit der Bindungen ist eine andere.Hier wurde mir wieder die Frage nach den freien Wahlen gestellt. Aber herzlich gern, meine Damen und Herren, freie Wahlen, sie sind für die Wiedervereinigung unerläßlich,
und für sie gibt es keinen Ersatz. Die Frage ist nur — und das ist die bohrende Frage —: Wie können diese freien Wahlen möglich und unvermeidlich gemacht werden? Genau das ist der Punkt, um den wir die ganzen Jahre mit mehr oder weniger Klarheit, aber mit dem Schwergewicht um diese Frage gestritten haben.
Deshalb muß man bereit sein, auf dem. Wege zur Wiedervereinigung das ist meine Ansicht — Etappen zu durchschreiten, die schließlich freie Wahlen möglich und unvermeidlich machen.Gestern ist hier eine Frage gestellt worden, wie die Sozialdemokraten zu solchen provisorischen Regierungen oder Parlamenten stünden, die die vollen Befugnisse hätten. Sie lehnen sie ab und haben sie immer abgelehnt. Sie können nachlesen in Lenins „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der.
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Wehnerdemokratischen Revolution". Da war die Taktik der einen Seite die, alles durch diese sogenannten Provisorien zu erledigen.
Wissen Sie übrigens, daß das nicht nur eine Eigentümlichkeit der Leninisten ist, durch Provisorien alles so endgültig wie möglich zu machen?
Und die Taktik der Sozialdemokraten — lesen Sie das Buch nach — war die: kein solches Provisorium, das die wirkliche, freie Entscheidung unmöglich machen würde. Das war das Entscheidende, und darauf stehen wir noch.
Meine Damen und Herren, wenn man es zum Dogma macht, daß erst bedingunglos freie Wahlen zugesagt und durchgeführt werden müßten, ehe über den militärischen Status ,Deutschlands gesprochen werde, so wird man wie bisher vergeblich auf freie Wahlen warten. Die Frage ist: Lag denn der Bundesregierung an freien Wahlen deshalb so viel
— ich hin doch unterbrochen worden! VerehrteFrau Dr. Weber, das war die Fortsetzung; sie blieb mir vor Schreck im Halse stecken —,
weil sie am liebsten ein aus freien Wahlen hervorgegangenes gesamtdeutsches Parlament so schnell wie möglich haben wollte? Seien Sie bitte, sehr verehrte Frau Dr. Weber, nicht unvorsichtig und sagen jetzt noch einmal ja; denn nun muß ich Ihnen sagen: wir hatten 1953 und 1954 Anlaß, sehr ernste Einwände gegen die Haltung der maßgebenden Stelle der Bundesregierung zu erheben, weil diese sich damals ausdrücklich gegen die Auffassung einer anderen Stelle der Bundesregierung wandte, die der Meinung Ausdruck gegeben hatte, es sei unmöglich — hier zitiere ich —, der Kompetenz einer Nationalversammlung Schranken zu ziehen. Die maßgebende Stelle der Bundesregierung erklärte damals, das möge zwar für eine aus einer revolutionären Bewegung hervorgehende Nationalversammlung zutreffend sein, aber die zu bildende deutsche Nationalversammlung beruhe doch auf einer Ermächtigung der vier Besatzungsmächte, die sowohl die Modalitäten der Wahl wie ihre Aufgaben bestimmen werde.Meine Damen und Herren, damals sollten zwar freie Wahlen in beiden Teilen Deutschlands der erste Schritt sein, dann aber wollte man so lange wie möglich die gegenwärtige Bundesregierung behalten. Das, was aus den freien Wahlen hervorgehen sollte, sollte nach Ansicht der maßgebenden Stelle der Bundesregierung lediglich die Rolle einer Körperschaft spielen, die ausschließlich mit der Ausarbeitung eines Verfassungsprojekts befaßt würde. Die maßgebende Stelle der Bundesregierung wollte sich nicht einmal damit befreunden, daß die aus allgemeinen, freien Wahlen hervorgegangene Nationalversammlung eine gesamtdeutsche Regierungzu bilden hätte. Die maßgebende Stelle der Bundesregierung erklärte, sie könne sich vor allem der Auffassung nicht anschließen, daß mit der Schaffung einer solchen wenig fundierten provisorischen gesamtdeutschen Regierung auch die Bundesregierung in Wegfall kommen sollte; denn — so schrieb man und sagte man damals — es ist von grundlegender Bedeutung, daß die Bundesregierung mit ihrem amtlichen Apparat, ihren internationalen Verpflichtungen und ihrer Autorität ungeschmälert erhalten bleibt, bis eine in ihrer Existenz gesicherte gesamtdeutsche Regierung auf Grund einer neuen Verfassung gebildet ist. — Freie Wahlen in beiden Teilen Deutschlands zum unbedingt ersten Schritt machen wollen und dann die amtierende Bundesregierung so lange wie möglich weiter amten lassen mit den entsprechenden Folgen auf der anderen Seite der Zonengrenze?!Bei diesen Erinnerungen komme ich auch und bin darauf gekommen, daß es auch bei den Erwägungen des Auswärtigen Amts solche gegeben hat, die sich mit der Friedensvertragsregelung befaßten. Ich weiß nicht, ob der verehrte Kollege Dr. Gerstenmaier von der Christlich-Demokratischen Union diese Erwägungen vor Auge hatte, als er kürzlich einmal in der Öffentlichkeit eine Diskussion darüber auslöste, daß man auch heute vielleicht einen Schritt in der deutschen Frage weiterkommen könnte, falls man die dazu notwendigen Gespräche und Diskussionen und Sondierungen der Frage nach den Vorstellungen unterordnete, die die beteiligten Seiten —dazu gehört auch die russische — in bezug auf eine Friedensvertragsregelung hätten. Ist es so abwegig, in Erörterungen über einen Friedensvertrag einzutreten — so fragten sich damals die maßgebenden Stellen —, auch wenn die Wiedervereinigung noch gar nicht vollzogen ist? Gibt es nicht sogar in den Papieren auch des Auswärtigen Amts Vorstellungen und Niederschriften mit Erwägungen, denen gemäß die Bundesregierung und die Sowjetzonenregierung während der Verhandlungen zum Friedensvertrag weiter amtieren und neben der aus freien Wahlen hervorgegangenen Behörde oder Regierung, der die verantwortliche Teilnahme an den Vertragsverhandlungen übertragen würde, weiter bestehen? Gab es nicht Erwägungen, nach Verkündung der Verfassung durch die Versammlung, möglicherweise sogar lange vor Abschluß der Verhandlungen zum Friedensvertrag, könnte eine gesamtdeutsche Regierung sofort gemäß den Bestimmungen der Verfassung gebildet werden? Es wäre Aufgabe der neuen Regierung, die Verhandlungen zum Abschluß eines Friedensvertrages, falls sie noch nicht beendet wären — man dachte also daran, sie würden von verschiedenen Stellen parallel geführt werden können —, weiterzuführen. Sie würde ferner — so hieß es damals — ihre Befugnisse der Verfassung gemäß schrittweise übernehmen, zunächst die Verantwortung für die innere Verwaltung, wobei jedoch der Bundesregierung und der Sowjetzonenregierung die Verantwortung für die Außenpolitik, für die Verteidigung und für die Aufrechterhaltung der Ordnung bis zum Inkrafttreten des Friedensvertrages zu belassen wäre. Erst von diesem Inkrafttreten an würde die gesamtdeutsche
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WehnerRegierung sämtliche Regierungsgeschäfte im ganzen Land übernehmen und die Bundesregierung sowie die Pankower Regierung zu bestehen aufhören. Diese Erwägungen sind doch angestellt worden, und man kann sie, wenn sie von anderen in anderer Zeit und in anderen Formen angestellt werden, nicht dadurch wegwischen, daß man sagt, das sei ein Tabu, über solche Dinge dürfe nicht geredet werden.Wer nun die Wiedervereinigung noch verwirklichen will, der muß — das ist meine Ansicht —eine Kombination von Schritten, an denen die vier Mächte beteiligt sind, und von Schritten der beiden Teile Deutschlands finden und in Gang zu setzen suchen. Je länger auch dies versäumt wird, um so größer wird die Gefahr, daß selbst damit die Wiedervereinigung nicht mehr zu verwirklichen sein würde. Ein Vier-Mächte-Beschluß ganz für sich allein ist nach dem, was beiderseits geschehen ist, offensichtlich nicht mehr zu erreichen. Die Weigerung der Bundesregierung, z. B. normale Beziehungen zu Staaten zu pflegen, die ihrerseits auch in Beziehungen zur Regierung der DDR — wie sie sich nennt — stehen, ist heute kein Druckmittel mehr zugunsten der Wiedervereinigung, sondern diese Weigerung isoliert uns gegenüber Staaten, deren nachbarschaftliches Vertrauen wir für die Wiedervereinigung brauchen und erwerben müssen.
Ebenso schlecht wie diese Weigerung der Bundesregierung, normale Beziehungen auch zu solchen Staaten zu pflegen oder aufzunehmen, die ihrerseits gewisse Beziehungen zu der Regierung jenseits der Zonengrenze haben — ich sagte schon, daß das heute kein Druckmittel mehr zugunsten der Wiedervereinigung ist —, finde ich es, daß die Bundesregierung erklärt, sie wolle lieber darauf verzichten, am Konferenztisch einer Gipfelkonferenz oder einer wie immer ihr vorgeschalteten Konferenz zu erscheinen, falls auch jemand von der anderen Seite der Zonengrenze dort erscheinen würde dann lieber keine! Das ist ein Standpunkt, den Sie eines Tages werden revidieren müssen.
Auch wenn Sie die Mehrheit haben und gerade weil Sie die Mehrheit haben, werden Sie diesen Standpunkt nicht beibehalten können. Andernfalls würden Sie Ihre Nachfolger in eine Lage bringen, in der diese von der Wiedervereinigung nicht mehr reden könnten und schließlich gezwungen wären, irgendeinen Weg nach Pankow zu suchen.Wir dürfen nicht nur von der Entspannung der Gegensätze reden, sondern wir müssen selbst etwas zur Entspannung tun, und nur d i e Entspannung, zu der wir selbst beitragen, kann Ausgangsgrundlage für erfolgversprechende Wiedervereinigungsverhandlungen unter den so viel komplizierteren Bedingungen werden, die nun herrschen. Wir müssen deshalb geradezu daran interessiert sein, den anderen Teil Deutschlands jenseits der Zonengrenze einbezogen zu sehen in eine z. B. atomwaffenfreie Zone und in ein Gebiet, in dem die Bewaffnung und die Höchstzahl der Truppen unter einer übergeordneten Kontrolle steht. Würde damit nicht ein Rahmen geschaffen, in dem es möglich und aussichtsreich wäre, auch zu einer allmählichen innerdeutschen Entspannung zu kommen? Dann könnte ich mir denken, daß eine Politik der offenen Tür verwirklicht würde, wie sie der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen will, mit dem ich leider heute den gesamtdeutschen Hexenschuß teile, — das ist etwas symbolisch!
— Ja, das gehört zu dieser Debatte. Es ist aber ein physischer Hexenschuß. Er hat ihn gestern und ich habe ihn heute bekommen.
— Da gibt es noch etwas Gemeinsames, wenn es auch nur der Hexenschuß ist.
Dann könnte, meine ich, eine Politik der offenen Tür für die Deutschen in beiden Teilen unseres Landes verwirklicht werden, während heute diese meiner Ansicht nach guten und richtigen Absichten des Ministers leider einfach im Streit um die Atomrüstung auf der Strecke bleiben. Das ist doch das Tragische!
Oder will man nicht — das ist eine sehr schwierige Frage —, daß die Truppen der Sowjetunion aus dem anderen Teil abgezogen werden? Das kann keiner nicht wollen, nehme ich an, Herr Dr. Bucerius!Wenn man das aber will, dann kann man nicht darauf beharren, daß nur die Truppen der Sowjetunion aus dem Teil, in dem sie heute noch stationiert sind, abgezogen werden. Dann muß man sich einmal mit unserem Antrag befassen, den man in jener Debatte am 23. Januar einfach abgelehnt hat, mit dem im Zusammenhang mit einem atomwaffenfreien Raum zu erzielenden Abzug, und zwar gleichwertigen Abzug der Truppen beider Seiten bis zu einem Punkt, an dem dann auch die Festsetzung der Höchststärken der Truppen der in dem Gebiet beteiligten Staaten erfolgen kann. Warum sollte man sich dies nicht einmal vornehmen, wenn man will, daß die Truppen der Sowjetunion aus dem anderen Teil Deutschlands abgezogen werden?Wenn man aber nicht will, daß diese Truppen abgezogen werden, dann wird man vergeblich darüber klagen, daß der Graben zwischen den beiden Teilen Deutschlands immer tiefer und immer breiter wird. Auch die Versäumnisse auf dem Gebiet der Regelung der innerdeutschen Beziehungen sind leider so groß, daß ich fürchte, sie sind zum Teil schon nicht mehr ungeschehen zu machen. Wir Sozialdemokraten haben 1952, als Herr Ulbricht den Sperrriegel entlang der Zonengrenze zog, nicht nur einige Anträge zu stellen, sondern auch eine Debatte mit der Regierung hier darüber zu führen versucht, daß sie in diesem Falle und in diesem Punkte bei allen vier Mächten darauf hinwirken sollte, aus dieser Vertiefung der Spaltung zu Initiativen für Verhandlungen mit ganz bestimmten Zielen der Auflockerung und Milderung zu kommen.
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 943
WehnerWir haben uns die ganze Zeit auf das Schlußkommuniqué der Pariser Außenministerkonferenz vom Jahre 1949 bezogen, in dem es heißt: obwohl die Außenminister damals nicht imstande waren, die Spaltung zu überwinden, beauftragten sie ihre Residenten in Deutschland, zusammen mit Experten aller deutschen Seiten Vorschläge zur Milderung der Spannung, d. h. also zur inneren Verklammerung der beiden Teile Deutschlands auszuarbeiten. Sie wollten den deutschen Experten sogar das Recht geben, eigene Vorschläge bei den ausländischen Mächten einzureichen. Daraus ist nichts gemacht worden, meine Damen und Herren. Ich bedauere, daß der verehrte frühere Minister für gesamtdeutsche Fragen, Jakob Kaiser, erst sieben Jahre, nachdem dies in dem Pariser Schlußkommuniqué stand, zum erstenmal in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage aller Fraktionen darauf Bezug nehmen konnte, — aber sieben Jahre danach, und das heißt wohl auch: sieben Jahre zu spät!Unser Antrag übrigens, Umdruck 608, mit dem wenigstens diese innere deutsche Verzahnung möglich gemacht werden sollte, verfiel damals der Ablehnung durch Ihre Mehrheit. Er konnte nicht zu Ende geführt werden. Die Überlegungen, die der neue Minister Lemmer angestellt hat, sind aller Ehren wert. Aber wenn man das alles auf den Flaschenhals Treuhandstelle für Interzonenhandel beschränkt, so ist diese überfordert. Sie ist sicher eine wichtige Stelle, die ihr Bestes tut. Aber damit allein schafft man doch nicht die innere Verklammerung der Teile Deutschlands, die sonst dazu verurteilt sind, sich immer weiter auseinanderzuentwickeln.Auf der anderen Seite, meine Damen und Herren, sind die Leute, die jenseits der Zonengrenze regieren, nicht gerade müßig gewesen. Sie haben 1955 die Formel vom gesamtdeutschen Rat in die Welt gesetzt und inzwischen, 1957/58, die Formel von der Konföderation. Beide sind leider von der Sowjetregierung gedeckt. Wenn man jetzt nach dem Willen des Bundeskanzlers auch noch darauf pocht, mit der Sowjetregierung weder über die mit einem Friedensvertrag in Zusammenhang zu bringenden Fragen reden zu wollen noch auf dem Umweg über Verhandlungen über den polnischen Vorschlag oder über andere militärische Entspannungsgebiete zu einem Vier-Mächte-Rahmen zu kommen, dann wird man die Rolle Pankows beinahe zwangsläufig immer bedeutender werden lassen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang mit ein paar Worten auf die sowohl von Herrn D r. Gradl als auch von Herrn Kiesinger gestern an die Adresse der SPD gerichtete Frage antworten, die wegen eines Artikels meines Parteifreundes Möller in Frankfurt gestellt wurde, wobei Sie ganz besonders anstrichen, daß dieser Artikel „sogar" im „Vorwärts" erschienen sei. Er ist dort erschienen, weil wir in einer Diskussion stehen, Herr Dr. Gradl. Der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei ist ein Diskussionsforum im wirklichen Sinne des Wortes nach alter Tradition. Sie würden sagen: „nach altem Zopf". Aber daran halten wir fest. Dort werden diese Dinge geklärt, diskutiert und entschieden.Wir sind nicht so autoritär, daß bei uns nur solche Ansichten veröffentlicht werden können, von denen die Obrigkeit weiß, daß diese Ansichten schließlich die offiziellen sein werden. Wir ringen um die Klärung unserer Ansichten, und dazu werden auch solche Artikel geschrieben wie jener, mit dem ich keineswegs einverstanden bin.Sie würden übrigens Ihre helle Freude an demselben meinem Parteifreund Möller gehabt haben, wenn Sie seine Diskussionsbeiträge gegen mich aus den Jahren 1951/52 gehört hätten. Damals ging es um die bedingungslose Befürwortung des Schuman-Plans, während ich ja keineswegs ein bedingungsloser Befürworter dieses Plans war. So geht es bei den Diskussionen in der SPD zu, so quer durchs Beet, und es ist schwer, sich von draußen daran zu gewöhnen. Aber das lernt man.
Wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen, Herr Abgeordneter Wehner?
Herr Abgeordneter Wehner, Sie sind sich doch darüber im klaren, daß ich die Frage gestern nicht gestellt habe, weil es um die Diskussion als solche in Ihrer Partei geht,
sondern nur deshalb, weil wir einfach erstaunt waren, daß es bei Ihnen notwendig ist, über diese Frage eine Diskussion zu halten.
Herr Dr. Gradl, Sie wundern sich, daß das notwendig ist. Sie wissen doch ganz genau, was für Diskussionen Sie bei sich selber in dieser Frage durchführen. Oder nicht?
— Entschuldigen Sie, ich spreche mit Herrn Dr. Grads, von dem ich weiß, daß bei ihm einige Voraussetzungen dafür da sind, sachlich zu verstehen, was in dieser Frage in den Parteien immer wieder zu klären ist. — Bei Ihnen ist es eine andere Frage, Herr Dr. Hellwig; Ihr Metier ist ein anderes, das verstehe ich wohl.
Aber, Herr Dr. Gradl, Sie haben ja auch ein Interesse daran, daß in der SPD solche Fragen heiß diskutiert werden. Oder nicht? Sie lesen doch manchmal den „Rheinischen Merkur", und Sie wissen, wie in die Diskussionen der SPD hineingeblasen wird. Aber, wie gesagt, hoffen wir auf den sozialdemokratischen Parteitag! Vielleicht hoffen auch Sie auf den sozialdemokratischen Parteitag. Sie werden dann sehen, wie in dieser Frage eine wirkliche, demokratische Diskussion geführt wird.Zum Schluß, meine Damen und Herren: uns bedrückt folgendes. Sechs Jahre nach jener Diskussion, von der wir damals sagten — ich hatte damals leider die schwere Aufgabe, es Ihnen zu sagen, und
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944 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
WehnerSie waren seinerzeit sehr unfreundlich —, Sie seien im Begriffe, eine Türe zuzuschlagen — das gehört auch in den Zettelkasten; das haben Sie sich nicht mit heraussuchen lassen, weil das ein Vorwurf war —, haben wir den Eindruck: diese damals zugeschlagene Tür wird jetzt noch mit Bandeisen und Stahlschienen verrammelt und verschlossen. Es besteht die große Gefahr, daß sie nicht mehr zu öffnen sein wird. Das ist das, was uns bedrückt.Wir finden, es sind zwei Entschlüsse notwendigzu ihnen wollen wir mit unseren Anträgen etwas beitragen —, zwei Entschlüsse, wenn der Weg zur Wiedervereinigung noch gefunden werden soll.Der erste Entschluß ist: wir müssen einen eigenen Beitrag zur militärischen Entspannung leisten. Unsere Anträge wollen dazu Ansätze schaffen: vor allem ein Ja, endlich ein Ja auch unserer Bundesregierung zu den Verhandlungen über den polnischen Vorschlag. Wenn Sie ja zu Verhandlungen sagen, dann haben Sie noch nicht die Verpflichtung, von vornherein ja zum Vorschlag, wie er einmal ist, zu sagen; aber um Himmels willen, sagen Sie doch ja zu Verhandlungen.
Warum sollte es denn so abwegig sein, unserem Antrag näherzutreten, abwegig, sich mit ihm sachlich zu befassen, mit unserem Antrag, der einen deutschen Schritt, einen deutschen Vorschlag zustande bringen helfen will: daß unsere Regierung an alle die Mächte, die keine Atomsprengkörper herstellen oder besitzen, herantritt, um sie zu dem Übereinkommen zu bewegen, mit dem zugleich Hilfsstellung für die Atomweltmächte zu leisten wäre, weil in der Zwischenzeit, in der sie über die allgemeine Abrüstung, die kontrollierte Abrüstung und die damit verbundene Achtung der Atomwaffen verhandeln, nichts geschehen kann, was dem Atomchaos Vorschub leistet. Warum sollte das so abwegig sein? Entschuldigen Sie die Frage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
akut werden diese Sachen mit den Mittelstreckenraketen sowieso wohl erst nach zwei Jahren. Ja, sehr verehrter Herr Minister und Herr Bundeskanzler, wenn's so ist, was hindert Sie dann, z. B. sogar mit der Modifikation unserem Antrag beizutreten: man will's mal für zwei Jahre versuchen? Was wäre das für ein deutsches Beispiel!
Sie sagen: Leistungen ohne Gegenleistung? Ich höre das so. Ich glaube, das wäre ein falscher Begriff dafür. Oder ist die Wirklichkeit, der wir ins Auge sehen müssen, schon die, daß eigentlich jeden Tag etwas geschieht, Schritt für Schritt, Stufe um Stufe, um diese Einbeziehung des geteilten Deutschland in das lebensgefährliche Experiment der Atomwettrüstung unwiderruflich zu machen?
Das erste war also ein erster Schritt, ein eigener Beitrag zur militärischen Entspannung, und das zweite wäre eine innerdeutsche Politik, die in der erklärten Absicht zu führen wäre, Deutschland, auch solange es noch gespalten ist, nicht zu einem Krisenherd werden zu lassen, statt einer Politik, die auf die Krise, den Zusammenbruch, die Eruption auf der anderen Seite setzt, was ja heute wohl der Fall ist; eine innerdeutsche Politik mit dem Ziel, die Teile Deutschlands wieder näher zueinander zu bringen und dadurch eine gewisse Angleichung durchsetzen zu können. Dafür gibt es manche Vorschläge. Ich habe mir erlaubt, den Vorschlag einer deutschen Wirtschaftsgemeinschaft zur Diskussion zu stellen. Warum in einer Zeit, in der wir Verpflichtungen für eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft übernommen haben, denen auch meine Fraktion zugestimmt hat, nicht eine deutsche Wirtschaftsgemeinschaft? Darüber sollte an Ort und Stelle und unter Zugrundelegung der erforderlichen Tatbestände doch gesprochen werden können. Ich deute es hier nur an, deute an, daß der Versuch gemacht werden muß, nach allem, was hinter uns liegt, nun wenigstens in Etappen zur Wiedervereinigung zu kommen.
Das, meine Damen und Herren, ist unsere Absicht, das ist das, was wir in der deutschen Politik möglich machen wollen; allerdings in einer Kräftekonstellation, die einen zwingt, zuzugeben, daß Sie, die Sie die absolute Mehrheit verkörpern, die Entscheidung in der Frage haben, ob das lebensgefährlichste Experiment, Hineinziehung des geteilten Deutschlands ins Atomwettrüsten, noch verhindert werden kann oder nicht.
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Herr Kollege Wehner hat über Ausführungen von mir von gestern gesprochen und sonst noch einige Ausführungen gemacht, die mich nötigen, das Wort zu ergreifen. Ich werde nicht über das Hauptthema, über das er gesprochen hat, sprechen. Ich darf wohl annehmen, daß der Bundesaußenminister und Mitglieder der Regierungsfraktionen noch dazu sprechen.Er hat mir zum Vorwurf gemacht — damit begann er —, daß ich in meiner bekannten Weise vereinfache und vereinfacht spreche. Ich betrachte das als einen Vorzug, meine Damen und Herren.
Ich gebe ohne weiteres zu, Herr Kollege Wehner, ich erfreue mich nicht der dialektischen Schulung und Gewandtheit wie Sie.
Deswegen bleibt mir ja gar nichts anderes übrig, als so zu sprechen, wie ich es nun einmal gewöhnt bin und gelernt habe: einfach.Dann habe ich einige Sachen von Ihnen nicht verstanden; aber anscheinend haben Sie sich da versprochen, Sie haben namentlich zum Schluß gesagt, daß der Bundeskanzler darauf poche, mit der SU, also mit der Sowjetunion, über die mit einem Friedensvertrag zusammenhängenden Fragen nicht sprechen zu wollen. Ich nehme an, Sie haben sich versprochen, Sie haben nicht die SU gemeint. Ich bin selbstverständlich jederzeit bereit, mit
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 945
Bundeskanzler Dr. Adenauerder Sowjetunion über solche Fragen zu sprechen. Ich halte es für nötig, auch für den Fall, daß es ein Versprechen von Ihnen war, sehr klar und deutlich hier zu sagen, daß ich dazu jederzeit bereit bin.
Sie haben dann meinen noch gar nicht bestehenden Ruf als Prophet angreifen wollen. Prophet sein ist ein schlechtes Geschäft in einer Welt wie der unsrigen. Sie haben mir zum Vorwurf gemacht, ich hätte vor einem Jahr eine Wende in den Beziehungen auch zur SU angekündigt. Nun, verehrter Herr Kollege Wehner: ist Ihnen denn nicht bekannt, daß sich in den letzten zwölf Monaten in der Sowjetunion eine Wende vollzogen hat? Ich glaube, das wissen wir doch alle. Lassen Sie mich da nur zwei Tatsachen erwähnen. Einmal: ein Wechsel in der Führung; zweitens: der letzte Parteikongreß der Sowjetunion, der zu allen vorhergehenden Erklärungen über die Beseitigung des Stalinismus in schroffstem Gegensatz stand.
— Wie meinen Sie? — Das war doch in den letzten zwölf Monaten.
Herr Wehner hat mir ja vorgeworfen, ich hätte vor einem Jahr falsch prophezeit, und ich habe mir nur erlaubt, darauf aufmerksam zu machen, daß sich in der Sowjetunion in den zwölf Monaten allerhand ereignet habe, von dem wenigstens wir Außenstehenden nichts wissen konnten.Dann möchte ich noch einmal mit allem Nachdruck vor Ihnen und vor der deutschen Öffentlichkeit erklären, wie nach meiner Meinung unsere Aufgabenstellung ist.Wir haben zuerst die Verpflichtung, für die Sicherheit und die Freiheit der 52 Millionen Einwohner der Bundesrepublik zu sorgen.
Nur dann, wenn es uns gelingt, die Freiheit und Sicherheit der Bundesrepublik zu gewährleisten, können wir mit Aussicht auf Erfolg auch an die uns im Herzen zutiefst bewegende Arbeit gehen, für die 17 Millionen Deutschen in der Ostzone zu sorgen, damit auch sie die Freiheit bekommen.
— Ich habe den Zwischenruf gehört: „Das ist selbstverständlich!" Ich freue mich über den Zwischenruf,meine Damen und Herren; ich freue mich aufrichtigdarüber. Denn, wenn Sie das anerkennen, und wennSie die Weltlage betrachten, wenn Sie sehen, wiesich die Dinge zugespitzt haben — hoffentlich aufeine Lösung hin, denn wenn diese Hoffnung täuschen würde, wenn eine Entspannung nicht kommenwürde, wären die Dinge nachher schlimmer als vorher; also ich sage: hoffentlich auf eine Lösung! —,dann werden Sie doch auch meinen Standpunkt undden Standpunkt der Bundesregierung und denStandpunkt der Mehrheit dieses Hauses, der gesternund heute dargelegt worden ist, verstehen, derdahin geht: wir dürfen nichts tun, was die Positionder freien Welt gegenüber der Sowjetunion schwächt.
Und ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: es sind nun einmal jetzt — wir können nicht dafür, die Verhältnisse haben das gebracht — Überlegungen im Gange, ob eine Änderung der technischen und sonstigen Organisation der NATO nötig ist oder nicht. Wenn die Entscheidung dahin fällt: „Sie ist nötig!" — und ich habe gestern auch gesagt: selbstverständlich haben wir das gute Recht und die Pflicht, diese Entscheidung von uns aus nachzuprüfen , wenn die Entscheidung so fällt und wenn wir sie dann für richtig halten, ihr aber nicht folgen, dann schwächen wir die NATO in einer Weise, meine Damen und Herren, daß die NATO bei den großen Weltverhandlungen einfach nicht mehr mitzählt.
Das ist mein Standpunkt. In dieser Frage gipfelt die heutige Diskussion.
Dabei bleibe ich, und Sie können jetzt über die Noten von 1952 bis 1954 meinetwegen drei Tage reden; dies ändert nichts daran, daß das die akute Frage ist,
und zu dieser akuten Frage muß die Bundesregierung und muß der Bundestag Stellung nehmen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen.
Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Herrn Kollegen Wehner veranlassen mich doch zu einigen Korrekturen, zu einigen Bemerkungen. Zunächst einmal hat Herr Kollege Wehner die nicht mehr sehr neue und auch nicht mehr sehr originelle Behauptung wiederholt, die Bundesregierung und die hinter ihr stehenden Parteien hätten den Eintritt in die Atlantische Gemeinschaft damit begründet, daß dieser Eintritt die Wiedervereinigung herbeiführe. Wie oft muß es noch gesagt werden, daß das nicht richtig ist, daß wir aber wohl der Meinung waren, sind und bleiben, daß wir die Wiedervereinigung nur erreichen, wenn wir sie anstreben zusammen mit Bündnispartnern, die sich dieses Anliegen zu eigen machen?
Und warum ist es eigentlich so, daß man in anderen Teilen der Welt, auch in den sozialistischen Parteien, diese Dinge so klar sieht, und warum ist es so, daß man sie hier nicht sieht?Darf ich auf das verweisen — Sie haben vonOsterreich gesprochen und mir damit ein Stichwort gegeben —, was noch vor wenigen Tagen der Ihnen sicherlich bekannte sozialdemokratische österreichische Nationalrat Czermetz gesagt hat? Er hat erklärt, als er über die Österreichfrage sprach, man habe geglaubt, daß das Scheitern der
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946 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Bundesaußenminister Dr. v. BrentanoEVG die sowjetische Nachgiebigkeit erhöhen werde. Das Gegenteil war der Fall. Nie sei die Haltung der Sowjets gegenüber den Westmächten und Österreich versteifter gewesen als nach dem Fall der EVG. Er fährt dann fort, er sei sich bewußt, daß Österreich seinen Staatsvertrag nicht in der Zeit der Schwäche nach dem Scheitern der EVG, sondern deswegen erhalten habe, weil der Westen im Zeitpunkt der Abschließung der Pariser Verträge eine entschlossene Politik der Stärke betrieben habe.
Soweit ein österreichischer Sozialdemokrat.
Sie haben mir dann vorgeworfen, Herr Kollege Wehner, ich hätte gestern die Abrüstung in einer Weise mit der Frage der Wiedervereinigung gekoppelt, daß ich damit die Abrüstung praktisch unmöglich gemacht hätte. Sie haben die Politik des Alles oder Nichts beanstandet. Herr Kollege Wehner, ich glaube, Sie haben meine Ausführungen nicht gelesen. Meine Ausführungen entsprechen im wesentlichen dem, was ein anderer Redner, Herr Kollege Ollenhauer, hier im Hause einmal gesagt hat:So vordringlich und so umfassend das Problem der allgemeinen Abrüstung ist, es wird sich auch hier um einen langwierigen Prozeß handeln, ehe wir zu einem Erfolg kommen können. Unter keinen Umständen darf die Vorrangsbedeutung der Abrüstung dahin gehen, daß wir uns damit abfinden, die Diskussion über die Wiederherstellung der deutschen Einheit könne nur ein Resultat einer erfolgreichen internationalen Abrüstung sein. Sondern wir müssen auf der Linie argumentieren, daß die Wiederherstellung der deutschen Einheit eine Abmachung über internationale Abrüstung erleichtert, weil sie einen entscheidenden Gefahrenpunkt in der europäischen Politik aus der Welt schafft.Soweit Herr Kollege Ollenhauer. Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich in dieser Beurteilung voll und ganz mit ihm übereinstimme. Und wenn Sie mir vorwerfen, daß ich mit meiner These die Abrüstung erschwerte, dann müssen Sie diesen Vorwurf Ihrem eigenen Parteivorsitzenden machen.
Es liegt mir daran, noch zu den Ausführungen zu sprechen, die Herr Kollege Wehner zu den Vorgängen in den Jahren 1952 und 1953 gemacht hat. Meine Damen und Herren, es ist wirklich an der Zeit, daß wir hier einer peinlichen Legendenbildung entgegentreten.
Legenden werden nicht dadurch Wahrheit, daß man sie immer von neuem wiederholt.
Wenn man den Herrn Kollegen Wehner gehört hat, mußte man den Eindruck haben, daß die Bundesregierung im Jahre 1952 sich eifrig bemüht habe, alles zu tun, was der Einheit schädlich, und alles zu verhindern, was ihr förderlich sein könnte. Herr Kollege Wehner hat die Note der Sowjetunion genannt. Sie wissen selbst, es handelt sich insgesamt um vier Noten der sowjetischen Regierung, die im Jahre 1952 herausgegangen sind, vier Noten, in deren Beurteilung wir damals — vergessen Sie das nicht! — einig waren. Denn damals, Herr Kollege Wehner, haben auch Sie sich leidenschaftlich gegen die Vorschaltung eines Provisoriums gewandt. Das war der Ausgangspunkt der Diskussion bei allen diesen Noten, und in allen Noten war dieses Provisorium vorgeschaltet. Ich stelle mit einer gewissen Nachdenklichkeit fest, daß in dieser Frage Ihre Auffassung offenbar eine andere geworden ist; denn was Sie heute über das Gespräch mit der DDR gesagt haben, scheint mir so auszulegen zu sein, daß Ihre Bedenken gegen die Vorschaltung eines Provisoriums nicht mehr oder nicht mehr im gleichen Umfange bestehen.
Aber was ist geschehen, nachdem die sowjetrussischen Noten gekommen waren? Darf ich Sie daran erinnern, daß damals die Vereinten Nationen einen Unterausschuß zur Untersuchung der Voraussetzung für. freie Wahlen eingesetzt haben? Darf ich Sie daran erinnern, daß dieser Unterausschuß am 30. April 1952 in seinem ersten Bericht erklärt hat, daß sämtliche Briefe und Anfragen an die Sowjetunion unbeantwortet geblieben seien? Darf ich Sie daran erinnern, daß dieser Ausschuß weiterhin seine guten Dienste bereitgehalten und am 5. August 1952 erneut einen Bericht erstattet hat? Darin heißt es:Während der drei Monate, die der Ausschuß unter nicht geringen Opfern der beteiligten Mitgliederregierungen in Genf in beständiger Tagung blieb und jederzeit bereit war, seine Aufgabe in Angriff zu nehmen, sobald es möglich war oder möglich schien, einen dahingehenden Versuch zu unternehmen, war es immer offensichtlicher geworden, daß die mangelnde Bereitschaft zur Mitarbeit und Unterstützung des Ausschusses bei der Erfüllung seiner Aufgaben, die auf der 6. Tagung der Vollversammlung seitens der Vertreter der UdSSR und der sowjetischen Behörden an den Tag gelegt wurde, unverändert fortbesteht.Meine Damen und Herren, darf ich Sie daran erinnern, daß wir dann im Jahre 1953 einmütig eine Entschließung gefaßt haben, von der Sie heute sagen, Herr Kollege Wehner, Sie hätten ihr nur zugestimmt, weil damit noch eine gewisse Freiheit der Bundesrepublik gegenüber dem Westen erhalten werden sollte? Ich darf dazu auf das verweisen, was Herr Kollege Ollenhauer an diesem Tage gesagt hat. Er hat dieser Entschließung nicht zugestimmt mit der Begründung: Wir müssen uns gegenüber dem Westen eine Entschließungsfreiheit bewahren. Er hat vielmehr gesagt:Was in dieser Entschließung steht, sind Feststellungen, die in den vergangenen Diskussionen gemeinsam von der Koalition und von der Sozialdemokratie getroffen worden sind. Die
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Bundesaußenminister Dr. von BrentanoSozialdemokratie sieht nicht den geringstenAnlaß, von den Beschlüssen, die hier zitiert und die mit ihrer Zustimmung gefaßt worden sind, abzugehen.
Wir sind der Meinung, daß es sich hier um die Feststellung einer Selbstverständlichkeit handelt.
Herr Kollege Wehner, danach steht es Ihnen wohl nicht gut an, heute zu sagen, man habe damals dieser Entschließung zugestimmt, weil sie ein Minimum an Freiheit gegenüber dem Westen garantiert habe.Darf ich Sie daran erinnern, daß die Bundesregierung am 1. Juli 1953 dann ein Sofortprogramm über die Wiedervereinigung vorgelegt hat. Die Hauptpunkte dieses Programms waren: Öffnung aller Zonenübergänge, Aufhebung der Sperr- und evakuierten Zonen, Freizügigkeit aller Deutschen in ganz Deutschland, Presse- und Versammlungsfreiheit, Zulassung der Parteien, Schaffung demokratischer Rechtsformen zum Schutze der Menschen gegen Willkür und Terror. Auch dieses Sofortprogramm wurde abgelehnt. Wir haben es damals, weil wir noch keine eigene Außenpolitik zu treiben in der Lage waren, durch die Außenminister und Ministerpräsidenten der westlichen Alliierten der Sowjetunion zuleiten lassen. Darf ich daran erinnern, daß dann die Vereinigten Staaten, Frank-3 reich und das Vereinigte Königreich am 15. Juli 1953 erneut eine Note an die Sowjetunion gerichtet haben. Sie 'haben eine Konferenz mit begrenzter Dauer vorgeschlagen. Sie haben das Thema für die Diskussion vorgeschlagen : Organisation freier Wahlen — Organisation freier Wahlen, meine Damen und Herren, in der Bundesrepublik, in der Ostzone und in Berlin. Das Thema würde unter anderem die Aussprache über die notwendige Garantie für die Freizügigkeit des Reisens, die Aktionsfreiheit für Parteien und anderes mehr bedingen. Auch diese Note wurde abgelehnt, blieb ohne Antwort.Dann kam die Berliner Konferenz. Über diese Berliner Konferenz haben Sie harte Worte gesprochen, Herr Kollege Wehner. Sie waren der Meinung, daß man auch damals die Möglichkeiten nicht ausgenutzt hat. Darf ich Sie daran erinnern, daß wir hier am 25. Februar 1954 einmütig — auch mit Ihren Stimmen, Herr Kollege Wehner — eine Entschließung gefaßt haben, in der es heißt:Der Deutsche Bundestag bedauert auf das tiefste, daß die Berliner Konferenz keine Lösung der Deutschlandfrage gebracht hat. Aus den Stellungnahmen des sowjetischen Außenministers geht eindeutig hervor, daß die Sowjetunion heute nicht willens ist, die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit zuzulassen. Der Deutsche Bundestag dankt den Außenministern der Westmächte, daß sie sich mit großer Entschiedenheit für die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit eingesetzt haben.Meine Damen und Herren! Diesem Dank an die Vertreter der Westmächte haben Sie sich in dieser Entschließung angeschlossen. Was soll es denn heute bedeuten, daß Sie der Bundesregierung, daß Sie den Westmächten den Vorwurf machen, sie hätten in den Jahren 1952, 1953 und 1954 alles getan, um eine Lösung der Deutschlandfrage zu sabotieren.
Ich glaube, daß wir hier keine gute Aussprache führen, wenn wir so tun, als läge die Schuld an dem, was wir heute zu beklagen haben, hier in Deutschland bei der Bundesregierung sowie beim Bundestag, und wenn wir darüber vergessen, daß es eine Macht gibt, an die wir eine Forderung haben, eine politische, eine menschliche, eine moralische Forderung, und daß diese eine Macht — das ist die Sowjetunion — bisher, bis zur Stunde auf diese Forderung, die wir gemeinsam mit den Nationen der freien Welt und gemeinsam mit Ihnen erhoben haben, nur nein geantwortet hat.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Jaeger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Herr Abgeordnete Wehner hat in seinen Ausführungen, vor allem auch in seinem zweifellos von Ernst getragenem Schlußwort erneut die Frage aufgeworfen, die eine hiesige Zeitung veranlaßt hat, über die Bundestagsdebatte die Überschrift zu setzen: „Atomwaffen — ja oder nein". Zweifellos ist dies die Frage, die in dieser Debatte am meisten die Gemüter erregt, und das mit Recht, da es sich um eine Frage von ungeheurem Ernst handelt, einem Ernst, den wir weiß Gott nicht minder erkennen als diejenigen, die die Zustimmung hierzu verweigern wollen. Im Gegenteil, diejenigen, die die Verantwortung tragen, müssen sich wohl über den Ernst dieser Situation in besonderer Weise klar sein.Es handelt sich, wie der NATO-Oberbefehlshaber General Norstad mit Recht gesagt hat, um eine politische Entscheidung, wenn auch auf der Grundlage der heutigen Militärtechnik. Es handelt sich um eine politische Entscheidung und auch, meine Damen und Herren, um eine Entscheidung, die in diesem Hohen Hause getroffen wird. Es sind keine vollendete Tatsachen geschaffen! Tatsachen werden erst geschaffen werden, wenn dieses Haus seine Entscheidung gefällt hat.Der Herr Abgeordnete Dr. Arndt hat gestern den schweren Vorwurf gegen die Regierungsparteien erhoben, sie hätten die Bundestagswahl unter falschen Voraussetzungen geführt, sie hätten vor der Wahl erklärt, daß sie gegen Atomwaffen seien, und nunmehr träten sie für diese Atomwaffen ein. Meine Damen und Herren, es ist in diesem Hause üblich geworden, daß man sich immer wechselseitig zitiert. Sich selbst zitiert man wenig. Wenn sich ge-
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Vizepräsident Dr. Jaegerwisse Herren selbst zitieren würden, würde es vielleicht besonders interessant werden. Aber ich möchte hier zu Anfang meiner Ausführungen das wiederholen, was ich als Sprecher meiner Fraktion in Verteidigungsfragen am 22. Mai 1957, also zu einer Zeit, in der längst der Wahlkampf heraufgezogen war, zu dieser Frage in diesem Hohen Hause gesagt habe. Ich habe damals gesagt:. . . alle Mitglieder unserer Fraktion hoffen aus vollem Herzen, daß eine atomare Ausrüstung der Bundeswehr nicht notwendig sein wird, . . . weil wir alle hoffen, daß die kontrollierte Abrüstung auf atomarem und konventionellem Gebiet bis zu dem Zeitpunkt, wo das technisch überhaupt erörterungswert ist, . . . gelungen ist.Diese Meinung und unser aller Hoffen, auch Ihr Hoffen, auf ein Gelingen der Abrüstungsverhandlungen gründeten sich auf die Tatsache der Konferenz in London. Diese Konferenz ist wenige Tage vor der Bundestagswahl gescheitert. Damit ist zweifellos eine ganz andere Situation geschaffen. Wir haben uns niemals gegen die Atomwaffen ausgesprochen, sondern wir haben damals die Entscheidung vertagt mit der Begründung und in der Hoffnung, daß die Abrüstungskonferenz in London uns diese Entscheidung überhaupt ersparen wird.
Daß uns die Konferenz in London das nicht erspart hat, daß die Konferenz gescheitert ist, daran ist von allen Mächten am wenigsten die Bundesrepublik schuld, die dort überhaupt nicht vertreten war.Nun aber scheint der Zeitpunkt einer Entscheidung gekommen, nicht zuletzt auch, weil die Oppositionsparteien mit ihrem Antrag solch eine Entscheidung selbst herbeiführen wollen. Außerdem ist wegen der Dauer der Ausbildung an solchen Waffen von etwa 18 Monaten eine frühzeitige Entscheidung notwendig. Wir wollen nicht, daß dieses Hohe Haus vor vollendete Tatsachen gestellt wird, wir wollen die Entscheidung selbst fällen.Man kann diese ernste Frage nur beantworten, indem man unserem deutschen Volk die ungeschminkte Wahrheit sagt. Man kann nicht mit Schlagworten darüber hinwegtäuschen. Wir wollen diese Auseinandersetzung in Offenheit und Redlichkeit führen. Wir wollen nichts verkleinern, und wir wollen nichts übertreiben. Von „gemütlichen Sachen", Herr Kollege Erler, haben wir alle miteinander nicht gesprochen. Wir wissen, daß moderne Waffen — auch konventionelle übrigens, erst recht diese — alles andere als gemütliche Sachen, vielmehr höchst ungemütliche Sachen sind. Aber man soll die Dinge auch nicht ins Uferlose übertreiben und soll nicht tun, als ob hier eine völlig neue Tatsache geschaffen werde, wo es sich doch, im großen gesehen, um eine längst bekannte Tatsache handelt. Seit rund vier Jahren bereits lagern auf dem Gebiet der Bundesrepublik atomare Waffen. Das wissen nicht nur die Mitglieder des Verteidigungsausschusses, das ist öffentlich gesagt worden. Ich will, damit ich einen möglichst glaubwürdigen Zeugen anführe, den Herrn Kollegen Mellies zitieren, der im „Hamburger Echo" am 23. August 1956 geschrieben hat:In der Bundesrepublik sind, wie jeder weiß, Atomkanonen stationiert.Also der Herr Kollege Mellies stellt fest, daß es jeder weiß. Dann, glaube ich, darf auch ich es feststellen, und dann geht daraus hervor, daß die von Ihnen behauptete Gefahr, die aus dem Vorhandensein solcher Sprengköpfe in Deutschland herrührt, gar nicht eine so neue Angelegenheit ist.
