Gesamtes Protokol
Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 17. Sitzung des 2. Deutschen Bundestages. Angesichts der geringen Zahl der entschuldigten Abgeordneten darf ich sie gleich selbst bekanntgeben. Entschuldigt sind für heute die Abgeordneten Dr. Pfleiderer und Dr. Atzenroth.
— Und es wird auch noch berichtigt, Herr Abgeordneter Dr. Pfleiderer ist anwesend. Es fehlt — —
— Dr. Atzenroth auch. Ich stelle fest, daß heute niemand entschuldigt fehlt.
Meine Damen und Herren, ich rufe auf den Punkt 1 der heutigen Tagesordnung:
Zweite und dritte Beratung der von den Fraktionen der CDU/CSU, GB/BHE, DP und von der Fraktion der FDP eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes .
Es liegt vor ein Mündlicher Bericht des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht, Drucksache 275. Berichterstatter ist Herr Abgeordneter Dr. von Merkatz. Ich darf ihn bitten, das Wort zu nehmen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht habe ich Ihnen einen Ersten Bericht zu erstatten über die von den Fraktionen der CDU/CSU, des GB/BHE und der DP auf Drucksache 124 und der Fraktion der FDP auf Drucksache 125 und Drucksache 171 eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes. Der Rechtsausschuß folgt damit einer Übung, die er schon in der ersten Wahlperiode angewandt hat, als er zwei oder gar drei Berichte über einen Gegenstand erstattete. Ich darf daran erinnern, daß der Ausschuß z. B. bei der Beratung des Strafrechtsänderungsgesetzes einen solchen Weg eingeschlagen hat. Damals wurden zunächst einige Abschnitte aus der Vorlage herausgenommen und dem Plenum in einem ersten Mündlichen Bericht zur Annahme empfohlen. Einige Zeit später wurden dann in einem zweiten Bericht die restlichen Vorschriften ,der ursprünglichen Vorlage zu einem Zweiten Strafrechtsänderungsgesetz zusammengefaßt und idem Plenum zur Annahme empfohlen.
Der Ausschuß hat geglaubt, auch diesmal ein solches Verfahren vorschlagen zu sollen, da die Mehrheit des Ausschusses überzeugt ist, daß die jetzt auf Drucksache 275 vorgeschlagenen Erläuterungen des Grundgesetzes vordringlich zu erledigen sind.
Wenn Ihnen daher heute die Ziffern 3, 4 und 9 der Drucksachen 124 und 125, die übrigens in den Vorlagen im Wortlaut übereinstimmen, vorgelegt werden, so bleiben die Ziffern 1, 2, 5, 6, 7 und 8 der Drucksachen 124 und 125 sowie die Vorlage auf Drucksache 171 beim Rechtsausschuß und beim EVG-Ausschuß weiter anhängig. Der Rechtsausschuß wird Ihnen darüber alsbald einen weiteren Bericht erstatten und einen weiteren Antrag vorlegen.
Die Anträge betreffend den Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes, die von den antragstellenden Fraktionen im Dezember 1953 bzw. im Januar 1954 beim Bundestag eingebracht worden sind, wurden in der 9. Sitzung am 14. Januar 1954 in erster Lesung behandelt und ohne Aussprache nach Abgabe von Erklärungen dem Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht als federführendem und dem Ausschuß für Fragen der europäischen Sicherheit als mitbeteiligtem Ausschuß überwiesen.
Der Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht befaßte sich in ganztägigen Sitzungen am 9. Februar und am 19. Februar mit der Materie, der mitberatende Ausschuß für Fragen der europäischen Sicherheit in einer Sitzung am Montag, dem 22. Februar 1954. Nach Mitteilung des Herrn Vorsitzenden des Ausschusses für Fragen der europäischen Sicherheit vom gleichen Tage hat dieser Ausschuß seine Beratungen auf Art. 1 Ziffer 3 beschränkt und mit Mehrheit beschlossen, gegen die vom Rechtsausschuß formulierte Fassung der Nr. 1 des Art. 73 des Grundgesetzes keine Bedenken zu erheben.
Das Ergebnis der Ausschußberatungen liegt Ihnen auf Drucksache 275 vor. Der vorliegende Getzentwurf soll, wie auch in seiner Präambel zum Ausdruck kommt, der Verdeutlichung der Verfassungsbestimmungen dienen. Bei den Ausschußberatungen wurde von den Koalitionsparteien ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sie ihren Rechtsstandpunkt, den sie bisher in der Frage der Wehrhoheit wie in der Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Vertragswerke eingenommen haben und den auch die Bundesregierung in dem vor dem Bundesverfassungsgericht anhängigen Rechtsstreit eingenommen hat, durch diese textlichen Klarstellungen des Grundgesetzes nichtaufgeben. Vielmehr ist es der Wille der Antragsteller und der Mehrheit des Rechtsausschusses, der Opposition entgegenzukommen und einen Weg zu finden, der die Bedenken der Opposition ausräumt.
Der Rechtsausschuß hat sich in dieser Frage auf den Standpunkt gestellt, den der Abgeordnete Herr D r. Weber in der ersten Lesung als Sprecher der Antragsteller zum Ausdruck gebracht hat. Ich darf mich deshalb auf die Ausführungen ides Herrn Kollegen Dr. Weber in der 9. Sitzung des Bundestages beziehen.
Der Rechtsausschuß hat sich bemüht, zunächst in diesem ersten Bericht gewisse Kernfragen, die der Klarstellung von Zweifeln über die Auslegung dienen, besonders herauszustellen. Die Mehrheit ist dabei der Auffassung, daß eine präzisierende Fassung des Art. 73 des Grundgesetzes, der die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes festlegt, sowie die erläuternde Fassung des Art. 79 und des Art. 142 a vorläufig genügen und daß die weiteren Fragen, z. B. die Frage des Oberbefehls, der landsmannschaftlichen Gliederung, überhaupt der sogenannten Wehrverfassung, in einem zweiten, das
Grundgesetz tatsächlich ergänzenden Gesetz behandelt werden sollen. Zu dieser Auffassung ist die Mehrheit besonders deshalb gekommen, weil im Verlaufe der Ausschußberatungen von der Minderheit eine ins einzelne gehende Regelung, die auch noch über den Rahmen der Vorlage hinausgeht, für notwendig gehalten wurde. Die beiden Ausschüsse haben dann später Zeit und die Möglichkeit, die mehr technischen Fragen der Wehrverfassung eingehend zu regeln.
Darf ich das Hohe Haus vielleicht für einen Moment um Aufmerksamkeit bitten, da jetzt von mir eine Erklärung abzugeben ist, die für alle Mitglieder des Hauses von besonderem Interesse sein dürfte.
Herr Abgeordneter, die Aufmerksamkeit eines wesentlichen Teiles des Hauses haben Sie immer gehabt.
Ich danke vielmals, Herr Präsident; aber ich weiß, daß es eine gewisse Zumutung ist, juristisch-technische Begriffe während einer ganzen halben Stunde über sich ergehen zu lassen. Ich nehme es deshalb keineswegs übel, wenn man sich in dieser Zeit mit etwas anderem beschäftigt.
Aber das, was nun zu sagen ist, muß, glaube ich,
dem Hause besondere Aufmerksamkeit abnötigen.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich eine die Koalitionsparteien bindende Erklärung zum Protokoll der heutigen Sitzung abgeben. Die Koalitionsparteien, d. h. die Mehrheit auch des Ausschusses, sind sich darüber einig, daß folgende drei Problemkreise bei der Schaffung einer später auszuarbeitenden Wehrverfassung einer ausdrücklichen Regelung in der Verfassung bedürfen. Die Koalitionsparteien stimmen darin überein, daß die künftige Wehrverfassung eindeutig klarstellen muß, daß die Wehrverwaltung eine Bundesverwaltung sein muß, daß ferner die erforderliche Regelung des Oberbefehls gemäß der deutschen Verfassungstradition ausdrücklich im Grundgesetz erfolgen muß und daß außerdem die in der Drucksache 124 unter Ziffer 1 angesprochene Frage der landsmannschaftlichen Gliederung im Rahmen der Wehrverfassung eine verfassungsrechtliche Entscheidung finden muß. Unter landsmannschaftlicher Gliederung verstehen die Koalitionsparteien nicht etwa eine partikulare Zersplitterung der Wehrgewalt, sondern das Prinzip, daß einheitliche Verbände soweit möglich einheitlich nach Heimat und Stammeszugehörigkeit rekrutiert und geführt werden sollen, ohne daß hierbei an eine regionale Organisation gedacht ist,
die unbedingt mit den Landesgrenzen zusammenfällt.
— Das ist eine Berichterstattung, denn diese Feststellung
ist im Ausschuß auch getroffen worden.
— Jawohl!
Diese Feststellungen sind wesentlich, — —
Diese Feststellungen sind wesentlich, um das, was im Ausschuß beschlossen worden ist, in seiner tatsächlichen Tragweite zu verstehen.
— Wenn Sie dagegen protestieren wollen, bitte ich, das nachher im Rahmen einer Erwiderung zu machen. Sie können mich tadeln. Ich fühle mich jedenfalls verpflichtet, diesen Willen der Mehrheit, der auch in den Beratungen des Ausschusses zum Ausdruck gekommen ist, hier dem Hause mitzuteilen, weil unsere Kollegen das wissen müssen.
Hinsichtlich der Fragen, die mit einer nach Ländern gegliederten Auftragsverwaltung zusammenfallen, bleiben Entscheidungen des Gesetzgebers vorbehalten. Auf keinen Fall kann darunter verstanden werden, daß die Wehrgewalt unter Befehlshaber im Rahmen der Landesgrenzen aufgeteilt werden sollte.
Diese Bemerkungen gelten gewissermaßen im Vorgriff auf den zu den Fragen der Organisation der Wehrgewalt noch zu erstattenden Bericht. Gegenstand meines heutigen Berichts ist nicht die noch anhängige und noch zu beschließende vollständige Wehrverfassung, sondern sind ausschließlich die Bestimmungen, die außer Zweifel stellen, daß im Grundgesetz als einer vollständigen Verfassung selbstverständlich die Wehrhoheit des Bundes eingeschlossen ist und daher die in Art. 1 Ziffer 9 -- betreffend Art. 142 a des Grundgesetzes — des Entwurfs erwähnten Verträge in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz von den gesetzgebenden Körperschaften angenommen werden konnten.
Die Beratungen des Rechtsausschusses begannen mit eingehenden Referaten der Berichterstatter, in denen der gesamte Komplex, der zur Debatte steht, noch einmal dargestellt wurde. Ich darf es mir versagen, auf alle die Fragen noch einmal einzugehen, die bereits in den Diskussionen um die Vertragsgesetze im letzten Bundestag rechtlich gewürdigt worden sind, und mich in meinem Bericht auf die hier vorgeschlagenen drei Artikel beschränken.
Im Verlauf der Beratungen wurden in eingehenden grundsätzlichen Erörterungen die Begriffe „Verfassungsänderung", „Verfassungsergänzung" und „Verfassungsdurchbrechung" gegeneinander abgegrenzt. Dabei vertrat die Minderheit den Standpunkt, daß der ursprüngliche Verfassungsgeber andere Rechte habe als der heutige Verfassungsgeber, Art. 79 des Grundgesetzes — auch in Verbindung mit Art. 146 — gebe dem Bundestag und dem Bundesrat nur eine beschränkte verfassungsändernde Gewalt. Die Minderheit sieht den Sinn des Art. 79 darin, daß der Verfassungsgeber unbeschadet des nach Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes überhaupt unantastbaren Verfassungskerns zwar ausdrücklich die Befugnis habe, im Grundgesetz etwas zu ändern oder das Grundgesetz zu ergänzen; der Verfassungsgeber habe aber nicht die Befugnis, das Grundgesetz zu durchbrechen. Gerade
Durchbrechungen sollten durch Art. 79 Abs. 1 ausgeschlossen werden. Es wurde weiter behauptet, daß Art. 79 Abs. 1 nicht nur ein formales Prinzip sei, wonach Änderungen zugleich Verfassungstextänderungen sein müßten; denn in diesem formalen Prinzip offenbare sich zugleich der materielle Gedanke, daß die zulässigen Änderungen keine Durchbrechungen sein dürften.
Demgegenüber vertrat die Mehrheit den Standpunkt, daß auch der verfassungsändernde Gesetzgeber nach Art. 79 Abs. 2 echtes Verfassungsrecht von der gleichen Dignität schaffe wie das Verfassungsrecht, das der ursprüngliche Verfassungsgesetzgeber gesetzt hat. Sie ist der Auffassung, daß auch der verfassungsändernde Gesetzgeber ebenso allgemeine Verfassungsgrundsätze im Wege einer Verfassungsänderung schaffen, abändern oder aufheben könne wie der ursprüngliche Verfassungsgeber. Nach dieser Auffassung kann der Verfassungsgesetzgeber Recht von der gleichen politischen Tragweite wie das ursprüngliche Verfassungsrecht schaffen. Dieses von ihm geschaffene Verfassungsrecht kann alle Teilgebiete der verfassungsmäßigen Ordnung erfassen: die Grundrechte und die Grundpflichten, die politischen Rechte und Pflichten des Bürgers, das Verhältnis von Bund und Ländern usw., das Verhältnis der Staatsorgane zueinander und vor allem auch das Verhältnis der Verfassungsrechtsordnung zu den untergeordneten und nebengeordneten Rechtskreisen, zum einfachen Gesetzesrecht wie zum Völkerrecht. Auch der verfassungsändernde Gesetzgeber kann genau so wie der ursprüngliche Verfassungsgeber Entscheidungen über den Fortbestand eines Rechtes treffen, das der Verfassung etwa widerspricht oder dessen Übereinstimmung mit der Verfassung zweifelhaft oder wenigstens zwischen den streitenden politischen Gruppen kontrovers ist. Auch der verfassungändernde Gesetzgeber sollte befugt sein, künftiges einfaches Gesetzesrecht zuzulassen, das die Verfassungsgrundsätze näher interpretieren soll oder das etwa verfassungsmäßige Rechte einschränken darf, wie es beispielsweise im Grundgesetz bei den gesetzlichen Einschränkungsmöglichkeiten für die Grundrechte geschehen ist.
Die Mehrheit war weiterhin der Auffassung, daß auch der verfassungändernde Gesetzgeber ebenso wie der ursprüngliche Verfassungsgeber zur authentischen Interpretation seiner Vorschriften befugt ist. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat in der Wahl seiner Formulierungen die gleiche Freiheit wie der ursprüngliche Verfassungsgesetzgeber.
Er steht also rangmäßig und im Gewicht und im Umfang seiner Kompetenz nicht unter, sondern neben, zeitlich gesehen natürlich hinter dem ursprünglichen Verfassungsgesetzgeber.
— Herr Kollege, ich habe wiederzugeben, was der Ausschuß gesagt hat. Ich bitte aber, nicht gegen den Berichterstatter zu polemisieren, sondern die Aussprache nachher stattfinden zu lassen. — Selbstverständlich soll seine Kompetenz nicht unbeschränkt sein. Er unterliegt denselben Schranken wie der ursprüngliche Verfassungsgesetzgeber.
Dem verfassungändernden Gesetzgeber haben aber auch häufig die Verfassungen selbst Schranken gezogen. Zunächst ergeben sich schon daraus Schranken, daß die Verfassungsänderung an erschwerte Bedingungen gebunden ist, im Grundgesetz z. B. an die Erschwerung des Art. 79 Abs. 2 Schließlich hat der ursprüngliche Verfassungsgesetzgeber dem verfassungändernden Gesetzgeber eine Schranke durch die Bestimmung eines gegen Verfassungsänderung gefeiten Verfassungskerns gesetzt.
Diese Schranken, die der Verfassungsgesetzgeber der späteren Verfassungsänderung gezogen hat, sind nach Auffassung der Mehrheit für die Verfassungsänderung nicht unüberschreitbar. Diese Schranken, die der Verfassungsgesetzgeber seinem Nachfolger in der Verfassungsänderung setzen will, können durch eine Verfassungsänderung überspielt werden, sie können — bis auf den unveränderlichen Kern der Verfassung — formal beseitigt werden. Durch die Formulierung des Art. 79 Abs. 1 des Grundgesetzes, der vom Parlamentarischen Rat seine jetzige Fassung aus den schlechten Erfahrungen, die man in der Weimarer Zeit mit der Praxis der verfassungdurchbrechenden Gesetze gemacht hat, erhalten hat, hat man die Möglichkeit ausschalten wollen, verfassungskräftige Nebengesetze zu erlassen. Aber die Bestimmung des Art. 79 Abs. 1, die das ganze Verfassungsrecht in der Verfassungsurkunde monopolisieren und zusammenfassen will, gehört nicht zu dem unantastbaren Minimum des Art. 79 Abs. 3. Der verfassungsändernde Gesetzgeber kann den Art. 79 Abs. 1 ändern. Er könnte aussprechen, daß Verfassungsdurchbrechung wieder zulässig sei; er könnte aussprechen, daß man auch verfassungskräftige Nebengesetze erlassen kann. Zulässig wäre eine Beseitigung der Bestimmung des Art. 79 Abs. 1; zulässig ist erst recht eine Modifizierung in den Fällen, wo sich die Bestimmung des Art. 79 Abs. 1 etwa als zu starr oder unpraktikabel erweist.
Weiterhin bedeutet Art. 79 Abs. 1 nach Auffassung der Mehrheit nicht — wie die Minderheit vorgetragen hat —, daß man, wenn es sich um ein umfangreiches Gesetzgebungswerk handelt, ausdrücklich bei jeder einzelnen Verfassungsbestimmung einen Vorbehalt oder eine Einschränkung vornehmen muß. Ob man eine derartige detaillierte Einschränkung bei einer Vielzahl von Bestimmungen vornimmt oder mit einem Generalvorbehalt zugunsten eines bestimmten Gesetzes eine Einschränkung festlegt, steht völlig im Ermessen des verfassungändernden Gesetzgebers.
Ehe ich nun zu den einzelnen Vorschriften komme, darf ich vorab eine gesetzestechnische Bemerkung machen. Die Ziffern in der rechten Spalte der Zusammenstellung werden nach der dritten Lesung natürlich in fortlaufende Ziffern 1 bis 3 umgewandelt. Das entspricht der Gesetzestechnik, wie wir sie im Haus immer angewandt haben.
Die Präambel erhielt vom Ausschuß eine etwas andere Fassung, um Sinn und Zweck dieser Grundgesetzänderung eindeutig klarzustellen. Ich darf mich hier auf meine Ausführungen zu Anfang meines Referates beziehen.
Mit der Fassung des Art. 73 Nr. 1, wie Sie Ihnen der Ausschuß vorschlägt, soll die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Verteidigung einschließlich der Wehrpflicht begründet werden. Nach Auffassung der Mehrheit des Ausschusses bleibt dabei die Frage der künftigen Gestaltung der Wehrverfassung offen; sie war der Ansicht,
daß, wenn der Bundestag zur Beratung der Wehrverfassung kommt, im einzelnen zu prüfen sein wird, wie die dann notwendigen Einzelregelungen mit den Bestimmungen der Verfassung in Einklang zu bringen sind. Diese Frage jetzt schon zu entscheiden, hielt die Mehrheit nicht für ausgereift genug. Die Minderheit vertrat demgegenüber die Auffassung, daß die Begründung der Gesetzgebungskompetenz notwendigerweise auch eine Einzelregelung der damit zusammenhängenden Fragen schon jetzt erforderlich mache.
Nach Ziffer 3 hat Art. 1 in der Fassung des Ausschusses gegenüber der Vorlage den Zusatz erhalten: „die Verteidigung einschließlich der Wehrpflicht für Männer vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an", weil darin eine eindeutige Klarstellung dahin erfolgen sollte, daß eine Wehrpflicht für Frauen nicht in Frage kommt. Der Ausschuß hat damit Einwendungen Rechnung getragen, die bei der Debatte über den Art. 32 a, der vorher vom Ausschuß beraten worden war, von der Minderheit vorgebracht worden waren.
Man war sich weiterhin darüber klar, daß der Begriff „Verteidigung" umfassend sei und alles decke, was zu einer Verteidigung notwendig sei. Daher wurde der im Entwurf vorgeschlagene Begriff „militärische Verteidigung" fallengelassen.
Nun zu Ziffer 4! In dem neu formulierten Satz 2, der dem Abs. 1 des Art. 79 angefügt werden soll, sieht die Mehrheit des Ausschusses eine Verfassungsverdeutlichung dahingehend, daß für den speziellen Fall von Vertragsgesetzen bestimmter Art wie Friedensverträgen, Vorfriedensverträgen, Besatzungsabbauverträgen, Verteidigungsverträgen ausgesprochen wird, daß die Bestimmungen solcher Gesetze mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
Unter Bezugnahme auf meine vorhin gemachten Ausführungen zu Art. 79 darf ich noch einmal betonen, daß die Mehrheit des Ausschusses diesen Satz 2 für verfassungsrechtlich zulässig hält, weil er nur das ausspricht, was bei vernünftiger Interpretation ohnedies dem Artikel zu entnehmen ist: daß dieser Satz gleichzeitig eine Sicherung des neu einzufügenden Art. 142 a bedeutet.
Ich komme jetzt zu Ziffer 5, bisher Ziffer 9. Gegen die Einfügung des Art. 142 a bestanden bei der Minderheit des Ausschusses erhebliche Bedenken; von ihr wurde geltend gemacht, daß mit der Einfügung dieses Artikels einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung vorgegriffen und damit gesetzgeberisch etwas entschieden werde, was erst einmal vom Bundesverfassungsgericht zu klären sei. Die Bestimmung erhalte damit den Charakter eines Urteils und sei damit nichts anderes als eine Einkleidung eines Richterspruchs in den Schein eines Gesetzes. Damit verstoße der Artikel gegen Art. 20 des Grundgesetzes, der durch Art. 79 Abs. 3 für unabänderbar erklärt worden sei. Bundestag und Bundesrat könnten sich weder mit einfacher noch mit Zweidrittelmehrheit zu Gerichten aufwerfen oder sich selbst als Gerichte einsetzen und rechtlich die Frage entscheiden, ob Verträge mit dem Grundgesetz vereinbar seien.
Darüber hinaus sei aber auch Art. 142 a formal nicht zulässig, weil Art. 79 Abs. 1 entgegenstehe. Dieser schreibe vor, daß Änderungen oder Ergänzungen des Grundgesetzes nur in der Weise zulässig seien, daß eine echte Änderung des Wortlauts vorgenommen werde, und zwar auch bei 1 einer Abänderung allgemeiner Art. Aber nicht nur formal, sondern auch materiell sei Art. 142 a unzulässig, weil er die Vertragsgesetze verfassungsmäßig machen wolle, die in vielen Einzelbestimmungen gegen den unabänderlichen Verfassungskern des Art. 79 Abs. 3 verstießen.
Demgegenüber wurde von der Mehrheit als Ziel des neu einzufügenden Art. 142 a bezeichnet, einen Verfassungsstreit, der das Verfassungsleben der Bundesrepublik auf das schwerste bedroht hat, dadurch zu beenden, daß er eine authentische Verfassungsinterpretation gibt. Die authentische Verfassungsinterpretation sei die legitime Aufgabe des Verfassungsgesetzgebers und des verfassungändernden Gesetzgebers. Das Grundgesetz habe mit dieser Aufgabe für den normalen Verlauf der Dinge das Bundesverfassungsgericht betraut, indem es die Entscheidung über die abstrakte Normenkontrolle, die ja im wesentlichen Verfassungsinterpretation enthält, dem Bundesverfassungsgericht zugewiesen habe. Das Bundesverfassungsgericht sei aber der Legatar einer höheren Macht, nämlich des verfassungändernden Gesetzgebers selbst, der die Aufgabe der Verfassungsinterpretation jederzeit wieder an sich ziehen könne, indem er selbst darüber befinde, ob ein Gesetz, dessen Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz streitig sei, als mit diesem vereinbar anzusehen sei oder nicht. Theoretisch könnte die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts auf diesem Gebiet durch den verfassungändernden Gesetzgeber abgeschafft werden. Vor allem aber könne der verfassungändernde Gesetzgeber jederzeit selbst darüber entscheiden, ob er ein bestimmtes Gesetz als mit der Verfassung vereinbar anerkennen wolle oder nicht. Das sei die typische Aufgabe der authentischen Verfassungsinterpretation. Damit würde zugleich der frühere Gesetzgebungsakt des Bundestages, über dessen Verfassungsmäßigkeit Streit war, als rechtsgültig anerkannt und für den Fall, daß ihm Mängel angehaftet hätten, geheilt.
Die Mehrheit war weiterhin der Auffassung, daß neben dem Sonderfall der Vertragsgesetze, wo es sich um ein werdendes, noch nicht publiziertes, noch nicht ratifiziertes Vertragswerk handle, noch ein drittes Element in dem Art. 142 a liegt, nämlich die Ermächtigung an die zur Publikation und Ratifikation zuständige Stelle, diese Publikation und Ratifikation vorzunehmen. In einer authentischen Verfassungsinterpretation liegt zugegebenermaßen ein rückwirkendes Element, und zwar der Natur der Verfassungsinterpretation nach. Aus diesem Grunde könne .auf den ausdrücklichen Ausspruch der Rückwirkung in Art. 2 verzichtet werden, da sie unabdingbar mit dieser Aufgabe der Verfassungsinterpretation verbunden sei.
In diesem Zusammenhang wurde von der Mehrheit des Ausschusses ausdrücklich zur Klarstellung betont: Das Bundesverfassungsgericht ist ein höchstes Verfassungsorgan des Bundes. Es steht aber nicht völlig unabhängig dem verfassungändernden Gesetzgeber gegenüber. Der verfassungändernde Gesetzgeber kann vielmehr jederzeit in legitimer Weise — wie er es im vorliegenden Fall tut — diese Aufgabe an sich ziehen, und ein solches Verfahren sei vom rechtsstaatlichen Standpunkt aus durchaus in Ordnung.
Damit habe ich meinen Bericht beendet. Namens des Ausschusses für Rechtswesen und Verfassungsrecht habe ich die Ehre, Sie um Zustimmung zu
dem Entwurf eines Gesetzes zur Erläuterung des Grundgesetzes in der Fassung des Rechtsausschusses zu bitten.
Meine Damen und Herren, Sie haben die Berichterstattung gehört. Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Ich schlage Ihnen vor, daß wir im Unterschied von dem üblichen Verfahren die allgemeine Aussprache heute mit der zweiten Beratung verbinden. Das entspricht der Auffassung des Hauses.
Das Wort zur allgemeinen Aussprache der zweiten Beratung hat zunächst der Abgeordnete Dr. Gerstenmaier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als in Deutschland 17 Jahre nach ihrer Aufhebung die allgemeine Wehrpflicht wiedereingeführt wurde, da geschah es in Verbindung mit der bald darauf stattfindenden Ratifizierung des Austritts Deutschlands aus dem Völkerbund. Der Völkerbund war damals die einzige, bescheidene Vorstufe einer Integrationsform der Nationalstaaten. Die Wiedereinführung der Wehrpflicht durch Hitler erfolgte im Zeichen der nationalen Souveränität als eines obersten und letzten Wertes der Nation. Damit wurde der letzte Abschnitt des Weges eröffnet, auf den das deutsche Volk gegen seine tiefsten Empfindungen gezwungen worden war. Am Ende dieses Weges stand die nationale Katastrophe. Aber am Ende dieses Weges, meine Damen und Herren, stand auch über Deutschland hinaus die Einsicht, daß die nationale Souveränität kein höchster und letzter Wert eines Volkes ist.
Was heute und hier geschieht, ist nicht die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht, ist nicht einmal die Grundlegung einer neuen deutschen Wehrverfassung,
sondern es ist die fortan über alle Zweifel erhabene Klarstellung, daß das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eine künftige deutsche Wehrverfassung nicht unmöglich macht oder verbietet, vielmehr alle Voraussetzungen einer solchen in seinem Kern- und Grundgedanken in sich beschließt.
Diese Klarstellung, meine Damen und Herren, muß
erfolgen, weil in Zweifel gezogen, ja mit Leiden-
schaft bestritten wurde, daß die im Grundgesetz
niedergelegten Grundrechte und -freiheiten des
Menschen im deutschen Staat auch den Willen, ja
die Pflicht zum Schutze und zur Verteidigung die-
ser Rechte und Freiheiten in sich schlössen, auch
zur Verteidigung mit der Waffe in sich schlössen.
Die Klarstellung, die der Bundestag heute zu vollziehen hat, bezieht sich darauf. Sie erfolgt also nicht im Zeichen der nationalen Souveränität, und sie erfolgt auch nicht im Interesse einer wiederhergestellten staatlichen Machtvollkommenheit, und sie erfolgt — vielleicht muß es zur Enttäuschung einiger gesagt werden — erst recht nicht im Namen der Wiedererlangung wesentlicher Lebensrechte des deutschen Volkes und seines angestammten Bodens. Wir haben jedem Gedanken daran abgesagt, dafür jemals unsere Zuflucht bei den Waffen zu suchen. Wir, meine Damen und Herren, die wir die Narben des totalen Staates an
uns tragen, wir denken so zurückhaltend über staatliche Machtvollkommenheit, daß wir ihretwegen uns noch nicht einmal der Mühe dieser Debatte unterziehen würden.
So entschieden wir auf der Gleichberechtigung, und zwar der vollen Gleichberechtigung Deutschlands mit seinen künftigen Partnern bestehen,
so wenig vermag uns der schillernde Begriff der nationalen Souveränität noch einmal zu verführen. Nationale Prestigebedürfnisse — gleichgültig ob berechtigt oder unberechtigt — sind es uns nicht wert, auch nur eine deutsche Kompanie wieder aufzustellen.
Wir Deutsche haben in zwei Weltkriegen in einer Generation an die zehn Millionen Tote allein aus unserem Volk begraben.
Welches Prestige oder welche Spekulation könnte uns veranlassen, noch einmal eine Armee aufzustellen?
Auf diesem Hintergrund reden wir. Die Klarstellung, die heute hier getroffen wird — und ich sehe an Ihrem Gelächter, daß sie auch jetzt leider noch nicht überflüssig ist —, diese Klarstellung erfolgt natürlich auch nicht nur aus theoretischen Gründen oder gewissermaßen für alle Fälle. Sie erfolgt vielmehr im Blick auf die durchaus untheoretisch ernste Situation, in der sich das deutsche Volk seit Jahr und Tag befindet, und sie erfolgt in bewußter Abkehr von den Idealen der nationalstaatlichen Souveränität, im Zeichen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft.
Das heißt also: diese Klarstellung zielt in der Tat auf eine neue deutsche Wehrverfassung. Diese Verfassung hängt nicht im Nebel alter, blind gewordener Ideale und nationaler Vorstellungen, sondern sie steht als deutscher Beitrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft nach Grund und Anlage fest umrissen vor uns. Anders als in der Vergangenheit soll im zukünftigen Europa nicht der nationale Staat souverän über seine Armee, d. h. über seine Menschen verfügen, sondern er soll nur in der festgefügten Gemeinschaft mit den anderen streng und ausschließlich im Fall der unabweisbar gebotenen Verteidigung Waffen gebrauchen dürfen. Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht durch Hitler war schließlich gegen die Gemeinschaft der Völker gerichtet, und sie führte ins blutige Chaos.
Die Klarstellung von heute gilt einer künftigen Wehrpflicht der Deutschen, weil die Sicherung Deutschlands in der Gemeinschaft der freien Völker unerläßlich geworden ist. Sie bringt Europas geguälten Völkern Frieden und Rechtssicherheit, ohne die weder die Deutschen noch die anderen eine Zukunft haben. Meine Damen und Herren, ich glaube, vor der einfachen Größe dieser Einsicht, die sich im deutschen Volke durchgesetzt hat, verblassen alle möglichen und unmöglichen, gutgemeinten oder auch nicht gutgemeinten anderen Gründe. Zu ihnen gehört z. B. auch die päd-
agogische Begründung. Was wir heute tun, tun wir gewiß nicht, weil man immer wieder den erzieherischen Wert des Soldatseins gerühmt hat. Deutschlands Jugend käme auch ohne diese Erziehungshilfe aus.
Was wir tun, tun wir vielmehr deshalb, weil wir die Verteidigung unserer eigenen, teuer erworbenen Freiheit und den Schutz unserer deutschen rechtsstaatlichen Ordnung nicht von den Söhnen anderer Völker verlangen können und wollen, ohne nach dem Maße unserer Kraft das Unsere dafür zu tun.
Aber eine lange Kette leidvoller Erfahrungen hat uns gelehrt, daß das nur noch in der denkbar engen und entschlossenen Gemeinschaft mit den anderen freien Völkern Sinn hat. Deutschland kann mit einer Nationalarmee alten Stils überhaupt nicht mehr verteidigungsfähig werden,
weil diese Armee nicht nur zu klein, sondern auch ganz unzureichend bewaffnet sein würde. Es hat schlechterdings keinen Sinn, im Zeitalter der Maschinengewehre Menschen mit Heldenmut und Hellebarden auszurüsten. Es hat ebensowenig Sinn, im Zeitalter der Atomwaffen Soldaten mit Maschinengewehren und noch etwas mehr Heldenmut auszustatten.
Es ist nicht meine Absicht, diesen Begründungszusammenhang unseres Handelns noch einmal etwa in polemischer Auseinandersetzung mit der Opposition in diesem Hause darzulegen. Es hat offensichtlich auch keinen Sinn mehr. Hat die Debatte gestern nicht trotz der guten Reden, die gehalten worden sind, erkennen lassen, daß der Streit um die Methoden der Sicherung und der Vereinigung Deutschlands alt und grau zu werden beginnt, daß die Debatte darüber ausgetragen und die Zeit des Handelns gekommen ist?
Hat nicht die jüngste Geschichte bewiesen, daß es nichts, aber auch gar nichts auf sich hat mit der anfänglich so betörenden und gern gehörten Kampfparole: EVG oder Wiedervereinigung? Hat nicht Molotow selbst, wie es gestern hier Herr Dr. Dehler zu Recht dargestellt hat, in wohlgesetzten und dennoch völlig eindeutigen Reden der parlamentarischen Opposition in Deutschland diese Parole einfach weggewischt?
Und haben wir nicht bis in die gestrige Debatte hinein die Erschütterung und Unsicherheit gespürt, die darob die Verwalter einer anerkanntermaßen großen freiheitlichen Tradition des deutschen Arbeitertums überkommen hat? Es hätte gewiß mehr Sinn, darüber zu klagen, daß sich die Sozialdemokratische Partei Deutschlands auch heute nicht zu einer Entscheidung à la Morrison durchgerungen hat,
als über Molotow zu schimpfen oder über die Russen und über die Tragödie von Berlin zu verzagen.
Heute geht es hier weder um Klage noch um Anklage; heute geht es allein darum, wieder einen
Schritt nach vorn zu tun. Dieser Schritt ist heute von uns, und zwar von uns allen, gefordert. Es hat keinen Sinn, dabei auf die Franzosen zu sehen oder nach den Italienern zu schielen. Mögen s i e sehen, wie sie dem Ruf der geschichtlichen Stunde gerecht werden! Unserer Verantwortung sind wir damit gewiß nicht enthoben.
Wer es genauer wissen will und wer sich des Ernstes der Sache noch nicht ganz bewußt ist, dem dürfen wir sagen, daß es an uns ist, das zu tun, was wir zu tun haben — gleichgültig ob es ausreicht oder nicht ausreicht —, damit es in Zukunft keinen Cimetière du Silberloch hinter dem Hartmannsweilerkopf oder keine Kreuze von gefallenen Soldaten neben der Hunsrück-Höhenstraße zwischen Mainz und Trier mehr gibt. Wir sind moralisch verpflichtet, diesen Weg zu gehen, und wir sind aus sachlichen Gründen dazu gezwungen. Denn es ist inzwischen völlig klar, daß Deutschland allein auf dem Weg, um den wir uns mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft bemüht haben und gewiß noch weiter bemühen müssen, verteidigungsfähig wird. Meine Damen und Herren, Herr Kollege Ollenhauer hat gestern noch einmal die Eingliederung Deutschlands in ein Sicherheitssystem skizziert, das von niemand als gegen sich gerichtet betrachtet werden könne, d. h. genauer als gegen sich gerichtet angesprochen werden kann. Eine solche Forderung könnte höchstens zur Folge haben, daß Deutschland überhaupt in kein Sicherheitssystem einbezogen wird. Das würde also die Neutralisierung Deutschlands bedeuten. Man kann es sich fünfzigmal oder zweiundfünfzigmal überlegen, es bleibt dabei, daß dies die reale Folge der so ideal gemeinten offiziellen Bereitschaft der deutschen Sozialdemokratie, für die militärische Sicherung Deutschlands das Ihre zu tun, sein würde.
Ich möchte nichts mehr im einzelnen zu den ebenso ideal aussehenden fünf Punkten sagen, die der Herr Vorsitzende der SPD gestern hier vorgetragen hat. Sie sind längst bestimmende Motive unserer Politik. Aber auch wir hätten dem deutschen Volke heute nicht mehr als eben die nackte Pracht dieser fünf Forderungen zu präsentieren, wenn wir sie mit den politischen Methoden der SPD vertreten hätten.
Denn auch eine Politik der idealsten Motive ist total gescheitert, wenn sie zur Isolierung Deutschlands statt zu brauchbaren, handfesten Annäherungswerten führt. Das hat das deutsche Volk erfaßt und in einer Weise gewürdigt, die ihm Ehre macht.
Gewundert habe ich mich, Herr Kollege Ollenhauer, daß Sie mit Ihrem Gedanken, die Deutschlandfrage auf der Ebene der Vereinten Nationen zu lösen, auch in den zurückliegenden Wochen und Monaten offenbar keinen Schritt weitergekommen sind. Sie haben sich statt dessen darauf beschränkt, meine persönliche Einstellung zu den Vereinten Nationen anzugreifen, mindestens in Frage zu stellen.
Ich kann nicht finden, daß das zu Recht geschah; denn schließlich hat unser Volk ein Recht darauf, zu hören, wie die Tragfähigkeit politischer Vorschläge zur Meisterung seines Schicksals beurteilt wird. Ich habe seinerzeit von diesem Platz aus die
ideale Konzeption, das uneingeschränkt zu billigende Programm der Vereinten Nationen voll anerkannt. Aber ich habe mir erlaubt, und ich erlaube mir es auch heute noch, das tatsächliche Vermögen mit der gegenwärtigen Verfassung der Vereinten Nationen, die Deutschlandfrage und die brennendsten Weltprobleme zu lösen, erheblich in Zweifel zu ziehen. In der Zwischenzeit sind außerhalb Deutschlands im Bereich einer sehr bedeutenden Weltmacht zwei höchst wichtige Reden gehalten worden. Die eine bezog sich auf die Atomkontrolle, die andere auf das Statut der Vereinten Nationen. Soweit ich sehe, besteht im internationalen Bereich Übereinstimmung darüber, daß mit dem gegenwärtigen Statut der Vereinten Nationen die schwebenden Weltprobleme nicht zu meistern sind. Das ist ebenso klar wie die andere Einsicht, daß mit der gescheiterten Statutenreform des Europarats in Straßburg die europäischen Probleme allein noch nicht gemeistert werden können.
Meine Damen und Herren, sollte es unerlaubt sein, in einer Situation wie der, in der wir uns in Deutschland befinden, davon zu reden und das offen auszusprechen? Hinter den Schwierigkeiten bei den Vereinten Nationen und bei der Statutenreform des Europarats steht ein und dasselbe Problem. Es ist das unbewältigte Problem der nationalen Souveränitäten in unserer Zeit. Ich weiß nicht, ob gestern von den Vereinten Nationen deshalb nicht weiter die Rede war, weil vielleicht auch der Herr Kollege Ollenhauer inzwischen erkannt hat, daß eine fruchtbare Zusammenarbeit in den Vereinten Nationen, deren die Welt wahrhaft dringlich bedarf, so wie die Dinge liegen, ja erst dann möglich ist, wenn der Kern der Streitprobleme bereits gelöst, d. h. wenn die Weltspannung schon entschärft ist. Wäre es anders, meine Damen und Herren, wozu bedürfte es dann der Berliner, der Genfer Konferenz und wahrscheinlich noch mancher anderen kommenden Konferenzen, die alle außerhalb der Vereinten Nationen stattfinden?
Aber es ist heute nicht davon zu reden, was uns bei künftigen Entscheidungen auf dem Weg, den wir beschritten haben, im einzelnen beschäftigen muß. Es ist heute auch nicht davon zu reden, wie die Wehrverfassung Deutschlands und wie seine Ausrüstung aussehen muß. Wir sprechen heute auch nicht vom Ost-West-Handel, wennschon wir darüber im Zusammenhang mit dem russischen Blutgold unsere eigene Gedanken haben. Wir reden heute nur von dem, wozu wir nach langer, gewissenhafter Prüfung entschlossen sind: von unserer Freiheit und Einheit, der Einheit Deutschlands im geeinten Europa und der Freiheit, die uns so ans Herz gewachsen ist, daß wir willens sind, dafür auch die Opfer zu tragen, die man vom deutschen Volk gerechterweise verlangen kann.
Ich habe die Ehre, namens der Fraktion der CDU/CSU zu erklären, daß sie der Vorlage zustimmt.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Erler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, daß wir nicht unbedingt in die Notwendigkeit versetzt sind, heute die Debatte des gestrigen Tages fortzuführen. Es handelt sich der Sache nach nicht um die gleichen Probleme. Dennoch gestatte ich mir, vorab einige
Bemerkungen zu der Rede des Kollegen Gerstenmaier zu machen.
Ich bin nun einmal der Auffassung: Berlin hat u. a. auch bewiesen, daß selbst die Politik der Stärke die Sowjetunion nicht dazu veranlaßt hat, uns die Wiedervereinigung Deutschlands zu bescheren.
Die drei Außenminister der Westmächte haben in Berlin schließlich doch nicht die Politik der sozialdemokratischen Opposition, sondern die Politik der Bundesregierung vertreten
und dennoch weder die deutsche Einheit noch ein wesentliches Stück davon nach Hause gebracht.
Aber ich möchte ein Mißverständnis aus, dem Wege räumen. Bei all dem, was Kollege Ollenhauer gestern über den Einbau Deutschlands in ein Sicherheitssystem im Rahmen der Vereinten Nationen ausgeführt hat, hat er vom wiedervereinigten Deutschland gesprochen. Das scheint übersehen worden zu sein. Gerade das, daß es sich dabei um das wiedervereinigte Deutschland handelt, ist immerhin Gegenstand ernsthafter Anregungen und Bemühungen auch der Westmächte in Berlin gewesen, nachdem der gleiche Gedanke von der Sowjetunion in ihrer Note vom 10. März 1952 schon auf den Tisch des Hauses gelegt worden war. Ich meine, wir Deutschen sollten keinen Anlaß haben, für das wiedervereinte Deutschland eine solche Möglichkeit des Einbaus in ein Sicherheitssystem im Rahmen der Vereinten Nationen von vornherein abzuwerten.
Die wirkliche Sicherheit des vereinten Deutschlands wird weder in unseren eigenen Streitkräften noch in einer europäischen Armee, sondern in der Gewißheit liegen, daß wir Teilhaber eines Sicherheitssystems sind, welches jeden Angreifer dieses vereinten Deutschland damit bedroht, für den Fall eines Angriffs mit Bestimmtheit den dritten Weltkrieg auszulösen. Das wird die wirkliche Sicherheit sein.
