Rede von
Dr.
Fritz
Neumayer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(FDP)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe heute die Ehre, Ihnen den Entwurf eines Straffreiheitsgesetzes zur Beschlußfassung bzw. zur Verweisung an den Rechtsausschuß vorzulegen.
Die Bundesregierung hatte bereits im Januar den Entwurf eines neuen Straffreiheitsgesetzes vorgelegt. Seitdem die Tatsache der Vorbereitung des Gesetzes bekanntgeworden ist, hat sich die Öffentlichkeit reichlich mit der Frage beschäftigt, ob ein Bedürfnis für eine neue Amnestie bestehe und gegebenenfalls, wie sie auszugestalten sei. Es ist ja bekanntgeworden — die Tageszeitungen haben auch darüber berichtet —, daß die Meinungen über
diese Frage weit auseinanderklaffen. Die Auffassungen reichen von der Forderung nach einer Generalamnestie weitesten Ausmaßes über die Stellungnahme zu den verschiedensten Fragen ihrer Ausgestaltung bis zur grundsätzlichen Ablehnung einer Amnestie überhaupt. Insbesondere haben sich die Länder in ihrer Gesamtheit zu einer Ablehnung der Amnestie entschlossen, obwohl einige von ihnen sich bei den Vorbesprechungen zu dem Gedanken eines Straffreiheitsgesetzes durchaus positiv eingestellt und sogar Erweiterungswünsche gegenüber Einzelvorschlägen der Bundesregierung geäußert hatten. Der Bundesrat hat die Ablehnung damit begründet, daß der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf rechtspolitisch bedenklich und kriminalpolitisch gefährlich sei. Man glaubt, es genüge zum Ausgleich von Härten, daß die Einzelfälle von Gerichten und Gnadenbehörden individuell behandelt werden.
Meine Damen und Herren, es ist für eine Bundesregierung nicht immer ganz einfach, ein Straffreiheitsgesetz vorzulegen. Insbesondere der Bundesminister der Justiz muß sich der kriminalpolitischen Bedenken, die ein solches Gesetz in sich schließt, bewußt sein und abwägen, ob diese kriminalpolitischen Bedenken entscheidend ins Gewicht fallen gegenüber dem anderen Gedanken, der zur Vorlage dieses Gesetzes geführt hat, dem Gedanken, einen Schlußstrich zu ziehen unter eine chaotische Zeit, für die niemand von uns verantwortlich war und die Menschen zu Straftaten oder Gesetzesübertretungen geführt hat, die sie sonst niemals begangen hätten.
Das Bundeskabinett hat sich nach gewissenhafter Prüfung aller dieser Gesichtspunkte, die für und gegen den Erlaß eines neuen Straffreiheitsgesetzes und für und wider die Fassung des im Bundesjustizministerium erarbeiteten Entwurfs vorgebracht worden sind, verpflichtet gefühlt, den Regierungsentwurf so, wie er dem Bundesrat vorgelegt worden war, unverändert dem Hohen Hause zur Beschlußfassung zu unterbreiten. Es wird erforderlich sein, daß ich Ihnen die Gründe darlege, die das Bundeskabinett bei seinem Beschluß geleitet haben. Ich muß damit zu einigen grundsätzlichen Fragen Stellung nehmen, die in dem Streit der Meinungen eine erhebliche Rolle gespielt haben.
Die erste Frage ging dahin, ob sich im jetzigen Zeitpunkt der Erlaß eines neuen Straffreiheitsgesetzes überhaupt rechtfertigen lasse. Die Bundesregierung ist davon überzeugt, daß diese Frage unbedingt bejaht werden muß, und zwar aus folgenden Gründen. Das Straffreiheitsgesetz vom 31. Dezember 1949 konnte dem Bedürfnis, einen Schlußstrich unter die Zeit des Zusammenbruchs und die damit in Verbindung stehenden Straftaten zu ziehen, nicht voll entsprechen. Es konnte gewisse Tatbestände von politischer Tragweite nicht erfassen und mußte insbesondere wegen des zu befürchtenden Widerstandes der Besatzungsmächte auf manche Vorschriften verzichten, deren Erlaß zur Bereinigung zweckvoll und sogar notwendig gewesen wäre. Ich brauche diesen Gesichtspunkt wohl nicht zu vertiefen, denn sie alle kennen ja selber die Auswirkungen der Besatzungsverhältnisse, die uns gewiß nicht immer leicht gefallen sind. Diese Verhältnisse haben manchen, der sich z. B. vor einem Entnazifizierungs- und Spruchkammerverfahren scheute oder gar eine Auslieferung durch die Besatzungsmächte befürchten mußte, auch über den 31. März, also über den im alten
Amnestiegesetz bestimmten Endtermin für die Straflosigkeit der Verschleierung des Personenstandes hinaus in eine Lage gedrängt, die sie Name und Vergangenheit verheimlichen oder weiter in der Illegalität verbleiben ließ. In diesem Zusammenhang sind manche mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Im übrigen ist auch zu berücksichtigen, daß das Jahr 1949 am Beginn einer Aufbauperiode stand, deren Auswirkungen und deren Dauer damals noch nicht zu übersehen waren. So hat sich, was nicht vorausgesehen werden konnte, z. B. das Flüchtlingselend, das die Grundlage für manche Straftaten bildete, nur zum Teil verringert, bei ganzen Personengruppen aber hartnäckig erhalten.