Sie haben recht, wenn Sie sagen — und ich bestreite das nicht —, daß die Unterscheidung, die strategischen Atomwaffen seien große und die anderen kleine Waffen, eine ungenaue, sozusagen über den Daumen gepeilte Unterscheidung ist. Wir wollen uns darauf gar nicht einlassen, sondern wir wollen ganz konkret feststellen, über was das Hohe Haus jetzt entscheiden muß und was mit der Zustimmung zu taktischen Atomwaffen nicht betroffen wird.Zuerst einmal werden damit für unsere Bundeswehr keineswegs Wasserstoffbomben, also die furchtbarste Waffe, die die Menschheit bisher erfunden hat, angeschafft, denn diese Waffe kann nur strategisch und nicht taktisch angewandt werden. Sodann werden damit weder Interkontinentalraketen noch die viel besprochenen mittleren Raketen angeschafft. Wir haben Grund zu der Annahme — es wurde auch schon von amtlicher Seite erklärt —, daß an die Stationierung dieser mittleren Raketen in der Bundesrepublik auf eine Reihe von Jahren nicht gedacht ist, und später wird vielleicht diese Rakete längst wieder überholt sein. Sie geben nicht Ihre Zustimmung zur Produktion atomarer Waffen, meine Damen und Herren; denn wir haben in einem Vertrag, an dem eine Reihe anderer westlicher Staaten beteiligt sind, hierauf verzichtet, und dieser Vertrag besteht in voller Gültigkeit. Schließlich und endlich aber hat auch die Bundeswehr wie alle anderen Staaten, die mit diesen Waffen ausgestattet werden, keine Verfügungsgewalt über die Atomarsprengköpfe. Diese verbleibt bei den Vereinigten Staaten.Wenn man der merkwürdigen Meinung ist, die der Herr Kollege Maier — verzeihen Sie, ich muß ihn ja mit dem vollen Titel anreden —, die der Herr Kollege Altministerpräsident Abgeordneter Dr. Reinhold Maier
ausgesprochen hat, daß der Herr Verteidigungsminister schießen würde, d. h. daß man einem deutschen militärischen und zivilen Vorgesetzten mehr mißtrauen muß als einem alliierten militärischen oder zivilen Vorgesetzten —, ich kann dazu nur sagen: eine sehr merkwürdige und eine sehr traurige Meinung! —,
wenn jemand also diese Meinung teilt, so mußman entgegenhalten: der deutsche Verteidigungs-
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Vizepräsident Dr. Jaegerminister — er heiße, wie er wolle — hat gar nicht die Verfügungsgewalt. Den Schlüssel behalten nach den Gesetzen der Vereinigten Staaten die Generale der Amerikaner.
Sodann möchte ich einmal auf etwas aufmerksam machen, was bei dieser Waffe besonders auffällig ist. Wenn eine Waffe erfunden wird, dann ist es im allgemeinen so, daß man die Wirkung dieser Waffe zu steigern versucht und daß man sie immer weiter und immer mächtiger und immer kräftiger entwickelt. Seit die Atombombe erfunden wurde, bemühen sich die Ingenieure, diese Waffe für Zwecke der Kriegführung möglichst klein zu machen, um sie in die Hand zu bekommen. Es ist überholt, was Herr Kollege Erler sagt, daß die kleinste taktische Atombombe die Größe der Bombe von Hiroshima hat. Ich habe mich vor dieser Debatte genau bei den Fachleuten, auf die Sie sich sonst so gern berufen, erkundigt. Sie haben festgestellt, daß es bereits gelungen ist, die Bomben auf ein Drittel zu verkleinern, und man hofft, sie in Bälde auf ein Zehntel zu verkleinern.Meine Damen und Herren, auch diese Hoffnung ist nichts Neues. Ich darf wieder aus dem gleichen Artikel des Herrn Kollegen Mellies zitieren, der damals — schon 1956, wo er offenbar selbst schon sehr gut informiert war — gesagt hat:Man macht heute alle Anstrengungen, um für Waffen möglichst kleinen Kalibers auch Atomgeschosse zu verwenden. Was heute noch unmöglich erscheint, wird bei der rasenden Entwicklung morgen oder übermorgen bereits Tatsache sein.
Herr Abgeordneter Dr. Jaeger, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Bucher?
Bitte!
Herr Abgeordnete Jaeger, glauben Sie im Ernst, daß, wenn es gelänge, die Verkleinerung und Verniedlichung dieser Waffen herbeizuführen
— „Verniedlichung" in Anführungszeichen —, es dann bei der Anwendung dieser Waffen bleiben würde? Glauben Sie nicht vielmehr, daß jede Macht, die solche Waffen besitzt, vielleicht zuerst aus einer Art Ritterlichkeit mit den kleinen beginnen würde, aber dann zwangsläufig dazu getrieben würde, die großen einzusetzen?
Herr Kollege Bucher, von einer Verniedlichung wollen wir hier nicht reden. Auch diese kleinen taktischen Waffen werden, wie schon die Phosphorbomben und sonstige Bomben des letzten Krieges furchtbar sein. Ich glaube allerdings, daß, wenn es im mitteleuropäischen Raum solche „kleine" Waffen gibt, die Generalität die kleinen und nicht die großen einsetzen wird, und zwar deswegen, weil ein General siegen und nicht zerstören will. Zu diesem Zweck wird er sich sicherlich im taktischen Bereich an diese „kleinen" Waffen halten. Erst recht werden es die Offiziere der Bundeswehr tun, wenn sie einmal über solche Waffen verfügen sollten, was vorerst überhaupt noch nicht der Fall ist.
Ein doch so unbefangener Journalist wie Herr Kempski von der „Süddeutschen Zeitung", der wie seine ganze Zeitung bestimmt nicht im Kielwasser der CDU/CSU schwimmt, hat in seinem Bericht aus Hiroshima festgestellt, daß es sich selbst bei dieser Bombe nicht um einen Weltuntergang gehandelt habe und daß es für den einzelnen eine Lebenschance gebe. So sagen die Amerikaner in ihrer Propaganda: „Schütze Dein Leben!", und daraus ziehen sie gewisse Konsequenzen, die, wie ich weiß, auch der Herr Bundesminister des Innern bei uns zu ziehen bereit ist.Aber ich will gar nicht bei Herrn Kempski bleiben; ich habe einen viel unverfänglicheren Zeugen. Durch eine Indiskretion, für die ich nicht verantwortlich bin, ist ein hochinteressantes Gutachten aus sozialdemokratischen Kreisen in „Politik und Wirtschaft" — ich glaube, diese Zeitschrift war es — veröffentlicht worden, aus dem, gezeichnet wohl von dem Militärsachverständigen der SPD, dem Herrn Oberstleutnant a. D. Dr. Beermann, zu dieser Frage eine sehr offene Meinung spricht. Hier heißt es, man solle sich nicht immer das unvorstellbare Chaos vorstellen:Es muß Verwahrung gegen eine einseitig abstrakte Betrachtungsweise eingelegt werden, die nur auf diesen schwersten Fall abstellt und daher alle militärischen Maßnahmen für sinnlos hält. In diesem Falle besteht kein militärisches Rezept, wenn der schwerste Fall nicht eintritt Diese Möglichkeit besteht aber durchaus.Sie haben hier also immerhin die Meinung eines sozialdemokratischen Fachmanns, meine Damen und Herren.Es ist außerdem noch einmal zu betonen, daß ich für meine Person, um den Krieg abzulehnen, nicht die Erfindung der Atombombe habe abwarten müssen; denn ich habe im letzten Kriege so viel Grauenvolles durch die damaligen Waffen gesehen, daß ich der Meinung bin, ihre Wirkung allein müßte uns alle veranlassen, alles zu tun, um den Ausbruch eines neuen Krieges zu verhindern.
Lassen Sie sich informieren, und zwar auch hier wieder von Herrn Dr. Beermann. Sie können in seinem Gutachten lesen:Das Verbot, die Bundeswehr mit atomaren Waffen jeder Art auszurüsten, macht insbesondere den Aufbau einer wirkungsvollen Luftabwehr gegen bemannte Bomber unmöglich.Es ist eben eine Tatsache, daß Überschallbomber nur mit diesen atomaren Waffen, bevor sie ihre Atombomben abwerfen, in der Luft vernichtet werden können.
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950 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Vizepräsident Dr. JaegerAußerdem bitte ich Sie, zu bedenken, daß die Rote Armee diese Kernwaffen bereits besitzt, auf fahrbaren Rampen besitzt. Ich frage Sie, was soll denn in aller Welt die NATO-Armee machen, um sich dagegen zu schützen? Muß sie nicht die gleichen Waffen haben, über die der potentielle Gegner verfügt? Außerdem ist Ihnen die Überlegenheit der Sowjetunion an konventionellen Waffen bekannt. Warum ist die Sowjetunion an konventionellen Waffen überlegen? Weil der Westen einseitig abgerüstet hat — ein Fehler, den Sie jetzt wiederholen möchten — und weil er nachher, als er die Gefahr erkannte, nicht so in den Geldbeutel gegriffen hat, wie es notwendig wäre, um konventionell gleichzuziehen. Was uns Deutsche betrifft, so sind ein hinderndes Moment hierbei schließlich die Abgeordneten der Opposition gewesen, die jeder Beschaffung, auch der mit konventionellen Waffen, die Zustimmung verweigert haben.
Es fragt sich in dieser Situation, ob wir überhaupt ehrlich an eine Verteidigung glauben, wenn wir diese modernen Waffen nicht beschaffen. Auch da will ich einen unverfänglichen Zeugen zitieren. Mein verehrter Kollege Herr Professor Carlo Schmid hat im Nest-Verlag 1955 ein Büchlein „Weltmacht Atom" herausgegeben, ein sehr lesenswertes Büchlein, in dem sich auch folgender Satz findet:Um die heutigen 175 sowjetischen Friedensdivisionen auszugleichen, brauchen die Vereinigten Staaten von Amerika, nachdem sie die konventionellen Waffen abgerüstet haben, nun einmal die qualitative Überlegenheit; und qualitative Überlegenheit heißt heute: Atombomben.Daß also diese Waffen für die NATO notwendig sind, daran hat sogar einer der maßgebendsten Sprecher, ein stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, offensichtlich gar keinen Zweifel.Auch ein anderer, ebenso maßgeblicher Sprecher, der auch stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion ist, der Herr Kollege Erler, hat im Hessischen Rundfunk am 12. September 1956 erklärt:Es hilft gar nichts, nun etwa mit 5Q0 000 deutschen Soldaten eine Lücke schließen zu wollen und zu glauben, daß man dann der Sowjetunion gewachsen wäre. Mit 500 000 deutschen Soldaten sind wir das ohne die Zuhilfenahme der taktischen Atomwaffen der anderen auch nicht.
Gewiß, er spricht noch nicht von den deutschen Atomwaffen, aber daß die deutschen Soldaten die taktischen Atomwaffen brauchen — die der anderen, meint er —, daran hat er damals keinen Zweifel gelassen.
— Herr Abgeordneter Erler, es wundert mich, daß Sie gerade erst in den Saal kommen und schon eine Frage haben, ehe Sie meine Rede hörten.
Zur Aufklärung: Ich habe die ganze Zeit hinten auf den letzten Bänken gesessen und von dort aufmerksam verfolgt, was Sie gesagt haben.
Ich frage nur, ob Ihnen aus meinen damaligen Ausführungen bekannt ist, daß ich dartun wollte, daß auch eine Bundeswehr von 500 000 Mann uns den Atomkrieg nicht erspart, wenn wir nicht entschlossen sind, alles auf die allgemeine Abrüstung zu setzen. Das war der Sinn.
Daß wir es auf die allgemeine Abrüstung abstellen, hat keine höhere Autorität als der Herr Bundeskanzler selbst deutlich genug gesagt. Ich brauche es gar nicht zu wiederholen. Wir haben es alle schon bekundet.
Ich kann dann aber aus Ihren Worten nur schließen, daß Sie einmal die Atomwaffen nicht für geeignet halten, uns zu verteidigen, und zum anderen der Meinung sind, die konventionellen Waffen seien es auch nicht. Dann frage ich: Welche Konzeption der Verteidigung haben Sie denn überhaupt?
Dann landen wir eben da, daß wir uns am Ende überhaupt nicht schützen können und daß die anderen uns nicht schützen werden, weil wir keinen Beitrag auf diesem Gebiet leisten.
Ich darf dann auch erneut die Frage stellen, die Sie nicht beantwortet haben — weder Herr Erler noch Herr Wehner hat sie beantwortet, obwohl sie der Herr Verteidigungsminister gestellt hat —, nämlich ob denn nun eigentlich keine sowjetische Bedrohung besteht. — Bitte, Herr Kollege Schmidt.
Leider kann ich im Augenblick nur eine Frage stellen, Herr Kollege Jaeger.
Sie können ja nachher reden.
Ich werde mich auf die Fragestellung beschränken, obwohl es — —
— Mir hat es an Mut noch nie gefehlt, Herr Rasner.Da Sie die Frage aufwerfen, womit man sich denn überhaupt verteidigen wolle, wenn man die Absicht habe, sich zu verteidigen, darf ich Sie fragen, ob Sie sich an das Wort des Herrn Bundeskanzlers erinnern, daß wir, ob bewaffnet oder nicht, im Falle eines Krieges auf jeden Fall im Chaos enden würden. Das hat er erst gestern noch ausgesprochen.
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Falls Sie den Herrn Bundeskanzler genau zitiert haben, darf ich Ihnen immerhin darauf erwidern, daß sich daraus, wie ich in meinen weiteren Ausführungen darlegen werde, eine Politik ergibt, die dazu führt, den Krieg durch Abschreckung zu verhindern. Zur Abschreckung aber braucht man Waffen.
Wir müssen erneut die Frage stellen, ob es eine sowjetische Bedrohung gibt oder nicht, und wir würden gern eine klare Antwort aus dem Munde eines der nächsten sozialdemokratischen Redner hören.
Ich bin in diesem Zusammenhang sehr bedenklich, daß die Herren der SPD doch offenbar die Gefahr der Sowjetunion verniedlichen, auch indem sie den prinzipiellen Unterschied zwischen der Politik der Sowjets und der Politik der Westmächte gar nicht erkennen. Wenn hier der Kollege Erler die Schuld für das Scheitern der Abrüstungsverhandlungen nicht nur der Nation feststellt, die mit ihren Satelliten tatsächlich allein Schuld trägt — der Sowjetunion, die nämlich den Vorschlag der Vereinten Nationen allein abgelehnt hat —, sondern auch noch eine Schuld der USA konstruieren will, wenn er damit die USA und die Sowjetunion international sozusagen moralisch auf die gleiche Ebene stellt, so muß ich sagen: da ist eine Blindheit für die Wirklichkeit der Welt vorhanden und auch eine Blindheit für die Wertordnung, die in beiden Staaten vertreten wird, die mich ebenso mit Sorge erfüllt wie das in seiner Rede und vielleicht noch mehr in einigen Zwischenrufen anderer Redner — Herr Mommer rief z. B., auch das US-Volk werde belogen; offenbar von seiner Regierung — doch langsam hervorkommende antiamerikanische Ressentiment, das wir Deutsche uns nicht leisten dürfen und zu dem auch kein Grund besteht.
Ebenso unverständlich ist mir der Satz, den Herr Kollege Erler gestern abend gesprochen hat: mit Erpressung sei die deutsche Frage nicht zu lösen. Abgesehen davon, daß gar niemand die deutsche Frage mit Erpressung lösen will, frage ich: Wer erpreßt denn seit zwölf Jahren? Erpreßt die kleine Bundesrepublik die große Sowjetunion? Ober treibt die Sowjetunion nicht ein schauriges Spiel mit der Freiheit von 17 Millionen deutscher Männer und Frauen?
Auch wegen der Wiedervereinigung ist es erforderlich, daß wir gesichert und geschützt sind, daß wir diese Bastion erhalten, von der aus die Wiedervereinigung allein möglich ist, das freie westliche Deutschland.
Ich darf auch hier den Kollegen Erler zitieren. Ich werde einmal nicht ein Zitat aus einer zurückliegenden Zeit von drei oder vier Jahren bringen, etwa Zitate, wo er sich für die allgemeine Wehrpflicht und dergleichen ausgesprochen hat; denn da hat ja nun seine Partei eine Kehrtwendung vollzogen.
Vielmehr zitiere ich ganz neu. Uns wurde gestern vorgeworfen, wir läsen nur die „Neue Zürcher Zeitung".
— Auch den Rheinischen Merkur", zwei der besten Zeitungen, die es überhaupt gibt.
Aber ich lese mitunter auch — vielleicht muß ich sagen: leider meistens — zweitbeste Zeitungen, z. B. die „Neue Gesellschaft". In dieser „Neuen Gesellschaft", und zwar im Januar/Februar-Heft dieses Jahres — das ist also sozusagen noch ganz warm —, schreibt der Herr Kollege Erler:
Es wäre sicherlich nützlich, wenn der kommende Parteitag in Stuttgart auf diesem Gebiet
— er meint die Verteidigung —
etwa noch bestehende Unklarheiten eindeutig ausräumen würde.
Wahrhaftig, es wäre sehr erstrebenswert!
Er schreibt zwar nur von „etwaigen" Unklarheiten, das will ich also bemerken, aber für uns sind es wirkliche Unklarheiten.
— Wir haben nun schon sechs oder sieben Jahre drauf gewartet!
— Das ist nicht sehr höflich, aber ich nehme es hin.
— Weiter:
Das ist um so erwünschter, als eine kraftvolle Wiedervereinigungspolitik nach Osten
— ich zitiere wieder Herrn Erler —
desto leichter geführt werden kann, je überzeugender der Bevölkerung durch das praktische Verhalten in den Aufgaben der Sicherung der Bundesrepublik bewiesen wird, daß damit nicht etwa unser Volk dem sowjetischen Einfluß schutzlos ausgeliefert werden soll.
Ostpolitik und Verteidigung bedingen einander.
So sagt Herr Erler.
Ich freue mich besonders, daß hier nicht nur von der Sicherheit eines wiedervereinigten Deutschland gesprochen wird, sondern auch von der Notwendigkeit, die Sicherung dieser Bundesrepublik zu garantieren.
952 Deutscher Bùndestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Dr. Jaeger
Nun warte ich auf das „praktische Verhalten in den Aufgaben der Sicherung der Bundesrepublik" auf der Seite der Sozialdemokratischen Partei.
— Herr Kollege Erler, an Spielen denkt kein Mensch! In dem Zeitpunkt meiner Rede, wo Sie auf den hinteren Bänken gesessen und, wie Sie gesagt haben, genau zugehört haben, habe ich sogar gesagt, daß die deutschen Offiziere nicht einmal den Schlüssel dazu haben. Ich weiß jetzt nicht, ob Sie den Amerikanern Spielerei auf diesem Gebiet vorwerfen wollen. Aber angesichts des Ernstes dieser Bomben würde ich doch nicht von Spielerei reden. Die Zeiten, wo man Soldat spielte, wie man das früher nannte, sind weiß Gott vorbei, wenn es sie überhaupt gegeben hat.
Nun, meine Damen und Herren, wir waren eigentlich nach den Ausführungen der Herren Kollegen Erler und Carlo Schmid so weit, einstimmig festzustellen, daß man taktische Atomwaffen braucht. Es erhebt sich dann die weitere Frage: genügt es, wenn die anderen diese taktischen Atomwaffen haben, so daß wir Deutschen sie nicht brauchen? Es wurde das Wort von dem Heiligen Florian, der das andere Haus anzünden solle, in dieser Debatte schon gebraucht. Hieran erinnert diese Frage allerdings.
In einer Verteidigungsgemeinschaft ist das Risiko für alle da; es ist gleich so, daß sich keiner heraushalten, sich davon ausnehmen kann. Auch der NATO-Vertrag sieht gleichmäßige Leistungen aller Mitglieder vor. Daraus folgt die Notwendigkeit einer gleichmäßigen Bewaffnung.
Ich bitte Sie aber doch zu bedenken, daß wir Deutschen noch einen besonderen Grund haben, das Notwendige zu tun, weil wir ja immerhin eher „dran sind" als jede andere Nation, wenn es zu einer Auseinandersetzung örtlicher oder globaler Art kommen sollte.
Jetzt bitte ich Sie, einmal zu überlegen, was passieren wird. Die Planungen der NATO sehen 30 Divisionen vor. Hier im SPD-Wehrgutachten steht es auch, es ist also gar keine Neuigkeit. 12 davon sollen deutsche, 18 sollen alliierte sein. Wenn jetzt die 18 Divisionen der Alliierten taktische Atomwaffen haben und die 12 Divisionen der deutschen Bundesrepublik haben sie nicht, dann weiß der Gegner, wo er seinen Schwerpunkt bilden und wo er die Front durchbrechen muß.
Weil er es weiß, kann er es auf den Krieg ankommen lassen. Wenn er weiß, daß eine solche Schwerpunktbildung sinnlos ist, weil auch die deutschen Soldaten gleiche Waffen haben, dann wird er es auf einen Krieg hoffentlich nicht ankommen lassen.
Eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter?
Ja, bitte! Ich kann nicht immer sehen, von wo eine Frage gestellt wird.
Herr Abgeordneter Jaeger, wären Sie unter Umständen bereit, zuzustimmen, daß von westdeutschem Boden und sogar von deutschen Soldaten — selbstverständlich aus militärischer Notwendigkeit — Atomgranaten auf Städte wie Leipzig, Breslau, Königsberg oder Ihre Heimatstadt Berlin abgefeuert werden? Oder machen Sie bei Ihrer Atomstrategie immerhin die Einschränkung, daß Sie deutsches Gebiet auch jenseits des Eisernen Vorhangs davon keinesfalls betroffen sehen wollen?
Ich kenne den Namen des Herrn Redners nicht. Er ist ein neues Mitglied dieses Hauses.
Ich werde auf dieses Problem sowieso kommen. Aber da Sie es anschneiden, will ich die Frage gleich vorweg beantworten.Herr Kollege, Sie schneiden eine Frage an,die Frage der Verwendung von Atomwaffen im Ernstfall. Das ist, da sie in Mitteleuropa die Zivilbevölkerung berührt, ganz allgemein von höchstem Interesse. Jeder Offizier, der da eine Entscheidung fällen muß, muß vor seinem Gewissen verantworten, ob er die Atomwaffen verwendet. Er kann es nicht, meine Damen und Herren, wenn er damit in erster Linie die Zivilbevölkerung trifft. Aber ich frage Sie: glauben Sie denn nicht, daß ein deutscher Offizier besser weiß, daß Dresden und Magdeburg deutsche Städte sind, als ein Offizier der Alliierten?
Mit dieser Frage sagen Sie ja auch, daß man die Dinge mit großer Vorsicht behandeln muß und daß die kleinste Atomwaffe gerade die ist, die am ehesten auf irgendeiner Paßhöhe oder Brücke verwendet werden kann, wo man die Zivilbevölkerung nicht trifft, während die großen Waffen eine unendliche Gefahr mit sich bringen würden.Ich sprach davon, daß die Deutschen nicht schlechter bewaffnet sein dürfen, weil sonst die ganze Front zusammenbrechen würde und ein Gegner, der das weiß, auf den Krieg hin operieren würde. Wir aber wollen den Krieg verhindern. Der Zustand wäre ja auch für unsere Verbündeten unerträglich.Ich darf noch einmal auf das berühmte BeermannGutachten zurückgreifen. Dort heißt es auf Seite 7 in einer Fußnote:Sollte die Bundeswehr im Rahmen der integrierten Streitmacht als einzige nicht mit Atomwaffen ausgerüstet werden, so gefährdet diese Tatsache die Moral der eigenen Soldaten im Frieden und zersetzt sie in den ersten Kriegstagen völlig.
Das ist der Gedanke eines ehemaligen Offiziers, derheute sozialdemokratischer Sachberater in militäri-
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 953
Dr. Jaegerschen Fragen ist. Ich habe dem eigentlich gar nichts hinzuzufügen, höchstens die Frage, ob Sie glauben, daß Atomwaffen in den Händen eines deutschen Soldaten gefährlicher sind als in denen eines Russen. Meine Damen und Herren, wenn Sie diese Frage unter dem Gesichtspunkt der Gleichmäßigkeit der Verteidigung und der Wirkung der Verteidigung sehen, dann können Sie gar nicht anders, als daß Sie auch für die Bundeswehr, wenn nicht im letzten Moment die Abrüstung noch eine große Änderung bringt, diese Waffen einführen.Ich brauche Sie nur daran zu erinnern, daß es der stellvertretende Ministerpräsident Niedersachsens war, der schon vor langer Zeit in einer Zeitung geäußert hat — ich habe es schon einmal zitiert —, er könne sich nicht vorstellen, daß die deutschen Soldaten schlechtere Waffen hätten als die der Alliierten. Das ist eine sehr richtige und vernünftige Meinung, weil es um den Schutz dieser unserer Menschen geht, nicht um eine schimmernde Wehr. Es geht nicht um Ehre und Gleichberechtigung. Meine Damen und Herren, auf solche Dinge legen wir alle keinen Wert mehr. Wir legen aber Wert darauf, daß die jungen Männer, die eingezogen werden, geschützt sind und daß nicht die deutschen Soldaten als einzige schutzlos dastehen. Wir legen Wert darauf, daß die Front schon im Frieden so sicher ist, daß sich der andere überlegt, ob er es überhaupt zum Kampf kommen lassen soll.Nun kommt die andere Konsequenz, ob Sie der Bundeswehr die taktischen Atomwaffen geben oder ob Sie sie ihr verweigern wollen. Sollte es zum großen Krieg kommen, dann werden die Atomwaffen aus den Händen feindlicher Soldaten fallen. Das können Sie gar nicht vermeiden, und das wissen Sie ganz genau. Deshalb sollten Sie mit uns alle Anstrengungen darauf richten, diesen Kriegsfall zu vermeiden. Man soll die Tatsache, daß ein Krieg in Europa zum Atomkrieg mit furchtbaren Folgen führt, nicht leugnen. Herr Erler hat ja berichtet, wieviel Sprengstoff auf den Kopf der Bevölkerung entfällt. Es sind furchtbare Zahlen. Die Konsequenz, die wir daraus zu ziehen haben, ist, daß wir alles tun müssen, zu verhindern, daß es zu jener dunklen Stunde jemals kommt.Es ist falsch, meine Damen und Herren, nun die Alternative aufzugreifen, wir hätten nur die Wahl zwischen dem Atomtod oder dem Leben in der Unterwerfung. Das ist, weiß Gott, eine falsche Alternative. Diese Alternative möchten die Sowjets aufwerfen. Das wäre das, wobei ihr Weizen blühen würde. Nein, meine Damen und Herren, die wahre Alternative heißt: Kommt es zum Krieg oder erhalten wir den Frieden? Es unterscheiden sich in diesem Hause die Damen und Herren nicht nach Kriegshetzern und Friedensfreunden, sie unterscheiden sich nur nach Realisten und Illusionisten.
Man organisiert in diesen Tagen eine Volksbewegung: „Gegen den Atomtod". Ich glaube, der Herr Kollege Dr. Menzel ist der Schriftführer dieser Angelegenheit. Er war so liebenswürdig, mir eineEinladung zu dieser Kundgebung in Frankfurt zu schicken und mir sogar eine frankierte Rückantwort beizulegen. Ich war natürlich so höflich, ihm die Rückantwort auch zuzusenden, daß ich nicht kommen würde, womit der Herr Kollege Menzel hoffentlich keine Neuigkeit erfahren hat.Aber, meine Damen und Herren, was soll denn diese Aktion, die von der Sozialdemokratie und einigen anderen Kreisen organisiert wird? Gibt es denn jemand, der für den Atomtod ist? Wir sind doch alle dagegen!
Wir unterscheiden uns nur in dem Weg, den wir gehen wollen, um den Atomtod, um Tod und Zerstörung überhaupt von unserer Bevölkerung fernzuhalten.
Was soll überhaupt die ganze Aktion? Wir haben nun die vierte Aktion vor uns! Zuerst, im Jahre 1952, ging es gegen den deutschen Wehrbeitrag und gegen die Verträge unter der Parole: Ohne uns!
— Es war ein heftiger Kampf, es war ein Reinfall. Wir haben die Bundestagswahlen gemeinsam, Herr Kollege Schneider, gewonnen. Die Aktion ging fehl.
Nachdem die EVG gescheitert war, kam die nächste Aktion mit dem gleichen Thema wieder: Keinen Wehrbeitrag! Nur sagte man diesmal nicht „ohne uns", sondern man sagte, es gehe um die Wiedervereinigung. Es war die PaulskirchenAktion.
— Auch das war ein Reinfall; das läßt sich nicht bestreiten.
— Das war es nicht, Herr Mommer; es hat sich nicht das mindeste daran geändert.
Nun kam im Jahre 1957 die Wahlpropaganda der Sozialdemokraten. Während die erste Aktion nicht eigentlich von der SPD und die zweite nur zum Teil von ihr ausging, war die dritte von der SPD voll getragen. Sie stützte sich auf die von der SPD in ihre Wahlpropaganda eingespannten, darüber wahrscheinlich sehr unglücklichen Professoren.
Sie ging gegen die Atomwaffen. Auch diese Aktion ging schief; auch sie war ein Reinfall. Das deutsche Volk hat erneut den Bundeskanzler und seine Politik mit einer noch größeren Mehrheit bestätigt.
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954 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Dr. JaegerNun wiederholt man diese Aktion von 1957 im Jahre 1958 mit der Parole „Gegen den Atomtod!" und glaubt, jetzt unser Volk genügend in Erregung bringen zu können. Meine Damen und Herren, auch diese Aktion an der Vernunft des deutschen Volkes scheitern.
Wenn Sie diese Politik der ständigen Negation, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, noch vier Jahre weiter treiben, dann wird Sie das deutsche Volk im Jahre 1961 wieder auf die Bänke der Opposition verweisen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Erler?
Sie haben mir vorhin die Zwischenfrage nicht an der eigentlichen Stelle gestattet. Sie kamen inzwischen mit einem anderen Gedanken. Ich komme trotzdem darauf zurück. Darf ich Sie fragen, ob Sie allen Ernstes den Professoren Heisenberg und Hahn, um nur diese beiden zu nennen, unterstellen, daß sie sich von der Sozialdemokratischen Partei für irgend etwas einspannen lassen?
Nein! Das habe ich auch nicht gesagt. Sie wurden eingespannt. Oder, um es noch deutlicher zu sagen: ihre Erklärung wurde von Ihnen eingespannt. Ich habe ja ausdrücklich in einem Nebensatz gesagt: worüber die Professoren wahrscheinlich sehr unglücklich waren. Es liegt mir völlig fern, den Professoren so etwas zu unterstellen.
Aber es liegt mir nicht fern, zu sehen und zu hören, daß Sie die unabhängige Meinung aufrechter Männer auch für parteipolitische Zwecke gebrauchen, um nicht zu sagen, mißbrauchen.
Meine Damen und Herren, was kann denn die Folge dieser Erregung sein, die man nun durch die Aktion in Frankfurt und sicherlich dann auch in den anderen Städten schafft? Es kann doch nur der Ausbruch einer Atompanik in Deutschland sein. Wem außer den Sowjets ist damit gedient?
— Herr Wehner, der Ausdruck „berufsmäßiger Verleumder" müßte eigentlich von höherer Stelle gerügt werden.
Ich habe hier nicht eine Absicht unterstellt, sondern eine Folge festgestellt. Ich weiß genau, daß Sie nicht die Absicht haben, den Sowjets zu helfen, aber daß Sie in Ihrer Kurzsichtigkeit eine Politik — —
— Nein, das habe ich nie geschrieben.
— Wenn Sie glauben, daß ich Sie verleumdet habe, dann, bitte, verklagen Sie mich doch! Aber hier kann dieser Zwischenruf nicht gemacht werden.
Einen Augenblick, meine Damen und Herren. Herr Abgeordneter Wehner, haben Sie dem Herrn Abgeordneten Jaeger unterstellt, daß er ein Verleumder ist?
— Herr Abgeordneter Wehner, dann muß ich Sie zur Ordnung rufen.
— Herr Abgeordneter Schmidt , ich rufe
Sie zur Ordnung.
Wer hat das gesagt?
— Herr Abgeordneter Heide, ich rufe Sie zur Ordnung.
Meine Damen und Herren, Sie weisen uns so oft auf angebliche Gefahren unserer Politik hin, auf die Gefahren, die dadurch entstehen sollen, daß wir taktische Atomwaffen einführen. Ich nehme doch in Gottes Namen an, daß Sie uns nicht unterstellen, daß wir den Atomtod wollen. Ich unterstelle Ihnen auch nicht, daß Sie die Bolschewisierung Deutschlands wollen. Aber ich unterstelle, daß Ihre Politik sie wider Ihren Willen durch Ihre politische Kurzsichtigkeit herbeiführt, und diese Gefahr darf ich aufzeigen.
Meine Damen und Herren, bei der Frage der taktischen Atomwaffen geht es natürlich wie bei allen Fragen der Verteidigung letzten Endes um die Existenz unseres Volkes. Folglich muß diese Frage in völliger Ruhe geprüft werden — die Erzeugung einer Psychose wäre am schlechtesten geeignet —, damit unsere Bevölkerung darüber urteilen kann. Denn Angst ist ein schlechter Ratgeber.
Herr Abgeordneter Jaeger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Döring?
Herr Abgeordneter Döring, bitte.
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 955
Noch einmal eine Frage, Herr Kollege Jaeger. Sie befürworten hier sehr warm die taktische atomare Bewaffnung. Damit das völlig klar bleibt — Herr Kollege Jaeger, zu Ihrer Unterrichtung: ich bin in Leipzig geboren —: Sie sind also bereit, die politische Verantwortung
— ich stelle eine Frage — dafür zu übernehmen, daß notfalls westdeutsche Truppen Atomgranaten auch auf Leipzig schießen?
Erstens, Herr Kollege Döring, war das keine Frage. Zweitens, Herr Mommer, lasse ich mich von Ihnen nicht terrorisieren. Drittens habe ich deutlich erklärt, daß das gerade verhindert werden soll.
Herr Kollege Döring, Sie waren doch einmal, wenn ich der Zeitung glauben kann, deutscher Offizier. Glauben Sie nicht — ich wiederhole das, was ich vorhin gesagt habe —, daß ein deutscher Offizier noch viel besser als ein alliierter weiß, daß Leipzig eine deutsche Stadt ist?
Ich glaube, wir müssen hier unsere deutschen Soldaten und unsere deutschen Offiziere einmal dagegen in Schutz nehmen, daß man, jetzt plötzlich von der Seite der Freien Demokraten, tut, als hätten sie kein Verantwortungsbewußtsein.
Meine Damen und Herren, wenn das Haus nicht ruhiger wird, dann unterbreche ich die Sitzung.
So geht das nicht.
So geht das nicht! — Herr Abgeordneter Erler,
nehmen Sie Platz. Ich kann Ihnen jetzt das Wort
nicht geben. Ich muß erst den Herrn Schmidt etwas fragen. Herr Abgeordneter Schmidt
, haben Sie gesagt „schweinische Hetze"?
— Herr Abgeordneter Schmidt , ich erteile Ihnen dafür einen Ordnungsruf.
— Beruhigen Sie sich, meine Damen und Herren, und lassen Sie den Redner sprechen!
Ich möchte — —
— Ich möchte zu der Erregung — —
— Ja, Herr Kollege Schmidt, dann mache ich das aber mit Ministerpräsident Kopf gemeinsam.
Herr Kollege Jaeger, wollen Sie eine Zwischenfrage zulassen?
Ich glaube nicht, daß im Augenblick Zwischenfragen der weiteren Erörterung dienlich sind. Erst wenn mal wieder Ruhe eingetreten ist, werde ich Zwischenfragen zulassen.
Ich halte es auch nicht für nötig, daß dieselbe Frage zweimal gestellt wurde, wie es Herr Kollege Döring vorhin getan hat. Jetzt möchte ich erst einmal meine Gedanken klarlegen. Zu einem späteren Zeitpunkt können Sie wieder Fragen stellen, wenn Ruhe eingetreten ist.Meine Damen und Herren! Ich kehre zurück zu der Angst, die zu erzeugen mir im nationalen und im atlantischen Interesse höchst gefährlich erscheint, auch im Interesse derer, denen die Demokratie lieb ist, einschließlich der Sozialdemokratischen Partei. Die Angst ist, wie Herr Heidegger schon in den zwanziger Jahren gesagt hat, — —
— Herr Kollege Schmidt, daß Sie ein völlig undisziplinierter Mensch sind, weiß ich schon lange.
Die Angst ist, wie Professor Heidegger schon in den zwanziger Jahren festgestellt hat, ein Grundgefühl unseres Jahrhunderts. Nach dem zweiten Weltkrieg lag aller Grund dafür vor, daß Angst vorhanden ist. Aber, meine Damen und Herren, die Angst dann noch zu schüren, das erscheint mir falsch.
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956 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Dr. JaegerMeine Damen und Herren! Die Frage der Atombewaffnung soll aus dem Gewissen heraus beantwortet werden. Ich spreche Ihnen das Gewissen nicht ab und bin überzeugt, daß Sie es ernstlich prüfen. Aber bitte, sprechen Sie uns nicht ab, daß auch wir es ernstlich prüfen.
Aber um eine Gewissensentscheidung zu fällen, braucht man Nüchternheit des Kopfes und Ruhe. Die Erzeugung von Angst erleichtert eine Gewissensentscheidung nicht, sondern erschwert sie. Denn die Sprache der Angst ist nicht die Stimme des Gewissens.
Aus Angst kann nur eine Lähmung geboren werden:
die Lähmung vor der Atombombe, daß wir die Hände in den Schoß legen, daß wir gar nichts tun und daß wir versteinert ein Opfer der Sowjetpolitik werden.
Die wichtigste Tatsache, um die es bei der ganzen Angelegenheit geht, ist ja gar nicht die Existenz der Atombombe, von der Sie gerade wieder in Ihrem Zwischenruf sprechen, Herr Kollege Erler. Die Vereinigten Staaten haben jahrelang allein die Atombombe besessen und haben keinen Staat mit der Atombombe erpreßt.
,i Seit die Sowjets sie haben, besteht eine Gefahr.
Nicht die Existenz der Atombombe, sondern die Existenz eines totalitären Systems, das die Atombombe hat, ist die wahre Gefahr.
Meine Damen und Herren, wir können die Atombombe nicht mehr beseitigen; sie ist da; also müssen wir versuchen, neben dieser Atombombe zu leben und zu versuchen, daß sie nicht explodiert.
Nur indem wir die Abschreckung für den Osten so erhöhen, daß dieser vor dem Krieg zurückschreckt, bleibt uns der Friede erhalten, sonst nicht.
Herr Kollege Erler hat in seiner langen Rede gestern bedauert, daß die Strategie schon wieder die Politik bestimme. Nun, Herr Kollege Erler, die geographische Lage unseres Landes ist nicht nur eine strategische, sondern auch eine politische Tatsache.Die Existenz der Sowjetunion und der Roten Armee und die Existenz der Atombombe ist auch eine politische Tatsache.
Wollte die Politik diese Tatsache leugnen, dannwürde sie in einem Wolkenkuckucksheim gemacht,aber nicht in dieser Welt, auf der unser Volk lebt.
Meine Damen und Herren! Von der Sowjetunion wird mit ihren Noten und mit ihrer unterirdischen Propaganda ein Nervenkrieg geführt, dem wir nicht erliegen dürfen. Es besteht die große Gefahr, daß die Aktion von Frankfurt „Gegen den Atomtod" nur eine Panik im Sinne der Sowjetunion erzeugt.
Wir aber dürfen die Nerven nicht verlieren; denn dann ist jede Chance für Freiheit und Frieden verloren. Nur wenn wir im Westen die besseren Nerven haben, können wir den Nervenkrieg gewinnen und damit den Weltkrieg vermeiden.
Jedenfalls werden die Regierungsparteien wie in der Vergangenheit nicht vor dem Ruf anfänglicher Unpopularität zurückscheuen, sondern aus ihrer Gewissensentscheidung handeln und dafür das Volk erneut zu gewinnen suchen.Schließlich noch etwas anderes: diese Atompsychose verstärkt doch die Gefahr des Krieges, weil sie die Politik des Westens, weil sie die Position der Bundesrepublik und damit des Westens schwächt.
— Nein, meine Damen und Herren, wenn Sie heute als Folge jener draußen entfachten Psychose hier die atomare Bewaffnung der Bundeswehr und damit eines wesentlichen Teils der europäischen Streitkräfte verneinen, dann vermindern Sie nicht die Kriegsgefahr, dann vermehren Sie die Kriegsgefahr.
Ich muß es abermals sagen: Die Gefahr, daß es zu einem Überfall kommt, ist ja so groß, weil eben in der Hand völlig unberechenbarer, moralischen Kategorien nicht zugänglicher Menschen im Kreml diese Bombe ist, daß nur die Angst, sie selbst könnten dasselbe oder ein noch schlimmeres Schicksal erleiden, die Sowjets davon abhält, diese Bombe anzuwenden oder auch nur mit ihrer Existenz uns zu drohen oder zu erpressen.Ich wiederhole also: Im Falle eines Krieges wird durch die Atombombe in der Hand der Bundeswehr die dann sowieso eminente Gefahr nicht mehr vermehrt, weil wir auf alle Fälle ein Opfer der Atombombe würden. Aber den Krieg vermeiden können Sie dadurch, daß Sie vertragstreu die Bundeswehr und damit die westeuropäische und die atlantische Verteidigung stärken.
— Ich kann Sie nicht verstehen, meine Herren von der Sozialdemokratie. Doch nicht die Bombe in der Hand der deutschen Offiziere, sondern die Bombe in der Hand der Sowjetunion ist eine Gefahr.
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 957
Dr. JaegerEs wäre auch unter dem Gesichtspunkt der Abrüstung völlig falsch, von vornherein auf Kernwaffen zu verzichten. Wenn wir eine Vorleistung machten, brauchte die Sowjetunion für unseren Verzicht in den Abrüstungsverhandlungen nichts mehr zu zahlen. Wenn wir überhaupt noch eine Hoffnung haben, daß die Abrüstungsverhandlungen noch einmal zustande kommen und Erfolg haben — und wir wollen diese Hoffnung nie völlig aufgeben —, dann müssen wir den Westen so stark machen, auch diese Bundesrepublik im Rahmen des Westens, daß es der Sowjetunion ein Opfer wert erscheint, unseren Verzicht auf Atomwaffen zu erreichen.
Ich habe schon gesagt, daß im Jahre 1945 einseitig abgerüstet wurde mit den verheerenden Folgen, die eingetreten sind. Wollen Sie den Fehler dadurch, daß Sie die notwendigen Maßnahmen in Deutschland unterlassen, ein zweites Mal wiederholen? Nein, meine Damen und Herren, der Aufbau unserer Bundeswehr darf auch durch laufende Verhandlungen nicht beeinträchtigt werden. Aber er kann durch das Ergebnis von Verhandlungen begrenzt werden. Und wir möchten gern, daß im Laufe dieses oder des nächsten Jahres Verhandlungen kommen, die diese Aufrüstung begrenzen. Denn so lange haben wir noch Zeit, bis diese Waffen tatsächlich eingeführt werden. Ich wiederhole: Korn-men wir nicht in absehbarer Zeit zu einer allgemeinen und kontrollierten Abrüstung, dann ist allein das Gleichziehen der Bundeswehr mit den anderen Staaten der Atlantischen Gemeinschaft Voraussetzung unseres Schutzes und der Erhaltung des Friedens.
Meine Damen und Herren, wenn Sie die diesbezüglichen Anträge der Opposition annehmen sollten, bedeutete das zwar formell nicht den Austritt aus der NATO; da hat Herr Erler recht. Aber es bedeutete praktisch eine Verletzung des Geistes des Vertrags, der nämlich gleiche Leistungen und angemessene Leistungen vorschreibt.
Praktisch wirkt es sich also wie ein Austritt aus der NATO aus. — Natürlich stimmt es! Sie können nachher auch eine Rede halten, wenn es Sie freut. Das stimmt sehr wohl. Denn ich wiederhole: Wenn die 12 deutschen Divisionen durch ihre schlechte Bewaffnung die Sowjets geradezu zum Angriff herausfordern, dann kommt es eben zum Krieg.
Wenn wir unsere NATO-Pflichten nicht erfüllen, verlieren wir den Schutz derer, die uns garantiert haben.
Sie werfen uns immer vor, welche Gefahren unsere Politik heraufbeschwöre, und Sie schreien, wenn ich Ihnen einmal die Gefahren, die wirklichen Gefahren aufweise, die Ihre Politik zur Folge hat.
Ihre Politik — ich wiederhole es — führt dazu, daß Deutschland schutzlos sein wird, weil es seine Verpflichtungen nicht erfüllt, und daß in der Folge Deutschland mit oder ohne Krieg ein Opfer des Bolschewismus wird.
Die verbrecherische Dummheit eines Adolf Hitler hat zur Bolschewisierung des halben Deutschland geführt. Wir wollen verhindern, daß politische Kurzsichtigkeit zur Bolschewisierung des ganzen Deutschland führt.
— Nein, deswegen müssen wir uns verteidigen! Denn wenn wir die Hände in den Schoß legen, werden wir eben bolschewisiert, Herr Schmidt, auch wenn Sie es nicht begreifen.
Ich komme zurück zu dem, was Kollege Erler vorhin in einer Frage ausgedrückt hat und was ich beantwortet habe. Er meinte: Kernwaffen können wir nicht einführen, konventionelle Waffen haben keinen Sinn. — Was bleibt dann anderes übrig als die Konsequenz der Kapitulation? Dann landen wir bei Herrn King-Hall, und ich möchte, daß uns ein sozialdemokratischer Redner heute nachmittag sagt, ob die Sozialdemokratie nun wirklich, wie King-Hall, kapitulieren und die Bundesrepublik den Sowjets ausliefern will.
Herr Abgeordneter Dr. Jaeger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Wehner?
Bitte sehr! Ich habe nichts gegen eine Frage.
Ich wollte Herrn Dr. Jaeger fragen, ob ihm entgangen ist, daß ich vorhin auf diese Frage ausführlich eingegangen bin, oder ob ihm nur daran liegt, die Sozialdemokratische Partei fortgesetzt mit solchen Dingen zu behelligen.
Herr Kollege Wehner, wer eigentlich wen behelligt, das sehen Sie in Ihren Anträgen und an Ihren Diskussionsbeiträgen. Ich stütze mich auf das, was Herr Kollege Erler hier gesagt hat. Sie wollen keine Kernwaffen.
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958 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Dr. Jaeger— Herr Kollege Wehner, wenn ich zu Ihnen sagen würde, Sie wollten eine sowjetische Diktatur, dann wären Sie beleidigt.
Wir sind schließlich Demokraten und haben das bewiesen. Ich habe es Ihnen nicht bestritten. Aber bestreiten Sie es uns auch nicht immer!
— Meine Damen und Herren, ich brauche mir nicht nachsagen zu lassen, daß ich kein Demokrat bin. Herr Kollege Wehner, ich habe in meinem Leben nur einer einzigen Partei angehört, der ChristlichSozialen Union, und niemals einer totalitären Partei.
— Wir dürfen Sie nicht kritisieren, aber Sie werfen uns vor, wir seien Diktatoren und keine Demokraten!
