Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß wohl Stellung beziehen und kann nicht die Beantwortung der Großen Anfrage der SPD nur meinem so ritterlichen Freund und Nachfolger im Amte, Herrn Minister Neumayer, überlassen; denn das, was zur Diskussion steht, geht ja auf mich zurück, und es hat auch grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung. Wenn die Zeit heute auch noch so fortgeschritten ist, wir müssen die Frage einmal wohl zu Ende durchsprechen, die Frage der Befugnis des Bundeskanzlers oder eines Bundesministers, eines Ressortministers, ein im Bundestag und Bundesrat beschlossenes Gesetz nicht zu unterzeichnen.
Herr Kollege Greve, wir wollen nicht Herrn Paul Set he als Zeugen oder gar als Sachverständigenautorität anziehen. Er ist ein ganz ausgezeichneter Journalist, aber von dieser Verfassungsfrage kann er kaum etwas verstehen. Der Herr Kollege Dr. Furler hat das Problem angeschnitten. Es ist
1) ein reines Rechtsproblem. Allerdings hat Herr Kollege Dr. Furler eine petitio principii aufgeworfen, wenn er sagt, es bestehe doch eine Verpflichtung, zu unterzeichnen; die Unterzeichnung sei vorgeschrieben, wenn ein Gesetz zustande gekommen sei, und deswegen dürfe sie nicht verweigert werden.
Die richtige Frage ist: wann ist ein Gesetz zustande gekommen? Nur ein zustande gekommenes Gesetz muß nach dem Grundgesetz und nach der Geschäftsordnung der Bundesregierung ausgefertigt werden. Die Rechtsquelle, Art. 82 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes, lautet:
Die nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze werden vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt . . .
Die Gegenzeichnung obliegt nach Art. 58 Satz 1 des Grundgesetzes dem Bundeskanzler oder dem zuständigen Bundesminister. Dazu kommt allerdings die etwas ändernde Bestimmung des § 29 Abs. 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung vom 11. Mai 1951, die bestimmt, daß Gesetze dem Bundespräsidenten erst nach der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler u n d die zuständigen Bundesminister oder den zuständigen Bundesminister zur Vollziehung vorzulegen sind. Das ist die Rechtslage. Die Frage also, die sich als Problem stellt, ist: wann kann der Kanzler, wann kann ein Minister sagen: Ein Gesetz ist nicht ordnungsgemäß zustande gekommen, deswegen verweigere ich meine Unterschrift, wie ich es bei der sogenannten Platow-Amnestie vom 29. Juli vorigen Jahres getan habe?
Zunächst einmal ein Wort zur Rechtslehre, um die man sich ja wohl bemühen muß. Es ist nicht
so, wie der Herr Kollege Dr. Furler meint, daß die Möglichkeit der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit nur dem Bundespräsidenten zustehe. Unser verehrter Vorsitzender des Rechtsausschusses im ersten Bundestag, Herr Kollege Laforet, hat in einer Veröffentlichung der Görres-Gesellschaft „Die Scheidung der Gewalten nach dem Bonner Grundgesetz" das Prüfungsrecht des Ministers und des Kanzlers bejaht, dagegen das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten verneint. Ich bin der Meinung, daß alle mit der Promulgation eines Gesetzes befaßten Verfassungsorgane das Prüfungsrecht haben, und befinde mich dabei in Übereinstimmung fast mit der gesamten Rechtslehre. Unser Kollege vom Parlamentarischen Rat von Mangoldt hat in seinem Kommentar zum Grundgesetz, in dem Bonner Kommentar, diesen Standpunkt eingenommen, ebenso Giese, Nawiasky, der bayerische Verfassungs- und Verwaltungsjurist Kratzer, dann Schäfer. Also ernstlich gar kein Streit, Herr Kollege Greve, daß dieses Prüfungsrecht, dem ja auch immer eine Pflicht entspricht, besteht.