Um den hier entstandenen Bedürfnissen gerecht zu werden, hat man bereits Anfang 1952, als sich eine Festigung des Gesundungsprozesses abzeichnete, den Plan gefaßt, zur Schließung der Lücken der Amnestie von 1949 ein neues Straffreiheitsgesetz vorzubereiten. Seine Aufgabe mußte und sollte also sein, die rücken zu schließen, die das alte Amnestiegesetz offengelassen hatte. Als Zeitpunkt der Einreichung des Gesetzes war ursprünglich die für Ende 1952 erwartete Ratifikation des Deutschland-Vertrags und des Vertrags über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft vorgesehen. Der Pian ließ sich nicht verwirklichen. Jetzt, über vier Jahre nach der letzten Amnestie, die sich notgedrungen mit einem allzu engen Rahmen zufrieden geben mußte und daher die erforderliche Befriedung nicht bringen konnte, läßt sich ein weiteres Abwarten nach Auffassung der Bundesregierung nicht mehr vertreten.
Die Bundesregierung hat daher bereits in ihrer Sitzung vom 8. September 1953 den Beschluß gefaßt, den Entwurf eines Straffreiheitsgesetzes ausarbeiten zu lassen, der in seinen Grundzügen bereits vorlag, als ich mein Amt als Bundesminister der Justiz antrat. Der mitunter geäußerte Gedanke, die Bundesregierung habe den Wahlsieg vom September vorigen Jahres zum Anlaß genommen, ein Straffreiheitsgesetz zu propagieren, ist völlig unrichtig. Ich betone ausdrücklich, daß es ein rein zufälliges Zusammentreffen ist, wenn die Vorlage des Entwurfs mit dem Arbeitsbeginn des 2. Deutschen Bundestages zusammenfällt.
Mit aller Deutlichkeit darf ich hier feststellen, daß der Entwurf nur eine Ergänzung des alten Amnestiegesetzes bezweckt und daß eine periodische Wiederholung, etwa im Zusammenhang mit dem Beginn einer Legislaturperiode, in keiner Weise beabsichtigt ist. Ich darf hinzufügen, daß nicht daran gedacht wird, in späteren Zeiten derartige äußere Anlässe zu einem Straffreiheitsgesetz zu benützen, wenn nicht die innere Begründung, die wir hier für vorliegend halten, gegeben ist. Das von mir genannte Ziel, das in den Grundzügen des Regierungsentwurfs verankert ist, muß meines Erachtens auch die vom Bundesrat geäußerte Besorgnis zerstreuen.
Ich darf zur Begründung dessen, daß hier wirklich nur ein Schlußstrich unter die Zeit des Zusammenbruchs und die damit zusammenhängenden Straftaten gezogen werden soll, insbesondere auf die Überschriften hinweisen, die die einzelnen Paragraphen tragen. So lautet die Überschrift von § 2 „Straftaten infolge der Kriegs- oder Nachkriegsverhältnisse". § 3 trägt die Überschrift „Straftaten infolge wirtschaftlicher Notlage", § 8 „Taten während des staatlichen Zusammenbruchs", § 9 „Verschleierung des Personenstandes", was also auch
mit dem staatlichen Zusammenbruch, mit den Entnazifizierungsverfahren usw. zusammenhängt. Die Inhaltsangaben dieser Bestimmungen zeigen deutlich, daß der Entwurf auf dem Grundsatz beruht, Lücken zu schließen und damit die frühere Amnestie zu ergänzen.
Die Amnestie soll nur einem beschränkten Personenkreis zugute kommen und insbesondere solche Taten erfassen, die mit den außerordentlichen Verhältnissen zusammenhängen, die durch die Kriegs-und Nachkriegsereignisse entstanden sind und die sich, wie wir alle erwarten und auch erwarten dürfen, nicht wiederholen werden. Hält sich das Gesetz in diesem engen Rahmen, so gibt sein Inhalt selbst die beste Gewähr dafür, daß es nicht aus ähnlichen Erwägungen periodisch wiederholt werden kann.
Ich will es mir versagen, Ihnen hier alle Einzelfälle vorzutragen; ich darf insoweit auf die Begründung verweisen. Aber besonders aufmerksam machen möchte ich Sie auf § 6, der die Beleidigungen im politischen Meinungsstreit behandelt. Die Bundesregierung bejaht uneingeschränkt die Notwendigkeit, für die Sauberkeit des politischen Kampfes und für einen wirksamen Ehrenschutz der im politischen Leben tätigen Personen Sorge zu tragen. Hier geht es aber um eine andere Frage. Die rechts- und linksradikalen Parteien haben in den letzten Jahren einen erbitterten Kampf gegen die freiheitliche Grundordnung geführt. Nach den vorhandenen, sehr genauen Unterlagen haben sich diese Angriffe überwiegend gegen die Bundesregierung, insbesondere gegen den Bundeskanzler und auch gegen einzelne Bundesminister gerichtet. Der rapide Rückgang der links- und rechtsradikalen Parteien hat bewiesen, daß sie im politischen Leben der Bundesrepublik kaum mehr
eine Rolle spielen.