Ich stelle fest, — —
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter! Ich stelle fest — —
— Herr Abgeordneter Schröter, lassen Sie mich auch einmal etwas sagen!
— Der Kopfjäger von Formosa? Dafür rufe ich Sie zur Ordnung.
Das geht über das hinaus, was ich hier als Humor betrachten kann.
— Herr Abgeordneter Majonica, beruhigen Sie sich, Sie sind ja nicht „Kopfjäger" genannt worden.
— Meine Damen und Herren, wenn es jetzt nicht ruhiger wird, dann mache ich — —
— Jetzt lassen Sie mich auch etwas sagen. Ich weiß, Herr Kollege Schröter, daß sie ein schnittiger Berliner sind. Ich bin nur ein einfacher Württemberger, aber lassen Sie mich trotzdem etwas sagen. Wenn es jetzt nicht ganz ruhig wird, meine Damen und Herren, dann werde ich jetzt die Sitzung unterbrechen und das Haus der wohlverdienten Mittagsruhe entgegengehen lassen.
Aber damit Sie sich keine Illusionen machen, will ich Ihnen mal sagen, wie die Rednerliste aussieht.
Heute morgen haben wir mit 9 Namen angefangen. Davon sind jetzt drei gestrichen, weil die Reden gehalten sind. Dafür stehen jetzt, weil's Mittag ist, 14 neu an! Ich frage Sie, meine Damen und Herren, ob Sie vielleicht auch am Sonntag noch tagen wollen. Am Sonntag beruft dieser Präsident, das sage ich Ihnen auf jeden Fall, eine Sitzung nicht ein. Sehen Sie also zu, daß Sie bis morgen abend fertig werden, und lassen Sie die Redner ausreden.
Also, Herr Abgeordneter Jaeger, haben wir noch Aussicht, bis zur Mittagspause — wir wollen spätestens um halb zwei Uhr Mittagspause machen —, fertig zu werden?
Bis halb zwei werde ich fertig. Ich wäre wahrscheinlich schon fertig, wenn nicht so viele Zwischenrufe gekommen wären.
Herr Abgeordneter Hermsdorf, lassen Sie jetzt den Redner weitersprechen, damit wir dann zur Mittagspause kommen!
Meine Damen und Herren! Noch einmal muß ich an die Gesetze der Logik appellieren. Die Sozialdemokraten sagen: Keine Kernwaffen für die Bundeswehr! Die Sozialdemokraten sagen — ich habe gerade Herrn Erler zitiert —: Konventionelles Heer ist sinnlos! Was ist also Ihre Konzeption der Landesverteidigung? Wie wollen Sie unser Land schützen? Ob Sie es wollen oder nicht, da bleibt ja nur die Kapitulation!
Nun, meine Damen und Herren, sage ich Ihnen noch eines, und das bitte ich Sie ganz besonders zu beachten. Selbst wenn wir kapitulieren würden, selbst wenn wir den Sowjets sagen würden: Dann marschiert eben ein!, ersparen Sie damit der Bundesrepublik und der Welt den Krieg nicht. Und selbst wenn die Engländer — was sie nicht tun werden —, wie Herr King-Hall es will, kapitulieren würden, würde der Welt der Krieg nicht erspart. Denn die Endauseinandersetzung zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten, die noch nicht so dekadent sind, daß sie kapitulieren, käme auf jeden Fall.
— Herr King-Hall zum Beispiel und derjenige, derder Bundesrepublik jegliche Rüstung verweigert!
Es geht um ein Ziel: es muß verhindert werden, daß der freie Teil unseres Vaterlandes, daß die Bundesrepublik von der Roten Armee überrollt wird. Es muß verhindert werden, daß sie zu einem Marsch auf Rhein und Atlantik antritt. Das kann nur geschehen, indem wir eine Abschreckung schaffen. Ich bitte Sie, doch zu bedenken, daß, wenn es zum Kriege käme, ein kampfloses Überrollen auch nichts helfen würde. Im nächsten Krieg würde es in
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 959
Dr. JaegerDeutschland mehr Tote durch den Hunger als durch die Atombombe geben. Denn glauben Sie, daß die Sowjets in ein von ihnen besetztes Deutschland Care-Pakete aus Moskau schicken würden?
Würden wir von den Amerikanern abgeschnitten, würden furchtbare Dinge geschehen.Nein, wir wollen es auf diesen Krieg nicht ankommen lassen, wir wollen alles tun, um ihn zu vermeiden, auch wenn wir den unbequemen Weg der Rüstung gehen, selbst wenn wir Opfer von unserem Volk verlangen; denn kleine Opfer an Wohlstand sind nichts gegen das große Opfer der Freiheit.
Ich komme zum Schluß und werde die vom Herrn Präsidenten gewünschte Zeit einhalten.
— Ich komme zum Schluß; meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie; aber sollten Sie mich reizen, werde ich im Laufe der Debatte noch einmal reden; Sie können mich gar nicht daran hindern.
Ich fasse zusammen. Wer den Anträgen der beiden Oppositionsparteien, soweit sie dahin gehen, die Atomwaffen in der Bundeswehr zu verbieten, zustimmt, der vermindert nicht die Kriegsgefahr, sondern vermehrt sie, weil er die Macht der Abschrekkung schwächt.
Wer diesen Dingen zustimmt, der gibt im Ernstfall unsere Städte preis, weil es im Ernstfall kein Mittel gibt, sie zu verteidigen, außer mit den neuen Atomwaffen. Er sorgt dafür, daß die Sowjets einbrechen können, weil nicht eine einheitliche Front ihnen entgegensteht. Vor allen Dingen, er liefert im Krieg oder im Frieden Deutschland, auch den freien Teil unseres Vaterlands, dem Bolschewismus aus.
Das sind die Folgerungen.Und schließlich: Wenn er durch Kapitulation die Bundesrepublik den Sowjets ausgeliefert hat, erspart er uns den Krieg nicht, sondern er wird den Krieg erst recht herbeiführen, einen Krieg, in dem dann, weil wir nicht mehr die Bundesgenossen der Vereinigten Staaten sind, auf uns die Atombomben von beiden Seiten hageln.Nein, meine Damen und Herren, aus Verantwortung
müssen wir die Anträge der SPD ablehnen. Aus Verantwortung müssen wir Opfer bringen, um die Freiheit und um das Leben zu sichern.
Die Sitzung ist bis 15 Uhr unterbrochen.
Meine Damen und Herren, wir fahren in der unterbrochenen Sitzung fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedensburg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die verhältnismäßige Stille des Nachmittagsbeginns ermutigt mich, einen Gedanken zu verwirklichen, dessentwegen ich ursprünglich überhaupt das Wort erbeten hatte. Sie ermutigt mich, der vielen Menschen zu gedenken, die jenseits der Elbe und jenseits des Brandenburger Tores mit leisegestelltem Rundfunkgerät unseren Verhandlungen folgen, um ein Wort der Ermutigung, der Hoffnung, der Stärkung zu empfangen.
Ich weiß nicht, ob diese Menschen bisher mit uns recht zufrieden gewesen sein mögen; aber ich möchte sagen — und ich glaube, in Ihrer aller Namen zu sprechen —, daß hinter dieser sie verwirrenden Vielfalt unserer politischen Auseinandersetzungen doch ein gemeinsamer Wille besteht, der gemeinsame Wille, ihnen zu helfen, ihnen wenigstens geistig zur Seite zu stehen, solange wir nicht wirklich mit ihnen vereinigt sind. Ich möchte ihnen sagen, daß auch hinter manchen vielleicht unerfreulich klingenden Debatten doch letzten Endes das leidenschaftliche Ringen um eine tragbare Lösung zu spüren ist.Meine Damen und Herren, wir haben vorgestern im Europa-Parlament — in das mich das Vertrauen dieses Hauses berufen hat — die feierliche konstituierende Versammlung dieser Vertretung gehalten. Es war für uns, die wir aus der Ferne kamen, doch ein etwas betrübender und bedrückender Gedanke, daß so viele Völker, die eigentlich dazugehören, an dieser feierlichen Veranstaltung nicht beteiligt gewesen sind.
Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, daß unsere politischen Freunde, die christlich-demokratischen Fraktionen aus den sechs westeuropäischen Ländern, in ihrer Erklärung aus diesem Anlaß ausdrücklich ihre Verbundenheit mit den Menschen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs zum Ausdruck gebracht und den Wunsch und den Willen kundgetan haben, ihnen so bald als möglich die Freiheit der Entscheidung eines etwaigen Beitritts zu verschaffen.
Wenn die Tausende und Zehntausende, die uns zuhören, vielleicht nicht recht zufrieden mit uns sein mögen, so möchte ich ihnen und vielleicht auch uns allen eine Erkenntnis vor Augen halten, ohne die die deutsche Situation heute nicht recht verstanden werden kann. Es ist die Erkenntnis von dem verhängnisvollen Dualismus der deutschen
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960 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Dr. FriedensburgAufgaben, von dem Widerstreit zwischen den beiden großen Pflichten, die unserem Geschlechte in dieser Zeit gestellt sind und die miteinander zu vereinbaren ungeheure Schwierigkeiten bietet. Meine Damen und Herren, wir haben die Aufgabe der Wiedervereinigung, und ich bin der letzte, der nicht ihre Vordringlichkeit betonen will. Ja, ich möchte sagen, wir haben gar nicht das Recht, in Ruhe zu essen und zu trinken und zu schlafen und unsere Feste zu feiern, ehe wir nicht die Wiederherstellung unseres Landes erreicht und den 17 Millionen Menschen den Anspruch auf Freiheit und auf Recht und Ordnung wiederverschafft haben.
Aber neben dieser gewiß überragenden Aufgabe ist uns eine zweite Verpflichtung gegeben. Das ist die Verpflichtung der Abwehr des Bolschewismus von unserem Lande und der Abwehr des Bolschewismus vielleicht stellvertretend für einen großen Teil der Welt. Auch dieser Verpflichtung können und dürfen wir uns nicht einen Augenblick entziehen. Wir müssen uns ihrer ständig bewußt sein.Die unheilvolle Verstrickung der Lage bringt es nun einmal mit sich, daß wir die Wiedervereinigung nur mit der freiwilligen Zustimmung eben jener Macht erreichen können, gegen die wir uns gleichzeitig in Erfüllung der anderen Pflicht mit allen Kräften unseres Herzens und unseres Geistes zu wehren haben. Man kann der deutschen Situation, man kann aber auch den einzelnen politischen Maßnahmen nicht gerecht werden, wenn man sich nicht dieses Konfliktes ständig bewußt ist. Ich versuche immer den Mißbrauch des Wortes „tragisch" als eines bloßen Superlativs von Unglück zu bekämpfen, den Mißbrauch, der sich in unsere Sprache eingeschlichen hat. Hier handelt es sich um eine wahrhaft tragische Verstrickung im Sinne der alten klassischen Definition als eines tödlichen Konflikts zwischen zwei großen sittlichen Aufgaben. Wir bitten unsere Freunde auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, niemals zu vergessen, daß wir beide Aufgabe zu erfüllen haben und daß je nach der Situation, je nach der Dringlichkeit des Augenblicks uns mal die eine, mal die andere stärker vor Augen steht. Vielleicht tun wir ein Unrecht, wenn wir unter dieser Voraussetzung parteipolitisch mal das eine auf der einen Seite und mal das andere auf der anderen Seite überbetonen.Es ist vielleicht geradezu ein Unglück für den Wiedervereinigungsgedanken und für den Gedanken der Sicherheit, daß er von den Parteien dieses Hauses, sicherlich in guter Absicht, sicherlich in ehrlicher Überzeugung, zum Gegenstand der parteipolitischen Auseinandersetzung gemacht worden ist. Wir werden uns, glaube ich, besser verstehen und wir werden vielleicht eher zu der uns allen doch irgendwie vorschwebenden gemeinschaftlichen Arbeit gelangen, wenn wir uns jenes Konfliktes bewußt bleiben, Verständnis haben und Nachsicht dafür üben, daß uns das eine einmal etwas dringlicher erscheint als das andere. Ich glaube auch, daß man die Politik der Bundesregierung und die Politik unseres Kanzlers besser und gerechter würdigen wird, wenn man sich dieses tragischen Konflikts stetsrichtig bewußt ist. Die Bundesregierung hat die Aufgabe, unser Land gegen ein Übergreifen des Bolschewismus zu schützen, und das ist nun einmal nach der Lage der Dinge die unmittelbarere Aufgabe, diejenige, die noch weniger als die andere irgendeinen Aufschub verträgt. Mit Recht haben wir heute immer wieder betonen hören, daß erst auf Grund der geschützten sicheren Stellung eine aktive Wiedervereinigungspolitik möglich sein wird.Ich möchte unseren Brüdern und Schwestern auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs und uns selbst aber auch etwas zu den Vorschlägen sagen, die wir von den dortigen Machthabern und von der Sowjetregierung in immer wiederholter Erklärung über die Möglichkeiten einer Wiedervereinigung hören. Das ist das Problem der Verhandlung mit den Ostberliner Machthabern, das ist das Problem der Gründung einer deutschen Konföderation. Ein Wort dazu scheint mir auch notwendig, weil man, vielleicht weniger in diesem Hause, aber bei manchen politischen Gruppen außerhalb des Hauses, auch Gruppen, die dem einen oder anderen von uns nahestehen mögen, in einer begreiflichen Ungeduld über das Ausbleiben einer aussichtsreichen Wiedervereinigungsentwicklung mit dem Gedanken liebäugelt, man müßte doch in der einen oder anderen Weise den Wünschen der Sowjetregierung nachgeben.Soweit ich bisher übersehen kann, sind wir uns alle hier in diesem Hause darin einig, daß eine Verhandlung, ein Sich-an-den-Tisch-Setzen, ein SichAuseinandersetzen mit der Regierung GrotewohlUlbricht nicht in Frage kommt.
Aber es ist notwendig, sich doch einmal über die bloße instinktive, gefühlsmäßige Ablehnung einer solchen Verhandlung hinaus klarzuwerden, weshalb wir das nicht können, ja nicht einmal dürfen. Ich glaube, Ihrer aller Einverständnis zu besitzen, wenn ich feststelle, daß das Kriterium für die Anwendbarkeit solcher Maßnahmen in der Antwort auf die Frage besteht, ob die Zwangsherrschaft, die die Russen dort eingerichtet haben, gestärkt wird, wenn wir mit ihr verhandeln. Nach diesem Kriterium kommt ein Verhandeln dieser Art nicht in Frage. Ich halte es nicht für ausreichend, daß uns die Leute nicht gefallen. Bismarck hat einmal sehr richtig gesagt: Wer sich in der Politik von Sympathie oder Antipathie leiten läßt, ist ein Landesverräter. Das gilt sicherlich gerade auch für Verhandlungen in den Fragen der Wiedervereinigung. Man muß den Mut haben, auch die Dinge zu tun, die uns unsympathisch sind, wenn wir nur damit einen Schritt weiterkommen.Ich halte es auch nicht einmal für ausreichend, zu fragen, ob die Machthaber dort auf streng verfassungsmäßige, in unserem Sinne verfassungsmäßige Weise an die Gewalt gekommen sind. Das Leben bringt es mit sich, daß wir uns mit manchen Leuten auseinandersetzen müssen, auch wenn wir über deren staatsrechtliche Legitimation im Zweifel sein können. Das ist es nicht. Ausschlaggebend ist, daß sie gar nicht entscheiden können, daß sie gar nicht die Möglichkeit haben, in den Verhandlungen mit
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Dr. Friedensburguns zu irgendeinem praktischen Ergebnis ohne die Zustimmung der wirklichen Autoritäten zu gelangen. Vielleicht etwas deutlich ausgedrückt, heißt es: man spricht nicht mit dem Pförtner über den Ankauf eines Hauses, sondern wendet sich an den Hausbesitzer.Die Regierung Grotewohl/Ulbricht ist im Jahre 1948 eingesetzt worden. Die Menschen sind von den sowjetischen Besatzungsbehörden sorgfältig ausgesucht worden. Ich erinnere dann an die Junitage 1953, als sich die Bevölkerung — insbesondere die braven Arbeiter — gegen diese Regierung erhoben hat. Sie existierte damals überhaupt nicht mehr. Der stellvertretende Ministerpräsident dieser sogenannten Regierung ist, ohne daß sich irgendeine Hand zu seinem Schutze rührte, im Triumph durch die Straßen von Ost-Berlin weggeführt worden. Es existierte überhaupt keine Gewalt. Erst als die Russen, die wahren entscheidenden Kräfte, ihre Panzer einsetzten, konnte sich Herr Ulbricht mit seinen Leuten wieder aus den Verstecken hervorwagen. Es hat einige Tage gedauert, bis diese sogenannte Regierung überhaupt wieder als Regierung vor ihrem Volke erschienen ist.Man kann von uns nicht verlangen, daß wir diese Leute, die lediglich Besatzungsorgane sind, die lediglich Beauftragte sind, deren Existenz in jeder Stunde nur von dem Schutze der sowjetischen Macht abhängt, als eine Regierung ansehen, mit der verhandelt werden könnte.Bitte, Kollege Erler!
Herr Kollege Friedensburg, meinen Sie nicht, daß das soeben ein glänzender Beweis dafür war, wie notwendig es für die Wiedervereinigung in Freiheit sein könnte, die Frage des Truppenabzugs ganz energisch zur Diskussion zu stellen?
Kollege Erler, es ist gar keine Frage, daß wir damit auch dieses Problem der Lösung näherbringen würden. Ich wüßte hier niemanden, der nicht gern bereit ist, über eine vollständige Abrüstung und Räumung mit jeder Besatzungsmacht zu verhandeln.
Ich glaube auch, daß wir die Frage der sogenannten Konföderation in diesem Licht zu beurteilen haben. Das Wort klingt ein bißchen verschwommen, ein bißchen verlockend. Kollege Gradl hat gestern sehr richtig gesagt, daß darin die technische Kunst der Sowjetpolitik bestehe, solche Begriffe in die Luft zu werfen und die Menschen damit irgendwie anzulocken. Was soll Konföderation heißen? Eine Konföderation muß doch — wenn wir uns darunter etwas vorstellen sollen und wenn das für uns irgendeinen Fortschritt bedeuten soll — irgend etwas an Gemeinschaft schaffen.Wir sollten einmal fragen, wie sich denn die Sowjetregierung eine solche Konföderation in ihren Auswirkungen vorstellt. Soll das heißen, daß, sagen wir einmal, die Lebensmittelrationierung im anderen Teile Deutschlands aufhört? Ich glaube, einguter Teil unserer Kollegen weiß gar nicht mehr, daß drüben seit nun nahezu 20 Jahren die Lebensmittel rationiert sind, daß die Grundration an Fleisch noch heute knapp drei Pfund für den ganzen Monat, an Fett knapp zwei Pfund für den ganzen Monat beträgt. Soll Konföderation zweier deutscher Landesteile heißen, daß der eine Landesteil in diesem Zustand verbleibt, der doch ein schlagender Beweis für die Unfähigkeit und die Ungeeignetheit des dort herrschenden Systems ist, der wirtschaftlichen Schwierigkeiten Herr zu werden und der Bevölkerung eine bessere Lebenshaltung zu verschaffen? Keiner kann doch von uns verlangen, daß wir ein System in ein neues, vereinigtes Deutschland hinübernehmen, das seine Ungeeignetheit so deutlich erweist.Im Jahre 1951, am 1. November, hat man drüben das Gesetz über den Fünfjahresplan verabschiedet, — vor sieben Jahren! In diesem Gesetz ist gesagt, daß die Lebensmittelrationierung spätestens im Jahre 1953 aufgehoben werden müsse. Noch heute, sieben Jahre nach der Verkündung dieses Gesetzes und fünf Jahre nach dem letzten Termin, den das Gesetz setzt, ist die Lebensmittelrationierung noch völlig in Kraft. Man will uns zumuten, die dort geschaffenen Errungenschaften oder, wie sie unser Berliner Freund und Kollege Brandt gelegentlich nennt, „Erzwungenschaften" in unser neues Deutschland hinüberzunehmen. Meine Damen und Herren, können wir es den Deutschen denn zumuten, ein so ungeeignetes, so unfähiges System in einem wiedervereinigten Deutschland zu dulden?Ich darf an eine andere Tatsache erinnern. Unter sämtlichen Ländern der Erde ist die sogenannte DDR — ich habe es heute vormittag in den Statistiken noch einmal nachgeprüft — das einzige Land, in dem die Bevölkerung abnimmt. Nach dem eigenen Eingeständnis der dortigen amtlichen Statistik hat in acht Jahren, von 1948 bis 1956, die Bevölkerung um anderthalb Millionen Menschen abgenommen, also um nahezu 10 %, während bei uns die Bevölkerung um 4,8 Millionen Menschen — das sind auch etwa 10 % — zugenommen hat. Diese Abnahme ist erstens auf eine höhere Sterblichkeit, zweitens auf eine niedrigere Geburtenziffer und drittens vor allem auf die ständige Abwanderung in den anderen Teil Deutschlands zurückzuführen. Ich möchte die Russen fragen: wollen wir in einer Konföderation den Zustand aufrechterhalten, daß täglich Hunderte und Tausende vom einen Teil Deutschlands ständig in den anderen hinüberströmen? Und wenn sie sagen, das solle nicht sein, ja, soll dann der Eiserne Vorhang aufrechterhalten bleiben, soll der SSD der Staatssicherheitsdienst — weiter funktionieren, und sollen weiter die drakonischen Gesetze gelten, soll weiterhin Hilde Benjamin Recht oder, wie wir es auffassen, Unrecht sprechen in den deutschen Gerichten? So wäre der Zustand nur nebeneinander aufrechtzuerhalten.Meine Damen und Herren, ein wiedervereinigtes Deutschland ist für uns und vor allen Dingen für die 17 Millionen Menschen drüben keine geographische Addition, ist nicht die Schaffung irgend-
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Dr. Friedensburgeines Sammelsuriums, bei dem auf der Landkarte nachher „Konföderiertes Deutschland" drüberstehen kann, sondern ist doch ein Land, wo ein Mindestmaß von gleichem Recht, gleicher Ordnung, gleichem Gesetz, gleicher Freiheit für alle Deutschen gilt. Eine Konföderation zwischen zwei Teilen Deutschlands, von denen der eine über sich selbst bestimmen' kann, der andere Teil aber dieses erste und wichtigste Recht, das wir heute jedem Stamm im dunklen Afrika zusprechen, nicht besitzt, ist kein vereinigtes Deutschland in unserem Sinne.
Man mag vielleicht sagen: Nun, das braucht ja auch nicht gleich zu sein, es kann ein Anfang sein. Meine Damen und Herren, hier steckt der eigentliche Pferdefuß. Durch eine solche Konföderation erreichen wir genau das Gegenteil dessen, was wir wollen, d. h. wir befestigen das Regime von Grotewohl und Ulbricht in diesem deutschen Landesteil.Wir wollen die geheimnisvolle Wirkung der modernen Publizistik mit ihrem Fernsehen, Radio und ihren illustrierten Zeitschriften nicht unterschätzen. Wenn einmal monatelang, womöglich jahrelang, über diese Dinge verhandelt wird und unsere Vertreter und die Vertreter der mitteldeutschen Regierung immer am gleichen Tisch zu sehen sein werden, dann können wir vor den eigenen Menschen der Zone und vor der ganzen Welt doch nicht den Standpunkt aufrechterhalten, daß das gar keine Regierung ist. Mit diesem geheimnisvollen Mittel würden wir zur Stärkung oder, sagen wir: I zur Schaffung einer gewissen Autorität für sie überhaupt erst beitragen, also das Letzte tun, was wir eigentlich tun dürfen. Ich nehme an, es wird heute noch über die staatsrechtliche Konstruktion einer solchen Konföderation zu sprechen sein. Ich hoffe, daß tut mein gelehrter Freund von Merkatz.Aber ich bitte Sie, die Dinge einmal nüchtern und rücksichtslos bis zum Ende zu durchdenken, um sich dann darüber klar zu sein, daß uns hier etwas zugemutet wird, was seinem Wesen nach absurd und unzumutbar ist und wozu wir niemals die Hand bieten können.
Ich glaube allerdings — und ich bitte unseren Kollegen Wehner, es mir nicht übelzunehmen, wenn ich mich nun an ihn wende —, daß manche Vermittlungsvorschläge genauso ungeeignet sind. Kollege Wehner hat der „Süddeutschen Zeitung" ein Interview gegeben und in der Zeitschrift „Geist und Tat" einen Aufsatz zu diesen Problemen veröffentlicht. Ich gebe zu: wie alles, was auf diesem Gebiet erscheint, hat auch das meine lebhafte und fast gierige Aufmerksamkeit erregt. Ich habe mir gedacht: hier wird vielleicht einmal etwas vorgeschlagen, was uns einen Schritt weiterführen könnte. Kollege Wehner, es tut mir leid — Sie wissen, daß ich Ihren leidenschaftlichen Einsatz für die deutsche Wiedervereinigung respektiere —, aber was Sie da vorschlagen, ist überhaupt nicht einmal diskussionsfähig.
Es soll als erster Schritt eine deutsche Wirtschaftsvereinigung geschaffen werden. Das heißt, Sie wollen das Pferd am Schwanz aufzäumen. Was vielleicht das schwierigste Stück der ganzen Wiedervereinigung ist, wollen Sie als Einleitung versuchen.
Sie haben wohlweislich darauf verzichtet, das im einzelnen zu erläutern. Sie haben davon gesprochen, daß man die Rechtshilfe in der Frage der Alimentenverpflichtungen usw. regeln könne. Ich glaube, das verdient den etwas anspruchsvollen Namen „Wirtschaftsvereinigung" nicht. Nirgends wird es so schwer sein, Feuer und Wasser, Schwarz und Weiß, ja gestatten Sie den Vergleich, Himmel und Hölle zu verbinden, wie gerade auf dem Gebiet der Wirtschaft, wo ein Zusammenwirken überhaupt unmöglich ist, zumal doch die sowjetische Regierung und die von ihr beauftragten Leute alles daransetzen, den Landesteil auf der anderen Seite der Elbe auf wirtschaftlichem Gebiet unserer Wirtschaftsentwicklung zu entfremden.Fast noch schlimmer ist der zweite empfohlene Schritt. Ich bitte den Kollegen Wehner, es mir auch hier nicht übelzunehmen, wenn ich das ausdrücklich anspreche. Ich tue es, weil ich davor warnen will. Nicht jeder Vorschlag ist geeignet; er muß durchdacht sein und Hand und Fuß haben.
In der „Süddeutschen Zeitung" hat Kollege Wehner als zweiten Schritt einen gemeinsamen Investitionsfonds empfohlen. Für diejenigen unter Ihnen, die wirtschaftlich nicht besonders geschult sind — und ich glaube, ich darf den Kollegen Wehner dazu rechnen, was kein Vorwurf ist —, klingt das so hübsch. Die Schaffung eines Investitionsfonds heißt aber doch letzten Endes, daß wir Herrn Ulbricht in seinem Regime nun noch mit unserem Geld unterstützen sollen, damit seine Herrschaft überhaupt nicht mehr abgelöst werden kann.
Ich glaube, Herr Wehner erwartet selber nicht, daß Herr Ulbricht mit seinen D-Mark-Ost zur Investition für uns beitragen wird. Ein solcher Vorschlag kann überhaupt erst in Frage kommen, wenn wir durch unseren Einsatz die Lebensverhältnisse dort ernsthaft bessern können.
Ich denke, Herr Kollege Wehner wird mir zugeben — wir sind uns sicher darin einig daß im Falle der Wiedervereinigung kein Opfer hoch genug sein wird, um die Lebenshaltung dort zu bessern.
— Wir bessern sie jedenfalls nicht, indem wir Herrn Ulbricht Geld geben, damit er seine Volkspolizei und seine Volksarmee aufbauen kann.
Ich wiederhole es: kein Opfer — ich bin sicher, daß wir uns da völlig einig sind —, das eines
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Dr. FriedensburgTages gebracht werden wird und gebracht werden muß, ist hoch genug, um die Lebenshaltung der 17 Millionen zu bessern und um die industrielle und wirtschaftliche Ausrüstung dort einigermaßen auf den Stand zu bringen, den wir in Westdeutschland haben.
Aber solange diese Unterstützung, dieser Einsatz nur dazu dienen kann, das dortige Regime zu festigen, ist kein Pfennig dafür zu zahlen.
— Bitte.
Meinen Sie also, Kollege Friedensburg, daß man um der künftigen Wiedervereinigung willen dafür sorgen muß, daß es der Bevölkerung in der Sowjetzone inzwischen angesichts des Ulbricht-Regimes möglichst schlecht geht?
Kollege Erler, wenn Sie mir die Freundlichkeit erwiesen hätten, meinen Ausführungen wirklich aufmerksam zuzuhören,
so hätten Sie erfahren, daß meiner Überzeugung
nach ein solcher Investitionsfonds, wenn ich den Kollegen Wehner recht verstanden habe, überhaupt nur dazu dienen würde, das Regime zu festigen, und der Bevölkerung überhaupt nicht helfen würde. Das ist meine Überzeugung.
— Bitte, Herr Kollege Kalbitzer.
Herr Kollege Friedensburg, haben Sie denn die Ausführungen, gegen die Sie polemisieren, selber gelesen? Wenn dem so wäre, würden Sie doch vielleicht gelesen haben, daß dort ganz bestimmte, konkrete Maßnahmen und nicht allgemeine Unterstützungsmaßnahmen vorgeschlagen worden sind.
Herr Kollege Kalbitzer, ich habe dem Kollegen Wehner die Ehre erwiesen, seine Vorschläge nicht im einzelnen zu erörtern. Denn je mehr wir ins einzelne gehen, desto niederschmetternder wird das Ergebnis sein.
Wir sind uns jedenfalls einig, daß die Konföderation, unter welchem Vorzeichen auch immer, für uns keine geeignete Lösung darstellt und daß auch die Halbkonföderationen, von denen wir gelegentlich hören, so lange für uns unannehmbar sind, als sie lediglich geeignet sind, das Ulbricht-Regime in seiner heutigen Machtstellung zu festigen.Aber es wird mir und sicherlich auch Ihnen schwer, diese Rede lediglich mit dieser negativen Feststellung enden zu lassen. Sie gestatten, daß ich zum Schluß doch noch einiges Tröstliche sage, gerade auch im Hinblick darauf, daß uns Zehntausende von Zonenbewohnern zuhören.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang von einem Vortrag erzählen, den wir vor einigen Tagen von einem hochgestellten Österreicher in Berlin gehört haben, der uns über die Lösung des Problems der Auseinandersetzung mit der Sowjetregierung berichtet hat. Als Ergebnis dieses Vortrags, als Quintessenz der österreichischen Erfahrungen glaube ich Ihnen drei Erkenntnisse vortragen zu dürfen. Dabei bin ich mir klar, daß die österreichischen Verhältnisse in vielem mit den unseren nicht vergleichbar sind. Aber es sind eine ganze Reihe von Elementen darin, die für uns doch recht lehrreich sein können.Das erste — und das geht uns alle an, meine Damen und Herren — ist, daß eine Außenpolitik, wie sie Österreich getrieben hat, gestützt auf die beiden großen Parteien, gewisse gute Aussichten bietet. Ich glaube, daß keiner hier im Hause, auch bei meinen Freunden, abgeneigt wäre, eine solche gemeinsame Außenpolitik zu treiben, wenn unsere sozialdemokratischen Kollegen sich entschließen könnten,
darauf zu verzichten, die Wiedervereinigung zu einer Parole der Wahl- und der politischen Parteipropaganda zu machen. Das ist das, was wir nicht wollen.
Solange unsere sozialdemokratischen Kollegenich möchte gerade hier an den Artikel von Kollegen Wehner in der Zeitschrift „Geist und Tat" erinnern — nicht darauf verzichten, im Falle der Wiedervereinigung die Einführung alter, ihnen lieber Programmpunkte zu erwägen, ist allerdings eine gemeinsame Politik kaum möglich.
Nachdem sich unser Wirtschaftssystem, das Wirtschaftssystem der sozialen Marktwirtschaft, bisher so glänzend bewährt hat,
daß selbst bei Ihnen, glaube ich, ernste Kritik kaum mehr in Frage kommen wird, würden wir doch geradezu Narren sein, wenn wir uns von diesem System abkehren — im Augenblick der großen Bewährungsprobe — und Ihre Parteiprogramme von vorgestern verwirklichen wollten;
und ich möchte auch Sie bitten, meine Damen und Herren , in diesem Punkte große Zurückhaltung zu wahren.
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964 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Dr. Friedensburg— Kollege Schröter, wir kennen uns doch nun lange. Hören Sie doch einen Augenblick zu. Ich würde Ihnen dringend empfehlen, diesen Punkt der Entscheidung der Bevölkerung zu überlassen.
Ich glaube, wir können völlig gewiß sein, wie sie entscheiden wird.
Überhaupt bin ich mit Ihnen, Kollege Schröter, völlig einig, daß wir uns eine Wiedervereinigung nicht im Sinne irgendeines Anschlusses oder gar einer Annexion vorstellen können. Deswegen sind alle vorzeitigen Programme verfrüht. Wie es dort aussehen soll, daß soll einmal das deutsche Volk in seiner Gesamtheit entscheiden.
Aber ich glaube — und, Herr Schröter, Sie wissendas selber —, man wird sich hüten, dort die mühsam im Politischen zu erringende Freiheit damit zu bezahlen, daß man sich in eine Zwangswirtschaft hineinbegibt.Die zweite Erkenntnis, die vielleicht schon etwas schwieriger zu formulieren ist, die aber auch uns Osterreich lehren kann, ist die Erkenntnis, daß ein Volk, das seiner Sache gewiß ist, bei voller Wahrung der treuen Zugehörigkeit zum Westen es verstehen kann, mit dem Osten zu verhandeln. Ich glaube, hier komme ich den Ansichten der Opposition einen Schritt entgegen. Ich glaube, in der Tat, daß wir diese Lehre von Osterreich annehmen können. Es ist doch der ganzen gesammelten und gemeinschaftlichen Bemühung der österreichischen Parteien unter sehr ungünstigen Umständen gelungen, sich mit den Russen zu verständigen. Das hat Opfer gekostet — auch wir werden gern Opfer bringen —; aber, meine Damen und Herren, es hat Erfolg gehabt, und niemand bereut dort die Opfer, die diese Lösung schließlich auferlegt hat.Schließlich — und das ist das Letzte und vielleicht Wichtigste, meine Damen und Herren — zeigt uns das österreichische Beispiel: Es ist niemals zu spät.
Es ist dort unter den ungünstigen Umständen — nachdem in an die tausend Sitzungen über diesen Gegenstand verhandelt wurde — möglich gewesen, zu einem Ergebnis zu kommen.Auch wir sollten uns klarmachen, daß, wenn man treu und entschlossen und zäh an diesem Gedanken festhält, ein Erfolg möglich ist, besonders, wenn wir ihn in vernünftiger Gemeinschaft miteinander anstreben.Meine Damen und Herren, das heißt nicht, daß wir alle das gleiche wollen. Ich glaube, manche Auseinandersetzung kann durchaus fruchtbar und nützlich sein. Die Austragung der Meinungsverschiedenheiten kann mehr Segen bringen als Schaden, wenn sie in einer vernünftigen und die Gemeinschaft nicht leugnenden Weise verläuft. Keiner von uns — seien wir doch ehrlich! — weiß dieZauberformel, mit der man den Berg öffnen könnte. Jeder von uns weiß aber, daß die Kette, die auf uns gelegt ist, weder durch irgendeine Gewalttat zerrissen noch durch irgendeinen genialen diplomatischen Kunstgriff abgestreift,
sondern nur beseitigt werden kann, indem wir geduldig und im kleinen Glied für Glied auflösen.
Das kann aber nicht geschehen, wenn wir uns gegenseitig mit Rechthabereien und Vorwürfen in der Arbeit stören, sondern nur, wenn wir uns mit Rat und Tat gegenseitig unterstützen.
Ich glaube, wir können unseren Brüdern und Schwestern draußen sagen, daß wir die Hoffnung nicht aufgeben und daß auch sie die Hoffnung nicht aufzugeben brauchen. Wenn wir weiterarbeiten, so wie wir es bisher getan haben, brav und zäh und treu und geduldig, dann wird der Erfolg nicht ausbleiben. Gebe uns der liebe Gott, daß wir die Einsicht und die Kraft dafür behalten!
Das Wort hat Frau
Abgeordnete Wessel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mit einer Feststellung zu der Rede des Herrn Abgeordneten Schneider von der Deutschen Partei beginnen. Er brauchte zu seiner Begründung der Atomaufrüstung, zur SPD gerichtet, den Satz: „wenn Sie noch an Gott zu glauben vermögen." Herr Kollege Schneider, ich habe bei den Sprechern der CDU und auch der Deutschen Partei gestern und heute den Eindruck gewinnen müssen, daß ihr Glaube an die Kraft der Atombomben für die Bundesrepublik größer ist als der Glaube an Gott als den Lenker der Weltgeschichte.
— Meine Damen und Herren, beruhigen Sie sich;
ich werde Ihnen zur Begründung einen Sprecher nennen, der Ihnen sicherlich mehr sagt, als ich es kann. Am 24. September 1950 erklärte der Herr Bundestagspräsident Dr. Ehlers folgendes —
Sie brauchen sich gar nicht so aufzuregen, meine Herren; wenn der Herr Abgeordnete Schneider solches in diesem Hohen Hause sagt, mag es wohl erlaubt sein, darauf zu antworten.
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 965
Frau WesselIch möchte jetzt Herrn Dr. Ehlers zitieren:Zum Unterschied von allen anderen europäischen Staaten ist Deutschland nicht ein völlig im Westen liegendes und nicht mit ihm allein verbundenes Volk. Wir wissen, daß die Teilung Deutschlands und die damit ständig wachsende Gefahr, daß Deutsche auf Deutsche schießen, die größte Friedensbedrohung ist. Wir müssen daher erwarten, daß ausländische und deutsche Politiker so handeln, daß diese Teilung irgendwann und irgendwie überwunden, aber nicht verewigt und zu einem Mittel der Machtpolitik der großen Weltmächte gemacht wird.Und nun, Herr Kollege Schneider und sehr verehrte Kollegen von der CDU, kommt der entscheidende Satz:Wir wissen auch nicht, wie die Dinge im einzelnen laufen, aber wir trauen Gott zu, daß er auch unserem gar nicht gerüsteten Volke Wege zeigen kann, die seine Freiheit und sein Leben bewahren. Täten wir es nicht, würden wir nicht Gott, sondern der Macht der Menschen vertrauen.Eine zweite Feststellung möchte ich an die Rede eines meiner Vorredner, des Herrn Dr. Jaeger, anknüpfen. Man ist von der alten, so verhängnisvollen Platte zur Politik der Bundesregierung in diesem Hohen Hause anscheinend immer noch nicht abgekommen,
nämlich diejenigen — und das klang doch wohl aus den Worten von Herrn Jaeger durch — als Moskauanhänger oder bewußte oder unbewußte Förderer russischer Politik zu diffamieren, die eine andere Einstellung zur Politik der Bundesregierung vertreten. Seit Jahren haben wir es doch erlebt, daß in der Bundesrepublik auch in diesem Hause eine Kommunistenpanik hochgezüchtet worden ist, um damit die Politik der Bundesregierung zu rechtfertigen. Dieser Geisteszustand sonst politisch ganz vernünftiger Menschen macht nach unserer Meinung verständlich, warum es einen Hexenwahn in weniger aufgeklärten Zeiten gegeben hat und wie es zu Ketzergerichten in großen Glaubenskämpfen kommen mußte.Gegenüber dieser Haltung muß zu wiederholten Malen gesagt werden: Es gibt doch keinen ernst zu nehmenden Gegner, der mit dem Vertreten einer anderen Politik als der der Bundesregierung einer Loslösung vom Westen und einer einseitigen Anlehnung an den Osten das Wort reden will. Aber, so frage ich: War und ist diese Kommunistenpanik und die damit verbundene Diffamierung der politischen Gegner nicht im Sinne derjenigen, die eine Verständigung mit Rußland und damit die Wiedervereinigung hintertreiben wollen?
Oder ist man in diesem Hause wirklich so primitiv, zu glauben, das wäre eine besonders gute Verhandlungsbasis und das entsprechende Klima, die Russen zu Verhandlungen zu bringen, von denen mandoch so viel gesprochen hat, die irgendeine Aussicht auf Erfolg haben?
Von dieser Perspektive aus bekommt auch die Frage der Wiedervereinigung und das, was dafür von der Bundesregierung getan worden ist, ein besonderes Gewicht. Das ist nicht verwunderlich angesichts der geschichtlichen Bedeutung, die die Frage der Wiedervereinigung für das deutsche Volk hat. Sie ist immer Gegenstand der außenpolitischen und auch innenpolitischen Debatten in diesem Hause gewesen, seitdem überhaupt ein Bundestag existiert. Aber sie ist von verschiedenen politischen Bewertungen und Blickrichtungen betrachtet worden und von der für die Erreichung dieses Ziels notwendigen Politik her. Ich darf daran erinnern: Gerade zur Frage der Wiedervereinigung und der dazu notwendigen Politik der Bundesregierung habe ich im 1. Bundestag in meinen Reden darauf hingewiesen, daß die von dem Herrn Bundeskanzler geführte Politik nicht zur Wiedervereinigung führt, einfach nicht führen kann, weil sie von falschen Voraussetzungen in bezug auf die Situation der Welt und insbesondere Sowjetrußlands bestimmt war.
Die Bundesregierung hat seit Jahren einen Mangel an konstruktiven Ideen angesichts der Veränderung der Lage und der Machtverhältnisse in der Welt gezeigt, was sich besonders verhängnisvoll in der Behandlung der Möglichkeiten für die Wiedervereinigung ausgewirkt hat.
Daß sich die Möglichkeiten zur Wiedervereinigung insbesondere von seiten der Sowjets so versteift haben, ist auf diese konstruktionslose und ideenarme Politik der Bundesregierung zur Wiederherstellung Deutschlands zurückzuführen.
— Ach nein, das ist gar nicht so billig, Sie mögenes nur nicht gern hören.
Es ist nicht zu leugnen — man mag die Noten der Russen
aus dem Jahre 1952 auslegen, wie man will —,
daß die Sowjets vor sechs Jahren und noch 1955 bereit waren, auf der Grundlage allgemeiner Wahlen zu verhandeln.
Ich werde Ihnen das gleich noch genau anführen. Ich bin der Meinung, daß Ihre außenpolitischen Sprecher die Noten der Russen ja auch kennen. Nur haben Sie uns hier bisher immer die Noten von 1952 angeführt, aber nicht die wichtige Note vom Jahre 1955.
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966 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Frau WesselDas ist auch erklärlich, wenn man die Politik der Stärke vertritt. Sie mögen einen anderen Ausdruck dafür gebrauchen, in Wirklichkeit ist es doch dieselbe Politik, die heute noch vertreten wird. Diese Politik war deswegen so verhängnisvoll, weil sie mit der Hoffnung auf den Erfolg der amerikanischen Politik gekoppelt war, nämlich auf die Befreiung Osteuropas durch militärischen Druck auf die Sowjets. Nur so ist doch die Rede des Herrn Bundeskanzlers am Tage nach der Wahl des 2. Bundestags hier auf dem Bonner Marktplatz zu verstehen, in der er von der Befreiung der Menschen in der Ostzone sprach.Schon vorher, am 5. März 1952, hatte der Herr Bundeskanzler in einem Zwiegespräch mit Herrn Friedlaender über den Nordwestdeutschen Rundfunk gesprochen und erklärt:Erst wenn der Westen stark ist, ergibt sich ein wirklicher Ausgangspunkt für friedliche Verhandlungen mit dem Ziel, nicht nur die Sowjetzone, sondern das ganze versklavte Europa östlich des Eisernen Vorhanges zu befreien.Nur von der Basis dieser Politik aus konnte Herr Staatssekretär Hallstein von den deutschen Interessen bis zum Ural sprechen, und der Herr Bundesaußenminister von Brentano in Augsburg auf der Schlußfeier der St. Ulrich-Festwoche — diese war zur Erinnerung an die Senfacht auf dem Lechfeld veranstaltet — von den heutigen modernen Heiden, die ebenso vernichtet werden müßten wie damals die Tataren, oder der Herr Verteidigungsminister Strauß von dem Wegradieren der Russen von der Landkarte sprach. So ähnlich lautete es doch wohl.Ich frage: glaubt die Bundesregierung und glaubt der Herr Bundeskanzler, mit solchen Formulierungen, die den Ostvölkern aus der Hitlerzeit noch in furchtbarer Erinnerung sind, die Russen für eine Politik der Verständigung mit der Bundesregierung, von der doch auch er gesprochen hat, freundlicher zu stimmen?
Oder glaubt der Herr Bundeskanzler, daß die Reden des Herrn Schneider und des Herrn Dr. Jaeger dazu beitragen werden?
Nur Verblendete können glauben, daß solche Redenzum Nutzen der deutschen Freiheit gehalten sind.
Frau Abgeordnete Wessel, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte!
Frau Kollegin, gestatten Sie mir die Frage: Meinen Sie, daß der Aufruf zur Atompanik, bei dem Sie ja beteiligt sind, dazu beitragen wird,
die Russen bereit zu machen, uns endlich Vorschläge zu machen, wie wir im Frieden zur Wiedervereinigung kommen können?
Frau Kollegin Kalinke, ich werde auf die Frage der Atompanikmache noch im einzelnen eingehen. Ich glaube, daß sich dann auch Ihre Frage beantworten wird.
