Rede von
Dr.
Fritz
Czermak
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(GB/BHE)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die vorliegende Amnestie hatte leider von Anfang an einen etwas unglücklichen Start. Man hat schon im Herbst davon gesprochen. Dann erschienen trotz strengster Vertraulichkeit wohlinformierte Zeitungsartikel. Man erwartete allgemein ein Weihnachtsgeschenk, und jetzt wird bestenfalls eine Oster-Amnestie daraus. Es ist daher durchaus verständlich, daß sich in den letzten Monaten alle Betroffenen darauf eingestellt haben. Es wurde vertagt, berufen, revidiert, aufgeschoben — allein in Frankfurt hat sich die Zahl der Revisionen von 70 pro Monat auf 140 verdoppelt —, so daß heute bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften eine ganze Menge unerledigter Strafsachen liegt. Schon aus diesen rein praktischen und technischen Erwägungen heraus erscheint uns der Erlaß einer Amnestie unbedingt notwendig, und zwar möglichst bald, selbst wenn darin ein Unrecht für die Verurteilten erblickt werden muß, die ihre Strafen bereits treu und ehrlich abgebüßt haben. Aber es sind doch noch viele Fälle anhängig, die unter diese Amnestie fallen sollen.
Wir wissen genau so gut wie alle Vorredner, daß jede Amnestie einen schweren Eingriff in die Strafrechtspflege bedeutet, daß sie den Strafrechtsanspruch des Staates gefährdet und daß sie durch
ganz besondere Ereignisse und Verhältnisse begründet sein muß. Dieser historische, feierliche Anlaß — Wiedervereinigung, Friedensvertrag — ist leider zur Zeit nicht gegeben. Trotz alledem begründen aber unserer Meinung nach die zweifellos immer noch bestehenden wirtschaftlichen No t-stände, die Kriegs- und Nachkriegsfolgen eine Amnestie; es fragt sich nur, in welchem Rahmen. Wenn man sich aber schon grundsätzlich zu einer Amnestie entschließt, dann möchte ich bitten, keine halbe, keine kleine oder kleinste Lösung, keine Verlegenheitslösung, sondern eine möglichst großzügige, wenn ich es etwas paradox sagen darf: auch in Kleinigkeiten großzügige Lösung zu suchen. Die letzte Amnestie mit dem Stichtag vom 15. September 1949 hat leider keinen Schlußstrich unter die allerärgsten Kriegs- und Nachkriegsfolgen gezogen. Auch nach dem 15. September 1949 tragen trotz der allgemeinen Besserung, des Wiederaufbaus, des deutschen Wunders, noch sehr viele Menschen, besonders in den Grenz- und Notstandsgebieten, schwer an den Folgen des Krieges und der Nachkriegszeit, und es bestehen bei sehr vielen Straftaten noch Kausalzusammenhänge mit diesen bitteren Zeiten. Das läßt sich wohl nicht bestreiten, wenn man die Not und das Elend bei vielen Menschen, besonders draußen im Lande, sieht.
Wir würden daher zunächst, weil wir für eine möglichst umfassende Lösung sind, für den ursprünglichen Gedanken einer allgemeinen Amnestie bis zu drei Monaten eintreten, wie er in dem Entwurf — darf ich ihn vielleicht auch den bayerischen Entwurf nennen? — festgelegt ist. Darüber hinaus sind wir aber für einen größeren Rahmen bis zu sechs Monaten im Sinne des § 3 des Regierungsentwurfs bei erwiesenem Notstand, allerdings nicht nur bei unverschuldetem wirtschaftlichen Notstand,
sondern auch bei seelischem Notstand, kurz und gut, bei jedem Notstand, gerade im Interesse der armen kleinen Sünder, die sich aus der Not heraus schuldig gemacht haben und bei denen man Gnade vor Recht walten lassen sollte. Wir würden auch dafür plädieren, daß eine Straffreiheit nicht gewährt wird, wenn eine höhere Vorstrafe als drei Monate — im Regierungsentwurf ist nur ein Monat angegeben — vorliegt, weil es sich hier meistens um Vorstrafen handelt, die aus weit schlimmeren Zeiten datieren. Derselbe Grundsatz sollte auch bei allen Steuer- und Monopolvergehen, auch bei den bereits zitierten Interzonenhandelsgeschäf ten gelten, nicht nur, wie es im Entwurf heißt, bei Steuerordnungswidrigkeiten und Monopolwidrigkeiten. Auch eine Erhöhung der Geldstrafe von 10 000 DM wäre zu erwägen. Ich verweise hier nur auf das Gutachten der Rechtsanwaltskammer, wobei ich bei den Wirtschaftsdelikten insbesondere an die Zigaretten- und Kaffeegeschäfte denke.