Aber, meine Damen und Herren — und damit bin ich beim Gegenstand der heutigen Tagesordnung, und Sie haben anscheinend diesen Teil der Rede des Kollegen Ollenhauer nicht mit der gebührenden Aufmerksamkeit beachtet —,
er hat selbstverständlich hier nachdrücklich davon gesprochen, daß, solange es eben nicht zur deutschen Wiedervereinigung kommt, auch unter den von ihm angegebenen Voraussetzungen, die Sozialdemokratische Partei sich in Gemeinschaft mit den freien Völkern darum bemühen muß, für dieses Deutschland, solange es gegen unseren Willen — die Entscheidung liegt doch gar nicht in erster Linie bei uns — gespalten ist, um Sicherheit besorgt zu sein.
— Na also, sagen Sie! Dann haben Sie eben gestern nicht zugehört, und dann holen Sie das bitte heute nach.
Nun noch ein Weiteres. Als Herr Kollege Gerstenmaier hier in seinen einleitenden Bemerkungen einige gute Grundsätze für die Gedanken entwikkelt hat, die ein Demokrat haben muß und haben sollte, wenn er an die sehr schwierigen Probleme einer militärischen Organisation herangeht, da habe ich doch ein wenig darüber nachdenken müssen, ob diese guten Gedanken allein auch wirklich ausreichen, wenn wir nicht in der Geburtsstunde einer möglichen Wehrverfassung dafür sorgen, daß diesen guten Gedanken nicht Versprechungen, sondern durch den Zwang dieses Hauses und seines Grundgesetzes auch entsprechende Taten folgen; darauf wird es ankommen.
Damit möchte ich mich der Vorlage selbst zuwenden. Es ist unbestritten — der Herr Berichterstatter hat es gesagt —, daß die Vorlage den einzigen Zweck hat — um einen Ausdruck zu gebrauchen, wie er in den Beratungen der Ausschüsse dieses Hauses in diesem Zusammenhang fiel —, die Verträge kugelfest gegenüber dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zu machen.
Ich erlaube mir, aus der 7. Sitzung des Rechtsausschusses am 19. Februar den Herrn Berichterstatter Dr. von Merk a t z zu zitieren — aber er hat das heute hier mit anderen Worten auch gesagt —:
Diese Regelung, wie sie jetzt hier vorgesehen ist, bleibt in weitem Feld unvollständig. Aber sie genügt nach meiner Ansicht, um die Inkraftsetzung der beiden Verträge zu ermöglichen. Ich möchte ganz offen sagen, daß das auch der politische Zweck ist, den wir verfolgen. Ich möchte von meinem Standpunkt als Berichterstatter aus sagen — ich glaube damit auch im Namen der Koalition zu sprechen —, daß wir dies unweigerlich politisch wollen, und zwar schnell.
Und damit war ein Stichwort gefallen, das für die ganze Behandlung dieser Materie in diesem Hause typisch geworden ist: es mußte schnell gehen.
Ich bin nicht Mitglied des Rechtsausschusses. Aber ich habe mir die Freiheit genommen, die Protokolle dieses Ausschusses zur Vorbereitung meiner heutigen Ausführungen sorgfältig durchzulesen. Ich muß sagen, es liest sich wie ein spannender Roman, wie dort Texte präsentiert werden als Vorlagen nicht der Regierung — obwohl doch auch die Regierung ein begreifliches Interesse an dieser Angelegenheit haben sollte, ihre eigenen Verträge abzusichern —,
sondern der Koalitionsparteien; wie dann aber weiter ein großer Teil dieser Texte plötzlich in der Schublade verschwindet; dann findet eine Mittagspause statt; nach der Mittagspause erscheint man mit einem völlig anderen Text wieder,
den der Herr Berichterstatter von sich aus produziert. So ist der Sicherheitsausschuß des Bundestags im Widerspruch zu seiner Aufgabe erst in die Beratung der Vorlagen eingetreten, nachdem der Rechtsausschuß als federführender Ausschuß Stellung genommen hatte, und erhielt plötzlich eine
völlig andere Fassung der Vorlage vom Rechtsausschuß und zwar wenige Minuten vor Beginn der Sitzung.
Aber die Krone, finde ich, hat dieser Art der Behandlung der Vorlagen doch heute der Herr Berichterstatter Dr. von Merkatz selbst aufgesetzt. Er hat zwar die Bitte ausgesprochen, nicht auf den Pianisten zu schießen und den Herrn Berichterstatter nicht in eine Polemik hineinzuziehen; aber ich muß doch sagen, er hat seiner Sache und der Sache einer ordentlichen Arbeit dieses Hauses mit der Methode, wie er Koalitionsabsprachen zum Gegenstand einer Ausschußberichterstattung gemacht hat, keinen guten Dienst erwiesen.
Natürlich ist gar nichts dagegen einzuwenden, daß die Koalition untereinander Absprachen trifft und sie in einer gewissen feierlichen Weise diesem Hause verkündet. Aber dann muß man die Funktionen trennen. Es gehört nicht zu den Aufgaben eines Ausschußberichterstatters, Proklamationen der Regierungskoalition zu verlesen.
In den Protokollen des Ausschusses stieß ich auf eine Abrede, die es dort gegeben hat, nämlich daß der Herr Berichterstatter — damit es keinen Mehrheits- und keinen Minderheitsbericht gäbe und nun hier der Streit der Wagen und Gesänge der Berichterstatter ausgefochten würde, sondern damit es einen einheitlichen Bericht geben sollte — die Meinungen der Minderheit jeweils mit zum Ausdruck bringen würde, was er auch getan hat. Damit das gesichert würde, hatte sich der Herr Berichterstatter bereit gefunden, seinen Berichtsentwurf dem Herrn Mitberichterstatter, dem Kollegen Dr. Arndt, vorzulegen. Gestern abend gab es ein solches Manuskript. In diesem ursprünglichen Manuskript des Herrn Kollegen von Merkatz über den Gang der Beratungen im Rechtsausschuß findet sich kein einziges Wort über die Drei-Punkte-Abrede der Koalition, die wir heute hier erfahren haben.
Ich darf vielleicht in diesem Zusammenhang die „Welt" von heute zitieren. Da heißt es:
Diese Absprachen zwischen den Koalitionsparteien sollen am Freitag durch den Berichterstatter des Rechtsausschusses protokollarisch festgelegt werden.
Ich möchte, meine Damen und Herren — und hoffentlich nicht nur für die Opposition, weil es hier gar nicht um diese Sache, sondern um die Verhinderung der Wiederkehr eines solchen ungewöhnlichen Verfahrens von Berichterstattung geht —, mit allem Nachdruck darum bitten, daß sich dieses Beispiel einer Art Berichterstattung nicht wiederholt. Darum möchte ich nachdrücklich gebeten haben.
Und nun zur Vorlage selbst! Was wir heute hier vorgetragen bekommen haben, war ein Gaumenfrühstück für Verfassungsrechtler. Aber dennoch geht diese Vorlage, die unser Grundgesetz verändern, erläutern, ausdeuten — welche Sprachregelung auch immer jeweils gerade gelten soll —, nicht nur die Verfassungsrechtler an, sondern das
ganze deutsche Volk und das Bewußtsein, das dieses Volk von der Würde seiner Verfassung haben muß.
Haben Sie wirklich den Eindruck, daß man so mit einer Verfassung umgehen kann, wie es in dieser Vorlage geschieht? Sie wählen eine Präambel, mit der Sie — ich will mich vorsichtig ausdrücken — mindestens den Anschein erwecken, als fingen Sie nun an, mit Zweidrittelmehrheit eines Parlaments den Grundsatz der Gewaltenteilung aufzuheben. Sie fangen an:
Zur Klarstellung von Zweifeln über die Auslegung des Grundgesetzes usw.
Nun, ich bin kein Jurist; aber ich finde in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 des Grundgesetzes gerade das unter den Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts aufgezählt, was hier von der Parlamentsmehrheit in Anspruch genommen wird, nämlich:
Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: über die Auslegung dieses Grundgesetzes . . .
Dann wird eine weitere Bestimmung des Grundgesetzes, die ich bisher jedenfalls in meinen staatsbürgerlichen Vorträgen vor jungen Menschen, immer als einen wesentlichen Eckpfeiler einer neuen, gesunden Demokratie betrachtet habe, von Ihnen mit einer Handbewegung abgeschafft.
— Nun gut, dann ist es eine Handbewegung einer Zweidrittelmehrheit, aber dennoch ist es eine!
In Art. 79 heißt es:
Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt.
Wenn Sie das nicht haben wollten, dann hätten Sie es im Parlamentarischen Rat gar nicht hereinschreiben dürfen.
Das ist ein Eckpfeiler des Grundgesetzes. Wenn das bei jeder Gelegenheit in Zweifel gezogen werden kann, dann ist diese Bestimmung völlig sinnlos; dann streichen Sie sie doch!
Nun, das Wesentliche an dieser Vorschrift ist, daß der deutsche Staatsbürger in einer Urkunde das geltende Verfassungsrecht beieinander hat. Das ist der Sinn der Bestimmung. Wo soll eigentlich künftig der junge oder auch der alte Deutsche finden, was in diesem Lande Verfassung ist?
— Nein, nicht mehr im Grundgesetz! Nach der Praxis, die Sie jetzt einführen, z. B. mit Art. 142 a, wonach auch Verträge mit ihren Zusatz- und Nebenabkommen der Verfassung nicht entgegenstehen, muß er dicke Bücher mit sich herumschleppen und nachschlagen, um zu wissen, was in Deutschland praktisch alles Verfassung ist.
Ja, nach dieser Bestimmung können künftig unter Umständen sogar Geheimabkommen, die zu diesen Verträgen vielleicht gehören, praktisch Teile der Verfassung werden.
Art. 79 Abs. 1 macht diese Methode der Verfassungsdurchbrechung bei Verträgen zur Regel; denn ich frage mich, welchem Vertrage man nicht das Etikett anhängen kann, daß er der Vorbereitung einer Friedensregelung diene oder der Verteidigung zu dienen bestimmt sei, nachdem uns hier vorhin klargemacht worden ist, wie weit der Begriff der Verteidigung heutzutage reicht.
— Meine Damen und Herren, das ist aber nun eine Frage des innerstaatlichen Verfassungsrechts, über die wir hier diskutieren, und keine Frage des Völkerrechts. Das ist für den Staatsbürger ein magerer Trost.
— Natürlich, Verträge mit fremden Staaten pflegen im Zweifelsfall immer völkerrechtliche Verträge zu sein.
In Wahrheit handelt es sich bei diesem Gesetz um ein Amnestiegesetz für jene Mehrheit des ersten Bundestages, die am 19. März 1953 in dritter Lesung Verträge beschlossen hat, bei denen Sie selbst offenbar nicht mehr ganz genau wissen, ob sie dem Grundgesetz entsprechen oder nicht.
Diese Vorlage ist gewissermaßen ein Nachhall des schlechten Gewissens von damals.
Am deutlichsten wird das aus der ursprünglichen Vorlage. Da haben Sie sogar hineingeschrieben — das ist jetzt gefallen; in der Sache ist das kein Unterschied; die Meinung ist die gleiche geblieben —, daß Art. 1 Nr. 4 und Nr. 9 mit Wirkung vom 1. März 1953 in Kraft treten sollen, damit man also ja noch feststellt, daß die Abstimmung am 19. März 1953 nicht unter der damals geltenden, sondern unter der jetzt interpretierten Verfassung stattgefunden habe, als ob man gewissermaßen einem Volke nachträglich bescheinigen könne, in welcher Verfassung es zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich gelebt habe.
Ursprünglich — und die Bundesregierung wie auch die Regierungsparteien vertreten ja heute noch diese Meinung — hat man behauptet, das Grundgesetz erlaube die Einführung einer Wehrverfassung und den Abschluß dieser Verträge. Jetzt plötzlich muß das Grundgesetz nun doch ergänzt, verdeutlicht, erläutert werden, wie sie wollen.
Das hat Ihnen die Sozialdemokratische Partei zu früheren Zeiten öfter gesagt, und wir begreifen nicht, mit welcher Hartnäckigkeit Sie sich früher dieser Notwendigkeit verschlossen haben.
Bei dem Artikel, der sich nicht auf die Verträge bezieht, nämlich bei Art. 73 Nr. 1 GG, wonach die auswärtigen Angelegenheiten sowie die Verteidigung einschließlich der Wehrpflicht für Männer vom vollendeten 18. Lebensjahre an und des Schutzes der Zivilbevölkerung nun Bundessache werden, handelt es sich trotzdem nicht — das ist auch heute hier gesagt worden — um eine Wehrverfassung; es handelt sich um ein Ermächtigungsgesetz für eine Wehrverfassung,
und das ist außerordentlich bedenklich. Die Sozialdemokratische Partei — und wer an den Ausschußberatungen teilgenommen hat, wird das nicht bestreiten können — hat sich zur Mitarbeit an einer wirklich demokratischen Wehrverfassung nicht nur für das vereinte Deutschland, sondern auch für die Bundesrepublik bereit gefunden.
Wir sind und bleiben allerdings der Meinung — und ich bin erfreut, daß wir darin völlig mit dem Kollegen Gerstenmaier übereinstimmen —, daß eigentlich jede Wehrverfassung ein Übel ist, wenn auch ein notwendiges. Wenn man schon an ein solches Übel herangeht — und wir gehören nun einmal nicht zu denen, die es zur höheren Würde der Menschheit zählen, daß man unbedingt bewaffnete Streitkräfte in allen Ländern unterhalten muß; es ist ein Zwang, der einem nicht von sich selbst, sondern von anderen auferlegt wird —,
wenn man also schon an dieses Problem herangeht, dann muß man das so vernünftig wie möglich und außerdem auch im richtigen Zeitpunkt tun.
Zum Zeitpunkt hat sich gestern in aller Deutlichkeit Herr Ollenhauer geäußert. Die Verabschiedung der Vorlage heute ist doch auch als eine politische Demonstration nach der Berliner VierMächte-Konferenz gedacht.
Ich muß Ihnen ganz offen sagen, daß Sie damit in Gegensatz geraten zu der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, der von dem vitalen Interesse Deutschlands sprach, daß der Ost-West-Konflikt entspannt werde.
Aber unabhängig davon: es handelt sich bei dieser Vorlage eben nicht um eine in ordentlicher, sachkundiger Beratung erarbeitete Wehrverfassung, sondern um einen Blankoscheck, den Sie in Wahrheit der einfachen Mehrheit dieses Hauses und damit praktisch einer einzigen Partei geben,
die Wehrverfassung nach ihren Vorstellungen auszugestalten.
Meine Damen und Herren, wer garantiert Ihnen denn, daß und wie der angekündigte zweite Akt auf die erste Hälfte der geteilten Walküre hier nun auch wirklich folgen wird? Bisher hat die Koalition den Standpunkt vertreten, daß überhaupt keine Ergänzung des Grundgesetzes nötig sei. Wer garantiert Ihnen, daß nicht mit dem gleichen Argument
auch in der Zukunft die wesentlichen Bestimmungen der Wehrordnung im Wege einfacher Gesetzgebung über die Bühne gehen und nicht, wie es heute hier angekündigt worden ist, tatsächlich die Form verfassungsändernder Gesetze finden, zumal die Bundesregierung schriftlich in ihrer Stellungnahme nach Karlsruhe hat mitteilen lassen, daß sie nach ihrer Rechtsauffassung durch den alten Text des Grundgesetzes in den Stand gesetzt werde, nicht nur die Verträge zu akzeptieren, sondern sogar eine Nationalarmee auch für die Bundesrepublik zu schaffen? Wenn man sich an diese Argumentation erinnert — Herr Staatssekretär Strauß hat sie im Rechtsausschuß ausdrücklich aufrechterhalten —, dann, muß ich doch sagen, bekommt man etwas Bange vor der Tragweite des Artikels, den Sie heute beschließen wollen. Meine Damen und Herren, Koalitionsabsprachen ersetzen keine Verfassung.
Wenn Sie die Sicherheit haben wollten, daß all das, was nun wirklich im Wege von Änderungen des Grundgesetzes, also praktisch mit Zweidrittelmehrheit geregelt werden soll, auch wirklich so geregelt wird, dann hätten Sie unserem Vorschlag folgen und eine entsprechende Sperrklausel für die Realisierung einer Wehrverfassung in die jetzige Vorlage mit hineinbauen müssen. Solange Sie das nicht tun, haben Sie keinerlei Sicherheit. Ich erinnere an die Erörterungen im ersten Deutschen Bundestag — die meisten Damen und Herren haben das hier erlebt — über die Zahl der Angehörigen des Bundesgrenzschutzes. Da ist uns dann auch an dieser Stelle einmal eine Interpretation nicht nur einer Abrede, sondern eines solchen Bundestagsbeschlusses entgegengehalten worden, die dann allen Ernstes Zweifel in die Haltbarkeit derartiger Abreden oder Beschlüsse hervorrufen mußte.
Meine Damen und Herren, eine Wehrverfassung können Sie gar nicht stückweise, die können Sie nur ganz oder gar nicht machen, womit ich mit „ganz" nicht meine, daß nun die Summe aller diese Materie regelnden Gesetze ausgefeilt vor Ihnen auf dem Tisch des Hauses liegen muß, sondern womit ich meine, daß die wesentlichen rechtsstaatlich-demokratischen Prinzipien einer solchen Ordnung ihren einheitlichen Niederschlag in der Verfassung unseres Staates finden müssen, und zwar in einem einheitlichen Akt.
Aber dafür hatten Sie wohl offenbar keine Zeit,
vielleicht doch ein ganz klein wenig mit dem Blick
nach Frankreich, den Sie uns so gern unterstellen.
Ich möchte aus der 7. Sitzung des Rechtsausschusses Ihnen einmal vorlesen, wieweit nach der Meinung der Bundesregierung diese Ermächtigung möglicherweise gehen kann. Dort hat Herr Staatssekretär Dr. Strauß ausgeführt:
Gerade die Beispiele, die Herr Kollege Arndt erwähnt hat, Leistungsgesetz, Bodenbeschaffung, Raumbeschaffung und alle diese Dinge, zeigen, daß man mit dem Begriff „Wehrverfassung" in der Abwehr gegenüber einem modernen Krieg nicht auskommt. Diese Dinge haben wir in der Vorbereitung zusammen mit den anderen Ressorts sehr sorgfältig erwogen. Wir brauchen einen weitergehenden Begriff, und da bietet sich als meines Erachtens einziger Begriff, der das aussagt, was mit ihm bezweckt ist, der Begriff der Verteidigung.
Herr Kollege von Merkatz hat das als Berichterstatter heute ausdrücklich aufgegriffen, als er davon sprach, daß dieser Artikel auf dem Gebiet der künftigen Gesetzgebung eben alles decke, was zur Verteidigung notwendig sei. Nun, was gehört alles dazu? Das ist ein weites Feld. Als das alte Deutsche Reich noch keine eigene Steuergesetzgebung hatte, da erschloß es sich neben den Matrikularbeiträgen der Länder im Jahre 1912 nur aus der Kompetenz der Verteidigung heraus den Wehrbeitrag, und so entstand das erste Reichssteuergesetz.
Ich möchte daran erinnern, welche Problematik allein auch die in der Wehrverfassung liegende Frage des Oberbefehls aufwirft. Der Oberbefehlshaber ist doch nicht nur der Mann, der nun Truppen kommandiert, sondern seine rechtliche Stellung und seine Befugnisse gehen in den verschiedenen Staaten außerordentlich weit auseinander. Ich will Ihnen nur an zwei Beispielen zeigen, wie selbst das mit langer demokratischer Tradition ausgestattete Land der Vereinigten Staaten von Amerika dem Präsidenten nicht als Regierungschef, sondern als Oberbefehlshaber sehr weitgehende Befugnisse zuerkannt hat. Die für uns alle außerordentlich schmerzlichen Abkommen von Teheran, Jalta und Potsdam sind von dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika nie seinem Parlament zur Ratifizierung vorgelegt worden, weil es sich nicht um Verträge der amerikanischen Regierung, sondern um Entscheidungen des Oberbefehlshabers der Streitkräfte der Vereinigten Staaten gehandelt hat.
Oder auch der berühmte Schießbefehl, bevor die Vereinigten Staaten in den Krieg eingetreten waren, gegen sichtbar werdende Unterseeboote, der die Vereinigten Staaten hart an den Rand des Krieges oder gar in den Krieg hinein hätte bringen können, ist vom Präsidenten in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte erlassen worden.
Ich will nur diese beiden Beispiele nennen — und unsere eigene Verfassungsgeschichte ist doch voll von dem, was für Macht sich in den Händen eines solchen Mannes befindet —, um zu zeigen, daß wir doch die Frage des Oberbefehls nicht offenlassen können. Dann regelt sie sich in Deutschland von selbst, aber sicher in schlechter Weise.
Die Freie Demokratische Partei wollte das Problem wenigstens angehen. Ich glaube nicht einmal, daß man es so einfach lösen kann, daß man einem einzigen Mann unter dem Stichwort „Oberbefehl" eine nicht näher aufgegliederte Fülle von Machtbefugnissen in die Hand gibt, sondern wir werden uns überlegen müssen, wie wir hier durch eine gewisse Macht- und Gewaltenverteilung den Bestand der deutschen Demokratie vor dem Überwuchern von militärischen Gewalten schützen müssen.
Sagen Sie mir bitte nicht, daß das nach den Vertragswerken ja unerheblich sei; denn der Oberbefehl — darüber habe ja gerade ich Ihnen seinerzeit einiges von dieser Stelle aus gesagt — liege doch bei dem Oberbefehlshaber der Nordatlantikpakt-Organisation! Nun, ob eine solche Machtfülle unbedingt bei einem Deutschen oder bei einem Ausländer konzentriert wird, Macht bleibt Macht. Aber unabhängig davon gibt es eine ganze Reihe selbst für den Fall des Inkrafttretens des EVG-Vertrags
national verbleibender Befugnisse, über die Sie sich Gedanken machen müssen, wenn Sie den Grundstein zu einer solchen Wehrverfassung legen. Und sei es nur die außerordentlich gefährliche Befugnis nach Art. 12 des Vertrags, für den Fall eines innerpolitischen Notstandes Kontingente der EVG
in Anspruch zu nehmen.
Die obersten Grundsätze des Wehrrechtes, der Wehrorganisation, der Organe, die für diese Dinge geschaffen werden müssen, und ihrer Kompetenz, z. B. das Recht zur Ernennung der Offiziere, gehören in das Grundgesetz hinein. Ich sage bewußt nur „die obersten Grundsätze", die leitenden Prinzipien. Sie können sich hier nach all den bösen Erfahrungen, die wir doch nun einmal mit Ermächtigungsgesetzen gemacht haben, nicht mit einer einfachen Ermächtigung bescheiden.
Dann, meine Damen und Herren, die Stellung des Parlaments! Sie ist doch Ihre Sorge wie die unsrige. Eine wirksame Kontrolle der bewaffneten Macht, und zwar gerade auch der Befehlshaber dieser bewaffneten Macht, durch dieses Parlament muß institutionell verankert sein.
Das können Sie nicht einer einfachen Parlamentsmehrheit überlassen; denn Sie wissen ja nicht, wie diese eines Tages einmal wechselt, um das auch einmal in aller Offenheit auszusprechen.
Wer weiß denn, in welche Zeit dieses deutsche Volk einmal hineingeht!
— Sie brauchen gar nicht so bedrückt zu sein, Kollege Hilbert. Damit habe ich nicht unbedingt gesagt, daß unsere Reihen einmal bis auf Ihren Platz reichen; es kann sich noch einmal etwas ganz anderes in Deutschland abspielen. Wer weiß das heute?
Deshalb sollten wir gleich als ersten Schritt einem wirksamen Parlamentsausschuß die Aufgaben einer effektiven Kontrolle, einer Überwachung der militärischen Gewalten geben.
Gerade wenn Sie den Grundstein legen, müssen Sie das tun, so wie das z. B. der amerikanische Senat mit seinem Ausschuß getan hat, der sich in wirksamer Weise als Kontrollorgan des Parlaments gegenüber den bewaffneten Streitkräften bewährt hat. Sie müßten diesem Ausschuß den Rang eines eigenen Verfassungsorgans geben, wie etwa der Auswärtige Ausschuß im alten Reichstag es war, der kraft eigenen Rechts und nicht nur aus der Geschäftsordnung des Parlaments heraus notfalls handeln und beschließen konnte.
Sie müssen sich Gedanken machen, wie das viele andere Verfassungen tun, über die Stellung, die etwa der Verteidigungsminister hat, nachdem wir doch bei uns ein Kabinett haben, dessen einzelne
Mitglieder Ihnen ja gar nicht verantwortlich sind, sondern in der Praxis doch nur der Kanzler selbst, der auch nahezu unstürzbar gemacht worden ist.
Infolgedessen müssen Sie dafür sorgen, daß der Verteidigungsminister eine Sonderstellung diesem Ihrem Hause gegenüber bekommt, damit er in der Eigenschaft als der für die Streitkräfte verantwortliche Mann Ihnen unmittelbar Rede und Antwort stehen muß.
Ich habe das hier nur als Gedanken geäußert und nicht als fertige Gesetzesvorlage. Warum? Weil wir nicht den Ernst notwendiger Ausschußberatungen angesichts der Eile, die Sie mit dieser Vorlage hier bewiesen haben, durch eine Beratung in der zweiten Lesung dieses Hauses ersetzen können! Das ist ein unmögliches Verfahren. Deshalb muß ich mich darauf beschränken, nur anzudeuten, was alles wirklich fehlt, um auch nur den ersten vernünftigen Grundstein für eine Wehrverfassung zu legen, um des Schutzes der parlamentarischen Demokratie willen, die wir doch alle miteinander schützen und bewahren wollen.
Und dann geht es um den Schutz des Soldaten, also dessen. der einmal in den Streitkräften dienen wird. Hier kommt es nicht darauf an, daß Sie ihm schöne Deklamationen bescheren — davon hat er nichts —, sondern hier müssen wir auch von Anfang an Sicherungen in d a s Gesetz einbauen, das nun einmal die Freiheits- und Menschenrechte des Staatsbürgers zu schützen berufen ist, nämlich in unser Grundgesetz. Sie haben ja jetzt einen Artikel, wie es so schön heißt, ausgeklammert. Aber auch die ausgeklammerte Fassung macht doch immerhin die Absichten deutlich. In dem ursprünglichen Art. 32 a hieß es:
Soweit es zur Erfüllung der Verteidigungsaufgaben zwingend geboten ist, kann durch Bundesgesetz ferner bestimmt werden, daß für Angehörige der Streitkräfte einzelne Grundrechte einzuschränken sind.
Das ist wieder ein Blankoscheck. Welche Grundrechte? Wie weit? „Soweit zur Erfüllung der Verteidigungsaufgaben zwingend geboten"! Das ist Gummi, meine Damen und Herren!
— Nein, jetzt ist es nicht in der Vorlage; aber die Absichten ergeben sich doch aus dem noch anhängigen Text!
Und es ist um so schlimmer, weil Sie nach der jetzigen Ermächtigung offenbar beabsichtigen, diese Dinge möglicherweise durch einfaches Gesetz zu präsentieren.
— Daß Sie mit der Einschränkung der Grundrechte sowieso vor dieses Haus treten müssen, weil es gar nicht anders geht, ist offensichtlich; das gebe ich Ihnen zu.
Aber heute schon lege ich Verwahrung ein gegen die Idee, in dieser allgemeinen Weise Grundrechte einschränken zu wollen, ohne sie zu bezeichnen und ohne zu sagen, wie weit.
— Sie haben es doch in Ihrer Vorlage gehabt, und, Herr Kollege Schütz, meines Wissens haben Sie selber die Vorlage, die jetzt im Ausschuß anhängig ist, mit eingebracht. Wir waren uns darüber einig, daß es sich hier um die Generalaussprache zu diesen Problemen handelt. Da müssen Sie mir doch gestatten, daß ich zu den von der CDU eingebrachten Gedanken hier einiges sage! Seit wann gibt es denn das nicht in diesem Hause?
Es handelt sich dabei weiter um das Problem der staatsbürgerlichen Rechte, nicht nur um das der Grundrechte im engeren Sinne. Und da will ich Ihnen sagen, daß ich der Meinung bin, wir sollten dem schwedischen Beispiel folgen und sollten gleichfalls verfassungsrechtlich verankern, daß dieses Parlament zum Schutze der „Staatsbürger in Uniform" einen Beauftragten schafft, der neben dem rein militärischen Zuständigkeitswege angerufen werden kann,
um dafür zu sorgen, daß unsere Gedanken durchgesetzt werden.
Und noch ein Letztes zu einem Thema, das gleichfalls mit institutionell geregelt werden müßte. Für den Geist einer Truppe wird die Auswahl derer entscheidend sein, die man als erste beruft, um die Truppe zu bilden, wird es wichtig sein, welche Richtlinien für die Annahme anderer Berufssoldaten erlassen werden. Es wird also darauf ankommen, daß ein Personalausschuß mit bestimmt abgegrenzten Befugnissen nicht bloß durch eine Weisung der Regierung oder durch ein einfaches Gesetz entsteht, sondern auf eine Weise verankert wird, daß er nicht mit einer einfachen Mehrheit wieder abgeschafft werden kann.
Nur so erreichen Sie doch, daß eine künftige Truppe keine Partei- oder Koalitionstruppe wird, sondern daß wirklich auch das leitende Personal so ausgewählt wird, daß es außer seiner fachlichen auch charakterliche Eignung und unbedingte Zuverlässigkeit und Treue zum demokratischen Staatsgedanken beweist.
Meine Damen und Herren! All diese Probleme sollten im Ausschuß nicht beraten werden, weil man jetzt diesen Torso als erste Rate der ganzen Vorlage an das Plenum bringen wollte. Übriggeblieben ist ein Ermächtigungsgesetz, und nicht einmal ein gutes. Der Text, wenn man ihn so liest, ist auch noch mißverständlich und nicht gerade schön. Das wurde uns im Sicherheitsausschuß des Bundestages zugegeben. Und trotzdem hat man sich geweigert, auch nur redaktionelle Änderungen noch vorzunehmen, denn die Mehrheit habe sich nun einmal auf diesen Text festgelegt.
Meine Damen und Herren, so geht man nicht mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland um, auch wenn sie — hoffentlich — nur ein vorübergehendes und ein vergängliches Staatswesen ist, aber doch immerhin der Durchgang zu einem wiedervereinigten deutschen Staat.
Diese Entscheidung geht unser ganzes Volk an. Sie rührt an den Bestand der demokratischen Grundprinzipien und an die Rechte der Bürger unseres Staates. Solche Entscheidungen muß man sorgsam beraten, sonst, verehrter Kollege Dehler, begeht man wirklich das, was Sie gestern uns vorgeworfen haben: sonst fehlt man an der Verpflichtung vor unserem Volke.
Sie haben sich wieder einmal unter einen von Ihnen selbst geschaffenen Zeitdruck gesetzt. Da es sich gar nicht um eine Wehrverfassung handelt, sondern um das Kugelfestmachen der Verträge und um ein Ermächtigungsgesetz, das wir für gefährlich für die weitere demokratische Entwicklung halten, werden Sie — Sie haben nichts anderes erwartet — bei dieser Vorlage auf unsere Ablehnung stoßen.
Aber ich will weiter gehen. Unser Nein zu dieser Mißgeburt
schließt ein Ja zur Gestaltung einer vernünftigen, demokratischen Wehrverfassung ein.
Sicher ist auch das ein notwendiges Übel. Das Übel wäre um vieles geringer, wenn wir sie für das wiedervereinigte Deutschland schaffen könnten und nicht nur für die Bundesrepublik allein. Aber ich sagte Ihnen schon, die Entscheidung über die deutsche Wiedervereinigung liegt nicht nur bei uns. Auch für die Bundesrepublik werden wir in dieser Richtung unsere Überlegungen anstellen müssen.
Die außenpolitischen Voraussetzungen für das tatsächliche Wirksamwerden einer Wehrverfassung hat gestern mein Kollege Ollenhauer in den drei wesentlichen Punkten — Kündbarkeitsklausel, Gleichberechtigung und Sicherheit — hier vor Ihnen aufgezeichnet. Solange die nicht erfüllt sind, werden Sie uns nicht dazu gewinnen können, Verträgen unsere Zustimmung zu geben, die diesen Voraussetzungen nicht entsprechen. Außerdem ist über die Verträge in diesem Hause entschieden.
Aber ich will Ihnen ganz offen sagen: die 8 Millionen sozialdemokratischen Wähler haben uns doch nicht dazu beauftragt, von der Tribüne dieses Hauses die Politik der Regierungskoalition zu vertreten. Das können Sie nicht erwarten.
Diese 8 Millionen haben uns ihr Vertrauen gegeben, sie haben sich zu unseren Vorstellungen bekannt.
— Eben, das bestreite ich auch gar nicht, daß Sie
die Mehrheit in diesem Hause haben. Aber Sie
müssen sich dann immer noch überlegen, daß die Mehrheit nie entscheiden kann, wer recht hat, sondern nur entscheiden kann, wem sie recht gibt. Über das, was recht ist, gibt es keine Mehrheitsbeschlüsse!
Eine demokratische Opposition wird die Beschlüsse der gewählten Mehrheit des Parlaments selbstverständlich loyal hinnehmen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Wenn Sie einmal auf den Bänken der Opposition sitzen werden, hoffe ich die gleiche Bereitschaft bei Ihnen zu finden!
Aber vergessen wir darüber doch eines nicht! Wir alle, Sie und wir
— das ist gar kein Anlaß zur Heiterkeit — haben nämlich einen gemeinsamen Auftrag bekommen: den Auftrag, uns ernhaft zu bemühen, in Lebensfragen der Nation zu einer gemeinsamen Haltung zu kommen.
Diese Gemeinsamkeit besteht aber nicht darin, daß man selber eine Politik mit mitunter sehr einsamen Beschlüssen treibt und dann der Minderheit sagt: „Schließt euch hinten an!", sondern diese Gemeinsamkeit besteht darin, daß man von Anfang an — bevor Entscheidungen gefallen sind — si ch um die gemeinsame Linie bemüht, und zwar ernsthaft!
Ich meine nun zu diesem konkreten Thema, daß unabhängig von den Verträgen eine Wehrverfassung ein gemeinsames Werk sein sollte
— ja, dann müssen Sie sich bei der Grundsteinlegung aber auch entsprechend benehmen, Kollege Schütz —,
schon aus einem sehr einfachen Grunde: um den unheilvollsten Gegensatz der jüngeren deutschen Geschichte, den Gegensatz zwischen Arbeitern und bewaffneter Macht, in unserem Land einmal auszuräumen.
Dieses Verhängnis soll und darf sich nicht noch einmal wiederholen.
Wenn Sie das wollen, meine Damen und Herren, dann sei Ihnen klar, daß Mehrheit und Regierungsverantwortung verpflichten, sich auch und gerade um Gemeinsamkeit in diesem Sinne zu bemühen. Ob es zu dieser Gemeinsamkeit kommt, das hängt nicht von Ihren Worten ab, sondern von Ihren Taten.
Meine Damen und Herren, in seiner Eigenschaft als Berichterstatter hat das Wort Herr Abgeordneter Dr. von Merkatz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Sprecher der Opposition hat gegen den Berichterstatter den persönlichen Vorwurf erhoben, er habe seine Kompetenzen als Berichterstatter dadurch überschritten, daß er zu seinem Bericht Zusätze gemacht habe, die in den Ausschußverhandlungen nicht zutage getreten seien. Er habe ferner dem Mitberichterstatter ein unvollständiges Manuskript gestern abend überreicht.
Meine Damen und Herren, ich möchte m i t aller Schärfe
diesen Vorwurf zurückweisen.
— Sagen Sie einmal: kann man sich hier in diesem Hause, wenn man persönlich angegriffen und beleidigt wird — denn das ist im Grunde genommen eine Beleidigung —, nicht mehr aussprechen und zur Wehr setzen? Sind Sie schon so weit, daß Sie hier schon ein Ermächtigungsgesetz zu Ihren Gunsten machen?
Ich habe dazu festzustellen, daß die Ergänzung meiner Ausführungen
— oh nein! — zur Klarstellung des Willens der Mehrheit notwendig gewesen ist. Dazu bin ich berechtigt. Im übrigen habe ich dem Herrn Kollegen Arndt, wie wir vereinbart hatten, das Manuskript vorher gegeben, damit er in der Lage war, die Meinung der Minderheit, die ich — getreulich, so wie sie gewesen ist — zum Ausdruck bringen wollte, nachzukontrollieren und zu prüfen, ob die von ihm vertretene Meinung der Minderheit im großen und ganzen getreulich zum Ausdruck gekommen war. Ich lehne es aber ab, daß an der Formulierung der Meinung der Mehrheit gewissermaßen von der Minderheit eine Zensur ausgeübt wird. Denn das wird hier verlangt.
Ich war also frei, die Meinung der Mehrheit so darzustellen, wie ich es für erforderlich hielt, und habe damit meine Kompetenzen als Berichterstatter nicht überschritten. Ich wende mich gegen den versteckten Vorwurf, als hätte ich dem Mitberichterstatter, Herrn Kollegen Arndt, nicht das gegeben, was zu seiner Stellungnahme notwendig war.
Ich nehme an, Herr Abgeordneter Dr. Arndt, daß Sie zu diesem Punkt etwas sagen wollen. Darf ich bitten!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Erregung und der Widerspruch
des Herrn Kollegen von Merkatz sind nicht berechtigt. Herr von Merkatz, Sie haben mir ein Manuskript übermittelt, das nichts von dem enthält, was Sie heute morgen hier als Koalitionsabrede vorgetragen haben;
und ein Berichterstatter ist nicht befugt, Koalitionsabreden, die in der Nacht vor der Plenarsitzung getroffen werden, zum Gegenstand seines Berichts zu machen.
Ich möchte ausdrücklich klarstellen, daß niemand Ihnen unterstellt, Sie hätten mir gestern abend absichtlich einen Bericht übermittelt, der nicht vollständig gewesen sei. Denn Sie selber konnten ja gestern abend noch nicht wissen, was heute nacht von der Koalition beschlossen würde.
Aber heute durften Sie die Koalitionsabreden nicht zum Gegenstand Ihres Berichts machen.
Nun noch eins! In den soeben gesprochenen Worten des Herrn von Merkatz ist angeklungen, als ob es einen Berichterstatter der Mehrheit und einen der Minderheit gebe und der der Minderheit auch minderen Rechts sei und nur zu prüfen habe, ob die Auffassungen der Minderheit richtig wiedergegeben sind. Der Berichterstatter ist parteilos und ist Berichterstatter des ganzen Hauses.
Beide Berichterstatter haben dafür zu sorgen, daß
die Auffassungen sowohl der Mehrheit als auch
der Minderheit zutreffend wiedergegeben werden.
Meine Damen und Herren, darf ich Ihnen vorschlagen, daß wir diese Debatte abschließen. Ich glaube, daß zur sachlichen Klärung von beiden Seiten das Nötige gesagt ist und das Haus sich seine Meinung im einzelnen bildet.
Dürfen wir in der Aussprache fortfahren? — Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Becker.
Meine Damen und Herren! Diese Debatte über die Bestimmungen der Bundeshoheit in Wehrfragen hat gestern und heute mit einem ganz gewaltigen Kanonendonner begonnen, mit einem Kanonendonner, der von der Rückzugskanonade herrührt, die die SPD auf außenpolitischem Gebiet begonnen hat.
Gegenüber derartigen Rückzügen und Rückzugskanonaden
gibt es zwei Möglichkeiten des Verhaltens. Die rein
militärische würde darin bestehen, nachzustoßen.
Die politische ist anders: Lassen wir die Dinge sich entwickeln, warten wir ab, bis sich der Pulverdampf dieser Rückzugskanonade verzogen hat.
Dann nämlich stellen wir folgendes fest.
Wir haben aus den Reden von gestern und heute feststellen können,
daß erstens die SPD bereit ist, in puncto Sicherheit alles zu tun, nur im Rahmen der Vereinten Nationen oder, wie sie es ausgedrückt hat, im Rahmen einer kollektive Sicherheit gewährleistenden Vereinigung.
— Auch?
Unter dieser kollektiven Gemeinschaft sehen Sie die Vereinten Nationen. Aber übersehen Sie doch bitte nicht, daß über der Tür, die in die Vereinten Nationen hineinführt, die Überschrift steht: Zutritt für Deutsche verboten!
Wenn Sie also die Sicherheit irgendwie gewährleisten müssen, dann wollen wir uns umsehen, ob es nicht einen anderen Rahmen kollektiver Sicherheit gibt. Den sehe ich vorläufig, wenn auch in kleinem Rahmen, in der EVG, in der europäischen Gemeinschaft.
Wenn Sie also schon auf dem Wege zu dieser Entwicklung sind, bitte, bedienen Sie sich doch dann zunächst einmal dieses Nahzieles und steuern Sie es an.
Zum zweiten haben Sie zum Ausdruck gebracht — ich begrüße es, daß Herr Kollege Erler das gesagt hat —, Sie seien durchaus bereit, an der Wehrverfassung mitzuarbeiten, mit anderen Worten: Sie stellten sich auch auf den Standpunkt, daß Deutschland eine derartige Verfassung haben muß. Wir freuen uns darüber, auch wenn wir nicht jetzt schon die Erwartung haben, daß ein Vertreter der SPD, wie Herr Kollege Erler meinte, von dieser Tribüne aus die Politik der Bundesregierung verteidigt.
Kommen wir zum Thema! Im Jahre 1950, als im Anschluß an Korea zum ersten Male die Frage der europäischen Verteidigung auftauchte, haben wir in Straßburg im Europarat eine große Debatte darüber gehabt. Im Rahmen dieser Debatte habe ich, an unsere französischen Nachbarn gewandt — ich hatte das Glück, daß zwei Plätze von mir, in alphabetischer Reihenfolge, Herr Bidault saß —, folgendes gesagt. Es gibt drei Möglichkeiten der Verteidigung für Europa. Die eine Möglichkeit ist, daß dieses Deutschland völlig unbewaffnet bleibt. Konsequenz: Wir Deutschen gehen kaputt und Frankreich mit.
Die zweite Möglichkeit ist die, daß sich jeder Staat seine nationale Wehrmacht von früher wieder zuschneidern läßt. Das kann kein Staat mehr finanziell tragen — gemeinsam trägt sich das in vereinfachter Form leichter —, und es führt wieder zu den
alten Streitigkeiten und Differenzen, auf die der Osten ja nur spekuliert, um sich ohne heißen Krieg in den Besitz dessen zu setzen, was er noch braucht, um den Marsch von Moskau nach Paris zu Ende zu führen.
Die dritte Möglichkeit ist die gemeinsame europäische Verteidigungsarmee. Auf dem Wege zu ihr sind wir, und um diese Verteidigungsarmee mit den Bestimmungen unseres Grundgesetzes in Einklang zu bringen, deshalb heute die Vorlage und deshalb heute diese Debatte.
Herr Kollege Gerstenmaier hat Ausführungen gemacht, denen ich mich im Grundsätzlichen anschließen kann. Lassen Sie mich das, was hierzu zu sagen ist, in den einen Satz zusammenfassen, der schon einmal an anderer Stelle, im Parlamentarischen Rat. gesprochen worden ist, in den Satz, daß die allgemeine Wehrpflicht das legitime Kind der Demokratie ist. Der Satz ist zutreffend. Ich glaube, er wird vom ganzen Hause anerkannt, und ich nehme an, daß Herr Kollege Erler sich bei seiner Erklärung, daß auch seine Freunde bereit seien, an der Wehrverfassung mitzuarbeiten, auf diesen Satz gestützt haben wird. Ich darf aber auch hinzufügen. damit kein Mißverständnis entsteht, daß Art. 26 unseres Grundgesetzes ausdrücklich vorsieht, daß eine Wehrmacht lediglich — und das sage ich für alle die. die es hören wollen und sollen — zu Verteidigungszwecken geschaffen werden kann und darf.