Der Herr Bundeskanzler lehnte auch die Sowjetvorschläge vom 15. Januar 1955 für Viermächteverhandlungen über die Frage der Wiedervereinigung und gesamtdeutscher Wahlen ab.Um das Märchen von der angeblichen Dolchstoßlegende, von der Herr Verteidigungsminister Strauß im Hinblick auf die Ausführungen der Kollegen Dr. Dehler und Dr. Heinemann in der Sitzung vom 23. Januar gesprochen hat, einmal zu beleuchten, möchte ich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten aus dieser sowjetischen Note vom 15. Januar 1955 folgende Sätze zitieren — und das dürfte auch für Sie, Herr Kollege Kiesinger, im Hinblick auf die Vorwürfe und Angriffe Ihrer gestrigen Rede gegen Herrn Dr. Heinemann nicht ganz unwichtig sein —:Gegenwärtig gibt es noch ungenützte Möglichkeiten zur Erreichung eines Abkommens in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands unter gebührender Berücksichtigung der rechtmäßigen Interessen des deutschen Volkes und über die Durchführung von gesamtdeutschen freien Wahlen zu diesem Zweck im Jahre 1955. Solche Möglichkeiten sind vorhanden, wenn das Haupthindernis, das jetzt auf dem Wege der Wiedervereinigung Deutschlands steht—die Pläne der Remilitarisierung Westdeutschlands und seiner Einbeziehung in militärische Gruppierungen —, beseitigt wird.Das deutsche Volk muß durch Abhaltung allgemeiner freier Wahlen in ganz Deutschland einschließlich Berlins, die Möglichkeiten haben, seinen freien Willen zu äußern, damit ein einheitliches Deutschland als Großmacht wieder ersteht und einen würdigen Platz unter den anderen Mächten einnimmt.Um ein Übereinkommen über die Durchführung dieser Wahlen zu erleichtern, hält es die Sowjetregierung für nötig, falls sich die Regierungen der Deutschen Demokratischen Republik und der Deutschen Bundesrepublik damit einverstanden erklären, sich über die Einrichtung einer entsprechenden internationalen Aufsicht über die Durchführung der gesamtdeutschen Wahlen zu einigen. Hierbei darf kein Teil Deutschlands durch irgendwelche Bedingungen und Separatabkommen über seine Teilnahme an militärischen Gruppierungen gebunden sein. Die Sowjetregierung ist der Ansicht, daß die Frage der künftigen Staatsordnung eines vereinigten Deutschland vom deutschen Volke selbst entschieden werden muß und daß
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Frau Wesseles Aufgabe der anderen Staaten ist, dazu beizutragen, daß Deutschland entschieden den Weg der friedlichen und demokratischen Entwicklung beschreitet.
— Sie können das ja in Gänsefüßchen setzen; das bleibt Ihnen unbenommen.Die Durchführung gesamtdeutscher freier Wahlen und die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands würden auch die notwendigen Voraussetzungen für den Abschluß eines Friedensvertrages für Deutschland schaffen, der die Unabhängigkeit, Souveränität und Gleichberechtigung eines einheitlichen Deutschland endgültig verankern würde. Der Friedensvertrag würde einem einheitlichen Deutschland auch das Recht geben, über eigene nationale Streitkräfte zu verfügen, die für die Gewährleistung der Sicherheit Deutschlands und seiner Grenzen notwendig sind.
Darf ich Sie daran erinnern, Herr Bundeskanzler, daß mein Fraktionskollege Erler damals die Bundesregierung beschworen hat, die Ratifizierung der Pariser Verträge wenigstens so lange auszusetzen, bis die Vorschläge der Sowjetunion geprüft seien.
Frau Abgeordnete gestatten Sie eine Frage?
Statt dessen erklärten Sie in Ihrem Interview am 17. Februar 1955,
daß Verhandlungen mit der Sowjetunion — —
— Ja, meine Damen und Herren, wenn Ihnen solch wichtige Fragen so lächerlich erscheinen, dann, muß ich sagen, ist es traurig um das Verantwortungsbewußtsein der Abgeordneten in diesem Hause bestellt.
Frau Abgeordnete, Wessel, gestatten Sie dem Abgeordneten Kiesinger eine Zwischenfrage?
Diplomatische Noten muß ich ja wohl vorlesen, um sie wortwörtlich wiederzugeben.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Verehrte Frau Kollegin, da wir ja den geschichtlichen Sachverhalt klären wollen: Haben Sie sich die Konsequenzen dieses Angebots einmal überlegt? Haben Sie überlegt, daß auch in diesem Angebot das Entscheidende ist, daß kein Weg zu Besprechungen über freie Wahlen und zur Wiedervereinigung führen konnte ohne das alte Ziel der Sowjetunion, nämlich Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und Pankow?
Meine Damen und Herren, ich kann sehr einfach darauf antworten: Es ist billig, eine solche Frage zu stellen, nachdem man nicht einmal versucht hat, zu klären, welche Möglichkeiten das Angebot der Russen tatsächlich eröffnet.
Aber ich möchte den Herrn Kollegen Kiesinger auf eine Rede hinweisen, die er nach dem Bulletin vom 25. September 1953 in der Beratenden Versammlung des Europarates am 19. September 1953 über Deutschlands Politik im Dienste des europäischen Friedens und der internationalen Verständigung gehalten hat. Es war eine vielbeachtete Diskussionsrede.
Da sagte Herr Kollege Kiesinger — das ist die Antwort darauf —:
Ich habe manchmal den Eindruck, als ob wir bei der Haltung der Russen vergessen, daß der Russe schließlich doch kein Europäer, sondern ein asiatischer Mensch ist,
— warten Sie ab! —
und diese Menschen machen, wenn sie in Verhandlungen eintreten, zunächst einmal ein sehr teures Angebot, auch wenn sie im Endeffekt bereit sind, einen kleinen Preis zu nehmen. Nichts zwingt zu glauben, daß die gegenseitigen russischen Behauptungen und Angebote die endgültige russische Stellungnahme sei. Selbstverständlich stimme ich mit allen jenen überein, die sagen, wir müssen den Russen Angebote machen, die sie akzeptieren können.
Aber ich möchte mich nach dieser Zwischenbemerkung dem Interview zuwenden, das der Herr Bundeskanzler gegeben hat und das in der „Welt" vom 17. Februar 1955 wiedergegeben ist. Er sagt in diesem Interview:
Wenn die Sowjetunion — nach der Ratifizierung — einer Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit zustimmt und damit einverstanden ist, daß ganz Deutschland nach seinem frei ausgesprochenen Willen ein Mitglied der Gemeinschaft der freien Völker ist, dann könnten ja diese Zugeständnisse ein System allgemeiner Sicherheit und die freie Teilnahme am Welthandel einleiten.
968 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung, Bonn, Freitag, den 21, März 1958
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Weiter sagten Sie, daß „der Heiße und der Kalte Krieg die Kräfte Rußlands überfordere". Daraus zogen Sie den Schluß, Rußland würde also im eigenen Interesse nachgeben müssen.
— Meine Damen und Herren, wenn Sie von der CDU glauben, — —
Meine Damen und Herren, ich bitte doch wirklich, die Rednerin nicht dauernd zu unterbrechen.
— Sie ist immer noch im Zitieren, und was das Ablesen anbetrifft: meine Damen und Herren, wir sind allesamt Sünder.
— Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Sie ist abgelehnt.
Ich beabsichtige, Ihnen jetzt einmal die Zusammenhänge näher darzulegen, und ich bin der Meinung, daß es jedem Abgeordneten dieses Hauses unbenommen ist, dazu Stellung zu nehmen. Ich glaube, es dient einer nicht erregten Auseinandersetzung viel besser, wenn man den anderen Menschen erst einmal in Ruhe anhört, und die scheinen wir alle verloren zu haben.
Ich gehe wieder auf das Interview zurück, das der Herr Bundeskanzler gegeben hat, und ich möchte die von ihm vertretene These hervorheben, die These von der inneren Zwangslage der Sowjetunion, der Bonner Politik nachgeben zu müssen. Aber die tatsächliche Entwicklung hat gezeigt, daß diese Auffassung zu den gefährlichen Trugschlüssen der Bonner Politik geführt hat. Eine spätere Geschichtsschreibung wird einmal die Hintergründe festzustellen haben, die für diese Entscheidungen maßgebend gewesen sind.Als ebenso falsch hat sich die von der Bundesregierung vertretene These erwiesen — es ist ja hier schon darauf eingegangen worden —, daß die Ratifizierung der Pariser Verträge und unser Eintritt in die NATO die Sowjetunion in der Frage der Wiedervereinigung verhandlungsbereiter machen würde. Wir müssen das Gegenteil feststellen: daß sie sich versteift hat. Das war aber bereits aus der eben erwähnten Note vom 15. Januar 1955 ersichtlich. Ich möchte daraus noch folgenden Satz zitieren:Die Sowjetunion hat bereits darauf hingewiesen, daß derartige Behauptungen jeder Grundlage entbehren und lediglich dazu geeignet sind, die öffentliche Meinung irrezuführen. Das geschieht, um die Ratifizierung der Pariser Abkommen in den Parlamenten einiger Staaten um jeden Preis durchzubringen. Dies wird von jenen Kreisen der Westmächte betrieben, die sich die Wiedergeburt des deutschen Militarismus als Hauptaufgabe stellen und dafür die nationale Wiedervereinigung Deutschlands opfern. Im Zusammenhang mit dieser Haltung der Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritanniens und Frankreichs, die in grobem Widerspruch zu den internationalen Verpflichtungen dieser Länder hinsichtlich der Wiedervereinigung Deutschlands als friedliebenden und demokratischen Staates steht,— nach Ihrer Meinung in Anführungszeichen gesetzt —
— und hier kommt jetzt der verhängnisvolle Satz —hängt die Wiedervereinigung Deutschlands jetzt in erster Linie von den Deutschen selbst, von der Haltung des deutschen Volkes ab.Meine Damen und Herren, bei seinem Besuch in Moskau im September 1955 mußte der Herr Bundeskanzler in besonderer Weise die Versteifung Sowjetrußlands in der Wiedervereinigungsfrage feststellen, als Chruschtschow jede Erörterung des Wiedervereinigungsproblems damit abschnitt, daß das jetzt zu spät sei. Chruschtschow sagte nach dem Bulletin vom 20. September 1955, aus dem ich mit Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitiere:Wir haben sehr ehrlich und manchmal sogar mehr, als die diplomatische Sprache erlaubt; die andere Seite davor gewarnt, daß die Pariser Verträge und der Beitrag der deutschen Bundesrepublik zur NATO den Weg zur Lösung der deutschen Frage in der nächsten Zukunft versperren würde. . . . Wir wollen offenherzig sein: . . . Die Wiedervereinigung Deutschlands wird jetzt so ausgelegt, daß das vereinigte Deutschland der NATO angehören müßte. Und NATO ist gegen die Sowjetunion geschaffen worden. Wir wären Toren, wenn wir dazu beitragen würden, daß das ganze Deutschland der NATO angehört, und dadurch Kräfte verstärkt würden, die gegen uns gerichtet sind. Wir sind davon überzeugt, daß, wenn sich die deutsche Bundesregierung in einer solchen Lage befinden würde, sie sich ebenso verhalten würde wie wir, und sie würde recht behalten.
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 969
Frau WesselDie Heimkehr der deutschen Gefangenen aus Rußland und die natürliche Freude darüber hat damals die deutsche Bevölkerung nicht zu der Erkenntnis gebracht, wie viele politische Illusionen und Trugschlüsse der Politik der Bundesregierung mit dieser Äußerung Chruschtschows zerschlagen worden sind.
Aber auch die deutsche Bundesregierung kam nicht zu der Erkenntnis, daß die Politik der Stärke und des kalten Krieges — sie mögen sie heute die der Sicherheit nennen — nicht zur Wiedervereinigung führen wird. Wem das bisher nicht klar war, der mußte es an der Ägypten- und der Ungarnkrise sehen. Welche nüchternen Tatsachen zeigten sich, die im Fall Ungarns zu schauerlichen Erkenntnissen führten? Der Westen mußte die Ungarn ihrem Schicksal überlassen. Lediglich die Flüchtlinge nahm er auf, und von der von den Ungarn so viel erträumten Befreiung blieb auch nichts übrig.
Die Furcht vor einem russischen Eingreifen zwang auch in der Ägypten-Krise die Amerikaner, auf ihre Verbündeten in massiver Weise einzudringen und sie zum Rückzug aus Ägypten zu bringen.Ich meine, diese beiden Vorgänge zeigen eindeutig, daß die Politik der Stärke an dem atomaren Gleichgewicht zwischen den beiden Weltmächten gescheitert ist. In Wirklichkeit ist es doch so: Durch den Besitz der Wasserstoffbombe und anderer furchtbarer Vernichtungswaffen ist die Sowjetunion in den vergangenen Jahren militärisch und politisch ständig stärker geworden. Das mag uns sehr nachdenklich und bedenklich stimmen, aber wir sollten es doch endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
Um so mehr wäre es notwendig gewesen, von der Politik der Stärke, der militärischen Einschüchterung, der Strategie der Vergeltung abzulassen; denn dadurch sind nur die Sicherheitsforderungen der Russen gesteigert worden.
Auch der Preis für die Wiedervereinigung hat sich erhöht. Das ist das Verdienst der Politik der Bundesregierung. Die Zeit hat nicht für, sondern gegen uns gearbeitet. Wenn der Herr Bundeskanzler uns jetzt wie in seiner Regierungserklärung in der Sitzung vom 23. Januar Geduld empfiehlt in der Hoffnung, daß die Sowjetunion in 10, 20 oder 30 Jahren in einer Krise sein würde und dann konzessionsbereit wäre, so muß ich sagen, die bisherige Entwicklung in Rußland hat immerhin gezeigt, daß das Gegenteil der Fall ist.
Darum kann niemand, dem die Wiedervereinigung und das Schicksal der 18 Millionen Deutschen in der Ostzone am Herzen liegt, diesen Weg des Bundeskanzlers akzeptieren. Im Gegenteil, keine all derVerheißungen, die der Herr Bundeskanzler dem deutschen Volke hinsichtlich der Wiedervereinigung gemacht hat, hat sich erfüllt.Aber auch die Hoffnung, daß die Bundesrepublik im Kriegsfall nicht Schlachtfeld wird, wenn sie dem NATO-Bündnis angehört, hat sich als trügerisch erwiesen. Die Manöver der Carte Blanche und andere haben das Gegenteil gezeigt, und diese militärischen Erfahrungen haben es mit sich gebracht, daß die Frage der deutschen Wiedervereinigung angesichts der immer drängender werdenden Abrüstung nicht einmal mehr eine Voraussetzung oder ein Pfand für erfolgreiche Abrüstungsgespräche zwischen Ost und West ist. Die Entwicklung in der Welt ist über die Politik der Bundesregierung hinweggegangen. Das zu erkennen ist notwendig; denn alles andere ist Illusion.
Lassen Sie mich auch noch eins sagen, selbst auf die Gefahr hin — vor der zu warnen in diesem Hause so beliebt ist —, damit die Geschäfte Pankows oder Rußlands zu machen. Auch das ist eine Tatsache: die politische und militärische Stärkung Rußlands und in Verbindung damit die Illusionspolitik der Bundesregierung in den Möglichkeiten der Wiedervereinigung haben noch ein weiteres Ergebnis, das man ebenfalls zur Kenntnis nehmen sollte, auch wenn es einem nicht gefällt, nämlich die Konsolidierung der verfassungsrechtlichen, völkerrechtlichen und innenpolitischen Situation in der DDR. Die Politik der Bundesregierung, die dadurch hervorgerufene Entwicklung in der DDR bis zur Macht des Herrn Ulbricht haben uns auch dahin gebracht, daß allgemeine Wahlen und die Wiedervereinigung nach den Vorstellungen Rußlands jetzt am Ende, nicht aber, wie es noch nach der Note der Sowjets vom 15. Januar 1955 möglich war und wie wir es alle gewünscht und vertreten haben, am Anfang des Weges stehen.
— Ja sicher; es ist sehr leicht, jetzt zu sagen „na also"!Man sollte sich seitens der Bundesregierung auch dank ihrer Politik keinen Illusionen mehr darüber hingeben, daß Moskau — schon mit Rücksicht auf seine Satellitenstaaten — nicht sein Gesicht verlieren und einen Staat fallenlassen wird, den es doch im Gegensatz zur Gründung der Bundesrepublik geschaffen hat.
Dies um so weniger, als heute vierzehn Länder der Welt die DDR als eine völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Realität sehen
und — ich sage es noch einmal, ob es Ihnen paßt oder nicht — zahlreiche andere Länder Vertrags- und Handelspartner der DDR sind.
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970 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Frau Wessel— Das werden Sie ja durch die Herren des Auswärtigen Amts sehr schnell feststellen lassen können.
Darum werden die Sowjets nicht mit den Westmächten und der Bundesregierung allein, über den Kopf von Pankow hinweg, über die Wiedervereinigung verhandeln. Das ist die Erkenntnis sehr realer Tatsachen, die ich hier aufgezählt habe, und das Ergebnis der Politik der Bundesregierung.Wenn man in diesem Hause versucht, dieses den Tabus und Fiktionen der Politik der Bundesregierung gegenüber auszusprechen, wie es die Kollegen Dr. Dehler und Dr. Heinemann getan haben, dann wird von dem niedrigen Niveau dieser Bundestagsdebatte am 23. Januar gesprochen, und man ist sehr schnell mit dem Cruzifige bei der Hand.Man war auch, meine Damen und Herren, bis zur Sitzung am 23. Januar nicht so ängstlich mit der Betonung christlicher Prinzipien und ihrer Bedeutung auf die Politik in diesem Hohen Hause, mit dem Zitieren von Stellungnahmen hoher Kirchenfürsten. Nur als Dr. Heinemann sprach, bedeutete das den Mißbrauch des Christentums.
Wie falsch diese Haltung ist, möchte ich an Hand von zwei Sitzungsprotokollen des Bundestages zeigen. In der 191. Sitzung des ersten Bundestages führte der damalige Bundestagspräsident, Dr. Ehlers, folgendes aus:
Es ist noch niemals, glaube ich, in der Geschichte der Bundesrepublik und seit langer Zeit in der Geschichte des deutschen Volkes vorgekommen, daß eine politische Entscheidung— gemeint war hier das Ja oder Nein zur Aufrüstung —so unmittelbar und stark in den religiösen Bereich vorgestoßen ist.
Frau Abgeordnete Wessel, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich glaube, es ist doch wohl besser, wenn ich zunächst weiter zitiere. Was haben denn diese Zwischenfragen für einen Zweck, wenn ich Herrn Ehlers zitiere?
Wir haben noch niemals gemerkt, daß Christen aller Konfessionen sich durch eine Fragestellung so angesprochen fühlten wie durch diese. Ich muß sagen — und das, glaube ich, meine Damen und Herren, darf ich hier sagen, weil es niemandem in seiner persönlichen religiösen Überzeugung zu nahe tritt —: wir sind gehalten, diese Bedenken und Sorgen der Christen in unserem Volk und in allen anderen Völkern mit großer Aufmerksamkeit zu hören.Auch als Frau Kollegin Dr. Rehling in der 222. Sitzung des 1. Bundestags betonte, daß sie in ihrer Eigenschaft als Mitglied der Evangelischen Kirche, in deren Bereich das Für und Wider eines Verteidigungsbeitrages Gegenstand lebhafter Auseinandersetzung gewesen ist, zu dieser Frage spreche, und darüber Ausführungen von ihrem christlichen Standpunkt aus machte, hat sich keine Stimme dagegen in diesem Hause erhoben.
Nur bei Mitgliedern der SPD-Fraktion, bzw. bei Herrn Dr. Heinemann, bedeutet das einen Mißbrauch des Christentums.
Es erhob sich auch kein Widerspruch, als Frau Kollegin Rehling in dieser Sitzung sehr dankbar die Erklärung des Bischofs Dibelius begrüßte, in der gesagt wurde, die Kirche könne es sich nicht nehmen lassen, politische Fragen auf ihren Veranstaltungen zu diskutieren.
Weniger zustimmend erklärte sich allerdings Frau Kollegin Rehling gegenüber Äußerungen des Herrn Kirchenpräsidenten Niemöller und seiner geistlichen Freunde, als sie für sich dasselbe Recht in Anspruch nahmen wie Herr Bischof Dibelius. Also auch hier gilt der Satz: Es ist nicht das gleiche, wenn zwei das gleiche tun.
Meine Damen und Herren, gegenüber Herrn Kirchenpräsident Niemöller wurde von Frau Kollegin Rehling Martin Luthers Schrift: „Wider die himmlischen Propheten" zitiert, in der sich Luther in scharfen Worten gegen die politischen Propheten im geistlichen Rock wendete. Frau Kollegin Rehling fügte hinzu:Wir sollten wahrhaftig die Geschichte zu Rate ziehen und bedenken, welche Nöte solche zwangsläufig auf die Klerikalisierung der Politik hinarbeitenden Propheten uns in der Vergangenheit gebracht haben und in Zukunft noch bringen könnten.Sehen Sie, Frau Kollegin Kalinke, deswegen habe ich das zitiert, weil es mir eine Mahnung zu sein scheint, die, wenn sie von der CDU beachtet worden wäre, dem Bundestagswahlkampf viel von seiner Verhetzung genommen hätte. Und hoffentlich wird diese Mahnung, Frau Kollegin Rehling, bei den bevorstehenden Wahlen bei Ihnen und Ihren politischen Freunden Beachtung finden.
In den Sitzungen heute und gestern bewegt uns aber nicht nur die Frage der deutschen Wiedervereinigung und der versäumten Gelegenheiten der Bundesregierung, die Sowjets auf Grund ihrer Vorschläge einmal beim Wort zu nehmen, um festzustellen, ob denn ihre Noten nur leere Phrasen sind, sondern wir sind in weit stärkerem Maße besorgt, aus den Reden des Herrn Bundeskanzlers, des Herrn Verteidigungsministers und der Sprecher der
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 971
Frau WesselRegierungsparteien entnehmen zu müssen, daß die Bundesregierung zur Ausrüstung der deutschen Bundeswehr mit Atomwaffen bereit ist. Der Anlaß, der dem Kollegen Dr. Heinemann in diesem Hause den Vorwurf des Mißbrauchs des Christentums eingebracht hat, war ja die Stellungnahme evangelischer kirchlicher Kreise zur Aufrüstung in der Bundesrepublik und der damit verbundenen Bedrohung des deutschen Menschen.Ich möchte zu der von der Bundesregierung vorgesehenen Atomaufrüstung in der Bundesrepublik auch als Frau einige Ausführungen machen. Frau Kollegin Brauksiepe hat in der 191. Sitzung des 1. Bundestages zur Verantwortung der Frau und ihrer politischen Aufklärung interessante Ausführungen gemacht. So sagte sie nach dem Stenographischen Bericht:Die Frauen sind zu allen Zeiten, vor allem aber an den Kreuzpunkten ihrer Geschichte, die unsichtbaren Pfeiler der Geschichte gewesen, von deren Tragfähigkeit unendlich viel abhängt.Sie sprach auch von der Infiltration der Angstpropaganda, der man ein kontinuierliches und gelassenes Aufklären, eine Informationsarbeit entgegensetzen müsse,
die Klarheit auch bei den zaghaften Frauen schafft.
— Gestatten Sie, daß ich an diese Ausführungen von Frau Kollegin Brauksiepe anknüpfe, um die von ihr verlangte Aufklärungs- und Informationsarbeit zu leisten.Ich möchte — das sage ich in aller Offenheit — als katholischer Christ dafür zunächst eine Persönlichkeit anführen, die auch bei Ihnen und Ihren politischen Freunden als unbestechliche Persönlichkeit gilt, nämlich den H1. Vater Pius XII. Seit Jahren erhebt der Papst seine Mahnungen an die Staatsmänner und Völker der Welt, mit dem Wahnsinn der Atomrüstung Schluß zu machen.
Schon im Oktober 1953 erklärte Papst Pius XII. den Krieg mit ABC-Waffen als verbrecherisch. In seiner Osterbotschaft 1954 sprach er von den Waffen, die dazu angetan seien, für den ganzen Erdkreis zu einer gefährlichen Katastrophe zu werden, die die völlige Vernichtung jedes animalischen und pflanzlichen Lebens bringt. Papst Pius XII. wies auf die biologischen Folgen hin, die durch Mutationen in den Keimen, den Mikroorganismen — auch des pflanzlichen Lebens —, entstehen, von unberechenbarer Wirkung sind, hervorgerufen durch einen dauernden radioaktiven Einfluß auf die Organismen der Menschen und ihrer Nachkommenschaft. Er wies auf die Gefahr einer Veränderung des Erbgutes und der Vererbungsfaktoren der Menschen hin und stellte die Frage — meine Damen und Herren von der CDU, auch ich stelle hier die Frage:Wie lange noch setzen die Menschen ihre Pläne
Wann wollen die Mächtigen der Nationen wahrnehmen, daß der Friede nicht in einer verschärften kostspieligen Beziehung wechselseitigen Schreckens bestehen kann, sondern vor allem in der allgemeinen christlichen Liebe und im besonderen in der freiwillig geleisteten Gerechtigkeit.In besonders besorgter Weise über die wachsende Gefahr der Atomdrohung äußerte sich der Heilige Vater bei einem Empfang des Sonderbeauftragten des japanischen Ministerpräsidenten, Professor Masathoshi Mathushita vom 14. April 1957.
— Wenn Sie das alles kennen, dann bedauere ich alle die Reden, die hier gehalten worden sind.
Frau Abgeordnete, erlauben Sie eine Zwischenfrage?
Bei dem Empfang des japanischen Sonderbeauftragten — —
— Nein, ich lese nicht nur vor, sondern ich zitiere, ( und Sie gestatten, daß ich das genauestens zitiere; denn Sie machen sich sonst das billige Vergnügen, wie bei Herrn Dr. Heinemann zu sagen, ich hätte falsch zitiert, und darum zitiere ich genau.
Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, die Rednerin anzuhören. Zwischenrufe sind erlaubt, aber nicht Störungen.
— Das können Sie nachher richtigstellen.
Ich zitiere aus der "Herder-Korrespondenz", Heft 9, Juni 1957, und sage das für diejenigen, die es noch nicht kennen, damit sie es nachlesen können.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Der Heilige Vater sagte bei diesem Empfang des japanischen Sonderbeauftragten:Die wachsende
Beherrschung der Naturkräfte durch den Menschen läßt neue und inständige Motive der Sorge entstehen.
— Ja, meine Damen und Herren, ich kann verstehen,
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972 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Frau Wesseldaß Sie diese Worte nicht gern von der Tribüne des Bundestags hören.
In der Tat, die zerstörende Gewalt der Atomwaffen
ist unbegrenzt geworden, nicht mehr gebremst durch die „kritische Masse", die der sonst schrecklichen Gewalt der ursprünglichen Atomwaffen eine natürliche Grenze setzte. Jetzt wird diese unbegrenzte Macht als Drohung gebraucht, die, von einem Feld auf das andere geschoben, immer katastrophaler wird; denn jeder sucht den anderen zu übertreffen durch die wachsenden und leider tatsächlichen Schrecken, die einem dadurch eingejagt werden. Wenn es sich um Naturkatastrophen handelt, muß man vor dem, was durch den Willen des Allmächtigen geschieht, sein Haupt neigen. Aber wenn sich eine Katastrophe durch den perversen Herrscherwillen eines Menschen ereignen sollte,
dann muß ein solcher Akt von jedem recht denkenden Menschen getadelt und verurteilt werden.
An Stelle der unnützen Verschwendung wissenschaftlicher Tätigkeit und Arbeit und materieller Mittel zur Vorbereitung einer solchen Katastrophe, deren unmittelbare ungeheure Schäden und letzte biologische Wirkungen auf lebende Wesen niemand voraussehen kann, an Stelle dieses schrecken- und kostenreichen Laufs zum Tode hin müssen die Verantwortlichen— und an wen der Heilige Vater das gerichtet hat, hören Sie jetzt —aller Nationen
und jeden Glaubens die schwere moralische Verpflichtung verspüren, weiterhin das edle Ziel zu verfolgen, diese Energien im Dienste des Menschen zu beherrschen.Meine Damen und Herren, damit ich mir nicht den Vorwurf zuziehe, ich hätte diese Note des Heiligen Vaters etwa zitiert, um damit auch kommunistische Propaganda zu machen, darf ich folgendes sagen. Es ist sehr interessant und aufschlußreich, daß auf diese Note des Papstes Lord Cherwell in einer Rede im Britischen Unterhaus und in einem Leserbrief an die Times sagte, Pius XII. habe sich von der kommunistischen Propaganda betören lassen,
als er gegen die Atombombenversuche Stellung genommen habe, und beschwöre dadurch eine Gefahr ohnegleichen hervor.
Darauf erwiderte das vatikanische Organ „Osservatore Romano" am 24. Mai 1957:Wenn der Alarm über eine Gefahr, die derMenschheit droht, von den erbittertsten Feinden der Kirche käme oder auch nur von ihnen geweckt würde, sei es selbst zu dem Zweck, sich in den Augen der Wähler in ein gutes Licht zu setzen und Vorteile daraus zu ziehen, würde das Haupt der Katholischen Kirche deshalb nicht schweigen. Der Papst weiß, daß die Frage in der Wissenschaft noch umstritten ist. Aber gerade deshalb läßt sich die These, daß es sich um eine Gefahr, und zwar um eine unerhörte, unmenschliche und nicht wiedergutzumachende Gefahr handelt, nicht ausschließen.Herr Verteidigungsminister Strauß und Herr Kollege Jaeger, ich frage Sie: Wollen Sie auch dem Heiligen Vater nach den hier zitierten Worten den Vorwurf der Atompanik machen wie uns?
Ich glaube, es würde Ihnen als Katholik schlecht anstehen, das gegenüber dem höchsten Repräsentaten der Katholischen Kirche, dem allseitig verehrten Papst Pius XII., zu tun.Auch das spreche ich einmal aus — ich glaube, es muß ausgesprochen werden —: Es genügt nicht, Besuche beim Heiligen Vater zu machen, sondern man sollte auch die Mahnung des Papstes, die er gerade zu dieser Atombedrohung ausgesprochen hat, beherzigen und hören.
Es steht Ihnen nach diesen Ausführungen, die ich glaubte hier zitieren zu müssen, um so weniger zu, uns, weil wir den gleichen Standpunkt vertreten wie der Heilige Vater, der Atompanikmache zu diffamieren.Denn es ist doch so — und, meine Damen und Herren, davon haben wir in diesem Hause herzlich wenig gehört —: Die biologischen Gefahren, die Folgen der Schädigung des Erbguts, auf die der Papst in seinen Ansprachen und auch Albert Schweitzer in seiner Rundfunkrede hinweisen, auch die Erklärung der Atomwissenschaftler, vor allem der Genetiker, gehen doch uns Frauen als die Hüterinnen des Lebens besonders an. Nach Berechnungen der amerikanischen Akademie der Wissenschaften werden allein schon die bisher durchgeführten Atombombenversuche dafür verantwortlich gemacht, daß in späteren Generationen auf der ganzen Erde sehr wahrscheinlich bis zu Hunderttausende von erbgeschädigten Kindern geboren werden. In einer Erklärung vom 13. Januar 1958 sprechen sich 9235 Wissenschaftler aus 44 Ländern gegen weitere Atomversuche aus; denn, so sagen sie, jeder Atomversuch gefährde die Gesundheit des Menschen und führe durch schädliche Einwirkung auf die menschlichen Keimzellen zu einer Erhöhung der Zahl ernstlich geschädigter Kinder, die in kommenden Generationen geboren werden.
Die Leiden dieser Kinder und dieser Eltern sind nicht auszudenken. — Ach, es ist ja so billig, den Zwischenruf zu machen „die östlichen nicht?", wenn es sich hier um Schicksalsfragen der Menschen handelt.
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 973
Frau WesselMeine Damen und Herren, haben schon Atombombenversuche diese schrecklichen Folgen nicht nur für die lebenden Menschen, sondern auch für das noch ungeborene Kind, so sind die Warnungen noch stärker für den Fall eines Atomkriegs. Wir wiederholen, was wir gestern und heute gehört haben: einen solchen Krieg darf es nicht geben.
Frau Abgeordnete Wessel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Görgen?
Frau Wessel (SPD): Bitte.
Frau Kollegin, ist Ihnen folgende Stelle —
Meine Damen und Herren, ich glaube, gerade bei diesem kriegerischen Thema wäre ein wenig mehr Friedlichkeit in diesem Raum am Platze.
Frau Kollegin Wessel, ist Ihnen eine andere Stelle aus der Ansprache des Papstes an den Internationalen Kongreß für Strafrecht aus dem Jahre 1953 bekannt, und wie ordnen Sie diese Stelle in Ihre Betrachtungen ein:
Die Völkerfamilie muß mit gewissenlosen Verbrechern rechnen, die zur Verwirklichung ihrer ehrgeizigen Pläne nicht davor zurückschrecken, einen atomaren Krieg zu entfesseln. Darum müssen die anderen Völker, wenn sie ihre Existenz und ihre kostbaren Güter beschützen und nicht zulassen wollen, daß der internationale Übeltäter tut, was er will, sich wohl oder übel auf den Tag vorbereiten, wo sie sich verteidigen müssen.
Dieses Recht, sich in der Verteidigung zu halten, kann man selbst heute keinem Staat verweigern.
Ich weiß gar nicht, warum Sie so klatschen. Darin ist nicht enthalten, daß der Heilige Vater die Meinung vertritt, wir müßten mit Atomwaffen ausgestattet werden.
Denn ich habe Ihnen doch die letzte Botschaftzitiert, die er ausgesprochen hat. Oder wollen Sieden Heiligen Vater hier des Widerspruchs zeihen?
Ich habe nur zitiert, was der Heilige Vater selber gesagt hat. Wenn Sie das nachlesen wollen, dann kaufen Sie sich bitte die Herder-Korrespondenz, die ich Ihnen genannt habe.Ich möchte aber noch eine andere Frage anschneiden: Ob wir gegen einen Atomkrieg denn wirklich so gesichert sind. Sind wir so sicher, daß uns dieser Atomkrieg nicht erreichen wird? Sollten wir nicht bei unseren politischen und militärischen Maßnahmen — und gerade, meine ich, die Frauen — uns doch die Worte von Professor Otto Hahn einmal zu Herzen nehmen: „Das Leben hört nach einem Atomkrieg vollkommen auf. Nicht ein Prozent der Menschheit wird überleben." Hier wird ganz klar und unmißverständlich gesagt, daß es zwischen der Angst der Wissenschaftler um die Existenz der Menschheit, die sich auf die Kenntnis der furchtbaren Gefahren gründet, unter denen wir leben, und den Beruhigungspillen der Politiker und Militärs, die immer noch in alten Kategorien — Sicherheit, Aufrüstung und Krieg — denken, einfach keine Überbrückung gibt. Die Gefahren, unter denen wir leben, sind ja hier schon wiederholt genannt worden, und sie sind als ungeheuerlich bezeichnet worden.Lassen Sie mich bitte noch eine Stelle aus dem englischen Weißbuch zitieren, das gestern hier angeführt worden ist, nämlich jene Stelle, wo ganz klar zum Ausdruck gebracht wird, daß selbst dann, wenn Rußland einen größeren Angriff nur mit konventionellen Streitkräften gegen die demokratischen Länder des Westens richten würde, diese mit strategischen Kernwaffen zurückschlagen müßten. In diesem Falle — so heißt es im englischen Weißbuch — hätten die Streitkräfte der Verbündeten in Europa die Aufgabe, die Front so lange zu halten, bis sich die Wirkungen der atomaren Gegenoffensive bemerkbar machten .Danach, meine Damen und Herren, ist doch ganz klar und eindeutig, daß es sich bei Aufrüstung mit Atomwaffen nicht nur um eine Abschreckung handelt, wie uns hier immer wieder gesagt wird.
Denn bisher wurde uns und wird ja den Völkern immer gesagt, daß es nicht zu einem Krieg kommt. Das englische Weißbuch sagt ganz deutlich: Kommt es dazu, dann ist die Situation gegeben, daß mit Atomwaffen geschossen wird. Es gibt doch auch hier sehr notwendige Überlegungen, meine Damen und Herren. Es ist eigentlich etwas bedrückend, daß man glaubt, diese so ernsthaften Fragen, wo es um das Schicksal nicht nur der Menschen in der Bundesrepublik, sondern auch der Menschen drüben in der Ostzone geht, so abtun zu können, wie es jetzt wieder geschieht.Ich habe Verständnis dafür, wenn man der Auffassung ist, man müsse aufrüsten, um sich zu sichern; ich habe Verständnis dafür, wenn das aus einer gewissen Verantwortung heraus geschieht, das heißt aus einer Gewissensentscheidung und nicht allein wegen einer Parteihaltung oder für eine Politik. Aber das darf ich doch einmal aussprechen: Das Erschütternde war doch gestern und heute
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974 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Frau Wesselimmer wieder der rasende Beifall in diesem Hause für diejenigen Redner, die besonders forsch für die Aufrüstung eingetreten sind.
Frau Abgeordnete Wessel, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte das erst zu Ende führen. Die Herren und Damen haben ja die Möglichkeit, nachher selbst zu sprechen.
Ich möchte mich gerade einmal Frau Kollegin Web e r zuwenden, die ja hier ist. Sie war damals im Reichstag bei jener denkwürdigen Sitzung, wo über die Annahme des deutschen Friedensvertrags mit seinen harten Bedingungen abgestimmt wurde. Es gab damals Befürworter, und es gab Ablehner dieses Vertrags unter den Reichstagsabgeordneten. Ich weiß auch noch, sehr verehrte Frau Weber, mit welcher inneren Bewegung sie von dem Ja oder Nein zu dieser Frage erfaßt worden sind, ja wie Sie geradezu darum gerungen haben. Und können Sie sich, Frau Weber, eine Atmosphäre bei der Diskussion über den Friedensvertrag vorstellen, wie sie gestern und heute in diesem Hause von den Sprechern der CDU ausgelöst worden ist? Ich meine, man muß doch diese Fragen, gleichgültig wie man zu ihnen steht, mit dem inneren Ernst, ja mit der Erschütterung behandeln, die sie in Wirklichkeit verdienen.
Ich möchte auch noch einmal auf die von mir bereits erwähnte Rede von Frau Brauksiepe in der 191. Sitzung des 1. Bundestages zurückgehen. Sie sprach damals das freiwillige Ja der Frauen zu dem, wie sie sagte, der Sicherung des Friedens dienenden Verteidigungsinstrument aus, und sie sprach von der Phalanx der Frauen, zusammengeschmiedet mit tapferen Herzen. Ich möchte Frau Brauksiepe und auch die anderen Frauen der CDU fragen: Werden Sie dieses Ihr Ja zur Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen auch so freudig zustimmend aussprechen?
Und glauben Sie, daß es wieder die deutschen Frauen sind, die als Eckpfeiler an den Kreuzpunkten der deutschen Geschichte stehen? Ich befürchte, daß es nicht die Eckpfeiler des Friedens sind, von denen sie damals gesprochen hat, sondern ganz andere Eckpfeiler, und es dürfte Ihnen auch schwerfallen, dieses Ja im Namen der deutschen Frau auszusprechen, ja überhaupt für Ihre Partei.
Nach der EMNID-Untersuchung vom Februar 1958 hat sich immerhin ergeben, daß 83 % der westdeutschen Bevölkerung gegen die Errichtung von Atomraketenbasen im Gebiet der Bundesrepublik sind; nur 13 waren dafür. Damit haben sich über vier Fünftel der Deutschen in der Bundesrepublik gegen die Atomaufrüstung ausgesprochen.
Frau Abgeordnete Wessel, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Die überwältigende Mehrheit! — Meine Damen und Herren, ich sage noch einmal, ich habe nicht die Absicht, nachdem mir immer wieder diese Zwischenrufe gemacht werden, meine Redezeit durch Zwischenfragen beschränken zu lassen. — Diese EMNID-Untersuchung ist doch immerhin auch für die Anhänger und Vertreter der CDU wichtig; 71 % von Wählern der CDU haben sich gegen die Errichtung von Atomraketenbasen ausgesprochen. Von zehn Anhängern der CDU sind also sieben gegen die Aufrüstungspolitik des Bundeskanzlers. Ferner hat die Befragung gezeigt, daß die Frauen in noch stärkerem Maße, nämlich 86 %, gegen Atomraketen eingestellt sind.Diese Ergebnisse zeigen, daß die Atomwaffenpolitik der Bundesregierung in der westdeutschen Bevölkerung von Männern wie Frauen in überwältigender Zahl abgelehnt wird.
Das deutsche Volk ist, ebenso wie das englische Volk — das zeigt die dortige Bewegung — und andere Völker nicht bereit, das Risiko eines atomaren Angriffs auf sich zu nehmen, weil es nicht mehr, wie in früheren Kriegen, die Chance des Überlebens gibt. Angesichts der ungeheuren Nervosität und Erregtheit, ja Angst des deutschen Volkes vor der Aufrüstung mit atomaren Waffen darf diese Schicksalsfrage für unsere Existenz als Volk und Nation nicht zu einer Angelegenheit der Regierung und der Regierungsparteien gestempelt werden, die, wie es scheint, durch Mehrheitsbeschluß in diesem Hause erledigt werden soll. Dafür steht zu viel auf dem Spiel, auch das Schicksal der18 Millionen Menschen drüben, die wir bei all unseren Überlegungen und Entscheidungen nicht vergessen dürfen.
Angesichts der weltpolitischen Entwicklung können wir die Entscheidungen, die auf uns zukommen, in ihrem ganzen Ernst und in ihrer Tragweite nicht tief genug sehen.Jede demokratische Regierung, die den Willen des Volkes respektiert, würde bei der ablehnenden Haltung des Volkes gegenüber ihrer atomaren Aufrüstungspolitik entweder abtreten oder eine andere Politik einleiten. Sie würde vor allem im Hinblick auf die Bedrohung, unter der wir leben und die sich nach der atomaren Aufrüstung noch steigern wird, nach Mitteln und Wegen der Entspannung und der Verständigung suchen. Nach Zeitungsberichten hat der amerikanische Außenminister Dulles auf der Konferenz in Manila die Lage in Deutschland und Korea als so spannungsgeladen bezeichnet, daß leicht ein Funke erzeugt werden könne, der dann einen neuen Weltkrieg entfachen würde. Als ich diese Zeitungsnachricht las, fiel mir, Herr Bundeskanzler, ein Satz ein, den ich im Juni 1953 in diesem Hohen Hause gesagt habe, in dem ich nämlich ausführte: „In der Rolle eines Syngman Rhee möchte ich den deutschen Bundeskanzler nicht wiederfinden." Nun spricht Herr Dulles in Manila davon, daß
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 975
Frau Wesselunser Land so spannungsgeladen sei wie Korea. Sollte es Ihnen, Herr Bundeskanzler, nicht doch zu denken geben, wohin uns Ihre Politik geführt hat? Sollten Sie nicht vielmehr jetzt alles daransetzen und Ihren Beitrag dazu leisten, daß wir aus dieser gefährlichen Lage herauskommen, die nach Meinung von Herrn Dulles einen neuen Weltkrieg entfachen könnte? Muß nicht gerade das deutsche Volk eine internationale Entspannung und die Abrüstung wünschen um seiner eigenen Sicherheit willen, aber auch um der Wiedervereinigung willen, die nur in der Atmosphäre internationaler Entspannung erreicht werden kann?Nichts wäre nämlich gefährlicher für uns, als wenn wir uns einbildeten, die Lösung des Deutschland-Problems auf dem Wege der atomaren Aufrüstung der Bundeswehr zu erreichen. Die Sicherung des Weltfriedens ist eine große und immerwährende Aufgabe. Nicht alles läßt sich gleich erreichen. Man muß es deshalb in Etappen versuchen, und es muß zu einer Balance, zu einem Gleichgewicht der militärischen Kräfte in der Welt kommen.Das müssen vor allem diejenigen erkennen, die in den vergangenen Jahren an die Politik der Stärke geglaubt haben. Je schneller sich diese Erkenntnis durchsetzt, daß Abrüstungsmaßnahmen an erster Stelle geeignet sind, die bestehenden Spannungen abzutragen, um so mehr ist dann der Boden dafür vorbereitet, die bestehenden Spannungen zu beseitigen und auch Lösungen militärischer und politischer Art zu finden. Eine Politik des Wettrüstens wird unweigerlich in den Krieg führen. Nur eine von der Bundesregierung betriebene Politik der Entspannung, der Verständigung mit dem Westen und dem Osten, des Verzichts auf atomare Aufrüstung führt Deutschland aus dem Todeskreis.Meine Damen und Herren, gestatten Sie, daß ich zum Schluß an ein Ereignis erinnere. Vor 25 Jahren, am 23. März 1933 ist im Reichstag das Ermächtigungsgesetz verabschiedet worden. Es ist gut, sich heute daran zu erinnern, wie die Sprecher aus dem bürgerlichen Lager ihre Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz begründet haben. Das alles können Sie ja in den Reichstagsprotokollen nachlesen. Nur der SPD-Vorsitzende Otto Wels lehnte damals in einer geschichtlich gewordenen Rede für die SPD das Ermächtigungsgesetz ab. Man hat in diesem Hause den Abgeordneten, die damals als Reichstagsabgeordnete dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt haben, häufig Vorwürfe gemacht. Das liegt mir völlig fern. Als dieses Ermächtigungsgesetz von Hitler eingebracht wurde, trug es die harmlose Bezeichnung „zur Behebung der Not von Volk und Reich". Ja, wer wollte denn damals angesichts der Zahl von 7 Millionen Arbeitslosen nicht die Behebung der Not? Und wie überzeugend und an die Gewissensverantwortung gerichtet war die Begründung des Ermächtigungsgesetzes, als Adolf Hitler sagte: „Zehn Jahre eines aufrichtigen Friedens werden für die Wohlfahrt aller Nationen nützlicher sein als eine 30 Jahre lange Verrennung in die Begriffe von Siegern und Besiegten." Und doch wissen wir, daß es Adolf Hitler um die Macht, um die Aufrüstung für den Krieg ging. Er schloß seine Rede mit folgendem Appell: „Mögen Sie, meine Herren, nunmehr selbst die Entscheidung treffen über Krieg oder Frieden." Der Stenographische Bericht verzeichnet bei diesem Satz stürmischen Beifall und Händeklatschen bei den Nationalsozialisten, Beifall bei den Deutschnationalen, Heil-Rufe bei den Nationalsozialisten.An diese Sitzung des Reichstags wurde ich gestern bei den Reden und der Begleitmusik dazu erinnert.
Sie mögen das abstreiten oder nicht. Es ist doch mein Recht, das zu sagen.
— Nein, das sind keine Vorlesungen. Ich habe vielmehr das berichtet, was, aus diesen Zeiten zu sagen notwendig ist. Es kam mir dabei nur darauf an, Ihnen einmal zu zeigen, wie harmlos in seinem Titel und auch in seiner Begründung durch Hitler dieses Ermächtigungsgesetz gewesen ist, indem man an das nationale Gewissen appelliert hat.
Wenn es Ihnen wirklich so ernst darum ist und wenn Sie es mit dieser inneren Anteilnahme ablehnen, in einen Vergleich gebracht zu werden, dann liegt es ja an Ihnen, die Debatte in diesem Haus in den nächsten Reden so zu führen, daß eine solche Auffassung überhaupt nicht aufkommen kann.
Mir hat es völlig fern gelegen, unseren Herrn Bundeskanzler etwa mit Herrn Hitler zu vergleichen; denn ich weiß, was er in der damaligen Zeit und auch hinterher getan hat. Vielmehr kam es mir darauf an, darzulegen, daß es, wie die Geschichte gezeigt hat, zwangsläufige Entwicklungen gibt, denen man sich nicht entziehen kann, wenn man einmal ja gesagt hat.