Die Frage: Was geschieht dann, wenn ein Minister zu dem Ergebnis kommt, ein Gesetz ist nicht ordnungsgemäß zustande gekommen, es ist entweder materiell verfassungswidrig oder es entspricht formell nicht dem Gesetzgebungsgang, den das Grundgesetz vorgeschrieben hat? Ich bin der Meinung, daß dann — so ist es auch die Meinung von von Mangoldt — die Bundesregierung das betreffende Gesetz dem Bundespräsidenten unter Darlegung ihrer verfassungsrechtlichen Bedenken vorzulegen und die Erklärung abzugeben hat, daß sie eine Gegenzeichnung ablehne, und daß sie die Gründe der Ablehnung dem Bundestag und dem Bundesrat mitzuteilen hat. — Ich bemerke: es ist nicht meine Schuld, wenn im vorliegenden Fall nicht so verfahren worden ist.
In der Weimarer Zeit sind die Dinge etwas anders behandelt worden. Damals wurde die ministerielle Verantwortlichkeit bei der Ausfertigung von Gesetzen nicht durch die Ablehnung der Gegenzeichnung, sondern dadurch zum Ausdruck gebracht, daß die Reichsregierung das nach ihrer Meinung verfassungswidrige Gesetz dem Reichspräsidenten gar nicht erst vorlegte, sondern dem Reichstag die Mitteilung machte, daß sie die Unterzeichnung des Gesetzes ablehne. Und das ist, Herr Kollege Greve, in einer Reihe von Fällen zur Zeit der Weimarer Verfassung geschehen. Insoweit besteht zwischen der Weimarer Verfassung und dem Bonner Grundgesetz keinerlei Unterschied.
— Nein, wo sollte der Unterschied liegen?
— Das Problem liegt ja beim Bundeskanzler ganz genau so. Wir brauchen uns doch gar nicht darauf zu kaprizieren, ob Minister allein oder Minister und Bundeskanzler dieses Recht haben. Aber nachdem nach dem Grundgesetz der Minister selbst entscheiden muß und nicht etwa durch das Kabinett gezwungen werden kann, zu unterzeichnen oder nicht zu unterzeichnen, weil das ein Akt ist, der ausschließlich seiner Kompetenz untersteht, ist das Problem ganz genau so wie in der Weimarer Zeit.
Es ist doch vielleicht ganz interessant, wenn ich Ihnen einige der kritischen Fälle der Weimarer Zeit kurz darlege. Im Sommer 1922 hat sich der Reichsminister der Finanzen geweigert, das vom Reichstag mit einfacher Mehrheit beschlossene Pensionskürzungsgesetz dem Reichspräsidenten zur Ausfertigung zu unterbreiten, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß der Inhalt des Gesetzes mit der Reichsverfassung im Widerspruch stand. Im August 1925 hat es der Reichsarbeitsminister abgelehnt, die Ausfertigung eines vom Reichstag am 14. Juni 1925 beschlossenen Gesetzes zur Änderung der Verordnung über die Fürsorgepflicht herbeizuführen, und zwar mit der Begründung, daß der vom Reichsrat gegen dieses Gesetz erhobene Einspruch seitens des Reichtages nicht vorschriftsmäßig behandelt worden sei, mithin ein Gesetz, das zu verkünden wäre, nicht vorliege. Weitere Beispiele wären dann auch die Gesetze, die im Jahre 1926 und 1929 durch Volksbegehren und Volksentscheid herbeigeführt worden sind, Fürstenenteignung 1926, Freiheitsgesetz 1929, Gesetze, deren Ausfertigung damals von der Reichsregierung abgelehnt worden ist.
Also: es gibt in der gesamten Rechtslehre überhaupt keinen Streit darüber, daß der Ressortminister und der Bundeskanzler das Recht der Prüfung haben. In der früheren Zeit sind von Triepel und Grau nur Bedenken erhoben worden, ob Reichsminister und Reichskanzler auch ein Prüfungsrecht wegen materiellen Verstoßes gegen die Verfassung, also wegen der materiellen Verfassungsmäßigkeit haben. Aber daß das Prüfungsrecht hinsichtlich der Einhaltung der Form besteht, ist völlig unbestritten.