Die Bundesregierung, die also in allen diesen Fällen überwiegend selbst die Verletzte ist, sieht nun den Zeitpunkt gekommen, auch hier eine Befriedung herbeizuführen und Straffreiheit zu gewähren. Die erwähnten Verfahren wegen politischer Beleidigung verletzen oft das Rechtsgefühl nicht nur der Verletzten, sondern auch weiter Kreise des Volkes. Insbesondere hat sich herausgestellt, daß gerade solche Verfahren nur gegen die kleinen Übeltäter durchgeführt werden konnten, gegen untergeordnete Mitglieder radikaler Organisationen, gegen deren Mitläufer, die zum Verteilen von Flugblättern beleidigenden Inhalts bestimmt worden waren, oder gegen Erwerbslose, die versucht hatten, sich mit der Verteilung von Flugblättern einen kleinen Nebenverdienst zu verschaffen. Die wirklichen Übeltäter aber, von denen diese ganze Agitation ausging, die die Veranlasser und die geistigen Urheber dieser Flugblätter waren, bleiben — leider, muß ich sagen — vielfach unbehelligt, und zwar infolge ihrer Tarnung oder wegen Abwesenheit.
Hier liegt ein echtes Problem, das meines Erachtens
eine weitgehende Amnestierung rechtfertigt und
das auch nur auf diesem Wege gelöst werden kann.
Ich möchte auch ganz kurz auf den § 7 des Entwurfs eingehen, der sich mit der Nachrichtentätigkeit beschäftigt. Wir werden allerdings nachher bei der Beantwortung der Großen Anfrage der SPD noch Gelegenheit haben, hierzu im einzelnen Stellung zu nehmen. Im Augenblick möchte ich mir nähere Ausführungen ersparen und mir erlauben,
auf die Begründung des Gesetzentwurfs Bezug zu nehmen. Insgesamt verbleibt die Bundesregierung trotz der vom Bundesrat geäußerten Bedenken auf ihren Vorschlägen, wie sie in den §§ 2 bis 9 des Entwurfs niedergelegt sind, bestehen. Ich hoffe, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß Sie sich der Erkenntnis nicht verschließen werden, daß hier ein wirkliches Bedürfnis für eine beschränkte Amnestie im Rahmen des Regierungsentwurfs besteht und daß die Einwendungen, die der Bundesrat erhoben hat, nicht hinreichend begründet sind.
Abschließend darf ich noch bemerken, daß entgegen der Auffassung des Bundesrats ein ausreichender Ausgleich von Härten nicht dadurch geschaffen werden kann, daß die Gerichte und Gnadenbehörden dem Einzelfall eine individuelle Berücksichtigung zukommen lassen. Die gerichtliche Strafaussetzung zur Bewährung und die bedingte Entlassung sind nur bei Freiheitsstrafen möglich, bei Geldstrafen und Geldbußen dagegen ausgeschlossen. Gnadenerweise aber setzen jeweils voraus, daß die Strafverfahren rechtskräftig abgeschlossen sind. Sie können also keineswegs solchen Tätern helfen, die z. B. aus Furcht vor der Verfolgung untergetaucht sind oder gar die Rückkehr in ihre Heimat meiden; denn gegen sie kann das Verfahren nicht immer durchgeführt werden. In vielen Fällen wäre die Durchführung eines Verfahrens auch unerwünscht. Insbesondere bei Wirtschaftsstraftaten und Ordnungswidrigkeiten besteht unter gewissen Voraussetzungen sogar ein rechtspolitisches Interese daran, von der Durchführung des Verfahrens abzusehen, da die Wirtschaftsentwicklung, wie etwa bei dem Erwerb der sogenannten Schwarzkohlen in der Zeit der Koreakrise in den Wintern 1950/51 und 1951/52 über die Verhältnisse, die zu diesen Straftaten geführt haben, hinweggegangen ist. Insgesamt bieten somit die der Strafrechtspflege ohnehin zu Gebote stehenden Mittel nicht die Möglichkeit, das Ziel einer Gesamtbereinigung der Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse zu erreichen.
Ich darf abschließend noch einmal betonen: es ist der Zweck und das alleinige Ziel dieses Entwurfes, hier eine Befriedung herbeizuführen, einen Schlußstrich unter Straftaten zu ziehen, die in unmittelbarem oder mittelbarem Zusammenhang mit den Verhältnissen einer chaotischen Zeit begangen worden sind. Wir werden ja im Rechtsausschuß noch Gelegenheit haben, uns über die Einzelheiten des Entwurfs auszusprechen. Ich weiß, von der einen Seite werden einschränkende, von der anderen Seite ausweitende Bestimmungen für richtig gehalten. Aber ich bin überzeugt, daß es gelingen wird, für den Entwurf eine Grundlage zu finden, die sowohl von der Regierung als auch vom Parlament durchaus verantwortet und vertreten werden kann.