Wir haben eines gelernt in dieser gefährlichen Zeit, in der wir leben — und seien Sie sich klar darüber, sie wird uns alle nach der Atomaufrüstung noch gefährlicher werden —: Für das deutsche Volk darf nie der Satz eines Hegel Wirklichkeit werden: die Geschichte beweise, daß die Völker aus der Geschichte nichts lernten. Wie die Sozialdemokratische Partei am 23. März 1933 ihr Nein zum Ermächtigungsgesetz Hitlers ausgesprochen hat,
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976 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Frau Wesselsagt sie auch dieser Bundesregierung 25 Jahre später, ebenfalls an einem Kreuzpunkt der deutschen Geschichte und der deutschen Nation, ihr Nein zur Atomaufrüstung der Bundesrepublik.
Das Wort hat der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe nicht das Wort ergriffen, um die Replik gegen meine Vorrednerin zu bestreiten.
Aber da ich nun zufällig als erster nach ihr spreche, möchte ich einige ruhige Bemerkungen dazu machen.Es gibt rednerische Entgleisungen, denen wir alle einmal zum Opfer fallen. Keiner von uns wird, wenn er lange im politischen Leben wirkt, behaupten können, daß ihm so etwas nicht unterlaufen sei. Es gibt rednerische Entgleisungen aus der Köstlichkeit überschäumenden Temperaments oder aus tiefer Besorgnis, so wie wir sie gestern von Herrn Kollegen Erler gehört haben, als er den Vergleich mit der Sportpalastversammlung anstellte. Aber ich habe das Gefühl gehabt, es war eine spontane, für ihn entspannend wirkende Äußerung. Wenn man jedoch abliest, ganz kalt, und dann solche Beleidigungen gegen einen großen Teil unseres politisch wirkenden Volkes ausspricht, dann allerdings ist es eine ernste Angelegenheit.
Ich gehöre zu denen, die vom Religiösen in der Politik keinen Gebrauch machen. Mir widerstrebt es, das, was meinen religiösen Glauben betrifft, in politische Auseinandersetzungen hineinzubringen,
und niemand von Ihnen wird so etwas aus meinem Munde gehört haben. Aber ich muß doch sagen, wenn man den Satz, man glaube mehr an die Atombombe als an Gott, Menschen entgegenruft, von denen man weiß, daß sie sich bewußt zum christlichen Glauben bekennen, dann ist das eine sehr harte Entgleisung, Frau Kollegin Wessel.
— Ich habe es nicht gehört. — Aber sehen Sie, das wirkt um so härter, wenn man vom Glauben an die Atombombe und vom geringeren Glauben an Gott spricht. Dann soll man in seiner Grundkonzeption doch nicht allzu deutlich diejenigen ignorieren, die zwar für die Verteidigung ihres Vaterlandes — wie es verkündet wird — an die Kraft der Atombombe, aber programmatisch nicht an Gott glauben.Ich glaube, daß alles, was Frau Wessel gesagt hat, soweit es um das Ethische ging, auch soweit es um die Zitate beispielsweise aus Kundgebungen hoher kirchlicher Stellen ging, in diesem Hause eigentlich gar keinen Widerspruch finden konnte. Auch für mich als evangelischen Christen ist ganz sicherlich eine Meinungsäußerung des Papstes von großer Bedeutung, und ich pflege sie sehr ernst zur Kenntnis zu nehmen. Aber man soll sie dann nicht einseitig in eine Auseinandersetzung hineinziehen, um die es in diesen beiden Tagen geht: um Rüstungsentscheidungen für die Bundeswehr.Wir haben da verschiedene Meinungen. Wollen wir doch versuchen, uns nicht zu erregen! Es hat sich herausgestellt, daß es zwischen Regierungslager und Opposition hier eine ganz klare Gegensätzlichkeit gibt. Es entspricht der Demokratie, daß man in wesentlichen Fragen auch verschiedener Meinung sein kann. Aber ich bin der Auffassung, daß es nicht angeht, dann grundsätzlich Auseinandersetzungen hier hineinzutragen, indem man sich nur gegen die eigene, das heißt freie Welt und Gemeinschaft wendet und sich an diese richtet. Ich bin überzeugt, daß, wenn sich der Papst für ein Verbot der Atombombenversuche ausgesprochen hat, das nicht nur für amerikanische, sondern auch für sowjetische Atombomben galt.
— Ja, aber es klingt falsch, wenn es so vorgetragen wird, wie es eben geschehen ist. Und wenn man dann noch dazu eine Vorlesung hält, wo man doch im Kämmerlein wohlüberlegt seine Sätze formuliert hat, dann bin ich der Meinung, muß man so akzentuieren, daß kein Mißverständnis aufkommen kann.
Es ist nicht meine Aufgabe — ich habe sogleich über andere Dinge kurz zu sprechen —, mich hier in die Atomdebatte einzuschalten. Ich verstehe überhaupt nichts davon, nur von dem Politischen, wie ich hoffe.Aber ich muß sagen, daß immer wieder von allen Sprechern der Opposition eines ignoriert bleibt: daß die Bundesregierung und das Regierungslager in diesem Hause mit der Opposition völlig übereinstimmen in dem Wunsch, daß durch eine allseitige, gleichmäßige, kontrollierte Abrüstung, diese Teufelswaffen aus der Welt geschafft werden.
— Ich komme darauf in einem anderen Zusammenhang noch zu sprechen. — Was wir ablehnen, sind einseitige Vorleistungen.Wenn ich hier auf den Bänken der Opposition gute Freunde insbesondere aus Berlin sehe, dann kann ich mir nicht vorstellen, daß meine Berliner Kollegen auf den Bänken der Opposition anders denken können als ich. Wir, die wir uns in Berlin befinden, haben nicht den Wunsch — meine Damen und Herren, ich darf das jetzt als Berliner sagen —, daß die westliche Welt sich durch Vorleistungen
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 977
Bundesminister Lemmerohne Gewißheit von Nachleistungen unfähig macht, unsere Stadt eines Tages in ihrer freiheitlichen Existenz nicht sichern zu können.
Und nun zu der Debatte im ganzen! Meine Damen und Herren, ich unterscheide mich vielleicht von manchen dadurch, daß ich diese Auseinandersetzung bis zu dieser Stunde für ausgezeichnet halte. Wir haben leidenschaftliche und ruhige, wir haben in diesen 48 Stunden hier temperamentvolle und gelehrte Auseinandersetzungen vernehmen können. Aber wir haben die Unruhe gespürt, von der wir, wie ich meine, alle erfaßt sind, die Unruhe, die dadurch zum Ausdruck gekommen ist, daß ohne Verabredung doch augenscheinlich die deutsche Frage im Mittelpunkt der ganzen Auseinandersetzungen steht. Als Ressortminister für gesamtdeutsche Fragen, der ich zwar für die Wiedervereinigungspolitik nicht in erster Linie zuständig bin, kann ich meiner Freude darüber Ausdruck geben, daß wir uns an der Schwelle des 14. Nachkriegsjahrs augenscheinlich leidenschaftlicher noch als früher über den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands hier in diesem Hause auseinandersetzen. Das ist ein gutes Zeichen, und das werden auch die Landsleute jenseits der Werra so verstanden haben, daß wir uns, ob wir auf den Bänken der Opposition oder der Regierung sitzen, allerdings so innig und so intensiv mit ihrer Vereinigung mit uns in Freiheit und Sicherheit beschäftigen,
daß auch die Welt in Ost und West an diesem innerdeutschen Tatbestand nicht vorübergehen kann.Ich habe den Eindruck, wenn ich mich nicht täusche, im Kern der Gegensätze steht eigentlich folgendes: auf der einen Seite — das ist die verantwortliche Regierung — die Sorge, die absolute Sorge, möchte ich sogar sagen, um die Sicherheit dessen, was ist, und auf der anderen Seite gewiß auch die Sorge um die Sicherheit — sicherlich wird sie geteilt —, aber doch wohl mit einer größeren Bereitschaft, ein gewisses Risiko für das große Anliegen unseres Volkes, die Wiedervereinigung, einzugehen. Das ist der eigentliche Kern der Auseinandersetzung, und da darf ich bekennen — und ich glaube annehmen zu können, mit dieser Meinung bei dem Teil unseres Volkes, der seine Stimme nicht erheben kann, verstanden zu werden —, daß die Sicherheit dessen, was wir mit Recht die deutsche Realität, wenn auch beschränkte Realität, und Teilrealität der Bundesrepublik nennen dürfen, das Wichtigste ist, wenn wir nicht durch eine falsche Weichenstellung das, was besteht, den 53-MillionenStaat in Freiheit und Sicherheit, aufs Spiel setzen. Würde sie durch eine falsche Politik aufs Spiel gesetzt, dann wäre das für unsere Landsleute jenseits der Werra das Ende aber auch der letzten Hoffnung, auf eine andere Entwicklung noch vertrauen zu können.
Nun befinden wir uns hier zweifellos in einem gewissen Dilemma, einmal was die Wiedervereinigungbetrifft — ich habe das kurz dargestellt —, aber auch was die Vorleistungen betrifft. Man kann natürlich eine Politik empfehlen, durch Vorleistungen eine Atmosphäre zu schaffen, von der man hofft, daß der andere Teil, also in unserem Falle die Sowjetunion, bereit sein könnte, nachzuziehen. Aber wir haben keine Gewißheit, daß durch Vorleistungen eine Änderung der sowjetischen Politik erreicht wird. Darum meine ich, daß durch allzu frühe Vorleistungen — dazu gehören ja viele Probleme, insbesondere auch der Verzicht auf atomare Bewaffnung, über die wir uns hier auseinandersetzen — im Grunde nur der Weg zum Ziel erschwert wird, das wir anstreben.
— Lieber Herr Mattick, als Berliner sollten Sie etwas freundlicher zu mir sein.Vielleicht darf ich mich einmal etwas gemütlich ausdrücken. Es ist ja in „ganz Deutschland" bekannt, daß ich ein guter Skatspieler bin.
Ich weiß vorn Skat her, daß man den besten Trumpf nicht als Vorleistung zu früh, sondern erst in der entscheidenden Phase ausspielen darf.
— In der Politik auch nicht! Nein in der Politik wissen wir es beide nicht. Irren ist menschlich!
— Ja, auch Ihr Irrtum kann tödlich sein.
Ich möchte noch auf die Fragen eingehen, die an mich in meiner Eigenschaft als Verwalter des Ressorts für gesamtdeutsche Fragen gestellt sind. In der ersten muß ich zu meinem Bedauern wieder eine Meinungsverschiedenheit ansprechen. Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, etwa dem Hause mitteilen zu können, daß sie ihre Haltung gegenüber der Anerkennung oder Nichtanerkennung der sowjetzonalen Regierung geändert habe.Ich will kurz begründen, warum wir dazu nicht in der Lage sind. Wir sind der Meinung, daß wir wie bisher an dem Grundsatz — er soll nicht für alle Situationen zum Dogma erhoben werden — festhalten müssen, daß sich die Bundesregierung mit dem Bundestag als die einzige vom echten Willen unseres Volkes legitimierte Repräsentation betrachten darf.
Davon abzuweichen würde eine erhebliche Erschütterung dieses Grundsatzes bedeuten.Auf die zweite Frage ist zu sagen, daß eine Kontaktaufnahme von der Regierung in Bonn zur Regie-
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Bundesminister Lemmerrung in Ostberlin — es handelt sich nur um unsere innerdeutsche Beziehung; ich gehe auf das in diesem Zusammenhang erwähnte Außenpolitische nicht ein — zweifellos nicht nur die Aufhebung des eben erwähnten Grundsatzes bedeuten würde, sondern zugleich die Sanktionierung der Spaltung unseres Landes. Auch die Bevölkerung jenseits der Werra würde es nicht verstehen, wenn wir ausgerechnet in dieser Situation, angesichts der Krise in der SED, der Verfolgung der Intelligenz — wir sehen die veränderte Struktur des Flüchtlingsstromes seit einigen Wochen; ein geradezu erschütternder Beweis! —, in einem Augenblick, wo ein Paßgesetz zur Drosselung des innerdeutschen Verkehrs geschaffen worden ist, in einem Augenblick, wo Begegnungen Deutscher mit Deutschen unterbunden werden sollen, in biederer Weise, als ob nichts geschehen wäre, den Herren in Ost-Berlin die Hand gäben. Das würde die Bevölkerung nicht verstehen, meine Damen und Herren.
— Ich komme noch auf die Möglichkeiten, die ich sehe.
— Gegen niemanden; nicht gegen Sie.
— Entschuldigen Sie! Ich bin gefragt worden, und habe nicht mit dem Blick auf meinen alten Kollegen Ollenhauer das eben gesagt, sondern mit einem Blick auf den Fragesteller, meinen Freund Johann Baptist Gradl, der die Anfrage der Fraktion begründet hat und mich nun fragt, wie die Regierung dazu steht. Ich glaube, das ist geklärt.
Weil Herr Erler eine durchaus interessante Frage gestellt hat, darf ich ihm in Übereinstimmung mit der Politik der Bundesregierung sagen, daß wir nicht etwa, wenn irgendwann eine Ost-West-Konferenz zur Lösung der deutschen Frage einberufen würde und wenn wir zur Vertretung des deutschen Anliegens eingeladen würden, dann nicht gehen würden, weil auch Ost-Berlin eine Delegation entsendet. Das ist doch ganz selbstverständlich. Aber was wir ablehnen — auch auf einer solchen Konferenz —, wäre etwa, uns zu einer gesamtdeutschen Mannschaft mit diesen Damen und Herren fusionieren zu lassen. Das würden wir ablehnen.
Im übrigen würden wir uns auch auf einer solchen Konferenz als die einzige legitime Vertretung des ganzen Deutschland betrachten.
Lassen Sie mich zum zweiten Punkt, der Konföderation, ein paar Bemerkungen machen! Ich habebereits in einem Interview in der „Süddeutschen Zeitung" zum Ausdruck gebracht, daß der Begriff „Konföderation" außerordentlich unklar sei, daß ich mich allerdings niemals damit einverstanden erklären könne, daß Gleiches mit Ungleichem konföderiert würde. Ich habe hinzugefügt: wenn in Ost-Berlin, vielleicht unter der Eingebung der sowjetischen Macht, endlich nach zehn Jahren Passens echte Wahlen stattfänden und die Sozialdemokratie wie die CDU der Bundesrepublik sich an den Wahlen beteiligen könnten — und es würde sauber gewählt —, würden wir uns gar nicht scheuen, mit der aus dieser Wahl hervorgehenden Regierung vorübergehend im Beginn deutscher Wiedervereinigung eine Konföderation einzugehen, — aber nur unter dieser Voraussetzung!
Da allerdings will ich zugeben, daß es eine theoretische Perspektive ist und nach menschlichem Ermessen kaum angenommen werden kann, daß es wirklich so vor sich gehen könnte.Weitere Einwände gegen eine Konföderation, wie sie Moskau und Ost-Berlin vorschlagen, lassen sich aus Erklärungen des meines Erachtens immerhin zweiten Mannes in der sowjetzonalen Regierung, Hermann Matterns, ablesen, auf die schon flüchtig hingewiesen worden ist. Hermann Mattern hat zur Frage der Konföderation am 8. März in Leipzig erklärt — nach dem „Neuen Deutschland" vom 16. März wortgetreu zitiert —:Es kommt dabei darauf an, daß die Positionen der Arbeiterklasse in Westdeutschland gestärkt werden, damit diese Konföderation wirklich Schritt für Schritt zu einem Deutschland führt, in dem die Arbeiterklasse die erste Geige spielt und tonangebend ist.Ich bin sicher, daß diese Sirenengesänge auf die Sozialdemokratie keinen Eindruck gemacht haben; denn sie weiß wie wir, was die Kommunisten unter der Herrschaft der Arbeiterklasse verstehen. Das ist jedenfalls etwas ganz anderes als meinetwegen das, was in sozialdemokratisch regierten Ländern wie in Skandinavien in Wirklichkeit zu sehen ist.
— Jawohl! — Und auch sonst ist Herr Mattern ganz sicher, daß über diese Konföderation eine glückliche Entwicklung für den Sozialismus bereitet werden könnte.In der zweiten Rede am selben Tag, zitiert im „Neuen Deutschland" vom 18. März, sagt Mattern:Ich kenne keinen Fall in der Geschichte der Arbeiterbewegung, wo die Arbeiterklasse durch den Stimmzettel die Macht erobert hat.
Es ist ganz klar, daß uns alle miteinander in einer solchen Auffassung, wie ich überzeugt bin, eine Welt trennt. Aber das entbindet uns nicht von der Pflicht, diese Blitzlichtaufnahme über das Ziel föderativer Politik im Zeichen der ostzonalen Re-
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 979
Bundesminister Lemmerpublik hier mit ganzem Ernst zur Kenntnis zu nehmen,
und man muß erwarten, daß das auch in der Bevölkerung geschieht.Nun das letzte Zitat zu diesem Kapitel. Das „Neue Deutschland" vom 21. Februar hat sich mit meinem Interview in der Süddeutschen Zeitung beschäftigt. Es sollte in diesem Haus nicht unerwähnt bleiben:Nach Lemmers Auffassung sollten wir aus unserem sauberen Haus in eine verwanzte und verlauste Baracke ziehen. Erst wenn wir auch die Läuse hätten, dann wären wir Gleiche unter Gleichen.Ich habe mit großer Genugtuung feststellen können, daß Herr Mattern den Sinn meiner Stellungnahme in der Süddeutschen Zeitung offenbar sofort richtig verstanden hat.Lassen Sie mich abschließend die dritte Frage kurz behandeln. Ich werde durch den Interpellanten der CDU/CSU-Fraktion danach gefragt, wie wir uns die Entwicklung nach der Wiedervereinigung vorstellten, ob dann etwa eine Politik der Rache gegen bisherige Kommunisten in Mitteldeutschland veranstaltet werden solle. Ich kann mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitieren — das ist damals nicht genügend beachtet worden —, was die Bundesregierung in ihrer Note vom 2. September 1956 an die Sowjetregierung unter Ziffer 14 ausgeführt hat:Die Bundesregierung ist der Überzeugung, daß freie Wahlen in ganz Deutschland, wie sie immer auch ausfallen mögen, nur den Sinn haben dürfen, das deutsche Volk zu einen und nicht zu entzweien. Die Errichtung eines neuen Regierungssystems darf daher in keinem Teile Deutschlands zu einer politischen Verfolgung der Anhänger des alten Systems führen. Aus diesem Grund sollte nach Auffassung der Bundesregierung dafür Sorge getragen werden, daß nach der Wiedervereinigung Deutschlands niemand wegen seiner politischen Gesinnung oder nur, weil er in Behörden oder politischen Organisationen eines Teils Deutschlands tätig gewesen ist, verfolgt wird.Ich glaube, zu dieser Auffassung, die in diesem Dokument der Bundesregierung niedergelegt ist, bekennen wir uns auch heute und in Zukunft ohne jede Einschränkung.
Ich will nicht verhehlen, daß dem Minister für die Fragen des deutschen Nebeneinander- oder Zusammenlebens das Herz in dieser Zeit schwer ist. Es bedurfte nicht der Ausführungen in der Diskussion, um mich wissen zu lassen, daß wir uns im Augenblick in der Wiedervereinigungspolitik zweifellos in einem politischen Tief befinden. Aber es wäre völlig verfehlt und würde bedeuten, daß man die Dynamik der Politik als solcher nicht begreift, nun etwa annehmen zu wollen, daß eine solch temporäre Stagnation unserer Bemühungen, zur deutschen Wiedervereinigung zu kommen, nun auch als Hypothek für eine längere Zukunft mit getragen werden müßte. Ich bin vielmehr — und ich bekenne das besonders auch vor unseren Landsleuten drüben — fest davon überzeugt, daß, wenn an der Realität der Bundesrepublik nicht gerüttelt wird, die weltpolitische Entwicklung zwangsläufig zur Entspannung und zugleich damit zur Lösung der deutschen Frage führen wird.
Bis dahin haben wir freilich alles zu tun, um dafür zu sorgen — und ich rufe zur Mitarbeit alle in unserem Volke auf, nicht nur die Bürger, die im Regierungslager stehen, nicht nur die Behörden, sondern alle —, daß in der Zwischenzeit bis zur Realisierung der staatlichen Wiederherstellung ganz Deutschlands alles geschieht, um bei der staatlichen Trennung wenigstens die Einheit unseres Volkes aufrechtzuerhalten. Darum hat die Bundesregierung die Tore geöffnet. Für uns existiert keine Demarkationslinie, soweit es um die Freizügigkeit des Verkehrs deutscher Menschen in ihrer deutschen Heimat geht.
Wenn angesichts des trüben Paßgesetzes, das wahrlich nicht in diese Zeit hineingehören dürfte, der innerdeutsche Besucherverkehr in den ersten beiden Monaten dieses Jahres im Vergleich zu derselben Zeit im Vorjahre um 60% zurückgegangen ist, so nicht deshalb, weil das Bedürfnis geringer geworden ist, daß sich deutsche Menschen begegnen, sondern weil es ein Regierungssystem gibt, das aus Minderwertigkeitskomplexen und aus schlechtem Gewissen sich bemüht, die Freiheit des deutschen Verkehrs zu unterdrücken.
Das Wort zur Abgabe einer Erklärung nach § 36 der Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Dr. Kliesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Abgeordnete Frau Wessel hat es für richtig befunden, sich unter Herausstellung ihres katholischen Christentums zur Begründung ihrer politischen Einstellung auf Pius XII. zu berufen. Sie werden es verstehen, wenn ich sage, daß ich als katholischer Christ nur mit sehr großem Zögern und außerordentlichen Bedenken bereit bin, ihr auf diesem Wege zu folgen. Aber ich halte es für meine Pflicht, das zu tun, weil Frau Wessel nach meiner Überzeugung hier in einer Art zitiert hat, die die Auffassungen des Heiligen Vaters nicht objektiv und daher innerlich unwahrhaftig wiedergibt. Ich glaube, daß das nicht der Würde und der Autorität entspricht, die Äußerungen des Heiligen Vaters zu derartig wichtigen Fragen im katholischen Raum erheischen.
Lassen Sie mich meinen Vorwurf, den ich gegen Frau Wessel erhebe, mit zwei Zitaten belegen, die
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Dr. Kliesing
Frau Wessel bewußt der Öffentlichkeit vorenthalten hat. Ich sage „bewußt" deshalb,
weil sie sich in der gleichen Quelle — nämlich der Herder-Korrespondenz — befinden, die Frau Wessel hier angegeben hat.
Bei dem ersten Zitat handelt es sich um ein Zitat aus der Ansprache des Heiligen Vaters vom 30. September 1954 an die Teilnehmer des 8. Ärztlichen Kongresses. Es heißt dort folgendermaßen:
Ist der moderne totale Krieg, besonders der ABC-Krieg, grundsätzlich erlaubt? Es kann kein Zweifel darüber bestehen, namentlich wegen der Schrecken und unerläßlichen Leiden, die durch den modernen Krieg hervorgerufen werden, daß es ein der strengsten nationalen und internationalen Sanktionen würdiges Verbrechen darstellt, ihn ohne gerechten Grund zu entfesseln, d. h. ohne daß er durch ein evidentes Unrecht von äußerster Schwere, das auf andere Weise nicht verhindert werden kann, aufgezwungen ist.
Man kann auch die Frage nach der Erlaubtheit des Atomkrieges, des chemischen und bakteriologischen Krieges grundsätzlich nur für den Fall stellen, daß er als unvermeidlich zur Selbstverteidigung unter den angegebenen Bedingungen beurteilt wird.
Sie halten eine Diskussionsrede. Das ist keine Erklärung nach § 36.
Ich habe Ihnen angekündigt, Herr Präsident, daß ich mir erlauben würde, um der Wahrheit willen hier zu zitieren.
— Herr Kollege Mommer, vielleicht darf ich Sie davon in Kenntnis setzen, daß ich es als katholischer Christ als meine Pflicht empfinde, dies in Form einer persönlichen Erklärung zu sagen.
Das zweite Zitat stammt aus der Weihnachtsansprache 1955 und sagt:
Es würde sich also um drei Maßnahmen handeln: Verzicht auf die Experimente mit Kernwaffen, Verzicht auf die Verwendung solcher Waffen, allgemeine Rüstungskontrolle.
Es heißt weiter unten:
Wir zögern nicht, auch im Sinne unserer früheren Ansprachen zu bestätigen, daß diese drei Maßnahmen zusammen als Gegenstand internationaler Verständigung eine Gewissenspflicht der Völker und ihrer Regierungen darstellen. Wir haben gesagt: diese drei Maßnahmen zusammen. Denn ein Motiv ihrer moralischen Verpflichtung ist auch die Herstellung gleicher Sicherheit für alle Völker. Wenn dagegen nur der erste Punkt zur Ausführung käme, ergäbe sich eine Sachlage, die diese Bedingung nicht erfüllen würde, um so mehr, als man dann gerechten Grund hätte, daran zu zweifeln, daß man wirklich auch zum Abschluß der anderen beiden Konventionen noch kommen wolle.
Ich hielt es für meine Pflicht, um der Wahrheit willen Ihnen das hier zur Kenntnis zu bringen.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Erler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! § 36 der Geschäftsordnung lautet:
Zu einer tatsächlichen oder persönlichen Erklärung kann der Präsident außerhalb der Tagesordnung das Wort erteilen. Die Erklärung ist ihm auf Verlangen vorher schriftlich mitzuteilen.
Ich möchte dem Hause den Antrag unterbreiten, den Ausschuß für Geschäftsordnung zu beauftragen, zu prüfen, ob tatsächlich im Verlaufe einer Diskussion eine solche Ergänzung von Zitaten im Rahmen einer tatsächlichen oder persönlichen Erklärung zulässig ist, oder ob es sich dabei nicht in Wahrheit um einen Diskussionsbeitrag handelt, der ebensogut durch eine ordentliche Wortmeldung hätte geleistet werden können.
Zum zweiten bitte ich, daß wir den Geschäftsordnungsausschuß beauftragen, zu prüfen, ob nicht im Sinne dieser Bestimmung das Wort zu solchen Erklärungen, das heißt, außerhalb der Tagesordnung, erst erteilt werden kann, nachdem die Tagesordnung abgewickelt worden ist, also zum Schluß und nicht mittenhinein.
Wird das Wort gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Es ist der Antrag gestellt — er liegt nicht schriftlich vor, aber ich glaube, er ist im Protokoll festgehalten —, den Geschäftsordnungsausschuß zu beauftragen. Wer dafür ist, der möge ein Handzeichen geben. — Gegenprobe! —
Enthaltungen? — Darf ich bitten, die Abstimmung zu wiederholen. Wer für den Antrag ist, den bitte
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 981
Vizepräsident Dr. Schmidich, sich zu erheben. — Gegenprobe! — Das letzte ist die Mehrheit; der Antrag ist abgelehnt.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. von Merkatz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aussprachen in diesem Hause haben zunehmend den Charakter deutscher Selbstgespräche bekommen. Sie werden in einem eigenartig empörten Ton der gegenseitigen Anklage gehalten, während es doch der Zweck und Sinn einer solchen Aussprache ist, das sachlich Richtige festzustellen und um die Errichtung der Fundamente für tragende gemeinsame Überzeugungen zu werben. Wir sollten so viel Selbstbeherrschung aufbringen, unsere Gefühle angesichts der Verhärtung der Machtgegensätze in der Welt in etwas willensklarere und auch ernsthaftere Formen zu bringen. Ich glaube, daß es notwendig ist, unser Volk psychologisch vorzubereiten, Überzeugungen für das Notwendige reifen zu lassen und das Bewußtsein zu stärken, daß eine verantwortungsbewußte Regierung die Kraft hat, etwa aufkommende Krisen zu meistern.
— Darf ich mir vielleicht die Bitte an unsere Koalitionsfreunde erlauben, die persönliche Höflichkeit aufzubringen, auch einen Vertreter eines Ihrer Partner anzuhören. Ich habe großes Verständnis dafür, daß nach so langstündiger Debatte und so langen anstrengenden Ausführungen die Aufmerksamkeit auch des gutwilligsten Menschen zu erlahmen beginnt. Dennoch glaube ich, diese Debatte ist so ernst, daß jedes Wort, das hier gesprochen wird, gewogen werden sollte und daß es nicht nur ein Gebot der Höflichkeit, sondern eine Notwendigkeit ist zuzuhören.
Es ist unsere hohe Pflicht, der Bevölkerung bewußt zu machen, daß wir bis aufs äußerste Anstrengungen unternehmen werden, um den Frieden zu erhalten und unseren Familien, unseren Frauen und Kindern die Angst zu nehmen vor dem, was ihnen mit der drohenden Vorstellung des Atomtodes aufgezeigt wird,
und ihnen zu sagen, wie wir diesen Gefahren begegnen können. Eine verantwortungsvolle Politik hat dafür Sorge zu tragen, daß es zu diesen Schrecken nicht kommt. Dazu dienen nicht nur die militärischen Mittel, mit denen Gewalt allein begrenzt werden kann, sondern in erster Linie auch die Mittel der Politik und einer geduldigen, zielstrebigen Diplomatie.Es ist unmoralisch, mit der Angst und der Unsicherheit der Zeit politische Geschäfte machen zu wollen. Zum moralischen Gebot der Politik gehört es, an die Stelle von Angst und Panik Festigkeit, Zuversicht und Vertrauen zu setzen. Herr KollegeJaeger hat heute morgen ein sehr gutes Wort gesprochen: „Die Sprache der Angst ist nicht die Sprache des Gewissens." Ich darf ergänzen, sie ist auch nicht die Sprache der Staatsraison. Der Sinn unserer Politik — ich möchte das nachdrücklich unterstreichen — ist der fortgesetzte Widerstand gegen die Gefahr, in den Machtbereich des Bolschewismus einbezogen zu werden.
Das ist nicht nur die Politik des deutschen Volkes in der Bundesrepublik, sondern auch die wahre Politik des ganzen deutschen Volkes, auch dort, wo das Volk in seiner Freiheit gehindert und unterdrückt wird, drüben in der sowjetischen Besatzungszone.Wir dürfen es nicht zulassen, daß die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von den Kernfragen unserer Existenz abgelenkt wird. Diese Kernfragen unserer Existenz sind erstens: Unsere Freiheit ist bedroht. Zweitens: Der Schutz unserer Freiheit hängt von der Wirksamkeit des NATO-Bündnisses ab. Drittens: Die Wirksamkeit dieses NATO-Bündnisses hängt wiederum wesentlich auch von unserem Leistungswillen ab. Viertens ist eine Kernfrage, daß die deutsche Spaltung nur überwunden werden kann, wenn die Interessen der freien Welt mit unseren Interessen verbunden bleiben,
wenn wir also das volle Gewicht der Unterstützung der freien Welt hinter uns haben, die politische und die moralische Unterstützung auch zur Lösung unserer eigenen Probleme. Von diesen vier Kernfragen dürfen wir uns durch keine verwirrende Diskussion um die Atombewaffnung ablenken lassen. Diese Atombewaffnung ist eine unbedingte Notwendigkeit, wenn die Sowjetunion bei ihrem Nein zur wirklichen Abrüstung bleibt, weil dann nur das Mittel der Abschreckung zur Verhütung eines Krieges und zur Verhütung der Kapitulation vor dem Bolschewismus übrigbleibt.Die Sozialdemokraten sind uns leider auch heute eine schlüssige Antwort darauf schuldig geblieben, wie sie die Sicherung der Freiheit, eine Wiedervereinigung in wirklicher Freiheit und die Verhinderung einer Kapitulation vor der Macht des Bolschewismus erreichen wollen.
Eine der Grundthesen der Sozialdemokratie ist die, daß das Schutzbündnis mit dem Westen die Spaltung Deutschlands vertieft habe. Ich möchte aber doch wirklich einmal ernsthaft fragen: Was ist denn hier gespalten, der deutsche Staat oder etwa das deutsche Volk? Der deutsche Staat doch! Es gibt doch keine größere Spaltungsursache als die, daß man unter Mißbrauch des Besatzungsrechts drüben eine völlig andere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, ja eine völlig andere Lebensphilosophie mit Zwang durchzusetzen versucht hat. Das ist die Ursache der Spaltung, und darin liegt die von Jahr zu Jahr fortschreitende Vertiefung. Diese Spaltung, die durch die bolschewistische Ordnung in der Zone hervorgerufen worden ist, kann nur
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982 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Dr. von Merkatzdadurch überwunden werden, daß der Widerstandswille im ganzen deutschen Volk lebendig bleibt und die Fackel der Freiheit angezündet bleibt.
Das deutsche Volk ist und wird nicht dadurch gespalten, daß der freie und handlungsfähige Teil des deutschen Volkes, also wir, alles dafür tut, daß Machtwille des Bolschewismus über unser deutsches Volk nicht zum Ziele kommt.Ich muß mich aber doch mit einigen Thesen des Herrn Kollegen Wehner beschäftigen. Dabei möchte ich alle unnütze Polemik vermeiden: denn es geht mir hier um nüchterne, sachliche Fragen. Erste These des Herrn Kollegen Wehner: der Herr Bundeskanzler habe nicht das Äußerste getan, um in Verhandlungen mit der Sowjetunion deren Bedingungen für die Wiedervereinigung zu ergründen; ich fasse es etwas zusammen; ich gebe es nicht wörtlich wieder, Sie haben es etwas anders gesagt. Diese These bedeutet schon, daß damit die Bundesregierung in eine Position der verteidigenden Rechtfertigung gedrängt werden soll. Ich möchte aber einmal sachlich fragen: Ist denn das alles vergessen, unser ganzer Weg, den wir die Jahre gegangen sind? Wie schwierig war es doch, nach dem Absturz ins völlige Nichts nach den Beschlüssen von Jalta und Potsdam überhaupt wieder eine Position zu gewinnen, um gefragt zu werden und dann nicht nur gefragt zu werden, sondern mit handeln zu können! Das ist nicht nur eine leere Beschönigung. Was bedeutete es bereits im Jahre 1953/54, daß die deutsche Bundesregierung bei der Vorbereitung der Berliner Konferenz und der dabei aufgeworfenen Fragen und der ersten Diskussion über die Deutschlandfrage mit der Sowjetunion eingeschaltet war und daß der Plan, den wir hier gemeinsam in allen Parteien damals war noch Vernunft drin — erarbeitet hatten über die Vorstellungen vom Weg zur Wiedervereinigung, in Gestalt des Eden-Plans auf dem Konferenztisch lag und seitdem aus der internationalen Diskussion nicht mehr zurückgezogen worden ist!
Von Berlin ging es nach Genf. Dort gab es den fälschlich „erweiterter Eden-Plan" genannten Plan, der die Reintegration, d. h. die Wiedervereinigung Deutschlands zu einer wirklichen Einheit in der Substanz und nicht nur in einer Scheinrechtsform zum Inhalt hatte. Der erweiterte Eden-Plan, der diese Gegenstände zum Inhalt hatte, lag in Genf auf dem Tisch, und es gelang dort durch die Aktivität und Initiative unserer Regierung, der anzugehören ich die Ehre habe, die Verknüpfung zwischen Sicherheit, Wiedervereinigung und freien Wahlen herzustellen und damit die eigentliche Diskussionsgrundlage — nicht nur im internen Kämmerlein unter den Bündnispartnern, sondern in der ganzen Welt — zu schaffen.Als dritter Schritt gelang es, die diplomatischen Beziehungen zu Moskau anzuknüpfen, ohne damit einen ganzen Berg von Mißtrauen bei unseren westlichen Bündnispartnern zu schaffen, nach dem, was auf diesem Gebiet in der Zeit nach dem erstenWeltkrieg geschehen war. Wir mögen es beklagen, aber das Mißtrauen mußte überwunden werden und muß noch täglich und in Zukunft überwunden werden. Damit ist das Instrument geschaffen worden, um überhaupt die zweite große Schicksalsfrage Deutschlands anzufassen. Die eine Schicksalsfrage ist das Verhältnis zum Westen. Es ist bereinigt, zwar noch nicht so bereinigt, daß wir daraufhin jeden Tag wie die Narren sündigen könnten; aber es gibt immerhin eine Basis der Existenz. Nun ist die zweite große Schicksalsfrage angegriffen worden, indem versucht wird, unser Verhältnis auch zu unseren osteuropäischen Nachbarn und zur Sowjetunion in solider Weise, nach den nüchternen Grundsätzen der internationalen Politik zu bereinigen, die sich bekanntlich nicht mit ideologischen Ressentiments abgibt, sondern wo es um die kühle, vorsichtige Abwägung von Interessen geht. Dieser Weg ist begonnen worden. Er ist unendlich schwierig, schon wenn man das Verhältnis zwischen Warschau und Moskau, wenn man all die Gefahren bedenkt, die auf diesem politischen Weg für eine unkluge, für eine ungeschickte, für eine elefantenhafte Politik und Diplomatie drohen, wenn man berücksichtigt, was da alles an Sandbänken und Riffen umschifft werden muß. Aber die Arbeitsinstrumente sind vorhanden. Es wird begonnen, es wird seit Monaten im stillen, von Stufe zu Stufe schreitend, ohne Mißtrauen in der Welt zu erregen, daran gearbeitet, dieses schwierige Problem der Ostpolitik anzufassen. Bitte, Sie fragen immer nach Aktivität. Sie sagen, das sei alles so starr und dogmatisch. Dieses ist eine höchst elastische Politik, und nur durch die Meisterschaft an Elastizität haben wir die Dinge so weit bringen können, wie sie gebracht worden sind.
In der Öffentlichkeit oder bei denjenigen, die glauben, die öffentliche Meinung zu machen, werden bestimmte Tatsachen einfach nicht zur Kenntnis genommen. Es wird immer danach` gefragt: Was für eine Konzeption — wir leben ja in der Zeit der Konzeptionitis — welche Vorstellungen, welche Konzeption habt ihr über das, was im Wege der Wiedervereinigungspolitik gemacht werden muß oder gemacht werden kann? Die sehr eingehende Note vom 2. September 1956, die ja ein ganzes Tableau von Wegen, Prozeduren, Vorstellungen und Diskussionsgrundlagen über die wichtige Frage unseres Verhältnisses zum Osten und über die Wiedervereinigung enthält, scheint niemand gelesen zu haben. Sie wird einfach übersehen. Die Berliner Erklärung von 1957 ist nur als ein Wahldokument wie ein Wahlflugblatt, das morgen im Papierkorb liegt und von der Straßenreinigung weggefahren wird, behandelt worden.
Sie ist die Grundlage, von der allein eine kluge und zielstrebige Diplomatie für die weitere Entwicklung ausgehen kann.Insofern ist dieser Vorwurf der mangelnden Beweglichkeit ebenfalls unberechtigt. Sollte in diesem
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 983
Dr. von MerkatzVorwurf der Starrheit eine Art von moralischer Wertung liegen, kann ich darauf nur antworten: Ist es etwa Starrheit, wenn man die Kraft aufbringt, in den Grundfragen der Freiheit und der Sicherheit keine Zugeständnisse zu machen? Das ist doch gerade der psychische Druck, der auf unserem Volke liegt: uns zu veranlassen, koste es, was es wolle, in den wesentlichen Punkten unserer freiheitlichen Substanz Zugeständnisse zu machen. Hier gilt es, die seelische, geistige Kraft aufzubringen, Widerstand zu leisten.
Der Herr Kollege Wehner hat in seiner — ja klaren — Rede gesagt, jeden sowjetischen Schritt müsse man auf die Probe stellen. Darf ich hierauf einmal ganz primitiv antworten: Rät man uns mit diesen Verfahren nicht an, nach dem Köder zu schnappen, um dann im Fuchseisen zu sitzen?
Kollege Wehner hat in seiner Rede, deren Text auch noch eines sehr sorgfältigen Studiums wert ist, eine Grundthese aufgestellt. Er hat ausgeführt, man müsse jeden Schritt kombinieren, eine Kombination von Schritten vornehmen, an der die vier Mächte und beide Deutschlands beteiligt sind. Ein Viermächtebeschluß über Deutschland allein sei nicht mehr zu erreichen; es handle sich um beide Deutschlands. Ich möchte hier nicht zu viel unterstellen, weil eine solche Unterstellung in diesem Hause nach außen bereits den Eindruck erwecken könnte, als sei in bezug auf die Betrachtung der illegitimen Gewalt der sowjetischen Besatzungszone in der deutschen Meinung und vor allen Dingen in der Meinung dieses Hauses eine Unsicherheit festzustellen. Aber das, was der Herr Kollege Wehner hier anrät, ist nichts anderes als eine gefährliche Verstrickung in das, was der Jurist die normative Kraft des Faktischen nennt; oder volkstümlicher ausgedrückt: man findet sich mit dem Unrecht ab.Und dann die leidenschaftlich vorgetragene Forderung, wir sollten endlich zu Verhandlungen wenigstens über den sogenannten Rapacki-Plan ja sagen. Vom Verteidigungsminister, von vielen Sprechern dieses Hauses ist eindringlich klargestellt worden: was uns von regionalen und Teillösungen abhalten muß, ist ganz einfach der Grundsatz, daß wir nichts tun dürfen, was im gegenwärtigen Augenblick die Position der freien Welt schwächt, ohne daß eine Gegenleistung im Grundsätzlichen erfolgt.
Wir wollen uns nicht in Rabulistiken, was Verhandlungen sind und was nicht, streiten. Es gibt das eine, das ist die laute Propaganda, die die Dinge stört und die nichts anderes ist als eine Art geistiger Kriegführung; und es gibt das andere, das ist eine gesunde, nüchtern abwägende, analysierende und behutsame Diplomatie.Nun zu dem Vorschlag des Herrn Kollegen Wehner, der sich auf die Annäherungspolitik der beiden deutschen Staaten, die nun einmal faktisch seien, bezieht. Es ist eigentlich eine tolle Sache, daß Herr Chruschtschow uns sagt: Über euere Wiedervereinigung müßt ihr Deutsche euch untereinander unterbhalten! — Es gibt ja geschichtliche Erinnerungen. Auch im ersten Weltkrieg standen deutsche Truppen als Besatzungsmacht tief in Rußland. Damals bestand auch die Gefahr des Auseinanderbrechens Rußlands. Ganze Landesteile waren abgefallen. Auch dort waren Regime errichtet, die sich auf die damalige Besatzungsmacht stützten. Nichts gegen Herrn Skoropadskij! Man sagt ihm nach, er sei von der damaligen Besatzungsmacht gestützt worden. Was hätte Lenin gesagt, wenn wir ihm damals gesagt hätten: Bitte, unterhalten Sie sich über die Wiedervereinigung mit der Ukraine mit Herrn Skoropadskij! Lenin hätte gesagt: Das ist eine Verhöhnung des russischen Volkes!
Es gibt gewisse unverzichtbare Maßstäbe der inneren Selbstachtung. Ich darf es sagen: auch mich beseelen nicht die geringsten feindseligen Gefühle gegen das russische Volk. Ich glaube, niemand hier in diesem Hause wird von solchen Gefühlen beseelt, kein Mensch. Das russische Volk hat in den Krisen der nationalen Geschichte Rußlands stets ein hohes Maß an nationaler Würde, an Verteidigungskraft und an Beständigkeit zutage gelegt. Aber ich möchte doch auch sagen — auch den russischen Staatsmännern sagen —, daß dasselbe Maß, das sie an die Geschichte ihres Volkes anlegen, auch unserem deutschen Volk zuerkannt werden sollte.
Ich sagte bereits, nicht die Bevölkerung, sondern die Regierungsgewalten sind gespalten, und jeder Weg zwischen der legitimen und der von uns nicht als eine deutsche Regierung anerkannten Gewalt in Pankow gefährdet das Einheitsbewußtsein unseres Volkes, verleugnet den Glauben unserer Menschen drüben, die ja in uns und nicht etwa in ihrer Regierung die einzig Handlungsfähigen, die rechtmäßig im deutschen Namen zu handeln vermögen, sehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Möglichkeiten der Außenpolitik werden meiner Ansicht nach in der gegenwätigen Lage von folgenden Gegebenheiten bestimmt: Entweder ist die Sowjetunion zu einem wirklichen Ausgleich, zu einer Entspannung und einer Beseitigung der Spannungsursachen bereit, oder sie ist es nicht. Diese Grundbereitschaft oder Nichtbereitschaft muß geklärt werden. Das Forum der Klärung wäre eine Gipfelkonferenz, die aber dann so vorbereitet werden muß, daß auf die Frage eine Antwort gefunden werden kann. In diesem Falle haben alle Maßnahmen für die potentielle Verteidigung nur den Sinn, das Interesse an der Abrüstung wachzuhalten. Im andern Fall, wenn keine Bereitschaft zur Entspannung gezeigt wird, muß die Politik der Kriegsverhütung mit allen Mitteln, auch militärischen Mitteln, ausgestattet werden, die erforderlich sind, um einen Angriff abzuwehren.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Frage?
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Bitte sehr!
Herr Kollege Dr. von Merkatz, bedeutet dieses Bekenntnis zu der Notwendigkeit einer Gipfelkonferenz, daß Sie sich von folgender, am 19. März 1953 im Bundestag geäußerten Auffassung — und zwar von Ihnen geäußerten Auffassung — distanzieren? Ich zitiere:
... die Aufgabe ist nicht ein im Wege des Verhandelns und des Brückenbaus zu schaffender Ausgleich. ... Die Aufgabe ist vielmehr die Befreiung der besetzten ... Gebiete ... Diese sogenannten Brückenbauer, die nicht erkennen wollen, daß die gesamtdeutsche Frage letzthin eine Frage der Befreiung ist, ... tun unserem Lande bitteren Schaden an.
Ich frage Sie: Bedeutet Ihr heutiges Bekenntnis zur Gipfelkonferenz eine Distanzierung von Ihrer damaligen Auffassung? Ich würde es begrüßen.
Aber Herr Kollege, wir sind doch beide Juristen und haben eigentlich das Denken einigermaßen gelernt.
Sie wissen doch ganz genau, daß sich dieses Verhandeln, Brückenbauen damals auf die Gewalten der Zone bezog und nicht auf diplomatische Verhandlungen im Rahmen der internationalen Politik.
Herr Kollege, ich will aufrichtig sein
— bitte, das habe ich bisher immer klar gesagt —, ich stehe nach wie vor in der politischen Substanz zu meinem damals gesprochenen Wort, daß die Beseitigung einer kommunistischen Herrschaftsordnung politisch und der Sache nach eine Befreiung unserer Menschen ist, und darauf kommt es an.