Nun bin ich der Meinung, daß dieses angebliche Gesetz vom 29. Juni 1929 — darüber muß man doch ein Wort sagen, auch wegen der Verknüpfung dieses Gesetzes mit dem § 7 der neuen Straffreiheitsvorlage der Bundesregierung — ein Hohn auf jede Gesetzgebung und wirklich ein Anlaß ist, ernsteste Bedenken zu haben. Herr Kollege Greve, wem haben Sie, oder wem hat Herr Sethe einen Gefallen damit getan, daß dieses Gesetz wieder hervorgeholt wurde? Das ist einer der trübsten Vorgänge dieses Hauses gewesen. Meine Damen und Herren, ich kenne ja die Hintergründe besser als irgend jemand. Da werden Journalisten angeklagt wegen irgendwelcher Dinge, nicht etwa — Herr Kollege Wagner, wir haben schon im ersten Bundestag darüberdiskutiert—wegen des umstrittenen § 333 c des Strafgesetzbuchs, wegen der Verletzung der Verpflichtung auch jedes Privaten, Geheimsachen zu hüten, sondern wegen schwerster Verletzungen der Beamtenpflichten und der Geheimhaltungspflichten. In der Öffentlichkeit ist so der Eindruck entstanden, als ob das Bagatellsachen wären und als ob das Dinge gewesen wären, die aus dem Übergang heraus oder aus der Unkenntnis der Dinge entstanden wären. Das Gegenteil ist der Fall! Der Mann, der in einem Ministerium beauftragt war, die Geheimsachen zu hüten und das Register über die Geheimsachen zu führen, der besonders auf die Geheimhaltung dieser Dinge verpflichtet war, hat Tag für Tag, Woche für Woche, diese Dinge verkauft, meine Damen und Herren.
Also schwerste Verfehlungen!
— Herr Heiland, Ihr Zwischenruf ist so billig und paßt auch gar nicht in meine Argumentation. Ich spreche ja von den Dingen, die zu schwerster Anklage geführt haben.
— Das ist nicht das Problem, mit dem ich mich jetzt abgebe.
— Nun bitte, es ist ja ein neuer Bundestag.
— Leider, leider, Herr Kollege Greve.
Das ist kein Ruhmesblatt für den Bundestag.
Ich muß hier bekennen, muß mich rechtfertigen, wie die Dinge standen, und muß es klarmachen, warum ich so gehandelt habe.
Um nur noch ein Beispiel zu sagen: Einer der Angeklagten beging der Reihe nach schwerste aktive Bestechung, Urkundenfälschung, Geheimnisbruch. Es wird immer gesagt, die Leute hätten nicht gewußt, worum es gegangen sei. Einer der Angeklagten schrieb in einem Brief: Ich weiß genau, daß ich um Kopf und Kragen spiele. — Ich erwähne das, damit Sie wissen, daß hier keine Rede davon sein kann, daß die Leute amnestiewürdig wären.
— Da bin ich durchaus mit Ihnen der Meinung — ich will es einmal genau so formulieren wie der Herr Kollege Dr. Furler —, daß wir wirklich eingehender prüfen sollten, ob nicht die gleichen Bedenken auch dort bestehen. Mein verehrter Kollege Neumayer hat ja immerhin die Prüfungspflicht auch betont.
Nein, meine Damen und Herren, man hat die Form eines Gesetzes mißbraucht — das ist j a das Schlimme —, um eine ganz genau umrissene Zahl von Fällen, ungefähr 40, niederzuschlagen. Es gibt meiner Meinung nach nichts Schlimmeres, als wenn ein Parlament nicht mehr weiß, daß durch ein Gesetz Recht geschaffen werden soll. Hier ist ein Gesetz, das das Gegenteil tut, das Willkür schafft
und das schon deswegen nicht Rechtens ist, weil die Begnadigung einzelner Straffälle — Abolition ist an und für sich überhaupt nicht möglich; ich unterstelle, sie wäre möglich — nicht der Zuständigkeit des Bundes unterliegt. Sie gehörte zur Zuständigkeit der Länder. Also schon wegen mangelnder Zuständigkeit des Bundes ist dieses Gesetz verfassungswidrig. Hierauf allein kann ich mich zur Begründung meiner Weigerung beziehen. Daß aber in diesem Beschluß des Bundestags ein grober Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz liegt, ist doch mit Händen zu fassen.