Die FDP hatte für diese Wehrverfassung drei besondere Wünsche. Ich werde sie im einzelnen durchgehen, nicht von der juristischen Seite her, sondern von dem her, was politisch dazu zu sagen ist. Der eine betraf die landsmannschaftlichen Vorbehalte, die in der ursprünglichen Vorlage enthalten waren und die jetzt noch im Ausschuß verblieben sind. Sie wissen genau, welche Bedenken da anzumelden waren. Wir haben im einzelnen über diese Dinge in privaten Aussprachen maßgeblicher Persönlichkeiten verhandelt. Es handelt sich nicht darum, daß jedes Land in Deutschland eine eigene Verteidigungsorganisation aufbaut. Es handelt sich nicht darum. daß Landeskommandanten geschaffen werden. Wohl aber handelt es sich darum, daß in Durchführung des an sich nun einmal im Grundgesetz festgelegten föderalistischen Grundsatzes und entsprechend der bisherigen Übung, auch entsprechend den praktischen Erfordernissen z. B. im Meldewesen, in der Garnisonierung. in der Frage der Einziehung zu dieser oder jener Truppengattung. allen diesen Bedürfnissen Rechnung getragen wird. auch hinsichtlich der Aufstellung von Verbindungsstäben und Verbindungsstellen. Darüber wollen wir uns — und deshalb ist diese Frage zurückgestellt — in aller Ruhe im Ausschuß unterhalten. An Hand konkreter Maßnahmen läßt sich das alles klar festlegen, und Sie haben gehört, daß unsere Vereinbarung. unser Kompromiß. das fair ausgehandelt ist, dahin geht, daß diese Dinge in einer verfassungsmäßigen Form, d. h. als Teil des Grundgesetzes, erledigt werden sollen.
Die Frage der Bundesverwaltung auf dem Gebiete des Wehrwesens ist ebenfalls in dem Kompromiß, von dem ich eben sprach, geregelt. Wir haben die Zusage, daß es nicht nur selbstverständlich und natürlich sei, sondern daß es auch gewollt sei, eine derartige Verwaltung des Wehrwesens
neben der Gesetzgebung, d. h. beides, dem Bund zu überlassen. Auch das wird im Rahmen des Grundgesetzes geregelt, also auch mit den Modalitäten, die für Verfassungsänderungen vorgeschrieben sind.
Auch einige Worte zu der dritten Frage, der Frage des Oberbefehls. Wenn dieser Antrag gestellt worden ist, dann ist er so gestellt worden, als wenn wir heute noch in einem Parlamentarischen Rat wären. Er hat also keinen Bezug auf irgendwelche bestimmte Persönlichkeiten, sondern nur auf Institutionen. Und weiterhin: eine der treibenden Kräfte für diesen Antrag war eine Sorge, der auch der Kollege Erler Ausdruck gegeben hat, nämlich die Sorge, daß wir dem deutschen Soldaten das Gefühl geben wollten, daß er unter einer von parteipolitischen Erwägungen und Einflüssen völlig freien, neutralen Stelle seinen Dienst versieht. Dieser psychologische Eindruck war uns eines der wesentlichsten Motive bei Stellung dieses Antrages.
Dazu haben wir inzwischen auch noch einiges andere überlegt. Ich teile die Auffassung des Herrn Kollegen Erler, daß bei der Regelung des Oberbefehls die Frage mit zu lösen ist, inwieweit vom Parlament aus Kontrollen einzubauen sind. Gerade weil diese Frage im Zusammenhang mit der Frage des Oberbefehls mit zu regeln ist, haben wir uns in unserem Kompromiß ausbedungen, daß sie nur als Teil des Grundgesetzes — nicht sonst — geregelt werden darf und daß sie auch nur geregelt werden darf unter den Modalitäten, nach denen eine Grundgesetzänderung zu erfolgen hat.
Herr Kollege Erler, Sie sprachen dann noch von Ermächtigungsgesetzen. Ich glaube, wir wissen alle, was in Wirklichkeit ein Ermächtigungsgesetz ist.
Ein Ermächtigungsgesetz ist eine gesetzliche Regelung, die dahin geht, daß die Exekutive Bestimmungen treffen darf, die sonst nur die Legislative im Wege des ordentlichen Gesetzgebungsganges bringen darf.
Von einem derartigen Ermächtigungsgesetz ist hier keine Rede.
Lesen Sie das Grundgesetz nach, und Sie werden finden, daß an vielen Stellen des Grundgesetzes gesagt ist: Das Nähere bestimmt ein Gesetz.
Oder versetzen Sie sich in die Zeit der Weimarer Verfassung zurück, wo ja nun auch, getragen von Ihren Stimmen , die Frage des Oberbefehls, die Frage der Bundesverwaltung, die Frage der Bundesgesetzgebung für diesen und jenen Zweck, auch für Militärzwecke, geregelt war. Dann werden Sie finden, daß das Wehrgesetz, das dann später erlassen worden ist, nicht durch die Verfassung vorweggenommen war, sondern daß dieses Wehrgesetz im ordentlichen Gesetzgebungsgang entstanden ist.
Also ein Ermächtigungsgesetz liegt nicht vor. Sonst wäre jeder Rahmen, der in der Verfassung für eine Zuständigkeit abgesteckt ist, ein Ermächtigungsgesetz; und das ist er nicht.
Im übrigen aber, Herr Kollege Erler, wenn all die Einzelheiten, die Sie aufgeführt haben und die zweifellos auf dem Wege der ordentlichen Gesetzgebung im Wehrgesetz zu regeln sind, Ihrer Auffassung nach schon im Grundgesetz stehen müßten, — ich weiß nicht, wie lang, wie dick und wie umfangreich ein solches Grundgesetz dann werden soll; denn dann müßte der von Ihnen proklamierte Grundsatz nicht nur für die Wehrverfassung, dann müßte er für alle möglichen anderen Fragen ebenso gelten.
Meine Damen und Herren, Sie wissen, wir haben uns in unserer Fraktion sehr viele Gedanken über die Rechtsfragen, von denen ich heute nicht spreche, und über die politischen Fragen gemacht. Wir sind im Wege einer vertrauensvollen Aussprache mit den anderen Koalitionsparteien zu einem Kompromiß gekommen, das unsere Bedenken dahin gelöst hat, daß die strittigen Fragen im späteren Zuge der Gesetzgebung anschließend hieran in den von mir und von dem Herrn Berichterstatter vorgetragenen Formen der Verfassungsänderung erledigt werden sollen. Ich möchte bei dieser Gelegenheit dem Herrn Berichterstatter — es ist bisher noch nicht geschehen — für den Bericht, den er hier vorgetragen hat, ausdrücklich danken.
Ich hebe hervor - Herr Kollege Erler setzte Zweifel darein, ob derartige Absprachen gehalten würden —: Herr Kollege Erler, ich bin in meinen jungen Jahren Hauptberichterstatter im Kurhessischen Kommunallandtag gewesen und habe dort als Vertreter der Rechten mit dem Vertreter der Linken, mit Ihrer Partei, auch sehr vertrauensvolle Absprachen getroffen, ohne sie in irgendein Gesetz oder eine Verfassung hineingeschrieben zu haben. Sie sind gehalten worden. Vertrauen gegen Vertrauen! Und das gilt auch heute und hier!
Neulich sprach mal ein Journalist mit mir und sagte: Es wäre doch eigentlich gut. daß wir die FDP hätten;
denn bei den anderen Parteien hörte man eigentlich gar nichts. Die FDP gäbe doch wenigstens ab und zu mal Stoff zu Berichten.
Wir haben es getan, und ich glaube, die Herren der Presse sind uns keinesfalls undankbar deswegen Ich habe dem Herrn darauf gesagt: Das eignet sich eigentlich für ein Gegenseitigkeitsgeschäft; wir sorgen dafür, daß Sie nicht arbeitslos werden, und Sie sorgen dann dafür, daß uns damit gewissermaßen Lebensversicherungsprämien bezahlt werden.
— Nachher, gerne!
Nun noch einen Blick nach außen, und zwar zu unseren französischen Nachbarn. Wir hören immer wieder die Zweifel, die uns gegenüber als Deutschen geäußert werden. Lassen Sie mich nicht alles das wieder die Zweifel, die uns als Deutschen gegenüber
büne hiergegen gesagt worden ist. Lassen Sie mich nur einen Gesichtspunkt noch hervorheben. Als 1879 der Fürst Bismarck auf dem Berliner Kongreß seine Vermittlerolle zur Erhaltung des europäischen Friedens gespielt hatte, hatte er es damit mit Rußland verdorben, so daß die frühere Verbindung Preußen-Rußland, die von 1815 ab gedauert hatte, zerrissen war. Nach dem Westen ließ sich damals kein Band knüpfen. Er mußte eine Mittelstellung in Europa ausbauen, und er tat dies in der Form des Dreibundes.
Seine Nachfolger wollten die Politik einer bewaffneten Mittelstellung weiterführen, und das Ergebnis war der Krieg von 1914 bis 1918 und sein Ende. Dann hat trotz aller dieser Erfahrungen Hitler noch einmal dasselbe Experiment gemacht, und das Ende war unser Zusammenbruch und unsere Vernichtung. Es gibt in diesem Europa, an dieser Stelle, wo Deutschland liegt — eine Stelle, die zugleich gefahrvoll für uns, aber politisch entscheidend ist -, keine selbständige Politik mehr ohne Anlehnung an die eine oder andere Seite. Daß keine Anlehnung nach dem Osten hin möglich ist, ist klar. Übrigbleibt nur die Anlehnung an den Westen. Ich glaube, die Entwicklung auch der Auffassung der SPD dahin zu verstehen, daß sie ebenfalls zu dieser Überzeugung kommen wird. Es würde mich freuen. Wir haben alle aus diesen Erfahrungen gelernt und werden diese bitteren Erfahrungen, die wir gemacht haben, nie vergessen.
Dann noch ein Zweites! Im Verteidigungsausschuß der französischen Nationalversammlung ist die Frage aufgeworfen worden, was eigentlich die Deutschen jetzt an ihrem Grundgesetz änderten und wozu. Das müsse einmal gründlich untersucht werden. — Wenn im 19. Jahrhundert, im Zeitalter eines Übernationalismus, derartige Fragen aufgeklungen wären, hätte es bestimmt eine große Pressefehde gegeben. Ich antworte statt dessen — und ich glaube, meine Damen und Herren, in Ihrer aller Namen zu sprechen — mit folgendem. Ich bitte hiermit die französischen Kollegen, nach Bonn zu kommen. Wir werden ihnen in der fairsten, in der loyalsten und in der weitestgehenden Weise hier an Ort und Stelle Auskunft geben, warum das geschieht, warum wir das alles nach unserer Unterschrift unter den EVG-Vertrag nötig haben. Dann, möchte ich hoffen und wünschen, müßten sich Zweifel und Mißverständisse beseitigen lassen. Ich hoffe, Sie stimmen mit mir überein, wenn ich sage: die Herren mögen, wenn sie untersuchen wollen, kommen; sie sollen uns zur Aufklärung willkommen sein.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Czermak.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Fraktion des Gesamtdeutschen Blocks/BHE sagt zur vorliegenden Fassung des Antrags des Rechtsausschußberichtes ein klares, deutliches, einheitliches Ja.
Jedes Bekenntnis zum Gedanken einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft, zum freien demokratischen Westen, zur abendländischen Kultur, ist eine Frage der Gesinnung, der innersten Überzeugung und verlangt daher auch in entscheidender Stunde eine offene und klare Entscheidung aller, die gleichen Sinnes sind.
Wir sind uns dabei auch gleichfalls voll bewußt, daß es sich heute nur um den er st en Bericht handelt, wie der Herr Berichterstatter von Merkatz ausdrücklich festgestellt hat, um die Entscheidung der zwei vordringlichsten Fragen, einmal die verfassungsrechtliche Klarstellung, die Verfassungsverdeutlichung, eine authentische Interpretation der Wehrhoheit des Bundes durch den Gesetzgeber, die verfassungsmäßig zweifellos zulässig ist, und zum andern die endgültige Zustimmung und Verwirklichung der Verträge von Bonn und Paris. Alle weiteren Fragen, auf die ich hier nicht näher eingehen will, bleiben anhängig und müssen zur rechten Zeit nach Recht und Gesetz verhandelt und entschieden werden.
Wir stimmen zunächst der verfassungsrechtlichen Feststellung der Wehrhoheit des Bundes im Art. 73 Abs. 1 zu mit einer Wehrpflicht nur für wehrfähige Männer über 18 Jahre, besonders auch zum Schutze der wehrlosen Zivilbevölkerung, unserer Frauen, Kinder und alten Menschen. Dabei wird im Grundgesetz ausdrücklich nur von der Verteidigung gesprochen, einer gemeinsamen Verteidigung unseres Lebens, unserer Sicherheit, unserer Freiheit, unserer Familien, unserer geistigen und materiellen Güter vor jeder drohenden Gefahr, die immer noch nur allzu deutlich vor uns steht. Man wird es wohl auch im Ausland gerade unserer Generation, die zwei Weltkriege erlebt hat, glauben müssen, daß wir keinen dritten Weltkrieg wollen, daß wir unser gutes Recht nur auf friedlichem Wege, ohne Haß und Rache, nicht über frische Soldatengräber hinweg, erreichen wollen. Wir möchten es doch endlich einmal in dieser Welt erleben, daß nicht die Idee der Gewalt, sondern die Gewalt der Idee zur Geltung kommt.
Aber unser ganzes Leben, meine sehr geehrten Damen und Herren, unsere Arbeit am Wiederaufbau unserer Heimat, am Glück und Wohlstand unserer Familien, an der Eingliederung in eine bessere, schönere Zukunft, wäre sinnlos, wenn wir nicht bereit wären. uns im Ernstfall zu verteidigen und dafür rechtzeitig alle Vorbereitungen zu treffen. Wer von uns den kommunistischen Osten kennt, wer drüben in Rußland war, die Besetzung und Austreibung aus unserer Heimat miterlebt hat, wer von uns weiß, daß drüben im Osten vielfach ganz andere Begriffe von Menschheit und Religion, Zeit und Raum und Recht und Gesetz herrschen als hier bei uns, der kennt auch die Gefahr aus dem Osten, die uns allen droht. Wir können und dürfen daher dieser anderen Welt nicht wehrlos und schutzlos gegenüberstehen. Wir müssen Verbündete suchen und finden, weil wir allein zu schwach sind und uns nur die Eingliederung in die große Europäische Verteidigungsgemeinschaft stark macht. Dem kommunistischen Osten imponiert man nur durch eine Politik der Stärke. nicht durch Zweifel und durch Schwäche. Der gefährliche, höchst bedenkliche Spruch ..Si vis pacem, para bellum" —,,Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg" — ist leider trotz Völkerbund und Abrüstungskonferenzen aus unserer Welt immer noch nicht verschwunden. Wir wollen keinen Krieg bereiten; wir wollen Ruhe und Frieden. Aber dieser Frieden muß gesichert, muß verteidigt werden, und nur darin sehen wir den Sinn und Zweck einer künftigen Wehrmacht im Rahmen einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Das soll und muß eine demokratische Wehrmacht werden, Staatsbürger in Uniform, dem Geist unserer Zeit entsprechend.
Wir stimmen auch dem Zusatz in Art. 79 bezüglich künftiger völkerrechtlicher Verträge, besonders Friedens- und Verteidigungsverträge, zu, ebenfalls dem Art. 142 a in der Fassung des Berichts, worin ausgesprochen wird, daß die Bestimmungen des Grundgesetzes dem Abschluß der beiden Verträge von Bonn und Paris nicht entgegenstehen. Wenn wir aber diese Verträge bejahen — und dies hat die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes getan,
wie die Wahl im September des Vorjahres bewiesen hat --, dann muß man auch ihre Verwirklichung wollen. Hier handelt es sich zweifellos um eine hochpolitische Frage, die daher auch zunächst politisch gelöst werden muß, und zwar mit der im Grundgesetz vorgeschriebenen Mehrheit.
Wenn dies nun tatsächlich geschieht, wenn diese Fragen legal nach der Verfassung gelöst werden, dann sollte man sich als Demokrat davor hüten, von einer Mißgeburt zu sprechen.
Bei allem schuldigen Respekt vor der Justiz — Justitia regnorum fundamentum — muß ich Ihnen, meine Damen und Herren, ganz offen erklären, daß man draußen im Volk für alle diese Streitfragen, für diese positiven und negativen Kompetenzkonflikte zwischen Justiz und Politik herzlich wenig Verständnis hat.
Grillparzer hat vor etwa 100 Jahren schon gesagt:
Hört, ihr Leut und laßt euch sagen: Die Politik hat die Justiz erschlagen.
Heutzutage könnte man manchmal fast den Eindruck haben, daß man auch das Gegenteil sagen könnte.
Dabei ist es uns allen aber selbstverständlich, daß neben den politischen auch alle rechtlichen, besonders verfassungsrechtlichen Fragen gründlich verhandelt und geklärt werden müssen. Die Diskussion über alle diese Fragen ist auch durch die heutige große Debatte nicht abgeschlossen; sie geht bezüglich der offenen Fragen, die ja hier bereits erwähnt wurden, weiter.
Zum Schluß aber — ich will mich hier nicht auf Wiederholungen einlassen — möchte ich nochmals feststellen: meine politischen Freunde stehen mit mir auf dem Standpunkt, daß man ein begonnenes Werk auch vollenden muß, insbesondere wenn es sich um entscheidende Fragen der ganzen Nation handelt.
Bezüglich aller weiteren Fragen, die heute nicht zur Entscheidung stehen, behalten wir uns unsere Stellungnahme vor. Dem vorliegenden Ausschußantrag aber werden wir, wie ich bereits eingangs erklärt habe, einstimmig zustimmen.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jaeger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich achte die Leidenschaftlichkeit, mit der Herr Kollege Erler vorhin seinen Standpunkt und den seiner Fraktion dargelegt hat; denn diese Leidenschaftlichkeit kommt aus einer langjährigen und ernsten Bemühung um diese Probleme und aus einer ehrlichen Überzeugung. Aber, ich glaube, das Pathos, das in seiner Rede zum Ausdruck kam
— ich spreche von Herrn Erler —,
war angebracht, als wir uns hier über die Verträge unterhalten haben. Ich glaube kaum, daß es heute noch angebracht ist; denn wir haben heute gar keine Sachentscheidung mehr zu fällen. Diese Sachentscheidung hat der erste Deutsche Bundestag erstmals im Dezember 1952 gefällt; er hat sie einige Monate später wiederholt. Wir ziehen heute auf Grund des Wahlergebnisses aus dieser Sachentscheidung, die das Volk bestätigt hat, nur noch einige formale Konsequenzen.
Das Ja, das die Regierungsparteien damals den Verträgen gegeben haben, war für viele von uns —vielleicht für alle — ein in schwerem inneren Kampfe errungenes Ja. Es ist aber darum heute ein um so klareres und ein um so überzeugteres Ja, und wir vermögen es heute deshalb erneut eindeutig und klar auszusprechen.
Sie können uns fragen, warum wir überhaupt eine Verfassungsergänzung wollen; denn wir vertreten auch heute noch die Rechtsauffassung, daß diese Verfassungsergänzung an sich nicht rechtsnotwendig ist. Wir sprechen deshalb auch nicht von einer Verfassungsänderung, weil es sachlich keine Änderung ist, sondern nur eine Ergänzung, die der Verdeutlichung nach allen Seiten dient. Wenn Sie, Herr Kollege Erler, uns gefragt haben, warum wir nun diese Verfassungsergänzung vornehmen, dann kann ich darauf schlicht und einfach antworten: um die Skrupel der Opposition zu beseitigen!
Man hat diese politische Frage an das höchste deutsche Gericht nach Karlsruhe getragen. Wir sind der Überzeugung, daß dies dem Gedanken des Rechtsstaates nicht gutgetan hat,
weil es sich hier nicht um eine justitiable, nicht um eine Rechtsfrage handelt, sondern um die elementare politische Frage, ob das deutsche Volk wie alle anderen Völker der Welt das Recht hat, sich zu schützen und zu verteidigen.
Man soll uns nicht sagen, wir gingen hier mit der Würde der Verfassung in irgendeiner zweifelhaften Weise um. Wer ist denn mit der Würde der Verfassung umgegangen
und hat zur Erzielung politischer Zwecke in Karlsruhe eine Klage angestrengt?
— Sie wissen ganz genau, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei, daß Sie im alten Bundestag, wenn Ihre Rechtsauffassung die richtige gewesen wäre, uns politisch in der Hand gehabt hätten, weil es einer Zweidrittelmehrheit bedurfte, um das Grundgesetz zu ändern, und daß Sie die Absicht hatten, sich über die Zweidrittelmehrheit mit Ihren Stimmen den Platz im Kabinett zu erringen, den Sie natürlich politisch legitimerweise erstreben. Aber diesen Druck hat der deutsche Wähler von uns genommen.
Sprechen Sie doch nicht davon, daß wir die parlamentarische Demokratie entmachten wollten. Das hat Ihnen Herr Dr. Becker schon widerlegt. Ich kann noch hinzufügen: von der Entmachtung der parlamentarischen Demokratie hätte man eigentlich bei denen sprechen können, die diese politische Frage vor ein Gericht getragen haben.
Im übrigen handeln wir bei dieser unserer Entscheidung nur in Konsequenz der Bundestagswahlen vom 6. September, die einen eindeutigen Volksentscheid darstellen.
Wir dokumentieren nur mit der vom Volk gegebenen Zweidrittelmehrheit diesen politischen Willen in einer Erläuterung und Ergänzung des Grundgesetzes. Sie können nicht behaupten, Herr Kollege Erler, die Zweidrittelmehrheit ginge hier mit einer Handbewegung über das Grundgesetz hinweg.
Wir ändern oder ergänzen das Grundgesetz nur mit der Methode, die dieses Grundgesetz selbst festgelegt hat.
Für uns ist der Auftrag des von Ihnen so oft zitierten souveränen Volkes, wie er am 6. September zum Ausdruck kam, keine Handbewegung, sondern eine verpflichtende Entscheidung.
Es handelt sich deswegen auch nicht um ein Amnestiegesetz für eine vergangene, vielleicht nicht ganz ausreichende Mehrheit, sondern allein um die Vollstreckung dieses Volkswillens.
Was besagt nun die Verfassungsergänzung? Ein Doppeltes: sie erklärt die Wehrhoheit des Bundes und beseitigt Zweifel, die darüber entstanden sind, ob das Vertragswerk mit dem Grundgesetz übereinstimmt. Man kann uns zu diesem letzten Punkt nicht mit dem Einwand kommen, hiermit seien die Verträge eine „Oberverfassung", und der deutsche Bürger müsse in ihr erst nachlesen, was für ihn gelte. Erlauben Sie mir, daß ich aus dem Bereich, in dem ich seinerzeit in diesem Hause die Berichterstattung hatte, als Beispiel einen einzelnen Punkt herausgreife. In den Verträgen wird von der Todesstrafe gesprochen. Trotzdem steht fest, auch in den Verträgen, daß sie in den Ländern nicht angewandt werden kann, in denen sie verfassungsmäßig oder sonst rechtlich verboten ist.
Unbeschadet dessen, wie wir grundsätzlich zu der Frage der Todesstrafe stehen, haben wir, solange sie das Grundgesetz ausschließt, das zu achten und achten es auch. Wir stellen an diesem Beispiel wieder einmal fest, daß die These eben nicht richtig ist, die Verträge stellten eine Oberverfassung dar; denn hier gilt ja das Recht des Grundgesetzes vor dem Recht der Verträge.
Wenn Sie aber den Begriff der Oberverfassung schon einmal in die Diskussion einführen wollen, muß ich doch darauf hinweisen, daß wir derzeit unter der Oberverfassung des Besatzungsstatuts leben und diese „Oberverfassung" mit dem Deutschland-Vertrag abschaffen.
Was den Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft angeht: Was sorgen Sie sich darum, wenn hier nun tatsächlich einmal eine Bestimmung eines europäischen Rechts dem deutschen Recht vorgeht, nachdem Sie uns auf Grund ihrer unitarischen Staatsauffassung j a immer wieder erzählen, daß Bundesrecht Landesrecht bricht! Lassen Sie das doch nicht nur im Verhältnis zwischen dem deutschen Bund und seinen Ländern gelten, sondern auch zwischen dem kommenden Europa und den einzelnen Nationalstaaten!
— Auf diesen Jahrmarktston möchte ich meine Rede nicht abstimmen; den überlasse ich der Opposition.
Was die Wehrhoheit betrifft, so ist es Sache dieses Parlaments, ob es die große oder die kleine Lösung treffen will. Herr Erler hat zwar gemeint, man könne diese Lösung nur ganz oder gar nicht treffen; aber er hat es nicht begründet. Es liegt beim Parlament, ob es eine Ergänzung des Grundgesetzes in einem Stück oder in zweien oder gar in dreien beschließen will.
Wir haben uns dafür entschieden, die kleine Lösung zu wählen, um jeden Zweifel über das Vertragswerk und die Wehrhoheit des Bundes im Innern und nach außen zu beseitigen und um Zeit zu haben, die Probleme ernsthaft zu lösen, die uns alle — auch Sie, meine Damen und Herren — beschäftigen sollten, wofür jedenfalls jetzt in beiden Ausschüssen noch nicht Zeit gegeben war.
Wir sehen in dieser Teilung keinen Blankoscheck für eine einmalige Gesetzgebung durch einfaches Gesetz, keinen Blankoscheck für die Mehrheitsfraktion dieses Hauses. Wir sind der Überzeugung — und sie ist von den maßgeblichen Sprechern der Bundesregierung ebenso wie von dem Herrn Berichterstatter zum Ausdruck gekommen —, daß eine zweite Ergänzung des Grundgesetzes kommen wird, eine Ergänzung, die die Beschränkung der Grundrechte auszusprechen und zu umschreiben, das Ernennungsrecht des Bundespräsidenten für Offiziere und Unteroffiziere festzulegen, die Frage
des Oberbefehls zu regeln hat, auch die Frage der
Wehrverwaltung, die eine Bundesverwaltung sein wird, die Frage einer möglichen Auftragsverwaltung im Sinne der Drucksache 124, die Einführung von Wehrmachtgerichten und schließlich die Verwirklichung des landsmannschaftlichen Prinzips. Wir halten daran fest, daß bei der Gesetzgebung auf diesem Gebiet, wie es in dem Antrag von drei Koalitionsfraktionen heißt, auch die Gliederung des Bundes in Länder und die besonderen landsmannschaftlichen Verhältnisse zu berücksichtigen sind. Da wir das heute nicht zu entscheiden haben, brauche ich nicht ausführlich darauf einzugehen, um so weniger als der Herr Berichterstatter hierüber in völlig zutreffender Weise gesprochen und damit auch unsere Überzeugung zum Ausdruck gebracht hat. Nachdem in einer tausendjährigen deutschen Geschichte die Wehrmacht in Deutschland stets landsmannschaftlich gegliedert war — mit Ausnahme einiger weniger Jahre in jenem Dritten Reich, das niemand von uns zum Vorbild nehmen wird —, soll es auch in Zukunft dabei bleiben, um so mehr als wir damit für das Grundgesetz nur fordern, was in der Weimarer Verfassung bereits ausgesprochen war, in der Weimarer Verfassung, die zweifellos dem unitarischen Gedanken näher-und dem föderativen fernerstand als das Grundgesetz.
Meine Damen und Herren! Dieses landsmannschaftliche Prinzip ist für uns keine föderalistische Prinzipienreiterei, schon gar nicht die Einführung irgendeines neuen Gedankens in das Grundgesetz, sondern nur die Konsequenz aus seinem rechtlichen Aufbau und auch die Konsequenz aus praktischen, sogar aus militärischen und militärpolitischen Erfordernissen; denn ich habe noch von keiner Seite, die über militärische Erfahrung verfügt, hiergegen irgendeine Einwendung gehört. Dieses Anliegen aber ist nicht nur ein solches der Christlich-Sozialen Union in Bayern, es ist ein solches der gesamten Fraktion der CDU/CSU,
und es bedeutet für uns die Voraussetzung zur Zustimmung zur Wehrverfassung und zum Wehrgesetz.
Jedoch ist jetzt nicht der Zeitpunkt, diese Fragen des landsmannschaftlichen Prinzips, des Oberbefehls und der anderen Punkte, die ich erwähnt habe, zu entscheiden. Diese Fragen bleiben bei den beiden Ausschüssen anhängig. Wir haben heute nur die Entscheidung des ersten Bundestages in neuer Form zu wiederholen, die Entscheidung, die damals die CDU, die CSU, die FDP, die Deutsche Partei und die Bayernpartei gefällt haben und die nunmehr verfassungsmäßig ihren Ausdruck finden soll.
Daß die Sozialdemokratische Partei nein sagt, haben wir wahrhaftig nicht anders erwartet; das hat Herr Kollege Erler richtig ausgesprochen. Denn wir wissen genau, daß diese Partei nun einmal festgefahren ist,
und wir wollen sie da auch nicht von ihrem Riff herunterbringen.
Die Argumente, die dabei vorgebracht werden, kommen mir doch recht merkwürdig vor. Ich habe da gehört von dem alten Gegensatz zwischen der
Arbeiterschaft und der Wehrmacht. Meine Damen und Herren , aus welcher verstaubten Mottenkiste des 19. Jahrhunderts haben Sie denn dieses Argument hervorgeholt?
Von der Pflichterfüllung, die die deutsche Arbeiterschaft in zwei Weltkriegen für ihr Vaterland geleistet hat, haben Sie vielleicht noch keine Kenntnis genommen!
Sicherlich haben Sie davon noch keine Kenntnis genommen, daß am 6. September zum ersten Male in einem noch nie dagewesenen Umfang ein Einbruch der Regierungsparteien in die deutsche Arbeiterschaft hinein erfolgt ist, und zwar gerade bei der Frage der Wehrhoheit.
Herr Kollege Erler hat dann einen Satz gesprochen, den man allerdings nicht deutlich genug wiederholen und auch außerhalb dieses Hauses immer wieder wiederholen kann. Er hat gesagt, die Mehrheit entscheide nicht, wer recht hat, sondern wem sie recht gibt. Das entspricht allerdings seit jeher der von uns vertretenen Staatsauffassung, nach der es eine Wahrheit gibt, die vor jedem Parlament existiert, und ein Recht, das vor jeder staatlichen Ordnung und vor jeder parlamentarischen Arbeit gegeben ist.
Diese Begrenzung des aus der Aufklärung stam-
— Eine Erkenntnis ist an sich nicht nur eine Frage der Anständigkeit, sondern auch der Vernunft. Ich habe Ihnen, Herr Kollege Erler, niemals die Anständigkeit und auch niemals die Vernunft abgesprochen. Wir diskutieren doch hier auf einer persönlich fairen Basis. Aber ich darf Ihnen doch auch erklären, daß Sie einmal recht haben, nachdem Sie sich nach meiner Überzeugung recht oft irren. Das ist meine ebenso ehrliche Überzeugung.
Aber ich möchte hier an etwas ganz anderes erinnern. Im Deutschen Reichstag hat der Abgeordnete Otto Wels der Sozialdemokratischen Partei einmal erklärt, er wolle lieber mit der Mehrheit irren als gegen die Mehrheit recht behalten. Meine Damen und Herren, da scheint mir doch der Fortschritt der Erkenntnis in der Sozialdemokratie trotz allem, was man sonst sagt, greifbar, und wir freuen uns darüber.
Im übrigen mag der Unterschied darin bestehen, daß die Sozialdemokraten früher mit der Mehrheit geirrt haben und heute mit der Minderheit irren.
Aber über den Irrtum werden wir uns natürlich streiten können, und erst die Historiker werden sagen, wer wirklich recht gehabt hat.
Sicher aber ist, Herr Erler, und darauf darf ich mich beziehen, daß das deutsche Volk mit Zweidrittelmehrheit den Regierungsparteien recht gegeben hat, und auf Grund unserer Überzeugung, unseres Gewissens und der vom Volk gegebenen Ermächtigung sagen wir heute ja.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Schmid.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe einige Ausführungen zu machen, nicht um die Rede meines Freundes Erler zu ergänzen, sondern um auf einige der Vorbringen zu antworten, die wir hier zu hören bekommen haben.
Der Herr Abgeordnete Becker hat in seinen Darlegungen ausgeführt, die Sozialdemokratische Partei habe heute wieder einmal gesagt, daß sie das zur Verteidigung der Bundesrepublik Notwendige nur im Rahmen der Vereinten Nationen zuzugestehen bereit sei. Er hat vorher in einer recht balladesken Weise von dem „Donner der Kanonen" gesprochen, der unsere Debatte begleitet habe. Er hat die Schlacht von Valmy bemüht. Vielleicht hätte er auch von dem „Donner der Kanonen" sprechen können, von dem Don Basilio im „Barbier von Sevilla" in der Arie singt, die Sie sicherlich kennen. Sei dem, wie ihm wolle, offensichtlich hat ihm dieser Kanonendonner das Gehör verschlagen,
sonst hätte er nämlich unseren Sprecher nicht so verstehen können, wie er ihn verstanden hat.
Ich wiederhole — ich weiß nicht zum wievielten Male —: Für das vereinigte Deutschland — für das vereinigte Deutschland, Herr Dr. Bekker, nicht für die Bundesrepublik! — scheint uns die wirksamste Möglichkeit, in ein Sicherheitssystem eingebaut zu werden, der Rahmen, den die Satzungen der Vereinten Nationen ziehen. Für die Bundesrepublik — das heißt, solange die Spaltung Deutschlands dauert — sind wir bereit, das zur Verteidigung Nötige im Rahmen jeder Möglichkeit zu tun, die erstens echte Sicherheitschancen bietet, zweitens die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands nicht gefährdet und schließlich uns die echte Gleichberechtigung gibt.
Damit sage ich nichts Neues, sondern wiederhole zum hundertsten Male, was hier schon gesagt worden ist. Für die Zeit der Spaltung Deutschlands sind wir bereit, unter diesen Voraussetzungen auch Lösungen zuzustimmen, die man im klassischen Sinne des Sprachgebrauchs nicht als Systeme kollektiver Sicherheit ansprechen könnte.
Nun sagen Sie: „Dann stimmt doch dem EVG-Vertrag zu!", und Sie sagen uns, wir stimmten offenbar nur deswegen nicht zu, weil wir Perfektionisten seien und uns nun einmal nicht alles an diesem Vertrage gefalle. Sie wissen, daß das nicht stimmt, und es ist Ihnen gestern sehr ausführlich gesagt worden, daß das nicht stimmt.
Natürlich muß man auch manchmal etwas zustimmen, das man nicht für ganz vollkommen hält — aber das kann man doch nur im Rahmen gewisser Grenzen tun, und wo diese Grenzen liegen, hat in Gottes Namen der zu bestimmen, der die Verantwortung für sein Ja und Nein zu tragen hat;
da gibt es keine Gefolgschaftspflicht der Minderheit der Mehrheit gegenüber!
Auf Ihrer Seite, meine Damen und Herren, hat man in sehr entscheidenden Stunden unserer Nation selbst so gehandelt. Ich erinnere die Herren von der Deutschen Partei daran, daß sie gegen das Grundgesetz gestimmt haben,
weil es ihnen nicht vollkommen genug war. Und ich erinnere Sie, Herr Dr. Jaeger, an die gleiche Haltung der CSU in demselben Parlamentarischen Rat. Sie haben gegen das Grundgesetz gestimmt, weil es Ihnen nicht vollkommen genug war, und der Bayerische Landtag hat sich Ihnen angeschlossen.
Soll ich denn hier auch, Herr Dr. Jaeger, von den verstaubten Mottenkisten — des Partikularismus — des 19. Jahrhunderts reden?
Ich tue es nicht, Herr Dr. Jaeger, weil es uns mit unserem Anliegen ernst ist, daß wir uns so zueinander verhalten sollten, daß wir miteinander das gemeinsam Notwendige tun können, ohne auf Selbstachtung verzichten zu müssen.
Es ist davon gesprochen worden, wir hätten heute keine Sachentscheidung zu treffen, sondern nur — gewissermaßen als die Notare oder Rechtskonsulenten der Wähler — das auszuführen, was sie am 6. September beschlossen hätten. Man hat, um dies zu begründen, hier eine erstaunliche Jurisprudenz entwickelt. Die Frage: Was kann man mit einer Verfassung machen, wie kann man mit einer Verfassung umgehen? führt nicht zu einer Formalentscheidung, sondern zu einer Sachentscheidung, einer politischen Entscheidung ersten Ranges!
Hier ist gesagt worden — es ist dem Bericht des Herrn Berichterstatters nach im Rechtsausschuß sehr ausgiebig ausgeführt worden —, die Verfassung sei zwar ein Gesetz von besonderer Feierlichkeit, aber im Grunde doch ein Gesetz, das der Substanz nach ein Gesetz wie jedes andere sei. Man könne darum mit entsprechenden Mehrheiten dieses Verfassungsgesetz durch und durch verändern. Was die „Verfassung" von anderen Gesetzen unterscheide, sei, daß die Abänderung erschwert sei. Wenn man legal über diese Hürden springe, könne man die Verfassung auch in entscheidenden Punkten ändern. — Wir kennen diese Jurisprudenz. Sie ist von Laband eingeleitet und bis in den Kommentar weitergeführt worden, den Anschütz zur Verfassung von Weimar geschrieben hat. Das ist ein verhängnisvoller Weg gewesen; und ich als Sozialdemokrat stehe nicht an Ihnen zu sagen, daß ich sehr vieles aus der Kritik der konservativen Juristen der Mitte des 19. Jahrhunderts für sehr
begründet halte, der Kritik gegen diesen Holzweg der Jurisprudenz einer Zeit, die zu sehr geglaubt hat, daß im Recht der Zweck das Entscheidende sei. Ich erinnere Sie auch, Herr Kollege Jaeger — und hoffe dann Ihren heimatlichen Stolz zu wecken —, an den großen bayerischen Juristen Seidl und dessen Kritik gegen diese Rechtswissenschaft. Er war zwar ein greulicher Partikularist, aber er war auch ein großer Jurist, dieser Ihr Landsmann.
Ich will damit nicht gesagt haben, daß alle greulichen Partikularisten große Juristen seien . . .
Nun, der „Konservativismus", von dem heute einiges zu hören war, bringt mich in die Versuchung, ein altes pseudokonservatives Wort: „Und der König absolut, wenn er unseren Willen tut" abzuwandeln: „Und die Verfassung absolut, wenn sie unseren Willen tut. Tut sie uns den nicht, dann werden wir schon sehen, was wir mit ihr machen."
Wenn man der These der Mehrheit folgte, dann wäre dieser Bundestag eine Art von Konstituante, die in Permanenz tagt, und die Verfassung wäre dauernd etwas wie ein knetbarer Teig in den Händen der jeweiligen Zweidrittelmehrheiten;
er könnte dann als eine Art sekundärer Schöpfer—Herr Kollege Kiesinger, Sie verstehen sicher, was ich hier sagen will — das ursprüngliche Schöpfungswerk jederzeit in sich selbst erneuern. Nun, diese Art von Jurisprudenz hat u. a. auch das Ermächtigungsgesetz vom März 1933 möglich gemacht. Bitte mißverstehen Sie mich nicht. Ich werfe Ihnen nicht vor, daß Sie ein solches Ermächtigungsgesetz wollen.
Ich sage nur, mit dieser Art zu denken, gibt es letzten Endes kein Argument gegen eine Gesetzgebung wie jene, die einmal zu dem Ermächtigungsgesetz geführt hat.
Ich glaube nicht, daß diese juristische Grundthese richtig ist. Eine Verfassung ist etwas anderes als ein sehr wichtiges Gesetz, für dessen Abänderungen Hindernisse aufgerichtet sind. Eine Verfassung ist sehr viel mehr. In seiner Verfassung trifft das Volk in dem Augenblick, in dem es sich „in Verfassung bringt" — diese Augenblicke pflegen Landmarken seiner geschichtlichen Entwicklung zu sein; hier wird gegenüber der Vergangenheit eine Abschlußbilanz und gegenüber der Zukunft eine Eröffnungsbilanz gezogen —, Grundentscheidungen politischer Art. Es trifft Entscheidungen über bestimmte Lebenswerte, die das Fundament des Staates sein sollen, in dem es leben will.
Alles andere, was sonst in den Verfassungen steht, hat seinen Sinn nur darin, daß es die Ausführung, die Spezifizierung dieser Werte ist und den organisatorischen und institutionellen Aufbau ermöglicht, der nötig ist, um sie in Ordnung zu verwirklichen.
Diese Grundentscheidungen sind die eigentliche „Konstitution" des Staates. Ob Monarchie oder Republik, ob Einheitsstaat oder Bundesstaat, ob
Gewaltenteilung oder alle Gewalt in einer Hand, ob parlamentarische Demokratie oder plebiszitäre Demokratie, ob relative Grundrechte oder absolute Grundrechte: das sind Grundentscheidungen über Lebenswerte. Sie machen die Verfassung aus. Wer diese Dinge ändert, der ändert nicht nur etwas an der Verfassung, sondern der macht eine ihrer Substanz nach andere Verfassung
als die Verfassung, für die das Volk sich im entscheidenden Augenblick entschieden hat. Wie man diese politischen und ethischen Grundentscheidungen im einzelnen ausgestaltet, das ist in weitem Umfang variabel. Aber die Grundentscheidung selber ist unantastbar, wenn die Verfassung sich gleichbleiben soll.
Will man anders verfahren, nun, dann muß man sieh dafür entscheiden, aus der Verfassung heraustreten zu wollen. Das ist dann in allen Formen der Legalität eben ein revolutionärer Akt oder ein kalter Staatsstreich oder wie man es sonst nennen mag.
Wenn ich zu Ihnen von einem kalten Staatsstreich spreche, dann denke ich nicht an Dinge, wie sie gegenwärtig mancherorts vor sich gehen.
Es wurde davon gesprochen, was hier geschehe, gehe doch alles legal vor sich. Vielleicht! Aber ob etwas Recht ist oder ob es nur den Schein des Rechts an sich trägt, nun, das bestimmt sich nicht nur aus der Legalität, sondern auch aus der Legitimität des Vorgangs. Nur wenn sich die formale Legalität innerhalb der substantiellen Legitimität vollzieht, schafft sie Recht. Legalität ohne Legitimität kann nur ein Monstrum gebären. Legitim ist aber nur, was in Ausführung der ethischen, politischen Grundentscheidung geschieht, die die verfassunggebende Gewalt zum Fundament unserer Lebensordnungen gemacht hat.
Über diese Dinge gibt es in der Literatur echter Verfassungsstaaten keinen Streit. England ist ein Sonderfall: sein Parlament hat eine andere Stellung als das unsere. Es war der Rechtswissenschaft der Wilhelminischen Epoche, in der in weiten Kreisen der Staat wesentlich als Instrument und die Verfassung als eine Art von Reglement einer Anstalt gesehen wurden, vorbehalten, das ethische Fundament des Verfassungsdenkens zu ruinieren. Im Parlamentarischen Rat sind wir uns dieser Dinge bewußt gewesen, und, Herr von Brentano, Sie werden mir bestätigen: wir haben darum ganz bewußt ein Grundgesetz schaffen wollen, das von einer anderen Vorstellung des Verfassungsrechts ausgeht als der Labandschen und der Anschützschen, auch von einer anderen Auffassung als der, die einst das Reichsgericht in einigen Urteilen zum Ausdruck gebracht hat. Für uns waren damals Art. 79 und Art. 20 nicht nur technische Bestimmungen, nicht nur Verzierungen, sondern Entscheidungen für etwas Fundamentales, und solche Grundentscheidungen sind es gewesen, die letzten Endes von den Landtagen unserer deutschen Bundesländer ratifiziert worden sind.