Als Zweck dieser Debatte wurde von den Rednern der Koalition deutlich herausgestellt, daß Klarheit über unsere Lage und über das, was wir wollen, geschaffen werden soll. Diese Klarheit über unsere Auffassung soll ihre Wirkung nach außen und zugleich nach innen tun. Nach außen soll sie unsere Bundesgenossen von unserer Vertragstreue überzeugen und ihnen das Bewußtsein vermitteln, daß wir unsere Anstrengungen zur Verteidigung der Freiheit mit den ihrigen zu verbinden bestrebt sind und daß wir in dieser Verbindung der Kräfte einen zuverlässigen Schutz sowie die einzige Möglichkeit sehen, den Ausbruch eines dritten Weltkriegs zu verhindern.Der Verteidigungsminister hat sehr eindrucksvoll erläutert und die politische Absicht dargelegt, er hat nämlich die Verteidigung der freiheitlichen Lebensordnung und Verhinderung des Krieges mit dem Begriff der Strategie der indirekten Verteidigung bezeichnet. Dies ist ein sehr grundlegender Begriff, nicht nur ein militärischer, ja sogar in erster Linie kein militärischer, sondern ein politischer Begriff. Diese Strategie ist nicht auf die Vernichtung des Gegners gerichtet, nicht auf seine Wehrlosmachung, um ihm dann den Willen des Siegers aufzunötigen, sondern darauf, daß die Gegner sich vom Risiko des Angriffs abschrecken lassen. Es handelt sich also um eine Strategie, die auf den Willen des Gegners mit der Drohung der Vergeltung einzuwirken sucht, um ihn davon abzuhalten, zu einem Friedensbrecher zu werden.
Hier wird also die militärische Anstrengung ganz und gar in den Dienst einer Politik der Kriegsverhütung gestellt. Ihr oberstes Ziel ist die Erhaltung des Friedens, die Sicherheit. Die zur Gewährleistung der Sicherheit aufgebaute Verteidigungsorganisation ist also ein militärisches Mittel, das in den Dienst einer aktiven Friedenserhaltungspolitik gestellt wird.Das Maß der Anstrengungen wird am Ausmaß der Gefahr gemessen — und diesem Ausmaß angeglichen —, die von einem potentiellen Angreifer droht. Diese Anstrengungen können in dem Maß herabgesetzt werden, als die Gefahr eines potentiellen Angriffs, eines Friedensbruchs zurückgeht bzw. ganz und gar beseitigt werden kann, so daß die Streitkräfte lediglich die Funktion der Aufrechterhaltung der inneren Ordnung, Ruhe und Sicherheit haben. Die Strategie der indirekten Verteidigung ist also mehr, wie ich sagte, ein politisches als ein militärisches Instrument. Es ist notwendig; daß bei einer solchen Kriegsverhütungspolitik und Friedensbewahrungspolitik die organisierbaren militärischen Kräfte den Kräften des Gegners angemessen sind.Angesichts der Expansionspolitik des militanten Bolschewismus muß es sich der Ostblock gefallen lassen, als der potentielle Angreifer betrachtet zu werden. Es läge an ihm, die Rollen zu vertauschen und von einer offensiven Strategie mit politischen, wirtschaftlichen und propagandistischen Mitteln abzugehen. Die Debatte hat deutlich gemacht, daß diese Strategie der Friedenserhaltung eine Politik der Abwehr ist, daß diese Abwehr notwendig wurde, um dem militanten Bolschewismus den Weg zu verlegen. Die Sowjetunion und ihre verbündeten Satelliten sind bestrebt, mit jedem Mittel diesen Abwehrwall der NATO, der WEU, des Bagdad-Paktes und der SEATO, diesen Ring der Eindämmung, der um sie gelegt worden ist, zu durchbrechen. Sie bedient sich dazu vor allen Dingen auch einer offensiven Propaganda, die vor allem mit den bewußten und nicht-bewußten Helfern, Parteigängern und Kollaborateuren im anderen Lager rechnet, die, aus welchem Motiv auch immer, den Widerstandswillen der Bedrohten zu untergraben geeignet erscheinen, um so die Eindämmungsbündnisse aufzulösen, durch innere Streitigkeiten zu lähmen und unwirksam zu machen. Diese offensive Propaganda ist mit dem Begriff des Kalten Krieges bezeichnet worden. Hier soll der Wille des Gegners nicht mit physischer Gewalt, sondern mit psychischem Zwang gelähmt und gebrochen werden. Dieser Kalte Krieg ist nicht beendigt worden und hat bereits mehr Erfolge gezeigt, als die Kapitulanten des Kal-
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Dr. von Merkatzten Krieges vor sich selber wahrhaben wollen. Die große Furcht der heutigen Menschen benebelt ihre Entschlußkraft. Ursache und Wirkungen werden vertauscht. Die Sowjetunion hat sich mehrerer Anwälte ihrer angeblichen Absichten in allen Ländern versichert. Ich glaube, wir könnten glücklich sein, wenn wir im Obersten Sowjet Plädoyers und wohlwollende Erläuterungen über unsere wahren Absichten feststellen könnten, wie wir sie hier in diesem Hause bei der Erläuterung der sowjetrussischen Ansichten gehört haben.
Besonders der merkwürdige Vorgang um die Auslegung der letzten sowjetrussischen Note hat doch eigentlich fast groteske Züge angenommen. Was ist hier von einigen Rednern dieses Hauses in das sowjetische Memorandum hineininterpretiert worden, um der harten Erkenntnis auszuweichen, daß eben ein Friedensvertrag ohne Wiedervereinigung die Wirkung einer friedensvertraglichen Regelung mit zwei verschiedenen deutschen Staaten haben und damit die Spaltung und den Status quo zur Anerkennung bringen muß, gleichgültig, welche völkerrechtliche und staatsrechtliche Konstruktion man wählt, um diesen politischen Tatbestand in der Wertvorstellung des Rechts zu legimitieren und den Deutschen sowie der freien Welt eine dann rechtlich verbindliche Anerkennung des Status quo abzulisten! Diejenigen, die das falsche Spiel mitspielen in der Hoffnung, den Falschspieler betrügen zu können, werden Opfer ihres Selbstbetrugs sein. Intellektuelle Denkungsweise hat die ebenso seltsame wie verwirrende Eigentümlichkeit, in der Selbstbelügung ungewollt die Wahrheit einzugestehen und sie erst dann allerdings zu erkennen, wenn es zu spät ist.
— Nein, das liegt gar nicht neben der Sache!
— Bitte!
Herr Kollege, ist Ihnen nach dem Ablauf der Debatte nicht klargeworden, daß durchaus anerkannt wird, welche Zweifel auch bezüglich der Auslegung der sowjetischen Noten bestehen? Ist Ihnen nicht klargeworden, daß der Vorwurf der Opposition in erster Linie dahin geht, daß niemand, weder die Bundesregierung noch die Mehrheit dieses Hauses, die Notwendigkeit anerkannt hat, am Verhandlungstisch die Zweifel klarzustellen, auszuräumen oder zu überwinden? Das ist doch das Problem! Erkennen Sie das nicht, Herr Kollege?
Die Verhandlungen um die Gipfelkonferenz laufen doch schon seit Monaten. Darüber gab es doch gar keinen Zweifel.
— Ich muß zurückfragen: Haben Sie auch nur den geringsten Zweifel, daß eine Verhandlung über
einen Friedensvertrag, ohne daß über die Wiedervereinigung verhandelt werden darf, in der Sache die Anerkennung von zwei deutschen Staatswesen auf einer internationalen Konferenz ist, daß damit die Weiche gestellt und ein Damm errichtet wird, der nie wieder zu überwinden ist?
Haben Sie nicht auch das Gefühl, daß Sie sich darüber bei solchen Fragen mit politischer Substanz nicht mit juristischer Spitzfindigkeit hinwegtäuschen können, um hier eine Scheinkonstruktion zu wählen?
— Nach Ihrer Auffassung könnte man sich also — ich muß das nach Ihren Zwischenrufen feststellen — über die politische Tatsache, über einen Friedensvertrag ohne den Inhalt der Reintegration Deutschlands, d. h. Deutschlands als Einheit, als Voraussetzung für den Abschluß eines Friedensvertrages hinwegtäuschen und eine Hilfskonstruktion wählen, die de facto dann doch das Bestehen der zwei Teile anerkennt?
— Das wird er tun, und ich habe in gar keiner Weise das Recht, den durchaus sorgfältigen Überlegungen, die mein Herr Kollege Gerstenmaier angestellt hat, in irgendeiner Weise vorzugreifen oder sie wertend zu kritisieren; das ist jetzt hier nicht mein Amt. Aber ich kritisiere, daß Sie die Haarspalterei über den Begriff „ein Friedensvertrag" — bei Aufrechterhaltung zweier Teile, mit denen dann der Friedensvertrag geschlossen werden soll — zu einem Angriff gegen die Regierung gemacht haben, sie hätte hier noch irgend etwas aufklären müssen, was der Aufklärung würdig wäre.
Ich weiß, daß für Sie das, was wir sagen, kalter Kaffee ist; das ist nun einmal im Raume der Politik so, und ich nehme es Ihnen gar nicht mal übel. Ich könnte sagen, daß das, was Sie sagen,
— ja, ein bißchen so etwas wie Kräutertee ist; Sie trinken ihn im Sanatorium.
— Es wird Ihnen übel davon? — Ich glaube, Sie stehen dem Reformhaus etwas näher als ich.
— Aber der Herr Präsident legt Wert darauf, daß wir weiterkommen.
Ja, ich lege auch Wert darauf, meine Damen und Herren, daß wir weiterkommen, aber ich lege keinen Wert darauf, daß wir bei einer so subtilen und außerordent-
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Präsident D. Dr. Gerstenmaierlich wichtigen Frage mit Getränken manipulieren, die doch eigentlich unter der Würde des Hauses sind. Kalter Kaffee und Kräutertee, nein, das gefällt mir nicht!
Ich bin dem Herrn Präsidenten dankbar, daß er damit auch auf der Wertskala der Getränke die Dinge wieder richtiggerückt hat.Der oberste Zweck der Politik in dieser Welt ist eine Frage der Daseinsbehauptung im physischen und im moralischen Sinne. Fragen des Schicksals und das Ringen mit den Wechselfällen und Bedrohungen des Daseins, also Grundfragen der Politik, können nicht allein mit den Mitteln des logischen Verstandes gemeistert werden. Die gestaltenden Kräfte in der Politik sind nicht klügelnde Erwägung und Kombinationen, sondern letztlich Kräfte der Haltung, des Mutes und der seelischen Standfestigkeit und der Unbeirrbarkeit des Willens. Politik der Daseinsbehauptung ist keine kalkulatorische Angelegenheit, schon gar nicht in gefährlichen Zeiten. Im Ringen um Überzeugungen, Auffassungen und den klaren Willen, das klare Ziel unserer Politik haben manche sich in Gedankenspielereien verloren, in Hypothesen und Annahmen, und daraus Schlüsse gezogen, ja haben sich auch in Ausweglosigkeiten eingebildeter Art drängen lassen. Das Richtige in der Politik läßt sich nicht erklügeln, und das Rechte ist immer mehr eine Angelegenheit des Charakters als eine Angelegenheit des Verstandes. Der politische Entschluß sollte nicht vom rationalen Kalkül allein, sondern entscheidend auch vom Instinkt, vom gesunden Instinkt regiert werden, zur richtigen Zeit am rechten Ort im rechten Maß das Mögliche zu erkennen und zu tun.
Ich halte die volle tatkräftige und überzeugte Integration in das politische und militärische System der NATO für eine Mittelmacht, wie Deutschland sie heute in seinem freien Teil ist, für die einzige Möglichkeit des Überlebens in Freiheit. Dieses System wird so viel wert sein, als die Völker an Bündniswilligkeit und Abwehrgeist aufbringen und ein Bewußtsein der Interdependenz, der gegenseitigen Schicksalsabhängigkeit, zu entwickeln vermögen.Daraus folgt, daß wir die Politik der Friedenserhaltung durch die Strategie der indirekten Verteidigung so wirksam wie möglich machen müssen. Wenn also eine Bewaffnung mit Kernwaffen notwendig wird, dürfen wir uns dieser schweren Last und Verantwortung nicht entziehen. Denn Gewalt kann nicht durch Wehrlosigkeit begrenzt und in Schranken gehalten werden. Es kommt darauf an, die Gewalt zu begrenzen.Das ist ein wirklich sehr ernstes, schweres Thema. Ich bin mir bewußt, daß die Kernwaffen als Ausrottungsmittel und ihre wahllose Verwendung zur totalen Vernichtung jeglichen Lebens sittlich verwerflich und ein Frevel an Gottes Schöpfung sind. In der Kernwaffenstrategie ist ein militärischerNihilismus zum Ausdruck gekommen, der selbst die Elemente des Krieges in der Sinnlosigkeit des gegenseitigen Selbstmords aufhebt. Aber, so frage ich, ist es sittlich gerechtfertigt, daß man die Begrenzung dieser Mittel beseitigt, indem man auf die Möglichkeit der Vergeltung verzichtet? Ist es sittlich gerechtfertigt, die Mittel der Begrenzung dieser atomaren Gewalt abzulehnen, wenn diese damit zu Mitteln absoluter Unterwerfung von Wehrlosen werden?
Ich bin mir bewußt — ich sage das vor allen Dingen für meine politischen Freunde —, daß die Hypothese von der Vergeltungsdrohung keine wirkliche Begrenzung und kein wirklicher Schutz vor gegenseitiger Ausrottung, also vor der unvorstellbaren Katastrophe des Selbstmords unserer Zivilisation, ist. Solange aber die Begrenzung nur durch Abschreckung möglich ist und der Atomfrevler damit rechnen kann, daß er durch einen Überfall von dem mehr oder weniger Betroffenen nicht mit Vergeltung bedacht wird, schwebt die Menschheit eben in dieser Gefahr.Es gibt da nur zwei Möglichkeiten: Entweder es werden Mittel gefunden, die eine absolute Abwehr der Kernwaffen möglich machen — ich glaube, die Forschung ist sehr bald so weit, daß sie diese Mittel gefunden hat —, oder aber — das ist das bessere — wir kommen tatsächlich zu einer allgegemeinen Abrüstung, und zwar dann nicht nur der atomaren, sondern auch der konventionellen Waffen.
Bis dahin muß aber nicht nur die Abschreckung wirksam aufrechterhalten bleiben, sondern auch das Interesse daran wachgehalten werden, die Probleme der Abrüstung wirklich zu lösen.Lassen Sie mich zum Schluß in zwei Ausblicken etwas sagen aus dem Versuch heraus, eine konstruktive Vorstellung zu entwickeln. Ich glaube, daß es das wichtigste Ziel der auswärtigen Politik in der gegenwärtigen Situation ist, zu einer Entspannung zu kommen. Die Ursachen der Spannung liegen in der Expansionspolitik der Sowjetunion. Diese Expansionspolitik hat Mißtrauen erzeugt. Mißtrauen erzeugt Wettrüsten und Wettrüsten wieder Mißtrauen; das ist der Teufelskreis, der Circulus vitiosus, in dem wir uns befinden.Was kann man zur Einleitung der ersten Schritte tun, um dieses Mißtrauen abzubauen und damit zu substantiellen Verhandlungen über eine allgemeine kontrollierte Abrüstung aller Waffenarten zu kommen? Ich halte es für notwendig, die diplomatischen Kontakte, auch die inoffiziellen Kontakte, zu intensivieren, um zunächst einmal überhaupt das allgemeine Verständnis, eine Atmosphäre des gegenseitigen Sichverstehens, des Ausräumens von Mißverständnissen zu erlangen und zu zeigen, daß man an der Entspannung zutiefst interessiert ist. Ich glaube, man sollte hier viel mutiger sein. Je mehr Menschen miteinander sprechen, um so eher ist die Möglichkeit gegeben, daß man in dem anderen nicht unbedingt den Teufel sieht.
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Dr. von MerkatzIn Spannung befinden sich aber nun nicht Menschen, die sich vertragen könnten, sondern Machtpotentiale, die sich gegenseitig im Wettrüsten steigern.Ein Kardinalpunkt der Entspannung ist, glaube ich, daß man die Sowjetunion, koste es, was es wolle, endlich zu Abrüstungsverhandlungen an den Tisch bringt, sei es über die Vereinten Nationen, sei es über eine Gipfelkonferenz oder wie auch immer.Ich möchte sehr bejahen, was ich nach unserem Verteidigungsminister, dem Kollegen Strauß, das Straußsche Prinzip nenne, daß der erste Schritt jeweils erst dann durchgeführt wird, wenn die zweite Stufe der Entspannungsentwicklung bereits verbindlich beschlossen ist. Ich halte das für eine gute dynamische Methode diplomatischer Art, um voranzukommen.Eines muß klargestellt werden, damit da keine Irrtümer entstehen: eine Entspannungspolitik bedeutet noch nicht eine Politik der Überwindung des Status quo. Ich kann mir sehr wohl bei dem Bestreben, wie es die Sowjetunion an den Tag legt, auch eine Entspannung beim Status quo denken, obgleich das nur eine scheinbare Entspannung wäre. Darin liegt die Gefahr für die Deutschen. Es muß eines der wichtigsten diplomatischen Anliegen sein, dafür zu sorgen, daß nicht durch einen Entspannungseffekt auf der Grundlage des Status quo unser wichtigstes Interesse verlorengeht, nämlich die Spaltung Deutschlands zu überwinden. Das muß mit eingeschlossen sein, wenn wir jemals zu einer inneren und damit auch zu einer äußeren Befriedung kommen wollen; das muß mit eingeschlossen sein bei dem Beginn von Verhandlungen, von Zugeständnissen. Wenn dieses wichtigste Interesse, die Spaltung unseres Landes zu überwinden, mit in der Diskussion bleibt, sind wir an jeder Entspannung interessiert; andernfalls laufen wir Gefahr, daß für alle Zeiten der Ansatzpunkt dafür verlorengeht, unsere innere Befriedung zu erreichen.Wer Entspannung will, darf nicht nur über Abrüstung, über militärische Fragen verhandeln, sondern der muß auch die politischen Spannungsursachen und die Überwindung des Status quo ansprechen und verbindliche Zusagen erhalten, daß über diese Dinge zu einem bestimmten Zeitpunkt verhandelt wird.
Solange die Sowjetunion an der Ausübung ihrer Macht auch in Gebieten außerhalb ihrer nationalen Sphäre festhält, bedeutet eine sogenannte Entspannung nur den Gewinn einer verhältnismäßigen Ruhe und einer vorläufigen Atempause; aber die Gefahr des Konflikts wird nicht beseitigt. Eine politische Entspannung auf soliderer Grundlage und von größerer Beständigkeit kann nur durch Selbstbescheidung beider Machtblöcke, des Westens und des Ostens, erreicht werden. Eine nur militärische Abrüstung läßt das Interesse an den politischen Entspannungsmaßnahmen zur Überwindung des Status quo erlahmen.Eine Gipfelkonferenz muß also Klarheit sowohl über die methodischen Grundlagen und Prinzipien als auch über den schrittweisen Weg schaffen, unter Wahrung vergleichbaren Machtpotentials militärischer Art weiterzukommen und so Zug um Zug, Leistung um Gegenleistung die politischen Machtpotentiale auszugleichen, in das Gleichgewicht zu setzen.Nun ein Wort zum Problem des europäischen Sicherheitssystems, von dem gesprochen wurde. Wenn man diese Frage richtig durchdenkt, erkennt man, daß ein solches europäisches Sicherheitssystem nicht der Ausgangspunkt, sondern das Produkt, das Ergebnis nicht nur einer Abrüstung, sondern auch einer politischen Entspannung ist. Dann erst werden alle die damit zusammenhängenden Fragen reif; durch Vorleistung und Verzicht können die Dinge überhaupt niemals zu einem glücklichen Ergebnis in Europa gebracht werden. Denn es genügt nicht, daß ich etwas leiste und daß damit der Gegner alles erhält, was er politisch gewollt hat; denn dann hat er kein Interesse mehr daran, die Sache weiterzubringen.
Vielleicht sehen Sie diesen einen Punkt, der meinen Freunden und mir so wesentlich ist. Das Entspannungsproblem kann bei der Abrüstung angefaßt werden. Kommt man hier vorwärts und kommt man auch in den großen politischen Fragen vorwärts, ist ein europäisches Sicherheitssystem das Ergebnis und die Frucht dieser Dinge. Es ist, methodisch gesehen, völlig falsch, zu glauben, man könne in diesem Zeitpunkt einen Teilplan wie den Rapacki-Plan zum Ausgangspunkt erfolgversprechender diplomatischer Verhandlungen und überhaupt zur Diskussionsgrundlage machen.
Das europäische Sicherheitssystem wird die Frage zu beantworten haben, wer wen wann und wo regiert. Das europäische Sicherheitssystem muß auf dem Grundsatz der Selbstbestimmung Europas und des Selbstbestimmungsrechts der europäischen Völker und Staaten aufgebaut werden. Bei Errichtung des europäischen Sicherheitssystems muß dafür gesorgt werden, daß alle Staaten ein gleiches Recht und gleiche Pflichten, je nach ihrer geographischen Lage, je nach ihrer Einordnung haben. Ich wende mich gegen die Auffassung, als könne ein Statusvertrag über Deutschland ohne weiteres zugestanden werden. Das wäre nichts weiter als eine deutsche Diskriminierung, eine ungleiche Behandlung, mit dauernden Interventionsrechten und Interventionsmöglichkeiten. Hier sind schwere Denkfehler gemacht worden, die man bei Verhandlungen vermeiden müßte.Der Staatsmann muß, um mit Friedrich Meinecke zu sprechen, nach Staatsräson handeln. Die Staatsräson auferlegt uns schwere Verantwortung und verlangt von uns eine große Festigkeit des Willens, wenn wir überleben wollen, wenn wir nämlich Sicherheit, Freiheit und Frieden erhalten wollen und im Rahmen einer unerläßlichen Entspannung die deutsche Einheit wiedergewinnen wollen. Die
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Dr. von MerkatzFrage nach Frieden und Freiheit und Wiedervereinigung richtet sich an die ganze Tiefe unseres Wollens. Hölderlin sagt, daß in der Tiefe der Not das Rettende wächst. Das Rettende ist die Unerschütterlichkeit unseres Willens, frei zu bleiben und unseren Landsleuten in der Zone Freiheit und Selbstbestimmung zurückzugewinnen, und unseren Willen in der Bereitschaft auch zum Opfer zu verwirklichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe versucht, einige der Vorstellungen meiner Freunde darzulegen. Wir sind gegen Pläne und Konzeptionen, aber wir sind für Methoden, die sich nach den Regeln einer erfolgreichen Diplomatie in der Geschichte bewährt haben. Methodisch richtig vorgehen und die Probleme in der richtigen Rangordnung und Verknüpfung sehen, darauf kommt es an; nicht aber auf Pläne, die immer nur den Verzicht, das Kompromiß, die halbe oder die ganze Kapitulation in sich schließen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Döring.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, ich bin der erste Neuling in dieser Legislaturperiode, der in dieser Debatte spricht.
Vielleicht ist es für Sie ganz interessant -- für die Christlich-Demokratische Union besonders —, einmal zu hören, welchen Eindruck ein solcher Neuling vom Verlauf einer solchen Debatte bekommt.
Ich habe eine ganze Reihe Erfahrungen gemacht.Zwei sehr lustige Erfahrungen. Wir sitzen da so an einer Nahtstelle zur CSU. Als ich gestern einen Zwischenruf machte, rief einer meiner Nachbarn: „Halt dein Maul!" Sehr lustig!
Als ich ihn dann fragte, ob er sich nicht zu entschuldigen beabsichtige, meinte er, das sei bayerische Mundart.
Ich fand auch das sehr lustig.Weniger lustig fand ich allerdings dann im Verlaufe der Debatte so Rufe wie: „Der Nazi-Döring!".
Noch weniger lustig fand ich Zurufe, wie sie bei der Rede der Frau Kollegin Wessel sich bemerkbar machten, nämlich: „Da spricht ein Flintenweib!"
Noch weniger lustig fand ich, daß, als unlängst einmal der Bundeskanzler über eine Äußerung des Oxforder Professors Taylor sprach, einer unserer Nachbarn, der die Ansicht dieses Professors ablehnte, zu uns herüberrief: „Ist das ein Wunder? Das ist doch ein Jude!"
Sehen Sie, meine Damen und Herren, das waren so die ersten Eindrücke.
— Ich bin gern bereit, den Namen des Kollegen nachher dem Gruppenführer der CSU zu nennen, wenn er das wissen will.
— Ich hatte das eigentlich für eine ganz geeignete Bezeichnung gehalten. Sie nennen sich doch Landesgruppe.Ich war auch etwas überrascht, als ich gestern die Worte des Kollegen Kiesinger hörte, die er am Schluß sprach, als er die Verdienste des Bundeskanzlers herausstellte. Er sagte: „Dieser Mann hat jahrelang zäh und unverdrossen um das Vertrauen im Westen geworben." Ich habe hier den Eindruck gewonnen — als ein Neuling, meine Damen und Herren —, daß es dieser Bundeskanzler allerdings unterlassen hat, zäh und unverdrossen um das Vertrauen einer Opposition zu ringen, die immerhin fast die Hälfte der deutschen Wählerschaft repräsentiert.
Um so mehr habe ich mich gefreut, als ich heute schon an der ganzen Art, wie der Herr Minister für gesamtdeutsche Fragen hier auftrat, doch immerhin Ansätze feststellen konnte, die vielleicht einmal wieder zu einer Diskussion führen.Ich möchte allerdings, wenn ich den Verlauf dieser Debatte betrachte, dem Herrn Bundeskanzler recht geben, der gestern sagte, es sei doch eine Art von Wirrwarr entstanden. Ich kann mir vorstellen, daß der Rundfunkhörer, der dieser Debatte gefolgt ist, es sehr schwer hat, sich ein Bild zu machen, worum hier eigentlich noch gerungen wird, und daß es für ihn sehr schwer ist, sich eine Meinung aus den Äußerungen in dieser Debatte zu bilden.
Die Regierungssprecher haben sich auch redlich bemüht, Dunkel ins Licht zu bringen.
Ursprünglich — wenn ich hier einmal eine bekannte Formel unseres Bundeskanzlers gebrauchen
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Döring
darf — war die Sache nämlich ganz einfach. Ursprünglich ging es darum, daß die Fraktion der Freien Demokratischen Partei in einer Anfrage drei Fragen an die Regierung gestellt hat. Ich will sie, damit man überhaupt wieder auf den Ausgangspunkt der Diskussion zurückkommt, in kurzen Worten wiederholen. Wir haben die Bundesregierung gefragt, ob sie sich bei unseren westlichen Verbündeten bemühen will, daß auf der kommenden Gipfelkonferenz die Grundlagen für den Status eines wiedervereinigten Deutschlands geklärt werden, eine Frage, die auch in anderer Formulierung aufgetaucht ist, nämlich, ob man auf einer solchen Gipfelkonferenz einen Friedensvertrag erörtern soll.Wir haben zweitens die Frage gestellt, ob die Bundesregierung die Absicht habe, eigene Gedanken im Sinne der Schaffung einer atomwaffenfreien, militärisch entschärften Zone zu entwickeln, und wir haben drittens gefragt, ob die Bundesregierung bereit sei, in einen Meinungsaustausch mit Polen einzutreten. Der polnische Außenminister hat ähnliche Vorstellungen entwickelt.Zur ersten Frage haben wir vom Herrn Bundeskanzler selbst und auch von Kabinettssprechern erfahren, daß die Bundesregierung offensichtlich nicht die Absicht hat, an die westlichen Verbündeten in der von uns gewünschten Form heranzutreten und sie zu bitten, einen Friedensvertrag oder die Grundlagen für den Status Gesamtdeutschlands auf einer Gipfelkonferenz zu erörtern.
Zur zweiten Frage haben wir durch den Herrn Bundesaußenminister gehört, daß die Bundesregierung keine eigenen Vorstellungen entwickeln will und entwickeln wird. Auf die dritte Frage, ob man in einen Meinungsaustausch mit Polen eintreten will, haben wir bisher überhaupt keine Antwort bekommen.
Aber eines ist aus dem Verlauf dieser Debatte klargeworden: daß sich heute hier die Bundesregierung darum bemüht, auch die formale Legitimation dafür zu bekommen, nunmehr in dieser Bundesrepublik atomar aufzurüsten.
Man muß das einmal ganz deutlich sagen, sonst könnte nämlich bei den Rundfunkhörern der Eindruck entstehen, es würde hier nur theoretisiert. Von diesem Tage an, von diesem Sitzungsabschnitt an wird in dieser Bundesrepublik atomar aufgerüstet werden. Das •muß klar herausgestellt werden.Zur Frage 1 unserer Anfrage, ob sich die Bundesregierung um die Erörterung eines Friedensvertrags bemühen wolle, gab es in der Öffentlichkeit eine Diskussion, zusätzlich ausgelöst zunächst durch ein Aide-memoire, das die Sowjetunion an die Vereinigten Staaten gesandt hatte, worin enthalten war, daß man bereit sei, der Behandlung eines deutschen Friedensvertrags auf einer Gipfelkonferenz nicht zu widersprechen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Herr Präsident, ich habe im Augenblick nicht die Absicht, eine Zwischenfrage zu gestatten.
Ich will Ihnen auch sagen, warum. Sie können mit mir diskutieren, wenn Sie wollen, drei Wochen. Aber ich habe mir bereits vorher sagen lassen, daß man sich in der Christlich-Demokratischen Union geeinigt habe, meine Rede nicht zustande kommen zu lassen.
Das ist auch ein Zeichen demokratischer Toleranz.
— Ich freue mich, daß Sie mir beim erstenmal gleich solche Ovationen entgegenbringen.
Ich bin das bereits aus dem nordrhein-westfälischen Landtag gewohnt, und wenn ich den Kollegen Arnold vor mir sehe, fühle ich mich sogar heimisch hier.
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter Döring. — Herr Abgeordneter Schneider , es tut mir leid, der Redner will keine Frage beantworten.
— Es ist das gute Recht des Sprechers, Fragen zu beantworten oder nicht zu beantworten. Ich muß bitten, das zur Kenntnis zu nehmen.
Herr Kollege Schneider, wenn ich das nur mit Bezug auf die ChristlichDemokratische Union gesagt habe, dann einfach deswegen, weil Sie uns so sehr als Teil der Christlich-Demokratischen Union erscheinen, daß wir kaum noch einen Unterschied erkennen können.
Über dieses Aide-memoire ist dann in der deutschen Öffentlichkeit eine Auseinandersetzung entstanden, Ich will die einzelnen Phasen dieser Auseinandersetzung nicht wiederholen, sie sind oft
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990 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Döring
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sonst enthält dieses Aide-memoire nichts Neues, es ist vertraulich, ich habe die Vertraulichkeit mit dem sowjetischen Botschafter vereinbart. Er fügte einen sehr tiefsinnigen Satz hinzu, in dem er sagte: Was da drinsteht, das stärkt nicht die Position der Regierung, das schwächt aber auch nicht die Position der Opposition.
Und dann ging der Herr Bundeskanzler zu einer Atomraketen-Rede über. Von diesem Augenblick an verlagerte sich die ganze Debatte von der Diskussion über die mögliche Erörterung eines Friedensvertrages zu einer Diskussion über die Frage: Ist die atomare Aufrüstung der Bundeswehr politisch notwendig oder nicht?Dieses Aide-memoire, von dem der Herr Bundeskanzler gesagt hatte, es stehe nichts weiter darin, ist nun heute morgen veröffentlicht worden. Der Herr Bundeskanzler hatte gestern gesagt — ich habe das erwähnt —, es sei nun insoweit klar, als offensichtlich doch nur an den Abschluß eines Friedensvertrages mit e in e m Deutschland gedacht sei. Aber den Rest dieses Aide-memoire, von dem der Herr Bundeskanzler sagte, es enthalte weiter nichts Interessantes, hat er uns nicht mitgeteilt. Den Rest haben wir nun heute morgen zur Kenntnis genommen.
Dieser Rest besagt: Der Vorschlag der Regierung der DDR über die Bildung der Deutschen Konföderation eröffnet die realsten Möglichkeiten dafür; aber die Sowjetregierung ist weit davon entfernt, jemandem jene oder andere Rezepte für die Lösung der deutschen Frage aufzuzwingen. Es heißt weiter Was die Heranziehung der entsprechend bevollmächtigten deutschen Vertreter zu den Verhandlungen über die Vorbereitungen des Friedensvertrages im Anfangsstadium anlangt, so handelt es sich hier natürlich nicht darum, daß die Bundesrepublik die DDR oder die DDR die Bundesrepublik anerkennt, sondern darum, daß die Interessen beider deutscher Staaten auch auf dieser Etappe in gebührender Weise berücksichtigt werden.
Das ist also der ganze Text, soweit er die Auslegung angeht, ob es sich um den Abschluß eines Friedensvertrages oder zweier Friedensverträge handelt.Was hat gestern der Kollege Kiesinger gesagt? Der Kollege Kiesinger sagte in einem anderen Zusammenhang: Wenn man eines verschweigt, sagt man in allem nicht die Wahrheit.
Wenn ich mir diese Maxime des Herrn Kollegen Kiesinger zu eigen mache, würde das heißen, daß der Herr Bundeskanzler gestern dem deutschen Parlament und dem deutschen Volk nicht ganz die Wahrheit gesagt hat.
Ich höre schon das Argument: Jetzt machen Sie sich noch zu den Anwälten der Sowjets!
— Ach, wissen Sie, wir haben etwas von kommunistischen Praktiken gekannt, da hat mancher von Ihnen über kommunistische Praktiken noch bei Alfred Rosenberg nachzulesen versucht.
Ich habe einen Grund, so etwas zu sagen. Als ich heute mittag meine Frage stellte, die ich nicht zu wiederholen brauche,
kam von der rechten Seite der Zwischenruf: „Sie Halbkommunist!" Das ist die Methode, die wir nicht so gern haben, die wir aber so langsam gewöhnt sind. Sobald nämlich jemand eine andere Meinung als die Christlich-Demokratische Union, als die Regierungspartei hat, geht das Zetermordio los: „Neofaschisten, Nationalbolschewisten, Halbkommunisten, Ganzkomrnunisten, sowjethörig". Wir kennen diese Litanei. Aber das wird uns nicht davon abhalten, etwas zu tun, was wir für nötig halten, nämlich uns dafür einzusetzen, daß in einer so heiklen Frage, wie sie hier zur Diskussion steht, der Versuch gemacht wird, objektiv den Sachverhalt zu klären.
— Sie fangen ja mit der Klärung gar nicht an, wir versuchen es wenigstens.
Ich teile durchaus die Auffassung des Herrn Bundesverteidigungsministers Strauß, wenn er sagt: Wir haben Veranlassung, allen solchen Überlegungen und Vorschlägen mit Skepsis gegenüberzustehen. Ich glaube, das ist eine Binsenwahrheit. Selbstverständlich betrachten auch wir solche Vorschläge mit der gebotenen Skepsis. Aber wir haben unsere Skepsis nicht nur nach Ost, wir haben sie in einer anderen Frage, in anderen Überlegungen auch ein wenig gegenüber unseren westlichen Verbündeten.
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 991
Döring
Vielleicht darf ich hier mal sagen, warum wir eine gewisse Skepsis haben. Der Herr Bundesverteidigungsminister hat gestern hier Reminiszenzen an sein Studium der Jalta-Dokumente angestellt. Wenn man so etwas tut, wenn man Dokumente studiert, Herr Bundesverteidigungsminister, kann man wieder nicht so verfahren, daß man nur Teile wiedergibt und andere Teile nicht zitiert. Es ist bei den Jalta-Dokumenten auch schwierig. Ich will Ihnen dafür, warum wir hinsichtlich der Betrachtung der deutschen Frage von westlicher Seite her skeptisch sind, ein Beispiel geben. In den Dokumenten von Jalta — Sie finden das übrigens alles, wenn Sie Keesings Archiv nachlesen — steht eine Aussage des Ihnen allen bekannten Expremierministers Churchill.
— Ach, so simpel sind wir gar nicht, Herr Kollege Hellwig. Das ist dieselbe Technik wie gestern. Wissen Sie, außerhalb der Industrie gibt es auch noch einigermaßen intelligente Leute.
Da finden Sie eine Aussage des Expremierministers Churchill, die er gemacht hat, als darüber gesprochen wurde, was mit Deutschland geschieht, nachdem es niedergeworfen ist. Damals sagte er:Entscheidend ist nicht, daß Deutschland aufgeteilt wird. Wenn es in 16 Teile aufgeteilt würde, wäre es nur eine Frage der Zeit, wann diese Teile wieder den Wunsch haben werden, sich zusammenzuschließen. Das Kriterium ist, daß die aufgespaltenen Teile Deutschlands in andere lebensfähige staatliche Gebilde integriert werden.
Wenn uns das gelänge, auch nur für 50 Jahre, dann wäre schon sehr viel erreicht.
Ich unterstelle dem Expremierminister Churchill gar nicht, daß das unbedingt auch heute seine Meinung sein muß.
Das war damals seine Meinung. Aber ich kann feststellen: was er sich damals zum Ziel gesetzt hat, sieht unserer heutigen Wirklichkeit verteufelt ähnlich.
Denn die Integration in andere lebensfähige Gebilde macht sowohl in West als auch in Ost ihre Fortschritte.
Das ist eine Stimme.
Ich habe sehr interessiert den übrigen Reminiszenzen unseres Bundesverteidigungsministers gelauscht, der den früheren amerikanischen Präsidenten Roosevelt mit Gutgläubigkeit exkulpierte, Gutgläubigkeit, als er in der Praxis osteuropäische Staaten an die Sowjetunion auslieferte.Ich habe gesagt, das erste Anliegen, das in der Anfrage zum Ausdruck kommt, ist, die Bundesregierung möge den Versuch machen, auf einer Gipfelkonferenz einen Deutschland-Vertrag, einen wirklichen Deutschland-Vertrag zur Erörterung zu stellen. Es gibt einen Deutschland-Vertrag, den man so allgemein Deutschland-Vertrag nennt, nämlich den am 23. Oktober 1954 in Paris abgeschlossenen, aber von der Bundesrepublik, nicht von Gesamtdeutschland abgeschlossenen Deutschland-Vertrag. Dieser Vertrag heißt ja in seiner offiziellen Bezeichnung auch „Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten". Er hat also noch einen weiteren Mangel: er ist ein Vertrag der Bundesrepublik mit drei Mächten, nicht mit den vier Mächten, welche einen wirklichen Deutschland-Vertrag abschließen können. Alles andere ist nur ein zeitbedingter Teilvertrag.Damit aber keine Mißverständnisse bei der Christlich-Demokratischen Union entstehen — Sie neigen ja so sehr zum Mißverstehen —, möchte ich erklären, daß ich damit den Deutschland-Vertrag aus dem Jahre 1954 in gar keiner Weise abwerten will.
Er ist für die Bundesrepublik und ihre Beziehungen zum Westen ein grundlegendes Dokument. Denn dieser Vertrag, der in seiner Urfassung vom 26. Mai 1952 einmal „Bonner Vertrag" hieß, gibt uns die Handhabe, allen Versuchen entgegenzutreten, die gelegentlich von Historikern, Parlamentariern und politischen Prominenzen des Westens unternommen werden, uns in der Deutschland-Frage zu isolieren. Es heißt nämlich in diesem Vertrag, daß die Wiederherstellung eines völlig freien und vereinigten Deutschland auf friedlichem Wege und die Herbeiführung frei vereinbarter friedensvertragsrechtlicher Regelungen ein grundlegendes und gemeinsames Ziel der Unterzeichnerstaaten bleibt. Meine Damen und Herren, wir fragen uns an diesen Tagen: Was verlangen wir eigentlich von dieser Bundesregierung, daß sie sich so offensichtlich sträubt? Verlangen wir denn mehr, als daß sie den Versuch macht, auf einer Gipfelkonferenz mit unserer oder ohne unsere Beteiligung einmal den Status Gesamtdeutschlands erörtern zu lassen?
Betrachten Sie die Debatte vom 23. Januar! Sie haben diesen Versuch bisher abgelehnt. Keiner von Ihnen hat bisher klar gesagt, daß er das will.
Die Debatte vom 23. Januar ging nur darum, ob 1952 eine Chance verpaßt worden sei, und ich habe nicht die Absicht, mich selbst noch einmal in diese Argumente zu verstricken.
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992 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Döring
Aber auch damals, 1952, war das Stichwort I „Friedensvertrag" gefallen. Sie kennen den Notenwechsel vom 10. März 1952, vom 25. März 1952, die erste Antwortnote der Westmächte. Ich will diese Noten im einzelnen gar nicht mehr aufzählen. Aber auch damals — so wurde am 23. Januar gesagt — habe möglicherweise die Chance bestanden, unser nationales Anliegen voranzutreiben.
Vor einigen Tagen — es ist vielleicht vierzehn Tage her — wurde einmal der Kollege Gradl in einer Versammlung in Bonn gefragt, warum man eigentlich damals in keine ernsthafte Prüfung eingetreten sei. Der Kollege Gradl hat in dieser Versammlung, an der einer meiner Parteifreunde, der Justizminister Dr. Leverenz aus Schleswig-Holstein, teilgenommen hat, gesagt, man habe so seine Erfahrungen mit den Sowjets gemacht, und man habe keine falschen Hoffnungen wecken wollen. Das war ein ähnliches Argument, wie es der Bundespressechef auf der ersten Pressekonferenz verwendet hat. als über diesen Friedensvertrag erstmalig in der Öffentlichkeit gesprochen wurde.Wir hatten den Eindruck, daß man sich damals der Chance einer Prüfung begeben hat, weil man glaubte, damit möglicherweise das EVG-Konzept zu stören.
Der Herr Bundeskanzler hat gestern hier erklärt, I) auch die EVG sei am sowjetrussischen Einfluß gescheitert. Ich nehme an, daß es dem Herrn Bundeskanzler mindestens ebenso bekannt ist wie mir, daß in dem Augenblick, als der EVG-Vertrag gescheitert war und das entsprechende Abstimmungsergebnis in der französischen Nationalversammlung bekanntgegeben wurde, die Mehrheit dieses Hauses aufstand und die französische Nationalhymne sang, — ich glaube sicher nicht unter sowjetrussischem Einfluß, Herr Bundeskanzler.
Ich habe mich auch sehr darüber gewundert, daß der Kollege Kiesinger in seiner Rede am gestrigen Abend gar nicht mehr auf die Frage der Bindungsklausel eingegangen ist. Diese Klausel hat ja in der Debatte am 23. Januar eine entscheidende Rolle gespielt.
Das war der härteste Vorwurf, der dem Herrn Bundeskanzler gemacht wurde, und die Tatsache, daß Sie nicht mehr darauf eingegangen sind, zeigt die Berechtigung eines solchen Vorwurfs.Aber es ist sehr interessant: in dieser Debatte ist von den Sprechern der Christlich-Demokratischen Union überhaupt eine ganze Menge nicht erwähnt worden.
Da ist z. B. nicht erwähnt worden, daß die deutschePresse am 20. Februar 1958 die Spalten mit demLemmer-Interview und den Kommentaren angefüllt hatte.
Der Minister für gesamtdeutsche Fragen — für gesamtdeutsche Antworten wäre uns eigentlich lieber —,
war der einzige, der heute hier aufgetreten ist und in sehr milder Form, aber immerhin doch nach einem Ausweg gesucht hat, wie man sich aus dieser Klippe zwischen dem Interview, zwischen den Pressemeldungen am 20. und der derzeitigen Haltung der Christlich-Demokratischen Union in dieser Debatte herauswinden kann. Er hat das mit Anstand getan.Aber wir haben am 21. Februar dann in der Presse einen Fünf-Punkte-Plan des Herrn Bundesverteidigungsministers gelesen, und es wäre sicher für uns sehr interessant gewesen, diesen Plan etwas erläutert zu bekommen. In diesem Plan oder in diesem Interview, was es gewesen sein mag, hat er sich für die geographische Ausdehnung der im Rapacki-Plan vorgeschlagenen militärisch verdünnten, atomwaffenfreien Zone ausgesprochen. Er hat dann über die Möglichkeit des Ausgleichs der konventionellen Streitkräfte auf der Grundlage der Stärke des Westens gesprochen. Dann hat er über die totale Kontrolle des Verzichts auf Atomwaffen und die Stärke der konventionellen Streitkräfte gesprochen. Dabei spricht er von einem Abkommen der Atommächte, im Gebiet der verdünnten Zone keine Atomwaffen einzusetzen. Das sind alles Themen, die sicher aufkämen, wenn auf der Gipfelkonferenz über die Voraussetzungen für einen Vertrag mit Gesamtdeutschland gesprochen würde.
Aber der Herr Bundesverteidigungsminister hat uns davon gestern nichts gesagt. Auch er hat uns primär nur zu verdeutlichen versucht, warum die atomare Bewaffnung der Bundeswehr notwendig sei.Ich will nicht auf das eingehen, was der frühere Botschafter in London, Herr Dr. Schlange-Schöningen, gesagt hat. Das ist bereits erwähnt worden. Aber ich will einmal auf etwas eingehen, was z. B. auch unser Kollege Gradl vor dem Ring christlich-demokratischer Studenten in Bonn gesagt hat. Ein Teilnehmer — ich habe ihn vorhin genannt: mein Parteifreund Dr. Leverenz — hat diese Aussage mitstenographiert. Ich will hier gar nicht eine bösartige Festlegung vornehmen. Der Kollege Gradl hat in dieser Diskussion erklärt, er nehme an, es gebe ein berechtigtes Sicherheitsanliegen des Westens, der Bundesrepublik und der Sowjets. Er hat dann in dieser Diskussion auch gesagt, es sei unrealistisch, anzunehmen, die Vier Mächte würden sich auf eine Wiedervereinigung einlassen, wenn Gesamtdeutschland zum Warschauer Pakt oder zur NATO gehören soll. Das eine und das andere würde erhebliche Gewichtsverlagerungen bedeuten.
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 993
Döring
Er hat in dieser Diskussion noch gesagt:Es muß der Versuch gemacht werden, vor der Wiedervereinigung den. militärischen Status Gesamtdeutschlands festzulegen.
Was ist aber aus all diesen Äußerungen geworden? Da kann man eigentlich nur sagen: Die Helden sind müde geworden.
Solange der Herr Bundeskanzler im Teehaus in Vence seinem wohlverdienten Urlaub frönte, waren hier die Puppen am Tanzen. Als er zurückkam, wurde gerade noch das Unbehagen über die Entwicklung deutlich. Wir haben den Eindruck, daß alle diese Überlegungen, die von den verschiedensten Prominenten der Christlich-Demokratischen Union angestellt worden sind, in jener denkwürdigen CDU-Fraktionssitzung erschlagen worden sind, wo der Herr Bundeskanzler Berichten zufolge gesagt haben soll: Wir wollen NATO, NATO und nichts anderes als NATO.