Für mich ist der Vorgang erschütternd, meine Damen und Herren, daß ich, als ich im Vermittlungsausschuß, der angerufen war, erklärte: Nie werde ich meine Unterschrift unter dieses Gesetz setzen, kein Gehör gefunden habe. Übrigens, Herr
Kollege Furler, man soll ja gerecht sein. Der Herr Kollege Arndt ist hinausgegangen, als dieses Gesetz angenommen wurde, und manche anderen sind hinausgegangen, viele gute Juristen, und haben sich dessen geschämt, was ihre Brüder hier taten.
— Entschuldigung; dann habe ich Sie für besser gehalten, als Sie sind.
Vielleicht bin ich ein bißchen überspitzt in diesen Dingen. Das Unglück unserer Zeit fing an, als der Gesetzgeber nicht mehr rechtsstaatlich dachte, als er in dem Gesetz ein politisches Mittel sah. Meine Damen und Herren, Sie haben es alle miterlebt, wo das geendet hat. Wollen wir diesen Weg wieder beschreiten? Principiis obsta!
Ja, wie kann man nun die Dinge in Ordnung bringen? Ich muß da meine verschiedenen Erklärungen ein klein bißchen präzisieren. Herr Kollege Greve, was Sie mir da vorgehalten haben, auch aus dem Zusammenhang, gibt nicht immer den richtigen Sinn. Selbstverständlich besteht die Möglichkeit der Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht nicht in der Form der Normenkontrollklage, wenigstens nicht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, weil das Bundesverfassungsgericht den Standpunkt vertritt, Normenkontrollklage sei erst möglich, wenn ein Gesetz unterzeichnet und ausgefertigt sei, also nicht vor Ausfertigung und Verkündung der Gesetze, mit der einen Ausnahme der Vertragsgesetze.
Ich will nicht darüber deuteln, ob dieser Standpunkt richtig ist, aber wir müssen ihn zugrunde legen. Es ist ein echter Fall der Verfassungsstreitigkeit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 des Grundgesetzes gegeben. Wenn der Bundestag der Meinung ist, daß der Bundeskanzler oder daß ich die Unterschrift zu Unrecht verweigert haben oder der jetzige Bundesjustizminister sie verweigert, dann kann Klage beim Bundesverfassungsgericht erhoben werden, und zwar vom Bundespräsidenten, vom Bundestag insgesamt, vom Bundesrat, aber auch von der Minderheit des Bundestages, die in der Geschäftsordnung mit eigenen Rechten ausgestattet ist; das wäre also wohl ein Viertel der Mitglieder des Bundestages. Die Klage müßte auf Feststellung der Verpflichtung zur Gegenzeichnung und zur Ausfertigung dieser Gesetzesbeschlüsse gerichtet werden. Die Frage, ob die Bundesregierung ihrerseits diese Möglichkeit der Klage gehabt hätte, ist ein bißchen schwierig. Man hätte ja an die Form der negativen Feststellungsklage denken können; aber wir sind schon einmal diesen Weg gegangen und haben uns dabei die Finger verbrannt. Ob man es also der Bundesregierung hätte zumuten können, daß sie ihrerseits das Bundesverfassungsgericht anruft? Ich möchte das verneinen.
Also bei Ihnen liegt es, meine Damen und Herren, die Frage notfalls zu klären. Wenn Sie wirklich der Meinung sind, daß dieses Gesetz nun nicht schamhaft begraben werden sollte, wenn Sie wirklich meinen, man müsse es zum Leben erwecken. dann werden Sie oder der Bundestag erst einmal die Klage führen müssen, daß die Bundesregierung zu Unrecht die Gegenzeichnung des Gesetzes verweigert hat. Daß Sie beim Bundesverfassungsgericht unterliegen würden, steht für mich außer Frage.