Eine besonders bedeutsame Grundentscheidung ist gewesen, daß wir diesen Staat auf das Prinzip der Teilung der Gewalten gründen wollten. Das war nicht nur die Entscheidung für ein besonders
bekömmliches technisches Verfahren des Regierens und Verwaltens, sondern diese Entscheidung hat die Qualität, d. h. inneren Wert und inneres Sein des Staates bestimmt. Teilung der Gewalten bedeutet: Wer regiert, darf nicht Gesetze geben; wer die Gesetze gibt, darf sie nicht anwenden und auslegen; anwenden und auslegen darf die Gesetze nur die richterliche Gewalt.
Nun ist davon gesprochen worden, daß das Parlament das Recht haben müsse, Gesetze, auch Verfassungsgesetze, authentisch zu interpretieren. Ich glaube nicht, daß das richtig ist, insbesondere dann nicht, wenn eine Verfassung wie unser Grundgesetz expressis verbis das Interpretationsmonopol des Bundesverfassungsgerichts aufgerichtet hat.
Nun wird gesagt: Ja, aber die Karlsruher Prozesse betreffen doch gar keine justitiablen Sachen! Es ist in der ganze Rechtslehre unbestritten, daß über die Frage, ob ein Verfahren zulässig ist oder nicht, ob eine Sache justitiabel ist oder nicht, nicht die Parteien entscheiden, sondern das Gericht selbst.
Herr Kollege Weber, wie ich aus Ihren Zwischenrufen entnommen habe, haben Sie eine besondere Vorliebe für das Völkerrecht. Gestatten Sie mir einen Hinweis! Eine kleine Analogie zur Erhärtung dessen, was ich sagte. In dem ausgezeichneten Deutsch-Schweizerischen Schiedsgerichts- und Vergleichsvertrag von 1920, in dem von justitiablen und nichtjustitiablen Sachen die Rede ist, ist ausdrücklich bestimmt, daß das Schiedsgericht entscheidet, ob eine vor den Richterstuhl gebrachte Sache justitiabel ist oder nicht, und daß die Parteien sich darauf beschränken müssen, Einreden oder Einwände zu erheben, und daß sie nicht die Einlassung verweigern dürfen. Wenn man einem Parlament das Recht gibt, im Wege authentischer Interpretation die Übereinstimmung irgendeines Aktes, und sei es ein Gesetz, mit der Verfassung zu bestimmen, macht man das Parlament zu einer richterlichen Institution.
Damit hat man auf einem wesentlichen Gebiet den Grundsatz der Teilung der Gewalten verlassen.
Es gibt eine ganze Reihe von geschichtlichen Beispielen, Herr Euler, für Parlamentsjustiz, angefangen mit dem Parlament Cromwell's. In den Verfassungen der Sowjetzone ist übrigens in vieler. Fällen das Parlament zum Interpreten der Verfassung gemacht worden.
Ich glaube nicht, daß wir diesem Beispiel folgen sollten, auch nicht auf einem einzelnen Gebiet, auch nicht auf einem Sondergebiet. Parlamentsjustiz ist der Anfang einer möglichen Mehrheitsdiktatur, und das ist nichts Gutes. Ob es sich bei einem Mehrheitsbeschluß um eine „sic volo, sic iubeo" handelt, um ein „ tel est mon bon plaisir", oder um die konkrete Definition des Gemeinwillens, bestimmt sich danach, ob die jeweilige konkrete politische Entscheidung unter die Verfassung gestellt wird, oder ungewollt die Verfassung unter die konkrete politische Entscheidung.
Es ist hier eine Auffassung vertreten worden — von einem der Herren des BHE —, nicht ernstlich, aber dem Sinne nach: Not kennt kein Gebot. Ich erinnere an einen deutschen Reichskanzler, de; einmal dieses Wort gesprochen hat;
kurz darauf sprach er vom „Fetzen Papier"!
Ich glaube nicht, daß wir Versuchungen in dieser
Richtung Vorschub leisten sollten. Ich glaube nicht,
daß Sie das wollen, meine Herren. Aber manchmal
sollte man besonders ernsthaft bemüht sein, sich
das In-Versuchung-Fallen nicht zu leicht zumachen.
Wenn man einer Änderung des Grundgesetzes zustimmt, wonach mit Zweidrittelmehrheit durch einen Beschluß dieses Hauses außenpolitische Verträge bestimmter Art als dem Grundgesetz gemäß erklärt werden können, dann stellen wir diese Verträge den Bestimmungen der Verfassung gleich. Es ist von „Klärungsgesetzen" gesprochen worden. Es ist das erste Mal, daß ich einen solchen Ausdruck höre. Vielleicht liegt es an mir, aber ich kenne die juristische Literatur einigermaßen, und ich habe ihn dort noch nie gefunden. Im allgemeinen erläßt man Gesetze nicht zur Klärung von Gesetzen, sondern, wenn sich herausstellt, daß ein Gesetz nicht praktikabel ist, dann erläßt man ein neues Gesetz, mit dem man das alte aufhebt. Das ist der Weg, ungeklärte Situationen im Wege der Gesetzgebung zu klären.
Die Praxis, mit Zweidrittelmehrheit die Verfassung zu durchlöchern, hat damit sehr entscheidend dazu beigetragen, das Ansehen der Weimarer Verfassung zu ruinieren.
— Doch, Sie tun das, Herr von Brentano.
Dieser Art. 79 hatte für uns im Parlamentarischen Rat nicht nur technische und nicht nur ästhetische Bedeutung. Er sollte eines der Fundamente sein, auf die unser Verfassungsrecht gestellt werden sollte. Er gehört zu den ethisch-politischen Vorentscheidungen über Grundprinzipien, die unser staatliches Leben tragen sollten. Wenn Sie
dieses Prinzip aufgeben — und Sie könnnen es nur entweder ganz aufgeben oder ganz respektieren —, dann verändern Sie die Verfassung in ihrem Kerne. Sie nehmen ihr dann den Rang, den sie nach dem Willen des Verfassungsschöpfers haben sollte und den das Grundgesetz haben muß, wenn es mehr sein soll als nur ein Modus vivendi von Fall zu Fall. Was Sie da wollen, das ist keine vom Grundgesetz erlaubte Verfassungsänderung mehr, sondern die Aufhebung eines diese Verfassung selbst ausmachenden Prinzips.
Mit der Veränderung des Art. 79 ändern Sie nicht
eine Wand des Hauses ab, sondern Sie nehmen
damit dem Fundament einen tragenden Eckstein.
Man kann nicht, ohne eine Verfassung umzustülpen, die Sperren beseitigen, die die Verfassung zum Schutze ihrer Fundamente aufgerichtet hat. Sie haben doch sonst immer sehr gern, und mit Recht, für überpositives Recht plädiert, das auch den Gesetzgeber bindet und binden muß. Ich habe den Eindruck, daß man heute von der Vorstellung eines überpositiven Rechtes übergeht zu einem Überpositivismus, der noch über das hinausgeht, was das 19. Jahrhundert in die Welt gesetzt hat, und dessen Unverständnis für das, was eine wirkliche Verfassung ist, einiges dazu beigetragen hat, die Weimarer Republik in allen legalen Formen Rechtens ruinieren zu lassen. Einige der Thesen, die hier vertreten worden sind, machen schlechthin alles möglich.
Noch einige Worte zum neuen Art. 142 a. Alle anderen Staaten, die Partner dieses Vertragswerks sind, haben seine Bestimmungen an den Normen ihrer Verfassung gemessen und gewertet. Wir werden künftig unsere Verfassung an den Bestimmungen dieser Verträge messen müssen. Wir werden so viel Verfassung haben, wie die Verträge uns zugestehen. Die Abschaffung der Todesstrafe haben sie uns gelassen. Danach, Herr Dr. Jaeger, beanspruchen also offensichtlich die Verträge dort, wo solche Konzessionen nicht explizit gemacht worden sind, den Vorrang vor unserem Grundgesetz.
Wo die anderen Länder fanden, daß gewisse Verträge einzelnen Bestimmungen, — aber natürlich nicht dem Kern — ihrer Verfassungen vorzuziehen seien, haben sie ihre Verfassungen im einzelnen abgeändert. Das ist der rechte Weg. Wir haben, vor allem im ersten Bundestag, häufig genug verlangt, daß man vor Inkraftsetzung der Verträge das Grundgesetz entsprechend ändern möge, d. h. daß man seinen Text in all den Einzelheiten abändern möge, in denen die Einzelheiten der Verträge unserer Verfassung widersprächen.
Aber genau das tut man nicht, sondern man unterstellt einfach das Grundgesetz im ganzen den Verträgen. Damit macht man eben diese Verträge zur Oberverfassung, zur freiwillig übernommenen Oberverfassung, Herr Kollege Gerstenmaier, im Gegensatz zum oktroyierten Besatzungsstatut.
— So viel Theologie verstehe ich nicht, Herr Kollege.
Ich kann Ihnen also nicht folgen.
Wirklich?
Man hat darauf hingewiesen, daß ja schon einmal so etwas gemacht worden sei, nämlich mit dem Versailler Vertrag. Das ist richtig. Aber die Beziehung der Weimarer Verfassung auf diesen Vertrag wurde uns aufgezwungen unter der Drohung, im Weigerungsfalle die Kanonen sprechen zu lassen. Heute übernehmen wir eine solche Unterstellung freiwillig, und das ist nicht gut.
Es ist hier schon davon gesprochen worden, daß es sich manchmal nicht so sehr darum handle, die Grundlagen für eine Wehrverfassung zu schaffen, als vielmehr die Zweifel „im Wege authentischer Interpretation" zu beseitigen, um so das Vertragswerk in Karlsruhe kugelfest zu machen. Man will also die formalen Voraussetzungen für die Einstellung eines vor dem Verfassungsgericht schwebenden Verfahrens schaffen.
Man hat uns vorgeworfen, daß wir an die Stelle politischer Entscheidungen den Gang zur Richterbank gesetzt hätten. Nun, meine Damen und Herren, wir haben diesen Gang zur Wahrung des Rechtes getan, auf das unser Volk in diesem Grundgesetz sein Leben hat stellen wollen. Sie setzen an die Stelle der politischen Entscheidung, den Rechtsstaat in allen seinen Konsequnzen auch dann ernst zu nehmen, wenn es unbequem ist, das Finessieren mit dem Recht. An einem solchen Unternehmen mitzuwirken, verbietet uns nicht nur unser Widerstand gegen die Politik des EVG-Vertrags; daran mitzuwirken verbietet uns in erster Linie der Respekt vor den Prinzipien, auf die unser Volk seine Zukunft hat stellen wollen.
Das Wort hat der Herr Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Darf ich auf die Ausführungen des Herrn Professor Schmid kurz erwidern. Auch wir vertreten den Standpunkt und können ihn gar nicht stark genug hervorheben, daß die Verfassung etwas anderes als ein gewöhnliches Gesetz ist. Deshalb erfordert ihre Änderung ja auch eine qualifizierte Zweidrittelmehrheit. Weil wir diesen Standpunkt vertreten und weil wir uns infolgedessen nur sehr schwer entschließen, eine Änderung der Verfassung vorzunehmen, haben wir uns ja zunächst nur bemüht, eine authentische Interpretation
gewisser Fragen zu geben, die das Verfassungsrecht aufgeworfen hat. Alle anderen Fragen von
entscheidender Bedeutung, deren verfassungs-
mäßige Verankerung ebenfalls vorgenommen werden muß — und die also ebenfalls einer Zweidrittelmehrheit bedarf —, haben wir zurückgestellt, weil wir eben der Auffassung sind, daß noch einmal eine sehr genaue Durchdenkung und Besprechung aller dieser Fragen notwendig ist,
damit sie mit verfassungändernder Mehrheit beschlossen werden können.
Der Herr Kollege Schmid hat darauf hingewiesen, daß es sich hier bei diesen Fragen vor allen Dingen um die Erhaltung des Rechtsstaates handle. Meine Damen und Herren, der Bundesminister der Justiz muß immer für den Rechtsstaat eintreten,
er kann aber andererseits nicht die Auffassung billigen, daß wir aus dem Rechtsstaat in einen Justizstaat hineintreiben;
und diese Gefahr besteht.
Wir dürfen nicht den Gerichten Verantwortungen übertragen, die von ihnen nicht getragen werden können. Wir dürfen ihnen nicht rein politische Fragen zur Entscheidung zuleiten und damit das Parlament der Befugnisse entkleiden, die ihm an sich zustehen.
Ich darf nun zu den einzelnen Bestimmungen, die hier angegriffen worden sind, noch kurz Stellung nehmen.
Zu Art. 142 a. Wir haben immer betont, daß das Grundgesetz seinem ganzen Gehalt nach an sich auch die Wehrhoheit des Bundes involviert. Hier sind Zweifel aufgetaucht durch die Klage, die beim Bundesverfassungsgericht erhoben worden ist.
— Das Parlament!
Diese Zweifel sind von beiden Seiten durch Gutachten bedeutender Rechtslehrer belegt worden.
— Wir haben verschiedene Auffassungen, und um hier Klarheit zu schaffen, hat sich die Koalition entschlossen, eine Vorlage einzubringen, die im Wege der authentischen Interpretationen diese Zweifel beseitigt. Nun soll der Gesetzgeber es übernehmen, im Wege der authentischen Interpretation durch die nunmehrige Vorlage diese Zweifel zu lösen und einen klaren Verfassungsrechtsbestand herzustellen.
Es wird entgegengehalten, man schaffe damit nicht Klarheit und stifte nicht Frieden, sondern man häufe auf alten Konfliktstoff neuen und lege den Keim zu neuem Streit. Die Bundesregierung ist der Überzeugung, daß die erforderliche Klarstellung der Verfassungsrechtslage in der heute vorgeschlagenen Weise verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Die Bestimmung des Art. 142 a will, indem sie die Vereinbarkeit der strittigen Verträge mit dem Grundgesetz ausspricht, den Verfassungsrechts-bestand authentisch interpretieren. Das ist politisch notwendig und verfassungsrechtlich nach 'Oberzeugung der Bundesregierung zulässig.
Die Interpretation des Inhalts der Verfassung ist die legitime Aufgabe des verfassungsändernden Gesetzgebers, nicht nur in der Weimarer Republik, sondern auch in unserem heutigen Verfassungssystem. Zur Weimarer Zeit bestand hierüber überhaupt kein Zweifel. Es wurde schon auf Anschütz hingewiesen. Es gibt auch andere führende deutsche Staatsrechtslehrer, wie Jacobi, Jellinek, PoetzschHeffter; sie und vor allem auch der Reichsstaatsgerichtshof haben die Zulässigkeit einer authentischen Verfassungsinterpretation in der Form eines verfassungsmäßigen Gesetzes ausdrücklich anerkannt. Warum dies nicht auch für das heutige Verfassungssystem gelten soll, ist überhaupt nicht einzusehen. Zwar hat das Grundgesetz mit der sogenannten abstrakten Normenkontrolle, d. h. der mit allgemeinverbindlicher Wirkung erfolgenden Feststellung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, das Bundesverfassungsgericht belehnt. Damit hat das Bundesverfassungsgericht als das höchste unserer Gerichte eine Aufgabe erhalten, die weit über die Rechtslage der Weimarer Zeit und die anderer demokratischer Rechtsstaaten wie der Schweiz und Frankreichs hinausgeht
und die ihrem Wesen nach an sich eine Aufgabe der Gesetzgebung, ja sogar des Verfassungsgesetzgebers selbst darstellt. Aufgabe der Rechtsprechung war es z. B. in der Weimarer Zeit, nicht allgemeinverbindliche Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu treffen, sondern lediglich über die Anwendung in einzelnen Prozessen unter Beschränkung der Rechtswirkung der Entscheidung auf die Beteiligten zu befinden. Das gleiche gilt auch für nahezu alle anderen demokratischen Staaten, namentlich auch für den Obersten Gerichtshof der USA, wie gerade noch vor kurzem der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtshofs, Herr Dr. Katz, in einer Abhandlung ausgeführt hat.
Die dem Bundesverfassungsgericht durch das Grundgesetz in förmlich alleinstehender Weise zugewiesene Aufgabe macht nicht etwa dieses Gericht unantastbar hinsichtlich seiner Funktion auch gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber. Theoretisch wäre es möglich, ohne Verletzung der unantastbaren Verfassungsgrundsätze des Art. 79 Abs. 3 z. B. das Institut der Normenkontrolle, die dem Bundesverfassungsgericht zugewiesen und vorbehalten ist, ganz oder teilweise zu beseitigen. Daran denkt niemand. Wohl aber sind wir der Meinung, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber in einer einzelnen Streitfrage von grundlegender politischer Bedeutung die Aufgabe der authentischen Verfassungsinterpretation an sich ziehen und die Vereinbarkeit eines bestimmten Gesetzgebungswerkes mit der Verfassung selber aussprechen kann. Damit entlastet er den Verfassungsrichter in einem Streit von der Bedeutung und dem Wesensgehalt des dort angestrengten Rechtsstreits von einer ihm sonst unweigerlich zufallenden und für ihn kaum tragbaren politischen Verantwortung.
Verfassungsrechtlich gesehen ist die Entscheidung
des verfassungändernden Gesetzgebers über die Verfassungsmäßigkeit eines umstrittenen Gesetzes echter und legitimer Akt der Verfassungsgesetzgebung, die damit ausspricht, was mit allgemeiner Rechtswirkung und mit Verbindlichkeit für alle Verfassungsorgane Recht sein soll. Der verfassungändernde Gesetzgeber, hier die authentische Interpretation, setzt sich damit weder zu den Grundsätzen des Rechtsstaats noch zu dem Grundsatz der Gewaltenteilung irgendwie in Widerspruch. Das Bundesverfassungsgericht selbst hat in seiner Entscheidung vom 30. Juli 1952 davon gesprochen, daß jede Normenkontrolle begrifflich ein Hinübergreifen der richterlichen Gewalt in die gesetzgeberische Sphäre darstellt.
Dem verfassungändernden Gesetzgeber kann also bei einer Maßnahme wie der, die heute diesem Hause vorliegt, nicht der Vorwurf einer Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips gemacht werden. Er bleibt vielmehr im Bereiche seiner legitimen Entscheidungsgewalt und in einer Situation wie der heutigen im Bereich einer Entscheidungspflicht.
Es ist auch nicht so, wie gelegentlich unterstellt wird, als sollten heute die umstrittenen Verträge zum Rang von Verfassungsrecht oder gar zu einem noch höheren Rang erhoben werden. Was in der Bestimmung des Art. 142 a gesagt wird, ist nur dieses, daß die Vorschriften der umstrittenen Verträge der Verfassung nicht widersprechen. Sie werden aber damit nicht selber zum Rang von Verfassungsrecht oder gar noch höherem Recht erhoben. Mit der Bestimmung des Art. 142 a steht — wenn er angenommen wird — allgemeinverbindlich und endgültig fest, daß alle Akte, die zum Abschluß und zur Inkraftsetzung der beiden Verträge notwendig sind, und zwar sowohl die vor Ergänzung der Verfassung liegenden wie die nachfolgenden, nicht im Widerspruch zum Grundgesetz stehen.
Über diesen interpretierenden allgemeinverbindlichen und endgültig feststellenden Charakter hinaus enthält Art. 142 a noch zwei weitere Elemente: einmal das der nochmaligen politischen Bestätigung des Gesetzgebungsbeschlusses des früheren Bundestages und zum andern das der rechtlichen Heilung ihm etwa anhaftender Mängel. Auch ein derartiger Ausspruch ist eine zulässige Maßnahme der verfassungändernden Gewalt.
Die Bestimmung des Art. 142 a hat endlich den Charakter einer Ermächtigung an die zur Publikation und Ratifikation der Zustimmungsgesetze und der Verträge zuständigen Verfassungsorgane. Es ist klar, daß mit der gegenwärtigen Regelung, mit der gegenwärtigen Vorlage nicht der Gesamtinhalt alles dessen ausgeschöpft ist, was im Zusammenhang mit den umstrittenen Verträgen an verfassungsrechtlichen Regelungen noch zu tun sein wird.
Eine sehr eingehende Erörterung wird sich bei dem zurückgestellten Teil der ursprünglichen Vorlage nicht umgehen lassen. Ich habe mir erlaubt, darauf bereits hinzuweisen. Was hier in diesem ersten Akt geschehen soll ist nur folgendes: durch eine authentische, den Verfassungsinhalt betreffende Interpretation alle Zweifel beseitigen, die bisher das endgültige Inkraftsetzen der Verträge bei
Rücksichtnahme auch auf den Rechtsstandpunkt der Opposition irgendwie behindert haben.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Weber .
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Befürchten Sie nicht, daß ich Ihnen ein weiteres verfassungsrechtliches Kolleg halten werde.
Wenn ich mich zum Wort gemeldet habe, so nur deshalb, weil ich einigen Behauptungen, die in der Debatte aufgetreten sind, nochmals ausdrücklich widersprechen wollte. So ist das böse Wort vom Ermächtigungsgesetz gefallen.
Herr Professor Schmid hat es eben bereits expressis verbis zurückgenommen und hat klargestellt, daß hier ein Ermächtigungsgesetz nicht geschaffen wird.
Herr Kollege Becker hat das bereits ausgesprochen. Es ist eine bewußte Vergiftung der öffentlichen Atmosphäre und der öffentlichen Meinung, wenn etwas Derartiges behauptet wird.
Ein ebenso böses Wort hat eben der Herr Professor Schmid gebraucht, als er vom „kalten Staatsstreich" gesprochen hat.
Wir widersprechen dem, und ich protestiere nachdrücklich gegen eine solche falsche Unterstellung und bewußte Vergiftung der öffentlichen Meinung.
Wir behaupten, daß wir uns mit unserer heutigen Vorlage im Rahmen des Grundgesetzes halten. Das ist im einzelnen dargelegt worden. Wir könnten noch solange reden, wir werden darüber nie zu einer Einigung kommen.
Die Verhandlungen im Rechtsausschuß gingen sehr schnell zu Ende, als der grundsätzliche Standpunkt von Ihrer Seite durch die Äußerung Ihres maßgebenden Sprechers klargelegt wurde: „Wir können dem Inkrafttreten des EVG-Vertrages niemals und unter keinen Umständen zustimmen. Da mag der Himmel einfallen, dem EVG-Vertrag wird die Sozialdemokratische Partei und Fraktion niemals zustimmen."
Nun, der Himmel wird darüber nicht einfallen, wenn der EVG-Vertrag in Kraft tritt,
sondern er wird uns vielleicht davor bewahren, daß Dinge bei uns eintreten, die sonst beim Einfallen des Himmels geschehen würden.
Wenn nämlich der Himmel einfällt, sind alle Spatzen gefangen.
Der EVG-Vertrag soll uns die Sicherheit bringen. Ich bin dem Herrn Professor Schmid dankbar, daß er sich heute ganz konkret zu dem Problem der kollektiven Sicherheit geäußert und gesagt hat: Wir sind auch von seiten der Bundesrepublik bereit, in ein System der kollektiven Sicherheit einzutreten, wenn uns damit gewährt wäre: erstens echte Sicherheit, zweitens keine Gefährdung der Wiedervereinigung und drittens volle Gleichberechtigung. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der SPD, in den vergangenen zwei Jahren unter diesen Gesichtspunkten an die Verträge herangetreten wären, wäre es, glaube ich, eher zu einer Verständigung gekommen.
Wir behaupten, daß diese Forderungen in den Verträgen —
— Wir behaupten es.
— Wir unterstellen es der Nachprüfung des Gerichts, wenn Sie das Spiel weiter treiben wollen,
Genau so wenig wollen wir heute etwa Verfassungsgrundsätze beseitigen, wie das hier im Zusammenhang mit dem bösen Wort vom kalten Staatsstreich, das gefallen ist, gesagt worden ist. Es wird an den unverbrüchlichen Teil des Art. 79
— den Abs. 3 — in keiner Weise gerührt. Insbesondere verstoßen auch die Verträge — das möchte ich hier ausdrücklich feststellen — in keiner ihrer Bestimmungen gegen diesen Teil, gegen den unabänderlichen Abs. 3 des Art. 79 des Grundgesetzes. Was wir aber nicht anerkennen, das ist, daß der Abs. 1 nicht abänderbar sei bzw. nicht ergänzt werden könne. Der Abs. 1 hat diesen Schutz nicht und gehört auch nicht zum sogenannten Verfassungskern. Es könnte darin — darüber war sich die Mehrheit im Ausschuß einig, wie sie es auch hier ist — wiederum bestimmt werden, daß eine Verfassungsdurchbrechung zulässig sei.
Nun wird eingewandt, daß, wenn wir das in dieser allgemeinen Form machten, die Verfassung nicht mehr aus sich selbst heraus ausgelegt werden könne; das werde im Grundgesetz nicht verlautbart. Gerade um diese Schwierigkeit zu vermeiden, wollen wir dem Art. 79 Abs. 1 den Satz 2 hinzufügen. damit, und zwar jeweils — das wird in der Diskussion so gern übersehen —, mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen werden kann, ob ein völkerrechtlicher Vertrag — darauf lege ich allerdings ganz entscheidenden Wert — dem Grundgesetz widerspricht oder nicht. Wir
haben doch schon eine Verfassungsdurchbrechung dieser Art im Grundgesetz. Im Art. 25 ist bestimmt, das die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts unseren Gesetzen vorgehen. Infolgedessen steht im Grundgesetz bereits, was wir heute mit der Verfassungsergänzung klarstellen.
Wir verwahren uns also nachdrücklich dagegen, daß hier ein „Ermächtigungsgesetz" beschlossen, daß hier ein kalter Staatsstreich vorgenommen werde. Wir sind vor unserem Gewissen der festen und guten Überzeugung, daß wir uns mit dem, was wir hier tun, im Rahmen der Verfassung halten.
Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Erler hat bei mir seinem Erstaunen darüber Ausdruck gegeben, daß ich den Ausdruck von der „bewußten Vergiftung der öffentlichen Meinung", den der Kollege Weber gebraucht hat, nicht mit einem Ordnungsruf belegt habe. Ich habe dazu folgendes zu sagen. Es mag streitig sein, ob ein solcher Ausdruck im vollen Umfang parlamentarisch ist. Ich habe heute bei der notwendigerweise scharfen Auseinandersetzung verschiedener Meinungen nicht geglaubt, die Situation durch unnötige Ordnungsrufe verschärfen zu sollen, und habe darum auch über einige andere Zwischenrufe, den „billigen Jakob" und einiges andere, bewußt hinweggehört. Ich darf annehmen, daß das Haus mit diesem Verfahren einverstanden ist.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Arndt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Kollege Weber befindet sich im Irrtum mit seiner Annahme, mein Parteikollege Carlo Schmid habe das von meinem Parteikollegen Erler gesprochene Wort vom Ermächtigungsgesetz zurückgenommen. Das trifft nicht zu. Herr Kollege Carlo Schmid hat nur sehr deutlich erklärt, daß niemand von uns Ihnen eine Gesinnung oder eine Absicht unterstelle, wie sie in dem Ermächtigungsgesetz vom März 1933 enthalten sei,
und das bestätige auch ich hier noch einmal. Aber daß diese Vorlage ein Ermächtigungsgesetz ist, das ist unser aller Überzeugung.
Herr Kollege Weber, man kann Ermächtigungen
j a nicht nur an die Exekutive, an eine Regierung geben, sondern man kann sie auch an ein Parlament und an ein Gesetzgebungsorgan geben, und hier wird in der Frage der Wehrverfassung dem Bundestag sogar eine Blankettermächtigung erteilt,
mit der alles geregelt werden kann, da nunmehr lediglich die Frage der allgemeinen Wehrpflicht in das Grundgesetz eingefügt werden soll.
Zweitens - wenn ich mich noch weiter mit Herrn Kollegen Weber auseinandersetzen darf — Herr Weber: Sie haben hier wiederum betont, aber ohne dafür eine Begründung zu geben, daß nach ihrer Meinung die Verträge von Bonn und Paris mit dem unantastbaren Verfassungskern des Bonner Grundgesetzes nicht in Widerspruch stünden. Nun, warum scheuen Sie dann eine Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht, die einzige Stelle, die diese Rechtsfrage unbefangen und für uns alle verbindlich entscheiden kann?
Diese Frage hätte ich gern einmal von Ihnen beantwortet.
— Ja, sehen Sie, mit dem „leid tun" ist folgendes. Sie haben hier das scharfe Wort von der „bewußten Vergiftung der öffentlichen Meinung" hineingebracht, obgleich wohl niemand in Abrede stellen kann, daß meine Freunde Fritz Erler und Carlo Schmid hier nach bestem Wissen und Gewissen ihre Überzeugung kundgetan haben. Da sprechen Sie von der „bewußten Vergiftung" der öffentlichen Meinung! Ich glaube, wir brauchen in dieser Frage nicht pathetisch zu werden. Wir können es der öffentlichen Meinung selbst überlassen,
ob sie sich dadurch vergiftet glaubt, daß Männer von der Gewissenhaftigkeit und der Ehrbarkeit wie Carlo Schmid und Erler hier von der Tribüne des Bundestages aus ihrer rechtlichen und politischen Meinung Ausdruck geben, oder ob ein solcher Vorwurf berechtigt ist aus den Kreisen, die eine Verantwortung dafür tragen, daß sich während des Bundestagswahlkampfes die Fälle Schroth und Scharley ereignet haben.
Meine Damen und Herren! Ich darf mich jetzt den Ausführungen des Herrn Bundesministers der Justiz zuwenden. Der Herr Bundesminister der Justiz hat sich hier zum Gedanken des Rechtsstaats bekannt, und, ich glaube, Herr Bundesminister, darin treffen wir uns alle in unserem Bemühen. Sie haben sich aber gegen den Gedanken eines Justizstaates ausgesprochen, ohne uns klar zu sagen, was man unter einem Justizstaat verstehen soll. Wir haben ja diese Frage insofern nicht zu entscheiden, als das Bonner Grundgesetz eine Vorentscheidung getroffen hat und verfassungsmäßig klarstellt, wann ein Parlament und wann ein Gericht zur Entscheidung berufen ist. Sie dürfen diese Frage hier nicht so vereinfachen, daß Sie sagen, es sei eine rein politische Frage, ob man die Verträge abschließt oder nicht, ob man sie über das Grundgesetz stellt oder nicht.
Gewiß sind die Verträge auch eine politische Frage, eine sehr wesentliche politische Entscheidung. Aber in unserer rechtsstaatlichen parlamentarischen Demokratie haben sich nach dem Grundgesetz alle politischen Entscheidungen auf der Grundlage des Rechts abzuspielen.
Das steht im Grundgesetz, und darum ist von der Frage, ob der Abschluß und das Inkraftsetzen der Verträge politisch richtig ist — diese Frage haben wir hier im Hause zu entscheiden —, die
Rechtsfrage zu trennen, ob sie nach dem Grundgesetz z u 1 ä s s i g sind oder ob nicht zuvor erst die Verfassung verändert und erweitert werden muß. Ich darf Sie immerhin darauf aufmerksam machen, daß das Bundesverfassungsgericht durch seinen berühmten Beschluß vom 8./9. November des Jahres 1952 mit der bekanntgegebenen Mehrheit von 20 gegen 2 Stimmen mit überzeugender Begründung ausgesprochen hat, daß diese Frage eine Rechtsfrage, und zwar eine sehr schwierige Rechtsfrage sei. Ich kann nicht annehmen, daß Sie als Bundesminister der Justiz sich da in einen so offenen Widerspruch mit dem Plenum des Bundesverfassungsgerichts zu setzen wünschen. Also mit dem Schlagwort: „Wir wollen keinen Justizstaat!" ist der Ernst dieser Frage nicht abzutun.
Nun ein weiterer Punkt aus Ihren Ausführungen. Sie haben sich auch des so beliebt gewordenen Wortes von der authentischen Interpretation bedient. Ich möchte einmal in ein schlichtes Deutsch übersetzen, was das in diesem Falle heißt. Das Fremdwort „authentische Interpretation" heißt nichts anderes als: Urteilen in eigener Sache.
Das ist es, was damit gemeint ist.
Von den Staatsrechtlern, die Sie angeführt haben, sind die Meinungen, die Sie zitieren, geäußert worden auf der Grundlage einer vollkommen anderen Verfassungsordnung der Weimarer und der Vorweimarer Zeit.
Für das Bonner Grundgesetz gibt es keinen einzigen Lehrer des Rechts, der je bisher behauptet hätte, daß nach dem Grundgesetz der Bundestag, auch mit verfassungändernder Mehrheit, befugt sei, in eigener Sache zu urteilen — was Sie „authentische Interpretation" zu nennen belieben.
Ich habe mit Erschrecken gehört, daß Sie gesagt haben, die Normenkontrolle könne auch durch eine Verfassungsänderung beseitigt werden. Ja, meine Damen und Herren, wo stehen wir denn, wenn der Bundesminister der Justiz uns etwas Derartiges sagt?
Es ist richtig, Herr Bundesminister, daß die Art der Ausprägung, die besondere Form, die man im Bonner Grundgesetz dieser richterlichen Prüfung gegeben hat, abänderbar ist. Aber ich darf auch hier wieder einmal dieses Fremdwort „Normenkontrolle" in die deutsche Sprache übersetzen; dann heißt es: richterliche Prüfungsbefugnis, und als solche ist die richterliche Prüfungsbefugnis im Artikel 20 in Verbindung mit Artikel 79, letzter Absatz, für unantastbar erklärt. Es wird dort ausdrücklich als unabänderlich gefordert, daß die richterliche Nachprüfung, ob ein Akt, sei es des Gesetzgebers, sei es der Verwaltung, mit der Verfassung und dem Recht im Einklang steht, von einem Organ vorgenommen werden muß, das weder gesetzgeberisch noch verwaltungsmäßig zuständig ist. Infolgedessen ist das richterliche Prüfungsrecht nach dem Grundgesetz unabschaffbar und unantastbar.
Sie aber wollen hier folgendes machen: Sie wollen gesetzgebende und rechtsprechende Gewalt in einer Hand vereinen.
— Jawohl — indem Sie hier sagen: Diese Frage, ob die Verträge von Bonn und Paris mit dem Grundgesetz vereinbar sind, die entscheiden wir selbst in sogenannter authentischer Interpretation.
Mit einem Wort darf ich nun noch auf den Herrn Kollegen Weber in diesem Zusammenhang zurückkommen. Man sagt, es sei ja nicht nur das, sondern es handle sich überdies auch um eine nochmalige politische Bestätigung des Gesetzgebungsbeschlusses. Herr Kollege Weber, das trifft nicht zu. Die über 500 Mitglieder dieses Hohen Hauses haben die Verträge von Bonn und Paris bei der Verabschiedung dieses Gesetzes hier nicht beraten. Es ist deshalb nicht der Gegenstand dieses Beschlusses, überhaupt nicht verhandelte Verträge durch diese Abstimmung irgendwie erneut zu bestätigen.
Ich komme jetzt auf das zurück, was ich über die Vereinigung von rechtsprechender und gesetzgebender Gewalt in einer Hand sagte, wobei ich erklärte, daß das auch der verfassungändernden, der Zweidrittelmehrheit nicht erlaubt ist. Herr Bundesminister der Justiz, das Bonner Grundgesetz spricht nicht bloß davon, daß man das Grundgesetz nur mit einer Zweidrittelmehrheit ändern oder ergänzen dürfe. So war es einmal, jedenfalls in der Praxis der Weimarer Zeit. Der Art. 79 sagt sehr viel mehr. Er sagt, im Gegensatz zu Ihrer Auffassung, Herr Weber, in seiner Ganzheit unabänderlich, sonst hätte er ja gar keinen vernünftigen Sinn, daß das Grundgesetz nur durch eine Vervollständigung seines Wortlautes geändert oder ergänzt werden kann und außerdem lediglich in den Grenzen, die durch das demokratische Prinzip. das rechtsstaatliche Prinzip und die Unantastbarkeit der menschlichen Grundrechte gesetzt sind. Das bitte ich dabei doch nicht zu vergessen.
Gerade hier entsteht auch die Frage, die das Bundesverfassungsgericht angeht. Es ist schlecht, Herr Jaeger, wenn Sie meinen, von einem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch zu machen und den höchsten ' Richter anzurufen, das sei irgendwie etwas, was die Würde der Verfassung antaste. Ich darf dazu die Worte eines Landsmannes von Ihnen zitieren, der neulich hier gesagt hat:
Es ist ein ganz falscher Schluß, wenn man glaubt, in dem Umstand, daß wir zur Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten ein Bundesverfassungsgericht berufen haben und daß dort auch tatsächlich Fragen entschieden werden, einen Beweis für ein schlechtes Funktionieren unseres Staates zu sehen. Das Gegenteil ist richtig. Hier öffnet sich ein Ventil. In anderen Staaten, die diese Verfassungsgerichtsbarkeit nicht kennen, werden die Spannungen politisch ausgetragen, im Zweifel durch Mehrheitsabstimmung. Es ist doch nicht so, daß die Politik eine Rechenaufgabe ist, die immer aufgeht. Das Gegenteil ist der Fall, und die Frage ist nur, w i e die Spannungen ausgetragen werden.
Das geschieht bei uns in Deutschland bei Spannungen in Rechtsfragen durch eine höchstrichterliche, eine verfassungsgerichtliche Entscheidung. Ich habe eben die Worte zitiert, die Ihr Landsmann, der Herr Kollege Dr. Dehler, am 4. Februar von dieser Stelle aus gesprochen hat.
Die verfassungsändernde Mehrheit kann also nach
dem Bonner Grundgesetz keineswegs alles, sondern sie ist an Voraussetzungen und bestimmte Formen gebunden.
Nun darf ich einmal die Frage aufdecken: Warum wählt man trotzdem diese merkwürdige Art der Verfassungsdurchbrechung? Doch aus zwei Gründen. Einmal will man, und zwar im Gegensatz zu dem Prinzip des Art. 79, unsichtbar lassen, wie sehr das Bonner Grundgesetz durch die Verträge von Bonn und Paris durchlöchert wird. Man will unsichtbar lassen, wie sehr die Rechte des Bürgers dadurch eingeengt und wie außerordentlich die Befugnisse seiner Obrigkeit ausgeweitet werden. Das können Sie sofort feststellen, wenn sie sich einmal die Mühe machen — wir haben es im Rechtsausschuß nur ganz kurz und andeutungsweise besprochen —, jetzt bei jedem Artikel im Grundgesetz dazuzuschreiben, inwieweit er durch die Verträge aufgehoben, eingeengt oder abgeändert wird. Dann werden Sie sehen, daß aus unserer Verfassung — entschuldigen Sie den etwas anrüchigen Vergleich — eine Art von Schweizer Käse geworden ist, so viel Löcher werden durch die Verträge hineingebracht, nach einem Wort von Friedrich von Logau—ich verdanke es Herrn von Merkatz—, das er vom Westfälischen Frieden gesagt hat: „Reißt viel Verfassung ein." Sie scheuen sich, so wie es Art. 79 verlangt, Punkt für Punkt klarzumachen: Bürger, paß auf, hier ist in deiner Verfassung etwas abgeändert!
Das zweite, was Sie mit dieser merkwürdigen Art der Gesetzgebung bezwecken, ist das, zu verdecken, daß die Verträge auch mit dem unantastbaren Kern des Bonner Grundgesetzes nicht vereinbar sind, und diese Frage nach Möglichkeit auch einer verfassungsgerichtlichen Nachprüfung zu entziehen. Das ist der Hintergrund, aus dem sich Ihr Verfahren erklärt. Das können Sie auch mit einer Zweidrittelmehrheit nicht erreichen.
Ich komme jetzt zum letzten, was ich zu sagen habe. Herr Bundesminister der Justiz, Sie halten sich — und ich bin mir bei Ihnen dessen bewußt, vertraue auf Ihr Wort— für verpflichtet, gerade das Grundgesetz und die Verfassung zu wahren. Aber hören Sie bitte noch einmal, was der Berichterstatter Herr von Merkatz als Mehrheitsmeinung des Rechtsausschusses hier vorgetragen hat, und zwar in Übereinstimmung mit Ausführungen, die einer der Herren Ihres Ministeriums im Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht gemacht hat. Ich zitiere jetzt wörtlich aus dem Bericht des Herrn Berichterstatters von Merkatz:
Diese Schranken,
— nämlich die Schranken, die der Verfassunggeber in Art. 79 auch für Verfassungsänderungen gesetzt hat —
die der Verfassungsgesetzgeber selbst der späteren Verfassungsänderung gezogen hat, sind nach Auffassung der Mehrheit für die Verfassungsänderung selbst nicht unüberschreitbar. Diese Schranken, die der Verfassungsgesetzgeber selbst seinem Nachfolger in der Verfassungsänderung setzen will, können durch eine Verfassungsänderung überspielt werden, sie können . . . . formal beseitigt werden.
Schon das Wort „überspielt" läßt doch hier außerordentlich aufhorchen.
— Ich habe hier ganz wortwörtlich nach Ihrem Manuskript, Herr von Merkatz, zitiert.
— Das steht hier nicht drin.
— Als unveränderlichen Kern der Verfassung — das haben Sie heute morgen noch hinzugesetzt — wollen Sie aber auch nur die Menschenrechte anerkennen. Aber auch Sie haben im Ausschuß der Auffassung Ausdruck gegeben, daß der Art. 79 über die Voraussetzungen und Formen der Verfassungsänderung oder -ergänzung oder die Einschränkung durch den Art. 79 Abs. 3 vom verfassungsändernden Gesetzgeber selber wieder geändert werden könne. Meine Damen und Herren und Herr Bundesminister der Justiz, damit wird doch klar gesagt: Zwar hat das Bonner Grundgesetz erklärt, es will diese Schranken setzen, auch für die verfassungsändernde Mehrheit, aber wir, die verfassungsändernde Mehrheit, brauchen uns in diesem Falle an das Grundgesetz und an den Verfassunggeber nicht zu halten; denn wir sind selber so viel wie er. Wenn Sie das einmal in seiner letzten Tiefe bedenken, so heißt das nichts anderes, als daß sich hier die Zweidrittelmehrheit vom Grundgesetz lossagen und über das Grundgesetz stellen will.
Ein sehr ernstes Wort dazu als Abschluß. Der Streit um die Verträge wird vorübergehen, die Welt und Deutschland werden vielleicht schon in wenigen Jahren anders aussehen. Es wird dann der Geschichte angehören, ob man die Verteidigung in dieser oder jener Form, nach dem EVG-Vertrag und durch den Generalvertrag machen sollte oder hätte machen sollen. Auch Sie wollen ja, daß der Generalvertrag keineswegs ewig besteht, sondern recht bald verschwindet. Hier ist es also eine Frage der Tagespolitik, die vorübergeht. Bedenken Sie gut, ob Sie deshalb die Verfassungsordnung in einem ihrer tragenden Grundsätze durchstoßen wollen. Denn wenn die Verträge auch vorübergehen, so wünschen wir uns alle doch eins — Sie bestimmt nicht weniger als wir —: daß die freiheitliche Verfassung bleibt. Aber dann können Sie ein solches Gesetz nicht machen!
Das Wort hat der Abgeordnete Hoogen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Herrn Kollegen Dr. Arndt bin ich der Meinung, daß wir in diesem Hause allseits bestrebt sein sollten, die freiheitliche Verfassung zu erhalten. Aber ich bin weiterhin der Meinung, daß der freiheitliche Charakter unserer Verfassung durch keine Bestimmung, die wir mit der Vorlage in das Grundgesetz einfügen, beeinträchtigt wird.
Als wir die Verträge im ersten Deutschen Bundestag berieten, hat uns die sozialdemokratische Fraktion darauf hingewiesen: ihr könnt diese Verträge nicht ratifizieren, dazu braucht ihr eine Zweidrittelmehrheit, dazu braucht ihr also uns.