— Sie haben diese Meldungen niemals dementiert.Aber vielleicht kann man den müde gewordenen Helden etwas Auftrieb geben, wenn man sie an ein Wort des österreichischen Bundeskanzlers Raab erinnert — vielleicht eine aktuelle Nennung: ein Ordensbruder des Herrn Bundeskanzlers —,
ein Wort, das er wenige Tage, bevor der österreichische Staatsvertrag Wirklichkeit wurde, ausgesprochen hat. Er sagte damals:Wer die freie Entscheidung nicht mehr sucht, sondern Spielball der Mächte bleiben will, verwirkt seine Chancen für die Zukunft. Es gibt keine Pensionsanstalt für Staaten.Die müde gewordenen Helden wissen genauso wie wir, daß auch die NATO keine Pensionsanstalt für die Bundesrepublik ist; sie wagen es nur nicht zu sagen.
Der Herr Bundeskanzler hat, glaube ich, auch heute sogar noch einmal gesagt, er sei bereit, jederzeit mit der Sowjetunion zu verhandeln. Aber es ist immer unklar, worüber er eigentlich bereit ist, mit der Sowjetunion zu verhandeln.
Nun, wenn er bereit ist, mit der Sowjetunion zu verhandeln, dann ist eine mittelbare oder unmittelbare Chance auf einer Gipfelkonferenz mit dem Thema „Friedensvertrag" gegeben. Aber die Verhandlungen über den Export von Stecknadelkissen reichen eben nicht aus.
— Ach, kommen Sie doch nicht mit diesen Zwischenrufen. Wir warten darauf, daß Sie uns endlich einmal sagen, welche Vorstellungen Sie haben außer der der atomaren Bewaffnung!
Wir sind der Auffassung, daß die Möglichkeit, auf der kommenden Gipfelkonferenz über eine Festlegung des politischen und militärischen Status Gesamtdeutschlands zu verhandeln, vielleicht die letzte Möglichkeit ist, unmittelbar mit den Sowjets über die Deutschlandfrage oder über die Voraussetzungen zur Lösung der deutschen Frage zu sprechen. Ich wage heute zu sagen: wenn diese Chance wieder vertan wird, wie möglicherweise 1952 eine Chance vertan worden ist, wird spätestens der Nachfolger des Herrn Bundeskanzlers vor einer teuflischen Alternative stehen.
Er wird dann vor der teuflischen Alternative stehen, entweder auf die Wiedervereinigung verzichten zu müssen oder nur noch die Möglichkeit der direkten Verhandlungen zwischen Bonn und Pankow zu haben,
oder — als dritte Möglichkeit — sich in einen Krieg verwickeln zu lassen. Meine Damen und Herren, die Reden, die wir hier in 48 Stunden gehört haben, haben mir eigentlich den Eindruck und das Gefühl vermittelt, daß sie durchaus geeignet sind, zur Heraufbeschwörung eines weiteren Krieges beizutragen.
Einen Augenblick! Herr Abgeordneter Döring, habe ich Sie recht verstanden: Wollen Sie unterstellen, daß die Bundesregierung oder das Haus oder die Mehrheit des Hauses mit ihren Entschlüssen der Vorbereitung eines dritten Weltkrieges oder eines anderen Krieges Vorschub leisten will? Herr Abgeordneter, habe ich Sie recht verstanden oder ist das ein Mißverständnis?
Ich habe erklärt, daß Reden, die in dieser Debatte gehalten worden sind, geeignet seien, die Gefahr eines dritten Krieges heraufzubeschwören.
Ich habe nicht erklärt, daß Sie das bewußt täten. Wenn ich der Meinung wäre, daß Sie das bewußt täten, würde ich Ihnen das auch sagen.
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994 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Sie haben die Erklärung des Abgeordneten Döring gehört.
— Sie müssen das gehört haben.
— Lassen Sie mich bitte ausreden! Sie haben die Erklärung des Abgeordneten Döring gehört. Auf Grund der Geschäftordnung kann der Präsident gegen diese Erklärung keinen Einwand erheben.
Herr Abgeordneter, fahren Sie bitte fort.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Äußerung des Herrn Abgeordneten Kiesinger zurückkommen, der gestern in seiner Rede sagte, man habe da so merkwürdige oder furchterregende Äußerungen auf einem Düsseldorfer Parteitag gehört, die den Schluß zuließen, daß ganz andere, sehr verdächtige Vorstellungen vorhanden seien. Her Kollege Kiesinger, ich kann Ihnen hier antworten: ich selbst habe auf diesem Parteitag nichts anderes gesagt als das, was der Herr Bundesaußenminister und der Herr Minister für gesamtdeutsche Fragen heute und gestern hier auch erklärt haben. Ich habe gesagt: Wenn es zu einer Gipfelkonferenz mit deutscher Beteiligung zur Behandlung der deutschen Frage kommt, dürfte es nicht an einigen DDR-Mitgliedern scheitern. Der Unterschied ist eben der: wenn ich so etwas auf einem Parteitag sage, dann bin ich sowjethörig, bolschewistisch infiziert und nazi-verdächtig; aber wenn es der Herr Bundesaußenminister und der Herr Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen hier sagen, ist das durchaus in der Ordnung. Das ist das zweierlei Maß, das die Christlich-Demokratische Union in dieser Bundesrepublik einführt.
— Was der Herr Weyer gesagt hat? Herr Weyer -er ist zwar nicht Mitglied dieses Hauses — hat damals erklärt, wenn der Herr Chruschtschow eine Konföderation für einen geeigneten Weg halte — Herr Chruschtschow sei nicht irgendwer —, dann solle man einmal mit ihm darüber sprechen, was er sich unter einer solchen Konföderation vorstelle. Halten Sie das für verbrecherisch?
— Sie müssen Ihre Informationen nicht nur aus dem „Rheinischen Merkur" beziehen! Sie müssen auch einmal andere Zeitungen lesen!
Lassen Sie mich noch einmal auf einige Fragen eingehen, die der Herr Bundesverteidigungsminister gestern hier angeschnitten hat; er hat zumTeil auch sehr tiefsinnige Äußerungen gemacht. So hat er einmal gesagt, Hitler hätte niemals einen Krieg begonnen, wenn der Westen nicht so labil gewesen wäre. Ich wäre dem Herr Bundesverteidigungsminister sehr dankbar, wenn er mir in der Geschichte auch nur einen Mann zeigen könnte, der einen Krieg begonnen hätte in der Absicht, ihn zu verlieren. Das sind also keine Beispiele!
— Ich freue mich, daß es mir schon relativ einfach gelingt, die Christlich-Demokratische Union zu amüsieren.
Der Bundesverteidigungsminister zitierte in seiner Rede als Kronzeugen ständig auch den, ich glaube, norwegischen Ministerpräsidenten. Leider wurde meine Fragemeldung gestern übersehen. Ich wollte ihn nämlich fragen,
ob ihm eigentlich entgangen ist, daß es sich bei Norwegen um einen souveränen Staat mit voller Eigenstaatlichkeit handelt und bei uns um ein geteiltes Deutschland, daß das zweierlei Dinge sind
und daß es schon deswegen nicht möglich ist, einen norwegischen Ministerpräsidenten, gleichgültig welcher Partei er dort angehört, zum Kronzeugen anzurufen.
Meine Damen und Herren, als ich hier gestern unseren Bundesverteidigungsminister sprechen sah, wurde ich an ein Stück guten amerikanischen Journalismus erinnert, nämlich an die Beschreibung dieses Bundesverteidigungsministers in dem amerikanischen Magazin „Newsweek", als er in Amerika war. Das gute Stück amerikanischen Journalismus — man muß das wiederholen — bestand darin:' "the rough and tough 45 year old bull-necked German Minister of Defense".
— Sie sagen, ich solle deutsch reden. Sie stehen der NATO doch sicher näher als ich. Sie müßten das doch verstehen!
Ich erinnerte mich während der Rede des Herrn Bundesverteidigungsministers an diese Beschreibung in dem amerikanischen Magazin, und als man ihn da in der vollen Blüte seiner Jugend stehen sah, umrauscht vom Beifall seiner Freunde, da hatte ich eine makabre Vision. Da dachte ich: wer eine
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 995
Döring
solche Rede hält, von solchem Beifall umrauscht, und wer so wirkt, wie er in einer so schwierigen Lage, wie wird der wirken, wenn er eines Tages auf den Trümmern eines Bunkers sitzt, pulvergeschwärzt, mit zerrissenem Kragen und Anzug, und sagen muß: Das habe ich alles nicht gewollt!
— Meine Damen und Herren, lassen Sie mich — —
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen einmal etwas sagen!
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich — —
Einen Augenblick, Herr Abgeordneter!
Meine Herren, was ich jetzt sage, ist nicht an die Damen gerichtet; denn sie verhalten sich musterhaft. Aber, meine Herren, bringen Sie mich nicht wieder in die lächerliche Lage, daß 800 km von hier auf der letzten bayerischen Alm genau verstanden wird, was der Redner sagt, während der Präsident in die unmögliche Situation kommt, daß die Geräuschkulisse, die von unten hier heraufkommt, das Wort des Redners und alle Ihre Zwischenrufe so totschlägt, daß mich überhaupt nichts anderes mehr als eine einzige Geräuschwelle erreicht. Es hat keinen Sinn, so weiter zu verfahren. Ich lasse es nicht wieder zu einer solchen Situation kommen und verspreche schon jetzt, daß ich die Sitzung dann ohne alle Rücksicht unterbreche.
Nun fahren Sie fort!
Herr Kollege Kiesinger hat gestern abend noch eine sehr anschauliche Rede gehalten. Eigentlich hätte er sie am 23. Januar halten müssen, aber dafür hat er gestern abend sein Übersoll erfüllt.
Einen Augenblick, wollen Sie eine Frage beantworten oder wollen Sie es nicht?
Nein!
Ich bin bereit, mich der Christlich-DemokratischenUnion drei Wochen lang zur Diskussion zu stellen.Herr Kollege Kiesinger hat sich über gewisse Widersprüche amüsiert, die er in Äußerungen eines liberalen Politikers entdeckt hat, und sagte, das seien die Meisterleistungen der liberalen Disputierlust. Wissen Sie, Herr Kollege Kiesinger, die liberale Disputierlust ist weniger gefährlich, als wenn im Büttenredestil die atomare Bewaffnung der Bundeswehr befürwortet wird.
— Nicht Selbsterkenntnis, sondern Selbstbescheidung, Herr Kollege Kiesinger, ist an sich eine gute Eigenschaft, die sich mancher vielleicht auch zu eigen machen kann.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einmal eines deutlich herausstellen. Von den drei Fragen, die wir gestellt haben, ob die Bundesregierung bereit ist, alles zu unternehmen, um eine Erörterung eines Vertrages für Gesamtdeutschland zu erreichen — so Frage 1 —, haben wir nicht eine einzige Frage beantwortet erhalten. Wir haben auch die Frage 2 nicht beantwortet erhalten, eindeutig negativ in dem Sinne, daß die Bundesregierung keine eigenen Vorschläge zur Schaffung einer atomwaffenfreien, verdünnten, entschärften militärischen Zone entwickeln will. Zu Frage 3 haben wir auch keine Antwort erhalten. Auf die übrigen Fragen, die mein Kollege Dr. Mende gestern morgen bei der Begründung seines Antrags gestellt hat — es waren dreizehn, der Herr Bundeskanzler hat sie auf tausend erweitert, er hat offensichtlich nicht genau mitgezählt —,
haben wir auch nicht eine einzige Antwort erhalten.
Wenn wir feststellen müssen, daß Sie im Verlauf dieser Debatten keine Frage beantworten, die wir stellen, um zu eruieren, ob Sie auch eine Entspannungsmöglichkeit suchen wollen, müssen wir den Eindruck gewinnen, daß es Ihnen im Augenblick tatsächlich mehr um die formale Legitimation für die atomare Bewaffnung der Bundeswehr geht als um ein anderes Ziel. Das heißt auch, daß der Status quo erhalten bleibt. Meine Damen und Herren, seien Sie sich darüber im klaren, es gibt bereits jetzt, glaube ich, in Ihren Reihen bundesrepublikanische Souveränitätsfanatiker. Es entsteht bei uns mehr und mehr der Eindruck, daß man nun so leise und heimlich dazu kommt, diese Bundesrepublik, nach dem Grundgesetz nur ein Übergangsgebilde, zu einem endgültigen Staat zu machen oder sich zwangsläufig dahin entwickeln zu lassen. Wenn diese Entwicklung fortschreitet, wenn sich dieser Eindruck mehr und mehr vertieft, wird allerdings auch der Tag nicht mehr fern sein, wo die oppositionellen Kräfte nicht nur gegen eine solche Politik stehen, sondern zwangsläufig gegen diesen Staat gestellt werden. Das würde dann auch bedeuten, daß diejenigen, die diesen Staat dann nun einmal nicht
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996 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Döring
als endgültige Lösung anerkennen wollen, die ersten Hochverratsprozesse zu erwarten haben.
Meine Herren, ich verstehe nicht den Grund Ihrer Aufregung. Was ist denn los? Herr Abgeordneter Ritzel, was ist los? Es ist ungewöhnlich, daß ich fragen muß.
Herr Präsident, es war — —
Meine Damen und Herren, verlassen Sie sich darauf, ich werde das Protokoll sorgfältig prüfen. — Herr Abgeordneter Bausch, nehmen Sie Platz. Verlassen Sie sich darauf, meine Herren, ich werde das Protokoll genau prüfen. Wenn eine Ordnungswidrigkeit vorgekommen ist, dann wird ohne Ansehen der Person mit den Mitteln, die dem Präsidenten zur Verfügung stehen, eingeschritten.
Bitte, fahren Sie fort.
Meine Damen und Herren, wir haben diese Auseinandersetzung von unserer Seite nicht auf Grund ihrer Schärfe auch mit Schärfe beantwortet, weil es eine Lust zu streiten ist, sondern weil wir der Meinung sind, daß hier wirklich um sehr entscheidende Probleme gerungen wird, und weil wir glauben, daß das primäre Thema dieser Debatte nicht die atomare Aufrüstung, sondern die Frage hätte sein müssen: Wie erreicht man eine Entspannung auf dem Wege über eine Gipfelkonferenz, auf der die deutsche Frage zur Debatte steht?
Die Debatte wird vielleicht noch lange andauern. Lassen Sie mich Ihnen von der Christlich-Demokratischen Union etwas ins Stammbuch schreiben,
was für Ihre Überlegungen vielleicht sehr nützlich ist: Sicher wird die Geschichte die Verdienste der politisch Verantwortlichen und der politisch verantwortlichen Führung einmal nicht danach bemessen, ob zu ihrer Zeit eine Überproduktion an Kühlschränken und Fernsehgeräten zu verzeichnen war, sondern die Verdienste der politischen Führung werden ïn der Geschichte danach bemessen werden, ob sie in der Lage gewesen ist, die Einheit und die Freiheit der ganzen Nation zu schaffen und zu erhalten.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Bucerius.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Abgeordnete Döring hat sich heute abend als neues Mitglied in diesem Hause vorgestellt. Er hat für sich gewisse Privilegien beansprucht, die sonst ein Mitglied, auch ein neues Mitglied, nicht in Anspruch nimmt. Er hat für sich das Recht erbeten, nicht nur für die erste Rede, sondern, wie er dann sagte, für ganze drei Wochen, der Christlich-Demokratischen Union Fragen, die sonst in diesem Parlament üblich sind, nicht zu beantworten.
Wenn der Herr Abgeordnete Döring das letzte nur mit seiner Eigenschaft als neues Mitglied dieses Hauses begründet hätte, hätte ich dafür Verständnis gehabt. Aber er hat hier eine Behauptung aufgestellt, die ich freilich von ihm nicht anders erwartet hatte. Er hat die Behauptung aufgestellt, wir, die Christlich-Demokratische Union, hätten die Abrede getroffen, seine Rede nicht zustande kommen zu lassen. Zur Vorbereitung dieser Debatte ist wie in allen Fraktionen ein Kreis gebildet worden, der sehr sorgfältig das Vorgehen dieser Debatte zu besprechen hatte. Dabei ist auch zur Diskussion gekommen, in welcher Form wir gegebenenfalls auf eine Rede des Herrn Abgeordneten Döring zu antworten hätten. Aber ich stehe hier als Zeuge dafür, daß eine solche Abrede, wie der Herr Abgeordnete Döring sie hier ohne jeden Grund behauptet hat, nicht getroffen worden ist.
— Herr Kollege Schmidt, Sie meinen vielleicht, daß der Abgeordnete Döring der Erwähnung nicht wert ist. Darüber kann man streiten. Aber wenn eine solche Behauptung in diesem Hause aufgestellt worden ist, werden wir sie richtigstellen.
Der Herr Abgeordnete Döring hat, wiederum als Neuling, das Recht für sich in Anspruch genommen, uns hier zu erzählen, wie diese Debatte auf ihn gewirkt hat. Er hat dann, als Neuling wiederum, hier Zensuren ausgeteilt. Meine Damen und Herren, wir sind wahrlich Zensuren gewöhnt.
Wir sind mehr gewöhnt. Wir und unser Kanzler haben in diesem Hause von den Oppositionsparteien mehr als Zensuren einstecken müssen.
Er hat wirklich niedrige Beleidigungen einstecken müssen. Deshalb, Herr Abgeordneter Döring, sind wir über Ihre Zensuren nicht weiter verwundert. Aber, Herr Döring, nachdem Sie begonnen haben,
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 997
Dr. Buceriusuns hier Zensuren zu erteilen, haben wir erstens von Ihnen gehört, der Bundeskanzler habe die Unwahrheit gesagt, und er habe nur die halbe Wahrheit gesagt.
Zweitens wurde Herr Rosenberg zitiert. Drittens wurde gesagt, wir hätten zugleich Juden und Nazis angegriffen. Unsere Reden wurden als Büttenreden bezeichnet. Herr Abgeordneter Döring, so fängt man nicht neu in einem Parlament an.
Aber ich glaube, es ist in dieser späten Abendstunde
wirklich Zeit, zu den Grundproblemen zurückzukommen. Eines der Grundprobleme, über die das deutsche Volk von uns Aufklärung erwartet, ist im gegenwärtigen Augenblick das Problem, wie die Parteien der Opposition zu dem Planstehen, der in der letzten Zeit bewußt vom Osten in die außenpolitische Debatte geworfen wird.Herr Abgeordneter Maier, ich habe Sie gestern gefragt, wie die Freie Demokratische Partei zu den Konföderationsplänen des Herrn Döring steht. Sie haben mir eine Antwort versprochen, von der Sie sagten, sie würde deutlicher sein, als mir lieb wäre.Herr Abgeordneter Maier, ich stelle fest, Sie haben Ihre Hörer enttäuscht. Man hat in diesem Hause und im Lande erwartet, daß Sie die herostratischen Unternehmungen der Herren Maier und Döring, nämlich das Vorhaben, sich mit den Machthabern von Pankow auf das engste zu verbinden, nachdrücklich zurückweisen würden.
Wollen Sie eine Zusatzfrage zulassen, Herr Abgeordneter Bucerius?
Ja.
Herr Abgeordneter Bucerius, könnten Sie uns bitte sagen, was an diesen Plänen der Herren Döring und Maier herostratisch war?
Herr Abgeordneter Bucher, ich möchte Ihnen einmal vorlesen, was auf Ihrem Parteitag zu der Sache gesagt worden ist. Meine Damen und Herren, ich zitiere aus der „Welt" vom 10. Februar:Mit empörter Stimme wandte sich Döring gegen die Methode, jeden, der eine andere Auffassungals die Bundesregierung vertritt, als „Steigbügelhalter Moskaus" zu diffamieren.Herr Döring, ich muß Ihnen mit allem Nachdruck sagen, daß gerade ich in diesem Hause und von diesem Platze hier immer wieder den Standpunkt vertreten habe, daß von der Meinung der Bundesregierung abweichende Meinungen nicht nur zu dulden sind, sondern daß sie förderlich sind für die innenpolitische Diskussion, und ich habe Gewicht darauf gelegt, daß ein jeder frei seine Meinung sagen kann.
Indes Herr Döring — das paßt in die Linie hinein, die Sie immer gehabt haben —: „Wer Kräften wie Adenauer und Brentano und solchen Epigonen wie Arnold seine Stimme gibt, macht sich mitschuldig an der Spaltung Deutschlands!"
Mit anderen Worten: Sie wollen doch den Leuten, die hier genannt worden sind, nämlich Brentano, Adenauer und Arnold, vorwerfen, daß sie sich selber der Spaltung Deutschlands schuldig machen.
Sie haben, Herr Döring, auf eine Frage des Präsidenten vorhin gesagt, daß es zwar am Vorsatzfehle. Aber mitschuldig — das setzt Vorsatz voraus.
— Aber, Herr Döring, Schuld geht nicht ohne Vorsatz, oder mindesens nicht ohne grobe Fahrlässigkeit.
Darüber brauchen wir uns hier nicht zu unterhalten.Herr Maier, wir geben Ihnen den Rat: wenn sich Herr Döring von diesen Dingen nicht trennen will, dann — sagen wir Ihnen — setzen Sie bald Herrn Döring den Stuhl vor die Tür, bevor Herr Döring ihn Ihnen vor die Tür setzen wird. Das wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Herr Abgeordneter Mende, sehen Sie, das kommt dabei heraus, wenn man mit Pankower Funktionären Kontakte pflegt.
Sehen Sie, mit harmlos scheinenden Kontakten haben Sie 1954 angefangen; natürlich in guter Absicht, die niemand bestritten hat, insbesondere wir nicht bestritten haben. Aber bei den Konföderationsplänen Ihrer Freunde Döring und Maier endet das im Jahr 1958.
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998 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Dr. BuceriusHerr Mende, ich habe Ihnen gesagt, daß wir Ihnen wegen Ihrer Reise damals keine böse Absicht vorgeworfen haben.
Um so erstaunter, Herr Mende, war ich, in Ihrer kürzlichen Rundfunkrede, mit der Sie dem Bundeskanzler erwiderten, zu hören, daß Sie uns einen Vorwurf daraus machten, daß wir Ihre Versuche, Kontakte mit Funktionären der Zone aufzunehmen, kritisiert haben. Herr Mende, weshalb haben wir Sie kritisiert? Herr Mende, wir haben damals kritisiert und das, was Sie getan haben, beanstandet, weil wir der Überzeugung waren, daß Ihr Vorhaben einen negativen Ausgang haben würde. Man muß manchmal auch das Aussichtslose versuchen, aber nur dann, wenn kein unverhältnismäßiger Schade angerichtet wird. Diesen aber haben Sie angerichtet. Ihr Erscheinen in der Zone und Ihre Verhandlungen mit Zonenfunktionären haben und mußten in der Bevölkerung die Furcht erwecken, eine Partei der Bundesrepublik wolle sich mit diesen Funktionären abfinden und sie anerkennen. Und das gleiche verheerende Ergebnis, Herr Mende, und deshalb spreche ich von Herostratentum, wird die Erörterung der Konföderation haben.Ich weiß, Herr Mende, Sie haben das Gefühl: man muß hier irgend etwas tun. Tun, tun, tun, hat der Abgeordnete Arndt gesagt. Aber, Herr Mende, tun um jeden Preis, das ist gefährlich. Wir gefährden damit die Wiedervereinigung.
— Nein, Herr Mattick! „Atombombe um jeden Preis", Herr Mattick, das gehört genau in das Gebiet hinein, das wir in eine Diskussion zwischen ernsthaften Politikern, die dem Gegner guten Willen unterstellen, nicht einführen sollten.
Herr Mattick, der Abgeordnete Arndt hat am ersten Tage, gestern morgen, ausgeführt, daß die Bundesregierung und die Regierungsparteien lange gezögert hätten, an den Plan der atomaren Bewaffnung heranzugehen. Er hat gesagt, wir hätten lange gezögert, unsere Pläne der Öffentlichkeit zu unterbreiten. Aber, Herr Mattick, unser Zögern kommt von der Sache her, weil wir wissen, was auf dem Spiele steht, weil wir die Sache verdammt ernst nehmen, weil es uns außerordentlich schwerfällt.
Eben nicht um jeden Preis gehen wir an die Atomfrage heran. Deshalb ist es wiederum eine Verletzung der in diesem Hause zwischen uns bestehenden guten Sitten, wenn Sie uns vorwerfen, wir wollten die atomare Bewaffnung um jeden Preis haben.
Einen Augenblick! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Mende?
Herr Kollege Bucerius, Sie haben Ihr Hamburger Tagesnachbarblatt „Die Welt" nur halb zitiert. Ist Ihnen bekannt, daß ich bereits in Düsseldorf genauso wie gestern hier der Bundesvorsitzende Dr. Reinhold Maier sowohl den Gedanken von Gesprächen als auch Verhandlungen zwischen Bonn und Pankow ebenso kategorisch abgelehnt habe wie den Gedanken einer Konföderation Pankower Vorstellung?
Zweite Frage: Ist Ihnen bekannt, Herr Kollege Bucerius, daß wir 1956, nicht 1954, in Weimar nicht Kontakte suchten, sondern den Versuch machten, genauso in die Zone hineinzuwirken, wie der verstorbene Bundestagspräsident Dr. Hermann Ehlers bereits 1952 dies auf einem Kirchentag versuchte?
Herr Kollege Mende, Ihre privaten Versuche, mit Zonenfunktionären zu sprechen und diese damit in den Augen der Bevölkerung zu legimitieren, sind ein wesentlicher Unterschied von einem evangelischen Kirchentag.
Bundestagspräsident Dr. Hermann Ehlers hat auf dem Kirchentag auch mit Nuschke gesprochen. Das Kabinett hat eine Sondersitzung einberufen und damals versucht, Dr. Ehlers zu maßregeln. Fragen Sie den Herrn Bundeskanzler, er weiß es sicher noch!
Zweitens: Herr Abgeordneter Mende, ich wiederhole, was auf jenem Parteitag gesprochen worden ist. Sie mögen persönlich anderer Meinung sein. Aber ich habe Ihnen gesagt: Was da gesprochen worden ist, ist die logische Konsequenz dessen, was Sie im Jahre 1956 begonnen haben.
Ich lese es Ihnen vor, zitiert nach einem Korrespondentenbericht der „Neuen Zürcher Zeitung".
— Ja nun, Heiterkeit, große Heiterkeit auf seiten der FDP, die anscheinend dem Korrespondenten der „Neuen Zürcher Zeitung" genau das unterstellt, was man uns immer unterstellt, nämlich unwahrhaftige Berichterstattung. Das können Sie aber von einem so angesehenen Blatt nicht gut sagen.
— Herr Mende, ich will Ihnen vorlesen, was Herr Weyer gesagt hat:Er plädierte für ein Eingehen auf Ulbrichts Idee einer Konföderation
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Dr. Buceriuszwischen den beiden deutschen Staaten, wobei er bemerkte, wenn man immer nur nein sage, werde der Preis der Einheit noch höher.
Herr Abgeordneter Döring, was haben Sie gesagt: „Lüge" oder „Lügner"?
— Das kann ich nicht unter Ordnungsstrafe nehmen.
— Einen Augenblick! Wissen Sie, warum nicht? Für „Lügner" bekommt in diesem Hause jeder einen Ordnungsruf. Aber wenn einer behauptet, die Meldung eines Korrespondenten sei eine Lüge, dann lasse ich das passieren, denn ich kann das nicht auch noch untersuchen.
— Einen Augenblick, Herr Wehner! Ich versuche so gerecht wie möglich zu sein, aber ich bin auch bloß ein Mensch.
Aber nun eine andere Frage: Herr Abgeordneter Bucerius, wollen Sie dem Abgeordneten Schmidt eine Frage gestatten?
Bitte schön, jawohl!
Herr Kollege Dr. Bucerius, da Sie von den guten Sitten gesprochen und an die Fairneß gegenüber Kollegen appelliert haben, darf ich an Sie die Frage richten, wie Sie unter dem Gesichtspunkt der Fairneß den Zwischenruf Ihres Parteikollegen, des Herrn Bausch, beurteilen, der an der Stelle, wo der Abgeordnete Döring von seiner Sorge sprach, es möge womöglich demnächst bei übereifrigen Souveränitätsfanatikern der Wunsch nach Hochverratsprozessen entstehen, dazwischengerufen hat, und zwar in Richtung auf die sozialdemokratische Fraktion: Hoffentlich!
Herr Abgeordneter Bausch, ich muß Sie bitten, sich an Ihren Platz zu begeben.
— Das Haus kann die Unterhaltung überhaupt nicht verstehen. Ich bitte, sich auf den Platz zu begeben. Sie können nachher das Wort nehmen.
Bitte, fahren Sie fort, Herr Abgeordneter Bucerius!
Herr Abgeordneter Schmidt, der Herr Präsident hat Ihnen auf die Frage, die Sie gestellt haben, eine Antwort erteilt. Er hat gesagt, er werde das Protokoll untersuchen und die nötigen Maßnahmen treffen, wenn es nach dem Protokoll erforderlich sein sollte. Wenn Herr Bausch diese Äußerung gemacht haben sollte, wird der Präsident darüber zu urteilen haben, nicht ich; das ist nicht mein Beruf.
Diese Art von Unterhaltung wäre ganz interessant, wenn wir eine andere Anordnung dieses Saales hätten und vom Redenlesen oder vom Lange-Reden-halten herunterkommen könnten. Dann könnten wir hin- und herdiskutieren. Aber so ist das unmöglich, so muß alles über den Präsidenten laufen, eine andere Ordnung läßt dieser Saal überhaupt nicht zu. Ich muß Sie deshalb bitten, nicht in dieser Weise zu diskutieren und sich nicht in dieser Weise in Darlegungen zu mischen.
Ich muß Sie bitten, Herr Abgeordneter, fortzufahren.
Herr Mende, Sie haben die Liste der Ärgernisse, die hier geschehen sind, um einen schlechten Punkt vermehrt. In Ihrer Rundfunkrede vom 1. Februar über alle Sender haben Sie in Erwiderung auf die Rede des Bundeskanzlers folgendes erklärt:Wir Freien Demokraten glauben, daß wir die leidenschaftlichsten Anwälte für die deutsche Wiedervereinigung sein müssen,— und nun kommt die Begründung, die ich im Namen der Christlich-Demokratischen Union beanstanden muß —weil wir weder parteitaktische noch Schwergewichtsverschiebungen im wiedervereinigten Deutschland zu fürchten haben.Herr Mende, hier werfen Sie uns also vor, unser Streben nach Wiedervereinigung sei durch die Vorstellung gehemmt, im wiedervereinigten Deutschland könne vielleicht die Christlich-Demokratische Union weniger an Stimmen als in der Bundesrepublik erhalten.
Herr Abgeordneter Mende, ich versichere Ihnen, daß das eine Täuschung ist. Gerade in den Flüchtlingslagern sind die Stimmen, die die ChristlichDemokratische Union bekommt, besonders hoch.
Herr Abgeordneter Mende, was aber die gemeinsame Arbeit um die Wiederherstellung unseres Vaterlandes fast unerträglich macht, ist, daß immer wieder, wie Sie es in dieser Rede getan haben, der Versuch gemacht wird, die moralischen Beweggründe unseres Handelns anzuzweifeln.
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Dr. BuceriusI Ihr herabsetzender Angriff gilt insbesondere dem Bundeskanzler, dem Sie vorwerfen
— Herr Abgeordneter, sobald ich mit diesem Punkt fertig bin, können Sie Fragen stellen, im gegenwärtigen Augenblick nicht —, daß er aus parteitaktischen Gründen die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes vernachlässige. Herr Abgeordneter Mende, der Bundeskanzler, 82 Jahre alt, wird sich— das ist das Gesetz der Natur — früher als Sie und ich vor jener Instanz zu verantworten haben, vor der unser irdisches Tun gewogen wird. Der Bundeskanzler weiß, daß ihm dort die Frage vorgelegt wird: Was hast du mit dem dir anvertrauten Vaterland gemacht? Da halten Sie, Herr Kollege Mende, es für möglich, daß Adenauer das Vaterland verraten würde um einer so zerbrechlichen und flüchtigen Erscheinung wie einer politischen Partei willen. Herr Mende, Sie halten Landesverrat um einer politischen Partei willen für möglich. Welch ein Blick in Ihre Seele!
Meine Damen und Herren, der Abgeordnete Zoglmann, der jetzt das Wort zu einer Frage haben möchte, kommt nicht zu seiner Frage, wenn Sie nicht ruhig sind.
Bitte schön, eine Frage für den Kollegen Zoglmann!
Herr Abgeordneter Bucerius, wenn Sie der Überzeugung sind, daß in den Flüchtlingslagern nur Ihre Partei gewählt wird, warum ziehen Sie sich dann diesen Schuh an?
Herr Zoglmann, das Haus hat Ihre Frage beantwortet.Herr Kollege Erler hat gestern von den in der ganzen Welt seit vielen Jahren geführten Abrüstungsverhandlungen gesprochen. Er hat gemeint, daß in diesen Abrüstungsverhandlungen keiner der Beteiligten in Ost und West sich mit Ruhm bekleckert habe. Herr Erler und meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei, Sie wissen, wie weit die Bundesregierung in ihren Zusagen und Erklärungen hinsichtlich der Abrüstungsfrage gegangen ist. Die Bundesregierung hat anläßlich der Londoner Abrüstungskonferenz die Erklärung abgegeben, daß sie sich ohne Vorbehalt mit jeder von den Großmächten vereinbarten Maßnahme der Abrüstung einverstanden erklären und sich ihr bedingungslos unterwerfen würde. Weiter kann ein Volk nicht gehen, als daß es seine nationale Sicherheit von der Vereinbarung der Großmächte dieser Welt abhängig macht. Deshalb müssen wir für die Bundesregierung und für uns den vollen guten Glauben und die besten redlichen Absichten hinsichtlich der Abrüstung, die wir so herzlich ersehnen, in Anspruch nehmen.
Die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen in der CDU-Fraktion, von denen Sie immer wieder hören und erfreut hierüber im Hause berichten, sind doch nichts anderes als der Ausdruck der Erregung, die bei uns selber herrscht, weil wir uns so ohnmächtig gegenüber dem tragischen Schicksal fühlen, und dafür sollten Sie mit uns Verständnis haben. Wir ringen gemeinsam um das beste Ziel, und dabei fühlen wir uns, wenn Sie solche Anklagen erheben, von Ihnen oft schmählich im Stich gelassen.
Es ist gewiß die Freiheit der Oppositionsparteien, dieser inneren Erregung, an der wir alle leiden, immer wieder laut Ausdruck zu geben. Es ist die Last der Regierungsparteien, immer wieder erneut zu einem Ergebnis kommen zu müssen, einem Ergebnis, das oft nur für einen einzigen Tag Gültigkeit hat. Glauben Sie uns, das will uns ott schier zerbrechen.Aber in dieser Stunde, in der in diesem Hause über die Frage beraten und diskutiert wird, ob wir nicht vielleicht eines Tages doch die atomare Ausrüstung der auf unserem Boden stehenden Truppen in Erwägung ziehen müssen, muß doch einmal auf den Ausgangspunkt der Abrüstungsverhandlungen zurückgekommen werden.Im Jahre 1945 war, das wissen wir alle, die Bundesrepublik bis zum letzten Uniformknopf demilitarisiert. Unsere Verbündeten, die den endlich erreichten Frieden aufjauchzend begrüßten, hatten ihre Waffen weggeworfen. Die Truppen, die sie zurückließen, hatten nur noch nominellen Charakter. Allerdings besaß Amerika damals eine Waffe, mit der Amerika, wenn es das gewollt hätte, die Welt hätte beherrschen und in seinem Sinne ordnen können. Amerika war im alleinigen Besitz der Atombombe. Herr Erler, bitte beantworten Sie mir die Frage, wie nach Ihrer Meinung Stalin mit Europa umgegangen wäre, wenn er damals allein die Atombombe besessen hätte.
Herr Erler, sind wir uns darüber einig, daß selbst die Luftbrücke, die letzte Lebensader zu Berlin, nur deshalb funktionieren konnte, weil Stalin wußte, daß im Falle eines Angriffs auf diese Luftbrücke die Amerikaner die Atombombe würden einsetzen können und müssen? Sind Sie mit uns der Meinung, daß damals die Existenz der Atombombe die Welt gerettet hat?Aber was haben 1945 die Amerikaner mit der Atomwaffe getan, welche Pläne haben sie gehabt? Haben sie geplant, die Atomwaffe einzusetzen, oder waren sie damals bereit, nach einer völligen Demilitarisierung auch auf die Atomwaffe zu verzichten? Ich möchte Ihnen wenige Sätze aus der Schrift eines Mannes vorlesen, der damals die Verhandlungen geführt und erlitten hat. Es ist der amerikanische Atomphysiker Robert Oppenheimer, ein liberaler Mann, der, wie viele liberale Amerikaner zu der Zeit, der Sowjetunion wohlgesonnen war. Damals hat, so bekundet Oppenheimer, die amerikanische Nation den Vorschlag gemacht, die Atom-
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Dr. Buceriuswaffen völlig aus ihren Händen zu geben. Amerika war bereit, das Atomgeheimnis und alle Atombomben einer internationalen Behörde zu übertragen. Was sagt hierüber Oppenheimer? ich darf es verlesen, wenn es der Herr Präsident erlaubt. Er schreibt:Vor einigen Monaten durfte ich in einem dem Staatssekretär verantwortlichen Ausschuß über Atomenergie mit einer Gruppe von Facharbeitern zusammenarbeiten. Viele Wochen versuchten wir uns über das klarzuwerden, was gewöhnlich mit— und nun kommt das entscheidende Wort —zwischenstaatlicher Kontrolle der Atomenergie umschrieben wird, umschrieben wird insofern, als die wirkliche Aufgabe ja die Verhütung von Kriegen ist. Der Kern unseres amerikanischen Vorschlages bestand in der Empfehlung einer internationalen Behörde für atomare Entwicklung, die mit der Forschung, Entwicklung, friedlichen Verwertung von Atomenergie,— meine Damen und Herren, bitte, achten Sie gut auf das folgende —dem Ausschluß von Atomwaffen aus jedem nationalen Rüstungsprogramm, mit Studien und Forschungen und den entsprechenden Kontrollen betraut werden sollte.Schon 1946 haben die Amerikaner allen Mächten der Welt die Errichtung einer atomaren Behörde mit Kontrolle vorgeschlagen und waren also bereit, die Atomwaffe, die sie sich heute wieder schaffen müssen und neu haben schaffen müssen, aus der Hand geben, um mit ihren Gegnern zu teilen. Dieser Macht und uns, die wir an der Seite dieser Macht stehen, will man heute daraus einen Vorwurf machen, daß wir den Versuch machen, in dem atomaren Wettlauf wenigstens einigermaßen standzuhalten!Welche Erfahrungen hat nun Oppenheimer mit diesem amerikanischen Vorschlag gemacht? Nach dem Vorschlag sollte es für das Gebiet der Atomenergie eine Weltregierung geben, also ein Euratom für die Welt, sollte auf diesem Gebiet, sagte er, auf nationale Souveränität Verzicht geleistet werden, sollte kein nationales Vetorecht gelten, sondern allein internationales Recht.Was ist aus diesem Vorschlag geworden? Oppenheimer stellt ein Jahr später, nachdem die Verhandlungen in der UN-Kommision über die Herbeiführung dieses großen Zieles der atomaren Weltbehörde und Weltkontrollbehörde liefen, nach einem Jahr Verhandeln mit den Russen und den Westmächten folgendes fest:Alle Mächte des Westens waren bereit, der internationalen Kontrolle der Atomenergie zuzustimmen. Nur die Sowjetunion lehnte ab.
Er schreibt:Man wird wohl kaum je noch die Hoffnungoder die Erwartung hegen, daß die Sowjetunionunseren Plänen beipflichten oder entgegenkommen wird. Der Eckstein unserer Vorschläge ist eine Einrichtung, die Aufrichtigkeit und völlige Offenheit in bezug auf die Gegebenheiten der Technik und Politik erfordert. Sie verlangt nach tätiger Zusammenarbeit zwischen den Völkern ohne Ansehung der zufälligen Nationen. Sie schließt eine Höchstanstrengung ein, auf dem Gebiet der Atomenergie jeder nationalen Eifersucht ein Ende zu machen und in allen Gefahrenzonen vollständiges und ehrliches internationales Gemeinschaftshandeln herbeizuführen. Natürlich setzt das Verzicht voraus, für den Westen wie für dein Osten.Sehen Sie, meine Herren von der Sozialdemokratie, und sehen Sie, Herr Erler, nun kommt der Grund, weshalb nach der Meinung dieses liberalen Mannes eine Verständigung mit der Sowjetunion nicht herbeigeführt wurde. Er schreibt:Für die Sowjetunion haben diese Opfer und Verzichte einen anderen Charakter, und zwar deshalb, weil die vorgeschlagene Form der Kontrolle in Widerspruch zu den gegenwärtigen Prinzipien der Staatsmacht in Rußland steht. Die ideologische Untermauerung dieser Staatsmacht, die Überzeugung nämlich von der Unvermeidlichkeit eines Zusammenstoßes zwischen Rußland und der kapitalistischen Welt, würde durch eine solche lebhafte und vertrauliche Zusammenarbeit, wie sie unsere Vorschläge für die Überwachung der Atomenergie verlangen, widerlegt werden.Die Russen würden ich also, sagt er, widerlegtfühlen, wenn man international über die Atomkontrolle miteinander verhandelte und Abreden träfe.Folglich ist das, was wir von den Russen fordern, eine Umkehr der Grundsätze, auf denen ihre Staatsgewalt beruht, ja, eine Verkehrung dieser Staatsgewalt selbst. Bisher haben wir offenbar noch nicht die Mittel gefunden, die Sowjets zu einem solchen Sprung zu veranlassen.Meine Damen und Herren, heute abend ist hier von dem Herrn Abgeordneten Döring gesagt worden, die Reden, die hier gehalten wurden, hätten objektiv, aber nicht subjektiv einem neuen, einem dritten Weltkrieg Vorschub geleistet.
Meine Damen und Herren, was Herr Oppenheimer in jenen Jahren gesagt hat, daß nämlich eine internationale Zusammenarbeit, ein Zusammenfinden mit den Russen, gleichgültig auf welchem Gebiet, erschwert ist, weil die Grundsätze der russischen Staatsmacht von den unseren verschieden sind, das jederzeit in diesem Hause festzustellen ist erlaubt, und wir werden nicht aufhören, diesen einfachen Tatbestand dem deutschen Volk immer wieder zum Bewußtsein zu bringen.
Herr Abgeordneter Bucerius, wollen Sie eine Zwischenfrage beantworten?
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1002 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Wenn ich mit dem nächsten Thema zu Ende bin, wenn ich bitten darf. — Nun, Sie haben ja auch nicht alle Zwischenfragen zugelassen, und Sie müssen dem Redner gestatten, seine Gedanken in der richtigen Reihenfolge auszuführen.
Herr Abgeordneter, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, wenn Sie eine Zwischenfrage nicht zulassen.
Danke!Herr Kollege Döring hat hier erneut die Frage aufgeworfen, die er in seiner Anfrage an die Bundesregierung gestellt hat, nämlich die Frage, ob die Bundesregierung bereit sei, bei den Vier Mächten, die das Schicksal Deutschlands zu bestimmen haben, dafür einzutreten, daß eine Entspannung zustande komme und ein Friedensvertrag erörtert werde. Herr Abgeordneter Döring, die Frage kann ich Ihnen beantworten. Selbstverständlich wird die Bundesregierung und wird die Mehrheit dieses Hauses dafür eintreten, daß auf der Gipfelkonferenz das Deutschlandproblem in seiner ganzen Breite behandelt wird.
Herr Döring, Ihre Anfrage hat eine falsche Adresse.Wir haben zu unserem Schmerz in den Verlautbarungen der letzten Woche hören müssen, daß es sehr viele Leute in diesem Lande gibt, die der Meinung sind, daß die Gipfelkonferenz unter allen Umständen stattfinden müsse, auch wenn die Deutschlandfrage, nicht auf der Tagesordnung stehe. Herr Döring, richten Sie Ihre Frage an diese Leute, die vielleicht unwissentlich, unwillentlich, aber durch die Tatsache, daß sie bereits im vorhinein auf die Diskussion verzichtet haben, die Ursache dafür sind, daß der Punkt tatsächlich nicht auf die Tagesordnung kommt und dieses unser größtes und wichtigstes Anliegen infolgedessen in der Gipfelkonferenz nicht behandelt werden kann.
Es lohnt im Grunde nicht, darauf einzugehen, was Herr Döring über die Ereignisse in Jalta gesagt hat. Jalta war in der Zeit des tiefsten Krieges. Sie wissen, daß Churchill seine Memoiren veröffentlicht hat. Das Motto, das er über diese Memoiren geschrieben hat, ist mir nicht im Wortlaut geläufig, aber es hat dem Sinn nach etwa folgenden Text: „Im Kriege Härte, im Frieden Großmut." Im Frieden Großmut! Das aber versteht sich natürlich gegenüber dem geschlagenen Gegner nicht von selbst.Herr Döring, dazu ein zweites Wort von Churchill. Er hat bezüglich Deutschlands und dessen, was in Deutschland während des Krieges geschehen ist, gesagt:Erstaunlich, daß solche Dinge in Deutschland passieren konnten, und erstaunlich, daß sie so schnell vergessen wurden.Aber warum wurden diese Dinge dem deutschenVolke vergessen? Warum, Herr Döring, wurdendiese Dinge dem deutschen Volke vom Westen vergessen?
Wurden diese Dinge dem deutschen Volke vergessen, weil wir damals über Konföderationspläne mit dem Osten gesprochen haben? Oder hat der Westen diese Dinge vergessen, weil wir beharrlich, klar und konsequent durch Jahre hindurch einen bestimmten Weg gegangen sind, der es dem Westen ermöglichte, nach den Dingen, die in Deutschland passiert sind, Vertrauen zu gewinnen?
Meine Freunde, nun werden wir gefragt: Habt ihr denn gar nichts getan, habt ihr denn keine eigenen Pläne gehabt? Meine Freunde, das Verdienst, das diese Bundesregierung für sich in Anspruch nehmen kann, ist doch gerade, daß sie diesen Zustand der Festigung und des Vertrauens zum Westen herbeigeführt hat, und zwar alleine herbeigeführt hat,
beinahe gegen den zähen und unentwegten Widerstand der Sozialdemokratie gegen den Weg, den wir gegangen sind.Herr Döring hat wieder die Vorgänge der Verträge von 1952 und 1955 herausgegriffen. Er hat gesagt: 1952 hat vielleicht eine Chance bestanden. Er hat gesagt, es wäre richtig gewesen, damals vor Abschluß der Verträge mit den Russen zu verhandeln und erst dann, wenn die Verhandlungen scheitern sollten, die Verträge abzuschließen. Ja, glaubt denn irgend jemand in diesem Hause, daß uns der Westen erlaubt hätte, erst mit den Russen zu verhandeln, und daß er bereit gewesen wäre, nachträglich, wenn uns die Russen den Stuhl vor die Tür gesetzt hätten, mit uns Verträge abzuschließen?