Ein schwieriges und sehr delikates Kapitel ist allerdings die Amnestie für Nachrichtentätigkeit im Zusammenhang mit der bekannten Platow-Amnestie. Wir vom GB/BHE sind in dieser Frage völlig unbefangen und objektiv. Wir können aber bei allen verfassungsrechtlichen Bedenken, die vom Herrn Kollegen Dr. Greve vorgebracht worden sind, durchaus verstehen, daß sich damals das bekannte Rechtsgefühl des seinerzeitigen Herrn Justizministers Dr. Dehler dagegen gesträubt hat. Bei allem Verständnis und vollster Sympathie für die Presse haben wir doch gerade mit Rücksicht auf das Ansehen und die Sauberkeit des deutschen Beamtenstandes die schwersten Bedenken. Jeder einzelne Fall sollte gründlich darauf überprüft wer-
den, ob er tatsächlich amnestiewürdig ist. Das vorgesehene Strafmaß von zwei Jahren scheint uns hier zu hoch gegriffen. Grundsätzlich sollte aber dieser ganze Komplex im Rahmen dieser Amnestie erledigt werden, wie auch der Herr Bundesjustizminister heute erklärt hat.
Wir sind ebenfalls für eine Bereinigung aller Taten während des Zusammenbruchs vor und nach Kriegsschluß — ich wiederhole: auch nach Kriegsschluß; es gibt dafür ja eine Frist —, die in einem schweren Gewissenskonflikt und Befehlsnotstand, insbesondere bei Soldaten, begangen wurden. Ich möchte nur auf zwei klassische Fälle verweisen: Petersen und Benthak, in denen nach je sechsjähriger Prozeßdauer in je drei Instanzen schließlich Freispruch erfolgt ist, einfach weil die Rechtslage ungeklärt war.
Für eine wirklich großzügige Lösung wären wir bei Verschleierung des Personenstandes. Bekanntlich sind das Dauer- und Kettendelikte. All diesen Untergetauchten, diesen „U-Booten", im Volksmund auch „Braun-Schweiger" genannt,
wäre der Weg in die Legalität, in ein geordnetes Leben zu öffnen, vor allem im Falle einer tätigen Reue durch Selbstmeldung.
Die stärkste Kritik hat der Regierungsentwurf, wie sich auch heute hier gezeigt hat, in der Frage der Ausschließungsgründe gefunden, besonders bezüglich der Verkehrsdelikte. Die Anführung von Tatbeständen bei den Ausschließungsgründen wie Hochverrat, Mord und Totschlag, Raub und Erpressung scheint mir ziemlich illusorisch, weil darauf meistens mehr als drei oder sechs Monate stehen. Es ist aber wirklich nicht einzusehen, daß man einen kleinen, fahrlässigen Verkehrssünder bestrafen muß, selbst wenn er eine kleine Menge mehr Prozente im Leibe gehabt hat, als das Gesetz es befiehlt,
während man kriminelle Täter amnestiert. Bei besonderer Rücksichtslosigkeit, bei gefährlicher Trunkenheit, bei Fahrerflucht usw. werden selbstverständlich höhere Strafen anzusetzen sein, als sie für eine Amnestie in Betracht kommen. Wir wären dafür, daß man diesen Ausschließungsgrund fallen läßt. Wir sind also, was die Ausschließungsgründe betrifft, ganz gleicher Ansicht mit dem bayerischen Entwurf, der nur Gewinnsucht und gemeine Gesinnung als solche Gründe gelten läßt.
Bedenken haben wir bezüglich des Stichtags vom 9. September oder vom 1. Oktober 1953. Wir sind für einen späteren Termin schon aus dem einfachen Grunde, weil sich die ganze Amnestie auch sehr verspätet hat.
Die Tilgung von Vorstrafen sollte man nicht nur auf Wirtschaftsstrafsachen beschränken, sondern in einem weit größeren Rahmen vorsehen, und zwar auch für andere Delikte, besonders für die Zeit vor Kriegsschluß und die Jahre der schwersten Not nach Kriegsschluß. Bei sehr vielen Verurteilten sind gerade diese Vorstrafen schwere Hindernisse für ihre neue Existenzgründung, was wirklich großzügig, weil es sich durchweg um bereits verbüßte Strafen handelt, zu beseitigen wäre.
Zum Verfahren wäre nur ganz kurz zu sagen, daß wir für ein einfaches, klares und schnelles Verfahren ohne jeden unnützen Apparat sind, damit
diese ganze Amnestie möglichst rasch und ohne Schwierigkeiten erledigt werden kann.
Zusammenfassend möchte ich nochmals betonen, daß wir sowohl die positive als auch die negative Seite dieser Amnestie sehen und uns alle weiteren Bedenken und Abänderungsvorschläge für die Beratung im zuständigen Rechtsausschuß vorbehalten. Wir wollen aber doch hoffen, daß sich dadurch wieder für viele Betroffene der Weg in eine bessere Zukunft öffnet und daß diese Amnestie zu einer allgemeinen Befriedung beiträgt.
Zum Schluß gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, einen Hinweis. Durch diese Amnestie sollten wir auch dem Ausland ein Beispiel geben. Ich z. B. als Heimatvertriebener weiß sehr gut, daß sich noch sehr viele Männer und auch Frauen schon mehr als acht Jahre drüben in der alten Heimat in Haft und Zwangsarbeit befinden — verurteilt nicht wegen krimineller Taten, sondern nur, weil sie Deutsche waren —, und sehr viele Frauen und Kinder warten schon acht Jahre lang auf ihren Vater, ihren Erhalter und Ernährer. Es wäre doch sicherlich schön und segensreich, wenn auch in diesen Ländern endlich Amnestien erlassen würden und damit wieder viele Familien froh und glücklich gemacht werden könnten.