Heute, nachdem wir in diesem Hause die Zweidrittelmehrheit ohne die sozialdemokratische Fraktion haben, werden uns staatsrechtliche Kollegs gehalten, daß es nunmehr auch mit der Zweidrittelmehrheit nicht gehe.
Aber noch ein Weiteres. Verschiedene Ausführungen des Herrn Kollegen Professor Schmid und des Herrn Kollegen Dr. Arndt veranlassen mich, zur Praktizierung dieses Gesetzes im Verfahren beim Bundesverfassungsgericht einiges, was nicht unwidersprochen bleiben kann, richtigzustellen. In der Einleitung des Gesetzes ist von einer Klarstellung von Zweifeln über die Auslegung des Grundgesetzes die Rede. Hiergegen ist eingewandt worden, die Klarstellung solcher Zweifel sei allein Sache und Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts. Dieser Einwand ist durchaus unzutreffend. Schon unter der Weimarer Reichsverfassung war es die einhellige Auffassung der Staatsrechtswissenschaft, daß eine authentische Interpretation von in der Verfassung enthaltenen Bestimmungen Sache des im damaligen Art. 76 geregelten Verfassungsänderungsverfahrens sei. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, Anschütz in seinem Kommentar erklärt, im Verfahren des Art. 76 seien u. a. solche Gesetzesvorschriften erlassen worden, die ohne Änderungsabsicht lediglich gesetzeskräftige Auslegungen, nämlich authentische Interpretationen, von Verfassungsnormen hätten darstellen sollen. Im gleichen Sinne haben sich weiterhin Jacobi und Walter Jellinek geäußert.
Aber nicht nur die Rechtslehre hat diesen Standpunkt vertreten. In der Gesetzgebungspraxis des früheren Reichstags ist durch ein Gesetz vom 22. Mai 1926 ein Art. 40 a in die damalige Reichsverfassung eingefügt worden. Für die Kollegen, die dem Reichstage nicht angehört haben, darf ich erklären, um was es damals ging. Es handelte sich damals darum, daß den Mitgliedern des sogenannten Überwachungsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses, der heute morgen wegen seiner besonderen Kompetenzen schon einmal erwähnt wurde, insbesondere Immunität und Zeugnisverweigerungsrecht auch nach der Beendigung der Wahlperiode zustehen sollte. Diese Frage war damals streitig geworden und ist durch verfassungsänderndes Gesetz in vollem Bewußtsein, daß man mit der Einfügung des Art. 40 a in die Weimarer Reichsverfassung eine Interpretation vornahm, entschieden worden. Insoweit hat man also schon damals dem von Herrn Kollegen Arndt immer wieder mit Recht hervorgehobenen Bedürfnis der Urkundlichkeit der Verfassung entsprochen.
Um das gleiche Problem handelt es sich im vorliegenden Fall. Unsere Kompetenz kann nicht mit dem Hinweis darauf bestritten werden, daß heute die authentische Interpretation ausschließlich Sache des Bundesverfassungsgerichts sei. Schon ein Blick in den Wortlaut der Bestimmung des Art. 93 des Grundgesetzes zeigt, daß, wenn man die Funktionen des Bundesverfassungsgerichts überhaupt als authentische Interpretation ansehen will — in Wahrheit ist doch die maßgebliche Festsetzung des Inhalts zweifelhafter Bestimmungen gar nicht eine Justiz-, sondern eine Gesetzgebungsangelegenheit —,
das Bundesverfassungsgericht hier ausnahmsweise als Justizbehörde Gesetzesrecht schafft. Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist vielmehr eindeutig auf ganz bestimmte einzelne Teilbereiche beschränkt; siehe Art. 93. Es kann deshalb keine Rede davon sein, daß mit den Bestimmungen des vorliegenden Entwurfs in irgendeiner Form „verfassungswidriges Verfassungsrecht" geschaffen werde, wie man es uns vorzuhalten versucht.
Die Opposition macht der Regierungskoalition das Recht streitig, die Verfassungsergänzung in der vorliegenden Form überhaupt vorzunehmen. Sie bestreitet auch dem heute hier zusammengetretenen verfassungsändernden Gesetzgeber aus verfassungsrechtlichen Gründen das Recht, die in Rede stehende Klarstellung vorzunehmen. Zur Begründung dieses Bestreitens wird darauf hingewiesen, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht die gleichen Befugnisse habe wie der ursprüngliche Verfassunggeber; insbesondere dürfe der verfassungsändernde Gesetzgeber in keinem Falle zu einer Tangierung des in Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes umschriebenen Verfassungskerns seine Hand bieten. Das aber geschehe hier, so sagt man uns.
Dazu ist folgendes zu sagen. Ob die Differenzierung zwischen dem ursprünglichen Verfassungsgesetzgeber und dem späteren verfassungsändernden Gesetzgeber in dem eben genannten Sinne zutreffend ist, kann — und darauf kommt es doch an --, in dem heute hier zur Entscheidung anstehenden Falle dahingestellt bleiben. Denn nach unserer Auffassung enthält keine der hier zu Beratung und Beschlußfassung anstehenden, in das Grundgesetz einzufügenden Vorschriften eine solche Verletzung des Kerns nach Art. 79 Abs. 3, der Substanz der Verfassung.
Vor allem aber ist es auch nicht richtig, daß diese Grundsätze vom Verfassungsgesetzgeber ausnahmslos als jedweder Einwirkung entzogen statuiert worden seien. Die Regelungen in den Art. 24 und 25 enthalten bereits einen Beweis für die Richtigkeit dieser meiner Auffassung. Art. 24 ermöglicht nämlich Integrationsmaßnahmen auch ohne Rücksicht auf den sogenannten Verfassungskern, und Art. 25 statuiert eindeutig den Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts nicht nur vor dem einfachen Bundesrecht, sondern sogar vor dem gesamten Bundesverfassungsrecht. Hierauf hat bei der Schlußabstimmung im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rats insbesondere unser Kollege Herr Dr. von Brentano hingewiesen. Er sagte: „Das Völkerrecht geht unter allen Umständen dem Bundesrecht und auch dem Bundesverfassungsrecht vor " Diese Auffassung ist damals im Hauptausschuß einstimmig gutgeheißen worden.
Auf dieser vom Verfassungsgesetzgeber selbst vorgezeichneten Linie bewegen wir uns heute, wenn wir Ihnen die Annahme dieser Verfassungsergänzung empfehlen.
Wenn in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 unseres Grundgesetzes steht, daß alle Staatsgewalt und damit auch die verfassunggebende Staatsgewalt, sowohl die verfassunggebende wie auch die verfassungsändernde Staatsgewalt, vom Volke ausgeht, dann halten wir uns zu dieser ergänzenden Verfassungsänderung aus gutem Grunde für berechtigt.
Wenn davon die Rede ist, daß die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, dann wird damit doch die Instanz bezeichnet, die im Sinne der Verfassung als oberste, als letztentscheidende für die staatliche Ordnung zu denken ist. Das Volk ist und bleibt, um mit den Worten eines bekannten Staatsrechtslehrers zu sprechen, der Herr der Verfassung. Es hat die oberste, letzte, souveräne Entscheidung. Hierzu darf ich Ihnen aus der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers vom 20. Oktober mit der Genehmigung des Herrn Präsidenten einige wenige Sätze verlesen. Diese Sätze lauten:
Im Wahlkampf haben die Auseinandersetzungen um die deutsch-alliierten Verträge, insbesondere um den das Kernstück einer europäischen Integration bildenden Verteidigungsbeitrag, einen breiten Raum eingenommen. Die Problematik lag für den deutschen Wähler klar zutage. Es wird nicht gesagt werden können, daß er plötzlich und ohne ausreichende Vorbereitung vor die Entscheidung gestellt worden sei. Das Votum der Wähler ist völlig klar. Niemand wird heute noch behaupten können, daß das deutsche Volk den Verträgen und einem deutschen Verteidigungsbeitrag ablehnend gegenüberstehe.
So weit die Worte des Herrn Bundeskanzlers in der Regierungserklärung. Einige wenige Sätze vorher hat er in der gleichen Regierungserklärung hierzu noch folgendes gesagt: „Diese Wahlen waren ein Volksentscheid." Sie war en ein Volksentscheid, zwar nicht im technischen Sinne der Weimarer Reichsverfassung, aber im echten Sinne.
Durch diesen Volksentscheid fühlen wir uns nicht nur berechtigt, sondern im Gewissen verpflichtet, diesen verfassungsergänzenden Vorschriften zuzustimmen.
Wir bedauern, bei dieser Gelegenheit feststellen zu müssen, daß wir hierbei nicht mehr auf das Verständnis stoßen, welches Herr Kollege Ollenhauer in seiner Stellungnahme zur Regierungserklärung am 28. Oktober hier von dieser Stelle aus bekundet hat. Herr Kollege Ollenhauer hat damals, als er diese Frage behandelte, wörtlich ausgeführt — ich zitiere —:
Soweit es sich dabei um die Verfassungsergänzung im Zusammenhang mit den Verträgen handelt, ist dieses Bemühen der Bundesregierung verständlich.
Leider müssen wir dieses Verständnis, das uns Herr Kollege Ollenhauer in Aussicht gestellt hat heute in dieser Diskussion vermissen.
Meine Damen und Herren, wir in der CDU/CSUFraktion sind jedenfalls entschlossen, auch ohne dieses Verständnis zu der Verfassungsergänzung unser Ja zu sagen.
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die allgemeine Aussprache. Ich darf unterstellen, daß eine Einzelaussprache nicht mehr gewünscht wird. Die allgemeine Aussprache hat sich ja auf die einzelnen Artikel des Ihnen vorliegenden Gesetzentwurfs bezogen.
Ich rufe auf zur Einzelaussprache der zweiten Beratung. Art. 1, — Art. 2, — Einleitung und Überschrift des Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes. — Das Wort wird nicht gewünscht. Ich bitte die Damen und Herren, die diesen Artikeln, der Einleitung und Überschrift zuzustimmen wünschen, eine Hand zu erheben. — Ich bitte um die Gegenprobe. — Enthaltungen. — Ich stelle fest, daß diese Artikel, die Einleitung und Überschrift in der Abstimmung der zweiten Beratung mit Mehrheit ohne Enthaltungen angenommen sind, und verweise darauf, daß entsprechend der Stellungnahme des Geschäftsordnungsausschusses die Feststellung einer verfassungsändernden Mehrheit in der zweiten Beratung nicht erforderlich ist.
Ich rufe zur
dritten Beratung
auf. Ich darf unterstellen, daß eine allgemeine Aussprache in der dritten Beratung nach der allgemeinen Aussprache in der zweiten Beratung nicht gewünscht wird.
— Zur Geschäftsordnung Herr Abgeordneter Dr. von Brentano!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beantrage, für die dritte Lesung die namentliche Abstimmung durchzuführen.
Meine Damen und Herren, dieser Antrag ist namens der Fraktion der CDU/CSU gestellt. Er ist also ausreichend unterstützt. In der dritten Beratung wird über den Gesetzentwurf in namentlicher Abstimmung abgestimmt. Nach der Geschäftsordnung entfällt eine Einzelberatung, da keine Änderungsanträge in der dritten Beratung gestellt sind.
Ich komme zur Schlußabstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes in der dritten Beratung. Ich bitte die Herren Schriftführer, die Stimmzettel einzusammeln.
Meine Damen und Herren, das Einsammeln der Stimmkarten ist im wesentlichen beendet. Ich werde vor Beendigung der Auszählung noch fragen, ob Abgeordnete vorhanden sind, die ihre Stimme abzugeben wünschen.
Ich darf Sie bitten, die Plätze einzunehmen, und schlage Ihnen vor, daß wir inzwischen einige Punkte der Tagesordnung, die keiner längeren Aussprache bedürfen, erledigen. Gemäß einer interfraktionellen Vereinbarung habe ich Ihnen vorzuschlagen
erstens, daß Sie Platz nehmen,
zweitens, daß wir die Tagesordnung um folgenden Punkt ergänzen:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU, CSU betreffend Nachwahl eines Mitgliedes des Wahlprüfungsausschusses .
Meine Damen und Herren, der Abgeordnete D r. Dr e s b a c h ist aus dem Wahlprüfungsausschuß ausgeschieden. Als Ersatz für den ausgeschiedenen Abgeordneten muß ein anderer Abgeordneter gewählt werden. Die Drucksache 266 beinhaltet den Antrag der CDU/CSU, an Stelle des Abgeordneten Dr. Dresbach den Abgeordneten D r. Dittrich zum Mitglied des Wahlprüfungsausschusses zu wählen. Ich bitte die Damen und Herren, die diesem Antrag der CDU/CSU zuzustimmen wünschen, eine Hand zu erheben. — Das ist die Mehrheit; dieser Antrag ist angenommen. Damit ist dieser Punkt erledigt.
Ich schlage Ihnen vor, daß wir zunächst ver-
suchen, die Immunitätsfälle, die Punkte 3 bis 6 der
Tagesordnung, zu erledigen. Zunächst Punkt 3: Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung und Immunität betreffend Genehmigung zum Strafverfahren gegen den Abgeordneten Even gemäß Schreiben des Bundesministers der Justiz vom 6. November 1953 (Drucksache 237).
Berichterstatter ist Herr Abgeordneter Höcker. Ist er anwesend? — Offenbar nicht. Dann komme ich zu Punkt 4:
Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung und Immunität betreffend Genehmigung zum Strafverfahren gegen den Abgeordneten Dr. Rinke gemäß Schreiben des Rechtsanwalts Krahl-Urban, München, vom 19. November 1953 (Drucksache 240).
Berichterstatter ist Herr Abgeordneter Dr. von Merkatz. Ich bitte ihn, das Wort zu nehmen. — Ich wäre dankbar, wenn Herr Abgeordneter Höcker Nachricht erhalten könnte, damit er die Berichterstattung vornimmt.
Bitte schön, Herr Abgeordneter!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Falle der geforderten Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Rinke schlägt Ihnen der Ausschuß für Wahlprüfung und Immunität vor, die Genehmigung zum Strafverfahren gegen den Abgeordneten Dr. Rinke nicht zu erteilen. Ich darf in Kürze auf den Tatbestand hinweisen. Der Abgeordnete Rinke wird von einem Privatkläger beschuldigt, diesen durch einen Brief folgenden Wortlauts beleidigt zu haben:
Auf mein Schreiben vom 27. August 1953, in dem ich Sie um konkrete Angaben für Ihre Behauptungen in der „Schlesischen Rundschau" bat, haben Sie nicht geantwortet. Ich habe nichts anderes erwartet. Verleumder pflegen nur selten Farbe zu bekennen, sondern sie ziehen es in der Regel vor, zu kneifen. Ich werde dafür sorgen, daß Ihr unerhörtes Verhalten allgemein bekannt wird.
Dieser Brief enthält nach der Ansicht des Privatklägers eine Verleumdung und Beleidigung. Dem Sachverhalt liegen Streitigkeiten innerhalb der oberschlesischen Landsmannschaft zugrunde.
Nach den vom Ausschuß für Wahlprüfung und Immunität festgelegten Grundsätzen handelt es sich hier um eine Angelegenheit, die nicht unbedingt als politisch betrachtet werden muß, die jedoch ihren Ursprung im politischen Raum hat und innerhalb der Wahlzeit erwachsen ist. Beide streitenden Parteien gehören den Landsmannschaften an. Nach den Grundsätzen, die der Ausschuß
entwickelt hat, kann dem Hause in der Angelegenheit eine Aufhebung der Immunität nicht vorgeschlagen werden. Nach den Gepflogenheiten des Ausschusses für Wahlprüfung und Immunität bin ich nicht näher in den Sachverhalt eingestiegen, da dies nicht unsere Aufgabe ist, und habe hier nur die formale Frage erörtert.
Wollen Sie bitte zu Punkt 6 auch gleich berichten:
Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung und Immunität betreffend Genehmigung zum Strafverfahren gegen den Abgeordneten Metzger gemäß Schreiben des Amtsgerichts Wiesbaden, Abt. 87 vom 4. Januar 1954 (Drucksache 243).
Auch im Falle der geforderten Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Metzger schlägt Ihnen der Ausschuß für Wahlprüfung und Immunität vor, die Genehmigung zum Strafverfahren gegen den Abgeordneten Metzger nicht zu erteilen. Ich darf mich hier in der mündlichen Berichterstattung auf eine ganz kurze Darstellung des Sachverhalts beschränken, möchte aber, da es sich um einen grundsätzlichen Fall handelt, die näheren Ausführungen schriftlich zu Protokoll geben.*)
Hinsichtlich der Berichterstattung heute ist folgendes zu sagen. Von dem Beschuldigten, dem Abgeordneten Metzger, wird behauptet, daß er in der Wandelhalle des Landtags in Hessen in bezug auf den Privatkläger erklärt habe, er halte den im Plenum des Landtags gemachten Vorwurf des unsauberen Journalismus gegenüber dem Privatkläger aufrecht. Die Äußerung „unsauberer Journalismus" ist ein tadelndes Werturteil und keine Tatsachenbehauptung. Sie ist ein Werturteil, das letzthin logisch einem Beweise nicht zugänglich ist, da durch den Ausdruck „unsauberer Journalismus" auch reine Fragen des Geschmacks, des Stils oder der Stoffwahl getroffen werden können. Allerdings steht hier dieses tadelnde Werturteil mit einer Reihe von Tatsachen, die dem Beweise zugänglich sind, in logischem Zusammenhang. Dabei überwiegt aber der Charakter des Werturteils bei weitem die in ihm eingeschlossene Bezugnahme auf eine Unterstellung von Tatsachen. Wenn man dieser Folgerung nach den Tatumständen beitritt, würde es sich möglicherweise um eine einfache Beleidigung handeln, deren politischer Charakter, aus den Umständen zu folgern, nicht zu bestreiten ist. Beleidigungen politischen Charakters sollen aber nach den Grundsätzen des Bundestages in der Regel nicht zur Aufhebung der Immunität führen. Eine einfache Beleidigung, die im Parlament erfolgt ist, kann nicht verfolgt werden. Auch wenn diese Beleidigung außerhalb des Parlaments geschehen ist, darf sie nicht verfolgt werden, wenn sie nicht zugleich eine Verleumdung im Sinne des § 187 StGB darstellt. Die Erfüllung des Tatbestandes des
187 StGB behauptet aber selbst der Privatkläger nicht.
Der Ausschuß ist somit zu dem Ergebnis gekommen, dem Hohen Hause zu empfehlen, die Genehmigung zum Strafverfahren gegen den Abgeordneten Metzger nicht zu erteilen.
*) Siehe Anlage Seite 608
Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
Ich bitte die Damen und Herren, die den beiden Anträgen des Ausschusses .für Wahlprüfung und Immunität, betreffend Genehmigung zum Strafverfahren gegen den Abgeordneten Dr. Rinke und den Abgeordneten Metzger, zuzustimmen wünschen, eine Hand zu erheben. — Das ist die Mehrheit; die beiden Anträge sind angenommen.
Ich frage: sind noch Abgeordnete vorhanden, die
in der namentlichen Abstimmung ihre Stimme
abgeben wollen? — Das ist nicht der Fall. Dann I schließe ich die namentliche Abstimmung.
Meine Damen und Herren, ich gebe das vorläufige Ergebnis*) der namentlichen Abstimmung bekannt. Es haben sich an der Abstimmung insgesamt 478 Abgeordnete und 22 Berliner Abgeordnete beteiligt. Mit Ja haben gestimmt 334 Abgeordnete, mit Nein 144 Abgeordnete. Von den Berliner Abgeordneten, deren Stimmen nicht gezählt werden, haben mit Ja gestimmt 11, mit Nein 11. Die in Art. 79 des Grundgesetzes für die Änderung des Grundgesetzes vorgesehene Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages beträgt 325 Abgeordnete. Ich stelle fest, daß die in Art. 79 des Grundgesetzes geforderte Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Bundestages in dieser namentlichen Abstimmung erreicht ist. Damit ist das Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes in der dritten Beratung in der Schlußabstimmung angenommen.
Meine Damen und Herren! Ist es der Wunsch, daß zunächst die Punkte erledigt werden, die sich schneller erledigen lassen, um dann zu Punkt 2 der Tagesordnung zu kommen? — Das scheint Ihre Meinung zu sein.
Herr Abgeordneter Höcker ist inzwischen eingetroffen. Dann kommen wir zur
Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung und Immunität betreffend Genehmigung zum Strafverfahren gegen den Abgeordneten Even gemäß Schreiben des Bundesministers der Justiz. vom 6. November 1953 (Drucksache 237).
Bitte schön, Herr Abgeordneter!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Antrag auf Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Even liegt folgender Tatbestand zugrunde. Das Vorstandsmitglied des DGB Haferkamp, Düsseldorf, hat unter dem 22. Juli 1953 Strafantrag gegen den Abgeordneten Even wegen Beleidigung gestellt wegen eines in der „Ketteler Wacht" am 1. Mai 1953 erschienenen Artikels, der die Überschrift trug „Unsaubere Methoden". Der Abgeordnete Even war damals — und ist es wohl heute noch — verantwortlicher Redakteur der „Ketteler Wacht".
Der Artikel enthält folgende Bemerkungen: ,.Alle jene, die sich dem Monopolanspruch des DGB nicht beugen wollen, werden vom DGB und seinen Vertretern als Reaktionäre und Gewerkschaftsspalter beschimpft. Besonders tut sich Herr Haferkamp hervor, der sich in hysterischen Angriffen gegen die KAB fast überschlägt."
Aus diesem Sachverhalt — auch aus einer Reihe von anderen Bemerkungen wie' „Reaktionäre"
*) Vgl. das endgültige Ergebnis Seite 614
und „Unternehmerknechte" — glaubt Herr Haferkamp sich beleidigt und hat aus diesem Grunde Strafantrag gegen Herrn Even gestellt.
Der Ausschuß hat sich in seiner Sitzung eingehend mit diesen Vorwürfen beschäftigt und ist zu der Auffassung gekommen — und in der Diskussion kam das besonders zum Ausdruck —, daß diese Auseinandersetzungen in einer Zeit erfolgt sind, als solche im großen politischen Raum zwischen einem Teil von christlichen und anderen Gewerkschaftlern geführt worden sind. Er sieht deshalb diese Bemerkungen als keine Beleidigung an, sondern ist der Auffassung, daß hier eine Auseinandersetzung im großen politischen Raum stattgefunden hat. Der Ausschuß schlägt dem Hohen Hause vor, dem Antrag des Immunitätsausschusses beizutreten, die Immunität des Abgeordneten Even nicht aufzuheben.
Ich bitte das Hohe Haus, diesen Antrag anzunehmen.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter. Das Wort wird nicht gewünscht.
Ich bitte die Damen und Herren, die diesem Antrag zuzustimmen wünschen, eine Hand zu erheben. — Das ist die Mehrheit; der Antrag ist angenommen.
Ich rufe dann Punkt 5 auf:
Beratung des Mündlichen Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung und Immunität betreffend Genehmigung zum Strafverfahren gegen den Abgeordneten Dr. Henn gemäß Schreiben des Bundesministers der Justiz vom 30. November 1953 (Drucksache 242).
Berichterstatter ist Herr Abgeordneter Dr. Klötzer. Bitte schön!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann mich mit meiner Berichterstattung sehr kurz fassen. Ein Angehöriger einer Bundesbehörde, der bis 1948 in der sowjetisch besetzten Zone lebte und dort bei mehreren Dienststellen tätig war, fühlt sich durch einen Brief beleidigt, den der Abgeordnete Dr. Henn in seiner Eigenschaft als Leiter einer Berliner Dienststelle seiner Partei an eine Bonner Dienststelle der gleichen Partei gerichtet hat. In diesem Brief hat Herr Dr. Henn Bedenken hinsichtlich der politischen Zuverlässigkeit dieses Angestellten der Bundesbehörde geltend gemacht und Vorwürfe wegen der politischen Tätigkeit dieses Herrn in der Zeit, als er in der Sowjetzone lebte, erhoben. Der Inhalt dieses Briefes ist dieser Bundesbehörde und auch dem betreffenden Herrn selbst zur Kenntnis gelangt. Er beabsichtigt nun, gegen Herrn Dr. Henn strafrechtlich vorzugehen.
Der Ausschuß hatte abzuwägen zwischen dem berechtigten Verlangen eines Staatsbürgers, sich gegen Vorwürfe zu verteidigen, selbst wenn diese von einem Abgeordneten erhoben werden, und der Überlegung, ob und inwieweit ein Mitglied dieses Hauses berechtigt, ja geradezu verpflichtet ist, im Personellen und Sachlichen Kritik zu üben und auf Mißstände in der öffentlichen Verwaltung hinzuweisen. Der Ausschuß sieht in dem Verhalten des Herrn Dr. Henn die Wahrung berechtigter Interessen im Sinne des § 193 des Strafgesetzbuches. Er schlägt daher dem Hohen Hause vor, die Immunität des Abgeordneten Dr. Henn nicht aufzuheben.
Ich darf noch darauf hinweisen, daß bereits der 1. Bundestag mit dieser Sache beschäftigt war und in seiner Sitzung vom 3. Juli 1953 auf Grund der gleichen, heute wieder zur Debatte stehenden Tatbestände ebenfalls zu der Ablehnung des Antrags gekommen ist und die Immunität nicht aufgehoben hat.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
Herr Abgeordneter Dr. Becker, bitte schön.
Dem Vorschlag des Ausschusses stimme ich selbstverständlich zu. Ich füge zum Tatbestand hinzu, daß gleichzeitig eine Zivilklage auf Unterlassung erhoben ist; dieser Zivilprozeß berührt natürlich dieses Haus und die Frage der Immunität nicht. Ich stelle aber fest, daß, wenn ein deutscher Abgeordneter in Erfüllung seiner Pflicht eine solche Warnung gibt, dann derartige Verfahren überhaupt die Konsequenz sein können. Wenn ich recht unterrichtet bin, soll dieses Strafverfahren, das jetzt ausgesetzt ist, sogar als Offizialverfahren aufgezogen sein. Wenn das der Fall ist, dann hört doch eigentlich alles auf!
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich bitte die Damen und Herren, die dem Antrag des Ausschusses, den Abgeordneter Dr. Klötzer vorgetragen hat — Drucksache 242 —, zuzustimmen wünschen, eine Hand zu erheben. — Das ist die Mehrheit. Der Antrag ist angenommen.
Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über die Verlängerung der Wahlperiode der Betriebsräte in den öffentlichen Verwaltungen und Betrieben des Bundes und der bundesunmittelbaren Körperschaften des öffentlichen Rechts (Drucksache 271).
Ich bin darüber unterrichtet worden, daß eine Vereinbarung zwischen allen Fraktionen getroffen worden sei, heute nicht nur die erste Beratung dieses Gesetzentwurfs, sondern alle drei Lesungen durchzuführen. Ich rufe zur ersten Beratung Drucksache 271 auf. — Es liegen keine Wortmeldungen vor. Damit ist die erste Beratung beendet.
Ich rufe auf zur
zweiten Beratung,
und zwar § 1, — § 2, — § 3, — Einleitung und Überschrift. — Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die allgemeine Aussprache der Einzelberatung der zweiten Lesung. Ich bitte die Damen und Herren, die den aufgerufenen Paragraphen, Einleitung und Überschrift zuzustimmen wünschen, eine Hand zu erheben. — Das ist die Mehrheit. Diese Paragraphen, Einleitung und Überschrift sind angenommen.
Ich komme zur
dritten Beratung.
— Zur allgemeinen Aussprache liegt keine Wortmeldung vor. Einzelberatung entfällt. Ich komme
zur Abstimmung in der dritten Beratung und zur
Schlußabstimmung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes über die Verlängerung der Wahlperiode der Betriebsräte in
den öffentlichen Verwaltungen und Betrieben des
Bundes und der bundesunmittelbaren Körperschaften des öffentlichen Rechts. Ich bitte die Damen und Herren, die diesem Gesetzentwurf in der
dritten Beratung und in der Schlußabstimmung insgesamt zuzustimmen wünschen, sich von ihren Plätzen zu erheben. — Das ist die Mehrheit. Ich stelle fest, daß dieses Gesetz in der dritten Beratung und in der Schlußabstimmung einstimmig angenommen worden ist.
Ich komme zu Punkt 8:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes betreffend die Vereinbarung vom 23. Februar 1953 über die Regelung der Schweizerfranken-Grundschulden ;
Mündlicher Bericht des Ausschusses für Geld und Kredit (Drucksache 238). (Erste Beratung: 10. Sitzung.)
Der mündliche Bericht soll vom Herrn Abgeordneten Dr. Hesberg erstattet werden. Bitte schön!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, der mit der Drucksache 159 vorgelegt worden ist, enthält die Zustimmungserklärung zu der vor Jahresfrist, nämlich am 25. Februar 1953, getroffenen Vereinbarung über die Regelung der Schweizerfranken-Grundschulden mit der Wirkung, daß sie mit der Annahme innerstaatliches Recht wird.
Die Vereinbarung, mit der sich der Ausschuß für Geld und Kredit am 4. Februar dieses Jahres befaßt hat, stellt ein ergänzendes Abkommen zu dem sogenannten Londoner Schuldenabkommen dar. Sie betrifft Realkreditverpflichtungen deutscher Grundeigentümer aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg,
ehemalige Goldhypotheken, die nach Aufhebung der Goldklausel, nämlich 1914, durch Abkommen in den Jahren 1920 und 1923 in Franken-Grundschulden umgewandelt, mithin Valutagrundschulden geworden sind.
Die lange Laufzeit dieser Anlagen in Höhe von 85 Millionen Schweizerfranken, davon etwa die Hälfte in Berlin, die nach den getroffenen Vereinbarungen in den Jahren 1958 bis 1970 zu tilgen sind — so daß die Laufzeit über 50 Jahre beträgt —, beinhaltet Verzichte und Sorgen sowohl der Gläubiger als auch der Schuldner. Letztere sind schon vor dem zweiten Weltkriege von der rückläufigen Wertentwicklung der Altbauten getroffen gewesen. Die dadurch verschobene Relation zwischen Belastung und Wert wurde noch nachteilig beeinflußt durch das Umrechnungsverhältnis des Schweizerfranken zur D-Mark seit 1948. Rund
50 v. H. der belasteten Objekte sind kriegsbetroffen, zum größten Teil zerstört. Deswegen beläuft sich auch die derzeitige Belastung auf das Dreifache der Steuerwerte dieser Grundstücke. Über 50 v. H. der Grundstücke haben Ertragsausfälle von mehr als 50 %, ein Drittel sogar über 90% Ertragsminderung zu verzeichnen. Die in der sogenannten Hauszinssteuerära vereinbarungsgemäß gebildeten Tilgungsfonds zwecks Rückzahlung der Schweizerfranken sind der Währungsreform anheimgefallen, und Schuldenabstriche, die R-Mark-Schuldnern bei der Hypothekengewinnabgabe gegeben wurden, sind in diesem Umfang hier nicht gegeben. Doch haben die Gläubiger gegenüber der normalen Regelung im Londoner Schuldenabkommen bei der Tilgung dieser Belastungen Schuldenabstriche gegenüber den Wertverhältnissen zugestanden. Dies hat
der Ausschuß ebenso gewürdigt, wie die bisherigen langjährigen und weiter anhaltenden Ertragsverzichte seitens der Gläubiger.
Der Ausschuß ist daher zu dem Schluß gekommen, die Zustimmung zu dem Gesetzentwurf zu empfehlen. Dabei ist er sich bewußt gewesen, daß die weitere Durchführung zu gegebener Zeit Bundesregierung und Bundestag wird beschäftigen müssen.
Meine Damen und Herren! Dem Bericht der Drucksache 238 habe ich hinzuzufügen, daß Art. III des Gesetzentwurfs nicht der von den zuständigen Bundesressorts inzwischen vereinbarten Formulierung der Berlin-Klausel in Ratifizierungsgesetzen entspricht. Die Bundesregierung hat daher auch der vom Bundesrat beschlossenen Änderung des Art. III zugestimmt. Demgemäß darf ich Ihnen namens des Ausschusses empfehlen, dem Gesetzentwurf mit der Maßgabe zuzustimmen, daß Art. III folgende Fassung erhält:
Dieses Gesetz gilt auch im Land Berlin, wenn das Land Berlin die Anwendung dieses Gesetzes feststellt.
Der Tag, an dem die Vereinbarung gemäß den Artikeln 19, 24 und 35 des Abkommens über Deutsche Auslandsschulden im Land Berlin in Kraft tritt, ist der 5. Oktober 1953.
Ich danke dem Herrn Berichterstatter.
Ich eröffne die Aussprache. Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung in der dritten Beratung. Ich rufe auf Art. I, II, III, IV. — Wer für diese Bestimmungen ist, den bitte ich, die Hand zu erheben. — Gegenprobe! — Ich stelle einstimmige Annahme fest. Gemäß § 88 der Geschäftsordnung findet eine Schlußabstimmung nicht statt.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Verkündung des Gesetzes über Straffreiheit ;
b) Erste Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit ;
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Höcherl, Strauß, Stücklen und Genossen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit .
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll zunächst zu Punkt 2 b der Bundesminister der Justiz sprechen. Ich erteile ihm das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe heute die Ehre, Ihnen den Entwurf eines Straffreiheitsgesetzes zur Beschlußfassung bzw. zur Verweisung an den Rechtsausschuß vorzulegen.
Die Bundesregierung hatte bereits im Januar den Entwurf eines neuen Straffreiheitsgesetzes vorgelegt. Seitdem die Tatsache der Vorbereitung des Gesetzes bekanntgeworden ist, hat sich die Öffentlichkeit reichlich mit der Frage beschäftigt, ob ein Bedürfnis für eine neue Amnestie bestehe und gegebenenfalls, wie sie auszugestalten sei. Es ist ja bekanntgeworden — die Tageszeitungen haben auch darüber berichtet —, daß die Meinungen über
diese Frage weit auseinanderklaffen. Die Auffassungen reichen von der Forderung nach einer Generalamnestie weitesten Ausmaßes über die Stellungnahme zu den verschiedensten Fragen ihrer Ausgestaltung bis zur grundsätzlichen Ablehnung einer Amnestie überhaupt. Insbesondere haben sich die Länder in ihrer Gesamtheit zu einer Ablehnung der Amnestie entschlossen, obwohl einige von ihnen sich bei den Vorbesprechungen zu dem Gedanken eines Straffreiheitsgesetzes durchaus positiv eingestellt und sogar Erweiterungswünsche gegenüber Einzelvorschlägen der Bundesregierung geäußert hatten. Der Bundesrat hat die Ablehnung damit begründet, daß der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf rechtspolitisch bedenklich und kriminalpolitisch gefährlich sei. Man glaubt, es genüge zum Ausgleich von Härten, daß die Einzelfälle von Gerichten und Gnadenbehörden individuell behandelt werden.
Meine Damen und Herren, es ist für eine Bundesregierung nicht immer ganz einfach, ein Straffreiheitsgesetz vorzulegen. Insbesondere der Bundesminister der Justiz muß sich der kriminalpolitischen Bedenken, die ein solches Gesetz in sich schließt, bewußt sein und abwägen, ob diese kriminalpolitischen Bedenken entscheidend ins Gewicht fallen gegenüber dem anderen Gedanken, der zur Vorlage dieses Gesetzes geführt hat, dem Gedanken, einen Schlußstrich zu ziehen unter eine chaotische Zeit, für die niemand von uns verantwortlich war und die Menschen zu Straftaten oder Gesetzesübertretungen geführt hat, die sie sonst niemals begangen hätten.
Das Bundeskabinett hat sich nach gewissenhafter Prüfung aller dieser Gesichtspunkte, die für und gegen den Erlaß eines neuen Straffreiheitsgesetzes und für und wider die Fassung des im Bundesjustizministerium erarbeiteten Entwurfs vorgebracht worden sind, verpflichtet gefühlt, den Regierungsentwurf so, wie er dem Bundesrat vorgelegt worden war, unverändert dem Hohen Hause zur Beschlußfassung zu unterbreiten. Es wird erforderlich sein, daß ich Ihnen die Gründe darlege, die das Bundeskabinett bei seinem Beschluß geleitet haben. Ich muß damit zu einigen grundsätzlichen Fragen Stellung nehmen, die in dem Streit der Meinungen eine erhebliche Rolle gespielt haben.
Die erste Frage ging dahin, ob sich im jetzigen Zeitpunkt der Erlaß eines neuen Straffreiheitsgesetzes überhaupt rechtfertigen lasse. Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß diese Frage unbedingt bejaht werden muß, und zwar aus folgenden Gründen. Das Straffreiheitsgesetz vom 31. Dezember 1949 konnte dem Bedürfnis, einen Schlußstrich unter die Zeit des Zusammenbruchs und die damit in Verbindung stehenden Straftaten zu ziehen, nicht voll entsprechen. Es konnte gewisse Tatbestände von politischer Tragweite nicht erfassen und mußte insbesondere wegen des zu befürchtenden Widerstandes der Besatzungsmächte auf manche Vorschriften verzichten, deren Erlaß zur Bereinigung zweckvoll und sogar notwendig gewesen wäre. Ich brauche diesen Gesichtspunkt wohl nicht zu vertiefen, denn sie alle kennen ja selber die Auswirkungen der Besatzungsverhältnisse, die uns gewiß nicht immer leicht gefallen sind. Diese Verhältnisse haben manchen, der sich z. B. vor einem Entnazifizierungs- und Spruchkammerverfahren scheute oder gar eine Auslieferung durch die Besatzungsmächte befürchten mußte, auch über den 31. März, also über den im alten
Amnestiegesetz bestimmten Endtermin für die Straflosigkeit der Verschleierung des Personenstandes hinaus in eine Lage gedrängt, die sie Name und Vergangenheit verheimlichen oder weiter in der Illegalität verbleiben ließ. In diesem Zusammenhang sind manche mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Im übrigen ist auch zu berücksichtigen, daß das Jahr 1949 am Beginn einer Aufbauperiode stand, deren Auswirkungen und deren Dauer damals noch nicht zu übersehen waren. So hat sich, was nicht vorausgesehen werden konnte, z. B. das Flüchtlingselend, das die Grundlage für manche Straftaten bildete, nur zum Teil verringert, bei ganzen Personengruppen aber hartnäckig erhalten.
Um den hier entstandenen Bedürfnissen gerecht zu werden, hat man bereits Anfang 1952, als sich eine Festigung des Gesundungsprozesses abzeichnete, den Plan gefaßt, zur Schließung der Lücken der Amnestie von 1949 ein neues Straffreiheitsgesetz vorzubereiten. Seine Aufgabe mußte und sollte also sein, die rücken zu schließen, die das alte Amnestiegesetz offengelassen hatte. Als Zeitpunkt der Einreichung des Gesetzes war ursprünglich die für Ende 1952 erwartete Ratifikation des Deutschland-Vertrags und des Vertrags über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft vorgesehen. Der Pian ließ sich nicht verwirklichen. Jetzt, über vier Jahre nach der letzten Amnestie, die sich notgedrungen mit einem allzu engen Rahmen zufrieden geben mußte und daher die erforderliche Befriedung nicht bringen konnte, läßt sich ein weiteres Abwarten nach Auffassung der Bundesregierung nicht mehr vertreten.
Die Bundesregierung hat daher bereits in ihrer Sitzung vom 8. September 1953 den Beschluß gefaßt, den Entwurf eines Straffreiheitsgesetzes ausarbeiten zu lassen, der in seinen Grundzügen bereits vorlag, als ich mein Amt als Bundesminister der Justiz antrat. Der mitunter geäußerte Gedanke, die Bundesregierung habe den Wahlsieg vom September vorigen Jahres zum Anlaß genommen, ein Straffreiheitsgesetz zu propagieren, ist völlig unrichtig. Ich betone ausdrücklich, daß es ein rein zufälliges Zusammentreffen ist, wenn die Vorlage des Entwurfs mit dem Arbeitsbeginn des 2. Deutschen Bundestages zusammenfällt.
Mit aller Deutlichkeit darf ich hier feststellen, daß der Entwurf nur eine Ergänzung des alten Amnestiegesetzes bezweckt und daß eine periodische Wiederholung, etwa im Zusammenhang mit dem Beginn einer Legislaturperiode, in keiner Weise beabsichtigt ist. Ich darf hinzufügen, daß nicht daran gedacht wird, in späteren Zeiten derartige äußere Anlässe zu einem Straffreiheitsgesetz zu benützen, wenn nicht die innere Begründung, die wir hier für vorliegend halten, gegeben ist. Das von mir genannte Ziel, das in den Grundzügen des Regierungsentwurfs verankert ist, muß meines Erachtens auch die vom Bundesrat geäußerte Besorgnis zerstreuen.
Ich darf zur Begründung dessen, daß hier wirklich nur ein Schlußstrich unter die Zeit des Zusammenbruchs und die damit zusammenhängenden Straftaten gezogen werden soll, insbesondere auf die Überschriften hinweisen, die die einzelnen Paragraphen tragen. So lautet die Überschrift von § 2 „Straftaten infolge der Kriegs- oder Nachkriegsverhältnisse". § 3 trägt die Überschrift „Straftaten infolge wirtschaftlicher Notlage", § 8 „Taten während des staatlichen Zusammenbruchs", § 9 „Verschleierung des Personenstandes", was also auch
mit dem staatlichen Zusammenbruch, mit den Entnazifizierungsverfahren usw. zusammenhängt. Die Inhaltsangaben dieser Bestimmungen zeigen deutlich, daß der Entwurf auf dem Grundsatz beruht, Lücken zu schließen und damit die frühere Amnestie zu ergänzen.
Die Amnestie soll nur einem beschränkten Personenkreis zugute kommen und insbesondere solche Taten erfassen, die mit den außerordentlichen Verhältnissen zusammenhängen, die durch die Kriegs-und Nachkriegsereignisse entstanden sind und die sich, wie wir alle erwarten und auch erwarten dürfen, nicht wiederholen werden. Hält sich das Gesetz in diesem engen Rahmen, so gibt sein Inhalt selbst die beste Gewähr dafür, daß es nicht aus ähnlichen Erwägungen periodisch wiederholt werden kann.
Ich will es mir versagen, Ihnen hier alle Einzelfälle vorzutragen; ich darf insoweit auf die Begründung verweisen. Aber besonders aufmerksam machen möchte ich Sie auf § 6, der die Beleidigungen im politischen Meinungsstreit behandelt. Die Bundesregierung bejaht uneingeschränkt die Notwendigkeit, für die Sauberkeit des politischen Kampfes und für einen wirksamen Ehrenschutz der im politischen Leben tätigen Personen Sorge zu tragen. Hier geht es aber um eine andere Frage. Die rechts- und linksradikalen Parteien haben in den letzten Jahren einen erbitterten Kampf gegen die freiheitliche Grundordnung geführt. Nach den vorhandenen, sehr genauen Unterlagen haben sich diese Angriffe überwiegend gegen die Bundesregierung, insbesondere gegen den Bundeskanzler und auch gegen einzelne Bundesminister gerichtet. Der rapide Rückgang der links- und rechtsradikalen Parteien hat bewiesen, daß sie im politischen Leben der Bundesrepublik kaum mehr
eine Rolle spielen.