Das hat die Partei des Herrn Döring, das haben die Freien Demokraten selber in den entscheidenden Zeiten immer verneint. Sie haben selber auf dem Standpunkt gestanden, daß es nötig sei, erst einmal die Verträge mit dem Westen abzuschließen und dann von der gesicherten Position dieser Verträge aus mit dem Osten zu verhandeln. So und genauso ist es geschehen.
Wir hatten damals die Verträge abgeschlossen, und dann haben wir uns sofort an den Westen gewandt und ihn ersucht, mit dem Osten den begonnenen Notenaustausch fortzusetzen und dafür Sorge zu tragen, daß der Versuch, der vielleicht gemacht werden konnte, auch in der Tat gemacht wurde. Und wohin hat er geführt? Zur absoluten definitiven Verneinung aller Vorschläge, die der Westen dem Osten gemacht hat. Die Wiedervereinigung wurde vom Osten endgültig im Jahre 1952 dem Westen, der danach gestrebt hat, verweigert.
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 1003
Dr. BuceriusMeine Damen und Herren von der Freien Demokratischen Partei, wenn Sie heute behaupten, daß es notwendig gewesen wäre, erst mit den Sowjets zu verhandeln und dann abzuschließen, so muß ich Sie auf einen Vorgang hinweisen, der sich im Jahre 1952 abgespielt hat. Sie erinnern sich der TASS-Erklärung vom 15. Januar 1955, die zwischen der ersten und dritten Lesung des Pariser Vertrags mitten in die Ratifikationsverhandlungen hineinplatzte. Ein russisches Angebot wie üblich, ein Angebot, das vielleicht einigermaßen verlockend ausgesehen haben mag. Wieder kam ein Teil dieses Hauses — wie immer natürlich die Sozialdemokraten — mit der Forderung: Erst mit den Russen verhandeln und dann abschließen! Wie haben die Freien Demokraten auf diese Forderung der Sozialdemokraten reagiert? Es gibt in diesem Hause glücklicherweise die Einrichtung der namentlichen Abstimmungen, und so sind wir denn heute in der Lage, festzustellen, was die Freien Demokraten am 26. Januar 1955 getan haben. Über den Antrag der Sozialdemokraten ist zweimal, nämlich in der zweiten und in der dritten Lesung abgestimmt worden. In beiden Abstimmungen haben die Freien Demokraten mit großer Mehrheit den Antrag der Sozialdemokraten, erst mit den Sowjets zu verhandeln und dann abzuschließen, zurückgewiesen.
Von wem zurückgewiesen? Ich habe die Liste nachgesehen. Selbstverständlich war unter denjenigen, die den Antrag zurückgewiesen haben, der Herr Kollege Dehler. Herr Kollege Dehler ist ja immer, wenn er für eine Sache eintritt, mit ganzem Herzen dabei. So hat er auch damals mit besonderer Leidenschaft den Vorschlag, zuerst zu verhandeln und dann abzuschließen, zurückgewiesen. War vielleicht der Herr Kollege Mende bei den wenigen, die widersprochen haben? Nein, die namentlichen Abstimmungen weisen aus, daß auch Herr Mende damals im Januar 1955 noch der Meinung war, man könne nicht mit den Russen verhandeln und dann mit dem Westen abschließen, sondern müsse erst abschließen und dann verhandeln.
Eben das ist es, was wir hier beanstanden. Das ist es, was wir nicht hinnehmen wollen: daß heute der Versuch gemacht wird, die geschichtlichen Tatbestände von damals umzudrehen. Es ist nicht so gewesen, daß damals über diese Dinge Uneinigkeit bestand. Wir waren damals klar und einig in der einen Forderung: Sicherheit nach Westen, um von der Position dieses Schutzes aus mit den Sowjets zu verhandeln. An dieser Forderung haben wir durch die Jahre hindurch festgehalten. An dieser Forderung, an dieser Methode werden wir auch in Zukunft festhalten. Dieses Haus und die deutsche Öffentlichkeit können versichert sein, daß wir jede Möglichkeit der Verhandlung bis zum letzten Tage ausnutzen werden.
Wir haben das in der Vergangenheit getan und wir werden das in aller Zukunft tun.Meine Damen und Herren, Oppenheimer hat es uns schon 1956 gelehrt, warum mit den Russen so schwer zu einer Verständigung zu kommen ist. Wir werden diese Lehre, die wir ebenfalls inzwischen erfahren haben, auch in Zukunft beherzigen müssen. Das schließt nicht aus, daß auch die Sowjets eines Tages zu der Erkenntnis kommen werden, daß das gegenseitige Wettrüsten ein Ende haben muß, daß es nicht mehr so weitergehen kann, daß der Zustand der ständig wachsenden Spannungen eines Tages zu einer Katastrophe führen kann. Auch die Russen werden eines Tages zu dem Ergebnis kommen. Dann ist wahrscheinlich der Augenblick gekommen, daß die Großmächte und wir mit ihnen uns an einen Tisch setzen können, um endlich das herbeizuführen, was wir sehnlich wünschen: die großen internationalen Verhandlungen, auf denen das Thema Deutschland endgültig auf der Tagesordnung steht und zu einem guten Abschluß gebracht werden kann.
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Verteidigung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Reden und insbesondere die Politik, die sachliche Auffassung und die Arbeit des Bundesverteidigungsministers sind im Laufe des gestrigen Tages und im Laufe des heutigen Tages so oft angesprochen worden, daß ich mich nicht allein darauf beschränken will, zu sagen, daß seine dienstlichen Handlungen sich genau innerhalb des Rahmens halten, der ihm durch die Weisungen des Regierungschefs nach dem entsprechenden Artikel des Grundgesetzes, durch die Beschlüsse des Bundesverteidigungsrates und des Kabinetts vorgeschrieben ist.
— Sie scheinen mit der Zeitgeschichte nicht immer unmittelbaren Kontakt zu haben.
Ich habe diese Bemerkung deshalb gemacht, weil die Ausführungen, die ich gestern vor diesem Hohen Hause machen durfte — über die dienstlichen Tätigkeiten, die ich zu verrichten habe —, in Gegensatz zu dem stehen, was Ihr Kollege Mommer gestern abend gesagt hat, als er in einem wenig schönen, in einem häßlichen Zwischenruf während der Rede des Herrn Kollegen Erler meinte, Herr Strauß sei nicht gesättigt, — als Herr Erler von der Sättigung durch Atomwaffen sprach. Gerade deshalb mache ich die Bemerkung, weil es nicht meine persönliche Angelegenheit und weil es nicht sozusagen das Sonderinteresse eines Ressortministers betrifft, sondern weil das, was wir hier vortragen und was wir tun — ob es populär ist oder nicht, ob es angenehm ist oder nicht —, genauso in einer Gewissensentscheidung und in Verfolg einer fundierten und auch moralisch zu rechtfertigenden
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1004 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Bundesverteidigungsminister StraußPolitik geschieht wie auch die Argumente, die dagegen vorgebracht werden.
Aber ich will mich nicht erregen. Die Einleitung,die ich zu geben habe, ist eine Erregung eigentlichnicht wert, schon die Person, aber nicht die Sache.Der Kollege Dr. Reinhold Maier und einige seiner Mitarbeiter haben so einige Äußerungen getan. Ich kann sie als beleidigend werten. Aber es scheint, als ob der Kollege Reinhold Maier zur Nachkommenschaft jener von der Legende umspielten sieben Schwaben gehört, die sich geweigert haben, einem der Ihren zu gestatten, Vordermann oder Hintermann zu sein.
So kam es — —
Einen Augenblick, Herr Minister! Der Bundestagspräsident dürfte das zwar nicht sagen, aber ich hoffe doch, daß hier keine bayerischen Ressentiments gegen Württemberg oder gegen die Schwaben zum Ausdruck gebracht werden.
Ich setze beim Bundestagspräsidenten genügend geographische Kenntnisse voraus, um zu wissen, daß sich viele Schwaben innerhalb des bayerischen Staatsverbandes befinden.
— Ja, diese Schwaben waren sogar aus Memmingen, also aus Altbayern, kann man beinahe sagen. Damit, daß ich den Kollegen Reinhold Maier mit den sieben Schwaben aus Altbayern verglichen habe, möchte ich ihm aber nicht etwas zumuten. Ich weiß hier seine Ressentiments aus der Zeit, als er Ministerpräsident war, zu würdigen. — So kam es, daß sie alle in der Mitte marschierten. Keiner sollte erster, keiner sollte letzter sein. Daher erklärt es sich auch, daß Sie, Herr Bundeskanzler, gestern nicht in der Lage waren, die Frage, kommt Mende mit Maier oder Maier mit Mende, richtig zu lösen.
Aber, Herr Kollege Reinhold Maier — —
— Ich stelle mich im allgemeinen auf die Redeweise dessen ein, mit dem ich mich im Augenblick zu befassen habe.
Einen Augenblick, Herr Minister! Also, meine Damen und Herren, in diesem Hause soll auch bei allen ernsten Debatten der Humor nicht ganz und grundsätzlich verdammt werden.
Nach dem, was Kollege Reinhold Maier über mich und meine Rede an Äußerungen getan hat, konnte ich auch anders reagieren. Aber ich glaube, es zeugt von Großmütigkeit, wenn ich so reagiere, wie ich es getan habe.
Aber er machte solche Ausführungen, und der Kollege Döring hat es in strafferem Stil wiederholt — jeder nach seiner Mentalität —:
„Wer so spricht, schießt auch", „Rede von Krieg und Kriegsgeschrei", „Es geht um Diplomatie und nicht um Kriegführung" und „Wir haben den Reichskriegsminister gehört" usw.Ich möchte den Kollegen Maier nicht ernster nehmen, als er es bei der Wahl der Formulierungen in seiner Rede offenbar selbst getan hat.
Eines aber soll er hier wissen von dem für die Bundeswehr in Frieden nach den Bestimmungen des Grundgesetzes beschränkt verantwortlichen Minister: Die Bundeswehr ist ein Bestandteil, in ihren kampffähigen Einheiten das Glied eines großen, über die Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts weit hinausgehenden Verteidigungssystems, um Frieden und Freiheit zu verteidigen. Die Tatsache, daß Sie, Herr Kollege Maier, eine neu durchdachte gemeinsame Deutschlandpolitik gestern hier in Freiheit als das Gebot der Stunde vortragen konnten, verdanken Sie nicht einer persönlich abschreckenden Wirkung, die bei Ihren persönlichen Charme gar nicht möglich wäre,
sondern der Bereitschaft anderer zur Verteidigung der Freiheit, auch der Freiheit, daß in diesem Parlament frei gesprochen werden kann.
Wer sich dafür einsetzt, sollte nicht diffamiert werden; denn ich erfülle hier nur meine Pflicht.Im übrigen: warum fordert Kollege Mende eigentlich eine moderne Ausrüstung der Bundeswehr? Zur Verteidigung oder zum Ausreißen? Diese Frage haben Sie gestern so gestellt. Heute ist ein Verteidigungsminister — das meine ich sehr ernst — ein Friedensminister, der zu seinem Teil dafür sorgen muß, daß nicht geschossen wird.
Er ist kein „Reichskriegsminister", wie Ihr etwas überholtes Weltbild es sich vorstellt.
Im übrigen, Herr Kollege Maier — und ich sage das für die vorbereitende Arbeit zu Ihren zukünftigen Reden —, ist dieser Ausdruck eine stereotype Propagandaformel der kommunistischen Propadanda seit Jahren.
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 1005
Bundesverteidigungsminister Strauß— Ich bitte nicht bei der Redezeit, im Interesse des Hauses! Sie wissen, ich bin sehr diskussionsfreudig. Ich habe noch nie auf eine Frage eine Antwort verweigert. Ich war heute sehr betroffen darüber, daß die SPD in völliger Umkehrung ihrer Maßstäbe ihre Kollegin Wessel bei der Ablehnung von Fragen unterstützt hat, nachdem man mir gestern 20 oder 30 Fragen gestellt hat, die ich ohne jede Einschränkung beantwortet habe.
— Aber die Imitation dieser Formel oder ihr Nachplappern steht dem schlecht an, der, wenn auch aus noch so guten Motiven, sich zu einem Herold einer gemeinsamen Außenpolitik der demokratischen Parteien in der Bundesrepublik machen will. Aber ich habe Ihr Wort richtig verstanden; das hieß: „Mir ist von alledem so dumm, als ging ein Mühlrad mir im Kopf herum." Darum gebe ich Ihnen ein mögliches Rezept für spätere Erkenntnisse; das stammt aus der gleichen Ecke und heißt: „Schaffe, schaffe! Raffe, raffe! O Katz, laß sause! Selber mause!"
— Herr Kollege Ritzel, ich werde nicht mehr auf Zwischenrufe eingehen; aber das will ich sagen: was in diesem Hause Unsinn war oder nicht Unsinn war, werden eines Tages staunende Leser der Protokolle, wenn sie noch vorhanden sein sollten, feststellen, und ich weiß da nicht, wo der Unsinn mit dem größeren Prozentsatz verteilt ist.
Der Kollege Erler hat gestern seine Rede mit einer Gefühlserinnerung eingeleitet. Er sprach vom Sportpalast. Nun, ich habe mich davon persönlich nicht betroffen gefühlt; denn dann hätte sich das ganze Parlament betroffen fühlen müssen, und ich hoffe, daß sich keine Fraktion mit dem Publikum vergleichen will, das im Sportpalast eingeladen war.
— „Anscheinend doch?" Das würde aber die Sache wesentlich ernster machen und nicht zu Ihren Gunsten ändern! Es mag sein, daß es beim Kollegen Erler so eine spontane Reaktion war.Ich will jetzt auf etwas zu sprechen kommen, was ich in diesen Tagen in einer Veröffentlichung des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung- Nachrichtenzentrale — vom 20. März 1958 gelesen habe; sie ist ja jedem Mitglied des Hauses zugänglich. In dieser Veröffentlichung unter der Überschrift „Matern über kommunistische Machtpolitik" — es ist natürlich eine ostzonale Meldung — heißt es, auf einer „Zusammenkunft sozialdemokratischer Funktionäre, Betriebsräte und Vertrauensleute aus allen Ländern der Bundesrepublik mit führenden Funktionären der SED und desFDGB" habe nach einem — ich sage ausdrücklich die Quelle — im „Neuen Deutschland"
veröffentlichten Protokollauszug Hermann Matern folgendes erklärt. — Ich weiß, daß Sie jeden aus Ihren Reihen ausgeschlossen haben, der solche Tagungen besucht.
— lch sage Ihnen genau, was ich damit meine.
— Ich sage Ihnen genau, was ich damit meine, und man muß in diesem Hause — —
Man muß in diesem Hause seine Meinung sagen dürfen, ohne terrorisiert zu werden, wie es hier geschieht.
— ich habe, um jedes Mißverständnis auszuschalten, erklärt, daß mir wohlbekannt ist, daß Sie jedes Ihnen bekannte Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, das an solchen Tagungen teilnimmt, aus den Reihen Ihrer Partei ausgeschlossen haben;
aber ich kann ja nicht. zwei Sätze auf einmal sagen, oder ich müßte so schnell reden wie Sie, Herr Mommer.Es heißt hier, Herr Matern habe erklärt:Es geht doch um die Macht, und die Macht ist keine Kleinigkeit, versteht Ihr? . . . Da wären wir doch rückständige Menschen, wenn wir zulassen würden, die Macht mit dem Stimmzettel zu verlieren. ... Und wenn wir einmal gemeinsam die Macht erobert haben, sollen wir dann vielleicht erlauben, daß uns die Bourgeoisie und ihre Parteien mit dem Stimmzettel die Macht wieder wegnehmen könnten? . . . Das Wichtigste ist die Macht. . . . Wir sind halt keine Pazifisten. ... Ästhetik und Ethik — alles schön und gut, aber wißt Ihr, das Wichtigste ist die Macht... .Er sagte: Was für die wirkliche demokratische Wiedervereinigung Deutschlands notwendig sei, das wüßten sie am besten.... Es kommt doch darauf an, ganz Deutschland der Arbeiterklasse zu unterstellen.Sehen Sie, Herr Kollege Erler, das war eine Sportpalastversammlung, dort ist in der Weise reagiert worden, dort hat einer vorn Schlage Goebbels gesprochen, und dort ist der totale Krieg gegen die Freiheit erklärt worden!
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1006 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Bundesverteidigungsminister StraußIch maße mir nicht an, zu behaupten, daß die Verteidigung der Freiheit innerhalb der demokratischen Kräfte ein Privileg oder ein Monopol der CDU sei. Gerade weil wir wissen, daß die Verteidigung der Freiheit den Einsatz aller politischen Kräfte der Demokratie erfordert, haben wir große Erwartungen und Hoffnungen, daß Sie so wie zu Schumachers Zeiten auch heute in einer wesentlich konfuseren Situation gemeinsam Schulter an Schulter mit uns das tun, damit Klarheit und Wahrheit geschaffen werden kann.
Der Herr Kollege Erler hat gesagt, die Strategie diktiere leider die Politik. Kollege Erler, das ist eine alte Auseinandersetzung zwischen uns. Man kann sie von dem Podium hier aus Mangel an Zeit schwer führen. Aber es gibt keine Politik ohne Strategie, und Strategie besteht nicht aus militärischen Erwägungen. Strategie ist ein Teil der Politik. Das wissen diejenigen, die uns um unsere Freiheit bringen wollen, sehr genau, und wenden die verschiedenen Möglichkeiten dieses Mittels an. Darum unterstellen Sie uns nicht, daß wir von militärischen Erwägungen ausgehen ! Militärische Erwägungen spielen in der Gesamtkonzeption der Bundesregierung nur die Rolle, die ihnen in dem Gesamtbau der Politik zukommt. Es gibt aber auch keine Sicherheitspolitik ohne militärische Erwägungen. Wir sind genausowenig Militaristen wie Sie, aber wahrscheinlich größere Realisten in diesem Punkt.
Es ist der irreführende Ausdruck vom „Atomwettrüsten" gebraucht worden. Es handelt sich nicht um Atomwettrüsten. Die Zahl der Atomsprengkörper wird durch die Empfehlungen der NATO in keiner Weise vermehrt. Es dreht sich nicht darum, die Produktion von Atomwaffen auszudehnen, sondern nachdem leider die Atomabrüstung vor einigen Jahren gescheitert ist — auch darüber wäre einiges zu sagen —, dreht es sich darum, die abschreckende, die kriegsverhindernde Wirkung der Atomwaffen für große und für kleinere Kriege in den Dienst der Politik zu stellen, und um nichts anderes. Sie wissen genau, was ich damit meine, und Sie wissen genau, wie richtig der Artikel ist, den in der letzten Nummer der Zeitschrift „Außenpolitik" der Ihren Vorstellungen sicherlich nicht entfernt stehende und, ich glaube, auch sich Ihres Wohlwollens erfreuende, wenn auch nicht in Ihren Reihen stehende ehemalige General von SengerEtterlin geschrieben hat; eine höchst interessante Studie, die genau das rechtfertigt, was wir vorhaben, und die beweist, daß die Abhängigkeit von der großen strategischen Nuklearwaffe nicht dazu ausreicht, den Krieg zu verhindern, oder das Risiko so eng auf des Messers Schneide konzentriert — wie Sie es leider planen und vorhaben —, daß diese Verantwortung kein Mensch tragen kann.
Es geht nicht nur darum, den großen nuklearenKrieg zu verhindern, da irgendein begrenzter Krieg,im deutschen Maßstab gesehen, genauso das Ende unserer Nation bedeuten könnte wie ein globaler Weltkrieg.
Sie sind mir die Antwort auf die Frage schuldig geblieben. Sie sagten, wir sollten doch an Norwegen und Dänemark denken. Nun, ich darf Herrn Döring freundlichst etwas korrigieren. Es war nicht der norwegische Ministerpräsident, es war der norwegische Verteidigungsminister. Es handelte sich — das darf ich wohl sagen — um die Darstellung eines führenden sozialistischen Wehrexperten eines skandinavischen Landes, das für seinen Pazifismus — ich sage es im guten Sinne des Wortes —, für seine geschichtliche Friedensliebe ja bekannt ist. Und er hat nicht zum Ausdruck gebracht, daß er gegen die Einbeziehung Norwegens in die taktische Atomaufrüstung sei. Die norwegische Politik — so muß es jedermann lesen, es steht ja schwarz auf weiß da — ist deshalb, obwohl die Norweger an Zweizweckewaffen interessiert sind, obwohl sie die Beschaffung von Zweizweckewaffen vorhaben, „Honest John", „Little John" und ähnliche, im Augenblick nicht bereit, das amerikanische Angebot anzunehmen, weil die Amerikaner den Norwegern nicht die Verfügungsgewalt über die Atomwaffen geben. Wir denken in vielen Dingen hier viel ähnlicher oder viel gleicher wie Sie, als in dieser Debatte hier zutage trat. Wir wünschen keine Ausdehnung der Atomwaffenproduktion, weil wir genau wie Sie wissen, daß das Problem der Kontrolle um so unlösbarer wird, je mehr nationale Sonderinstanzen dann in dem großen Felde der Weltpolitik über den Einsatz der Atomwaffen im Alleingang entscheiden können.
Aus diesem Grunde können Sie uns nicht Norwegen entgegenhalten; wir lehnen in diesem Punkte die Haltung Norwegens ab, und wir sind völlig damit einverstanden, daß diese Waffen — wenn dieser schwere Schritt getan werden muß — nicht einer nationalen Regierung für ihre arbiträre Entscheidung zur Verfügung stehen, sondern als das kriegsverhindernde Instrument nur der Gesamtheit des Bündnisses, sei es für den ganzen Bereich, sei es für einen Teil des Bereichs, aber in der Gesamtentscheidung der Bündnispartner, zur Verfügung stehen.Sie sagten, Herr Kollege Erler, die Bedingungen der Sowjetunion seien von Jahr zu Jahr härter geworden. Herr Kollege Erler, das stimmt nicht! Die sind nicht von Jahr zu Jahr härter geworden; das ist weitgehend eine wunschgemäß vorgenommene Interpretation der sowjetischen Noten, TASS-Erklärungen und ähnlicher Dinge.
Die sowjetische Haltung in der Deutschlandfrage hat sich seit der Zeit um das Kriegsende herum de facto nicht geändert;
wohl in den Modalitäten, aber de facto, in den Grundlagen nicht geändert.
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 1007
Bundesverteidigungsminister StraußIch darf auch hier den Kollegen Döring etwas berichtigen. Es sind keine Reminiszenzen. Reminiszenzen — ich möchte es jetzt nicht von der ironischen Seite nehmen — sind persönliche Erinnerungen. Darum ist das Wort „Reminiszenzen" ein sprachlich falscher Ausdruck, wenn man sich um das Studium der Dokumente von Jalta und Potsdam usw. bemüht. Das nur zum nächsten Gebrauch, falls Sie wieder einmal sprechen sollten und das Haus erfreuen.
Es ist natürlich auch nicht möglich, hier die ganzen Dokumente von Jalta vorzulesen, geschweige denn von den anderen Konferenzen noch dazu, weil eine solche Debatte, glaube ich, Monate in Anspruch nehmen würde. Es ging mir auch nicht darum, hier Kritik und Zensuren zu verteilen. Aber vor einem bin ich erschrocken, Herr Kollege Döring, vor dem Ressentiment — um kein schärferes Wort zu gebrauchen —, mit dem Sie die Haltung der westlichen Staatsmänner bei der Konferenz von Jalta gestreift haben.
Ich habe hier nicht das Recht, den amerikanischen Präsidenten der Jahre 1933-1945 zu kritisieren und herunterzumachen. Daß er von einer tragischen Unkenntnis der europäischen Zusammenhänge, von einer tragischen Unkenntnis der wirklichen Ziele der sowjetischen Politik erfüllt war, von einer blinden, naiven Gutgläubigkeit in die Friedensliebe Stalins und in die Pazifizierbarkeit des Weltbolschewismus — das ist einer der großen Fehler. Aber diesen Fehler kann man nicht mit verbrecherischer Haltung gleichsetzen.
Das sind zwei ganz verschiedene Dinge.
Und Churchill war einer der ersten, Gott sei dank — wie mein Vorredner ausgeführt hat —, der für „Gnade den Besiegten!" gebeten hat und der bahnbrechend gerade bei unseren ehemaligen Kriegsgegnern in Europa war, um eine gerechte Behandlung des deutschen Volkes zu ermöglichen. Darum ist diese Parität: „Hie Roosevelt-Churchill, hie Stalin" absolut unangebracht;
und und sollte sie für die Vergangenheit angebracht sein, dann wären wir den Russen auf den Knien dankbar, wenn sie die Haltung der Engländer und Amerikaner schon in den ersten Nachkriegsjahren jetzt wenigstens, zwölf Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation, sich zu eigen machen würden.
Das Wort von der Teilung Deutschlands ist im Dezember 1941 von Stalin offensichtlich zum erstenmal beim Besuch Edens in Moskau in die politischen Gespräche gebracht worden. Bis dahin Teilung Deutschlands. Als die Sowjets wußten, daß sie die Gebiete jenseits der Oder und Neiße einschließlich des Ostteils von Ostpreußen sicher in ihrer Hand hatten, als sie wußten — was sie bei Teheran und Jalta noch nicht ganz sicher wußten —, wie günstig die Demarkationslinie wegen des amerikanischen Wartens an der Elbe für sie verlaufen würde, sprachen sie nicht mehr, oder schon bald nicht mehr, von Teilung, sondern von der Einheit Deutschlands. Aber die Einheit Deutschlands war immer und immer an eine Forderung gebunden — das ist dieses Junktim —, an die Forderung: Wir sind für die wirtschaftliche und politische Einheit Deutschlands, wenn unsere Reparationsbedingungen erfüllt und wenn wir an der Kontrolle über die Ruhr, d. h. an der Herrschaft über Deutschland, über ganz Deutschland, de facto beteiligt werden. Und wo die Sowjets einmal gesessen hätten — siehe ihre Ansprüche im Mittelmeer, an der Kontrolle über Libyen oder über Japan, wo sie abgewehrt worden sind —, wären sie nicht mehr herauszubringen gewesen.
Darum, glaube ich, können wir den Westmächten — bei allem, was man auch an bitteren Worten gebrauchen mag — dafür dankbar sein, daß sie den bitteren Weg der staatlichen Einigung von drei Besatzungszonen einer russischen Einflußnahme auf ganz Deutschland vorgezogen haben.
Wenn Kollege Döring „Souveränitätsdenken der Bundesrepublik" erwähnt — er hat vielleicht die früheren Debatten nicht so in Erinnerung wie wir —: Natürlich ist die Bundesrepublik ein souveräner Staat. Natürlich ist sie hinsichtlich ihrer Rechte und hinsichtlich der Pflichten der Bürger ein Definitivum. Aber ich habe den Standpunkt hier, von diesem Platze aus, schon öfter vertreten: hinsichtlich 'der Rechte des Staates und der Pflichterfüllung der Bürger nur zu dem Zweck, damit durch unsere politische gemeinsame Arbeit aus dem Definitivum dann das Provisorium in der nachträglichen Betrachtung zustande kommt.
— Ich weiß genau, was Sie gemeint haben; ich wollte es nur klarstellen, um jeden falschen Zungenschlag auch Ihnen zu ersparen.
Herr Kollege Erler sagte, die sowjetischen Bedingungen seien von Jahr zu Jahr härter geworden. Sie sind nicht härter geworden, wie ich in einer grundsätzlichen Ausführung bemerke. Aber, meine Damen und Herren, mich wundert, daß in diesem Notenkrieg, der im Bundestag seine Verlängerung gefunden hat, erstens eigentlich nie erwähnt worden ist, daß die Note vom März 1952 überhaupt nicht an unsere Adresse gerichtet war und daß wir damals noch drei Jahre hin hatten, bis wir überhaupt völkerrechtlich im vollen Sinne des Wortes handlungsfähig hätten werden können. Zweitens wundert mich, warum man in diesem Zusammenhang nie erwähnt hat, daß sich die Sowjetnote vom
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1008 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Bundesverteidigungsminister Strauß10. März 1952 genau an eine Erklärung der sogen annten Regierung der sogenannten DDR anschließt. Wir waren heute tief betroffen, daß die Kollegin Wessel von der DDR gesprochen hat. Es gibt keine Deutsche Demokratische Republik als eine legitimierte Vertretung eines Teils des deutschen Volkes.
Damals sagte diese Note, die Erklärung der DDR,
— der sogenannten DDR,
ein Friedensvertrag sei nötig, urn einen einheitlichen, unabhängigen, demokratischen und friedliebenden deutschen Staat zu schaffen.Am 20. Februar 1952, also sieben Tage nach der Erklärung der sogenannten DDR-Regierung hat die Sowjetregierung der Regierung der „DDR" — darf ich es hier der Abkürzung halber sagen —,
mitgeteilt — ich muß es jetzt mehrfach gebrauchen, vorher ist es nur einmal gebraucht worden, bis jetzt ist es in Anführungszeichen —: Die Sowjetregierung teilt die Auffassung der DDR. Die entsprechende Stelle in der Sowjetnote lautet bis auf das Komma genauso wie die Erklärung der sogenannten DDR vom Februar, also vom vorhergehenden Monat desselben Jahres, und diese Formulierungen gehen stereotyp durch alle sowjetischen offiziellen und offiziösen Verlautbarungen. Wir sollten uns — leider! — einmal mit dem traurigen Tatbestand abfinden, daß im bolschewistischen Sprachgebrauch die Worte „einheitlich", „unabhängig", „demokratisch" und „friedliebend" etwas ganz anderes, um es klar zu sagen, das Gegenteil von dem bedeuten, was wir darunter verstehen.
Die Zeitung der jugoslawischen Volksarmee ist sicherlich ein Organ, das man nicht gerade, sagen wir, als vom Bundespresse- und Informationsamt beeinflußt hinstellen kann.
Die Zeitung der jugoslawischen Volksarmee „Narodna Armia" hat der sowjetischen Note bezüglich eines deutschen Friedensvertrages, der sowjetischen Note vom 10. März 1952, einen Kommentar gewidmet, den Radio Belgrad bereits am 12. März veröffentlicht hat. Dort heißt es — ich zitiere wörtlich —:Unter der Berücksichtigung der zahlreichen Täuschungsmanöver der Sowjetunion fiber deutsche Angelegenheiten kann die neuerliche Note der Sowjetunion an die Regierungen der Westmächte nur als ein neuer Versuchsballon in derselben Angelegenheit gewertet werden. Diese Note verfolgt das Ziel, Deutschland aus dem Lager der Westmächte herauszulocken,damit es dann leichter ein Opter der sowjetischen Hegemonie werden kann.
Die Sowjetunion könnte den Beweis für ihre ehrliche Absichten mit Deutschland am besten damit erbringen, daß sie bezüglich der deutschen Frage mit der UNO zusammenarbeitet und der UN-Kommision die Reise nach Ostdeutschland ermöglicht.So das Organ der kommunistischen Volksarmee Jugoslawiens in der Wertung der Note. Und hier treten Herr Dehler, Herr Heinemann und leider, mutatis mutandis, auch Herr Kollege Wehner und die Kollegin Wessel auf und werten diese sowjetische Note als ein echtes Angebot, das man in seiner Tiefe hätte ergründen müssen.
— Herr Kollege Wehner, das ist eine ebenso unsachliche wie unfaire Antwort.
Einen Augengenblick, Herr Minister! — Ich habe den Zuruf gehört „Sie wollen doch schießen". Wer hat das gesagt?
— Herr Abgeordneter, verzeihen Sie, ich kenne Ihren Namen im Augenblick nicht.
— Ich muß Sie zur Ordnung rufen, Herr Abgeordneter Corterier.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Wenn man hier in diesem Hause die Stimme der Armeezeitung eines kommunistischen Staates zur Wertung der Sowjetnote nicht mehr zitieren und in Gegensatz zu der Wertung stellen darf, wie sie hier von einigen Mitgliedern des Bundestages vorgenommen worden ist, dann ist die Redefreiheit auch in diesem Bundestag schon nicht mehr gegeben.
— Sie brauchen sich darüber nicht zu erregen. Aber wenn man solche Vergleiche, wenn man solche Erläuterungen nur geben kann in der ständigen Erwartung, als „Kriegsverbrecher" diffamiert oder als „Kriegshetzer" im Sowjetjargon heruntergerissen
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 1009
Bundesverteidigungsminister Straußzu werden, dann ist es bedauerlich weit gekommen in diesem Bundestag.
Mich wundert, daß noch niemand, wie ich vorhin sagte, die Abschlußnote der sowjetischen Regierung in dem Notenkrieg von 1952, auch an die drei Westmächte gerichtet, zitiert hat. Oder ist das geschehen?
— Ich meine die Note vom 23. August 1952,
in der in einem Passus ganz genau geschildert ist, was die Sowjetunion als minimale Voraussetzung für die Einheit Deutschlands fordert, nämlich — ich möchte Sie nicht mit Einzelheiten aufhalten — die Bolschewisierung und nichts anderes.Kollege Erler hat, ebenso wie andere Redner, davon gesprochen, daß der Bundeskanzler ein sehr lobenswertes Verhalten an den Tag gelegt habe, als er im Jahre 1954 in einer Erklärung in London auf die Produktion von ABC-Waffen verzichtet habe und dann sogar in einer wahrscheinlich nur verbal irrtümlichen Ausdehnung der Londoner Verzichterklärung die Erklärung auch hier im Bundestag abgegeben habe. Der Kollege Erler hat das als eine erfreuliche Vorwegleistung bezeichnet.
— Der Bundeskanzler? Dann ist es ja noch schöner.
— Es war eine Selbstverständlichkeit gegenüber den Westmächten, jedes, aber auch jedes Rüstungsziel zu vermeiden, das von neuem den Verdacht hätte wecken können, daß die Bundesrepublik ihre Aufrüstung für einen anderen Zweck betreibt als ausschließlich für die Erhaltung der gemeinsamen Freiheit, der gemeinsamen Sicherheit und des gemeinsamen Friedens.
Es war eine Vorleistung an die Sowjets. Aber was ist in den Jahren 1955, 1956, 1957, 1958 erfolgt? Es ist gar nichts erfolgt. Man hätte doch immerhin von sowjetischer Seite aus das Thema einmal aufgreifen sollen. Das bestärkt uns doch, genauso wie Ihr Ost-Pressedienst geschrieben hat, in der Überzeugung, daß Vorwegleistungen von den Sowjets als ein Gratisgeschenk gewertet werden, das als selbstverständlich genommen wird und von dem aus dann erst die weiteren Forderungen gestellt werden.Das ist bisher die ganze Linie der Sowjets gewesen. Wann haben wir in diesem Hause begonnen, über Aufrüstung zu sprechen? Im Jahre 1952!
— In diesem Hause 1952.
— Wann haben die Gespräche auf dem Petersberg begonnen? Sie haben im Jahre 1950 begonnen. Wann ist die erste deutsche Einheit aufgestellt worden? Im Januar 1956 eine Lehrkompanie in Andernach. Vom Jahre 1946 an haben die Sowjets die Remilitarisierung auf dem Polizeiwege und von 1950 an auf dem Armeewege konsequent und systematisch betrieben. Man hat die Waffenlosigkeit der drei westlichen Besatzungszonen vom Jahre 1945 bis zum Jahre 1956 auch nicht eine Sekunde für den Zweck zu benutzen gewagt, eine brauchbare Lösung für die deutsche Einheit anzubieten,
Ob Sie es mir glauben oder nicht, ist bei dem giftigen Ton, in dem hier zum Teil Zwischenrufe gemacht werden, beinahe gleichgültig. Ich möchte Brief und Siegel dafür geben, daß es heute noch keine einzige deutsche Kompanie, noch keinen einzigen deutschen Soldaten gäbe, wenn die Sowjetunion auf der Basis einer ehrlichen Viermächtekontrolle, einer Lebensmöglichkeit für ganz Deutschland und einer Wiedereingliederung Deutschlands in die Völkergemeinschaft der UNO ihre Nachkriegspolitik gestaltet hätte, statt von vornherein die Herrschaft und die Ausdehnung ihres Machtbereichs über ganz Deutschland und über Europa anzustreben.
Ich weiß, die Dinge lassen sich nicht mehr umkehren. Aber wenn ich vorhin gesagt habe: ob Sie es mir glauben oder nicht, wollte ich eine persönliche Bemerkung machen. Ich wäre dankbar dafür, wenn wir mit der Aufrüstung aufhören könnten, wenn wir uns auf ein Minimum international festgesetzter Streitkräfte beschränken könnten und wenn wir, einmal ins Utopische gehend, überhaupt zum Zustand der Entwaffnung und zu einer Polizeiorganisation übergehen, wenn wir das Tor des Verteidigungsministeriums schließen und den Schlüssel im Bundeskanzleramt abliefern könnten. Das wäre ein wunderbarer Zustand.
— Ich habe keinen zweiten Schlüssel, Herr Kollege Erler.
Herr Kollege Erler sprach davon, daß mit dem Matador eine Pression ausgeübt werde. Nun, schon in frühen Stunden, als die Frage Matador noch kaum mir bekannt war, hat Kollege Erler in einem Interview oder in einer Presseerklärung auf die Frage, ob die Sozialdemokraten für Raketenwaffen seien, zur Antwort gegeben: Für Luftabwehr und kürzere Strecken, Matador selbstverständlich nicht. Ich glaube, ob wir Sie im September ersucht hätten, sich bis zum 3. April zu entscheiden, oder im über-
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1010 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Bundesverteidigungsminister Straußnächsten Bundestag, das Nein hätten wir sowieso gewußt.
— Es ist doch nicht vorenthalten worden.
— Das ist ja unwahr.Aber dann verwechselt der Kollege Erler — ichhoffe, es war nicht Absicht — Matador und Mittelstreckenraketen. Das sind zwei grundverschiedene Dinge.
— Ach, Sie meinen, er soll eher bis Leipzig und Dresden reichen?
So kann man nicht diskutieren, Herr Kollege Schmidt.
— Schießen? Erstens überhaupt nicht; zweitens, wenn wir angegriffen werden, auf militärische Ziele des Angreifers. Das steht wohl außerhalb jeder Diskussion. Oder glauben Sie, daß eine Entfernung von einigen hundert Kilometern für den Betroffenen anders ist als eine Entfernung von dreißig Kilometern? Darum geht es nicht.Aber ich darf nur der technischen Richtigstellung halber sagen: Der Typ, um den es sich handelt, kann vom vordersten Radargerät an mit der Wirkung einer schweren Luftmine 400 km transportiert werden.
— Kollege Erler sagte vorhin, man sollte keine Löcher in Wiesen bohren. Das ist genau das, was Sie jetzt vorschlagen: Geschosse nur unter der Ausnutzung ihrer maximalen Reichweite in die Landschaft zu schießen.Kollege Erler ist einer Antwort aus dem Wege gegangen.
— Sicher, das beruht auf Gegenseitigkeit. Man hat keine Zeit, alle Fragen zu beantworten. Aber einige Grundfragen zu beantworten, hätte man immer Zeit.
Kollege Erler hat eine Frage nicht beantwortet. Ich habe ihm die Frage gestellt, ob die Sozialdemokraten in einer defensiven Wehrkonzeption bereit wären, für die Einrichtung weitreichender Luftverteidigungsmittel nukleare Sprengköpfe vorzusehen.
Daraufhin sagte Kollege Erler, ohne auf diese Frage überhaupt einzugehen, unsere Gefahr seien die Tiefflieger, und die könne man und werde man mit solchen Waffen nicht bekämpfen, weil die Gefahr für uns zu groß sei. Herr Kollege Erler, Sie wissen genau — Sie haben auf diesem Gebiet genauso gute Kenntnisse wie ich —, daß für den Einsatz auf Tiefflieger bis zu einer Höhe von 6000 m die von uns in Aussicht genommenen Luftabwehrwaffen überhaupt nicht mit einem nuklearen Sprengkopf verwendet werden können. Sie wissen aber ebenso — und das sollten Sie auch der deutschen Öffentlichkeit sagen —, daß Sie, um diese Atomaktion durchhalten zu können, dem deutschen und internationalen Verteidigungssystem für hochanfliegende Flugzeuge ausreichend wirksame Abwehrwaffen verweigern würden. Deshalb verfallen Sie auf die in keiner Weise haltbare These, wir würden nur mit tieffliegenden Flugzeugen angegriffen werden. Die Kommandos der Roten Luftflotte unterstehen nicht dem Propagandabüro der SPD!
Herr Erler und Herr Wehner haben davon gesprochen, daß wir nach der Methode „alles oder nichts" die Abrüstung kaputt machen wollen oder de facto kaputt machen. Ich habe gestern erklärt, daß Abrüstung an sich kein absoluter Wert ist. Eine einseitige Abrüstung im Sinne einer unilateralen Kapitulation können Sie jederzeit vornehmen. Die Abrüstung hat ja für uns den Sinn, größere Sicherheit zu bekommen, genauso, wie sie auch für die andere Seite die Möglichkeit bringen soll, sich in größerer Sicherheit zu befinden oder zu fühlen. Befinden tut sie sich sowieso in größerer Sicherheit.Aber ich sage noch einmal: Wir sind für ein weltweites, die atomare und die konventionelle Abrüstung umfassendes Abkommen unter einer wirksamen Kontrolle. Aber wir sehen keinen Sinn in der Entwaffnung eines Volkes im Rahmen einer geographischen Teillösung, die nicht schon in sich zwangsläufig die Schritte zur Phase zwei und zur Phase drei trägt. Denn haben Sie einmal diesem Abkommen zugestimmt, haben Sie Europa militärisch hilflos gemacht, und den zweiten und den dritten Schritt können Sie dann nicht mehr gehen.
Herr Wehner hat das Wort gebraucht, man müsse ein verbessertes — —
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Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958 1011
Bundesverteidigungsminister Strauß— Sie hören solche Dinge nicht gern.
— Herr Schmidt, Sie unterstellen uns Motive, von denen ich nicht hoffe, daß sie die Ihren wären.
— Es ist anscheinend, wenn Sie der Meinung sind — —
Einen Augenblick! Herr Abgeordneter Wittrock, das läßt sich der Präsident natürlich nicht gerne sagen, daß das ein Mißbrauch der Geschäftsordnung sei. Den juristisch gebildeten Kollegen erinnere ich daran, daß es ein grundgesetzlich verbrieftes Recht der Bundesregierung ist, jederzeit in diesem Hause das Wort zu nehmen. Das kann der Präsident gar nicht verhindern.
Herr Minister, sprechen Sie weiter.
Dann darf ich hier erwähnen: Es hat der Kollege Erler, es hat der Kollege Reinhold Maier, es hat der Kollege Wehner, es hat der Kollege Döring auf meine Äußerungen Bezug genommen. Es sind Worte gefallen, die ich in zum Teil noch harmlos-ironischer Weise hier kommentiert habe. Aber man will der Bundesregierung in terrorartiger Weise das Recht nehmen, sich gegen solche Unterstellungen zu wehren.
Ich habe davon gesprochen, daß kein Unterschied besteht, ich hoffe, bei allen Kräften des Hauses kein Unterschied besteht, — —
— Ich komme morgen noch einmal.
— Nein, das ist kein Mißbrauch, Herr Kollege Erler.
Die Vorwürfe, die gegen die Politik der Bundesregierung erhoben worden sind, sind vor einem Publikum und zu einem Zeitpunkt erhoben worden, daß sie vor demselben Publikum widerlegt oder zurechtgerückt werden müssen.
Wenn es Ihnen um ein paar Minuten geht, gut, dann können wir ja ein andermal darüber reden. Dann kann aber dasselbe Mittel von unserer Seite Ihnen gegenüber auch jederzeit angewendet werden. Es geht nicht um die paar Minuten. Ich weiß auch, daß Sie um 9 Uhr nach einem langen Tag nach Hause gehen wollen. Meinen Sie, mir und jedem anderen geht es nicht genau so? Aber zu dem Thema, das uns alle bewegt, dem Thema einer weltweiten, einer generellen, unter Kontrolle stehenden Abrüstung: Im Ziel sind wir uns einig. Der Weg aber, den Sowjets eine Teilentwaffnung der NATO anzubieten, ohne die folgenden Schritte automatisch damit zu verbinden, ist eine tragische Illusion und wird dazu führen, daß die Kräfteverhältnisse in diesem kritischen Punkte der Erde so entscheidend verschoben werden, daß die Sicherheit unserer Nation dadurch in einer nicht zu verantwortenden Weise gefährdet wird.
Jedermann hat Argumente, jedermann hat gute Argumente. Es gibt keine Lösung, die nur gute Seiten hat, und keine Lösung, die nur schlechte Seiten hat.
Wir wissen auch, wo das Risiko bei uns liegt. Aber wir wissen auch sehr genau, wo das Risiko bei Ihnen liegt. Man soll die Sicherheitsdiskussion einmal aus dem Blickwinkel herausheben: Wie gewinne ich den nächsten Wahlkampf oder wie ziehe ich die meisten Wähler an?
Meine Damen und Herren, das Wort zur Geschäftsordnung wird zweimal erbeten. Ich erteile auf Grund des § 34 der Geschäftsordnung das Wort nicht. Wir sind jetzt über die vorgesehene Zeit hinaus.
— Nach § 34 der Geschäftsordnung, Herr Abgeordneter Ritzel! Muß ich Ihnen das in Erinnerung rufen?
Nein, § 34: „Zur Geschäftsordnung wird das Wort nur nach freiem Ermessen des Präsidenten erteilt." Ich bedaure, daß ich Ihnen das so spät am Abend noch vorlesen muß. Ich gebe das Wort zur Geschäftsordnung heute abend nicht, weil das Haus
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1012 Deutscher Bundestag — 3. Wahlperiode — 19. Sitzung. Bonn, Freitag, den 21. März 1958
Präsident D. Dr. Gerstenmaierdamit überfordert wäre, wenn jetzt noch eine Geschäftsordnungsdebatte ausgelöst würde. Ich möchte das nicht.Ich mache das Haus darauf aufmerksam, daß heute insgesamt sechs Sprecher von Fraktionen zu Wort gekommen sind. Auf der Rednerliste stehen noch weitere 13 Wortmeldungen. Ich schlage dem Hause vor, morgen im Laufe des Tages einen Beschluß zu fassen, daß diese Debatte morgen abend um 21 Uhr ohne jede Rücksicht darauf, ob die Tagesordnung bzw. die Rednerliste erschöpft ist oder nicht, beendet wird.
— Darüber kann das Haus morgen beschließen, oder es kann auch andere Beschlüsse fassen.Jetzt jedenfalls unterbreche ich die Aussprache bis morgen, Samstag, den 22. März, 9 Uhr.Die Sitzung ist geschlossen.