Die Bundesregierung, die also in allen diesen Fällen überwiegend selbst die Verletzte ist, sieht nun den Zeitpunkt gekommen, auch hier eine Befriedung herbeizuführen und Straffreiheit zu gewähren. Die erwähnten Verfahren wegen politischer Beleidigung verletzen oft das Rechtsgefühl nicht nur der Verletzten, sondern auch weiter Kreise des Volkes. Insbesondere hat sich herausgestellt, daß gerade solche Verfahren nur gegen die kleinen Übeltäter durchgeführt werden konnten, gegen untergeordnete Mitglieder radikaler Organisationen, gegen deren Mitläufer, die zum Verteilen von Flugblättern beleidigenden Inhalts bestimmt worden waren, oder gegen Erwerbslose, die versucht hatten, sich mit der Verteilung von Flugblättern einen kleinen Nebenverdienst zu verschaffen. Die wirklichen Übeltäter aber, von denen diese ganze Agitation ausging, die die Veranlasser und die geistigen Urheber dieser Flugblätter waren, bleiben — leider, muß ich sagen — vielfach unbehelligt, und zwar infolge ihrer Tarnung oder wegen Abwesenheit.
Hier liegt ein echtes Problem, das meines Erachtens
eine weitgehende Amnestierung rechtfertigt und
das auch nur auf diesem Wege gelöst werden kann.
Ich möchte auch ganz kurz auf den § 7 des Entwurfs eingehen, der sich mit der Nachrichtentätigkeit beschäftigt. Wir werden allerdings nachher bei der Beantwortung der Großen Anfrage der SPD noch Gelegenheit haben, hierzu im einzelnen Stellung zu nehmen. Im Augenblick möchte ich mir nähere Ausführungen ersparen und mir erlauben,
auf die Begründung des Gesetzentwurfs Bezug zu nehmen. Insgesamt verbleibt die Bundesregierung trotz der vom Bundesrat geäußerten Bedenken auf ihren Vorschlägen, wie sie in den §§ 2 bis 9 des Entwurfs niedergelegt sind, bestehen. Ich hoffe, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß Sie sich der Erkenntnis nicht verschließen werden, daß hier ein wirkliches Bedürfnis für eine beschränkte Amnestie im Rahmen des Regierungsentwurfs besteht und daß die Einwendungen, die der Bundesrat erhoben hat, nicht hinreichend begründet sind.
Abschließend darf ich noch bemerken, daß entgegen der Auffassung des Bundesrats ein ausreichender Ausgleich von Härten nicht dadurch geschaffen werden kann, daß die Gerichte und Gnadenbehörden dem Einzelfall eine individuelle Berücksichtigung zukommen lassen. Die gerichtliche Strafaussetzung zur Bewährung und die bedingte Entlassung sind nur bei Freiheitsstrafen möglich, bei Geldstrafen und Geldbußen dagegen ausgeschlossen. Gnadenerweise aber setzen jeweils voraus, daß die Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen sind. Sie können also keineswegs solchen Tätern helfen, die z. B. aus Furcht vor der Verfolgung untergetaucht sind oder gar die Rückkehr in ihre Heimat meiden; denn gegen sie kann das Verfahren nicht immer durchgeführt werden. In vielen Fällen wäre die Durchführung eines Verfahrens auch unerwünscht. Insbesondere bei Wirtschaftsstraftaten und Ordnungswidrigkeiten besteht unter gewissen Voraussetzungen sogar ein rechtspolitisches Interese daran, von der Durchführung des Verfahrens abzusehen, da die Wirtschaftsentwicklung, wie etwa bei dem Erwerb der sogenannten Schwarzkohlen in der Zeit der Koreakrise in den Wintern 1950/51 und 1951/52 über die Verhältnisse, die zu diesen Straftaten geführt haben, hinweggegangen ist. Insgesamt bieten somit die der Strafrechtspflege ohnehin zu Gebote stehenden Mittel nicht die Möglichkeit, das Ziel einer Gesamtbereinigung der Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse zu erreichen.
Ich darf abschließend noch einmal betonen: es ist der Zweck und das alleinige Ziel dieses Entwurfes, hier eine Befriedung herbeizuführen, einen Schlußstrich unter Straftaten zu ziehen, die in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhang mit den Verhältnissen einer chaotischen Zeit begangen worden sind. Wir werden ja im Rechtsausschuß noch Gelegenheit haben, uns über die Einzelheiten des Entwurfs auszusprechen. Ich weiß, von der einen Seite werden einschränkende, von der anderen Seite ausweitende Bestimmungen für richtig gehalten. Aber ich bin überzeugt, daß es gelingen wird, für den Entwurf eine Grundlage zu finden, die sowohl von der Regierung als auch vom Parlament durchaus verantwortet und vertreten werden kann.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Greve das Wort zur Begründung der Großen Anfrage der Fraktion der SPD betreffend Verkündung des Gesetzes über Straffreiheit, Punkt 2 a der Tagesordnung.
Dr. Greve , Anfragender: Herr Präsident!
Darf ich zu gleicher Zeit zu den Ausführungen des
. Herrn Bundesministers der Justiz hinsichtlich der
Begründung der Regierungsvorlage Stellung nehmen? Das vereinfacht das Verfahren.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jawohl!
Dr. Greve , Anfragender: Meine Damen und Herren! Ich bedaure den Herrn Bundesminister der Justiz, daß er heute schon ein zweites Mal hier für die Bundesregierung eine Vorlage vertreten mußte, die nur sehr schlecht zu vertreten ist, diese offenbar noch schlechter als die unter Punkt 1 der heutigen Tagesordnung.
— Man kann auch anderer Meinung sein. Aber ich vertrete hier meine Meinung, Herr Kollege Pünder, und nicht die Ihre.
Meine Damen und Herren, die Vorlage zu diesem Amnestiegesetz hat eine unrühmliche Geschichte; am unrühmlichsten ist die Länge dieser Geschichte. Denn es ist — ich glaube, darüber bestehen keine unterschiedlichen Meinungen — wohl das Wesen eines Amnestiegesetzes, daß die Amnestie selbst so schnell und so unmittelbar wie möglich kommt und daß nicht den Delinquenten sehr lange Zeit gegeben wird, sich in ihren strafbaren Handlungen darauf einzurichten. Wer wie ich als Anwalt in der praktischen Jurisprudenz steht, weiß, daß augenblicklich unter den Beschuldigten, unter den Angeklagten eine schwer zu diagnostizierende Amnestiekrankheit ausgebrochen ist, von der zuweilen auch Anwälte und Staatsanwälte befallen werden; das will ich hier gar nicht ausschließen. Aber wenn man ein Amnestiegesetz mit Wirksamkeit hätte durchbringen wollen, dann hätte man es schnell durchbringen und hätte vor allen Dingen auch dafür Sorge tragen müssen, daß unter der Länge der Behandlung und Beratung eines solchen Gesetzes die Rechtspflege keinen Schaden nimmt.
Was ist schließlich das Wesen einer Amnestie? Darüber haben Sie uns hier leider wenig gesagt, Herr Bundesjustizminister. Ich hätte gewünscht, daß Sie sich zumindest mit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 22. April 1953 einmal etwas näher auseinandergesetzt hätten. In diesem Beschluß kommt zum Ausdruck, daß die Anschauungen über das Wesen der Amnestie Wandlungen unterworfen gewesen sind und daß heute im Volksbewußtsein die Gewährung von Amnestie nicht mehr als Ausfluß einer dem Recht vorgehenden Gnade, sondern als Korrektur des Rechts selbst angesehen wird. Wenn man die Amnestie heute als Korrektur des Rechtes selbst ansieht, dann kommt einem auf der einen Seite die Lückenhaftigkeit des Amnestiegesetzes vom 31. Dezember 1949 zum Bewußtsein, zum anderen aber auch die meines Erachtens noch größere Lückenhaftigkeit der uns jetzt präsentierten Vorlage. Das Wesen und der Sinn einer Amnestie erfordern es, daß sie entweder klar und eindeutig im Hinblick auf die Straftatbestände oder überhaupt nicht beschlossen wird.
Auf die verschiedenen in der uns zur Beratung überwiesenen Vorlage enthaltenen Bestimmungen hat der Herr Bundesminister der Justiz selbst schon hingewiesen, ich komme nachher noch im einzelnen darauf.
Bei der Amnestie darf es sich, und das berührt sowohl den Zeitpunkt als auch den Anlaß, nur um eine ganz seltene Angelegenheit aus einem besonderen Anlaß im Leben eines Staates und eines Volkes handeln. Zur Begründung darf ich mich hier auf die Ausführungen des Herrn Staatssekretärs im Bundesjustizministerium beziehen, der in der Beratung der Vorlage im Bundesrat am 18. September 1953 vorgetragen hat — ich zitiere wörtlich —:
Jede Amnestie ist ein außerordentlicher Eingriff in die Strafrechtspflege, der nur gerechtfertigt ist, wenn außergewöhnliche Verhältnisse ohne einen solchen Eingriff nicht bereinigt werden können und wenn das Gesamtinteresse an einer Befriedung nach dem Ablauf von anomalen Zeiten den Vorrang vor der Durchsetzung von Strafdrohungen in jedem Einzelfall hat.
Hier ist nun meine Auffassung und die meiner politischen Freunde von der der Bundesregierung verschieden. Der Herr Bundesjustizminister hat uns mit der Begründung, die er heute zu dem Gesetzentwurf gegeben hat, nicht davon zu überzeugen vermocht, daß eben außergewöhnliche Verhältnisse vorliegen, die die Amnestierung nicht etwa ganz allgemein von im einzelnen nicht aufgezählten strafbaren Handlungen angebracht erscheinen lassen, sondern die es nach der Auffassung der Bundesregierung angebracht erscheinen lassen, einzelne Straftatbestände ganz willkürlich herauszupicken, ob es sich da um Verbrechen handelt, die in der Zeit des Zusammenbruchs begangen worden sind, ob es sich da um Beleidigungen im politischen Meinungsstreit, um Verschleierung von Personenständen oder — es ist auf verschiedene Delikte hingewiesen, die in dem ersten Gesetz nicht berücksichtigt werden konnten — um strafbare Handlungen auf dem Gebiete des Devisenverkehrs usw. handelt. Also man hat sich hier willkürlich ohne irgendeinen Zusammenhang einzelne Straftatbestände vorgenommen, bei denen offenbar irgendeine Vorstellung für ihre Amnestiewürdigkeit vorhanden gewesen sein muß; nur man sagt es uns nicht, wir können nur ahnen, um was es sich dabei handelt.
Meine verehrten Damen und Herren, ich glaube nicht, daß es sich aus der rechtsstaatlichen und kriminalpolitischen Situation, in der wir uns heute befinden, zwangsläufig ergibt, im Interesse der Strafrechtspflege müsse zum .Mittel eines Amnestiegesetzes gegriffen werden, weil keine anderen Möglichkeiten gegeben sind, im einzelnen Fall Gnade vor Recht ergehen zu lassen.
Ich will hier gleich auf die letzten Ausführungen eingehen, die Sie eben hier gemacht haben, Herr Bundesminister der Justiz. Wenn Sie sich bei den Praktikern der Strafrechtspflege in der Bundesrepublik umhören, dann werden Sie, glaube ich, feststellen, daß die Meinung derjenigen überwiegt, die sagen, daß man es, wenn man einzelne Straftaten berücksichtigen will, im Wege der Gnade und nicht im Wege der Amnestie machen sollte.
Das ist weitgehend die Auffassung, wie sie unter den Praktikern in der Strafrechtspflege heute vorhanden ist. Ein Beweis dafür ist schließlich auch die Abstimmung im Bundesrat, der sich ganz eindeutig, nämlich einstimmig, gegen die Verabschiedung dieses Amnestiegesetzes ausgesprochen hat.
Der Umfang und die Bedeutung des Gesetzes erfordern es leider, daß ich auf einzelne Punkte der Begründung, die uns die Bundesregierung in ihrer Vorlage gegeben hat, etwas näher eingehe. Da ist zunächst der Zeitpunkt. Ich glaube nicht, daß einer, der die Dinge ernsthaft betrachtet, sagen kann, daß das Datum rein zufällig gewählt ist und daß der Zusammenfall der Ankündigung eines Amnestiegesetzes mit dem Ausgang der Bundestagswahl nichts zu tun hat. Mit beredten, aber nicht überzeugenden Worten hat der Herr Bundesjustizminister eben zweimal versucht, uns dennoch klarzumachen, es sei rein zufällig, daß die erste Mitteilung ausgerechnet am 9. September 1953 erfolgte, also drei Tage nach dem Tage der Bundestagswahl, obwohl man bereits seit anderthalb Jahren im Bundesjustizministerium an diesem Amnestiegesetz arbeitet, bis zum 9. September 1953 gegenüber der Öffentlichkeit aber nichts darüber hat verlauten lassen. Also, Herr Bundesjustizminister, das ist nicht nur unverständlich, sondern ich persönlich nehme Ihnen das einfach nicht ab.
Der § 6, auf den Sie eingegangen sind, scheint mir doch in gewisser Beziehung auch etwas mit den Bundestagswahlen zu tun zu haben; denn mir ist noch in lebhafter Erinnerung, daß gerade vor den Bundestagswahlen ein sehr lebhafter Meinungsstreit in der politischen Auseinandersetzung stattgefunden hat und daß nicht alle diejenigen, die sich heute mit uns ebenfalls für die Sauberkeit im politischen Meinungsstreit aussprechen, das vor dem 6. September 1953 wahrgemacht haben. Ich will hier nicht nur von den Rechts- und Linksradikalen sprechen, die u. a. auch den Herrn Bundeskanzler angegriffen haben, ich will ruhig auch einmal von dem Herrn Bundeskanzler sprechen
— wie es mein Kollege Arndt heute auch schon getan hat —, der schließlich Herrn Schroth und Herrn Scharley bezichtigt hat, aus der Ostzone SEDistische oder kommunistische Gelder für die Zwecke meiner Partei in Empfang genommen zu haben. Offenbar ist das doch eine Art der Betätigung im politischen Meinungsstreit, die unter § 186 des Strafgesetzbuches fallen müßte und nicht unter § 6 dieses Straffreiheitsgesetzes, meine verehrten Anwesenden!
Aber irgendwie dürfte wohl eine Beziehung zwischen diesen Äußerungen im politischen Meinungsstreit und dem § 6 dieser Vorlage gegeben sein, und das ist dann schließlich auch nicht allein damit abzutun, daß man darauf hinweist — was wir ohne weiteres als richtig unterstellen wollen —, daß der Herr Bundeskanzler von rechts- und linksradikaler Seite in einer Art und Weise angegriffen worden ist, wie wir es nicht wünschen, daß es geschieht, und wie wir es, glaube ich, auch nicht praktiziert haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Zeitpunkt kann heute, wenn dieses Gesetz wirklich Rechtskraft erlangen sollte, überhaupt nicht mehr so bestimmt werden, wie es im Interesse einer geordneten Rechtspflege wünschenswert gewesen wäre. Ob wir den 1. Oktober oder ob wir irgendein anderes Datum nehmen, spielt keine Rolle. Ich sagte eben schon, die Rechtspflege selbst ist in große Schwierigkeiten gekommen, und wenn die Vorlage in den Ausschuß überwiesen wird, dann müssen wir dort versuchen, den besten Zeitpunkt
zu finden, den wir überhaupt für diese Vorlage, wenn die Mehrheit sie zu verabschieden wünscht, finden können. Der 1. Oktober hat, ob Sie das bestreiten oder nicht, meines Erachtens eine viel zu nahe Beziehung zur Bundestagswahl. Dieses Datum ist für uns unerträglich. Das hieße nämlich gerade hinsichtlich des § 6 einen Freibrief für die künftige Bundestagswahl ausstellen, vor der doch wohl auch wieder ein politischer Meinungsstreit stattfinden wird. Es wird dann schon heute für manche möglich sein, sich darauf einzurichten, daß man eben nach einer entsprechend ausgegangenen Bundestagswahl im Wege eines Amnestiegesetzes das korrigieren wird, was man vorher im politischen Meinungsstreit an Sauberkeit hat vermissen lassen. Aus diesem Grunde können wir zu dem Datum des 1. Oktober unter gar keinen Umständen ja sagen.
Es kommen nun die Tatbestände, die Sie unter den Überschriften „Straftaten infolge der Kriegsoder Nachkriegsereignisse" und „Straftaten infolge wirtschaftlicher Notlage" mit der Differenzierung der zu erwartenden oder verhängten Freiheitsstrafen fassen. Wir vermögen nicht einzusehen, daß diese Art von Kautschukklausel geeignet ist, von vornherein Klarheit darüber zu schaffen, welche Straftatbestände nun unter die Amnestie fallen und welche nicht unter die Amnestie fallen. Es ist nämlich die Aufgabe des Gesetzgebers, zu sagen, welche strafbaren Handlungen amnestiert werden sollen. Man kann es nicht dem Richter überlassen, sich nachher auszusuchen, ob er einen strafbaren Tatbestand unter den § 2 oder unter den § 3 dieser Vorlage subsumieren oder ob er ihn nicht darunter subsumieren kann. Eine Amnestie kann, wie ich schon sagte, nur klar und eindeutig und umfassend hinsichtlich der Tatbestände gewährt werden, oder man muß die Finger von der Amnestie lassen, was ich der Bundesregierung gewünscht hätte. Die amnestiewürdigen Straftatbestände, wie sie hier ihren Niederschlag gefunden haben, sind für uns als Gesetzgeber unbrauchbar und sind noch unbrauchbarer für den Richter, der das Gesetz anwenden soll.
Zu § 5, Steuer- und Monopolvergehen, brauchen wir hier im einzelnen nichts zu sagen. Zu § 6 habe ich mich bereits geäußert.
Die wichtigste Frage, die der Herr Bundesjustizminister hier leider nicht angeschnitten hat, ist allerdings die Frage des § 7. Ich nehme an, daß noch einige andere Kollegen dazu etwas zu sagen haben. Ich komme hier zu gleicher Zeit zur Begründung der Großen Anfrage meiner Fraktion. Der erste Deutsche Bundestag hat zum Schluß der Legislaturperiode ein Amnestiegesetz verabschiedet, dessen Übereinstimmung mit den von mir eben entwickelten Grundgedanken von mir selbst nicht bejaht wird. Da befinde ich mich durchaus in Übereinstimmung mit dem Herrn Bundesjustizminister außer Diensten, jetzigen Abgeordneten des Deutschen Bundestages Dr. Thomas Dehler.
- Ja, aber damals waren Sie auch noch Bundesminister der Justiz, Herr Kollege Dr. Dehler! —
Nur bin ich nicht Ihrer Auffassung, daß es unsere Aufgabe ist, festzustellen, ob sich dieses Gesetz mit den Vorschriften des Grundgesetzes in Übereinstimmung befindet oder nicht. Das ist eine Aufgabe, die weder der Legislative noch der Exekutive zusteht, sondern die dem zuständigen Gericht der rechtsprechenden Gewalt zukommt. Das ist nicht nur unsere Auffassung. Es war die Pflicht der
Bundesregierung, das von Bundestag und Bundesrat verabschiedete Gesetz dem Herrn Bundespräsidenten zur Verkündung vorzulegen oder aber andere Konsequenzen zu ziehen, als es die Bundesregierung bisher getan hat. Das ist der Sinn unserer Großen Anfrage auf Drucksache 226.
Wir befinden uns da in guter Gesellschaft, meine Damen und Herren. Ein Journalist von Ansehen aus den Kreisen der Regierungskoalition, nicht aus den Kreisen der Opposition, Herr Paul Sethe von der ,Frankfurter Allgemeinen", hat der Bundesregierung und insbesondere auch dem Herrn Bundesjustizminister einiges ins Gebetbuch oder in ein anderes Buch geschrieben, das ich nicht gern lesen möchte. Herr Sethe schreibt, daß nach dem Sinn der Verfassung der Herr Bundesjustizminister kein Recht hat, die Verkündung des Gesetzes zu verweigern. Es heißt wörtlich:
Die Regierung hat die Pflicht, das angenommene Gesetz zu verkünden.
Er gesteht dem jeweiligen Bundesjustizminister das Recht zu, seine Unterschrift nicht zu leisten, wenn er verfassungsmäßige Bedenken hat. Dann heißt es weiter:
Aber zur Klärung solcher Bedenken ist er allein genau so wenig berechtigt wie jeder andere Staatsbürger auch.
Das ist auch meine Meinung. Wir Sozialdemokraten haben immer, ob hier im Plenum oder im Ausschuß, zum Ausdruck gebracht, daß für uns die Meinung des Bundesministers der Justiz oder irgendeines seiner Beamten nicht deswegen wertvoll oder wertvoller wird, weil sie die Auffassung des Bundesjustizministers oder eines Beamten des Bundesjustizministeriums ist. Sie ist eine unter vielen Meinungen; sie ist aber nicht das, was man heute authentische Interpretation zu nennen beliebt.
So etwas macht man aber nicht nur im Rahmen der Legislative, das hat man auch zu tun beliebt im Rahmen der Exekutive. Es gibt Vorgänge, insbesondere aus der letzten Zeit, wo Rechtsauffassungen des Bundesjustizministeriums durch obere Bundesgerichte, wie z. B. den Bundesfinanzhof — Herr Staatssekretär Dr. Strauß wird wissen, was ich meine — berichtigt worden sind.
— Doch; dann müssen Sie mich nachher berichtigen. Ich kann Ihnen jedenfalls das Gutachten vorlegen, das Sie dem Herrn Bundesfinanzminister über die Fortgültigkeit der §§ 5 und 6 der Spielbankverordnung vom Jahre 1938 erstattet haben, wo das Bundesjustizministerium zum Ausdruck gebracht hat: Diese beiden Paragraphen sind deswegen nicht mehr gültig, weil sie dem Finanzverfassungssystem, das heute in der Bundesrepublik gilt, widersprechen. Das war doch sicher eine authentische Interpretation. Oder wozu war sie bestimmt, wenn sie an das Bundesfinanzministerium weitergegeben worden ist? Doch sicher dazu bestimmt, ernstgenommen zu werden! Der Bundesfinanzhof hat kürzlich in einem Gutachten zum Ausdruck gebracht, daß das alles nicht zutreffend sei; selbstverständlich seien die §§ 5 und 6 Abs. 1 der Spielbankverordnung vom Jahre 1938 gültig und verstießen in keiner Weise gegen das gegenwärtige Finanzverfassungssystem in der Bundesrepublik.
Ich muß sagen, wenn wir uns im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit bewegen wollen, müssen wir uns zunächst einmal daran gewöhnen, Urteile, Beschlüsse usw. oberer Bundesgerichte, also von Organen der rechtsprechenden Gewalt, als das anzusehen, was sie sind, nämlich zunächst einmal als Recht. Das ist es auch, was Herr Sethe hier zum Ausdruck gebracht hat, wenn er weiter schreibt, daß möglicherweise eine Lücke bestehe, wie man in Zweifelsfällen eine solche Entscheidung herbeiführen solle; aber in Streitfragen um die Verfassung habe der Justizminister kein größeres Recht als wir alle.
Zur Entscheidung über Verfassungsstreitigkeiten ist nur das Bundesverfassungsgericht und niemand anders da . . . Wenn er
— der Herr Minister —
sich selber zum Richter in Fragen des Zweifels macht, so handelt er gegen den Kern unseres Verfassungslebens.
Offenbar ist das dem Herrn Bundesjustizminister außer Diensten Dr. Dehler auch zum Bewußtsein gekommen. Denn in einer Rede in der 12. Sitzung am 4. Februar 1954, die er hier im 2. Deutschen Bundestag gehalten hat, finden sich folgende Äußerungen zur Platow-Amnestie, um die es sich ja handelt, wenn wir es mit einem Schlagwort bezeichnen wollen:
Ich habe die Gegenzeichnung verweigert. Meiner Unterschrift bedurfte es übrigens nach dem Grundgesetz und der Geschäftsordnung nicht, denn es genügt die Unterschrift des Herrn Bundeskanzlers. Der Ressortminister ist für die Promulgation nicht vonnöten. Ich habe bei der Behandlung dieses Entwurfs im Vermittlungsausschuß klar erklärt . . .: Ich werde dieses Gesetz niemals unterschreiben.
Das hat Herr Dehler auch nicht getan, ohne damit verfassungsmäßig richtig zu handeln.
Ich will jetzt nicht darüber rechten, ob ich dazu befugt bin.
Ich sage nein; dazu waren Sie nicht befugt, Herr Dr. Dehler.
— Es gibt auch Auffassungen, die der Ihrigen entgegenstehen, auch dann, wenn Sie das nicht mögen.
Ich habe als Minister nie ein Gesetz unterschrieben, das ich für verfassungswidrig hielt.
Das hat offenbar auch niemand von Ihnen verlangt. Wenn ich jemals wieder in diese Situation käme, würde ich es wieder so halten.
Das ist richtig. Aber nun kommt es:
Man kann keinem der Beteiligten — Bundestag, Minister — zumuten, zum Bundesverfassungsgericht zu gehen.
Ja, nun weiß ich nicht mehr, was ist. Man kann dem Bundestag und einem Minister nicht zumuten, zum Bundesverfassungsgericht zu gehen, wenn es sich darum handelt, die Verfassungsmäßigkeit eines vom Parlament beschlossenen Gesetzes von dem zuständigen Organ der rechtsprechenden Gewalt, d. h. also bei uns in der Bundesrepublik zur Zeit vom Bundesverfassungsgericht, klären zu lassen?
Aber das steht hier klipp und klar:
Man kann keinem der Beteiligten — Bundestag, Minister — zumuten, zum Bundesverfassungsgericht zu gehen.
Ich bin der Ansicht, daß die Bundesregierung, wenn sie der Auffassung war, die Sie vertreten haben, daß dieses Gesetz, das am 29. Juli 1953 verabschiedet worden ist, nicht verfassungsmäßig ist, auf dem Wege der Anforderung eines Gutachtens hätte feststellen lassen müssen, ob dieses Gesetz mit dem Grundgesetz in Übereinstimmung steht oder ob es nicht in Übereinstimmung steht. Sie haben ganz richtig gesagt: „Es besteht auf jeden Fall kein Zwang". Nein, aber es besteht der Zwang — schon aus der Achtung, die auch die Bundesregierung vor dem vom Volke gewählten Parlament haben muß — ,Gesetze, die beschlossen sind, zu verkünden, Herr Bundesjustizminister.
Ich glaube, das ist nicht nur ein Anliegen, das die Opposition haben sollte, sondern das ist ein Anliegen des ganzen Hauses an seine Regierung. Auch dann, wenn es sich um eine Koalitionsregierung handelt, ist die Regierung als Verfassungsorgan dem ganzen Parlament verantwortlich. Das ganze Parlament muß von seiner Regierung verlangen, daß Gesetze, die beschlossen sind, von dieser Regierung auch verkündet werden, oder daß die Regierung, falls sie verfassungsmäßige Bedenken hat, die Verfassungsmäßigkeit dieser Gesetze vom Bundesverfassungsgericht klären läßt. Das kann man nicht nur zumuten, sondern das muß man sogar von der Bundesregierung verlangen, und wir stellen dieses Verlangen heute an die Bundesregierung.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
was ist denn in der Zwischenzeit — außer daß Sie hier versucht haben, das, was in dem Gesetz vom 29. Juli 1953 stand, in den § 7 dieser Vorlage hineinzubringen — von Ihnen getan worden, um den Willen des Parlaments zu respektieren, nämlich ein von ihm gewolltes Gesetz auch in Rechtskraft übergehen zu lassen? Offenbar nichts. Denn dadurch, daß die Bundesregierung ein in sich geschlossenes Gesetz, nämlich das vom 29. Juli 1953, nun als § 7 in ihrer Vorlage erscheinen läßt, wird es doch nicht verfassungsmäßig. Wo gibt es denn das, daß man etwas, was in einem besonderen Gesetz nicht verfassungsmäßig ist, dadurch verfassungsmäßig machen kann, daß man es in einen einzelnen Artikel — im übrigen zusammen mit Vorschriften über Beleidigungen im politischen Meinungsstreit und Wirtschaftsvergehen — hineinbringt. So geht es nicht. Herr Dr. Dehler hat damals schon recht gehabt, wenn er sagte:
Ich bin der Meinung, daß der Ressortminister. der in diesem Konflikt mit dem Parlament steht, wenn der Konflikt nicht ausgetragen wird, die Konsequenzen ziehen und zurücktreten muß. Daß ich diese Konsequenzen auch gezogen hätte, dessen dürfen Sie gewiß sein.
Das hat Herr Dr. Dehler gesagt. Nun, der Herr Bundeskanzler hat ihn dieser Verpflichtung, die Konsequenzen zu ziehen, auf andere Art und Weise enthoben.
Aber ich möchte annehmen—ich glaube es sogar —, daß Herr Dr. Dehler die Konsequenzen gezogen hätte, wenn die Bundesregierung von ihm verlangt hätte, dieses Gesetz zu unterzeichnen.
Aber nun habe ich nicht mehr die Möglichkeit, mich in dieser Frage an Herrn Dr. Dehler zu wenden, sondern ich muß Herrn Bundesjustizminister
Neumayer fragen, ob er diese Ausführungen seines Parteifreundes und Fraktionsvorsitzenden Herrn Dr. Dehler für richtig hält, daß der Bundesjustizminister, der sich in einem solchen Konflikt nicht entschließen kann, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herbeizuführen, zurücktreten muß, oder ob nicht unter Umständen die Regierung, wenn sie sich schlechthin weigert, ein vom Parlament beschlossenes Gesetz zu verkünden, die Konsequenzen ziehen muß. Es ist unerträglich, daß das Parlament behandelt wird, als hätte es nichts getan, als ginge es die Regierung einfach nichts an, was hier beschlossen worden ist. Die Entscheidung muß fallen, und sie wird nicht nur von uns verlangt. Ich habe Sie schon auf den Artikel von Herrn Sethe hingewiesen. Ich könnte sie noch auf eine Reihe anderer Bleichlautender Äußerungen hinweisen. Es muß etwas geschehen, damit dieser Zustand beseitigt wird. Wollen Sie, Herr Bundesjustizminister, mit der Verkündung des Gesetzes vom 29. Juli 1953 so lange warten, bis Sie Gewißheit darüber haben, ob diese Vorlage Gesetz wird? Wollen Sie auch so lange damit warten, bis Sie wissen, ob die Bestimmung des § 7, die in Wirklich-. keit dasselbe ist, was in. dem Gesetz vom 29. Juli 1953 enthalten ist, mit der Verfassung in Übereinstimmung zu bringen ist? Wir können uns nach dem Verhalten der Bundesregierung, das sicher durch die Einstellung des Justizministers Dr. Dehler im Jahre 1953 ausgelöst worden ist, mit der gegenwärtigen Regelung nicht einverstanden erklären.
Wenn jetzt in der Erläuterung des § 7 auf gewisse Unstimmigkeiten hingewiesen wird, so hat das nichts damit zu tun, daß der Kern derselbe ist wie im Gesetz vom 29. Juli 1953 'und deswegen über die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Amnestie nichts ausgesagt ist.
Auf diese Frage hätte ich gern eine Antwort. Ich nehme an, daß der Herr Bundesminister der Justiz diese Ausführungen als Begründung zu unserer Großen Anfrage betrachtet.
Ich komme noch zu einem andern Punkt. Die einzige Möglichkeit für eine Amnestierung sehen wir in § 9, Verschleierung des Personenstandes. Alle übrigen Bestimmungen halten wir für nicht vereinbar mit den von mir entwickelten Grundsätzen für eine Amnestie, und wir werden im Ausschuß unseren grundsätzlichen Standpunkt vertreten, daß eine solche Amnestie zur Zeit nicht möglich ist.
Lassen Sie mich noch einige. Worte zu der Frage der Amnestierung nationalsozialistischer Straftaten sagen, auf die der Herr Bundesjustizminister im besonderen hingewiesen hat. Nun, ich glaube, daß wir diese Straftatbestände überhaupt nicht als eine besonders geeignete Begründung für ein Amnestiegesetz hinnehmen sollten. Die materiellrechtliche Seite, die hier zur Erörterung steht, wird die meisten Schwierigkeiten machen; denn praktisch — das habe ich Ihnen schon einmal gesagt — kann es sich bei der Amnestierung von Straftaten nationalsozialistischer Tendenz nicht um eine allgemeine, sondern nur um eine beschränkte Amnestie handeln. Schon nach der Vorlage soll die Amnestie begrenzt seins nämlich insoweit, als es sich um strafbare Handlungen aus der Zeit vom 1. Oktober 1944 bis zum 31. Juli 1945 handelt. Warum sind denn die strafbaren Handlungen, die in dieser Zeit begangen sind, besonders amnestiewürdig?
Ich frage danach, weil gerade auf die Notwendigkeit der Amnestiewürdigkeit von der Bundesregie-
rung zweimal hingewiesen worden ist, und zwar einmal im Bulletin der Bundesregierung vom Herrn Bundesjustizminister selbst, das andere Mal von Herrn Ministerialdirektor Dr. Schafheutle, am 3. und am B. Dezember 1953. Dem Herrn Bundesminister der Justiz ist da allerdings etwas Peinliches passiert. Da schreibt er nämlich, daß man in den Bestimmungen hinsichtlich der Straftaten zur Beschaffung von Nachrichten keine Amnestie im eigentlichen Sinne erklicken könne, sondern nur eine Niederschlagung, eine „Absolution", die an sich zur Zuständigkeit der Länder gehöre. Ich nehme an, daß es sich urn „Abolition" handeln soll; denn so weit sind wir in Deutschland doch wohl noch nicht mit der Absolution, daß diese für strafbare Handlungen erteilt wird. Herr Bundesjustizminister, das ist Ihnen offenbar entgangen. Aber ich jedenfalls wollte mir die Gelegenheit heute nicht entgehen lassen, zu bemerken, daß zur Zeit in Deutschland Absolution für strafbare Handlungen noch nicht erteilt wird.
Auch Herr Ministerialdirektor Schafheutle hat darauf hingewiesen -- das ist in diesem Rahmen besonders interessant —, daß die überwiegende Zahl der strafbaren Handlungen, die zur Zeit bei den entsprechenden Behörden in den Ländern in Bearbeitung sind, von der Amnestie überhaupt nicht erfaßt werden, sondern daß die strafbaren Handlungen allgemeiner Art in großer Zahl draußen bleiben. Das ist es ja gerade, was den unmöglichen Charakter dieses Gesetzes ausmacht.
Ich wies vorhin schon darauf hin, daß der Entwurf durch die Amnestierung von strafbaren Handlungen gekennzeichnet wird, für die, im Grunde genommen, keine Amnestiewürdigkeit im eigentlichen Sinne gegeben ist, am wenigsten für die strafbaren Handlungen, die aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen, für strafbare Handlungen, die in der von Ihnen in der Vorlage angegebenen Zeit gegen jedes Gesetz, ja gegen jedes Recht begangen worden sind. Ich bin der Auffassung, daß wohl in diesem oder jenem Falle Gnade vor Recht ergehen sollte. Darin unterscheiden wir uns eben, Herr Bundesjustizminister: In einzelnen Fällen kann man wohl Gnade vor Recht ergehen lassen; aber es sollte nicht schlechthin jeder, der in dieser Zeit etwas verbrochen hat und keine schwerere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu erwarten hat, amnestiert werden.
Wir kennen doch auch die Möglichkeiten, die die Gerichte dann hinsichtlich der Erfassung des Strafrahmens haben. Ich möchte die Richter sehen, die dann noch weit über drei Jahre Freiheitsstrafe hinausgehen, um jemanden zu bestrafen, der es auch heute noch verdient. — Ich möchte den Richter sehen, der dann nicht in der Lage ist, innerhalb des Rahmens von drei Jahren Freiheitsstrafe alles das unterzubringen, was nach seiner Auffassung amnestiewürdig ist, und damit das zu tun, was das Bundesverfassungsgericht als Amnestie betrachtet, nämlich das Recht zu korrigieren. Dann wird hier etwas, was wir alle, glaube ich, heute noch als Unrecht, als Verbrechen im eigentlichen Sinne bezeichnen müssen, durch eine Amnestie „korrigiert". Aus dem, was Unrecht war und Unrecht bleibt, wird nachträglich Recht gemacht.
Ich glaube, wir sollten uns hüten, derartige Bestimmungen allgemeiner Art in einem Amnestiegesetz ihren Niederschlag finden und so etwas straffrei zu lassen, was nichts anderes ist als Tötung
und Mißhandlung von Kriegsgefangenen, von Angehörigen der Ostvölker, von Juden, Tötung von Soldaten und von Zivilpersonen, gesetzwidrige Standgerichte usw. Jedes Verfahren kurz vor dem Zusammenbruch würde damit hinsichtlich seines Unrechtsgehalts korrigiert, daraus würde auf dem Wege der Amnestie Recht.
Nein, Herr Bundesjustizminister, diesen Weg gehen wir nicht mit Ihnen. Wir weigern uns, etwas Derartiges zu tun.
Ich glaube auch nicht, daß wir es darauf abstellen könnten, ob der Täter eine gewissenlose Gesinnung gezeigt hat oder nicht. Die ,.gewissenlose Gesinnung" unterliegt dann auch nur der Beurteilung des Richters. Sie weigern sich doch sonst, meines Erachtens mit Recht, den Richtern Entscheidungen aufzubürden, die ihnen nicht zustehen. Hier würde dann in die Rechtspflege etwas hineingetragen, das nicht die Aufgabe der Rechtspflege, sondern die Aufgabe des Gesetzgebers ist.
Ich glaube, daß jede Abschwächung des Unrechtsgehalts der Straftaten aus der Nazi-Zeit und damit auch die Verwässerung des Unrechtsgehalts des alle diese strafbaren Handlungen doch erst ermöglichenden nationalsozialistischen Staates eine sehr schlechte Sache wäre. Ich weiß, daß damit die Problematik vieler Verurteilungen, auch vieler falscher Verurteilungen nicht ohne weiteres zu lösen ist. Aber ist es denn unsere Aufgabe, jetzt die Möglichkeit für eine Amnestie in unwürdigen Fällen zu schaffen?
Ich komme damit zum Schluß auf einen nicht unwesentlichen Punkt: die Frage der Verkehrsdelikte. Man hat sämtliche Verkehrsdelikte aus der Vorlage der Bundesregierung herausgelassen, als wenn jedes Verkehrsdelikt das Delikt eines Trunkenen am Steuer wäre. So ist es ja nun auch nicht, Herr Bundesjustizminister. Sie haben in der Begründung :u Ihrer Vorlage gesagt, die Verkehrsverhältnisse seien so, daß man die Verkehrsdelikte nicht amnestieren könne. Nun, ich gehe mit Ihnen durchaus einig, daß man die Verkehrsdelikte, die nicht amnestiewürdig sind, auch nicht amnestieren soll. Aber Sie haben als einzige Möglichkeit nach unserem Strafrechtssystem doch letztlich nur das Strafmaß, nach dem Sie die Amnestie ausrichten können. Entweder amnestieren Sie alle strafbaren Handlungen, wenn keine höhere Freiheitsstrafe als bis zu einem Monat, bis zu drei Monaten, bis zu sechs Monaten usw. zu erwarten ist, oder Sie amnestieren überhaupt nicht. Aber eine ganze Gruppe von Delikten aus irgendwelchen psychologisch nicht ganz zu erklärenden Gründen, nämlich die Verkehrssachen, herauszulassen, ist unmöglich. Ich weiß, welche Schwierigkeiten heute die Verkehrsdelikte für alle bereiten. Aber man kann doch jemanden, der falsch geparkt oder der rotes Licht überfahren hat, kriminell nicht schlechter ansehen und nicht schlechter behandeln als jemanden, der einen Diebstahl oder einen Betrug begangen hat. Meine verehrten Anwesenden, das geschieht aber hier, und dagegen wenden wir uns. Wir wünschen, daß das Problem der Verkehrsdelikte im Ausschuß sehr sorgfältig geprüft, vorher aber noch sorgfältiger im Bundesjustizministerium überdacht wird, damit uns geeignete Vorschläge gemacht werden können. Denn nicht jede junge Dame, die Lotte heißt, hat einen Vater, der Adenauer heißt.
Das sind doch auch unerträgliche Zustände, und ich glaube, daß das, was vor einigen Wochen im Spiegel abgedruckt worden ist, kein Ruhmesblatt für unsere Rechtspflege ist. Auch das sollten wir dabei bedenken, daß jede exzeptionelle Behandlung von einzelnen strafbaren Handlungen, ob nun auf dem Wege über eine Amnestie
oder auf anderem Wege, rechtswidrig ist, Herr Kollege Dr. Dehler. Wir sind ja nicht dafür verantwortlich — —
Aber dann muß man auch den Mut haben, für das geradezustehen, was man selbst tut, Herr Kollege Dr. Dehler. Wir wünschen das jedenfalls. Wir wünschen keine exzeptionelle Behandlung von einzelnen politischen Delikten, wir wünschen keine exzeptionelle Behandlung von einzelnen Straftatbeständen, wie es mit den Verkehrsdelikten geschieht. Wenn überhaupt eine Amnestie von der Mehrheit dieses Hauses gewünscht werden sollte, dann ist sie nach Auffassung meiner Fraktion allenfalls in der Form erträglich, wie die Kollegen aus dem Bayernlande — ich weiß nicht, ob es die Gruppe der CSU ist
oder ob es die bayerischen Abgeordneten sind — sie beantragt haben. Das ist die einzig mögliche Konsequenz, die wir aus dem Willen zu einer Amnestie zu ziehen haben. Andere Möglichkeiten — wie sie uns von der Bundesregierung vorgelegt werden — sehen meine politischen Freunde und ich nicht. Wir wünschen grundsätzlich keine Amnestie, wenn aber eine Amnestie infolge einer Mehrheitsentscheidung in diesem Hause nicht zu vermeiden ist, dann allenfalls auf dem Wege und in dem Umfange, wie es uns die Fraktion der CSU hier vorgelegt hat.
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Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesjustizminister zur Beantwortung der Großen Anfrage.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich auf die Große Anfrage eingehe, möchte ich auf die Ausführungen des Herrn Kollegen Dr. Greve ganz kurz in zwei Punkten folgendes erwidern.
Herr Kollege Greve beklagt sich darüber, daß die Verkehrsdelikte ausgenommen seien. Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen: soweit es sich um Übertretungen handelt, sind die Verkehrsdelikte von dem Entwurf genau so wie die übrigen Übertretungen erfaßt. Der Grund, Herr Kollege Greve, warum die Verkehrsdelikte nicht einbezogen worden sind, läßt sich doch aus dem, was ich vorhin mir vorzutragen erlaubte, ohne weiteres ableiten. Sie stehen eben nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Kriegs- und Nachkriegsverhältnissen. Gerade die Delikte, die infolge dieser Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse begangen worden sind, sollen amnestiert werden. Das ist der Grundsatz und der Leitgedanke für die ganze Amnestie.
— Ich habe vorhin schon gesagt, Herr Kollege Greve: der Rechtsausschuß wird sich mit allen diesen Fragen befassen; er kann sich auch damit befassen.
Nun etwas anderes. Die Darstellung, die Herr Kollege Greve von dem § 8 des Entwurfs gegeben hat, entspricht nicht dem Inhalt des Entwurfs. Herr Kollege Greve hat die Sache so dargestellt, als ob jeder, der in den damaligen turbulenten Zeiten die schwersten Delikte begangen hat, ohne weiteres unter die Amnestie falle. So ist das ja nicht. In § 8 wird ausdrücklich das Kriterium des Befehlsnotstandes herausgestellt, der Gewissenskonflikt, in dem sich jemand befunden hat. Ich glaube, es läßt sich rechtfertigen, daß heute, acht Jahre nach dem Zusammenbruch, für diese im Befehlsnotstand, in einem wirklichen Gewissenskonflikt begangenen Delikte eine Amnestie gewährt wird.
Hier soll keine Generalamnestie für alle Straftaten, die mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zusammenhängen, vorgeschlagen werden. Auch sollen nicht solche Taten amnestiert werden, die als niederträchtige Verbrechen oder Vergehen Auswüchse eines erbarmungslosen und blindwütigen Terrors gewesen sind, sondern nur Taten, die aus einer ausweglosen Konfliktlage entstanden sind.
— Über das Vorliegen eines Befehlsnotstandes zu entscheiden, Herr Kollege Greve, dazu sind ja die Gerichte da.
— Herr Kollege Greve, Sie rufen ja bei allem das Gericht an. Ich weiß nicht, warum das Gericht nicht auch in solchen Fällen soll entscheiden können. Ich glaube, daß die Fragen, die von Ihnen vorgelegt werden, schwieriger sind. Haben Sie doch Vertrauen zu den Gerichten!
Es kommt noch folgendes hinzu. Einer der wesentlichsten Vorwürfe, die von der deutschen Öffentlichkeit gegen die Rechtsprechung der alliierten Militärgerichte erhoben werden, geht dahin, daß sie den genannten Konfliktlagen, in die deutsche Soldaten und Zivilpersonen während des Krieges geraten sind, kein Verständnis entgegengebracht haben. In langdauernden und schwierigen Verhandlungen ist es der Bundesregierung gelungen, die Alliierten schrittweise zu einer Bereinigung im Gnadenwege zu veranlassen. Ich glaube, auch im Hinblick auf diesen Gesichtspunkt erscheint es angebracht, daß nunmehr in den der deutschen Gerichtsbarkeit unterworfenen Fällen ebenfalls ein entscheidender Schritt gewagt und ein Schlußstrich unter die offensichtlich amnestiewürdigen Taten gezogen wird. Ich betone noch einmal: notwendig ist
ein echter Konflikt, eine echte Konfliktslage. Nur wenn es infolge einer solchen Konfliktslage in den damaligen verworrenen Verhältnissen dem Täter besonders schwer gefallen ist, die rechtlich gebotene Entscheidung zu finden und entsprechend zu handeln, kann eine Amnestie eintreten.
Ich darf nun die Stellungnahme der Bundesregierung zu der Großen Anfrage bekanntgeben. Gegen den Entwurf des Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit, den der 1. Deutsche Bundestag am 29. Juli 1953 beschlossen hat — es handelt sich um die sogenannte Platow-Amnestie —, waren verfassungsrechtliche Bedenken entstanden. Der Bundesminister der Justiz hatte schon während der parlamentarischen Behandlung der Gesetzesvorlage mit eindringlichem Ernst seine Auffassung dahin vorgetragen, daß er eine Überschreitung der Gesetzesbefugnisse des Bundes und wohl auch einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz der Verfassung für gegeben halte. Er hat sich deshalb als verantwortlicher Fachminister für nicht berechtigt gehalten, das Gesetz gegenzuzeichnen und an den Herrn Bundespräsidenten weiterzuleiten. Die jetzige Bundesregierung, die den Ernst der erhobenen Bedenken anerkennt, hat die Frage der Verkündung eingehend geprüft. Sie ist sich darüber klar, daß es eine verfassungsrechtliche Streitfrage ist, ob ein Minister die Befugnis hat, verfassungsmäßige Bedenken gegen einen Gesetzesbeschluß durch Verweigerung der Unterschrift und der Weiterleitung geltend zu machen.. Sie weiß auch, daß nur das Bundesverfassungsgericht diese Frage letzten Endes mit verbindlicher Wirkung entscheiden kann. Um unnötige Verzögerungen und etwaige Rechtsunsicherheiten zu vermeiden, hat die Bundesregierung deshalb nach einem für alle Teile annehmbaren Ausweg gesucht. Sie glaubt, einen solchen Ausweg gefunden zu haben, indem sie Ihnen heute dieses Straffreiheitsgesetz vorlegt. Mit Rücksicht auf die geschilderte Sachlage hat die Bundesregierung es für vertretbar gehalten, die Verkündung des Gesetzesbeschlusses vom 29. Juli 1953 einstweilen zurückzustellen.
Die Ihnen vorgeschlagene Lösung hat folgendes Gesicht. In § 7 des neuen Amnestiegesetzentwurfs ist unter dem Stichwort „Nachrichtentätigkeit" eine Regelung vorgesehen, die den Grundgedanken der sogenannten Platow-Amnestie aufgenommen hat und ihn so verwirklichen will, daß verfassungsrechtliche Bedenken nicht bestehen. Die Regelung im einzelnen brauche ich nicht vorzutragen; ein Abdruck des Gesetzentwurfs befindet sich in Ihren Händen. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß § 7 gegenüber dem früheren Gesetzentwurf insbesondere einen neuen und späteren Stichtag festgesetzt hat und den Rahmen des zu erfassenden Personenkreises ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Berufszweig, lediglich nach der Art der begangenen Straftaten neu gesteckt hat. Dadurch wird erreicht, daß der Kreis der Begünstigten auf eine unbestimmte Zahl erweitert wird.
Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß der Entwurf des Gesetzes in der nunmehr vorgelegten Form auch einer strengen verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten wird. Sie bittet, ihr Bemühen um einen befriedigenden Ausgleich nicht zu verkennen. Wenn der Bundestag den neuen Entwurf eines Straffreiheitsgesetzes annimmt, ist der Gesetzesbeschluß vom 29. Juli 1953 in seinem Kerngehalt überholt und kaum noch für eine Verkündung geeignet. In diesem Falle wird noch zu erwägen sein, ob es nicht geboten oder doch zweckmäßig ist, den früheren Gesetzesbeschluß in dem neuen Amnestiegesetz durch eine besondere Bestimmung formell aufzuheben. Sollte aber der Bundestag der neuen Gesetzesvorlage seine Zustimmung versagen, dann würde die Bundesregierung gezwungen sein, in eine erneute Prüfung der verfassungsrechtlichen Erfordernisse einzutreten. Ich darf Ihnen hiermit die Versicherung abgeben, daß in diesem Fall die Prüfung unverzüglich erfolgen wird.
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Ich erteile weiter das Wort dem Herrn Abgeordneten Höcherl zur Begründung des von seiner Gruppe vorgelegten Entwurfs eines Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit.
Höcherl , Antragsteller: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich sehr über die Erklärung des Herrn Kollegen Greve, daß er unserem bayerischen Entwurf zustimmen will. So wäre es nach dieser zweitägigen heftigen Debatte schließlich noch gelungen, wenigstens in einem ganz kleinen Fall die Gnade der SPD zu finden. Man muß eben Geduld haben.
Die Beratung der Gesetzesvorlagen auf Drucksachen 215 und 248 mußte hinter die großen Themen, die das Hohe Haus in den letzten Wochen und Monaten beschäftigt haben, zurücktreten. Dadurch ist das große Anliegen, das in diesen beiden Anträgen liegt, zeitlich nur noch dringlicher geworden. Sie wissen, daß durch etwas ungereimte Umstände Anfang September 1953 in der Öffentlichkeit bekanntgeworden ist, die Bundesregierung werde ein Amnestiegesetz vorlegen. Die Gerichte haben genau so wie die ganze Öffentlichkeit diese Meldung sofort aufgegriffen, ohne die Gesetzesabsichten der Bundesregierung, die eine ganz bestimmte Richtung einhielten, genau zu kennen. Die Gerichte haben daraufhin, da sie notorisch überlastet sind, sofort eine Generalamnestie in der üblichen Form vermutet und haben in allen Ländern, wie zweifelsfrei feststeht, die Bearbeitung der Fälle, die nach ihrer Meinung unter die Amnestie fallen könnten, eingestellt, so daß sich heute Hunderte und Tausende von unerledigten und unbearbeiteten Akten sowohl bei den Staatsanwaltschaften wie auch bei den Gerichten befinden.
Sie mögen diese Zustände aus folgenden Beispielen ersehen. So schreibt ein Mitglied des Bayerischen Obersten Landesgerichts:
Seit August
— der Herr Vertreter des Obersten Landesgerichts nimmt sogar den Monat August des vergangenen Jahres
. . . wird immer wieder von der Aussicht auf Erlaß einer Amnestie gesprochen, und zuletzt las man von einem diesbezüglichen Initiativantrag der CSU im Bundestag; aber es rührt sich einfach gar nichts. . . . Aber dieses Amnestie-Gerücht hat uns infolge zahlloser „vorsorglicher" Revisionseinlegungen (die Rechtsmittel verdoppelten sich) so mit Arbeit überschüttet, daß man endlich wenigstens klar sehen sollte . . .
Eine ähnliche Zuschrift liegt mir von dem Vorsitzenden einer kleinen Strafkammer aus Niederbayern vor, der folgendes schreibt:
Ich habe im Augenblick hier zwar nur einen Punkt im Auge: die Amnestiefrage. Was sich auf diesem Gebiete seit 7. September 1953 getan hat, kann mit Fug und Recht wohl nur als . . . Theater bezeichnet werden.
— So drückt sich dieser Richter aus. Er hat sogar
einen noch schärferen Ausdruck gewählt, den ich
zur Schonung Ihrer Nerven nicht zitieren will.
Die Rückwirkungen auf den kleinen Mann der Straße, der zufällig den Angeklagten spielen muß, bzw. auf den kleinen Mann am Gericht, der seit 7. 9. nicht weiß, wie er den Forderungen der Strafrechtspflege gerecht werden soll, können Sie sich wohl selbst ausmalen.
Diese beiden Beispiele und Zitate sollten die Notwendigkeit erkennen lassen, endlich diese Belastung von der Justiz zu nehmen. Wir haben jetzt nicht mehr die Möglichkeit, zu den Müttern hinunterzusteigen und in großen rechtspolitischen Ausführungen zu schwelgen, wir müssen vielmehr so schnell wie möglich einen Ausweg aus dieser Sackgasse suchen, damit unsere Rechtspflege von dieser Belastung befreit wird.
Auch wir haben uns bei unserem Gesetzentwurf natürlich die Frage vorgelegt, ob es jetzt schon an der Zeit ist, wieder ein Straffreiheitsgesetz zu erlassen, nachdem zahlreiche Länderamnestien in den Jahren 1947 und 1948 vorausgegangen sind und nachdem wir am 31. Dezember 1949 eine große Bundesamnestie gehabt haben. Wir haben uns diese Überlegungen vor allem mit Rücksicht auf die unbescholtenen Leute gemacht; denn der weit überwiegende Teil unserer Bevölkerung, der sich jahraus jahrein gesetzestreu hält und anständig dahinlebt, muß jede Amnestie mit Recht als einen gewissen Affront empfinden.
Wenn wir uns trotzdem entschlossen haben, unter Zurückstellung aller rechts- und kriminalpolitischen Bedenken einem neuen Straffreiheitsgesetz zuzustimmen, so geschah das in erster Linie aus den Erwägungen, die auch die Bundesregierung leiten. Es läßt sich nicht leugnen, daß das alte Straffreiheitsgesetz vorn 31. Dezember 1949 schon aus besatzungsrechtlichen Gründen nicht die wünschenswerte und notwendige Generalbereinigung einer außerordentlichen Zeit bringen konnte. Eine ganze Reihe von Straftaten, die ihrem Charakter nach ganz und gar in den Kreis der amnestiewürdigen Handlungen gehören, wie sie das Straffreiheitsgesetz vom 31. Dezember 1949 umschrieben hatte, mußte aus besatzungsrechtlichen Gründen ausgenommen werden, so z. B. das gesamte Devisenstrafrecht. Wir sind deshalb der Meinung, man muß noch einmal einem Straffreiheitsgesetz als einem Akt einer nachholenden Gerechtigkeit seine Zustimmung geben.
Es läßt sich nicht leugnen, daß auch nach dem Stichtag des letzten Straffreiheitsgesetzes vom 31. Dezember 1949, nämlich dem 15. September 1949, die wirtschaftlichen und soziologischen Verhältnisse noch längere Zeit angedauert haben, die dem damaligen Straffreiheitsgesetz die innere Rechtfertigung gegeben haben. Die eigentliche Zäsur ist erst später als Ergebnis der schwierigen Aufbauarbeit unserer Regierung eingetreten. Das Problem der Ostflüchtlinge und der Spätheimkehrer hat ebenso wie die Korea-Krise auf wirtschaftlichem Gebiet neue, echte amnestiewürdige Handlungen zur Folge gehabt. Aus diesen Gründen haben wir uns, wie gesagt, trotz starker Bedenken noch einmal zu einem Amnestiegesetz bekannt und uns für seinen Erlaß ausgesprochen.
Daß wir zu diesem Regierungsentwurf mit einem eigenen Entwurf hervorgetreten sind, hat mehrere Gründe. In erster Linie konnten und wollten wir das Votum des Bundesrates nicht übersehen, der den Regierungsentwurf abgelehnt hat. Dann aber waren wir auch in der Sache selbst in entscheidenden Punkten anderer Meinung. Die Differenzen erschienen uns so gravierend, daß wir unsere abweichende Meinung nicht dem etwas labilen Schicksal von Änderungsanträgen ausliefern wollten.
Schon der Stichtag des amtlichen Entwurfs, der 1. Oktober 1953, kann nicht unsere Zustimmung finden, da nach der herrschenden Meinung die Öffentlichkeit bereits am 9. September des vergangenen Jahres von der Absicht, ein Straffreiheitsgesetz zu erlassen, Kenntnis erhielt. Mit einem Stichtag vom 1. Oktober 1953 kämen die zahlreichen Hellhörigen aus dem Kreis der Betroffenen in den Genuß einer Straffreiheit auf Vorschuß. Eine unmögliche Erscheinung!
Die ungeziemend frühe Publizität hatte weiter zur Folge, daß auch die Gerichte und Staatsanwaltschaften, wie ich bereits ausgeführt habe, vorzeitig das Schwert der Gerechtigkeit in die Scheide steckten und die in den Kreis der Erwartungen einbezogenen Fälle unbearbeitet auf Halde legten. Bei allen bereits im Prozeßgang stehenden Verfahren wurde von den überreichen Rechtsmittelinstanzen in subversivem Sinne Gebrauch gemacht. Wir stehen also der Tatsache gegenüber, daß sich an allen Gerichten Hunderte und Tausende solcher Akten befinden, die der Erledigung harren. Eine Reihe von Verfahren dürfte nach meinen Beobachtungen bereits der Verjährung zum Opfer gefallen sein.
Diese bedauerliche Entwicklung war für uns der äußere Anlaß, uns den § 2 des amtlichen Entwurfs noch einmal zu überlegen. Sosehr die Anknüpfung an die Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse der strengen Systematik des amtlichen Entwurfs entsprechen mag, sowenig kann sie nach unserer Überzeugung den praktischen Anforderungen unserer überlasteten Justizbehörden oder dem nun einmal erreichten Stand der Dinge genügen. Vor allem stört uns an dieser Fassung die mangelhafte Bestimmtheit, die bereits von Herrn Kollegen Greve bemängelt worden ist, und die Dehnbarkeit. Derartige Gummi- und Kautschukparagraphen lassen erfahrungsgemäß sehr schwer zu lösende Auslegungsfragen entstehen, die mit all den Gefahren für eine gerechte und gleichmäßige Behandlung der Fälle verbunden sind. Diese Bedenken gewinnen noch ein besonderes Gewicht, wenn man bedenkt, daß die meisten Aktenstücke noch gar nicht so weit aufgearbeitet sind, daß eine derartige Entscheidung nach Lage der Akten möglich wäre.
Deshalb sieht § 2 unseres Entwurfs eine allgemeine Amnestie im Rahmen der Dreimonatsgrenze des amtlichen Entwurfs vor. Das notwendige Regulativ bietet hier wie auch in den Sondertatbeständen, die wir in geringerer Zahl aufzuweisen haben, die Einschränkung, daß Gewinnsucht und gemeine Gesinnung des Täters genau so wie Vorstrafen über einen Monat Freiheitsstrafe hinaus
amnestieunwürdig machen. Aus den zahlreichen Sondertatbeständen, die der amtliche Entwurf seiner ganzen Anlage nach aufweisen muß, halten wir eine ganze Reihe für überflüssig. Demgegenüber scheint uns, daß eine Reihe von Sonderfällen darin nicht enthalten sind, die nach der Situation nicht fehlen sollten. Wir sind deshalb auf der einen Seite etwas chirurgisch vorgegangen und haben auf der anderen Seite Ergänzungen vorgenommen.
Beseitigt haben wir in dem amtlichen Entwurf einmal die Bestimmung des § 3 für Straftaten infolge wirtschaftlicher Notlage auf Grund von Kriegs- und Nachkriegsereignissen, da wir diesen Gesichtspunkt aus gesetzestechnischen Gründen verwerfen müssen und die amnestiewürdigen Fälle in vertretbarem Ausmaß in unserer allgemeinen Bestimmung untergebracht haben. Wenn Gerichte schon einmal zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten bei anerkannter unverschuldeter, durch Kriegs- oder Nachkriegsereignisse bedingter Notlage greifen, handelt es sich um kriminalpolitisch ernste und bedenkliche Fälle, die nicht in einer solchen Generalamnestie bereinigt werden können.
Die Bestimmung des § 6 des amtlichen Entwurfs über Beleidigungen im politischen Meinungsstreit haben wir ebenfalls ausgeklammert, und zwar einmal aus rein menschlichen Gründen. Wir sind der Meinung, daß die beachtlichen Fälle auf diesem Gebiete durch unsere Generalamnestie mit der Dreimonatsgrenze durchaus gedeckt sind. Was darüber hinausgeht, soll meiner Ansicht nach einer strafrechtlichen Sühne zugeführt werden. Das kann für die Bereinigung unseres politischen öffentlichen Lebens nur tunlich und gut sein.
Den Platow-Komplex haben wir ebenfalls nicht in unseren Entwurf aufgenommen, und zwar aus rein verfassungsrechtlichen Überlegungen. Wir sind der Meinung, daß der einmal beschrittene Weg durchaus zu Ende gegangen werden kann und zu Ende gegangen werden sollte.
Hinsichtlich der Taten während des staatlichen Zusammenbruchs sind wir der Meinung, daß schon im Interesse der Gleichbehandlung mit den zahlreichen bereits abgeurteilten Fällen eine amnestiemäßige Behandlung nicht möglich ist. Das größte Hindernis auf diesem Gebiet, das in dem Fehlen der höchstrichterlichen Rechtsprechung bestand, ist beseitigt worden. Wir haben eine ausgeprägte und wohlfundierte höchstrichterliche Rechtsprechung auf diesem Gebiet, und wir halten auch den Gesichtspunkt der angeblichen Pflichtenkollision gesetzestechnisch nicht für annehmbar. Wenn diese Merkmale beweisbar vorliegen, ist der einzig richtige Weg der der individuellen Verhandlung. Solche Dinge lassen sich aktenmäßig gar nicht entscheiden, sondern die innere Tatseite bedarf immer einer verhandlungsmäßigen Aufklärung. Härten sind wie in allen übrigen Fällen nach unserer Überzeugung am besten auf dem Gnadenwege auszugleichen.
Wir konnten uns auch nicht entschließen, nach dem Beispiel des § 10 des amtlichen Vorschlages die Verkehrszuwiderhandlungen generell aus dem Gesetz auszunehmen. Einen Teil der Gründe hat der Herr Kollege Greve schon vorweggenommen. Niemand wird die Bedeutung des Strafrechts im Kampf gegen den Verkehrsunfall unterschätzen wollen. Trotzdem halten wir es für unmöglich, vorsätzliche Taten, z. B. einen Diebstahl oder einen Betrug, straffrei zu lassen und eine fahrlässige Verkehrsübertretung, wie auch das von Herrn Greve schon erwähnte verbotene Parken, zu bestrafen. Bei ernsten Verkehrsdelikten besteht die Sicherung durch die Dreimonatsgrenze. Allenfalls kann man auch auf die Gesinnung des Täters abstellen. Die Strafzumessungspraxis unserer Gerichte hat gerade in Verkehrsstrafsachen einen so engen Kontakt mit den modernen Verkehrsnotwendigkeiten und -bedürfnissen gehalten, daß nach meiner Überzeugung kein Fall von Bedeutung durch die Maschen des Gesetzes fallen dürfte.
Wir halten überhaupt diesen ganzen Ausnahmekatalog für überflüssig, weil wir das Regulativ der gemeinen Gesinnung usw. eingebaut haben, das eine gerechte Beurteilung zuläßt.
Andererseits vermissen wir im amtlichen Entwurf verschiedenes, insbesondere eine Bestimmung über verbotene Interzonenhandelsgeschäfte aus der Zeit vor dem 1. April 1951. Ich bitte, das Datum besonders im Auge zu halten. Sie wissen, daß durch die unglückselige Zerreißung unseres Vaterlandes viele Betriebe eine West- und eine Ostausgabe haben. Selbstverständlich haben dieser Riß und dieser Eiserne Vorhang das Gefühl der Zusammengehörigkeit in keiner Weise tangieren und beeinträchtigen können. Über die wirtschaftlichen Beziehungen dieser beiden Seiten ist nun ein dichtes und undurchsichtiges Netz von Rechtsvorschriften und Verboten alliierter Herkunft usw. gezogen worden, das vor allem für unsere Landsleute gilt, aber für andere Herrschaften, die sich an diesen Geschäften sehr maßgeblich und einträglich beteiligt haben, keine Geltung hat, selbst wenn die Verletzung sich auf strategisch wichtige Güter bezieht. Es ist vorgekommen, daß eine Reihe von durchaus achtbaren hervorragenden Kaufleuten und Geschäftsleuten sich aus dem Gefühl der früheren Zusammengehörigkeit haben verleiten lassen, derartige Interzonenhandelsgeschäfte durchzuführen, einmal, um die alten Betriebe — die gemeinsamen Betriebe — durchzuhalten, auf der anderen Seite, um den Betriebsangehörigen die Gelegenheit zu geben, die hohen Normen und Solls zu erfüllen. Das hatte zur Folge, daß im Verlaufe einiger gerichtlicher Verfahren erhebliche Strafen ausgesprochen wurden. Ich weise noch einmal darauf hin, daß in erster Linie unsere Landsleute davon betroffen worden sind, während alle übrigen — ich will diese Frage nicht vertiefen — straffrei ausgegangen sind. Außerdem steht fest, daß diese gesetzlichen Bestimmungen derart undurchsichtig waren, daß sich selbst die amtlichen Stellen nicht mehr zurechtfanden. Ich habe hier die Mitteilung eines Anwalts, der in einem derartigen Prozeß verteidigt hat und der mir folgendes schreibt:
In verschiedenen bisherigen derartigen Prozessen sagte der Magistratsangestellte von Berlin, der als Zeuge oder Sachverständiger vernommen wurde, aus, daß sie oft selbst nicht gewußt hätten, was sie eigentlich tun sollten.
Also nicht einmal die amtlichen Stellen waren damals — wenigstens bis zum 1. April 1951 — in der Lage, die Rechtslage einwandfrei anzusprechen. Um so weniger war es natürlich den Kaufleuten und deren Angestellten möglich. Wir sind der Meinung, daß in dieser Beziehung — und wir befinden uns durchaus in Übereinstimmung mit unseren Berliner Freunden, die wohl die kompetentesten Sachkenner auf diesem Gebiet sind — mit der betonten zeitlichen Beschränkung auf den 1. April 1951 als Stichtag eine Straffreiheit für Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren vorgesehen werden sollte. Selbstverständlich ist uns bekannt, daß sich in diesem Per-
sonenkreis — vom Inland her gesehen — Leute und Typen befinden, die durchaus nicht amnestiewürdig sind und die an diesen Geschäften aus ganz eigensüchtigen Gründen teilgenommen haben. Dafür haben wir aber die Generalklausel. Viele von diesen Persönlichkeiten oder Personen, muß man besser sagen, werden schon durch die Vorstrafenklausel, die anderen — der Rest — bestimmt durch die Klausel „gemeine Gesinnung und Gewinnsucht" von einer Straffreiheit ausgeschlossen.
Bei der Regelung der Straffreiheit für Ordnungswidrigkeiten, die durch die erfolgreiche Wirtschaftspolitik der Bundesregierung besonders obsolet geworden sind, hielten wir es für notwendig, die Abführung des Mehrerlöses in den Bereich der Straffreiheit einzubeziehen. Bei diesen Straftaten handelt es sich um Rudimente aus der letzten Zeit der Bewirtschaftung. Als typisches Beispiel möchte ich vor allem den landwirtschaftlich interessierten Kollegen sagen, daß es sich um die Holzpreisregelung und die Getreidepreisregelung handelt und daß die Täter vor allem auf dem Gebiet der Landwirtschaft zu suchen waren. Ich weiß aus der eigenen Praxis, daß hier mehr der Unverstand und die Unvernunft gesündigt haben als der böse Wille. Die wirkliche Strafe war dann nicht die Buße, die ausgesprochen wurde, sondern die Abführung des Mehrerlöses, der übrigens noch betriebswirtschaftlich ganz unhaltbar errechnet werden mußte, nämlich ganz abstrakt. Ich bin recht dankbar für die Gelegenheit, die ich heute habe — nachdem ich in der Praxis solche Dinge mitmachen mußte —, Ihnen vorzuschlagen, die Härten auf diesem Sektor bei dem vorliegenden Straffreiheitsgesetz zu beseitigen.
Außerdem haben wir die Gelegenheit noch benützt, ein weiteres und wirklich echtes Anliegen unserer kleinen, im ganzen Land verstreuten Obstbrennereien zu lösen. Nach einer Verordnung des Reichsfinanzministers vom 22. Dezember 1944 — ich wiederhole das Datum, vom 22. Dezember 1944 — verlieren diese kleinen Obstbrenner auch schon bei leichten Verstößen gegen das Branntweinmonopolgesetz — also nicht nur bei Hinterziehungen, wie man vielleicht meinen möchte — das Brennrecht. Diese Verordnung, die in ihren Bestimmungen einschneidenden Gesetzescharakter hat, widerspricht dem Grundgesetz, und ihre Durchführung kommt einer Enteignung gleich. Trotzdem wird sie immer noch praktiziert. Ich glaube, wir sollten die Gelegenheit wahrnehmen, die Beseitigung dieses offenen Unrechts — auch wenn der Kreis der Betroffenen klein und bescheiden ist — mit in das Straffreiheitsgesetz einzubeziehen. Wir haben deshalb die einschlägigen Vorschriften unseres Entwurfs auf diese Möglichkeiten hin erweitert. Manchen von Ihnen mag vielleicht diese Bestimmung kleinlich erscheinen; wir stehen aber auf dem Standpunkt, daß es sich hier um die Existenz dieser Obstbauern handelt. Auch die Rechtsästheten müßten meiner Ansicht nach ihre Liebe zur Systematik zurückstellen, wenn es darum geht, etwas mehr an Gerechtigkeit zu erhalten.
Zum Schluß möchte ich zunächst formell den Antrag stellen, unseren Entwurf dem Rechtsausschuß zu überweisen. Ich darf Sie wegen der bereits mehrfach festgestellten Dringlichkeit bitten, die Sache beschleunigt zu behandeln, damit wir endlich von unserer Rechtspflege und von unserer Justiz dieses Odium nehmen, das seit Monaten auf ihr lastet.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Meine Damen und Herren, wir treten nunmehr in die Aussprache zu Punkt 2 der heutigen Tagesordnung ein, wobei ich unterstelle, daß das Haus eine Aussprache über die Große Anfrage wünscht.
Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Dr. Stammberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Freie Demokratische Partei muß aus grundsätzlichen Erwägungen beiden vorliegenden Gesetzentwürfen ihre Zustimmung versagen.
Es haben zweifellos Voraussetzungen für ein Straffreiheitsgesetz vorgelegen, als sich in den Jahren nach dem Kriege die Länder und im Jahre 1949 der Bund konstituierten. Wir sind auch der Meinung, daß es der Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz rechtfertigt und sogar gebietet, daß wir im Zuge einer Nachtragsamnestie alle diejenigen Fälle noch erfassen, die wir damals aus irgendwelchen Gründen nicht erfassen konnten oder durften. Das gilt insbesondere — da stehe ich etwas im Gegensatz zu Herrn Kollegen Greve — für die Urteile aus der Entnazifizierungsgesetzgebung. Niemand von uns denkt daran, strafbare Handlungen, die damals — wenn auch unter politischen Aspekten — begangen worden sind, heute zu begnadigen. Es handelt sich aber nicht um strafbares Unrecht, das damals begangen worden ist und wozu die Vorschriften des Strafgesetzbuches zu einer angemessenen Ahndung ausgereicht hätten, sondern es handelt sich lediglich um die Taten, die auf Grund irgendeiner politischen Zugehörigkeit zu verbotenen Organisationen usw. unter Strafe gestellt waren.
Wir sind auch der Meinung, daß gewisse Wirtschaftsstraftaten, insbesondere Interzonenhandelsgeschäfte, wie das der Herr Kollege Höcherl bereits angeschnitten hat, amnestiert werden müssen. Wir sind ebenfalls der Meinung, daß der Befehlsnotstand im Sinne des § 8 der Regierungsvorlage in irgendeiner Form durch die Amnestie geregelt werden muß, soweit nicht in dieser Hinsicht bereits die Rechtsprechung durch die Anwendung der Lehre vom subjektiven Tatbestand zu befriedigenden Ergebnissen gekommen ist.
Wir sind aber nicht der Meinung der Bundesregierung, daß es auch notwendig sei, politische Beleidigungen zu amnestieren.
Meine Damen und Herren, wir stehen auf dem Standpunkt, daß sich eine politische Auseinandersetzung, d. h. das Ringen um die beste und um die richtige Entscheidung auf einem höheren Niveau und auf einer anderen Ebene abspielen muß als unter Berücksichtigung der §§ 185 bis 187 des Strafgesetzbuches vor dem Amtsrichter,
und wir sind der Meinung, daß das auch dann zutrifft — im Gegensatz zur Meinung des Herrn Bundesjustizministers —, wenn diese beleidigenden Äußerungen von seiten rechts- oder linksradikaler Organisationen oder von Angehörigen dieser Organisationen gefallen sind; denn wenn sie von dort gefallen sind, wird man das Gefühl nicht los, daß sie dort einer gewissen Grundhaltung entstammen und nicht etwa nur im Übereifer erfolgte Entgleisungen darstellen.
— Dann ist es um so bedauerlicher und dann wäre es ein Zeichen dafür, daß es Leute gibt, die sich zu dieser Erkenntnis noch nicht durchgerungen haben. Wir sind der Meinung, daß jemand, der gegen diese Spielregeln einer gesunden parlamentarischen oder sonstigen politischen Auseinandersetzung verstößt, nicht zu erwarten hat, daß er dafür straflos ausgeht.
Wir können uns auch nicht entschließen, der Tendenz des § 7, d. h. doch praktisch der Kaschierung der Platow-Amnestie — der Herr Bundesjustizminister hat es ja sehr deutlich gesagt — zuzustimmen. Meine Damen und Herren, ich stimme durchaus mit Herrn Kollegen Greve überein, wenn er sagt, daß die Amnestie nicht dazu dienen darf, den Justizbehörden die Arbeit zur Niederschlagung von einzelnen Verfahren durch Gnadenerweise wegzunehmen. Aber diese Folgerungen hätte er auch noch weiter ziehen müssen. Zu seinen Ausführungen bei der Platow-Gesetzgebung, zu seiner anfangs geäußerten Ansicht standen sie nämlich durchaus in Widerspruch.
Meine Damen und Herren, wir lehnen die Entwürfe deswegen ab, weil sie — auch der Regierungsentwurf, nicht nur der Entwurf der CSU — eine allgemeine Amnestie darstellen sollen. Wir haben das Gefühl — und dieses Gefühl teilt sich mit dem Gefühl weitester Kreise der Bevölkerung —, daß diese Amnestie mit dem Ergebnis der Bundestagswahl in irgendeinem Zusammenhang steht. Das könnte gewisse Erwartungen und Folgerungen nach sich ziehen, die auch bei der nächsten und den kommenden Bundestagswahlen eine Regierung in Versuchung bringen könnte, das Zuckerbrot der Amnestie zu gewähren.
Es sind durchaus berechtigte Erwägungen, daß man die Verkehrsdelikte herauslassen wollte, weil man die Menschen wieder zu der Auffassung bringen soll, daß Verkehrsdelikte keine Kavaliersdelikte sind. Was aber für Verkehrsdelikte gilt, gilt im selben Umfang auch für Delikte anderer Art. Durch die Schnelligkeit und durch das Übermaß an Möglichkeiten, durch das man in den letzten Kriegsjahren und auch in den Jahren nach dem Krieg ins Gefängnis wandern konnte, sind in der Bevölkerung so manchmal die Ansichten entstanden, daß derartige kleine Straftaten nicht so besonders wichtig zu nehmen seien. Es ist unsere Aufgabe als gesetzgebende Körperschaft, dafür zu sorgen, daß die Staatsbürger wieder das Gefühl haben, es macht sich jemand strafbar, wenn er gegen die Gesetze verstößt, die sich die Gemeinschaft zur Ordnung ihres gemeinsamen Zusammenlebens gesetzt hat. Das scheint uns auch eine gewisse Verantwortung zu sein gegenüber dem weit überwiegenden Teil der Bevölkerung, der sich an diese Spielregeln hält und der allmählich kein Verständnis mehr dafür haben wird, wenn man von Zeit zu Zeit, weil das aus irgendeinem Grunde zweckmäßig erscheint, alles das in Bausch und Bogen amnestiert, was in den vergangenen Jahren geschehen ist. Das gilt um so mehr, als durch eine jetzt beabsichtigte Generalamnestie keine Urteile getroffen werden, die in sehr unruhigen und turbulenten Zeiten gefällt worden sind, sondern als es sich hierbei um Urteile handeln wird, die ergangen sind oder ohne eine Amnestie noch ergehen werden unter einer rechtsstaatlichen Ordnung, unter sorgfältiger und peinlicher Wahrung der materiellen und verfahrensrechtlichen Vorschriften.
Wir sind der Meinung, daß es zum Bewußtsein des Verantwortungsgefühls eines jeden Staatsbürgers gehört, zu wissen, daß eine Verletzung der entsprechenden Gesetze auch die Strafbarkeit nach sich zieht. Wir fürchten, es könnte ein Gefühl aufkommen, daß Geldstrafen und auch Freiheitsstrafen bis zu einer gewissen Anzahl von Monaten eben Bagatellen sind, die auf kurz oder lang, spätestens nach der nächsten Bundestagswahl, durch eine Amnestie bereinigt werden. Bei einer Amnestiedebatte im Reichstag, der in der Frage von Amnestien ebenfalls nicht gerade kleinlich war, ist einmal das Wort gefallen: „Amnestien sind Meilensteine auf dem Leichenweg des Rechts". Das Parlament als gesetzgebende Körperschaft hat auch die Aufgabe, Hüter dieses Rechts zu sein. Eine Verletzung dieses Grundsatzes würde dazu führen, daß eben auch dann, wenn es aus irgendeinem Grunde opportun erscheint, für Einzeltatbestände Amnestien gewährt werden, wie wir es heute bei der Platow-Amnestie sehr ausführlich diskutiert haben. Dieser Entwicklung müssen wir Einhalt gebieten. Daher lehnen wir beide Entwürfe ab und stimmen auch gegen ihre Verweisung in die zuständigen Ausschüsse.
Eine Bitte haben wir aber: daß, wie auch immer die Entscheidung ausfallen mag, sie schnell getroffen wird. Wir sind durchaus der Meinung des Herrn Kollegen Höcherl, daß sich die Akten auf den Richtertischen angehäuft haben und daß nach dem monatelangen Gerede um diese Amnestie nur eine schnelle Entscheidung des Parlaments hier eine Klärung schaffen kann. Wir sind aber nicht der Meinung des Herrn Kollegen Höcherl, daß dieses Problem der Aktenanhäufung nur dadurch gelöst werden kann, daß sie durch einen Federstrich mit einem Amnestie-Gesetz unter den Tisch fallen. Wir sind der Meinung, daß eine derartige Praxis der Würde des Gerichts und dem Ansehen des Rechts, das die Gerichte zu sprechen haben, widersprechen würde.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Czermak.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die vorliegende Amnestie hatte leider von Anfang an einen etwas unglücklichen Start. Man hat schon im Herbst davon gesprochen. Dann erschienen trotz strengster Vertraulichkeit wohlinformierte Zeitungsartikel. Man erwartete allgemein ein Weihnachtsgeschenk, und jetzt wird bestenfalls eine Oster-Amnestie daraus. Es ist daher durchaus verständlich, daß sich in den letzten Monaten alle Betroffenen darauf eingestellt haben. Es wurde vertagt, berufen, revidiert, aufgeschoben — allein in Frankfurt hat sich die Zahl der Revisionen von 70 pro Monat auf 140 verdoppelt —, so daß heute bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften eine ganze Menge unerledigter Strafsachen liegt. Schon aus diesen rein praktischen und technischen Erwägungen heraus erscheint uns der Erlaß einer Amnestie unbedingt notwendig, und zwar möglichst bald, selbst wenn darin ein Unrecht für die Verurteilten erblickt werden muß, die ihre Strafen bereits treu und ehrlich abgebüßt haben. Aber es sind doch noch viele Fälle anhängig, die unter diese Amnestie fallen sollen.
Wir wissen genau so gut wie alle Vorredner, daß jede Amnestie einen schweren Eingriff in die Strafrechtspflege bedeutet, daß sie den Strafrechtsanspruch des Staates gefährdet und daß sie durch
ganz besondere Ereignisse und Verhältnisse begründet sein muß. Dieser historische, feierliche Anlaß — Wiedervereinigung, Friedensvertrag — ist leider zur Zeit nicht gegeben. Trotz alledem begründen aber unserer Meinung nach die zweifellos immer noch bestehenden wirtschaftlichen No t-stände, die Kriegs- und Nachkriegsfolgen eine Amnestie; es fragt sich nur, in welchem Rahmen. Wenn man sich aber schon grundsätzlich zu einer Amnestie entschließt, dann möchte ich bitten, keine halbe, keine kleine oder kleinste Lösung, keine Verlegenheitslösung, sondern eine möglichst großzügige, wenn ich es etwas paradox sagen darf: auch in Kleinigkeiten großzügige Lösung zu suchen. Die letzte Amnestie mit dem Stichtag vom 15. September 1949 hat leider keinen Schlußstrich unter die allerärgsten Kriegs- und Nachkriegsfolgen gezogen. Auch nach dem 15. September 1949 tragen trotz der allgemeinen Besserung, des Wiederaufbaus, des deutschen Wunders, noch sehr viele Menschen, besonders in den Grenz- und Notstandsgebieten, schwer an den Folgen des Krieges und der Nachkriegszeit, und es bestehen bei sehr vielen Straftaten noch Kausalzusammenhänge mit diesen bitteren Zeiten. Das läßt sich wohl nicht bestreiten, wenn man die Not und das Elend bei vielen Menschen, besonders draußen im Lande, sieht.
Wir würden daher zunächst, weil wir für eine möglichst umfassende Lösung sind, für den ursprünglichen Gedanken einer allgemeinen Amnestie bis zu drei Monaten eintreten, wie er in dem Entwurf — darf ich ihn vielleicht auch den bayerischen Entwurf nennen? — festgelegt ist. Darüber hinaus sind wir aber für einen größeren Rahmen bis zu sechs Monaten im Sinne des § 3 des Regierungsentwurfs bei erwiesenem Notstand, allerdings nicht nur bei unverschuldetem wirtschaftlichen Notstand,
sondern auch bei seelischem Notstand, kurz und gut, bei jedem Notstand, gerade im Interesse der armen kleinen Sünder, die sich aus der Not heraus schuldig gemacht haben und bei denen man Gnade vor Recht walten lassen sollte. Wir würden auch dafür plädieren, daß eine Straffreiheit nicht gewährt wird, wenn eine höhere Vorstrafe als drei Monate — im Regierungsentwurf ist nur ein Monat angegeben — vorliegt, weil es sich hier meistens um Vorstrafen handelt, die aus weit schlimmeren Zeiten datieren. Derselbe Grundsatz sollte auch bei allen Steuer- und Monopolvergehen, auch bei den bereits zitierten Interzonenhandelsgeschäf ten gelten, nicht nur, wie es im Entwurf heißt, bei Steuerordnungswidrigkeiten und Monopolwidrigkeiten. Auch eine Erhöhung der Geldstrafe von 10 000 DM wäre zu erwägen. Ich verweise hier nur auf das Gutachten der Rechtsanwaltskammer, wobei ich bei den Wirtschaftsdelikten insbesondere an die Zigaretten- und Kaffeegeschäfte denke.
Ein schwieriges und sehr delikates Kapitel ist allerdings die Amnestie für Nachrichtentätigkeit im Zusammenhang mit der bekannten Platow-Amnestie. Wir vom GB/BHE sind in dieser Frage völlig unbefangen und objektiv. Wir können aber bei allen verfassungsrechtlichen Bedenken, die vom Herrn Kollegen Dr. Greve vorgebracht worden sind, durchaus verstehen, daß sich damals das bekannte Rechtsgefühl des seinerzeitigen Herrn Justizministers Dr. Dehler dagegen gesträubt hat. Bei allem Verständnis und vollster Sympathie für die Presse haben wir doch gerade mit Rücksicht auf das Ansehen und die Sauberkeit des deutschen Beamtenstandes die schwersten Bedenken. Jeder einzelne Fall sollte gründlich darauf überprüft wer-
den, ob er tatsächlich amnestiewürdig ist. Das vorgesehene Strafmaß von zwei Jahren scheint uns hier zu hoch gegriffen. Grundsätzlich sollte aber dieser ganze Komplex im Rahmen dieser Amnestie erledigt werden, wie auch der Herr Bundesjustizminister heute erklärt hat.
Wir sind ebenfalls für eine Bereinigung aller Taten während des Zusammenbruchs vor und nach Kriegsschluß — ich wiederhole: auch nach Kriegsschluß; es gibt dafür ja eine Frist —, die in einem schweren Gewissenskonflikt und Befehlsnotstand, insbesondere bei Soldaten, begangen wurden. Ich möchte nur auf zwei klassische Fälle verweisen: Petersen und Benthak, in denen nach je sechsjähriger Prozeßdauer in je drei Instanzen schließlich Freispruch erfolgt ist, einfach weil die Rechtslage ungeklärt war.
Für eine wirklich großzügige Lösung wären wir bei Verschleierung des Personenstandes. Bekanntlich sind das Dauer- und Kettendelikte. All diesen Untergetauchten, diesen „U-Booten", im Volksmund auch „Braun-Schweiger" genannt,
wäre der Weg in die Legalität, in ein geordnetes Leben zu öffnen, vor allem im Falle einer tätigen Reue durch Selbstmeldung.
Die stärkste Kritik hat der Regierungsentwurf, wie sich auch heute hier gezeigt hat, in der Frage der Ausschließungsgründe gefunden, besonders bezüglich der Verkehrsdelikte. Die Anführung von Tatbeständen bei den Ausschließungsgründen wie Hochverrat, Mord und Totschlag, Raub und Erpressung scheint mir ziemlich illusorisch, weil darauf meistens mehr als drei oder sechs Monate stehen. Es ist aber wirklich nicht einzusehen, daß man einen kleinen, fahrlässigen Verkehrssünder bestrafen muß, selbst wenn er eine kleine Menge mehr Prozente im Leibe gehabt hat, als das Gesetz es befiehlt,
während man kriminelle Täter amnestiert. Bei besonderer Rücksichtslosigkeit, bei gefährlicher Trunkenheit, bei Fahrerflucht usw. werden selbstverständlich höhere Strafen anzusetzen sein, als sie für eine Amnestie in Betracht kommen. Wir wären dafür, daß man diesen Ausschließungsgrund fallen läßt. Wir sind also, was die Ausschließungsgründe betrifft, ganz gleicher Ansicht mit dem bayerischen Entwurf, der nur Gewinnsucht und gemeine Gesinnung als solche Gründe gelten läßt.
Bedenken haben wir bezüglich des Stichtags vom 9. September oder vom 1. Oktober 1953. Wir sind für einen späteren Termin schon aus dem einfachen Grunde, weil sich die ganze Amnestie auch sehr verspätet hat.
Die Tilgung von Vorstrafen sollte man nicht nur auf Wirtschaftsstrafsachen beschränken, sondern in einem weit größeren Rahmen vorsehen, und zwar auch für andere Delikte, besonders für die Zeit vor Kriegsschluß und die Jahre der schwersten Not nach Kriegsschluß. Bei sehr vielen Verurteilten sind gerade diese Vorstrafen schwere Hindernisse für ihre neue Existenzgründung, was wirklich großzügig, weil es sich durchweg um bereits verbüßte Strafen handelt, zu beseitigen wäre.
Zum Verfahren wäre nur ganz kurz zu sagen, daß wir für ein einfaches, klares und schnelles Verfahren ohne jeden unnützen Apparat sind, damit
diese ganze Amnestie möglichst rasch und ohne Schwierigkeiten erledigt werden kann.
Zusammenfassend möchte ich nochmals betonen, daß wir sowohl die positive als auch die negative Seite dieser Amnestie sehen und uns alle weiteren Bedenken und Abänderungsvorschläge für die Beratung im zuständigen Rechtsausschuß vorbehalten. Wir wollen aber doch hoffen, daß sich dadurch wieder für viele Betroffene der Weg in eine bessere Zukunft öffnet und daß diese Amnestie zu einer allgemeinen Befriedung beiträgt.
Zum Schluß gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, einen Hinweis. Durch diese Amnestie sollten wir auch dem Ausland ein Beispiel geben. Ich z. B. als Heimatvertriebener weiß sehr gut, daß sich noch sehr viele Männer und auch Frauen schon mehr als acht Jahre drüben in der alten Heimat in Haft und Zwangsarbeit befinden — verurteilt nicht wegen krimineller Taten, sondern nur, weil sie Deutsche waren —, und sehr viele Frauen und Kinder warten schon acht Jahre lang auf ihren Vater, ihren Erhalter und Ernährer. Es wäre doch sicherlich schön und segensreich, wenn auch in diesen Ländern endlich Amnestien erlassen würden und damit wieder viele Familien froh und glücklich gemacht werden könnten.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ich erteile das Wort der Abgeordneten Frau Dr. Ilk zu einer kurzen Erklärung.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Ich möchte eine kurze Berichtigung vorbringen. Wir Freien Demokraten werden der Behandlung dieser Gesetzentwürfe im Ausschuß nicht widersprechen.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Furler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Bundesjustizminister hat vorhin ganz kurz die Geschichte der PlatowAmnestie skizziert und auch die Gründe dargelegt, die die Bundesregierung veranlaßt haben, das vom Bundestag und vom Bundesrat Ende Juli 1953 beschlossene, also zustandegekommene Gesetz nicht gegenzuzeichnen und dem Herrn Bundespräsidenten nicht zur Verkündung weiterzuleiten. Diesen Ausführungen war, ich darf das wohl sagen, zu entnehmen, daß auch die Bundesregierung die entstandene Lage nicht für erwünscht hält, und sie hat jedenfalls ihre rechtlichen Bedenken nach dieser Richtung zum Ausdruck gebracht.
Die gegenwärtige, gewiß nicht ganz erfreuliche Situation ist entscheidend darauf zurückzuführen, daß der frühere Herr Bundesjustizminister geradezu leidenschaftlich, und zwar unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, gegen dieses Gesetz gekämpft hat Man muß Verständnis für diese Haltung haben. Aber es ist immerhin bemerkenswert, daß es dem damaligen Minister nicht gelungen ist, die Mehrheit des Rechtsausschusses oder die Mehrheit des Plenums von der Richtigkeit seiner verfassungsrechtlichen Einwendungen zu überzeugen. Denn das Gesetz wurde trotz all der Argumente, die vorgebracht wurden, mit erheblicher Mehrheit angenommen. Ja, ich halte es sogar auch für bemerkenswert, daß es damals dem Herrn Justizminister nicht einmal gelungen ist, Herrn Kollegen
Dr. Arndt zu überzeugen, der doch gewiß nicht im Rufe steht, gegenüber dem Grundgesetz besonders großzügig zu sein oder zu einer gewissen Skrupellosigkeit zu neigen, wenn verfassungsrechtliche Bedenken auftauchen.
Nachdem nun das Gesetz zustandegekommen war, durfte eigentlich über die Frage der Gegenzeichnung ein Rechtsstreit nicht entstehen.
Es stellt sich die Frage, ob dem zuständigen Bundesminister das Recht zusteht oder gar die Pflicht obliegt, bei einem ordnungsgemäß zustande gekommenen Gesetz die Gegenzeichnung deshalb zu, verweigern, weil er dieses Gesetz für im Widerspruch mit den Bestimmungen der Verfassung stehend hält.
Ich bin der Auffasung, daß das Grundgesetz zum mindesten in diesem Stadium des Gesetzgebungsverfahrens ein solches Recht nicht verleiht. Es gewährt nicht das Recht, einen verfassungsmäßig vorgeschriebenen Akt, den der Gegenzeichnung, mit der Begründung zu verweigern, das Gesetz sei verfassungswidrig. Zum mindesten muß das Gesetz dem Herrn Bundespräsidenten vorgelegt werden, dem allerdings die überwiegende Meinung ein weitgehendes Prüfungsrecht zuspricht.
Die Verweigerung der Gegenzeichnung war also verfassungsrechtlich wohl nicht begründet. Es entstand ein politischer Konflikt. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß der frühere Herr Justizminister das heute auch ausdrücklich zugibt. Er sagte, er sei in eine politische Kampfsituation geraten, aus der er dann die notwendigen Folgerungen gezogen habe.
Wenn die Bundesregierung nunmehr versucht, diese schwierige Situation zu bereinigen, so will meine Fraktion dem selbstverständlich nicht im Wege stehen, schon deshalb nicht, weil die PlatowAmnestie wohl weder ein guter noch ein würdiger Anlaß ist, zwischen Regierung und Parlament eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Frage auszutragen. Wegen dieser angebahnten Vermittlungsaktion, wegen der Entwicklung, die hier von der Regierung angedeutet wurde, und wegen der Erklärung, die sie abgegeben hat, sehe ich davon ab, zu den grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Problemen noch näher Stellung zu nehmen.
Nun zum .geplanten Straffreiheitsgesetz. Uns liegen zwei Entwürfe vor, die sich wahrscheinlich nicht so sehr unterscheiden, wie es zunächst den Anschein hat. Meine Fraktion ist dem Gedanken eines Zweiten Straffreiheitsgesetzes nicht gern und nicht ohne starke Hemmungen nähergetreten. Seit der ersten Amnestie der Bundesrepublik sind nur knapp vier Jahre vergangen. Wir sind uns sehr wohl darüber im klaren, daß jede Amnestie mit Fragwürdigkeiten belastet und vor allem dem Vorwurf ausgesetzt ist, die Autorität des Strafrechts zu untergraben und zu Ungerechtigkeiten zu führen. Besonders bedenklich wäre es aber wohl, wenn eine Art Gewöhnung an Amnestien oder eine Hoffnung auf periodische Straffreiheiten aufkommen würde. Wir können uns daher für eine allgemeine und weitgehende Amnestie, wie sie von manchen Kreisen — ich entnehme das aus Zuschriften — gefordert wird, nicht entschließen.
Eine derart weite und allgemeine Amnestie fordert der Entwurf unserer bayerischen Freunde nicht. Er geht wohl etwas weiter :als der Regierungs- entwurf, aber seine Amnestie unterscheidet sich
deutlich von einer allgemeinen, weiten Amnestie, da auch er nur eine Bereinigung der Verhältnisse will. Über den Stichtag der letzten Amnestie, den 15. September 1949 hinaus waren diese Verhältnisse doch noch so, daß man sagen kann: Es liegen Gründe vor, die dafür sprechen, eine Endbereinigung durchzuführen, also eine einmalige Bereinigung und nicht eine periodische Amnestierung. Wer die. Protokolle der Beratungen über die PlatowAmnestie durchliest, wird erkennen, daß schon damals von allen Seiten gesagt wurde, es wäre wohl notwendig, eine weitere, abschließende Amnestie zu bringen und sich nicht auf den PlatowKomplex zu beschränken. Man denke nur daran, daß hoch nach dem September 1949 eine Reihe von Notständen nicht behoben waren. Man denke an die neuen Ostflüchtlinge, man denke an die Vorgänge um Berlin, man denke an die spät zurückgekommenen Kriegsgefangenen, und man denke vor allem an die Menschen, denen es erst später gelungen ist, wieder in geordnete Lebensverhältnisse zu kommen. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß wir heute von manchen Dingen doch weiter weg sind und in vielen Fragen ruhiger und deshalb auch sachlicher und wohl auch richtiger denken als vor Jahren noch.
Ich will nun nicht in Einzelheiten der beiden Entwürfe hineinsteigen, sondern möchte nur zu ein paar grundsätzlichen Fragen .Stellung nehmen.
Der Regierungsentwurf, so sehr er hier kritisiert und angegriffen wurde, hat die richtige Grundtendenz, nämlich deutlich zu machen: es soll keine zweite, gewissermaßen periodische, nach vier Jahren eintretende Straffreiheit gewährt werden. Deshalb differenziert der Regierungsentwurf. Er will überhaupt nur Straftaten unter die Amnestie fallen lassen, die entweder ,im Zusammenhang mit den außergewöhnlichen Kriegs- und Nachkriegsverhältnissen stehen oder aus einer unverschuldeten wirtschaftlichen Notlage entstanden sind. Ich glaube, ein Großteil der Kritik an diesem Entwurf — und auch diejenige der. CSU — hängt mit den etwas schwierigen, detaillierten Formulierungen zusammen. Bei einer Amnestie ist es eigentlich erwünscht, daß ganz klare Richtlinien gegeben werden, damit der Richter nichts weiter zu tun hat, als die Amnestie zu vollziehen.
Nach dem Regierungsentwurf kann natürlich der Gedanke auftauchen, daß der Richter in jedem einzelnen Fall gezwungen ist, schwierige Erwägungen anzustellen, vielleicht auch noch Beweise zu erheben, um sich darüber klarzuwerden, ob im Einzelfall ein solcher Zusammenhang mit außergewöhnlichen Verhältnissen oder einer persönlichen wirtschaftlichen Notlage besteht. Ich glaube aber, der Regierungsentwurf ist in diesem Punkt nicht so schlecht, wie es nach der heutigen Debatte aussehen könnte, denn er hat ein großes Regulativ. Er stellt nämlich eine Art Beweisvermutungstatbestand auf, indem er in § 2 sagt, daß die Amnestie für Straftaten gewährt wird, bei denen ein Zusammenhang mit den außergewöhnlichen Verhältnissen nicht auszuschließen ist. In dieser sehr weit- gehenden Bestimmung kommt die Tendenz zum Ausdruck, den Gerichten nahezulegen, nicht kleinlich zu sein, sondern nur dann nicht zu amnestieren, wenn es offensichtlich ist, daß die Tat mit den turbulenten Verhältnissen nichts zu tun hat.
In der heutigen Aussprache ist allgemein anerkannt worden, daß es mit dem ersten Straffreiheitsgesetz nicht gelungen ist,. das Problem der
Straftaten der Untergetauchten zu bereinigen. Dieser Komplex als einziger hat sogar beim Bundesrat Gnade gefunden. Auch der Bundesrat wäre bereit gewesen, für die Untergetauchten eine neue Möglichkeit der Amnestie und vor allem eine neue Möglichkeit freiwilliger Bereinigung zu geben.
Nun aber zu etwas Wichtigem: Meine politischen Freunde und ich bejahen auch die Tendenz, die Straffreiheit in ein Gebiet hineinzutragen, das wie kein anderes unter dem Einfluß der entsetzlichen Verwirrung der Begriffe und der Umwälzungen der letzten Kriegszeiten und des Zusammenbruchs gestanden hat. Ich meine die Bestimmung, die in dem Regierungsentwurf mit „Taten während des staatlichen Zusammenbruchs" überschrieben ist. Man wird auch bei einer die Mentalität dieser Täter ablehnenden Einstellung schon deshalb einen Schritt tun müssen, weil es unser aller Bemühen ist, unsere früheren Kriegsgegner und auch neutrale Staaten dazu zu bewegen, die Deutschen zu begnadigen, die sich — im Zusammenhang mit dem Krieg -- noch in ihren Gefängnissen befinden.
Ich möchte hier vor allem zu dem Stellung nehmen, was Kollege Greve hier gesagt hat. Er hat einen Beschluß des , Bundesverfassungsgerichts zitiert, in dem davon die Rede ist, daß sich die Auffassung von der Amnestie gewandelt hat und daß man heute im Volksbewußtsein unter Amnestie weniger einen Gnadenakt als eine Korrektur des Rechts versteht. Man würde aber die Bedeutung dieser Bemerkung des Bundesverfassungsgerichts verkennen, wenn man unter einem solchen Gesichtspunkt einzelne der Amnestie wohl würdige Taten von der Amnestie ausnähme. Denn eines ist ja wohl sicher: die Amnestie macht Unrecht nicht zu Recht. Auch wenn Sie eine Generalamnestie erlassen, wird niemand behaupten wollen, in Zukunft seien der Diebstahloder der Betrug oder die Untreue als zu Recht geschehen anzusehen. Ebenso werden wir doch niemals annehmen, daß die Taten, die wir nun aus Gründen der Menschlichkeit unter die Amnestie bringen wollen, weil sie in Zeiten einer urigeheueren Verwirrung geschehen sind, Rechtens sind. Sie sollen nur aus politischen, menschlichen und allgemeinen Gründen — aus dem Rahmen der Strafbarkeit herausgenommen werden. Deshalb dürfte das genannte Argument wohl nicht entscheidend dagegen sprechen.
Der Regierungsentwurf hat auch in dieser Beziehung sehr starke Grenzen gezogen. Einmal zeitlich, indem er nur Taten berücksichtigt, die in der Zeit vorn 1. Oktober 1944 bis zum 31. Juli 1945 begangen worden sind. Es wird eine Reihe von Voraussetzungen aufgestellt, es werden Strafgrenzen bis zu drei Jahren gegeben. Vor allem sagt der Regierungsentwurf, daß Straftaten nicht amnestiert werden, wenn bei ihnen gewissenlos über die höhere Rechtspflicht hinweggegangen wurde. Selbstverständlich erhebt sich beim Juristen, wenn er eine solche Klausel liest, der Ein- wand mangelnder Bestimmtheit; selbstverständlich sucht der Jurist hier nach einer präziseren Formulierung Aber ich glaube, wenn man schon dem Gedanken folgt, die menschlich wirklich nicht mehr verständlichen und nicht mehr- zu billigenden Taten auszunehmen, kommt man um eine nicht einfache Formulierung nicht herum, weil die Verhältnisse und die Menschen eben zu verschieden und zu komplex sind.
Schwierig ist das Problem, ob Steuer- und Monopolvergehen amnestiert werden sollen. Wir müssen uns darüber einmal grundsätzlich klarwerden. Das erste Straffreiheitsgesetz schloß Steuervergehen grundsätzlich von seinem Anwendungsbereich aus. Die Entwürfe machen praktisch fast das gleiche, weil sie nur gewisse Ordnungswidrigkeiten unter die Amnestie fallen lassen. Vor allem ist überall da die Amnestie ausgeschlossen, wo im Steuerrecht eine tätige Reue möglich ist. Aber ich bitte, zu bedenken, ob es, wenn man schon einen Schlußstrich unter turbulente und vergangene Zeiten ziehen will. gerechtfertigt ist, hier so begrenzt vorzugehen. Zum mindesten könnte man daran denken, die Steuerdelikte aus der Reichsmarkzeit, die immer noch eine gewisse Rolle spielen, unter die Amnestie fallen zu lassen. Ich bitte, auch zu berücksichtigen, daß die Möglichkeit tätiger Reue sicherlich einen Unterschied zum normalen Strafrecht schafft. Jeder, der in der Praxis mit diesen Dingen zu tun hat, weiß aber, daß die tätige Reue mit einem so erheblichen Verlust an Ansehen verbunden ist und psychologisch so belastend ist, daß es nicht ohne weiteres gerechtfertigt ist, hier alles auszuschließen, wenn wir nicht eine allgemeine Amnestie, sondern eine Bereinigung der Vergangenheit wollen. Mindestens bitte ich zu erwägen, ob es, wenn wir uns nicht zu Weiterem entschließen können, nicht besser ist, auch die Steuerübertretungen und Ordnungswidrigkeiten wegzulassen, um dem Herrn Bundesfinanzminister vielleicht den Weg freizumachen, alte Sünder in Zusammenhang mit der erwarteten großen Steuerreform, mit der sich ja so viele Hoffnungen verbinden, zu amnestieren.
Ls bedarf wohl keiner besonderen Begründung, daß Wirtschaftsdelikte besonders stark mit den außergewöhnlichen Verhältnissen der Kriegs- und Nachkriegszeit in Zusammenhang standen. Es ist daher wohl zu überlegen, ob man bei Wirtschaftsdelikten nicht auf diesen Zusammenhang mit der Notlage verzichten und genereller vorgehen könnte. In den Zusammenhang der Wirtschaftsdelikte gehören auch die berühmt gewordenen Ost-West-Geschäfte, die durch gerichtliche Nachspiele Aufsehen erregt haben. Wir verstehen es, daß der Entwurf der CSU die Amnestie in begrenztem Umfang auch auf diese Geschäfte ausdehnen will.
Gegenstand sehr lebhafter Kritik war der Ausschluß einer Reihe von Gruppen von Delikten aus dem Regierungsentwurf. Die Regierung will schwere Vergehen nicht amnestieren. Ich glaube, sachlich sind wir da alle einig. Strittig war nur die Frage der Verkehrsvergehen. Ich möchte hier nur auf einige Gesichtspunkte hinweisen. Es war nicht willkürlich, wenn man sich sagte, die Verkehrsvergehen werden ausgeschlossen. Sicher ist, daß die Verkehrsvergehen heute keinen grundsätzlichen Zusammenhang mehr mit den Zuständen haben, die wir nun strafrechtlich bereinigen wollen. Es ist wohl auch verständlich, daß man die Verkehrssünder nicht frei ausgehen lassen kann in einer Zeit, wo sich alle Anstrengungen darauf richten, diese Leute, die so großes Unheil anrichten, durch Strafen zu erziehen. Eine Amnestie würde tatsächlich den Kampf gegen die Verkehrssünder zu schwächen geeignet sein. Wir müssen aber entweder die Verkehrssünder herauslassen oder sie mit begrenztem Strafrahmen völlig der Amnestie unterstellen. Wir dürfen es auf keinen Fall darauf ankommen lassen, daß man die Verkehrssünder viel-
leicht im Zusammenhang mit diesen außergewöhnlichen Verhältnissen der Nachkriegszeit amnestiert; denn dadurch würde, sagen wir, dialektischen Versuchen und Mißbräuchen der Amnestie Tür und Tor geöffnet. Sie haben bei den Debatten über den Haushalt und über das Verkehrsproblem ja betrübliche Feststellungen über den Zustand unserer Straßen anhören müssen. Es wäre wohl von Verteidigerseite kein besonderes Kunststück, nun in jedem Unfallprozeß zu behaupten, der Unfall in den zurückliegenden Jahren hänge noch mit den schlechten Straßen zusammen, sei begründet in den Verhältnissen der Nachkriegszeit; denn hätte der Straßenbau eine friedensmäßige Entwicklung genommen, dann wäre eine solche Brücke, eine solch enge Fahrbahn oder ein solch bedenklicher Zustand nicht entstanden. Wir würden dann erleben, daß in jedem Fall versucht würde, über diesen Vermutungstatbestand von einer Strafe wegzukommen, die wir vielleicht für richtig hielten.
Nun zurück zum Ausgangspunkt, nämlich zur Platow-Amnestie. Der Regierungsentwurf enthält im Gegensatz zum CSU-Entwurf eine Norm, die diese Dinge doch noch bereinigen will, die also versuchen will, dem Wunsche des 1. Bundestages zu entsprechen. Ob nun diese Norm. die die Regierung entwickelt hat, in dieser Form erwünscht ist, ob sie ausreicht und ob sie vor allem gegen die früher erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken gesichert ist, muß einer eingehenden und auch sehr speziellen Prüfung vorbehalten bleiben. Wir können im Augenblick nur erklären, zu einer endgültigen Erledigung dieses wenig erfreulichen Sachverhalts und der aus ihm hervorgegangenen Schwierigkeiten beitragen zu wollen. Wir tun das vor allem schon deshalb, weil inzwischen — ich bitte Sie, das zu beachten — zwei verfassungsrechtliche Streitkomplexe sich in diesem Fall übereinandergelagert haben und weil wir nichts unversucht lassen wollen, Auseinandersetzungen vor dem Bundesverfassungsgericht von vornherein zu vermeiden.
Nun enthalten beide Entwürfe natürlich auch eine Reihe von Bestimmungen, die zum Teil kritisierbar, zum Teil billigenswert sind. Sicher ist es gut, daß man einmal -die Möglichkeit gibt, auch Strafregistereinträge zu bereinigen und zu streichen, wenn es sich um Wirtschaftsdelikte handelt. Sicherlich wäre es auch erfreulich, wenn einige kleine Abfindungsbrenner, die unter die Räder des Branntweinmonopolgesetzes geraten sind, im Rahmen dieser Amnestie wieder zu ihrem Recht kommen könnten, wie es der CSU-Entwurf vorsieht. Wir würden dadurch nicht nur diesen kleinen Leuten helfen, sondern auch manchem süddeutschen Abgeordneten einen Herzenswunsch erfüllen.
Abschließend möchte ich folgendes sagen. Die Geschichte dieses kommenden Straffreiheitsgesetzes, das wurde schon einmal betont, ist jetzt schon ebenso lang wie voller Schwierigkeiten und Tükken. Sie wissen, der Bundesrat hat den Entwurf der Regierung einstimmig abgelehnt. Die CSU hat einen zweiten Entwurf eingebracht. Wir haben hier im Plenum eine noch völlig unübersehbare Situation. Alle diejenigen, die der Meinung sind, man solle in der Tat auch im Strafrecht einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ziehen, müssen hoffen, daß wir noch eine Lösung finden, die die hier typischen und vor allem die sehr verzwickten verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten
ausschaltet, berechtigte Wünsche erfüllt und vor allem nicht zu den Schäden führt, die die Gegner der großen Amnestie befürchten.
Ich beantrage im Namen meiner Fraktion, alle drei Vorlagen, also die beiden Entwürfe und die Anfrage über die Verkündung der Platow-Amnestie, dem Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht zu überweisen, der hier sicherlich vor einer nicht einfachen Aufgabe stehen wird.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dehler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß wohl Stellung beziehen und kann nicht die Beantwortung der Großen Anfrage der SPD nur meinem so ritterlichen Freund und Nachfolger im Amte, Herrn Minister Neumayer, überlassen; denn das, was zur Diskussion steht, geht ja auf mich zurück, und es hat auch grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung. Wenn die Zeit heute auch noch so fortgeschritten ist, wir müssen die Frage einmal wohl zu Ende durchsprechen, die Frage der Befugnis des Bundeskanzlers oder eines Bundesministers, eines Ressortministers, ein im Bundestag und Bundesrat beschlossenes Gesetz nicht zu unterzeichnen.
Herr Kollege Greve, wir wollen nicht Herrn Paul Set he als Zeugen oder gar als Sachverständigenautorität anziehen. Er ist ein ganz ausgezeichneter Journalist, aber von dieser Verfassungsfrage kann er kaum etwas verstehen. Der Herr Kollege Dr. Furler hat das Problem angeschnitten. Es ist
1) ein reines Rechtsproblem. Allerdings hat Herr Kollege Dr. Furler eine petitio principii aufgeworfen, wenn er sagt, es bestehe doch eine Verpflichtung, zu unterzeichnen; die Unterzeichnung sei vorgeschrieben, wenn ein Gesetz zustande gekommen sei, und deswegen dürfe sie nicht verweigert werden.
Die richtige Frage ist: wann ist ein Gesetz zustande gekommen? Nur ein zustande gekommenes Gesetz muß nach dem Grundgesetz und nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung ausgefertigt werden. Die Rechtsquelle, Art. 82 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes, lautet:
Die nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze werden vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt . . .
Die Gegenzeichnung obliegt nach Art. 58 Satz 1 des Grundgesetzes dem Bundeskanzler oder dem zuständigen Bundesminister. Dazu kommt allerdings die etwas ändernde Bestimmung des § 29 Abs. 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung vom 11. Mai 1951, die bestimmt, daß Gesetze dem Bundespräsidenten erst nach der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler u n d die zuständigen Bundesminister oder den zuständigen Bundesminister zur Vollziehung vorzulegen sind. Das ist die Rechtslage. Die Frage also, die sich als Problem stellt, ist: wann kann der Kanzler, wann kann ein Minister sagen: Ein Gesetz ist nicht ordnungsgemäß zustande gekommen, deswegen verweigere ich meine Unterschrift, wie ich es bei der sogenannten Platow-Amnestie vom 29. Juli vorigen Jahres getan habe?
Zunächst einmal ein Wort zur Rechtslehre, um die man sich ja wohl bemühen muß. Es ist nicht
so, wie der Herr Kollege Dr. Furler meint, daß die Möglichkeit der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit nur dem Bundespräsidenten zustehe. Unser verehrter Vorsitzender des Rechtsausschusses im ersten Bundestag, Herr Kollege Laforet, hat in einer Veröffentlichung der Görres-Gesellschaft „Die Scheidung der Gewalten nach dem Bonner Grundgesetz" das Prüfungsrecht des Ministers und des Kanzlers bejaht, dagegen das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten verneint. Ich bin der Meinung, daß alle mit der Promulgation eines Gesetzes befaßten Verfassungsorgane das Prüfungsrecht haben, und befinde mich dabei in Übereinstimmung fast mit der gesamten Rechtslehre. Unser Kollege vom Parlamentarischen Rat von Mangoldt hat in seinem Kommentar zum Grundgesetz, in dem Bonner Kommentar, diesen Standpunkt eingenommen, ebenso Giese, Nawiasky, der bayerische Verfassungs- und Verwaltungsjurist Kratzer, dann Schäfer. Also ernstlich gar kein Streit, Herr Kollege Greve, daß dieses Prüfungsrecht, dem ja auch immer eine Pflicht entspricht, besteht.
Die Frage: Was geschieht dann, wenn ein Minister zu dem Ergebnis kommt, ein Gesetz ist nicht ordnungsgemäß zustande gekommen, es ist entweder materiell verfassungswidrig oder es entspricht formell nicht dem Gesetzgebungsgang, den das Grundgesetz vorgeschrieben hat? Ich bin der Meinung, daß dann — so ist es auch die Meinung von von Mangoldt — die Bundesregierung das betreffende Gesetz dem Bundespräsidenten unter Darlegung ihrer verfassungsrechtlichen Bedenken vorzulegen und die Erklärung abzugeben hat, daß sie eine Gegenzeichnung ablehne, und daß sie die Gründe der Ablehnung dem Bundestag und dem Bundesrat mitzuteilen hat. — Ich bemerke: es ist nicht meine Schuld, wenn im vorliegenden Fall nicht so verfahren worden ist.
In der Weimarer Zeit sind die Dinge etwas anders behandelt worden. Damals wurde die ministerielle Verantwortlichkeit bei der Ausfertigung von Gesetzen nicht durch die Ablehnung der Gegenzeichnung, sondern dadurch zum Ausdruck gebracht, daß die Reichsregierung das nach ihrer Meinung verfassungswidrige Gesetz dem Reichspräsidenten gar nicht erst vorlegte, sondern dem Reichstag die Mitteilung machte, daß sie die Unterzeichnung des Gesetzes ablehne. Und das ist, Herr Kollege Greve, in einer Reihe von Fällen zur Zeit der Weimarer Verfassung geschehen. Insoweit besteht zwischen der Weimarer Verfassung und dem Bonner Grundgesetz keinerlei Unterschied.
— Nein, wo sollte der Unterschied liegen?
— Das Problem liegt ja beim Bundeskanzler ganz genau so. Wir brauchen uns doch gar nicht darauf zu kaprizieren, ob Minister allein oder Minister und Bundeskanzler dieses Recht haben. Aber nachdem nach dem Grundgesetz der Minister selbst entscheiden muß und nicht etwa durch das Kabinett gezwungen werden kann, zu unterzeichnen oder nicht zu unterzeichnen, weil das ein Akt ist, der ausschließlich seiner Kompetenz untersteht, ist das Problem ganz genau so wie in der Weimarer Zeit.
Es ist doch vielleicht ganz interessant, wenn ich Ihnen einige der kritischen Fälle der Weimarer Zeit kurz darlege. Im Sommer 1922 hat sich der Reichsminister der Finanzen geweigert, das vom Reichstag mit einfacher Mehrheit beschlossene Pensionskürzungsgesetz dem Reichspräsidenten zur Ausfertigung zu unterbreiten, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß der Inhalt des Gesetzes mit der Reichsverfassung im Widerspruch stand. Im August 1925 hat es der Reichsarbeitsminister abgelehnt, die Ausfertigung eines vom Reichstag am 14. Juni 1925 beschlossenen Gesetzes zur Änderung der Verordnung über die Fürsorgepflicht herbeizuführen, und zwar mit der Begründung, daß der vom Reichsrat gegen dieses Gesetz erhobene Einspruch seitens des Reichtages nicht vorschriftsmäßig behandelt worden sei, mithin ein Gesetz, das zu verkünden wäre, nicht vorliege. Weitere Beispiele wären dann auch die Gesetze, die im Jahre 1926 und 1929 durch Volksbegehren und Volksentscheid herbeigeführt worden sind, Fürstenenteignung 1926, Freiheitsgesetz 1929, Gesetze, deren Ausfertigung damals von der Reichsregierung abgelehnt worden ist.
Also: es gibt in der gesamten Rechtslehre überhaupt keinen Streit darüber, daß der Ressortminister und der Bundeskanzler das Recht der Prüfung haben. In der früheren Zeit sind von Triepel und Grau nur Bedenken erhoben worden, ob Reichsminister und Reichskanzler auch ein Prüfungsrecht wegen materiellen Verstoßes gegen die Verfassung, also wegen der materiellen Verfassungsmäßigkeit haben. Aber daß das Prüfungsrecht hinsichtlich der Einhaltung der Form besteht, ist völlig unbestritten.
Nun bin ich der Meinung, daß dieses angebliche Gesetz vom 29. Juni 1929 — darüber muß man doch ein Wort sagen, auch wegen der Verknüpfung dieses Gesetzes mit dem § 7 der neuen Straffreiheitsvorlage der Bundesregierung — ein Hohn auf jede Gesetzgebung und wirklich ein Anlaß ist, ernsteste Bedenken zu haben. Herr Kollege Greve, wem haben Sie, oder wem hat Herr Sethe einen Gefallen damit getan, daß dieses Gesetz wieder hervorgeholt wurde? Das ist einer der trübsten Vorgänge dieses Hauses gewesen. Meine Damen und Herren, ich kenne ja die Hintergründe besser als irgend jemand. Da werden Journalisten angeklagt wegen irgendwelcher Dinge, nicht etwa — Herr Kollege Wagner, wir haben schon im ersten Bundestag darüberdiskutiert—wegen des umstrittenen § 333 c des Strafgesetzbuchs, wegen der Verletzung der Verpflichtung auch jedes Privaten, Geheimsachen zu hüten, sondern wegen schwerster Verletzungen der Beamtenpflichten und der Geheimhaltungspflichten. In der Öffentlichkeit ist so der Eindruck entstanden, als ob das Bagatellsachen wären und als ob das Dinge gewesen wären, die aus dem Übergang heraus oder aus der Unkenntnis der Dinge entstanden wären. Das Gegenteil ist der Fall! Der Mann, der in einem Ministerium beauftragt war, die Geheimsachen zu hüten und das Register über die Geheimsachen zu führen, der besonders auf die Geheimhaltung dieser Dinge verpflichtet war, hat Tag für Tag, Woche für Woche, diese Dinge verkauft, meine Damen und Herren.
Also schwerste Verfehlungen!
— Herr Heiland, Ihr Zwischenruf ist so billig und paßt auch gar nicht in meine Argumentation. Ich spreche ja von den Dingen, die zu schwerster Anklage geführt haben.
— Das ist nicht das Problem, mit dem ich mich jetzt abgebe.
— Nun bitte, es ist ja ein neuer Bundestag.
— Leider, leider, Herr Kollege Greve.
Das ist kein Ruhmesblatt für den Bundestag.
Ich muß hier bekennen, muß mich rechtfertigen, wie die Dinge standen, und muß es klarmachen, warum ich so gehandelt habe.
Um nur noch ein Beispiel zu sagen: Einer der Angeklagten beging der Reihe nach schwerste aktive Bestechung, Urkundenfälschung, Geheimnisbruch. Es wird immer gesagt, die Leute hätten nicht gewußt, worum es gegangen sei. Einer der Angeklagten schrieb in einem Brief: Ich weiß genau, daß ich um Kopf und Kragen spiele. — Ich erwähne das, damit Sie wissen, daß hier keine Rede davon sein kann, daß die Leute amnestiewürdig wären.
— Da bin ich durchaus mit Ihnen der Meinung — ich will es einmal genau so formulieren wie der Herr Kollege Dr. Furler —, daß wir wirklich eingehender prüfen sollten, ob nicht die gleichen Bedenken auch dort bestehen. Mein verehrter Kollege Neumayer hat ja immerhin die Prüfungspflicht auch betont.
Nein, meine Damen und Herren, man hat die Form eines Gesetzes mißbraucht — das ist j a das Schlimme —, um eine ganz genau umrissene Zahl von Fällen, ungefähr 40, niederzuschlagen. Es gibt meiner Meinung nach nichts Schlimmeres, als wenn ein Parlament nicht mehr weiß, daß durch ein Gesetz Recht geschaffen werden soll. Hier ist ein Gesetz, das das Gegenteil tut, das Willkür schafft
und das schon deswegen nicht Rechtens ist, weil die Begnadigung einzelner Straffälle — Abolition ist an und für sich überhaupt nicht möglich; ich unterstelle, sie wäre möglich — nicht der Zuständigkeit des Bundes unterliegt. Sie gehörte zur Zuständigkeit der Länder. Also schon wegen mangelnder Zuständigkeit des Bundes ist dieses Gesetz verfassungswidrig. Hierauf allein kann ich mich zur Begründung meiner Weigerung beziehen. Daß aber in diesem Beschluß des Bundestags ein grober Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz liegt, ist doch mit Händen zu fassen.
Für mich ist der Vorgang erschütternd, meine Damen und Herren, daß ich, als ich im Vermittlungsausschuß, der angerufen war, erklärte: Nie werde ich meine Unterschrift unter dieses Gesetz setzen, kein Gehör gefunden habe. Übrigens, Herr
Kollege Furler, man soll ja gerecht sein. Der Herr Kollege Arndt ist hinausgegangen, als dieses Gesetz angenommen wurde, und manche anderen sind hinausgegangen, viele gute Juristen, und haben sich dessen geschämt, was ihre Brüder hier taten.
— Entschuldigung; dann habe ich Sie für besser gehalten, als Sie sind.
Vielleicht bin ich ein bißchen überspitzt in diesen Dingen. Das Unglück unserer Zeit fing an, als der Gesetzgeber nicht mehr rechtsstaatlich dachte, als er in dem Gesetz ein politisches Mittel sah. Meine Damen und Herren, Sie haben es alle miterlebt, wo das geendet hat. Wollen wir diesen Weg wieder beschreiten? Principiis obsta!
Ja, wie kann man nun die Dinge in Ordnung bringen? Ich muß da meine verschiedenen Erklärungen ein klein bißchen präzisieren. Herr Kollege Greve, was Sie mir da vorgehalten haben, auch aus dem Zusammenhang, gibt nicht immer den richtigen Sinn. Selbstverständlich besteht die Möglichkeit der Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht nicht in der Form der Normenkontrollklage, wenigstens nicht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, weil das Bundesverfassungsgericht den Standpunkt vertritt, Normenkontrollklage sei erst möglich, wenn ein Gesetz unterzeichnet und ausgefertigt sei, also nicht vor Ausfertigung und Verkündung der Gesetze, mit der einen Ausnahme der Vertragsgesetze.
Ich will nicht darüber deuteln, ob dieser Standpunkt richtig ist, aber wir müssen ihn zugrunde legen. Es ist ein echter Fall der Verfassungsstreitigkeit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 des Grundgesetzes gegeben. Wenn der Bundestag der Meinung ist, daß der Bundeskanzler oder daß ich die Unterschrift zu Unrecht verweigert haben oder der jetzige Bundesjustizminister sie verweigert, dann kann Klage beim Bundesverfassungsgericht erhoben werden, und zwar vom Bundespräsidenten, vom Bundestag insgesamt, vom Bundesrat, aber auch von der Minderheit des Bundestages, die in der Geschäftsordnung mit eigenen Rechten ausgestattet ist; das wäre also wohl ein Viertel der Mitglieder des Bundestages. Die Klage müßte auf Feststellung der Verpflichtung zur Gegenzeichnung und zur Ausfertigung dieser Gesetzesbeschlüsse gerichtet werden. Die Frage, ob die Bundesregierung ihrerseits diese Möglichkeit der Klage gehabt hätte, ist ein bißchen schwierig. Man hätte ja an die Form der negativen Feststellungsklage denken können; aber wir sind schon einmal diesen Weg gegangen und haben uns dabei die Finger verbrannt. Ob man es also der Bundesregierung hätte zumuten können, daß sie ihrerseits das Bundesverfassungsgericht anruft? Ich möchte das verneinen.
Also bei Ihnen liegt es, meine Damen und Herren, die Frage notfalls zu klären. Wenn Sie wirklich der Meinung sind, daß dieses Gesetz nun nicht schamhaft begraben werden sollte, wenn Sie wirklich meinen, man müsse es zum Leben erwecken. dann werden Sie oder der Bundestag erst einmal die Klage führen müssen, daß die Bundesregierung zu Unrecht die Gegenzeichnung des Gesetzes verweigert hat. Daß Sie beim Bundesverfassungsgericht unterliegen würden, steht für mich außer Frage.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Greve.
Meine Damen und Herren! Erschrecken Sie nicht! Nur ein paar wenige Worte. Herr Kollege Dr. Dehler hat sich eingangs seiner Ausführungen auf den Standpunkt gestellt, daß es sich um ein reines Rechtsproblem handelt. Diese seine Ausführungen stehen im Widerspruch zu seinen Ausführungen, die ich ersthin zitiert habe. Da hat er nämlich zum Ausdruck gebracht, daß es sich auch um ein politisches Problem handle. Wenn es sich um ein reines Rechtsproblem handelte, dann würde der zuständige Minister wohl nicht verpflichtet sein, zurückzutreten. Es ist ein Politikum, das den Minister veranlassen sollte zurückzutreten. Das hat Herr Kollege Dr. Dehler auch ganz richtig erkannt, nur ist sein Nachfolger, der Herr Bundesjustizminister Neumayer, bisher noch nicht zu der gleichen Beurteilung des Vorgangs gekommen, wie es scheint.
Immerhin, Herr Kollege Dr. Dehler, können wir uns kurz einmal über diese Rechtsfrage unterhalten. Es ist ein Gesetz zustande gekommen, das sowohl die materielle wie die formelle Seite berührt. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit ist die Frage der materiell-rechtlichen Seite des zustande gekommenen Gesetzes, und nur so können Sie auch den von Ihnen zitierten Mangoldt verstehen, in dem Sie selbst erwähnt werden. Mangoldt sagt mit Recht:
Ergibt sich dabei,
— bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit — daß die verfassungsmäßigen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, so wird die ministerielle Verantwortlichkeit dadurch zum Ausdruck kommen, daß die Bundesregierung das betreffende Gesetz dem Bundespräsidenten unter Darlegung ihrer verfassungsrechtlichen Bedenken und mit der Erklärung vorlegt, daß sie eine Gegenzeichnung ablehne, und dem Bundestag von den Mängeln Mitteilung macht.
Dann heißt es weiter:
Der Bundespräsident andererseits kann, bevor er die Ausfertigung ablehnt, nach § 97 Abs. 2 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht . . .ein Rechtsgutachten des Bundesverfassungsgerichts einholen.
Irgend etwas hätte unter allen Umständen im Hinblick auf den vom Parlament zum Ausdruck gebrachten Willen, dieses Gesetz verkündet zu wissen, von der Bundesregierung getan werden müssen. Es hätte keine Möglichkeit geben dürfen, daß in der Monatsschrift für Deutsches Recht Herr Oberlandesgerichtsrat Dr. Günther Schulz aus Hamburg zum Ausdruck bringen konnte:
Nebenbei erscheint es fraglich, ob es zulässig
ist, ein verkündungsreifes Gesetz monatelang
auf Eis zu legen. Aber wo kein Kläger, da ist
auch kein Richter.
Den Vorwurf haben wir uns allerdings selber zu machen, daß wir bisher nicht das geworden sind, was wir lange der Bundesregierung gegenüber hätten werden müssen, nämlich Kläger gegenüber einem Verhalten, das wir aus genau densel-
ben verfassungsmäßigen Gründen heraus verurteilen, wie Herr Dr. Dehler es für richtig hält. Unter keinen Umständen durfte, wenn die Frage der Verfassungsmäßigkeit zur Diskussion stand — und daß Herr Dr. Dehler verfassungsmäßige Bedenken hatte, nimmt ihm ja niemand übel, ich zuallerletzt, der ich ungefähr den gleichen Standpunkt in dieser Frage einnehme wie er; ich habe im Vermittlungsausschuß damals nicht mitgestimmt, Herr Dr. Dehler, wenn Ihnen das auch nicht ganz sympathisch sein mag —, Herr Dr. Dehler es unterlassen, den nach der Verfassung vorgezeichneten Weg zu beschreiten, anstatt die Entscheidung „auf Eis zu legen" und darauf zu warten, bis in anderer Form etwas, was Sie ja auch heute noch nach Ihren letzten Ausführungen für verfassungsmäßig nicht nur bedenklich, sondern unzulässig halten, uns präsentiert wird. Ich habe gesagt, die verfassungsmäßige Frage steht nach wie vor, und ich muß den Herrn Bundesminister der Justiz bitten, endlich dafür Sorge zu tragen, daß diese Frage geklärt wird. Es ist hier so, daß ein verkündungsreifes Gesetz vorliegt und die Bundesregierung die Pflicht hat, dem Herrn Bundespräsidenten dieses Gesetz zur Verkündung vorzulegen, und nicht wir. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, etwas zur Klärung der Verfassungsmäßigkeit des betreffenden Gesetzes zu unternehmen, und nicht die unsrige. Die politische Seite, die Sie angesprochen haben, ist in die Entscheidung des Herrn Bundesjustizministers bzw. des Herrn Bundeskanzlers als Regierungschefs gelegt. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit steht nach wie vor und ist zu entscheiden.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe daher die Beratung zu Punkt 2 a bis c der heutigen Tagesordnung.
Punkt 2 a ist damit erledigt; eine Überweisung einer Großen Anfrage ist nach der Geschäftsordnung nicht möglich. Für die Punkte 2 b und c, Drucksachen 215 und 248, ist die Überweisung an den Ausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht beantragt. Ich nehme an, daß das Haus damit einverstanden ist. — Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.
Damit sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung. Ich bitte noch einen Moment um Gehör: Die Sitzung des Ernährungsausschusses fällt aus.
Ich berufe die nächste, die 18. Sitzung des Deutschen Bundestages auf Donnerstag, den 11. März 1954, 9 Uhr, und schließe die heutige Sitzung.